Lesen / Sehen: Literatur als wahrnehmbare Kommunikation 9783839461846

Literatur ist nicht einfach eine Sammlung von Texten - sie ist ein materielles, haptisches und nicht zuletzt visuelles E

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Lesen / Sehen: Literatur als wahrnehmbare Kommunikation
 9783839461846

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Sinne
Lesen/Berühren
Ästhetik und Sinnlichkeit des Lesens visuell kommunizieren
Die Hand im Buch
Lesen/Sehen/Hören
Druck
Fehlerkulturen
Unsichtbarkeit, Unlesbarkeit oder: Wann ist ein Buch ein Buch?
›Wissenschaftskunst‹?
Ästhetiken
Texte, Vase, Urne – ›Buch‹
Rotationen im Buchformat
»Corpus Abfall«
Utopische Umschläge
AutorInnenverzeichnis

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Charlotte Coch, Torsten Hahn, Nicolas Pethes (Hg.) Lesen / Sehen

Literatur – Medien – Ästhetik Band 5

Editorial Die Buchreihe ist ein Forum für Arbeiten, die sich der Theorie und Ästhetik des Buches im Kontext der Frage nach der spezifischen Funktion und Medialität der Literatur widmen. Sie richtet sich an VerfasserInnen von Untersuchungen, die die ›Eigenmedialität‹ literarischer Texte und damit auch die Funktionen in den Blick nehmen, die Gestaltung, Typographie, Illustrationen, Einbänden und Paratexten sowie dem materiellen Format der Texte zukommen; gefragt wird nach dem Zusammenspiel von Aisthesis, (Medien-)Ästhetik und Poetik. Die Reihe soll ein Publikationsort für Forschung sein, die Literatur medienbzw. form- oder materialästhetisch als spezifisch ›buchförmige‹ Kommunikation versteht und hieraus die Konjunktur einer materialorientierten Formensprache ableitet. Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

Charlotte Coch (Dr. phil.), geb. 1989, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Sie arbeitet zu den Schwerpunkten Ästhetik der Form, Medialität sowie Literatur und Gesellschaftstheorie. Torsten Hahn (Prof. Dr. phil.), geb. 1969, lehrt Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pop und/als Oberfläche, Codierungen der Literatur, Theorie der Form, Medientheorie und das Politische der Literatur. Nicolas Pethes (Prof. Dr. phil.), geb. 1970, unterrichtet Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Mediengeschichte der Literatur, Diskurse über Medienwirkungen und Populärkultur sowie Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Literatur.

Charlotte Coch, Torsten Hahn, Nicolas Pethes (Hg.)

Lesen / Sehen Literatur als wahrnehmbare Kommunikation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839461846 Print-ISBN 978-3-8376-6184-2 PDF-ISBN 978-3-8394-6184-6 Buchreihen-ISSN: 2702-2188 Buchreihen-eISSN: 2703-0199 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung Charlotte Coch, Torsten Hahn, Nicolas Pethes ........................................ 7

Sinne Lesen/Berühren Vom ›Mit‹ des Lesens und Lachens Johannes Ungelenk ................................................................. 21

Ästhetik und Sinnlichkeit des Lesens visuell kommunizieren Ute Schneider ...................................................................... 45

Die Hand im Buch Zur Funktion inszenierter »Handschriftlichkeit«  in gedruckten Büchern Monika Schmitz-Emans............................................................. 63

Lesen/Sehen/Hören Thomas Kling führt sein Gedicht »effi b.; deutschsprachiges polaroid« auf* Lena Hintze ........................................................................ 93

Druck Fehlerkulturen Epistemologie und Praxeologie des Drucktextes (auch etwas über Nietzsche, Goethe, Dada und die Dekonstruktion) Christopher Busch ................................................................. 115

Unsichtbarkeit, Unlesbarkeit oder: Wann ist ein Buch ein Buch? Manuela Günter .................................................................... 141

›Wissenschaftskunst‹? Wie die »Entwicklung des deutschen Geistes« um 1930 (nicht nur) typographisch inszeniert wird – und was das Ganze mit aktuellen geisteswissenschaftlichen Publikationen zu tun hat Sven Schöpf ...................................................................... 165

Ästhetiken Texte, Vase, Urne – ›Buch‹ Zur Rahmung heterogener Elemente in Karl Philipp Moritz’ Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente Torsten Hahn...................................................................... 187

Rotationen im Buchformat Ferdinand Kriwets Rotor und seine Vermittlungen Natalie Binczek ................................................................... 205

»Corpus Abfall« Figurationen der Buchmedialität von Mallarmé bis Goetz Livia Kleinwächter ................................................................ 229

Utopische Umschläge Überlegungen zur Materialität möglicher Welten Charlotte Coch .................................................................... 267

AutorInnenverzeichnis ...................................................... 287

Einleitung Charlotte Coch, Torsten Hahn, Nicolas Pethes

Der vorliegende Sammelband lotet im Lichte gegenwärtiger Debatten über die Digitalisierung von Texten und die Zukunft des Buchs1 die Aktualität einer These neu aus, die innerhalb systemtheoretischer Funktionsbestimmungen von Kunst und Literatur besonders heraussticht. Niklas Luhmann zufolge überbrückt Literatur »wie eine Art ›Schrift‹ (!) die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation«2 , insofern sie auf die sinnliche Materialität von letzterer aufmerksam macht: Im Fall des Lesens von Literatur sei der Blick der Lesenden nicht bloß Mittel zur Absorption von Information, sondern werde gleichermaßen fasziniert und irritiert durch das schiere Aufscheinen des Worts – nicht als in Sinn auflösbares Zeichen, sondern als gedrucktes Artefakt. In den Fokus rückt damit die scheinbar triviale, tatsächlich aber für das Verständnis der literarischen Ästhetik konstitutive Tatsache, dass Literatur vor allen poetologischen Bestimmungen eine »Drucksache« ist.3 Der Buch-

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Vgl. N. Katherine Hayles: How we read: close, hyper, machine, in: ADE Bulletin 150 (2010), S. 62-79; Andrew Piper: Book was there. Reading in electronic times, Chicago/ London 2012; Kathleen Fitzpatrick: The Future History of the Book: Time, Attention, Convention, in: Babette Tischleder/Sarah Wasserman (Hg.): Cultures of Obsolescence, New York 2015, S. 111-126; Michael Hagner: Zur Sache des Buches, Göttingen 2015; Michael Hagner: Die Lust am Buch, Berlin 2019; Leah Price: What we talk about when we talk about books. The history and future of reading, New York 2019; Klaus Bennesch: Mythos Lesen. Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter, Bielefeld 2021. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 33. Eine darauf aufbauende Funktionsbestimmung von Literatur nimmt Torsten Hahn vor, vgl.: Drucksache. Medium und Funktion der Literatur, in: LiLi 49 (2019), S. 435-449. Siehe auch: Nicolas Pethes: Leseszenen. Zur Praxeologie intransitiver Lektüren in der Epoche des Buchs, in: Irina Hron/Jadwiga Kita-Huber/Sanna Schulte (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medien, Heidelberg 2020, S. 101-132; Charlotte Coch: Lektüre als

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druck als Technologie, das Buchformat als Objekt und die Gestaltungsdimensionen von Papier, Umschlag und Illustrationen sowie von Schriftarten, Typographie und Seitenlayout werden auf diese Weise nicht nur als emballage oder parergon von Texten kenntlich, sondern als integraler Bestandteil von deren ästhetischer Form.4 Diese Perspektive weist zum einen zurück auf Paul Valérys Hinweis auf den »gesehene[n]« im Unterschied zum »gelesene[n] Text« und seiner damit einhergehenden Aufwertung des »Buchdrucker[s] als Künstler« in seinem kurzen Aufsatz zu den »beiden Tugenden des Buchs« von 1926.5 Zum anderen gewinnt sie angesichts der derzeit vielfach zu beobachtenden Aufmerksamkeit für das Buch als »Format der Literatur«,6 die »Ästhetik des Buchs«7 bzw. das Wechselverhältnis zwischen Literatur und Buchkunst8 eine aktuelle Relevanz, die die Beiträge des vorliegenden Bands theoretisch und

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Form. Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann, Bielefeld 2021. Zur entsprechenden Ausweitung der Derrida’schen Lektüre parergonaler Rahmen bzw. des Genette’schen Paratext-Konzepts sowie zum Buch als Form im Sinne Luhmanns: Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland: ein Handbuch, Berlin/New York 2010, S. 157-202; zum Stellenwert der Typographie in der AvantgardeLiteratur Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000 sowie grundsätzlich Albert Ernst: Wechselwirkungen. Textinhalt und typographische Gestaltung, Würzburg 2005 und Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014; zum Umschlag Klaus Detjen: Außenwelten: Zur Formensprache von Buchumschlägen, Göttingen 2018. Vgl. Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467-471, hier S. 468 und 469. Vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne, Göttingen 2016. Den Zusammenhang zwischen materieller Poetik und visueller Buchgestaltung an der Wende zum 20. Jahrhundert rekonstruiert auch: Jacques Rancière: Die Fläche des Designs, in: ders.: Politik der Bilder, Zürich 2006, S. 107-125. Zur visuellen Dimension von Schrift vgl. Sibylle Krämer/Eva Cancik-Kirschbaum/Rainer Totzke (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin/ New York 2012. Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2019. So der Titel einer Buchreihe im Wallstein-Verlag, in der seit 2014 bislang fünfzehn Bände zu buchwissenschaftlichen und typographischen Themengebieten erschienen sind. Vgl. Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst – Ein Kompendium, Boston/New York 2019.

Einleitung

historisch weiter entfalten möchten: So wie Valéry seinen Hinweis auf die Visualität der Buchkultur vor dem Hintergrund der Medienkonkurrenz des frühen zwanzigsten Jahrhunderts formulierte, steht die derzeit wiedererstehende Aufmerksamkeit für die materielle Dimension der Literatur im Zusammenhang mit der Entlastung des Mediums ›Buch‹ von den Funktionen der Speicherung und Verbreitung von Information sowie der zunehmenden Varietät der Rezeption sprachlich, schriftlich oder digital verfasster Kunst. Die immer weiter zunehmende Relevanz des Lesens am Bildschirm, e-bookFormate, aber auch die Aufhebung bzw. Negation der Druckform von Literatur im Hörbuch,9 sind aus dieser Perspektive weniger als Bedrohung oder gar Ende der gedruckten Literatur zu betrachten, sondern vielmehr als Freisetzung des Blicks auf die formästhetische Dimension von Materialität, Visualität und Haptik des Buchdrucks bzw. der Objektqualität des schriftlichen Kunstwerks. In diesem Sinne verfolgt der Band ein doppeltes Anliegen: zum einen den Anschluss der literaturwissenschaftlichen Diskussion an buchwissenschaftliche Fragestellungen, der trotz der offensichtlich so gewichtigen Schnittmenge zwischen beiden Disziplinen nach wie vor ein Desiderat ist.10 Zum anderen schlagen wir als theoretische Grundlegung für diesen Anschluss eine Ausweitung der bisher auf Fragen der Literatursoziologie sowie die Periodisierung der Literaturgeschichte beschränkten literaturwissenschaftlichen Luhmann-Rezeption auf den Aspekt der Formästhetik vor – und zwar im Sinne einer materialästhetisch gewendeten Unterscheidung von Medium und Form.11 Diese erlaubt die Ausweitung der an den sinnlichen Qualitäten von Textkunstwerken interessierten Perspektive über das Buchobjekt hinaus.

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Vgl. zur akustischen Literatur: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens, München 2014. Douglas McKenzie: Bibliography and the Sociology of Texts, Cambridge 1999; David Finkelstein/Alistair McCleery (Hg.): The Book History Reader, London/New York 2006; Simon Eliot/Jonathan Rose (Hg.): A Companion to the History of the Book, Chichester 2007; Stephan Füssel/Ute Schneider (Hg.): Meilensteine buchwissenschaftlicher Forschung. Ein Reader zentraler Quellen und Materialien, Wiesbaden 2017; Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig: Quantitative und qualitative Studien, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 62 (2018), S. 1-105. Vgl. Torsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020.

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Relevanz und Potential einer Wiedererinnerung an Luhmanns eingangs zitierte These liegen gerade in dieser umfassenden Perspektivierung von Materialitäten als stets auch funktionsgebundene Medien. In seinem Aufsatz Die Autonomie der Kunst hat Luhmann sie in eine erweiterte Form gebracht, die außerdem zur Frage nach der Funktionsbestimmung des (Sprach-)Kunstwerks, das die Differenz von Literatur und ästhetischem Artefakt (also Skulptur, Malerei usw.) überbrückt, beiträgt: Ich möchte […] die Funktion der Kunst suchen im Bereich der Verlagerung von Kommunikation in das Wahrnehmbare. Wir sind gewohnt, bei Kommunikation immer an sprachliche, sei es mündliche, sei es schriftliche Mitteilung zu denken. In einem breiteren Kommunikationsbegriff […] wird die Herstellung von Objekten in gewisser Weise dechiffriert werden können und als Kommunikation gelten und eigentlich nur als Kommunikation Sinn machen.12 Kunst ist für Luhmann insofern eine Alternative zur Sprache, als sie auf andere Weise die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation erlaubt, ja sogar erzwingt. Dies gilt in besonderem Maße, wie Luhmann in seinem Aufsatz Wahrnehmung und Kommunikation an Hand von Kunstwerken betont, für »Textkunst[…], also literarische Kunstwerke, die zwar Sprache als Material verwenden, aber das, was als Text produziert wird, nicht als sprachliche Mitteilung einer Information verstanden wissen wollen.«13 Damit eröffnet sich eine umfassende Perspektive auf die Literatur als Formkunst, die nicht nur die Lektüre als Informationsverarbeitung, sondern alle Facetten der sinnlichen Wahrnehmung mit einbezieht. Aus literaturhistorischer Perspektive mag man feststellen, dass dieser Umschlag immer wieder als Scheitern von Kommunikation beobachtet wurde, insofern anstelle von Inhalten oder Botschaften Fragen der Anordnung, der Positionierung und der Rückverweise in den Blick rücken. Dagegen steht aber die Beobachtung einer spezifischen Faszination des Bewusstseins durch die Wahrnehmung von Kommunikation, die, von ihrer kommunikativen Funktion abgelöst, neu und autonom erfahren werden kann. Entwickelt man die Bestimmung von Literatur auf Grundlage dieser beiden Perspektiven aus ihrer konkreten Werkform,

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Niklas Luhmann: Autonomie der Kunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 416-427, hier S. 420. Niklas Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation an Hand von Kunstwerken, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur (Anm. 12), S. 246-257, hier S. 250.

Einleitung

also dem Buch, hat dies terminologische Konsequenzen. Während der Begriff Lesen als Erfassen von Information meist als Praxis verstanden wird, die das Medium der Kommunikation ausblendet, ist es in einer so verstandenen autonomen Literatur »die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten«, die das spezifisch Kunstförmige der Kommunikation garantiert.14 Eine solche wahrnehmungsorientierte Formästhetik betrifft mit anderen Worten das Verhältnis von »ornamentaler« und »repräsentierender« Gestalt von Kunstwerken,15 und hier besonders die Frage, auf welche Art und Weise das Arrangement asemantischen Materials durch die spezifische Weise dieses Arrangements als Bestandteil der Kommunikativität dieser Texte beschrieben werden kann. Umgekehrt kann so die Wechselwirkung von sprachlich generierter Semantik und sinnlichen Elementen des Buchformats nachvollzogen werden. Hinzu kommt die Frage, wie dieses Wechselverhältnis in den Texten selbst reflektiert wird, d.h. auf welche Weise Texte auf ihre eigene Erscheinungsweise referieren. An diese Überlegung anzuschließen, eröffnet zum einen eine historische Kontinuität von Konzeptionen des Textes als Formkunst, deren Inhalt die Oberfläche selbst ist. So schreibt bereits Friedrich Schlegel in der Geschichte der europäischen Literatur über den »romantische[n] Stil«: »In keiner anderen Prosa ist die Stellung der Worte so ganz Symmetrie und Musik, keine andere betrachtet die Verschiedenheiten des Stils so ganz wie Massen von Farben und Licht.«16 Demnach zeichnet sich die Kommunikationsform Literatur als »Textkunst«17 dadurch aus, dass sie keine Bedeutungen, sondern die für sie maßgeblichen materialen und medialen Prozesse kommuniziert: den Druck mit beweglichen Lettern bzw. dessen Erben, die für die Konstanz des Phänotyps ›Buchseite‹ sorgen einerseits, die (romantische) Buchform (der Kunst) andererseits. Es existieren mithin neben der semantischen Ebene weitere ästhetische Dimensionen, die erstere ergänzen, erweitern oder mitunter gar dementieren – sodass sich immer auch die Frage nach der Ironie der

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Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 2), S. 46. Ebd., S. 185. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur, in: ders.: Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 17951804. (KFSA Bd. XI), hg. von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1958, S. 3-185, hier S. 160. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 2), S. 46.

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Form stellt. Zu dieser Vorgeschichte gehören der Diskurs über Bibliophilie, die Design- und Typographietheorien im Kontext des ornamentalen und dabei zunehmend zum Autonomwerden tendierenden typographischen Layouts von Texten in Ästhetizismus, Jugendstil und Avantgarde, die diversen Konjunkturen von Buchgestaltung, Künstlerbüchern und Buchkunst im 20. Jahrhundert sowie die Oberflächenästhetiken im Ausgang von Pop-Art und PopLiteratur.18 Zum anderen gewinnt das Aufgreifen von Luhmanns Thesen Anschauungsmaterial an einer gegenwärtigen Aufwertung der ›skulpturalen‹ Form von Literatur, so etwa wenn Druckformat und Materialität des Buchmediums als Bestandteil des Textes mitgestaltet werden, wie z.B. in Mark Danielewskis House of Leaves, J.J. Abrams und Doug Dorsts Ship of Theseus oder Rafael Horzons Das weisse Buch. Dazu gehören Transformationen der Buchseite, die zu beobachten sind, wenn das Buch ins Netz, der materielle Text ins Immaterielle führt – so etwa in Juan S. Guses Miami Punk mit seinen seitenweise fehlenden Spatien, also der Ästhetik des Hyperlinks. Diese und zahlreiche weitere Beispiele führen buchstäblich vor Augen, dass und wie die visuelle und haptische Wahrnehmung von Literatur Teil ihrer ästhetischen Form ist. Die für den Sammelband konstitutive Leitunterscheidung von Lesen und Sehen erlaubt auch eine Neukontextualisierung von Forschungsfragen nach Text/Bild-Verhältnissen, nach Paratextualität, d.h. der konstitutiven Funktion des Rahmens für das Werk im Anschluss an Derridas Die Wahrheit in der Malerei, nach der Materialität der Kommunikation oder nach Medienumbrüchen, verstanden als Wechsel von Wahrnehmungsregimen. Mit Blick auf die Literatur lassen sich gattungstheoretische Überlegungen und solche zu den verschiedenen Publikationsformaten der Literatur – in Büchern, Anthologien, Zeitschriften – im Hinblick auf ihre visuelle und haptische Formung erweitern und schärfen. Hier rückt die ästhetische Dimension von Texten in den Blick, die nicht oder nur mittelbar als Kunstkommunikation fungieren, nämlich theoretische und im weiteren Sinne wissenschaftliche Texte. Innerhalb dieser und weiterer Untersuchungsfelder kann gezeigt werden, wie in der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte Übersetzungsketten unterschiedlicher

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Vgl. Stiftung Buchkunst (Hg.): Die vollkommene Lesemaschine. Von deutscher Buchkunst im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./Leipzig 1997; Olaf Grabienski/Till Huber/JanNoël Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin/New York 2011; Elena Beregow: Nichts dahinter – Pop-Oberflächen nach der Postmoderne, in: Pop. Kultur und Kritik 13 (2018), S. 154-173.

Einleitung

Repräsentationssysteme und Medienästhetiken zu historisch spezifischen Inskriptionsformen des Texts oder des Buchs führen bzw. diesem als geformtem Objekt selbst agency zuschreiben, wie also literarische Rezeption von der »Gegenständlichkeit« gesteuert wird.19 Damit werden Vergleiche zwischen Handschrift, gedrucktem Buch und digitalen Textformaten unter dem Aspekt ihrer Nutzungsbedingungen und Einbindung bzw. (Neu-)Gestaltung von Kulturtechniken des Lesens möglich: Wie werden Visualität und Taktilität jeweils als Affordanz zur Lektüre gestaltet? Unser Band will dazu anregen, gerade die massive Digitalisierung von Handschriften und gedruckten Texten als Motivation zu einer Reflexion auf Form und Medialität der durch den Druck erzeugten Kunstobjekte zu verstehen. Das damit skizzierte Forschungsfeld ist dabei von beträchtlicher historischer Tiefe und kann mit Blick auf die lange Geschichte von Buchdruck, Buchgestaltung und Buchkunst im Rahmen eines Sammelbandes nicht einmal ansatzweise repräsentativ dargestellt werden. Die nachfolgenden Beiträge wählen daher vornehmlich Konstellationen und Beispiele aus der Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, zu dessen Beginn und an dessen Ende die Materialität des Drucks angesichts der erwähnten Medienkonkurrenz besonders deutlich ins Blickfeld getreten ist. Vor diesem Hintergrund widmet sich die erste Sektion des Bandes der Frage nach den unterschiedlichen sinnlichen Dimensionen des Lesens: Johannes Ungelenks Plädoyer für ein haptisches Verständnis des Lektüreakts positioniert sich dabei gegen die Vorstellung eines bloß passiven Konsums von Texten. Besonders greifbar wird dies im Fall der konkreten Poesie, die visuelle und semantische Elemente von Gedichten nicht in eine Einheit überführt, sondern Spannungen generiert, die sich nicht nur der Übertragung in einen lautlichen Vortrag verweigern, sondern auch dem Primat des Visuellen. Auf diese Weise ermöglicht die konkrete Poesie »Wahrnehmungsereignisse«, innerhalb derer Rezipientinnen in die konstitutiven Formunterscheidungsprozesse der Texte involviert werden und das Lesen daher in einem phänomenologischen Sinne als Praxis des »Mit-Seins« und des Kontakts kenntlich wird. In einem ebenfalls praxeologischen Sinne, nun aber bezogen auf die Visualisierung des Lesens selbst, fragt Ute Schneider, auf welche Weise bildkünstlerische Darstellungen von Leseszenen das sinnliche Erleben des – 19

Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts: Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin 2015.

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hinsichtlich seiner kognitiven Prozesse ja notorisch unbeobachtbaren – Akts der Lektüre zu erfassen vermögen. Dabei treten zum einen die Raumgestaltung und Leserequisiten als Generatoren von Atmosphäre und Affekten in den Blick, zum anderen die Konstellationen aus Büchern und Genussmitteln, die in Gemälden von Federico Faruffini oder Edward Minoff die Intensität des Leseerlebnisses durch die Abbildung berauschender Substanzen wie Zigaretten, Kaffee oder Rotwein evozieren. Eine weitere visuelle Dimension der Buchkultur betrifft die Unterscheidung von Hand- und Druckschrift, der Monika Schmitz-Emans anhand der Abbildungen von Manuskripten in gedruckten Büchern nachgeht. Diese »Handschriftenoptik« bewegt sich als Element buchgestalterischer Inszenierung im Spanungsfeld zwischen Bildlichkeit und Schriftlichkeit, Faksimile und Simulation sowie Authentizität und Fingierung und legt dabei die wechselseitige Abhängigkeit von Handschrift und Buchdruck offen, wie sich am Beispiel der Schreibreflexionen in Michael Lentz’ Roman Schattenfroh von 2018 zeigen lässt. Im Roman werden den gedruckten Buchstaben Bildelemente aus kryptographischen Zeichen entgegenstellt, die als graphische Unikate den Eigensinn von Schreibarbeit in Gestalt einer handschriftlichen Totenliste sowie den Brückenschlag zwischen Fiktion und Geschichte versinnbildlichen. Der Beitrag von Lena Hintze widmet sich schließlich der akustischen Dimension literarischer Textrezeption, wodurch die Leitunterscheidung Sehen/ Lesen durch das Hören als dritte Größe ergänzt wird. Wie eine genaue Analyse eines auf Video festgehaltenen Gedichtvortrags von Thomas Kling aus dem Jahr 1989 zeigt, sind hier performative sowie bildkünstlerische Aspekte zu berücksichtigen, was Kling selbst in den multimodalen Konzepten der »Doppelbelichtung« bzw. »Sprachinstallation« zu fassen versucht: In der Angewiesenheit des Gedichts auf ein »Ausgesprochenwerden«, der Etikettierung einer solchen Vortragsaufführung als »polaroid« und der Annäherung des typographisch vielfältig gebrochenen Textes an eine Skulptur, die neben Kling auf der Bühne steht, wird Poesie als prozessuale Konvergenz mehrerer Wahrnehmungsebenen inszeniert, zu der im Rückblick auch die audiovisuelle Gestalt der Videodokumentation des Auftritts gehört. Die zweite Sektion des Bandes ist anschließend den unterschiedlichen Dimensionen gewidmet, innerhalb derer der Buchdruck die Wahrnehmung von Literatur formiert. Christopher Busch modelliert hierzu das Bücherlesen vom Druckfehler her und fragt nach den Kontrollmöglichkeiten der Fehleranfälligkeit des Buchdrucks, die den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft wie den Authentizitätsanspruch der Philologie gleichermaßen bedroht: Die

Einleitung

Geschichte des Buchdrucks wird begleitet von einer Ausbildung spezifischer »Fehlerkulturen«, die die Anfälligkeit des Mediums für Defizienz und Varianz durch restriktive Korrekturen oder integrative Strategien wie Erratalisten sowie durch deren spielerische Reintegration in den Text selbst in Romantik und klassischer Moderne bis hin zur Dekonstruktion der Differenz von richtigen vs. falschen Lesarten in der theoretischen Debatte des 20. Jahrhunderts zu bewältigen versuchen. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive ist dabei entscheidend, dass Störungen immer Bedingung der Informationsübermittlung sind – und somit dem Buchdruck seine beispiellose Erfolgsgeschichte ermöglicht haben. Das auf dieser fehlerbehafteten Überlieferungsgeschichte aufsattelnde philologische Korrektheitsideal resultiert buchgestalterisch in den Werkausgaben des 19. Jahrhunderts, deren ›Schönheit‹ kanonischen Wert und editorische Zuverlässigkeit zugleich signalisieren – eine Qualität, die, wie Manuela Günter argumentiert, Autorinnen gerade nicht zugestanden wird: Die Beispiele von Annette von Droste-Hülshoff und Franziska von Reventlow belegen den engen Zusammenhang zwischen Buchgestaltung und Geschlechterdifferenz, insofern Texte von Autorinnen hinsichtlich ihres materiellen Erscheinungsbilds stets auf Abstand zum Kunstanspruch gehalten wurden – und also im 20. Jahrhundert vornehmlich in Taschenbuchreihen veröffentlicht und als Unterhaltungsliteratur markiert wurden. Der damit einhergehende Verzicht auf editorische Sorgfalt potenziert sich gegenwärtig, wenn solche Werke nur noch als print on demand verfügbar gehalten und dabei hinsichtlich Autorinnenname oder Titelformulierung zum Teil grotesk entstellt werden, sodass der Konstellation aus Buchdruck und Druckfehler im Zeitalter des Internet diejenige von Digitalisierung und Fahrlässigkeit zur Seite gestellt werden kann – und die Texte auf diese Weise gerade deshalb ästhetisch unsichtbar bleiben, weil ihnen Editionsphilologie und Verlagspolitik die Möglichkeit einer Wahrnehmbarkeit als Drucksachen gezielt entziehen. Dass die Wahrnehmung der Materialität des Druckbilds auch relevant für die Wissenschaftskommunikation ist, zeigt schließlich Sven Schöpf – und das anhand eines Zeitraums aus der Geschichte der Literaturwissenschaften, der verantwortlich für die langjährige Materialvergessenheit des Fachs gewesen ist: Die Etablierung einer geistesgeschichtlichen ›Deutschkunde‹ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgt dabei nicht zufällig in Werken, die in Frakturschrift gedruckt sind und auf diese Weise versuchen, das ›WesenhaftGeistige‹ deutscher Schriftkultur nicht nur inhaltlich zu entwickeln, sondern visuell zu vergegenwärtigen. Damit artikuliert diese Form der Literaturge-

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Charlotte Coch, Torsten Hahn, Nicolas Pethes

schichte aber nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern zudem einen seinerseits ästhetischen Anspruch, insofern Werke wie Korff/Lindens Aufriß der deutschen Literaturgeschichte von 1930 neben dem Feld der Kommunikation dasjenige der Wahrnehmung adressieren. Aus diesem Grund könnte sich die Aufmerksamkeit für die materielle Formdimension gedruckter Werke nicht nur für literarische, sondern auch für literaturwissenschaftliche Publikationen lohnen – und das unter Umständen bis in die Gegenwart des Fachs hinein. Den ästhetischen Implikationen der sensuellen und materiellen Aspekte unmittelbar kunstförmiger Texte ist abschließend die dritte Sektion des Bandes gewidmet: Torsten Hahn führt für einen zentralen Autor der Werk(und damit, wie gezeigt wird, Buch-)ästhetik um 1800, Karl Philipp Moritz, vor, inwiefern dessen Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente nicht nur theoretisch und begrifflich, sondern auch in deren konkreter Gestaltung als Werk aus heterogenen Bestandteilen als Buchästhetik avant la lettre gelesen werden können. Der vermeintliche Rand bzw. Rahmen erweist sich dabei mit Derrida als eigentlich innere Schließung, als ›Grenzlinie‹, welche Varietät und Redundanz werkförmig zu koppeln vermag. So lässt sich Moritz neben anderen Autorinnen und Autoren der Zeit als Wegbereiter einer Theoretisierung der Unterscheidung Lesen/Sehen für das Wahrnehmen, Beobachten und Kommunizieren von (literarischen) Kunstwerken verstehen. Für das 20. Jahrhundert setzt Natalie Binczek mit einer Lektüre der Umschlagsgestaltung von Ferdinand Kriwets Rotor aus dem Jahr 1961 ein, auf dem das Schriftbild einer Buchseite durch die graphische Gestaltung selbst in den visuellen Eindruck des Rotierens versetzt wird, während der Text der Erzählung mit der ›Rotation‹ zwischen schriftlichem und mündlichem Ausdruck, den Begrenzungen der Wort- und Zeilengrenzen und regelmäßig eingefügten leeren Seiten experimentiert. Rotor wird auf diese Weise als ein medial transgressives Buch kenntlich, dass eher einen Seh- und Hör- und weniger einen bloßen Lesetext präsentiert —und in diesem Sinne 2011 von Michael Lentz bearbeitet wurde, der die typographischen Strategien des gedruckten Textes in Gestalt von Verzerrung und Rauschen akustisch nachbildete. Livia Kleinwächter widmet sich den Konjunkturen der Aufmerksamkeit für Buchmedialität im 20. Jahrhundert. Mithilfe einer terminologischen Differenzierung, welche die Reflexion des Buchs als Objekt, Format und Medium gleichermaßen in den Blick bekommt, beleuchtet sie vier historische Konfigurationen, von Mallarmé und Valéry bis zu Rainald Goetz. Um 1900 erweist sich die Reflexion von Buchförmigkeit als Löschung aller Konventionen; in den Anfängen des Pop, bei War-

Einleitung

hol, versteht sich dieselbe als Ausstellung und Problematisierung von Autorschaft, bei Brinkmann und Goetz in den 70ern steht die Provokation des Literaturbetriebs im Vordergrund, und beim späteren Goetz weicht diese einer Zelebrierung der Multimodalität des Buches als Medium/Form. Charlotte Coch nutzt abschließend die doppeldeutige Semantik von ›Umschlag‹, um nach dem Beitrag der materiellen Peritexte für die Erzeugung und Stabilisierung möglicher Welten in SF-Romanen zu fragen. Sie verfolgt diese Entwicklung von der Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Roman Heliopolis von Ernst Jünger, in dem das Buch als Objekt und die utopische Vorstellung einer besseren Welt aufs engste miteinander verschränkt sind, bis hin zum beginnenden 21. Jahrhundert, in dem sich das Buch in Romanen von Dietmar Dath und Leif Randt seiner medialen wie sozialen Selbstverständlichkeit beraubt sieht und dies als Schwinden seiner utopischen Funktion auch buchästhetisch reflektiert.

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Sinne

Lesen/Berühren Vom ›Mit‹ des Lesens und Lachens Johannes Ungelenk

Christian Morgenstern widmet seine 1905 erschienene Gedichtsammlung Galgenlieder »DEM KIND IM MANNE« und hinterlegt diese Widmung mit einem (orthografisch leicht angepassten) Zitat Friedrich Nietzsches aus Also sprach Zarathustra: DEM KIND IM MANNE Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. (Nietzsche)1 Für die 15. Auflage ergänzt Morgenstern 1913 die Widmung mit einer Variation der ursprünglichen: Der bei Nietzsche misogyn unterbaute Bezug auf den »ächten Mann« weicht einer Aufhebung der Geschlechterdifferenz ins Menschliche; die so verknappte wie memorierbare Formulierung ersetzt Morgenstern durch eine Paraphrase und eine fast erklärende Auslegung von Nietzsches Worten im Hinblick auf die Kunst: DEM KIND IM MENSCHEN In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses »Kind im Menschen« ist der unsterbliche Schöpfer in ihm …2

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Christian Morgenstern: Galgenlieder, in: ders.: Gesammelte Werke in einem Band, München 1965, S. 188; das Nietzsche Zitat ist entnommen aus Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, Berlin 1988, S. 85. Ebd., S. 188.

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Jene hier von Morgenstern eingetragene Differenz von »mit-spielen« (»mitschaffen«) und dem bloßen »Zuschauer«-Sein soll die folgenden Überlegungen zum Lesen leiten. Mitgehört und mitgedacht in dieser Unterscheidung seien neben der Wertung auch die Implikationen für den Modus des Visuellen, der mit dem Zuschauen zunächst zugunsten einer offenbar sowohl aktiveren wie auch ›direkteren‹, involvierteren Haltung (oder sollte man besser sagen: Handlung) des Mit-Spielens zurücktreten soll. Anders als der Titel meines Aufsatzes vielleicht nahelegen mag, geht es mir aber nicht darum, das Visuelle als primäre sinnliche Zugriffsform auf (das Medium?) ›Literatur‹ durch eine andere, dann haptische, zu ersetzen; in Frage stehen abstrakte Voraussetzungen für ein Verständnis von Lesen (und unseren Umgang mit Kunst), die wir gewissermaßen hinter unserem Rücken etablieren, wenn wir unseren Zugriff auf ›Literatur‹ am Visuellen schematisieren (oder über ein Medium stabilisieren, das ein Primat des visuellen Zugriffs setzt). Kurz: der konstruierten Konkurrenz von Mit-Spielen und Zu-Schauen unterstelle ich eine Konkurrenz nicht von (direktem) Handeln (oder Kontakt, um es zum Berühren zu biegen) vs. (indirektem) Wahrnehmen, sondern eine Konkurrenz von Verhältnissen: mit vs. zu (in Richtung auf, hin);3 ›Spiel‹ und ›Schauen‹ doppeln in der hier vorläufig und in heuristischer Absicht konstruierten Ausgangskonstellation zunächst bloß tautologisch diese Verhältnisse. Die Konkurrenz der mit unterschiedlichen Sinneszugriffen verbundenen Schemata soll letztlich nicht affirmiert – die Hierarchie der Sinne (samt ihrer begrifflichen Implikationen) nicht schlicht umgewertet werden; es geht darum, Sinne und Schemata miteinander ins Spiel zu verwickeln und so an den zukünftigen, unvordenkbaren Bedingungen des (denkerischen) Schaffens mitzuwirken.

Was ist ein Kunstwerk? – ›Berühren I‹ Die Herausgeber*innen haben mit der Konzeption des vorliegenden Bandes die Beiträger*innen auf eine vielversprechende Spur gesetzt: Niklas Luhmanns systemtheoretische Erkundung von Kunst. Luhmanns großes sozio-

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Vgl. Art. »zuschauen Vb.«, in: Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache: https://www.dwds.de/wb/etymwb/zuscha uen, abgerufen am 25.11.2021: »›den Blick auf einen Punkt richten, hin-, zusehen‹ (16. Jh.)«.

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logisches Projekt argumentiert dabei die These, dass Kunst ein eigenes, autopoietisches soziales System auszubilden und dabei durch gewisse Eigenheiten auch Licht auf die allgemeine Funktionsweise solcher Systeme zu werfen vermag. Wie alle sozialen Systeme operiert das System Kunst über Kommunikation. Gemeint ist hier allerdings nicht Kommunikation »über Kunstwerke« (wie sie die Kunstkritik oder auch die Wissenschaft praktiziert), sondern Kommunikation »durch Kunst«4 selbst. In den Fokus rückt so das Kunstwerk, seine Machart – und vor allem die Frage, wie es zu kommunizieren vermag. Luhmanns systemtheoretische Grundlegungen, auf denen alle spezifischen sozialen Systeme aufbauen – d.h. deren Axiome auch die Konstruktion der konkreten Systeme prägen – machen eine radikale begriffliche Neukonzeption notwendig, weil traditionelle Träger des Verständnisses von Kunst für Systemtheorie nicht mehr verfügbar sind: etwa die Figur des seine Intention in die Welt tragenden Künstlers (die Vorstellung von ›Bewusstsein‹ ist generell bei Luhmann theoretisch entlastet, also aus der traditionell zentralen theoretischen Inanspruchnahme genommen) oder die Orientierung an einer verfügbaren, kontextualisierenden Außenwelt, die entweder als Referenz oder als Stabilisator von Repräsentation eine Vorstellung von Kunst leiten könnte. Für seine Rekonstruktion von Kunst macht Luhmann nun ausgerechnet von einer jener komplexen systemtheoretischen Leitunterscheidungen Gebrauch, die gerade den Bruch mit gewohnten philosophischen Denkarten herbeiführen und damit ein Verständnis von Kunst (für die meisten ›unnötig‹!) zu erschweren scheinen: von der »Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation«5 . Wahrnehmung und Kommunikation sind für Luhmann füreinander inkommensurabel geworden, weil er erstere den psychischen Systemen, letztere den sozialen Systemen zuordnet und für jedes System alles außerhalb von ihm selbst bloß Umwelt und damit strikt unzugänglich ist. Knapp formuliert Luhmann dieses Axiom in Die Kunst der Gesellschaft folgendermaßen: »Wir begnügen uns daher mit der Feststellung, daß man Wahrnehmung und Kommunikation unterscheiden muß, ohne das eine im anderen fundieren zu können (wie es in der Tradition durch einen Begriff wie Denken geschieht).«6 Erst vor dieser Leitunterscheidung lässt sich die Besonderheit des Kommunikationssystems Kunst verstehen, denn Kommunikation durch Kunst scheint die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation auf gewisse 4 5 6

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 33. Ebd., S. 33. Ebd., S. 31.

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Art zu unterlaufen oder zu überschreiten, wie Luhmann in einer nie explizit beantworteten, tastenden Frage suggeriert: Könnte man sagen, daß Kunst wie eine Art von ›Schrift‹ die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt, die Wahrnehmungsunfähigkeit der Kommunikation kompensiert? Oder daß sie hier ein noch nicht besetztes Feld von Möglichkeiten entdeckt, in dem sie sich entfalten kann?7 Isoliert betrachtet muss Luhmanns Einfall, oder besser, die Formulierung dieses Einfalls, sowohl rätselhaft als auch vielseitig anschlussfähig erscheinen. Gerade an den Vergleich mit Schrift lassen sich verschiedenste Implikationen von Luhmanns Kunstkonzeption koppeln: etwa Torsten Hahns für diesen Band grundlegende medientheoretische Wendung, die ›Schrift‹ letztlich ›literal‹ versteht und auf das Vermögen von Literatur verweist, auf ihre Materialität als Drucksache aufmerksam machen zu können.8 Im Versuch, mit diesem Ansatz weiterzudenken, würde ich den Schritt hin auf eine ›konkrete‹ (mediale) Materialität zunächst suspendieren – und stattdessen noch ein wenig länger bei Luhmanns systemtheoretischer Konzeption von Kunst verweilen. Leitend für diese Entscheidung ist die Vermutung, dass Luhmanns Systemtheorie mit einem anderen (abstrakteren) Medienbegriff operiert – was für mich an sich hier nicht von Belang wäre, wenn sich dadurch nicht die Vorstellung von Materialität (und ihren sinnlichen Zugriffsschemata) verkomplizierte. Anders formuliert: Die Frage nach der Materialität von Literatur soll sich mir nicht aus dem tradierten und in Literatur selbst sedimentierten Selbstverständnis der Literatur, sondern von Luhmanns systemtheoretischer Konstruktion der Kunst her erschließen. Kehren wir also zur Frage nach dem Kommunizieren des Kunstwerks zurück. Der von Torsten Hahn herausgearbeitete Aspekt der von Kunst/ Literatur geleisteten ›Wahrnehmbarkeit von Kommunikation‹ (qua medialer Selbstreflexion) ist an der Systemstelle der Funktion eines sozialen Systems Kunst für eine eben funktional-ausdifferenzierte Gesellschaft angesiedelt; blickt also gewissermaßen soziologisch interessiert mit Luhmann auf das System Kunst – und auf die oben zitierte Formulierung – zurück. Kunstsystembildend ist diese ›Wahrnehmbarkeit von Kommunikation‹ freilich nicht

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Ebd., S. 33. Torsten Hahn: Drucksache. Medium und Funktion der Literatur, in: LiLi 49 (2019), S. 435449.

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– denn (fast) jede Kommunikation muss (solange sie nicht maschinell-automatisiert läuft) selbstverständlich wahrnehmbar sein, macht also Gebrauch von der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme. Kunstsystembildend ist, nach Luhmann, Kommunikation durch Wahrnehmung: [Kunst] unterscheidet sich in jedem Falle vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Sie mag sich dabei sehr wohl sprachlicher Mittel bedienen, etwa als Dichtung, aber nur, um in einer Weise aufzufallen, die nicht allein auf dem Verstehen des Gesagten beruht.9 Kunst mache »zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen«,10 sie suche »ein anderes, nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert«.11 Die Irritation dieses Verhältnisses speist sich aus dem Verhältnis der Kunst zur Sprache: Kunst kann es überhaupt nur geben, und das ist keineswegs so trivial wie es klingen mag, wenn es Sprache gibt. Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, daß sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache, also auch unter Vermeidung all der an Sprache hängenden Normalitäten durchzuführen. Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann. Kunst ermöglicht die Umgehung von Sprache – von Sprache als Form der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation. Sie ermöglicht damit auch und gerade dort, wo sie selbst sprachliche Mittel verwendet, andere Effekte.12 Die Radikalität von Luhmanns These einer »Umgehung von Sprache« zeigt sich wohl daran, dass er auch Geltung für sie beansprucht, wenn Kunst »Sprachtexte als Medium für Kunstwerke verwendet«.13 Auch Sprachkunst kommuniziert nach Luhmann nicht durch oder über Sprache – »obwohl, ja weil sie durch Worte (von Begriffen ganz zu schweigen), nicht adäquat

9 10 11 12 13

Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 45. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 39-40. Ebd., S. 36.

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wiedergegeben werden kann.«14 Auch sie kommuniziere durch Wahrnehmung – doch was ist darunter genau vorzustellen und wie funktioniert das? »Im Folgenden interessiert nur ein engeres Thema, nämlich die Frage, wie Wahrnehmbares für dann selbstläufige Kommunikation eingerichtet werden kann.«15 Dass Kunst »zweckentfremdete[n] Gebrauch von Wahrnehmungen« macht, indem sie sie in »eine Art von ›Schrift‹« verwandelt, kann in einem Derrida’schen Sinne verstanden werden. Schrift zeichnet nach Derrida aus, dass sie »mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendlich viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen«16 kann: Diese wesentliche Führungslosigkeit, die der Schrift als iterativer Struktur anhaftet, da sie von jeder absoluten Verantwortung, von dem Bewußtsein als Autorität in letzter Instanz abgeschnitten ist, verwaist und seit ihrer Geburt vom Beistand ihres Vaters getrennt, eben dies wird von Plato im Phaidros verurteilt.17 Übertragen auf die Luhmann’sche Ausgangslage bedeutet das Schrift-Werden von Wahrnehmung, dass sich diese aus dem Zusammenhang des psychischen Systems – und damit dem der scheinbar »berührungslos nebeneinander lebenden Monaden«18 der menschlichen Individuen mit ihren je singulären psychischen Systemen – löst, ihre Offenheit für neue Kontexte – Luhmann würde sagen: ihre Anschlussfähigkeit – nutzt, um als »selbstläufige Kommunikation« Stabilität als eigenständiges soziales System zu erreichen. Kunstwerke wären, vereinfacht gesagt, aus Wahrnehmungen gemacht und zwar auf eine Weise, dass diese aus sich heraus Stabilität generieren und, wie/als Schrift, das »Verschwinden«, die »Nicht-Anwesenheit« der ›ursprünglich wahrnehmenden Person‹ oder des psychischen Systems aushalten und überdauern können, die »Bedeutungsintention« oder das »Dieses-mitteilenWollen[]«19 der Wahrnehmungsinstanz (des psychischen Systems) hinter der Wahrnehmung abschütteln können.

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Ebd. Ebd., S. 31. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 325-351, hier S. 339. Ebd., S. 334. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 25. Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 16), S. 334.

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Luhmanns Ansatz, von den ›konkreten‹ medialen und vor allem materialen Gegebenheiten zu abstrahieren und Kunst auf ›Wahrnehmung‹ abzustellen, ist ungewöhnlich, vermutlich auch unpopulär. ›Wahrnehmung‹ scheint ein sekundäres, fast metaphorisch anmutendes Konzept, das sich in Zeiten des Interesses für ›Materialität‹ bloß als deren Widerschein, Effekt – also letztlich als unwesentlich behaupten kann. In einer solchen Vorentscheidung, die sich intuitiv sicher scheint, was genau Materialität ist, droht aber die spezifische Materialität des Kunstwerks ungedacht zu bleiben. Diese, so die These, folgt nicht der simplen Logik von Träger/Einschreibung, raffiniert nicht einfach die Formseite, lädt diese nicht, etwa reflexiv durch einen zusätzlichen Rückbezug auf die zugrundeliegende Materie auf (als re-entry der Materie in die Form). Die Materialität des Kunstwerks funktioniert differentiell und hinterfragt so die Schematisierung des Konkreten, Materiellen als gegebene, homogene Einschreibfläche, die der Differenzierung durch (intentionale) Formierung harrt. Es ist daher kein Zufall, dass Luhmanns systemtheoretische Konstruktion von Kunst mit differenztheoretischen Ansätzen gut kompatibel scheint – fast beiläufig streut Luhmann im betreffenden ersten Kapitel von Die Kunst der Gesellschaft (1995) affirmative Fußnoten etwa zu Derrida und Deleuze ein. Gerade in Hinblick auf die Konzeption des Kunstwerks als Machwerk aus selbstständig bestehender Wahrnehmung ist die Resonanz mit dem, was Gilles Deleuze 1981 in seinem Essay Francis Bacon: Logik der Sensation (frz. 1981) und zehn Jahre später gemeinsam mit Félix Guattari in Was ist Philosophie (frz. 1991) entwickelt, geradezu frappierend. An der für das Kunstwerk konstitutiven Stelle, an die Luhmann ›Wahrnehmung‹ setzt, ist für Deleuze in Hinblick auf Bacon zunächst die titelgebende ›Sensation‹ (frz. sensation) platziert: »Die Sensation ist das Gemalte«,20 schreibt Deleuze. ›Sensation‹ zeichnet ganz ähnlich wie bei Luhmann aus, dass sie nicht »über den Umweg des Codes, sondern stattdessen ›auf sinnliche Weise‹«,21 also eben ›direkt‹ als ›Sensation‹ funktioniert und nicht ›Sensation‹ durch künstlerische, etwa sprachliche Mittel abbildet. Kunst komponiert ›Sensationen‹/Empfindungen [sensations] – und ist selbst nichts als Komposition von sensations: Man malt, skulptiert, komponiert, schreibt mit Empfindungen [sensations]. Man malt, skulptiert, schreibt Empfindungen. Die Empfindungen als Perzep-

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Gilles Deleuze: Francis Bacon: Logik der Sensation, Paderborn 1981, S. 36. Ebd., S. 101.

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te sind keine auf ein Objekt verweisenden Perzeptionen (Referenz): ähneln sie einer Sache, dann ist es in einer durch ihre eigenen Mittel geschaffenen Ähnlichkeit, und das Lächeln auf der Leinwand ist lediglich aus Farben, Strichen, aus Schatten und Licht gemacht.22 Betont sei die Rolle der Präposition »mit«, die in einem starken Verständnis zu verstehen ist, wie paradoxerweise Deleuzes/Guattaris Doppelung des Satzes, die auf ein Fallenlassen der Präposition zuläuft, unterstreicht: Empfindungen sind nicht bloß das Material, aus denen der Künstler das Kunstwerk formt; die Empfindungen ›formen‹ mit – und zwar so, dass das Resultat‹, schief formuliert, das ›geformte Material‹, selbst nichts als (Differenzen von) Empfindung ist; Empfindung, die sich in ihrem »mit«-mit-sich-selbst als ›Form‹ erhält. Der Gegensatz von Materie und (dieser äußerlichen) Form kollabiert, weil sich letztere aus Verhältnissen ersterer bilden und stabilisieren lassen muss – und erstere selbst aus differentieller ›Formung‹ entstanden ist. Genau wie bei Luhmann ist es die Komposition des Kunstwerks, die die Loslösung der Sensation von der Person, die ›Schrift-Werdung‹ von Sensation ohne jede Art äußerer Stütze trägt. Daraus folgt, bei Deleuze/Guattari wie bei Luhmann, ein jedes künstlerische Werk tragendes, kunstinternes und damit auf Selbstreferenz beruhendes Kompositionsprinzip: »Der Künstler schafft Blöcke aus Perzepten und Affekten, doch das einzige Gesetz des Schaffens lautet: die Zusammensetzung muß für sich selbst stehen können.«23 Nur: Wie entsteht genau jene ›Selbstständigkeit‹? Was bewirkt, dass ein stabiler ›Empfindungsblock‹ sich bildet – oder, mit Luhmann gesprochen, jene »selbstläufige Kommunikation« sich einstellt? Deleuze/Guattari fordern ihren Leser*innen in der konsequenten Verweigerung einer analytisch tiefergreifenden Metasprache großes Wohlwollen ab und setzen ganz offenbar auf die Überzeugungskraft der Existenz und der Kraft von Kunstwerken selbst. Luhmann hingegen formuliert sehr konkret eine (abstrakte und auf Metasprache zurückgreifende) Theorie der sich als Kunst zwischen Wahrnehmungen herstellenden Konsistenz. Kehren wir also zu ihm zurück, um die von ihm ausgemachten »strenge[n] Anforderungen an die Formen, die ein Kunstwerk an dieser Nahtstelle psychischer und sozialer Systeme auszeichnen und bereitstellen können«24 muss, mitzuvollziehen.

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Ebd., S. 194. Ebd., S. 192. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 83.

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Es ist jener im Zitat anklingende, spezifische ›Form‹-Begriff, der für Luhmann das Rätsel der Konsistenz und der Kommunizierfähigkeit von künstlerisch zweckentfremdeter Wahrnehmung löst. Sämtliche Ingredienzien, auf die Luhmann in seiner Rekonstruktion zurückgreift, stehen, wie üblich, als Teil des allgemeinen systemtheoretischen Instrumentariums kunstunabhängig längst bereit. George Spencer Browns Proto-Mathematik ist Luhmanns Leser*innen bereits mindestens seit Soziale Systeme vertraut. Löst sie dort ein wichtiges Problem auf dem Weg zur Konstitution/Schließung autopoietischer Systeme (über das berühmte re-entry), greift Luhmann in Hinblick auf die Kunst auf grundlegendere Weise auf Spencer Brown zurück: hier werden die Charakteristika des Spencer Brown’schen Form-Begriffs in Anschlag genommen. Dieser Formbegriff setzt keine abstrakte Einheit, die unter sich eine gegebene Vielheit sammelt und zusammenschließt; Spencer-Browns Form kommt in die Existenz durch einen Befehl: »Draw a distinction!«25 Performativ unterscheidet diese Form sich selbst, die sie sich durch die Ausführung des Befehls ereignet und zugleich markiert/bezeichnet hat, von allem außerhalb von ihr, das unbezeichnet, also »unmarked state«26 bleibt. »[J]ede Formfestlegung«, kommentiert Luhmann, erzeuge »eine offene Flanke«,27 gewissermaßen ihre unmarkierte Außenseite (die jedoch als Außen der Form inhaltlich nicht unverrückbar vom Innen determiniert ist). »So entstehen«, schreibt Luhmann, »zweiseitig anschlußfähige Formen«,28 die einen anreichernden Formierungsprozess möglich machen: Wenn man […] auf der anderen, nicht festgelegten Seite der Form eine weitere Form sucht und bezeichnet, kann man von dort aus zurückkehren und findet den Ausgangspunkt verändert vor. Er ist jetzt die andere Seite der anderen Seite. Es kommt zu einer Sinnanreicherung, aber auch zu einer Wahrnehmung von Kontingenz […].29 Das Scharnier dieser »Sinnanreicherung« ist in der speziellen Charakteristik der Spencer Brown’schen Form zu suchen, die eben nicht »als ein gestalte-

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George Spencer Brown: Laws of Form, New York 1979, S. 3. Ebd. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 54. Ebd., S. 59. Ebd., S. 53.

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tes Objekt«30 erscheint oder ein solches Objekt konstituiert, sondern sich als eine Operation ereignet, als »difference that makes a difference (Bateson)«31 und damit sensibel bleibt für Folgeoperationen. Die eingetragene Grenze (distinction) hat dabei die paradoxe Eigenschaft, dass sie eine Asymmetrie zwischen ihren ungleichen Seiten (Bezeichnete Form/Außenseite »unmarked state«) einführt, in dieser Asymmetrie aber eine Symmetrie, eine Gegenseitigkeit der Sensibilität für Differenzierung des jeweils anderen etabliert. Über die distinction/Grenze hinweg formiert sich so ein produktives Verhältnis des mit: In der Operation trifft man hierbei eine Formentscheidung nach der anderen, mit jeder Formentscheidung wird eine nicht festgelegte andere Seite mitproduziert. Man bastelt ständig an den Folgeentscheidungen, um zu sehen, was man noch machen kann, um das Kunstwerk mit Komplexität anzureichern.32 Für das Textkunstwerk nimmt das »Spiel nichtbeliebiger Kombinationen«,33 wie Luhmann das Miteinander von sich wechselseitig anreichernden Unterscheidungen und Bezeichnungen nennt, heterogenste und deshalb schwierig ›konkret‹ ›medial‹ einheitlich zu fassende, ›Mit-Spielerinnen‹ auf: Das Textkunstwerk organisiert sich selbst mit Hilfe dieser Klangliches, Rhythmisches und Sinnhaftes kombinierenden selbstreferentiellen Verweisungen. Die Einheit von Fremdreferenz und Selbstreferenz liegt in der Wahrnehmbarkeit der Worte. […] In der Dichtung wird, wie sonst kaum möglich, das Kunstwerk mit seiner Selbstbeschreibung vereint.34 Wie etwa »Wortklänge und Sinnverweisungen einander wechselseitig erschließen«35 , lässt sich selbstverständlich nur am konkreten Textkunstwerk 30 31 32

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Niklas Luhmann: Die Autonomie der Kunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 424. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 48. Luhmann: Die Autonomie der Kunst (Anm. 30), S. 424, Herv. JU. Auch in der entsprechenden Stelle der Argumentation in Die Kunst der Gesellschaft ist dieses Verhältnis des mit in der Formulierung abgebildet: »Aber da jede Festlegung als Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite ihrer Form jene andere Seite mitkonstituiert […]«, Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 63. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 89. Ebd., S. 47. Ebd., S. 46.

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mitvollziehen. Dass dabei Visuelles nicht nur die »Wahrnehmbarkeit der Worte« und damit den Übergang von Fremdreferenz und Selbstreferenz garantiert, sondern, wie Torsten Hahn gezeigt hat, in der medialen Formierung von ›Literatur‹ eine oft unterschätzte Rolle spielt, wird sich am gewählten Beispiel zeigen. Gelesen werden soll Christian Morgensterns Gedicht »Die Trichter«.36 Die Trichter Zwei Trichter wandeln durch die Nacht. Durch ihres Rumpfs verengten Schacht fließt weißes Mondlicht still und heiter auf ihren Waldweg u. s. w. Allein ein erster flüchtiger Blick auf das Gedicht macht klar, dass dieses Textkunstwerk nicht allein durch Kombination von »Klangliche[m], Rhythmische[m] und Sinnhafte[m]« konstituiert wird: Luhmanns deutliche Neigung, die Textkunst an Lyrik zu modellieren bringt offenbar auch eine Vorliebe für den auditiven sensuellen Zugriff mit sich, die Morgensterns Gedicht in seiner bloßen Erscheinungsform direkt hinterfragt. Dass Lesen mit Sehen zu schaffen hat, dass die Materialität dieser Kunst-Kommunikation eine Drucksache ist – darauf macht dieses lyrische Textkunstwerk aufmerksam. Uns fasziniert, könnte man sagen, seine ›Form‹ – doch nicht im konventionellen Sinne, wie man Form als das abstrakte Ensemble nichtinhaltlicher Charakteristika eines Gedichts versteht, sondern zunächst als seine visuelle Erscheinungsweise, die wir, ohne zu lesen, schlicht sehen. Morgensterns »Die Trichter« gibt sich als Figurengedicht zu erkennen und reiht sich damit in eine lange und prominent besetzte Tradition ein.37 Unsere im Ausgang an dieses Gedicht gestellte Frage – wie stabilisiert sich hier Wahrnehmung zu Kunst als Kommunikation – ließe sich also umformulieren: Wie konstituiert sich hier die ›Figur‹ des Gedichts? Wie hält sie zusammen?

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Christian Morgenstern: Die Trichter, in: ders.: Galgenlieder (Anm. 1), S. 194. Vgl. für einen ersten Überblick: Jeremy D. Adler/Ernst Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1990.

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Es scheint, als ließe sich die lange Suche nach einer Antwort auf diese Frage abkürzen: Nutzt hier nicht ein Gedicht schlicht seine Minimalbedingung, den Versumbruch, um auf seine Medialität als Drucksache aufmerksam zu machen – indem es mit der Druckerschwärze seiner Worte und Buchstaben gewissermaßen ein(e) Ikon(e) eines Trichters malt? Eine solche Kommunikation wäre tatsächlich verstehbar – und sie kommunizierte, tatsächlich, obwohl es sich um ein Textkunstwerk handelt, auch nicht mit Sprache. Ein solcher Text wäre wohl (auf sparsame Weise) Gedicht und (vielleicht auch) Kunst – aber wäre er interessant? Würde er etwas mit uns Leser*innen machen? Wäre er gar witzig? Morgensterns Gedicht ist alles drei, was auf ›Anreicherung mit Komplexität‹ schließen lässt: Die visuelle Ebene ist nur eine Mitspieler*in in seinem vielschichtigen Treiben, das die Figur des Gedichts hervorbringt. Vollziehen wir, in Anlehnung an Luhmann, die Entscheidung, ein Figurengedicht zu fabrizieren, als initiale Formentscheidung des Gedichts mit. Die gezogene distinction besteht nun darin, alles Druckschwarze als markiert vom unmarkierten Rest zu unterscheiden. So entsteht eine Art lose schraffierte Fläche, die wir, ohne zu lesen, als trichterförmig wahrnehmen können. Ebenso wenig wie eine Kinderzeichnung ist eine solche Fläche ein Gedicht. Bislang unmarkiert, deshalb auf der ›Außen‹-seite der eingeführten Form (obwohl topographisch ›in‹ ihr situiert), muss nun, nach und nach, die Ebene von Sprache und Text durch Formentscheidungen eingeführt und markiert werden. Etwa durch die Formentscheidung, dass zwei Satzgruppen, ein ganzer Satz und ein nicht geschlossener Satz das die Schwärze liefernde Wortmaterial bilden. Dieses Satzmaterial ist von der initialen Form mitgeprägt – so sind die Umbrüche motiviert. Zumindest fast, denn, genau betrachtet, entpuppt sich der erste Satz des Gedichts als dessen (heimliche) Basis, der auch die genaue Ausformung der initialen Figur-Formentscheidung mitprägt. Der erste Satz wird zum ersten Vers, weil seine syntaktische Einheit mit einer metrischen Einheit zusammenfällt – man könnte, umgekehrt und besser auch sagen, dass sich an und mit ihm das metrische Maß des Gedichts entwirft. Seine acht Silben sind so realisiert, dass sich unbetonte und betonte Silben regelmäßig abwechseln; der zweite Vers verstetigt durch Wiederholung die in der Realisierung von Silbenzahl und (fast übertrieben klappernd gestaltetem) Silbengewicht auffällige Regelmäßigkeit zum Eindruck eines metrischen Schemas. Auch er ist aus acht jambisch alternierenden Silben gebaut und etabliert einen Paarreim. Die Formentscheidung, dem Gedicht eine recht strenge metrische Regulierung zu geben, wirkt, in Hinblick auf den Umbruch der ersten beiden Verse,

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auf die initiale Formentscheidung der Trichter-Figur zurück: Sie schränkt die Realisierungsmöglichkeiten der trichterförmigen Verengung stark ein; da die Silbenzahl metrisch reguliert ist, steht bloß der Rückgriff auf weniger raumgreifendes Buchstabenmaterial zur Verfügung, um überhaupt eine Weise der Verengung zu realisieren. Die Investition lohnt sich aber, denn mit diesen beiden ersten Versen ist das metrische Schema (vierfüßig, jambisch, paargereimt) ausreichend wahrnehmbar gemacht, um im Folgenden auf die konventionelle typographische Markierung der metrischen Gliederung verzichten und die mit der initialen Formentscheidung beschlossene Verengung auch auf Silbenebene konsequent realisieren zu können: So verliert von Vers drei bis fünf jede Zeile exakt eine Silbe. In der Einbindung der Abkürzung gipfelt dann das Gedicht. Es gipfelt hier, weil auch die Einführung dieser Abkürzung eine folgenreiche Formentscheidung ist; sie doppelt letztlich die Entscheidung einer typographischen Preisgabe des metrischen Schemas ab Vers drei. Mit Einführung der Abkürzung wird auch das zuvor etablierte Schema der Silbenreduktion aufgegeben – die letzten drei Verse sind zweisilbig – und zwar nicht (nur) aus Zwang (es stünde etwa die Abkürzung u.s.f. zu Verfügung, die ›passend‹ auf einer Silbe enden würde). Schon jetzt – und das heißt, ohne das Gedicht überhaupt ›inhaltlich‹ gelesen zu haben – ist ein Grundcharakteristikum des von Luhmann beschriebenen Spiels der Komplexitätsanreicherung zu identifizieren: Das Gedicht integriert nicht schlicht Folge-Formentscheidungen in eine initiale, übergeordnete ›Grund-Entscheidung‹: Einfach formuliert, es verfüllt nicht den visuellen Trichter möglichst harmonisch mit Wort und Silbenmaterial, um handwerklich eine möglichst stabil-gesättigte Figur zu verfertigen. Ein solches Vorgehen wäre auch mit Luhmanns von Spencer Brown geborgtem Werkzeug der zweiseitig anschlussfähigen Form gar nicht rekonstruierbar. Jede neue Formentscheidung macht ja einen Unterschied – auch und gerade für die zuvor getroffenen; diese bleiben immer im Spiel, können sich nicht an sich und von vornherein hierarchisch verfestigen oder in ein funktionales Abhängigkeitsverhältnis fügen. Erst in und durch diese stetigen Verschiebungen konstituiert sich, als Effekt, ›die Figur‹ des Gedichts. Dieses Miteinander der Formentscheidungen ist unhintergehbar. Deshalb greift die oben versuchte Abkürzung eines Deutungsversuchs, der auf das scheinbar konstitutive Charakteristikum der visuellen Gestalt und seines reflexiven Bezugs auf die eigene ›konkrete‹ Materialität oder Medialität zurückgreift, auch so kurz. Morgensterns Gedicht sichert sich explizit gegen solch abkürzende und eindeutige Lektüre ab, indem es die Zweiheit (als minimale Vielheit) ausstellt,

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die ein Spiel als Spiel nicht bloß auszeichnet, sondern die es zur Bedingung hat. Wie in der begonnenen Analyse bereits angedeutet, trägt das Gedicht Spannungen oder Reibungen von gegenstrebigen (Ordnungs-)Kräften aus. So konkurrieren in Morgensterns Textkunstwerk zwei Kräfte um die Herrschaft über das Minimalkriterium des Lyrischen, den Versumbruch: Die ›initiale Formentscheidung‹, die aus arrangierter Druckerschwärze einen Trichter malt und die metrische Gliederung des Gedichts, die sich als regelmäßige Organisation von Lauteinheiten organisiert. Die zwei Kräfte stützen sich auf verschiedene Sinneszugriffe: erstere auf den visuellen Zugriff des Sehens, letztere, als Rhythmus (Versmaß) und Klang (Reim) auf den auditiven Zugriff des Hörens. Man mag versucht sein, das Spiel des Gedichts als Inszenierung einer Zugriffs- oder vielleicht sogar ›Medien‹-Konkurrenz zu lesen – und es so als Spiel aufzulösen. Schließlich zeigt dieses (singuläre) Gedicht, dass auch von Lyrik oder Poesie ihre Eigenart als Drucksache zumindest nicht generell verlustfrei abstrahiert werden kann. Morgensterns »Die Trichter« ist in das Medium des Lautes, im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten, nicht übertragbar. Selbst wenn deutliche Sprechpausen die Minimalbedingung des Versumbruchs, auch gegen andere lautliche Gliederungen wie den Reim und das mit den ersten beiden Versen etablierte Versmaß, behaupten – die durch die Abkürzungen im Medium der Schrift verwirklichte Trichterspitze ist lautlich nicht zu transportieren. Und doch: Ähnliches trägt sich zu, wenn eine Projektion in die Ebene des gedruckten Schriftlichen unternommen wird. Nicht nur müsste Vers sechs, ohne Rücksicht auf die Lautlichkeit der Silben, rein visuell als Webfehler betrachtet werden (hier verengt sich schlicht nichts) – insbesondere der sich hinter der Abkürzung des letzten Verses verbergende Reim, ein tragendes Element des Gedichts, würde unwahrnehmbar. Morgensterns »Die Trichter« kontert das von ihm selbst erregte Interesse an seiner ikonografischen Erscheinung schon im Titel, und zwar auf äußerst irritierende Weise. Das Gedicht heißt schließlich nicht »Der Trichter«, sondern setzt das, was es auf visuell typographischer Ebene malt, eigenartig in den Plural. Diese Doppelung ist zwar auf inhaltlicher Ebene plausibel gemacht, schließlich »wandeln«, wie der erste Vers erzählt, »[z]wei Trichter […] durch die Nacht« – es tritt uns, lesen wir diesen Text ›sehend‹, aber bloß ein visuell realisierter Trichter entgegen. Es fragt sich: Wo bleibt der zweite? Der durch die Differenz von Druckerschwärze und Papier realisierte allein löst das im Titel Versprochene nicht ein. Nur dem, der das Gedicht liest, es also nicht bloß sieht, begegnet des Trichters fehlendes Doppel, ohne das er als Kunst-Figur nicht ausreichend Stabilität hätte: sein Supplement,

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das ihn erst ausreichend ver-dichtet (und damit, wie wir später sehen werden, erst zum Trichter macht!), ohne dabei visuell in Erscheinung treten zu können. Auditiver und visueller Zugriff stehen im Konflikt, denn konventionellerweise müsste sich das Gedicht in schriftlicher Form als paargereimtes Quartett präsentieren, also mit vier gleich organisierten, vierfüßig jambischen Versen, ohne jede ikonografische, trichterartige Verengung. Und doch würde ich behaupten, dass das, was wir (vor unserem inneren Ohr) hören, das konstituierende Echo des visuellen Druckerschwärze-Trichters ist und dieser Druckerschwärze-Trichter wiederum der konstituierende Schatten seines Echos; dass die Trichter nur so, als Duo, im Plural überhaupt wahrnehmbare Kommunikation oder, besser, kommunizierende Wahrnehmung werden. Erst so werden sie Figur(-Gedicht). Figura ist klassischerweise, siehe Auerbach, ein singulär Doppeltes, das seine aufsprengende Kraft, wie seine plötzliche Realisierung, aus einem unwahrscheinlichen Bezug heraus entfaltet.38 In verwandtem Sinne ist Morgensterns Gedicht Figur. Es richtet sich aus der Spannung auf, die sich zwischen zwei sensuellen Wahrnehmungsarten aufbaut, die es miteinander ins Spiel bringt. Für das Gedicht ist essentiell, dass es keinen Übergang zwischen Visuellem und Auditivem gibt. Eben auf diesem Axiom, der Unmöglichkeit des keinen Unterschied produzierenden Übergangs, basiert der von Luhmann gebrauchte Spencer Brown’sche Formbegriff: nur weil es keine größere Einheit gibt, die die distinction und ihre Außenseite rahmt, nur deshalb kann aus dem initialen Ziehen einer Unterscheidung und dem Prozess von weiteren Unterscheidungen überhaupt Ordnung entstehen. Diesem konstitutiven »Spiel nichtbeliebiger Kombinationen«39 ist sich deshalb nur schwer mit traditionellen Begriffen von ›zugrundeliegender‹ Medialität zu nähern. Meines Erachtens konfrontiert uns Morgensterns Gedicht mit dem, was Niklaus Largier, mit Auerbach und Deleuze über ›Figur‹ nachdenkend, ein »Wahrnehmungsereignis[]«40 nennt: »Der Begriff

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39 40

Vgl. Erich Auerbach: Figura [1938], in: Friedrich Balke/Hanna Engelmeier (Hg.): Mimesis und Figura, Paderborn 2018, S. 121-188; zur Doppelheit von Figura, die als Berühren in Lyrik (hier Rilkes) sich realisiert, siehe Johannes Ungelenk: An Rilkes (sich) rührenden Figuren rühren, in: Dea Erwig/Johannes Ungelenk (Hg.): Berühren Denken, Berlin 2021, S. 217-235. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 89. Niklaus Largier: Zwischen Ereignis und Medium. Sinnlichkeit, Rhetorik und Hermeneutik in Auerbachs Konzept der figura, in: Christian Kiening/Katharina Mertens Fleury

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des Mediums würde gerade dieses Moment verschwinden lassen«,41 schreibt er, um einige Seiten später hinzuzufügen, dass die Figur von »Ruhelosigkeit und von Spannungsverhältnissen gezeichnet [sei], die jedes etablierte Medium zerbrechen und immer neue Möglichkeiten dargestellter Wirklichkeit entstehen lässt.«42 Auch wenn dieses kunstspezifische Spiel medientheoretisch nicht ohne weiteres zu fassen sein mag, so lässt sich Luhmanns These des ›Spiels nichtbeliebiger Kombinationen‹ im literaturwissenschaftlichen Kontext nur schwerlich als neu und innovativ verkaufen. Über nichtbeliebige Kombination etwa hat bereits Roman Jakobson mit seiner berühmten poetischen Funktion prominentes Zeugnis abgelegt.43 Sie projiziert bekannterweise das Prinzip der Äquivalenz von den Paradigmen eben auf die Achse der Kombination, operiert dabei, in der Beziehung der Mitteilung auf sich selbst, ganz Luhmann’sch, zugleich als ein autopoietisches Prinzip der Selbstreferenz.44 Und doch lenkt Luhmanns in Anschlag genommener Formbegriff den Fokus auf die Art der Beziehung, die den Prozess des Operierens zwischen den ›einzelnen‹ Formen möglich macht und zugleich realisiert: Form, mit Luhmann zweiseitig verstanden, reichert Komplexität an, indem Formsetzung auf der einen Seite die andere Seite mitkonstituiert, also entscheidend verschiebt, sie zu einer anderen Seite, einer dann anderen Seite macht. Es ist jene abstrakte Beziehung, die mir für die im Band gestellte Frage eines »Sehen/Lesen« so interessant scheint, auch wenn sie an dieser Stelle noch nicht direkt das Verhältnis von Rezipient/Text, sondern vorerst die, nach Luhmann, konstitutiven Verhältnisse (›innerhalb‹) des Textes betrifft: Ich möchte diese Beziehungen an einem anderen, ›sinnlichen‹ ›Zugriff‹ modellieren, der, genau bedacht, eben kein Zugriff ist, sondern just die Enthaltung eines Zugriffs: das Berühren. Dies bedarf der Erklärung. Das Argument folgt Jean-Luc Nancys Lebensprojekt, den eine Ausarbeitung des von Heidegger skizzierten aber nicht mit sonderlich viel Gewicht belegten Existenzials Mit-Sein45 auf recht direktem Wege in ein Nachden-

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(Hg.): Figura: Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, Würzburg 2013, S. 5170, hier S. 67. Ebd. Ebd., S. 69. Roman Jakobson: Linguistics and Poetics, in: Thomas A. Sebeok (Hg.): Style in Language, Cambridge, MA 1960, S. 350-377. Ebd., S. 358. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967, §25-27, S. 114-129.

Lesen/Berühren

ken über das Konzept des Berührens führt.46 Berühren löst sich hier vom Verständnis des sinnlichen Zugriffs eines Subjekts auf seine Welt – Berühren wird abstrakte Figur, als die sich Mit-Sein, in einem ontologischen, und eben nicht mehr auf die Erfahrungen eines phänomenologischen Subjekts beschränkten Sinne vollzieht. Berühren, so verstanden, prägt eine unhintergehbare Gegenseitigkeit; das Ereignis eines Berührens tangiert beide Seiten, macht einen Unterschied für alle Involvierten. Ein so gedachtes Mit-Sein als Berühren hebt die Hierarchie von aktiv-passiv auf. Dabei, und darin liegt die zentrale Charakteristik, ereignet sich mit dem Kontakt immer zugleich Differenz; durch den Kontakt bleibt Abstand gewahrt. Zudem: Kontakt ist nicht medial oder topologisch eingehegt, deswegen in seinen Folgen auch unvorhersehbar. Und: Berühren ist eine Operation, eine Bewegung. Berühren ereignet sich, durch eine Näherung und eine Abstoßung, als Berührung ist es Prozess, der in Kristallisation aufhört zu sein, auch, weil er nur als Prozess Wirkungen entfaltet. Die Effekte von Berührungen mögen der Flüchtigkeit von Berühren selbst trotzen, zum Objekt gerinnen und so gesehen werden können – das Berühren selbst als Prozess oder Operation nicht. Sichtbar sind bloß Effekte.47 ›Figur‹ im Singular – wie es die Bezeichnung des Figurengedichts für das einzelne Kunstwerk setzt – ist ein solcher Effekt. Als »eine Art von ›Schrift‹« ist die Materialität des Kunstwerks, nach Luhmann und Deleuze, so nicht in ihrem ›materiellen Träger‹ (Papier, Druckerschwärze), sondern in ihrer Komposition aus Berührungen zu denken: als gewobene Textur, die ihre Stabilität daraus gewinnt, dass Fäden in Kontakt treten, sich vielfach kreuzen und so mit-einander ein Gewebe hervorbringen. Für sich ist jede Berührung – ein einfaches Aufliegen – instabil; Festigkeit und Dichte sind bloßer Effekt jenes Miteinanders. Letztlich ist es eine Kombination aus Reibungen und Ordnungen, die gemeinsam Stabilität schaffen. Die Fäden bleiben aber, auch und gerade im Gebrauch des ›fertigen‹ Gewebes, in Interaktion, sie verteilen einfallenden Druck, verdichten sich bei benachbarten Penetrationen oder verlieren an Spannung, wenn ein Kettfaden reißt. 46 47

Vgl. Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Zürich 2004; Jean-Luc Nancy: Corpus, Zürich 2003; Jean-Luc Nancy: Rühren Berühren Aufruhr, in: SubStance 40.3 (2011), S. 10-17. Gilles Deleuze weist darauf hin, dass auch die fundierenden ›Strukturen‹, für die sich ›der Strukturalismus‹ interessiert, bloß als Effekte ›sichtbar‹ werden, also, in Deleuzes Worten, »nicht aktuell [sind]. Aktuell ist das, worin die Struktur sich verkörpert, oder vielmehr das, was sie konstituiert, indem sie sich verkörpert«, vgl. Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus, in ders.: Die einsame Insel, Frankfurt a.M. 2003, S. 248-281, hier S. 260.

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Obschon Effekt, kommt Figur nach Deleuze eine wichtige Aufgabe zu, die sich, meiner Ansicht nach, problemlos von den gemalten Figuren Francis Bacons auf die visuell-gedichteten Morgensterns übertragen lässt: »eine multisensible Figur visuell erscheinen zu lassen«,48 also »unsichtbare Kräfte sichtbar [zu] machen« hält Deleuze sogar für die »wesentliche Funktion der Figuren.«49 Dennoch ist beim Rückgriff auf das Sehen als Zugriffsmodus Vorsicht geboten. Wie Niklaus Largier in seiner Analyse von Figur schreibt, lässt uns die Hegemonie des Visuellen mit zu Dingen erstarrten (ehemaligen) Kräften zu tun haben, auf die wir in einem Verhältnis von ›Objektivität‹, also ohne involviert zu sein, gewissermaßen von oben zugreifen – denen gegenüber wir Zuschauer sind, würde Morgenstern sagen. ›Berühren‹, als ein Verhältnis des mit statt des zu, unterläuft nach Largier diese stillstellende Zurichtung: »Or, to put it differently, the ›tactile‹, touching and being touched, is the name for an experience that deconstructs the objectivity of vision and its plane of reification«.50 Obwohl Luhmanns systemtheoretisches Instrumentarium sich in mancher Hinsicht sensuell verdächtig dem visuellen Schema zuzuneigen scheint (etwa der Rückgriff auf die ›Beobachter‹ erster und zweiter Ordnung), unterläuft seine abstrakt-systemtheoretische Neubestimmung vieler augenscheinlich vertrauter Begriffe just jenes Schema. Verantwortlich dafür ist vor allem eine zentrale Umstellung: die Umstellung, Beobachten als Operation zu begreifen; also nicht als passiven Akt des distanzierten ›Wahrnehmens‹, der hinter seinem Ergebnis (dem Erkennen, der Wahrheit) verschwindet und der auf der Seite des Wahrgenommenen keinen Unterschied machte, sondern als uns schon vertrauten »Formgebrauch«: »den operativen Gebrauch einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite, also auf ihren Gebrauch als Form. Wir nennen diesen Formgebrauch Beobachten.«51 Daraus lässt sich, wie geschehen, eine ›Re-Konstruktion‹ des Kunstwerks als Komposition von sich anreichernden Formunterscheidungen (oder

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Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 20), S. 41. Ebd., S. 54. Niklaus Largier: Figure, Plasticity, Affect, in: Gabriele Brandstetter/Gerko Egert/Sabine Zubarik (Hg.): Touching and Being Touched: Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement, Berlin 2013, S. 23-34, hier S. 29. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 66.

Lesen/Berühren

Berührungen) ausfalten: die »Paradoxie des als Operation begriffenen Unterscheidens« macht »Kunst zur Artikulation ihrer Selbstreferenz, und entsprechend erlaubt sie sich alles, was selbstreferentiell anschlußfähig ist.«52 Luhmanns Formbegriff hat Implikationen jedoch nicht nur für die konstitutiven Verhältnisse ›innerhalb‹ des Kunstwerks, sondern insbesondere auch für seine ›Außenverhältnisse‹: der Formbegriff verklammert beide, involviert die beiden Verhältnisse gewissermaßen, sodass das mit der Formunterscheidung des Kunstwerks ein mit der Rezipientin unhintergehbar impliziert. Zugespitzt formuliert: Das Lesen der Textberührungen kann nicht anders als selbst ein Berühren sein (und umgekehrt: die Textberührungen sind zugleich Effekt von exakt solchen Berührungsakten).

Was heißt Lesen? – Berühren II »Man mag sich fragen, ob der Begriff ›Lesen‹ dann noch sinnvoll ist,«53 schreibt Luhmann in einer Fußnote und markiert damit die Reichweite der Verschiebung, die seine systemtheoretische Konzeption von Textkunst mit sich bringt: Textkunst unterscheidet sich von normaler Textgestaltung, die, wie man im postmodernen Jargon sagt, einen ›readerly text‹ anstrebt und dem Leser damit die passive Rolle des Verstehens zuweist; sie unterscheidet sich dadurch, daß sie dem Leser ein ›rewriting‹, eine Neukonstruktion des Textes zumutet.54 In anderen Worten: »Die übliche Darstellung mit Hilfe der Unterscheidung aktiv/passiv versagt«55 und damit auch die Analogie, die das konventionelle Pärchen Lesen/Verstehen mit dem visuellen Schema Sehen/Erkennen verbindet. Dass »Beobachten […] immer aktives Beobachten«56 ist, erschüttert die Grundfeste der Orientierung des Lesens am traditionellen Kommunikationsmodell. Da, nach Luhmann, »die Formenabhängigkeit für Künstler und Be-

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Ebd., S. 75. Ebd., S. 27. Ebd., S. 46. Ebd., S. 68. Ebd.

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trachter gleichermaßen gilt«57 relativiert sich die Unterscheidung von »Produktion und Rezeption«.58 Beide, Dichter*in und Leser*in, tun schlicht dasselbe, sie beobachten, treffen also Formentscheidungen: Die Differenz liegt […] darin, daß die herstellende Beobachtung, die die Herstellung begleitet, nur einmal erfolgen kann, die betrachtende Beobachtung dagegen wiederholt (und deshalb von Fall zu Fall verschieden). Das Kunstwerk muß deshalb im Verhältnis zur Operativität seiner Beobachtung ein zeitabstraktes Gebilde sein.59 Der von Morgenstern beschworene »Bildnertrieb« ist also, folgt man Luhmann, in der Kunst tatsächlich aktiviert; Lesen von Textkunst wäre als »mitspielen, mit-schaffen« treffend charakterisiert. Gemeinsam mit der ›Autorin‹ am Textkunstwerk »beteiligt«60 zu sein, darf aber keinesfalls als eine Form von Dialog über das Kunstwerk hinweg missverstanden werden. Denn maßgeblich für das Spielen sind nicht diese beiden (oder letztlich mannigfachen) Spieler*innen, sondern das, womit sie spielen, womit sie sich involvieren: als ›Material‹ lässt sich dies nicht fassen. Morgensterns »Walnußschale mit der Vogelfeder« ist selbst Resultat mehrerer Formentscheidungen, die, und das ist das Entscheidende, mit »Kontingenz«61 hantieren und bloß im Miteinander und im Mitvollzug der Rezipient*in ein selbstständiges Kunstwerk komponieren. In der im Kunstwerk wahrnehmbar werdenden Kontingenz klingt nicht nur das Verhältnis des mit, sondern auch ›das Haptische‹ dieses Verhältnisses an. Luhmanns Formulierung der »Neukonstruktion« oder des »re-writings« droht die Involviertheit, in die Lesen verwickelt, fast ein wenig zu verdecken. Bei Deleuze wird die auch körperlich gedachte Involviertheit, hier an der Rezeption eines Gemäldes entwickelt, in ihrer Komplexität der Verhältnisse deutlicher: Und im äußersten Fall ist es derselbe Körper, der sie gibt und empfängt, Objekt und Subjekt zugleich. Ich als Zuschauer erfahre die Sensation nur, in-

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Ebd., S. 75. Ebd., S. 65-66. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 53.

Lesen/Berühren

dem ich ins Gemälde hineintrete, indem ich in die Einheit von Empfindendem und Empfundenem gelange.62 Hieran lehnt sich Niklaus Largier wohl an, wenn er die Involviertheit selbst explizit als Berühren benennt: »Touch is the name for this temporal and spatial involvement and abandonment where all our possibilities of perception are formed and informed by the figures that emerge before our eyes.«63 Just jenes ereignet sich – übrigens spricht auch Luhmann vom Lesen (eines Textkunstwerks) als einem »ereignishafte[n], also real nur in der Zeit stattfindende[n] historische[n] Geschehen.«64 – wenn wir etwa Morgensterns »Die Trichter« lesen. Ein Gedicht ist als Gedicht nicht zu verstehen, sein (Sinn)Gehalt ist nicht zu ›erkennen‹. Lesen ist kein Sehen. Besser: kein solches Sehen. Lesen impliziert, sich zu involvieren, sich hinzugeben, mit der Figur, ihren Formunterscheidungen, Resonanzen, Differenzen, Reibungen und Kräften mitzutun. Und dabei etwa zu merken, dass das Textkunstwerk hier in seiner als Kunstwerk sich (meist) vollziehenden »Selbstbeschreibung«65 zugleich eine Beschreibung seiner Lektüre mit-liefert. Die »zwei Trichter«, von deren »[W]andeln durch die Nacht« das Gedicht erzählt, sind uns vorhin, in der formalen Analyse, schon begegnet: Einer dieser Trichter gibt sich uns sogleich visuell zu erkennen; der andere, so die These, begegnet uns als sein Echo, gibt sich zu hören. Doch warum soll dieses vierfüßig jambische, als paargereimtes Quartett gebaute Lautgebilde ausgerechnet ein Trichter sein? Wo liegt hier seines »Rumpfs verengte[r] Schacht«, möchte man fragen. Sehen oder erkennen lässt sich dieser Schacht nicht – außer vermittelt über seinen visuellen Schatten. Aber: selbstverständlich hat dieses Lautgebilde mit ›Verengung‹ zu tun. Ein Gedicht konstituiert sich als Verdichtung, oder, Luhmann’sch formuliert: »dadurch, daß die Formen, die es intern verwendet, die Möglichkeiten der jeweils anderen Seite einschränken […], dadurch, daß es Einschränkungen zur Erhöhung der Freiheitsgrade für die Disposition über weitere Einschränkungen verwendet.«66 Morgensterns »Die Trichter« ist, könnte man sagen, ein Meta-Gedicht. Es gibt zu sehen, was wir zusammen mit dem Gedicht tun, wenn wir es (gründlich) lesen: Kontingenz verdichten und dabei Sinn anreichern. In den (Mit)Vollzug dieses Anreicherungspro62 63 64 65 66

Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 20), S. 51. Largier: Figure, Plasticity, Affect (Anm. 50), S. 29. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 76. Ebd., S. 47. Ebd., S. 62.

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zesses sind wir erst minimal eingestiegen. Zu sprechen wäre etwa über den (neo)romantischen Topos des nächtlichen Wandelns im Wald, der auch thematisch ein sofort identifizierbares lyrisches Setting etabliert. Die oben bereits analysierten, übertrieben konventionellen Formentscheidungen zu Versifikation und Metrik schnüren das Korsett lyrischer Formgebung bewusst fast ruckartig eng – Symptom hierfür ist der poetisch abgegriffene, altertümlich wirkende anastrophische Genitiv des zweiten Verses. Neben diesen ironisierenden Markierungen verdichtet Morgensterns Gedicht aber auch durchaus kunstvoll Sinn, Rhythmus und Klang, etwa in der Etablierung des Oppositionspaars ›dunkel‹/›hell‹. Semantisch etabliert vor allem der erste Reim aus »Nacht« (V. 1) und »Schacht« (V. 2) das Dunkel, verstärkt durch die dunkle Lautung beider Worte. Weil auch die Assonanz von »durch« (V. 2) und »Rumpf« (V. 2) dunkel vokalisiert ist und zugleich an die Semantik des als eng und dunkel konnotierten Schachts anschließt, dominiert die ersten beiden Verse die Abwesenheit von Licht. Umso deutlicher tritt aus diesem Dunkel die im Titel voranstehende Figur, »Zwei Trichter« hervor: wieder ist es die Lautung, das helle [i], im Diphtong [ai] ins nahezu gleißend Grelle übersteigert, die hier im Spencer Brown’schen Sinne einen Unterschied macht. Im Spiel zwischen Lautung und Inhalt performiert das Gedicht gewissermaßen in seinem ›Inneren‹ die initiale Formentscheidung seines visuellen ›Äußeren‹; wie ein (lautliches) Dia-Negativ wiederholt die Absetzung der hellen Trichter von der dunklen Nacht die Formentscheidung des visuell druckerschwarz-dunklen Trichters vor dem weißen, unmarkierten Hintergrund. War die metrisch erste Hälfte des Quartetts dunkel ausgestaltet, wendet die zweite Hälfte die Lichtstimmung ins Helle. Das »weiße[] Mondlicht« (V. 3) tritt nicht nur auf den Plan, mit ihm etabliert sich das schon mit den zwei Trichtern aufblitzende, helle [i] als Grundlautung, der Reim aus »heiter« (V. 4) und »w[eiter]« (V. 8) nimmt dabei sogar das Gleißen des explizit als »weiß« (V. 3) ausgewiesenen Diphtongs auf. Mit Luhmann könnte man sagen, dass sich im Gedicht so etwas wie ein Spencer Brown’sches re-entry abspielt; also im Gedichtinneren die initiale Unterscheidung selbst, dann als Opposition von ›dunkel‹ und ›hell‹, beobachtbar wird. So ließe sich eine Schließung erklären, die den Anreicherungsprozess des Gedichts zu einem selbstständigen Ganzen verdichtet. Aber: der Eindruck, auch körperlich verstanden, der beim Lesen des Gedichts, beim konkreten Mit-Vollziehen seiner Kräfte, entsteht, ist ein anderer: Das Fließen des weißen Mondlichts bleibt keine abstrakte semantische Reflexionsfigur für die Materialität der Drucksache. Der Prozess des Fließens und die damit verbun-

Lesen/Berühren

dene, gerichtete Kraft nimmt die Leser*in auf: denn wie das Mondlicht fließt auch die Leser*in durch den »verengten Schacht« der Gedicht-Trichter. Das Mondlicht fließt, die Leser*in ›(f)ließt‹ [sic!] – und das gemeinsam. Dabei stellt sich, wie das Gedicht behauptet und wie wir Leser*innen bestätigen können, entgegen der Erwartung des dunklen Ausgangszenarios, keinerlei Beklemmung ein, im Gegenteil: »still und heiter« (V. 4) beschreibt sehr treffend die Gestimmtheit auch der Leser*in. Trotz der visuell ausgestellten Verdichtung (ver)schließt sich inhaltlich und semantisch das Gedicht nicht: Die lapidare, abgekürzte Formel »u. s. w.« steht nicht nur im harschen Kontrast zur lyrischen Gestelztheit der ersten beiden Verse; sie stellt zugleich aus, dass sich das Gedicht am Ende keineswegs abdichtet, sondern hin auf das Ungewisse, radikal Unbestimmte, man könnte sagen: in die reine (und auch belanglose) Kontingenz öffnet. Versteckt hinter dem unter großen Formzwang zu einem einzigen Buchstaben verdichteten letzten Vers streicht Morgensterns Gedicht die Bedrohlichkeit und Beklemmung des Lyrischen genüsslich durch: »[w]eiter« (V. 8), als Komparativ gelesen, antwortet auf die Enge des »verengten Schacht[s]«: hier formiert sich gleich auf mehreren Ebenen eine Pointe. Das konstitutive Verdichten des Gedichts wendet sich vom Bedrohlichen zum Heiteren des mitzuvollziehenden Spiels mit Kontingenz und Offenheit und betont, ganz wie Luhmanns Formel, die »Erhöhung der Freiheitsgrade«, die gerade aus »Einschränkungen« erwachsen – und ermöglicht so, aus lyrisch Abgedroschenem oder gar unlyrisch Belanglosem, wie aus Walnußschale und Feder, Kunst zu machen. Die Involviertheit der Leser*in muss sich dabei gar nicht daran zeigen, dem vom Mondlicht ausgewiesenen Waldweg weiter zu folgen und, wie in diesem Aufsatz geschehen, in einer Art schleifenartigem re-reading und re-writing die Formentscheidungen und Sinnanreicherungen von Morgensterns Textkunst mitzuvollziehen. Lesen von Kunst, wie Luhmann es nachzeichnet, ermöglicht »andere Effekte«67 als ein alltägliches verstehendes Aufnehmen von Informationen. Deleuze und Largier spitzen dies auf eine geradezu körperliche Ebene zu. Morgensterns so plakatives wie komplexes Gedicht macht diese Zuspitzung spürbar. Hier lässt sich schon bei der ersten, flüchtigen Lektüre erleben, dass die Hingabe an das Mit-Spielen, das Involviertsein einen Unterschied macht: Lesen (von Kunst) rührt an uns; nicht immer kitzelnd, selbstverständlich, nicht immer als kaum zu leugnendes ›körperliches‹ Symptom. Und doch vermag komische

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oder humoristische Textkunst an diese Kräfte zu erinnern, die, in mannigfaltigen Varietäten und Intensitäten, im Zwischenspiel des Lese-Kontakts mit wohl allen (Text)Kunstwerken wirken.68 Bei allem Verweis auf das Berühren: Die Sensibilität für diese Kräfte ist nicht auf die Vorherrschaft eines der fünf Sinnesorgane oder ihrer Wahrnehmungsmodi angewiesen, im Gegenteil. Mit Deleuze »wird man vom Haptischen immer dann sprechen,« wenn die Hierarchisierung von sinnlichen Zugriffen oder Schemata suspendiert ist, »wenn weder eine enge Unterordnung in dem einen oder anderen Sinn noch eine lockere Unterordnung oder virtuelle Verbindung bestehen«.69 »[D]em Sehen nur jenen haptischen Sinn zurückgeben«,70 dem »Blick selbst eine Tastfunktion in sich entdecken«,71 oder, in anderen Worten, ein Sehen/Lesen sich in Verhältnisse des mit involvieren und für Rührungen aller Art sensibel werden zu lassen, dafür wollte das Geschriebene plädieren.

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Vgl. hierzu: Mira Fliescher: Der Witz der Kunst, Zürich 2019. Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 20), S. 136. Ebd., S. 122. Ebd., S. 135.

Ästhetik und Sinnlichkeit des Lesens visuell kommunizieren Ute Schneider

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Bilder als Quellen für ästhetische Praktiken

Die neurologisch-kognitiven Abläufe beim Lesen und Textverstehen lassen sich nur medizinisch mit Hilfe von bildgebenden Verfahren darstellen, man kann das Lesen nicht sehen. Bisweilen lassen sich auf Bildern allerdings emotionale Reaktionen auf das Gelesene erahnen. Eine Garantie für das Erkennen der intendierten Bildaussage des Malers gibt es freilich nicht.1 Gleichwohl sind in Bücher oder in andere Schriftmedien vertiefte Menschen seit Jahrhunderten traditionelle Objekte in der bildenden Kunst und der Photographie.2 Peter Burke nimmt in seinen Überlegungen über materielle Kultur im Spiegel von Bildquellen explizit Bezug zur Buch- und Lesergeschichte und hält historische Bilder für »besonders wertvoll für die Rekonstruktion der Alltagskultur normaler Menschen«3 . Insbesondere kaum überlieferte Details in der Geschichte der materiellen Kultur, wie beispielsweise die Art und Weise, wie Bücher gehalten wurden, könnten durch Bilder nachvollzogen werden. Auch die Lesergeschichte als Sozialgeschichte kann von Bildern lesender Menschen profitieren. Burke weist Bildquellen außerdem hohe Aussagekraft 1

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Zur Problematik der Bildaussage am Beispiel von René Magrittes La lectrice soumise siehe Katharina Oechslin: Die fügsame Leserin von René Magritte, in: Christine GrondRigler/Felix Keller (Hg.): Die Sichtbarkeit des Lesens. Variationen eines Dispositivs (= Lesen am Netz 6), Innsbruck 2011, S. 128-139. Zum neuesten Forschungsbericht siehe Ute Schneider/Philip Ajouri: Bilder vom Lesen in der bildenden Kunst: ein Forschungsüberblick, in: dies. (Hg.): Medium Buch. Wolfenbütteler interdisziplinäre Forschungen. Heft 2: Inszenierung des Buchs im Internet, Wolfenbüttel 2020, S. 5-31. Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2010, S. 91-114, hier S. 91.

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Ute Schneider

über die Anordnung und gesellschaftliche Nutzung von alltäglichen Dingen zu, wie z.B. über die kulturelle Praxis des Buchgebrauchs. Es lassen sich darüber hinaus weitere Rückschlüsse aus Bildern auf Buch und Lesen ziehen. Erich Schön hat bereits 1987 mit seiner mentalitätsgeschichtlichen Dissertation einen wichtigen Beitrag sowohl für die historische Leserforschung allgemein wie auch für die Nutzung von Bildquellen geleistet.4 In seiner Studie, die der französischen Schule der Annales verpflichtet ist, lieferte er den Beweis, dass Bilder als Quellen zur Leser- und Lesegeschichte den Erkenntnisgewinn erhöhen. Insbesondere für seine Untersuchung des Lesens im Freien, in der Natur, was Ende des 18. Jahrhunderts in Mode gekommen war, bilden Abbildungen von Leseorten und Lesesituationen primäre Quellen. Auch über die zum Leseprozess gehörenden weiteren Requisiten geben Bilder Auskunft. So scheint ab dem beginnenden 19. Jahrhundert Lektüre kaum ohne Genussmittel möglich. Utensilien wie Tabakspfeife, Zigarette, Kaffee, Pralinen und Obst werden zu ubiquitären Requisiten der Lektüre, auch auf Bildern. Alfred Messerli benennt konkret zwei Dimensionen, die von Bildanalysen enorm profitieren können: nämlich einerseits sachliche und andererseits mentalitätsgeschichtliche Aspekte, wie von Erich Schön bereits bewiesen.5 Unter diese beiden Dimensionen fallen Lesezeiten, Lesestoffe, mentale Projektionen, historische Wahrnehmungsweisen und Darstellungskonventionen sowie verschiedene Sinnebenen. Explizit nennt Messerli metaphorische, allegorische, emblematische oder symbolische Bedeutungen von Leseszenen.6 Eine dritte Erschließungsebene kann man ergänzen, und zwar die, die nach dem Erkenntnisgewinn über den Leseakt als solchen im Bild fragt. Die Frage, wie der Leseakt im Bild zu deuten ist, lässt sich nur indirekt beantworten, denn man kann das Lesen nicht sehen, auf Gemälden nicht und auch nicht auf Photographien. Petra Gehring verweist auf die praxeologische Eigenständigkeit des Lesevorgangs und die Eigenlogik des Lesens im Sinne Wolfgang Isers, die das Lesen als eine »radikal für sich zu betrachtende Pra-

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Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800 (=Sprache und Geschichte. 12), Stuttgart 1987. Alfred Messerli: Lesen im Bild. Zur Ikonographie von Buch und Lektüreakten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), S. 226-245, hier S. 230. Ebd., S. 237.

Ästhetik und Sinnlichkeit des Lesens visuell kommunizieren

xis ins Licht rückt«7 . Bilder rücken mit visuellen Hinweisen diese Praxis ins Licht, weisen dem Leseakt erlebbare Wirkungen zu, deuten sie mindestens an und lassen auf den potentiellen ästhetischen Lesegenuss schließen. Mit welchen Mitteln solche Andeutungen Aussagekraft gewinnen und transportiert werden, ist im Folgenden Gegenstand der Überlegungen. Das Lesen von Büchern mit literarischen Texten gehört spätestens seit Anbruch der Moderne zweifellos zu den routinierten kulturellen Praktiken des Alltags, wenn auch diese Praktiken nicht von allen sozialen Schichten oder Milieus gleichermaßen eingeübt wurden und zunächst weitgehend auf das Bürgertum beschränkt blieben. Grundsätzlich ändert diese soziale Einschränkung aber nichts an der Veralltäglichung8 und Regelhaftigkeit literarischer Lektüre. Setzt man die Regelhaftigkeit und alltägliche Routine als Ausgangsthese voraus, lassen sich aus der ikonographischen Inszenierung des literarischen Lesens diejenigen Praktiken rekonstruieren, die den Leseakt als ästhetische Praxis und sinnliches Erleben für die Betrachter nachvollziehbar machen. Praktiken, deren primäres Ziel die sinnliche Wahrnehmung selbst ist, werden als ästhetische Praktiken begriffen, in deren Zentrum nicht das aktivistische Handeln, sondern das Erleben steht.9 Sinnliches Erleben bezieht sich potentiell auf alle Sinne, visuell, auditiv, taktil, gustatorisch und olfaktorisch.10 Der Leseprozess ist zweifellos eine sinnliche Wahrnehmung. Wenn das sinnliche Erleben ein Element oder das Ziel ästhetischer Praktiken ist, die vielen bekannt sind und von vielen praktiziert werden, verstehen auch viele dessen Ikonographie und können das Erlebnis nachvollziehen. Wie sich die-

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Petra Gehring: Lesen als Denken ohne Subjekt, in: Robert Schmidt/Wiebke-Marie Stock/Jörg Volbers (Hg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Göttingen 2011, S. 247-265, hier S. 251-252. Zu den Formen der Veralltäglichung von Handlungsroutinen siehe Karl H. Hörning: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, insbesondere S. 32-67. Siehe Andreas Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen, in: ders. Sophia Prinz/Hilmar Schäfer (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. 3. Aufl, Frankfurt a.M. 2019, S. 13-52, hier S. 26. Siehe zu den ästhetischen Praktiken und den Sinnen Andreas Reckwitz: Elemente einer Soziologie des Ästhetischen, in: Kay Junge/Daniel Šuber/Gerold Gerber (Hg.): Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld 2008, S. 297-317, hier S. 304.

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ses sinnliche Erleben aus den Bildern lesen lässt, ist die leitende Frage dieses Beitrags. Praxistheoretische Ansätze eröffnen die Möglichkeit, ausgehend von der Materialität von Dingen als Impuls zur Auslösung von strukturellen Handlungs- und Kommunikationsprozessen, ästhetische Bildpraktiken zu rekonstruieren. Bilder spiegeln konsensuale Praktiken, die raumzeitlich und historisch gebunden sind: »Dabei haben Praktiken auch einen sozialsymbolisch aufgeladenen Verweischarakter«11 . Im Bild rücken »Körper als semiotische Anzeigetafeln, räumliche Konstellationen und die kommunikative Verwendung von Objekten ins Zentrum der Betrachtung«12 . Das heißt, Bilder stellen im hier zu verhandelnden Fall ästhetische Praktiken vor: (1) durch die Körperhaltung der Lesenden, (2) die Atmosphäre und Ordnung des Raums sowie (3) Dinge, die auf den sinnlichen Aspekt hinweisen. Andreas Reckwitz betont, dass sinnliche Wahrnehmungen konstitutiv für jede soziale Praxis sind und in ästhetischen Praktiken im Gegensatz zu nicht-ästhetischen Praktiken Zeichensequenzen nicht als Träger von Informationen, sondern von Interpretationen behandelt werden müssen.13 Zeichen müssen semiotisch decodiert werden. Das Lesen fiktionaler Texte, das ästhetisch-literarische Lesen, gehört zu den kulturellen Praktiken als Form medialer Praktiken, die schließlich als ästhetische Prozesse wahrnehmbar sind: »Mediale Praktiken, d.h. Praktiken im Umgang mit technischen Artefakten der Verbreitung und zugleich der Produktion und Transformation von Zeichen, sind von der bürgerlicher Schriftkultur […] bis zur digitalen Kultur […] als ästhetische Praktiken rekonstruierbar […].«14 Die Rekonstruktion erschließt auch den Raum, in dem diese Praktiken erkennbar werden. Im Folgenden werden die Raumdimension und die ästhetisch-sinnliche Dimension des Leseaktes im Bild anhand von Beispielen gezeigt und erläutert, wie die Kommunikation der ästhetisch-sinnlichen Wahrnehmung über Bilder gelingen kann.

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Daniel Pfurtscheller: Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken. Grundbegriffe einer handlungsorientierten visuellen Kommunikationsforschung, in: Katharina Lobinger (Hg.): Handbuch visuelle Kommunikationsforschung, Wiesbaden 2019, S. 2343, hier S. 32. Ebd. Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft (Anm. 9), S. 28. Reckwitz: Elemente einer Soziologie (Anm. 10), S. 310.

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Der Raum: Atmosphären und (An)Ordnungen

Der US-amerikanische (Buch-)Historiker Robert Darnton hat in seinen theoretischen Überlegungen zur Lese(r)geschichte gefordert, dem Ort der Lektüre erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen, denn der reale Leseplatz gebe Auskunft über die Lesemotivation und das Wesen des Leseerlebnisses.15 Auf das individuelle Leseerlebnis wirken die jeweilige Raumatmosphäre und die Raumeinrichtung zweifellos ein, da sie von den Sinnen visuell, auch akustisch, wahrgenommen werden. Bereits mit der Entstehung des literarischen Publikums im engeren Sinn, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, kamen spezielle Lesemöbel in Mode, die im Wortsinn der Möblierung des Leseerlebnisses dienten, was bis heute von der Möbelbranche genutzt wird. Zur Bequemlichkeit und komfortablen Körperhaltung beim Lesen wurden beispielsweise spezielle Chaiselongues mit Ablagemöglichkeit für Bücher hergestellt oder Betten mit integriertem Bücherregal.16 Der gegenwärtige Buchmarkt hält eine Vielzahl von Titel zum Thema Leben mit Büchern bereit, die Einrichtungstipps geben und heimische Wohnzimmer zur Schau stellen.17 Gleichwohl ist die intensive literarische Lektüre eine ästhetische Erfahrung, »die vor allem im individuellen psychologischen ›Raum‹ stattfindet«18 . Die Einrichtung oder Konstruktion eines bildhaften Raumes als Ausdruck der psychischen Wirkung von Lektüre ist ein Aspekt der kommunikativen Bildleistung, denn Bilder von Lesenden können durch die Darstellung bestimmter Raumsituationen Emotionen bei den Betrachtenden auslösen.19 Sie machen ihnen auch Identifikationsangebote. Bilder zeigen in der Anordnung des Raums eine kulturelle Praxis, die den Betrachtenden vertraut ist und von ihnen verstanden wird, denn Praktiken »organisieren nicht nur Handeln, sie organisieren auch Erleben, Affekte und sinnliche Wahrnehmung […], die als 15 16 17

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Robert Darnton: Erste Schritte zu einer Geschichte des Lesens, in: ders.: Der Kuß des Lamourette, München 1998, S. 112. Siehe die Beispiele bei Eva-Maria Hanebutt-Benz: Die Kunst des Lesens, Frankfurt a.M. 1985, S. 119-120, 122. Stellvertretend für viele andere: Estelle Ellis/Caroline Seebohm/Christopher Simon Sykes: Mit Büchern leben. Buchliebhaber und ihre Bibliotheken, Hildesheim 1996; Leslie Geddes-Brown: Räume für Menschen, die Bücher lieben. Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe. 2. Aufl., München 2011. Gabriele Groschner: Einführung, in: dies. (Hg.): StillLesen. Malerei des 17. bis 19. Jahrhunderts. Residenzgalerie Salzburg 23.11.2001-3.2.2002, Salzburg 2001, S. 9. Ebd.

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Bestandteile kultureller Praktiken«20 modelliert werden und nicht als psychische, innere Zustände. Die Affekte werden auch ohne Lektüre des Buchs verstanden. Getrud Lehnert hat darauf aufmerksam gemacht, dass es »eine komplexe Wechselwirkung zwischen Räumen, Affekten und Mentalitäten gibt und dass sich diese Wechselwirkungen in jeder Epoche in ganz bestimmten Räumen verdichten«21 . Räume nehmen erheblichen Einfluss nicht nur auf die jeweils zeitgenössischen Lebensstile, sondern auch auf die Gefühlskulturen.22 In der Raumwahrnehmung übernehmen Artefakte die Funktion als »Affektgeneratoren«.23 Diese Leistung wird durch räumliche Atmosphäre und die Materialsemiotik der Artefakte erreicht, wobei nicht das einzelne Ding, sondern die dreidimensionale Situierung von Dingen, die wiederum einen Raum bilden, ausschlaggebend ist.24 Dieser Raum wird entsprechend erlebbar. Reckwitz weist weiter darauf hin, dass insbesondere in der Moderne Artefakte regelmäßig als Affektgeneratoren dienen, und zwar sowohl Texte als auch – und dies vor allem – Bilder in Form von Gemälden, Fotos und Filmen.25 Diese Feststellung trifft den Kern der Nachvollziehbarkeit des Leseaktes auf Bildern. Das Lesen als solches ist zwar nicht sichtbar, die bildliche Einrichtung der ästhetischen Praktiken oder des intimen Moments allerdings schon. Bilder von Lesenden sind Bilder zweier Ordnungen.26 Es gibt eine Ordnung der Dinge in ihrer räumlichen Positionierung und eine »stumme Ordnung der Zeichen und Verweisungen«27 . Das Universum der Dinge, ihre semiotische Bedeutung und symbolischen Verweise ergeben die Bildaussage. Diese Dinge können in der sinnlichen Wahrnehmung beispielsweise das

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Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft (Anm. 10), S. 313. Gertrud Lehnert: Räume und Affekte. Boudoir und bürgerlicher Innenraum, in: dies./ Brunhilde Wehinger (Hg.): Räume und Lebensstile, Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte. (= Aufklärung und Moderne. 30), Hannover 2014, S. 13-32, hier S. 14. Siehe dazu die Einleitung von Gertrud Lehnert in: dies. (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 10. Andreas Reckwitz: Praktiken und ihre Affekte, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie – Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, S. 163-180, hier S. 175. Ebd. Ebd., S. 176-177. Vgl. Felix Keller: Die Sichtbarkeit des Lesens. Variationen eines Dispositivs, in: GrondRigler/Keller (Hg.): Die Sichtbarkeit des Lesens (Anm. 1), S. 10. Ebd.

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eine bestimmte Stimmung auslösende Lampenlicht, Stimulanzien oder Reizmittel der Sinne oder auch Luxusgegenstände sein. Das nicht Sichtbare, die Schönheit und Sinnlichkeit, der Flow des Lesens wird in das Wahrnehmbare verlagert, mit Hilfe von Dingen und ihrer (An)Ordnung, die den Raum ausmacht.28 Bereits in den Vanitasstillleben der Frühen Neuzeit wurden Bücher mit anderen Dingen arrangiert. Diese Objekte beschränken sich nicht auf Sinnbilder der Vergänglichkeit wie Totenschädel oder verglimmende Kerzen, sondern weisen eine große Variationsbreite auf, die auch Instrumente des Genusses wie Tabakspfeifen umfasst.29 Das Buch vollzieht in der bildenden Kunst als Objekt eine Entwicklung vom Symbol und Requisit der Gelehrsamkeit zum bürgerlichen Konsumprodukt30 , was im Stillleben ausschließlich durch die das Buch umgebenden Dinge gelingt. Neben den Artefakten ist die Atmosphäre des Raumes als Affektgenerator prägend, obwohl Atmosphäre etwas Unbestimmtes und Diffuses ist, welches Situationen oder Stimmungen atmosphärisch charakterisiert, wie z.B. heiter oder angespannt. Atmosphären »scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen«31 , was die sinnliche Wahrnehmung des Leseprozesses im Bild unterstützt. Die eigentümliche Atmosphäre, die ein Gemälde spiegelt, wird erzeugt durch die Materialästhetik, die Lichtverhältnisse und die Komposition der Dinge. Die Wechselwirkung von Objekten und Maltechnik machen die Atmosphäre aus.32 Die Atmosphäre entsteht aus den Licht- und Farbkontrasten, auch wenn das Interieur weitgehend unspezifisch bleibt. Als Beispiel: Edward Minoffs Bild (Abb. 1) vereint wesentliche Elemente der atmosphärischen Inszenierung von Lesesituationen, die im Folgenden analytisch getrennt entfaltet werden, in der Ausgestaltung von Bildern aber zusammenwirken. Auf Edward Minoffs Gemälde Reading and Red sieht man eine Frau in der abendlichen Küche an einem großen Holztisch sitzen, die in ihre Lektüre ver28

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Zum Raum als (An)Ordnung siehe Martina Löw: Raumsoziologie, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 2012, S. 130-151, dazu auch S. 154: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern«. Sybille Ebert-Schifferer: Die Geschichte des Stillebens, München 1998, S. 137. Beispiel bei Ebert-Schifferer (ebd.), S. 275. Gernot Böhme: Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, 4. Aufl., Berlin 2019, S. 22. Zur Atmosphäre siehe Böhme: Atmosphären herstellen, in: ders.: Atmosphären (Anm. 31), S. 101-168.

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Abb. 1 Edward Minoff (*1972): Reading and Red (o.J.)

  Copyright: Edward Minoff, mit Dank für die freundliche Abdruckgenehmigung

tieft ist.33 Ein fast leeres Weinglas steht vor ihr auf dem Tisch, die dort ebenfalls zu sehende halbe Flasche Rotwein hat sie anscheinend bereits geleert. Der Lichtschein der Küchenlampe leuchtet die Szene nicht ganz aus, sondern erhellt vor allem den Tisch und das Buch sowie die weiße Bluse der Leserin. Die Leserin wirkt ruhig und hochkonzentriert. Im Ganzen scheint die Atmosphäre dieser Szene in der Aufgeräumtheit der angeschnittenen Küchenzeile nicht eindeutig. Einerseits lässt sie darauf schließen, dass die Leserin nach

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Ich danke Sarah Reinish, deren sachkundige Masterarbeit über Leserinnen in der Malerei (2019) mich auf dieses Bild aufmerksam gemacht hat.

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getaner Arbeit zur Entspannung liest und trinkt. Andererseits ist die von Minoff gewählte Körperhaltung der Leserin – mit aufgestütztem Kopf am Tisch sitzend – nicht besonders bequem oder entspannt. Diese Haltung wurde und wird von bildenden Künstlern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert häufig gewählt. Erich Schön hat sie als Zeichen der Immobilisierung des Körpers interpretiert, da das Buch an einen Leseort (hier den Tisch) gebunden wird, von dem man weggehen und wieder hingehen kann.34 Der Körper wird dem Möbel assimiliert, der Kontakt zum Buch muss nur noch über die Augen stattfinden. Die Abwesenheit des Körpers beim Lesen eröffnet allein dem Geist die »Erfahrung von Ideenparadiesen«35 . Im Bild von Minoff wird eine Raumordnung entworfen, in der die Leserin vor dem dunklen Flur positioniert wird. Unter der Wohnungstür am Ende des Gangs ist ein Lichtschein sichtbar, der für die Leserin nicht Sichtbares im Treppenhaus evoziert, dem Betrachter aber die Möglichkeit andeutet, es käme gleich jemand zur Türe herein. Sarah Reinish hat dies überzeugend als Imaginationsraum interpretiert, der kompositorisch mit dem Motiv der Tür zusammenfällt. Das kann als Hinweis »auf die eskapistische Natur der Lektüre und die Eigenschaft des Buches, bisweilen Schwelle bzw. Tür zu einer anderen, unbekannten, fiktionalen Welt sein zu können«36 verstanden werden. Diese Raumkonstellation entwickelt »eine Parallele zum Akt des Lesens selbst – so wissen Lesende in der Regel nicht, was sich ereignen wird, sobald sie eine neue Seite aufschlagen«37 . Die Leserin befindet sich anscheinend in einem Zwischenraum, zwischen Küche und anschließendem Wohnzimmer, das nur durch einen Teppichzipfel angedeutet wird. Die Raum-Ordnung suggeriert dem Betrachter die Nähe von körperlicher (Küche) und geistiger Nahrung (Buch). Die Strenge der aufgeräumten Küche und die wenig lässige Haltung der Leserin erzeugen eine Spannung, die nur durch den Wein als berauschendes Element gemildert wird. Der leicht nach außen gedrehte Stuhl und die recht unbequeme Sitzhaltung eröffnen der Leserin die Möglichkeit, je-

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Zur Körperhaltung von Lesenden siehe Erich Schön, S. 63-97, vgl. dort S. 67 z.B. den Kupferstich von Daniel Chodowiecki Lesendes Mädchen (1778), am Tisch sitzend mit aufgestütztem Kopf, allerdings mit einem dicken Folianten auf den Knien; sowie S. 69 die Grafik von Robert Pudlich Leser mit Zigarette (vor 1940) und S. 70 eine Photographie von L. Gwosdz mit lesendem Jungen um 1960. Ebd., S. 96-97. Sarah Reinish: Reading Women. Masterarbeit Buchwissenschaft JGU, Mainz 2019, S. 51. Ebd.

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derzeit ihre Position zu verlassen, was vielleicht darauf hinweist, dass es sich hier um eskapistisches Lesen handelt. Der Betrachter kann den Leseprozess sinnlich wahrnehmen oder atmosphärisch nachvollziehen. Minoffs Bild verweist mit dem Rotwein auf die zweite Ebene der ästhetischen Erfahrung, auf die Kombination von Lesen und Genussmitteln.

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Die Sinne: Lesen und Genussmittel

Mit Bildern werden durch die Paarung von Dingen Assoziationen abgerufen, die auf das sinnliche Erleben zielen. Damit wird ein wesentliches Merkmal ästhetischer Haltung angesprochen, die »im modernen Sinne […] primär im subjektiven Erleben und in der sinnlichen Wahrnehmung ihren Ort hat.«38 Die Darstellung der sinnlich-ästhetischen Dimension des Leseaktes gelingt u.a. durch die Begleitung des Leseprozesses mit Genussmitteln. Die potentielle Veredelung der Buchlektüre durch den gleichzeitigen Konsum von Genussmitteln ist ikonographisch traditionsreich. Fritz Nies hat in seinen ikonographischen Betrachtungen von Lesesituationen schon zu Beginn der 1990er Jahre eine Fülle von Aspekten aufgezeigt, die die Sinnlichkeit des Leseaktes auf Bildern andeuten, ohne jedoch die von ihm genannten Fallbeispiele intensiv zu beleuchten.39 Im europäischen Kulturkreis werden unter dem Begriff Genussmittel alkoholische Getränke wie Bier, Wein und Spirituosen sowie Tee, Kaffee, Kakao, Zucker und Tabak, bisweilen auch Gewürze und Honig verstanden.40 Im 19. Jahrhundert gehört in die männliche Leserhand zwingend die Tabakspfeife. Fritz Nies hat festgestellt, dass sich die »Kunst raffinierter Verknüpfung von Lektüre- und Sinnengenüssen« insofern zu potenziertem Vergnügen entwickelt, als die lesenden und rauchenden Herren zusätzlich ein Glas Wein, eine

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Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft (Anm. 10), S. 297-317. Fritz Nies: Von der Sinnlichkeit des Lesens, in: ders.: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, Darmstadt 1991, S. 87-98. Christoph Maria Merki: Zwischen Luxus und Notwendigkeit: Genußmittel, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hg.): »Luxus und Konsum« – eine historische Annäherung, Münster usw. 2003, S. 83-95, hier S. 83. Siehe auch Annerose Menniger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.-19. Jahrhundert, 2. erweiterte Aufl., Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 102), Stuttgart 2008.

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Tasse Tee oder Kaffee zu sich nehmen.41 Getränke wie Kaffee, Tee oder Wein sind geradezu obligatorisch als rahmengebende Symbole für Sinnesfreuden. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war erstmals eine lesende Dame mit einer Tasse des neu eingeführten anregenden Kaffees im Bild zu sehen.42 Mit der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlichen Aufschwung nehmenden Romanproduktion und ihrer entsprechenden Lektüre sowie den überaus beliebten und in weiten Kreisen verbreiteten illustrierten Almanachen wurde das regelmäßige Lesen sogenannter schöner Literatur zur beständigen kulturellen Praxis im Bürgertum. Die Veralltäglichung des literarischästhetischen Lesens als routinierte Handlung wurde zeitgenössisch im öffentlichen Diskurs bekanntermaßen als Suchtverhalten und Eskapismus stigmatisiert. Die Lektüre verschaffte Ablenkung vom Alltag, bot emotionale Fluchten und ließ das Lesepublikum neue Gefühlswelten erschließen. Das Buch wurde »zu einem der attraktivsten (Er)-Lösungsangebote, welches nur langsam im Laufe des 20. Jahrhunderts von noch ›drogenhafteren‹ Medien verdrängt wird.«43 Zur ›Droge Buch‹ und zur Lektüre als Sucht passt der gleichzeitige Konsum von entsprechenden Rauschmitteln, die die sinnliche Wirkung des Gelesenen potenzierten. Ab dem 19. Jahrhundert findet man in der Malerei die Paarung von Buch und Genussmittel immer häufiger. Die vier heute alltäglichen Genussmittel Tabak, Kaffee, Tee und Kakao, die im 18. Jahrhundert noch kaum zu den bürgerlichen Stimulanzien gehörten, sondern vor allem adligen Kreisen vorbehalten waren, wurden Ende des Jahrhunderts zu erschwinglichen Luxusgütern des gehobenen Bürgertums. Kaffee beispielsweise wurde nach seiner Einführung in Europa zunächst nur im Kaffeehaus konsumiert, erst später wurde er ein Element der Privatsphäre im bürgerlichen Haushalt und zum klassischen Getränk des neuzeitlichen Bürgertums. Als Frühstücks- und Nachmittagsgetränk stand er für »zunehmend […] häusliche Gemütlichkeit«.44 Die mediale Verfestigung der Einrichtung von Leseatmosphären findet sich in der Malerei wie auch in den nun aufkommenden Lifestyle-Magazinen. Zum Prozess der Individualisierung in der Aufklärung

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Nies: Von der Sinnlichkeit (Anm. 39), S. 53. Ebd., S. 47. Groschner: StillLesen (Anm. 18), S. 24. Siehe dazu Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, Frankfurt a.M. 1990, S. 50-81, hier S. 78. Im 19. Jahrhundert kommt als mediale Praktik die Lektüre der Zeitung am Frühstückstisch hinzu, was sich bis in die Gegenwart nachweisen lässt.

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gehört die Herausbildung von ästhetischer Differenz sowie die Entfaltung individueller Persönlichkeitsmerkmale, zu denen auch das Konsumverhalten zählt. Konsum wurde für den Lebensstil zu einem der »wesentliche[n] Aspekte einzelner Personen bzw. bestimmter Personenkreise«45 . Lesen und luxuriöse Genussmittel bilden dabei anscheinend ein passendes, jedem verständliches Ensemble von Dingen. Bücherlesen galt im 18. Jahrhundert als Luxus, weil es außerhalb der natürlichen Bedürfnisse zu liegen schien. Diese Einschätzung integriert zwei öffentlich kontrovers geführte Diskurse: die Diskussion über die zeitgenössische bürgerliche ›Lesesucht und Lesewut‹ sowie die zur gleichen Zeit entbrannte Luxus-Debatte. Letztere vollzog einen »Wandel der Auffassungen gegenüber dem Luxuskonsum«46 , denn in der Spätaufklärung wurde Luxus-Kritik nicht mehr im Hinblick auf soziale Standesunterschiede fundiert, sondern es wurden vor dem Hintergrund merkantilistischer Wirtschaftspolitik Luxuskonsumgüter aus regionalen Manufakturen forciert und damit wurden die »Verlockungen des Luxuskonsums […] nicht mehr tugendethisch, sondern mit Blick auf ihre soziale Akzeptanz und auf ihren ökonomischen Nutzen«47 bewertet. Die Assoziation Buch und luxuriöser Lebensstil lag also nahe. Bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein waren Bücher ein recht teures Gut, das sich nicht jeder leisten konnte. Ein Beispiel für die Paarung von Genussmitteln und Buchlektüre aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt von dem italienischen Maler und Kupferstecher Federico Faruffini (Abb. 2). Auf Federico Faruffinis Gemälde kann der Betrachter einer jungen Frau schräg von hinten über die Schulter sehen.48 Die Raumgestaltung ist in diesem Fall stark zurückgenommen; man trifft die Leserin eher im intimen, mentalen Raum des Lesens als im konkreten und erforschbaren Zimmer.49 Lediglich Rückenlehne und Armlehne des Sessels und das prächtige Stillleben von Büchern und Gegenständen, die auf einem nicht sichtbaren Tisch 45

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Vgl. zu diesem Komplex Günther Wiswede: Konsumsoziologie – eine vergessene Disziplin, in: Doris Rosenkranz/Norbert F. Schneider (Hg.): Konsum. Soziologische, ökonomische und psychologische Perspektiven, Wiesbaden 2000, S. 23-72, hier S. 24. Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 81. Ebd., S. 90. Die Leserin ist möglicherweise die Romanfigur Fosca von Igino Ugo Tarchetti, was aber für die Bildaussage keine Rolle spielt. Siehe dazu auch Anna Finocchi: Lettrici immagini della donna che legge nella pittura dell’Ottocento, Nuoro 1992, S. 28-29.

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Abb. 2 Federico Faruffini, La lettrice, 1864-1865, oil on canvas, cm 38,5 x 56,5, inv. GAM 211, Milan, Galleria d’Arte Moderna

  Copyright Comune di Milano – all rights reserved – Milan, Galleria d’Arte Moderna / Umberto Armiraglio

platziert sind, verweisen auf eine Räumlichkeit. Die gesamte Aufmerksamkeit des Betrachters wird auf das Lesen gelenkt. Nichts anderes als die Zigarette mit ihrem leichten Rauchhauch vermittelt die Vorstellung von dem subtilen Vergnügen, mit einem Buch allein zu sein und in der intimen Stille die Lektüre zu genießen. Faruffini lenkt die Lichteinwirkung weder gezielt auf das Stillleben mit Büchern und Gegenständen noch auf die unter dem Arm der Frau hervorstehende Spitze eines Schals (?) oder auf den Ohrring, sondern auf die aus der Zigarette aufsteigende weiße Rauchfahne. Die Zigarette ist dem Betrachter zugewandt und wird zur wesentlichen Bildaussage. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt die Zigarette als weiblich, im Gegensatz zur Zigarre, die männlich konnotiert war. Praktiken geben Auskunft über das Wie einer Handlung. Wie eine Person ihre Zigarette hält und raucht, »sagt

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etwas über ihren Charakter und über ihre innere Verfasstheit aus«50 , was den Zustand der Leserin beim gleichzeitigen Leseakt kommuniziert. Die Körperhaltung der Leserin, das Durcheinander auf dem Tisch und ihre Zigarette in der Hand zeigen eine Leseatmosphäre, die nicht von bürgerlichen gesellschaftlichen Konventionen beeinflusst wurde. Der sinnliche Genuss der Leserin steht im Vordergrund. Die Menge an aufeinandergestapelten Büchern auf dem Tisch verweist auf die rege Lesetätigkeit der gemalten Frau. Faruffinis Leserin zeigt Entspannung und Stimulanz gleichermaßen und zieht den Betrachter in ihre Lektüre hinein, indem sie ins Buch blicken lässt, ohne den Lesestoff identifizierbar werden zu lassen. Die Nachvollziehbarkeit des sinnlichen Genusses ist im Bild angelegt. Der Akt literarisch-ästhetischer Lektüre wird seit der Aufklärung gemeinhin als intim und abgeschottet von der umgebenden Sinnenwelt gedeutet.51 Das Gegenteil scheint nach den bildlichen Darstellungen sehr viel häufiger der Fall (gewesen) zu sein, da Leseszenen in der Malerei bereits seit dem Mittelalter mit weiteren Reizen für die fünf Sinne angereichert werden.52 Am häufigsten wird der Geschmackssinn angesprochen, durch die Beigabe von Speisen oder alkoholischen und nicht alkoholischen Getränken, wobei »Kaffee und Tee (bereits im 17. Jahrhundert […]) als Getränke der Vernunft, Ordnung und Besonnenheit galten – im Unterschied zur Trunkenheit, zum Chaos, die mit Alkohol assoziiert wurden.«53 Essen fungiert u.a. als »Experimentierfeld sinnlicher, sozialer und ästhetischer Erfahrungen oder Sehnsüchte.«54 Fast alle Genussmittel hatten und haben eine besondere symbolische Eigenschaft, die mit sozialen und kulturellen Werten aufgeladen und zum Zeichen wird.55 Die Wahl von Stimulanzien als bildwürdige Objekte liegt in ihrem Potential ikonographischer Semantisierbarkeit: Sie sind nicht mehr »real, sondern Teil der ästhetischen Struktur, also gefiltert durch formale und semantische

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Rolf Lindner: Rauch-Zeichen, in: Andreas Hartmann et al. (Hg.): Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln. Festschrift für Ruth-E. Mohrmann, Münster usw. 2011, S. 99-106, hier S. 101. Vgl. dazu auch den Einwand von Nies: Von der Sinnlichkeit (Anm. 39), S. 87. Ebd., S. 88. Kenneth Bendiner: Bilder vom Essen, in: Heike Eipeldauer/Ingrid Brugger (Hg.): Augenschmaus. Vom Essen im Stillleben, München 2010, S. 56. Heike Eipeldauer: Stillleben und der Sinn der Sinne, in: dies./Brugger (Hg.): Augenschmaus (Anm. 52), S. 13. Vgl. Merki: Zwischen Luxus und Notwendigkeit (Anm. 40), S. 90.

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Repräsentationscodes«56 . Die Entschlüsselung der Codes gelingt durch konsensuale Vorstellungen von Genuss. Die Hierarchisierung der Sinne in der Geistesgeschichte als erkenntnistaugliche Primärsinne (Seh- und Hörsinn) und ›niedere Sekundärsinne‹ (Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn)57 sind in den Bildern von genießenden Leserinnen integriert und verstärken die Wahrnehmung des ästhetischen Lesens. Dominierende Stimulanzien auf den Gemälden sind neben Tabak in erster Linie Kaffee und Rotwein. Auf Minoffs Bild trinkt die Leserin Rotwein. Letzterer ist allgegenwärtig auf Leserinnen-Bildern bis in die Karikatur (dazu das Beispiel in Abb. 3). Die Leserin im Campingstuhl hält das Weinglas in der Hand, ihr Arm verharrt in der Bewegung. Die Lektüre scheint so anregend, dass sie beim Trinken weiter im Buch liest. Wein als Lebenselixier hat nicht nur eine lange Geschichte, sondern ist bis in die Gegenwart anscheinend der ideale Partner des Lesegenusses, denn Läden, die sich auf beides in Kombination spezialisiert haben, gibt es fast in jeder Stadt. Die Paarung speziell von Rotwein und Leseakt ist geradezu klassisch. In der Cover-Karikatur des New Yorkers vom August 2017 sitzt die Familienmutter mit einer Flasche Rotwein lesend vor dem Zelt der Familie, was allerdings nicht die Sinnlichkeit und Ästhetik des Lesens widerspiegelt, sondern die Ab  schottung der Leserin vom turbulenten Treiben der Familie. Klassische Requisiten zur Anregung der Sinne sind auch mit Obst gefüllte Schalen und Blumenarrangements. Der die Lektüre sublimierende Blumenduft wird in erster Linie der Leserin zugeordnet.58 Henri Manguins Bild zeigt die Frau des Künstlers bei der Lektüre. Die Farbgebung ist warm und erzeugt eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre, die dadurch noch unterstützt wird, dass die Kleidung der Frau in Farbton und Muster mit der Tischdecke wie mit den Blumen und dem vor ihr in der Schale befindlichen Obst harmoniert. Exotische Früchte und Blumen zählen nicht zu den tradierten Genussmitteln,

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Eipeldauer: Stillleben und der Sinn der Sinne (Anm. 54), S. 15-16. Siehe dazu ebd., S. 21. Siehe Nies: Von der Sinnlichkeit (Anm. 39), S. 88. Zu den Düften als »Frauenmonopol« und Düften in den bildenden Künsten siehe Mădălina Diaconu: Tasten, Riechen, Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne (= Orbis Phänomenologicus. 12), Würzburg 2005.

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Abb. 3 The New Yorker, 21. August 2017

erfüllen im Bild aber ähnliche Funktionen.59 Im Bildbeispiel wird gar der Eindruck erweckt, Obst, Blumen, Geschirr und Bücher schütze die Leserin vor störenden Eindringlingen in ihr Lektüreerlebnis (Abb. 4).       59

Zum symbolischen Gebrauch und zum Kulturphänomen Essen siehe z.B. Gerhard Neumann: ›Jede Nahrung ist ein Symbol‹. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin 1993, S. 385-444.

 

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Abb. 4 Henri Manguin (1874-1949), Leserin mit gelbem Buch (1910)

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Der Raum und die Sinne als ästhetische Paarung

Die meisten der oben genannten Genussmittel stellen in der Frühen Neuzeit noch eine gewisse Art von Luxus zur Anregung und Befriedigung der Sinne, schließlich zur Veredelung des Lesens dar. Ab der Moderne sind sie Güter des alltäglichen Lebens und für bürgerliche Schichten erschwinglich. Die im Bild sichtbaren ästhetischen Praktiken schlagen den Bogen zurück zu den bildhaften Konstruktionen von Atmosphäre. Mit dem Konsum der das literarische Lesen begleitenden Genussmittel wird bis in die Gegenwart die Vorstellung

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von Gemütlichkeit verbunden.60 Vor allem die stimulierenden Getränke Kaffee, Tee und Alkohol werden als Verstärker gemütlicher Situationen in fast allen Milieus verstanden. Wesentlich und für das Nachvollziehen sinnlichästhetischer Reize grundlegend ist, dass die Genussmittel in ihrer »Bedeutung […] normativ festgeschrieben [sind]. Das Bild funktioniert über eigene Geschmacksgrenzen und Gewohnheiten hinweg: Der Rotwein als unverzichtbaren Bestandteil einer gemütlichen Abendeinladung […] nannten auch die Personen, die selbst überhaupt keinen Alkohol trinken.«61 Normierung und kulturelle Zuschreibung lösen Affekte aus, auch ohne selbst die Situation zu erleben. Die eingeübten ästhetischen Praktiken im bürgerlichen Kulturmuster bilden wirkmächtige Faktoren im Erkennen und Wahrnehmen, letztlich im Erleben. Lesen gehört unbestritten zu den »(bildungsbürgerlichen) ›Klassikern‹ gemütlichen Treibens und hat als solches eine zentrale Bedeutung im Entstehungszusammenhang des bürgerlichen Kulturmusters«.62 Die situative Anordnung von Dingen evoziert die entsprechenden Assoziationen und Emotionen. Der neurologisch-kognitive Leseprozess selbst bleibt auf Bildern grundsätzlich unsichtbar. Die Wahrnehmung des Leseprozesses als ästhetische Praxis gelingt aber im Bild (1) durch die atmosphärisch erzeugte Stimmung des Raums, (2) durch die Zugabe von Stimulanzien und Reizmitteln. Bis heute werden in den Social Media-Plattformen wie Instagram diese Anordnungen und die Semiotik der Dinge verstanden. Die Darstellung von Genussmitteln in Leseszenen ist auch in den sozialen Medien beliebt, vermutlich beliebter denn je.

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Siehe dazu Brigitte Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 71. Ebd. Ebd., S. 99.

Die Hand im Buch Zur Funktion inszenierter »Handschriftlichkeit«  in gedruckten Büchern Monika Schmitz-Emans

Die folgenden Erörterungen gelten einem buchgestalterischen Phänomenkomplex, der hier als ›Handschriftoptik‹ bezeichnet wird. Teil A soll dabei der Thematik des vorliegenden Bandes im Ausgang von Luhmanns Konzept eines ›Brückenschlags‹ zwischen (literarischer) »Kommunikation« und »Wahrnehmung«1 mit Blick auf diesen Spezialfall des ›Handschriftoptischen‹ nachgehen. Der Ausdruck ›Brückenschlag‹ impliziert allerdings ein Vorstellungsbild, das hier dezidiert als heuristisch verstanden wird: die Vorstellung einer sachlichen Distanz zwischen zwei getrennten Relaten, welche durch literarische Arrangements ›überbrückt‹ wird. Teil B gilt der Konkretisierung des Themas ›Handschriftoptik‹ anhand des Beispiels von Michael Lentz’ Roman Schattenfroh. Dabei wird in Erweiterung des Ansatzes dargelegt, inwiefern die Interpretation von Handschriftoptischem in literarischen Werken nach einem individuell-spezifizierenden Zugriff verlangt.

Teil A. Handschriftoptisches (1)

»Handschrift«, »Druckschrift«, »Handoptisches« in Büchern

Die Herstellung von Büchern, insbesondere deren typographische Gestaltung, ist einerseits ein »Handwerk«, dessen gekonnte Beherrschung den

1

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt./M. 1995, S. 33.

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Monika Schmitz-Emans

Buchdrucker als »Künstler« qualifiziert.2 Andererseits werden printmediale Prozesse und Phänomene, insbesondere das gedruckte Buch, konventionellerweise aus der Perspektive ihrer Distanz zu Formen manueller Buchproduktion wahrgenommen. Das gedruckte Buch, dessen Text nicht mehr von Hand geschrieben ist, löst das Manuskript ab, weshalb Buchgeschichte sich grob in eine Präprint- und eine Print-Ära gliedern ließe.3 Eine solche Distinktion zwischen manuellen und maschinellen Produktionsweisen gestattet es, wichtige Folgen der Erfindung des Buchdrucks zu beschreiben, aber sie geht doch mit Vereinfachungen einher; bezogen auf die Differenzierung zwischen manueller und technikbasierter Arbeit an Büchern sind die Verhältnisse komplexer, nicht allein, weil der Entwurf von Druckschriften und die satztechnische Produktion von Büchern Handwerke sind, sondern auch mit Blick auf die Orientierung vieler Druckschriften an Handschriftlichem (s.u.). Als begriffliche Setzung fordert die Unterscheidung zwischen »Handschriftlichem« und »Druckschriftlichem« zu weiteren Differenzierungen heraus. Und sie katalysiert manche literarisch-typographische Gestaltungsweisen, welche mit der Distinktion zwischen »Handschriftlichem« und »Druckschriftlichem« spielen. Die Motive dafür sind verschieden. So kann ein Spiel mit druckschriftlich gerahmtem »Handschriftlichem« in Strategien des Fingierens integriert sein; es kann aber auch dem Selbstverweis der den fraglichen Text konstituierenden Schrift dienen, etwa der Repräsentation von Schreibszenen und -gesten. Beides geht manchmal Hand in Hand. Handschriftoptisches in Büchern – drucktechnisch erzeugte Partien, die handschriftliche Texte darstellen oder darzustellen scheinen – präsentiert sich wie ein Ensemble unmittelbarer Spuren einer bestimmten schreibenden Hand. Aber wir haben es mit mehrfach Vermitteltem zu tun. Hinter diesen Spuren stecken andere Hände: die der Buchgestalter, der Drucker, der Schriftdesigner und der Reproduzenten von Geschriebenem – und derer, die als Autoren, Editoren, Verlagsangehörige, Reihendesigner etc. über die Optik des Textes und seiner Paratexte entschieden haben.

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3

Vgl. Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467-471, S. 469. Grob ist die Distinktion schon deshalb, weil vieles auch nach Erfindung des Buchdrucks weiterhin per Hand geschrieben wird (bis heute), lange Zeit auch Bücher (etwa Geschäfts- und Kontobücher).

Die Hand im Buch

Der Umfang handschriftoptischer Teile in Büchern kann unterschiedlich groß sein; er reicht von kurzen Textpartikeln bis zur Präsentation des gesamten Haupttextes, etwa bei Faksimiles von Manuskriptbänden. »Handschriftliches« erscheint, in welcher Breite auch immer es auftritt, als Produkt einer buchgestalterischen Inszenierung, wobei das Konzept der »Inszenierung« hier die Differenzierung zwischen einem zu Inszenierenden und einer Inszenierung impliziert.4 Unübersehbar sind die Indikatoren dafür, dass Handschriftlichkeit im Buch eine inszenierte ist: erstens die Tatsache, dass wir ein gedrucktes Buch in der Hand halten, also kein manuell produziertes Unikat, sondern ein technisch erzeugtes Multiple, zweitens der Paratext, der konventionellerweise in Druckschriftoptik gestaltet ist.

(2)

Was wird gespielt, wenn ›Handschrift‹ inszeniert wird?

Das Wort ›Handschrift‹ ist mehrdeutig.5 Es denotiert normalerweise zunächst sowohl eine Produktionsform von Schrift als auch deren Resultat, also eine Verfahrensweise und einen Objekttypus. Die Frage, was ›Handschriftlichkeit‹ sei, ist ferner mit Blick auf die Konnotationsfülle des Ausdrucks nicht im Sinn einer Definition zu beantworten. Die Sprachspiele, in denen er gebraucht wird, weisen zwar (mit Wittgensteins Formulierung) Familienähnlichkeiten auf, differieren aber. Sie haben immerhin einen Konvergenzpunkt: die Betonung, die ›Hand‹ sei im Spiel; diese ›Hand‹ allerdings hat als Vorstellungsbild ein weiteres, allenfalls ›familienähnliches‹, Bedeutungsspektrum. Auch das, was der Ausdruck ›Schrift‹ bedeutet, entzieht sich einer Definition.6 4

5 6

Vgl. Martin Stingelin: Seldwyla als inszenierte semiotische Welt. Ein unvermuteter schweizerischer Schauplatz der Zeichenreflexion, in: Ethel Matala de Mazza/Clemens Pornschlegel (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg i. B. 2003, S. 209-225, S. 209. Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Frankfurt a.M. 2015. Von einer »Handschrift« sprechen wir dann, wenn ein Text mithilfe einer bestimmten Art von Schreibgerät manuell geschrieben wird: mit einem Stift, einer Schreibfeder, einem Füller, Filzstift oder ähnlichen Instrumenten, die man zum Schreiben in die Hand nimmt. Mit dem Pinsel gemalte Schriftzüge oder auch mit Graffiti-Spraydosen hergestellte Graphien nennt man normalerweise eher nicht »Handschrift«, die Benutzung von Pinseln in der Kalligraphie gehört aber doch in den Fokus. Von »Handschriftlichkeit« spricht man üblicherweise nicht, wenn (immerhin: mit der Hand!) technische Geräte als Schreibgeräte genutzt werden und dabei Texte aus normierten Schriftzeichen-

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›Handschriftlichkeit‹ unterliegt verschiedenen Semantisierungen, an denen die Inszenierung von ›Handschriftlichkeit‹ (die Produktion von Texten in Handschriftenoptik) partizipiert, so wie andere Arten von Inszenierung an den kulturellen Codes und Semantiken partizipieren, die ihren Bezugshorizont bilden. (a) Handschriftlichkeit deutet auf einen Körperbezug des Geschriebenen, erscheint als Spur von Gesten; auf der Basis graphologischer Prämissen erscheint Handschrift als physischer Ausdruck von Persönlich-›Charakteristischem‹ oder, moderater, als Indikator psychischer Verfassungen. (b) Aus spezifischen Schreibszenen hervorgegangen, umgibt ›Handschriften‹ die Aura des Authentischen; sie bezeugen Situationen und Schreibmotive, so eine Kernannahme, direkt und in einem höheren Grad von Unmittelbarkeit als gedruckte Schriften, die bei ihrer Gestaltung durch mehrere Hände gegangen sind. Vielfach wird Manuskripten eine dokumentarische Qualität zugeschrieben; als Hinterlassenschaften manchmal eine testamentarische. (c) Wann und wie man mit der Hand schreibt, unterliegt historisch-kulturellen Bedingen, etwa mit Bezug auf Textsorten (wie Briefe) oder Kommunikationsformen (wie persönlich-intime oder juristisch belastbare), auf sozialen Codes, aber auch auf idiosynkratischen Gewohnheiten. (d) Der Vergleich zwischen Hand- und Druckschriftlichem kann verschieden ausfallen. Letztere kann beispielsweise als blasser Ersatz des Ersteren erscheinen, aber auch als dessen klareres und effizienteres Gegenstück, als etwas der ursprünglichen Bekundungsabsicht Ferneres oder auch als

beständen entstehen, etwa beim Maschineschreiben oder am PC. In Sprachspielen rund um »Handschriftlichkeit« impliziert ist meist die Idee der Bindung an einen bestimmten Schreibmoment, eine bestimmte besondere Schreibsituation, eine konkrete singuläre Schreibszene. Entsprechend ist auch deren Produkt etwas Singuläres, ein Unikat. Innerhalb unserer technisierten Kultur sind Prozesse handschriftlicher Textproduktion zum einen oft an private, informelle Situationen gebunden; sie dienen oft der persönlichen Kommunikation oder der Kommunikation mit sich selbst. Zum anderen fungieren manuelle Unterschriften als Beglaubigungsgesten und Identifikationshilfen in offiziell-amtlichen Zusammenhängen, werden manuell geschriebene Texte auch zu forensischen Zwecken genutzt. Der graphologische Blick auf Handschriftliches situiert sich im Spannungsfeld der Unterstellung persönlicher Besonderheit von Schriftzügen einerseits, andererseits des Anspruchs, hier auf Regeln zu stoßen. Auch und gerade das Schreiben mit der Hand ist normiert; dafür sorgen u.a. gedruckte Lese- und Schreibfibeln.

Die Hand im Buch

Produkt einer durch Entindividualisierung ›gereinigten‹ und allgemeiner verbindlichen Mitteilung.7 Christian Benne hat die »Erfindung der Handschrift« als historisch-diskursiven Prozess nachgezeichnet (bezogen auf das Schreiben per Hand und auf Manuskripte als dessen Produkt), als einen Prozess, der sich vor dem Hintergrund einer Kultur des Buchdrucks vollzieht und sich mit dieser auseinandersetzt.8 Buchdruck und Handschrift werden unterschiedlich, in manchem direkt kontrastiv, semantisiert; die ›erfundene‹ Handschrift profiliert sich durch ihre Gegenüberstellung zu Drucktechniken und -werken. Vor dem Hintergrund solcher Distinktion zwischen manuell und drucktechnisch erzeugten Texten zu betrachten sind nun auch Praktiken, Handgeschriebenes zwecks Konservierung und Vervielfältigung in gedruckten Werken darzustellen. Diese sind, wie auch immer genau sie technisch entstehen, durch eine fundamentale Ambiguität geprägt: Sie setzen die Differenz von Hand- und Druckschrift voraus, ja bekräftigen sie – und relativieren, ja dementieren sie zugleich.

(3)

Denotations- und Konnotationspotentiale gedruckter Graphien

Graphien – die Entscheidung für bestimmte Schriftarten und die Konstruktion von Schrift-Bildern bei der Seitengestaltung – denotieren vielfach eine bestimmte, mit ihnen üblicherweise verbundene Form des Schriftgebrauchs; in literarischen Texten können sie entsprechend eingesetzt respektive zitiert werden. Aber ihre Lektüre ist nicht nur denotativ, sondern auch konnotativ bestimmt – und zwar in teils breiten und offenen Spektren. Maßgeblich dafür sind verschiedene Faktoren u.a. schrift- und schriftkulturgeschichtliche, die im konkreten Fall unterschiedliche Mischungsverhältnisse eingehen bzw. unterschiedliche Perspektiven eröffnen. Bei fiktionalen Texten kann die jeweilige Semantisierung der verwendeten Graphie bzw. des erzeugten Schriftbildes an der Konstitution des Fiktiven Anteil haben respektive in sie eingebunden sein. Das, als was Schrift erscheint, 7

8

Vgl. dazu u.a. Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur, München 2020, der zu diesem Aspekt auf Wilhelm Grimm verweist: »Indem der druck das eigenthümliche und persönliche der handschrift vernichtet, tritt er in einen weiteren kreiß und fordert allgemeine geltung.« (zit.n. Metz, S. 15). Zu den Folgen für das (Selbst-)Verständnis von Literarischem vgl. Benne: Die Erfindung des Manuskripts (Anm. 5), insbes. Kap. 3: »Die Erfindung der literarischen Handschrift« (S. 154-436).

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kann – konkreter gesagt – mit zum fiktionalen Arrangement gehören, inhaltlich wie auch materialiter. (Der Briefroman, dessen typographische Gestaltung sich an der Form von Briefen orientiert, ist ein Beispiel dafür.) Was man als Schriftarrangement sieht, ist immer schon überlagert von und verschmolzen mit Vorab-Semantisierungen. Um die konnotativen Potentiale einer bestimmten Art von SchriftBildlichkeit aufzurufen, kann es sogar hinreichen, wenn der präsentierte Text nur als so-und-so-beschaffen bezeichnet wird, ohne es de facto zu sein – also etwa als etwas ›Handschriftliches‹, obwohl er im Buch doch erkennbar aus Druckschrifttypen besteht. Es gibt verschiedene Motive dafür, einen Drucktext als ›Handschrift‹ zu bezeichnen, und verschiedene Effekte wären zu nennen; in jedem Fall werden damit Vorstellungen ins Spiel gebracht, die sich mit ›Handschriftlichkeit‹ verbinden, sei es ein gewisses Alter, die Authentizität einer historischen Quelle, ein Dokument privatintimen Schreibens wie Brief oder Tagebuch etc. Manche Eigenschaften der fingierten handschriftlichen Quelle können druckschriftlich nachgeahmt werden. So werden etwa spezifische Strukturierungen und Kursivschriften gern als Repräsentation von Handschriften eingesetzt. Neben der Inszenierung von Handschriftlichkeit durch Druckschriftarten lassen sich auch faksimilierte manuell geschriebene Texte literarisch funktionalisieren (vgl. unten weiteres). In besonderem Maße wird auch dadurch dann Aufmerksamkeit auf das Aussehen der Schrift gelenkt – und die Frage nach dem Konnex zwischen Wahrzunehmendem und Bedeutungsdimensionen des Wahrgenommenen wird virulent. Zu dem, was eine erkennbar reproduzierte Handschriftlichkeit (ein Text in Handschriftoptik) kommuniziert, gehört dabei auch dies: die Demonstration (und implizite Botschaft), dass etwas wie manuell geschrieben aussehen kann, ohne es zu sein. Es geht um Schrift in ihrer Sichtbarkeit, um die Optionen und Formen des Sichtbarwerdens, deren je spezifische Motivation – und dabei allenfalls vordergründig um das Durchschauen einer illudierenden Vorspiegelung. Wer hält schon eine gedruckte Handschrift für eine Originalhandschrift? Gedruckte Handschrift ist im Kontext literarischer Buchpublikationen auch nichts Defizitäres, kein bloßer Ersatz, geschweige denn ein Vehikel der Täuschung – ebensowenig, wie fiktionale Darstellungen ›Täuschungen‹ sind. Sie ist aber ein deutlich nach visueller Wahrnehmung verlangendes Artefakt, wenn man so will: ein Bild von Handschrift, und zwar ein Bild, das die Bedeutungspotentiale des Abgebildeten weitgehend übernommen hat, ausgenommen die, ein Unikat zu sein, eine einzigartige Spur. Aber es

Die Hand im Buch

ist von einer eigenen, spezifischen Signifikanz, eine ›gedruckte Handschrift‹ zu sein. Und auch medial vermittelte Spuren können als Spuren gelesen werden. In literarischen Buchpublikationen sind nicht zuletzt sogar die konkreten handwerklichen und technischen Verfahren zur Erzeugung von Handschrift-Optik potentielle Interpretationsanlässe. Gibt es ein kopiertes Original? Woher stammt es? Wie wurde es kopiert? Oder wurde HandschriftOptik digital, mit rein technischen Mitteln erzeugt? In der Geschichte der Reproduktionsverfahren kann man grob etwa eine vorphotographische, eine photographische und eine postphotographisch-digitale Ära unterscheiden (vgl. weiteres unten); für die Affordanzen des jeweiligen Textes ist die jeweilige Zuordnung durchaus relevant.

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Spiele mit der Distinktion zwischen Handschrift und Druckschrift

Die von der typographischen Produktion von ›Handschriftoptischem‹ (zumindest vordergründig) vorausgesetzte und zugleich unterlaufene Distinktion zwischen einer manuellen Schriftlichkeit und der Schriftlichkeit gedruckter Texte dient, so die im Folgenden leitende These, in exemplarischer Weise der Betonung des Zusammenhangs zwischen ›Wahrnehmung‹ und ›Kommunikation‹. Denn mit der Verwendung einer als solcher auffälligen Schrift macht der Text ja auf seine eigene Schriftprägung, auf seine Bindung an visuelle Zeichen, auf seine aisthetische Dimension aufmerksam – und damit auf den Akt sinnlicher Wahrnehmung, der mit dem Lesen einhergeht und dessen Gang mitbeeinflusst. (Die hier anschließbare Frage, ob und inwiefern es hier – und überhaupt – Sinn macht, zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten zu differenzieren, sei im Folgenden ausgeblendet; erörtert werden allgemein als literarisch wahrgenommene Texte.) Hat man es mit Texten zu tun, die sich ganz oder partiell in Handschriftoptik präsentieren, so scheint in das gedruckte Buch etwas Einzug gehalten zu haben, das zum gedruckten Buch nicht gehört, das seit Gutenbergs Zeiten aus Büchern verschwunden zu sein schien – so ein erster Aspekt der jeweiligen Inszenierung. Die Betonung liegt aber auf »schien«. Denn dieses Verdrängte hat als etwas Re-Inszeniertes wieder Einzug in Bücher gehalten, seit man Handschriftliches mit photomechanischen Mitteln wiedergeben und vervielfältigen kann; nun tritt Handschrift als Reproduktion auf (s.u.). Und gerade als etwas erkennbar Reproduziertes – so könnte man sagen – macht das Reproduzierte auf seine visuelle Verfasstheit, vielleicht sogar auf seine konkrete materielle Genese aufmerksam.

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Mit Blick auf viele literarische Beispiele signifikant ist im Übrigen eine weitere geläufige Differenzierung: die zwischen Fiktionalem und Nichtfiktionalem, wie sie beispielsweise in wissenschaftlichen Abhandlungen und Sachtexten anlässlich reproduzierter Handschrift oder erzeugter Handschriftoptik normalerweise keine Rolle spielt. Wer, beispielsweise aus historiographischen, kultur- und literaturhistorischen, editionsphilologischen oder anderen Motiven heraus in einem gedruckten Buch Handschriftliches inszeniert, zitiert etwas, das (einem vorauszusetzenden Vorverständnis gemäß) aus einem vorgegebenen Kontext stammt: aus einem realen Bewandtniszusammenhang, aus einem existierenden und insofern faktischen Text. Wer hingegen einen fiktionalen Text vorlegt, kann hier unterschiedlich verfahren: Schriften aus realen historischen Bewandtniszusammenhängen, privaten oder öffentlichen, können unter neuen, fiktionalen Voraussetzungen verwendet werden. Aber eine solche Verankerung in Historisch-Faktischem, also die Existenz eines historischen ›Originals‹, kann auch fingiert sein. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, Schriftlichem, das bereits vor der Genese des Werks vorlag, mittels des fiktionalen Textes eine neue Geschichte, einen neuen, womöglich fingierten Kontext, womöglich einen neuen fiktiven Urheber zuzuschreiben – wobei es dann wiederum sein kann, dass die ursprüngliche Provenienz dem Publikum dennoch bewusst ist. Lesen wir einen fiktionalen Text, so sind uns all diese Optionen, und sei es unterschwellig, bekannt und beeinflussen die Interpretation. Wenn in einem literarischen Werk ›Handschriftoptisches‹ erscheint, erfolgt – dies und die Bekanntschaft mit den Konzeptualisierungen und Semantisierungen von Handschriftlichkeit vorausgesetzt – ein buchstäblich un-übersehbarer Selbstverweis der jeweiligen Passagen durch ihre Faktur: Die Abweichung von typographischen Konventionen erzeugt einen Verfremdungseffekt; die inszenierte Suggestion einer Bindung an ›Reales‹, ›Körperliches‹, ›Historisches‹ oder ›Persönliches‹, sei sie fiktionsstrategisch oder anders motiviert, beeinflusst den Lese- und Interpretationsprozess. ›Materielles‹ erscheint als konstitutiv für ›Kommunikation‹, aber diese entscheidet auch darüber, als was es erscheint.

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Zur Technik- und Kultur-Geschichte der Beziehungen zwischen Handschriftlichem und Druckschriftlichem

Die Dinge sind, wie angedeutet, komplexer, als es die geläufige Gegenüberstellung von Handschrift und Druckschrift suggeriert, so effizient diese auch

Die Hand im Buch

unter heuristischen Aspekten sein mag. Denn erstens entstehen Druckschriften seit ihrer Frühzeit vielfach, ja vorwiegend unter Orientierung an Handschriften; im Extremfall sollen sie wie gedruckte Handschrift aussehen (a). Und zweitens kann Handschriftliches drucktechnisch reproduziert werden, sodass ›gedruckte Handschriften‹ als Multiples entstehen (b). (a) »All printing types are in some degree imitations of writing, and in some degree they are substitutes for writing« – mit dieser Feststellung hebeln Warren Chappell und Robert Bringhurst 1970 die geläufige Gegenüberstellung von Handschrift und Druckschrift aus und ersetzen sie durch das Konzept der intendierten Ähnlichkeit (der Imitation) und der funktionalen Gefolgschaft (der Substitution).9 ›Druckschrift‹ ist einerseits eine abstrahierende und unifizierende Bezeichnung für gedruckte, also mittels der Buchdrucktechnik erzeugte Schrift, andererseits aber auch ein Sammelbegriff für viele und verschiedene, auch funktional ausdifferenzierte und dabei dem historischen Wandel unterliegende Druck-Schriften. Eine Orientierung solcher Druckschriften an den bis zur Erfindung des Buchdrucks die Buchproduktion bestimmenden Manuskripten, also an ihren Vorläufern, betrifft sowohl die Ebene der Schriftgestaltung als auch die des Erscheinungsbildes der Buchstaben. Bernhard Metz hat diese Zusammenhänge in Die Lesbarkeit der Bücher (2020) im Rekurs auf einschlägige Forschungen erörtert. Dabei unterscheidet er zwar zwischen »Typographie« und anderen, an Schreib-Hände gebundenen Formen der Textproduktion, rückt aber auch »Zwischenstufen« in den Blick, wie sie durch typographische Nachahmung von handgeschriebenen Texten entstehen – durch den Einsatz von Drucklettern mit handschriftoptischen oder doch entsprechenden Reminiszenzeffekten.10 Für gedruckte Bücher prägende räumliche Anordnungsweisen von Text finden sich auch in manuell geschriebenen Büchern schon; die frühen gedruckten Bücher, darunter die Bibelausgaben Gutenbergs und andere, ahmen seitengestalterisch die Manuskriptoptik weitgehend nach. Erst später bilden sich typische Drucktext-Dispositive heraus, darunter der Blocksatz anstelle des Flattersatzes.11 Bestehen so gesehen neben Handschriftlichem und Druckschriftlichem auf phänomenaler Ebene gleitende Übergänge, so bleibt

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Warren Chappell/Robert Bringhurst: A Short Story of the Printed Word [1970], Vancouver 1999, S. 281; vgl. dazu auch Metz: Die Lesbarkeit (Anm. 7), S. 57. Vgl. zu Beispielen ebd., S. 13-14, 57. Vgl. ebd., S. 14-15-

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als Distinktionskriterium im Wesentlichen der Unikatstatus echter Handschriften übrig.12 Zielt doch der Buchdruck auf eine Multiplikation des Geschriebenen, die per Hand zwar ebenfalls – durch mehrfache Kopien – angestrebt werden kann, dabei aber unterschiedliche Kopien erzeugt. (Dabei ist allerdings auch wieder zu bedenken, dass bedingt durch die Papierqualität als jeweils ›besonders‹ ausfallendes Gestaltungsdispositiv selbst der Buchdruck letztlich differente Exemplare eines Buchs hervorbringt. Dies geschieht aber fast immer13 nichtintentional und unbemerkt. Völlig identische Exemplare entstehen auch im Druck nicht; allerdings sind die Abweichungen eher marginal, und sie entsprechen nicht dem, was zu den Charakteristika des Druckwerks gezählt wird.14 ) Ergänzend, manchmal kompensatorisch zur relativen Einheitlichkeit einer jeweiligen Buchauflage enthalten die Exemplare gedruckter Bücher manchmal manuelle Signaturen, Zeichnungen, Annotationen – und Nachbearbeitungen, Kolorierungen, Beklebungen, Risse etc. Man mag diese Phänomene als dem ›eigentlichen‹ gedruckten Buch ›nachträgliche‹ Marginalien betrachten – es sei denn, das Buch wurde produziert, um im Rezeptionsprozess beschrieben zu werden.15 In literarischen Zusammenhängen kann die Suggestion, jemand habe nachträglich in ein gedrucktes Buch hineingeschrieben, zur Fiktion selbst gehören.16 Obwohl es sinnvoll ist, bei Büchern und anderen Schriftträgern zwischen manuell beschrifteten Unikaten und drucktechnisch erzeugten Multiples zu unterscheiden, fallen die Semantisierungen der einen wie der anderen Manifestationsform von Schriftlichkeit doch so divers aus, dass es in diesem Sinn keine absolute Qualität des Handschrift- oder Druckwerk-Seins gibt. Während Verfechter des Besonderen, Einzigartigen, Schreibgestischen dazu tendieren, gedruckte Schrift als ›bloßen‹ Ersatz zu diskursivieren (als 12 13

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Vgl. ebd., S. 15. Im Bereich gedruckter Literatur gibt es Ausnahmen: Nanni Balestrinis Tristano (Vorfassung 1962, erste umfangreichere Ausgabe 1966), entstanden auf der Basis computergestützte Kombinatorik, bietet auch als Druckwerk lauter Unikatexemplare. Vgl. Metz: Die Lesbarkeit (Anm. 7), S. 59, der auf die »Linearität, Standardisierung und Wiederholbarkeit von Lesetexten« hinweist, die »durch den typographischen Satz und Druck mit mikroskopischer Exaktheit ermöglicht werden, auch wenn jede gedruckte Seite anders aussieht.« (ebd., S. 59). Beispiele sind Notizbücher, Kalenderbücher, zu füllende Alben und Tagebücher. Ein prominentes Beispiel ist Doug Dorsts und J.J.Abrams’ Roman The Ship of Theseus, New York 2013.

Die Hand im Buch

technisch-zivilisatorisches Degenerationsphänomen oder als Tribut an die Ökonomie der Schriftkommunikation), haben vor allem Typographen im gedruckten Text die ›höherentwickelte‹ Stufe erscheinender Schriftlichkeit gesehen.17 Auch wenn es seit Gutenberg selbstverständlich, weil üblich, erscheint, dass Literatur in gedruckter Form zirkuliert (freilich: nicht immer und überall), mögen doch manche mit handschriftoptischen Effekten arbeitende literarische Werke Anlass geben, nach der ihnen eingeschriebenen Evaluierung von Hand- und von Druckschrift zu fragen. Orientiert sich das gedruckte Buch-Werk indirekt und gebrochen am Modell unikatgebundener, singulärer literarischer Kommunikation, und sei es ironisch-gebrochen wie Sternes Tristram Shandy-Exemplare, deren Erstauflage der Autor alle per Hand signierte? Oder affirmiert das Werk die multiple Medialität des gedruckten Buchs? Und wenn ja: warum? Wegen der größeren Nachhaltigkeit und Breite der Textvermittlung? Oder aus Freude an der Einsetzbarkeit vielfältiger Druckschriften, wie sie in solcher Diversität ein manueller Schreibprozess kaum erzeugen könnte? Wiederum gilt: Kein ›hartmediales‹ Faktum bleibt ohne Semantisierungen. (b) Dies gilt auch für die von neuen Medientechniken geschaffenen Produkte. Nachdem Handschriften auch schon in früheren Zeiten mittels verschiedener Praktiken und Gerätschaften kopiert worden sind (etwa durch Abschreiben, Durchpausen oder chemisch gestützte Faksimilierungsverfahren), etablieren sich seit dem 19. Jahrhundert neue Formen der technischen Reproduktion, und die Kultur des Abdrucks von Handschriften expandiert. Nicht nur technische Erfindungen sind dafür impulsgebend, sondern auch diskursive Voraussetzungen, insbesondere positivistische und historistische, vor allem das wachsende Bedürfnis nach Sicherung und Verbreitung historischer Quellen. So kommt es zunächst zu großen Projekten der drucktechnischen multiplen Bereitstellung historischer Quellen. Dazu gehören die Monumenta Germanicae Historia, deren Geschichte Wolfgang Ernst auch unter mediologischen Aspekten nachgezeichnet hat,18 – nicht ohne zu betonen, inwiefern die Erzeugung einer gedruckten Version dieser Dokumente deren ursprüngliche (manuskriptförmige) Verfasstheit und Botschaft modifiziert, ja ›demen-

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Vgl. dazu Metz: Die Lesbarkeit (Anm. 7), S. 14. Wolfgang Ernst: Im Namen der Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003, S. 223-238 und passim.

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tiert‹, weil sie sie einer buchdruckspezifischen Ordnung unterwirft.19 In früheren Zeiten übliche Eingriffe in den Text, ›Korrekturen‹ und ›Normalisierungen‹ wurden kritischer gesehen und erfolgten, wenn überhaupt, unter Kennzeichnung durch typographische Mittel und in kritischen Apparaten – was aber weitere Schritte zur Neuordnung und Neugestaltung des Textes waren. Selbstbewusste Editoren kritisierten das bloße Abschreiben früherer Zeiten demgegenüber als defizitäre Kopistenarbeit. Obgleich (oder weil) mechanische Reproduktionstechniken der historiographischen Forschung und der Pflege von ›Textdenkmälern‹ seit dem 19. Jahrhundert immer weiter entgegenkommen, orientiert man sich doch weiterhin am Leitbild einer reinen, unverfälscht-mimetischen Wiedergabe von schriftlichen (und anderen) Quellen als einem Maßstab für multiplizierende und konservierende Repräsentation. Die Photographie verspricht seit ihrer Erfindung durch Daguerre und Talbot zunehmend nachdrücklicher, nicht nur die reale Welt, sondern auch Quellentexte ›getreu‹ zu dokumentieren. Oft als Garantin von ›Objektivität‹ gelobt, verheißt sie scheinbar eine solche Objektivität der Bildproduktion.20 Ernst spricht von einem »Einbruch der Bilder in den Text der Historie«;21 das Gedächtnis und seine Leistungen werden in der Folge vor allem über ihre Beziehung zu Bildern konzeptualisiert.22 Talbot reproduziert schon 1840 eine Handschrift, macht sie zum Photo.23 Auch und gerade alte und fremdkulturelle Handschriften werden der gelehrten Öffentlichkeit als photographische Faksimiles vorgelegt.24 All dies katalysiert Verschiebungen in der Auffassung der zu erfassenden Gegenstände; der Unterschied zwischen Sehen und Lesen wird (unter verschiedenen Akzentuierun-

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Vgl. ebd., S. 229-230. »In dem Moment, wo sich die Abbildung von der Hand des Schreibers oder Malers löst, werden Schrift und Zeichnung Gegenstand der neuen Lichttechnik und des archäologisch distanten, weil apparatebasierten Blicks auf Bilder wie Texte gleichrangig als optische Signalmengen.« (Ebd., S. 241). So ein Kapiteltitel bei Ernst (ebd.). Die Photographie als neues Medium (so Ernst) »kürzt […] nicht nur die Aufzeichnungssysteme der Speicherung selbst ab, sondern generiert erstmals ein nicht mehr schrift-, sondern bildbasiertes Bildgedächtnis (auch wenn das Vokabular – ›Chronik‹ und ›Inventar‹ – noch dem Schriftregime verhaftet bleibt).« (Ebd., S. 242). Vgl. dazu ebd., S. 241; ferner: Karl Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 17 (1906), S. 601660. Vgl. Beispiele bei Ernst: Im Namen der Geschichte (Anm. 17), S. 241-242.

Die Hand im Buch

gen) erörtert,25 teils unter Betonung der Signifikanz der visuellen Dimension des Lesegegenstandes, teils jedoch auch, indem man das Interpretieren gegen das bloße Schauen ausspielt. Die einseitige These, die wachsende Bedeutung der Bildlichkeit sei zu Lasten der Schriftlichkeit gegangen, wäre aber irreführend. Vielmehr rückt auf neue Weise die Visualität von Schrift und Schriften in den Blick – vor allem weil alte Texte nicht mehr bloß neugesetzt, sondern in ihrem historischen Aussehen mit photographischen Mitteln reproduziert wurden.26 Photographische Reproduktionen von Handschriftlichem begegnen zunächst in dokumentarischen Publikations-Kontexten von Historiographen und von Vertretern der der Historiographie zuarbeitenden ›Hilfs‹Disziplinen.27 Eine besondere Rolle spielen photographierte Manuskripte in Texteditionen.28 Sie scheinen (so zumindest meinen die Befürworter) die 25

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»[…] das 19. Jahrhundert baut nicht nur mediävistische Textdatenbanken vom Schlage der MGH, sondern registriert auch den Einbruch von bildreproduzierenden Medien in das Reich des Textdrucks, angeführt vom medialen Flaggschiff der Photographie. Mit der fortwährenden Verschlagwortung der Bilder unterwarf sich das logozentristische Denken noch einmal das Gedächtnis der Bilder, doch unter der Hand verwandelt die Photographie, für die ihr Gegenstand neben den Bildern auch Text sein darf, die hermeneutische Wahrnehmung der Buchstaben (Lesen) selbst in ein Bild: in Lettern, die als Figuren gesehen – und nicht mehr nur entziffert – werden. Die Differenz zwischen einer philologischen Hermeneutik und einem archäologischen Blick auf antike Buchstaben hat der Paläograph Ulrich Friedrich Kopp in einer Abhandlung über Phönizische Inschriften 1819 pointiert, wo er eine ›lectio difficilior‹ nicht nur nach Buchstabenformen, sondern nach Semantik vorschlägt: ›So muß eine bessere Les-Art auch dem Inhalte nach gerechtfertigt werden‹; Lektüre bleibt an Sprache und nicht unvoreingenommen am Schriftbild orientiert […].« (Ebd., S. 243). Vgl. Ernst anläßlich entsprechender Techniken und Praktiken des 19. Jahrhunderts: »Technische Reproduktion macht historische Typographien nicht nur medienarchäologisch zugänglich, sondern generiert überhaupt ein Bewußtsein für das Medium Druck.« (Ebd., S. 244). Insofern auch literaturhistoriographische Darstellungen die Photographie zu nutzen beginnen, tauchen auch reproduzierte Dichterhandschriften in entsprechenden Druckwerken auf, wobei die Präsentation als photographisches Faksimile zwar eher illustrativ erscheint, aber immerhin die Möglichkeit verspricht, dem Schreibprozess der Autoren oder Autorinnen selbst ein Stück näher zu sein als bei der Lektüre gedruckter Bücher. »Das späte 19. Jahrhundert bricht das Monopol der Typographie in der Edition vergangener Texte durch die photographische Reproduktion, die Texte in Bilder verwandelt; damit einher geht auch eine allmähliche Loslösung von Karl Lachmanns Leitprinzip der emendatio (246) in der Edition mittelalterlicher Texte, also deren kritischen Korrek-

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Präsentation des Textes selbst unbeeinflusst von allen divergenten Lesarten, allen editorischen Entscheidungen und Eingriffen zu ermöglichen – den ›eigentlichen‹ Text also. Dass sich photomechanisch manchmal sogar etwas sichtbar machen lässt, was auf der Vorlage nicht (mehr) zu sehen ist, erhöht den Reiz des Verfahrens. Allerdings schließt die visuelle Kongruenz von Vorlage und Photo-Faksimile auch die Reproduktion solcher Elemente und Strukturen ein, die nicht zum ›Werk‹, sondern nur zum gedruckten Text als materiellem Ding gehören. Druckfehler, Auslassungen, auch Schäden und kontingente Strukturen des Papiers und der Tinte werden mitreproduziert.29

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Literarische Gestaltungsoptionen vor dem Hintergrund der Reproduktionsgeschichte von Schriftstücken

Was unbeschadet solcher Spezialprobleme als Mittel objektiver Visualisierung von ›Realem‹ angeboten und rezipiert wird – die genaue photographische Kopie von Originalen –, eignet sich deshalb auch in besonderem Maße zur Ausgestaltung von Fiktionen Text-Reproduktionen (fiktionale und nichtfiktionale) begleiten die Geschichte der Literatur und haben zu verschiedenen drucktechnischen Umsetzungen geführt. So können die als reproduzierte Schrift zu verstehenden Texte vom Rahmentext typographisch abgesetzt, gegebenenfalls auch in anderer Schrift gesetzt werden – eine bis heute auch in der fiktionalen Literatur geläufige Verfahrensweise. Reproduzierte Handschriftlichkeit kann durch spezifische Schriftarten, etwa die Kursiva, signalisiert werden.30 Selbst Handschriften-Palimpseste lassen sich durch den Einsatz kontrastiver Drucktypen typographisch inszenieren.31 Besondere Effekte lassen sich aus der Konfrontation von reproduzierten Arrangements aus Drucktext und handschriftlichem Text ziehen, etwa in fiktionalen Präsentationen manuell

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tur (und damit Virtualisierung). Demgegenüber steht die Anerkennung der Materialität des Überlieferungsträgers; ›dann ist – polemisch zugespitzt – die fotomechanische Wiedergabe der Handschrift auch die textkritisch beste aller möglichen Editionen.« ([=Zitat aus: Hans-Joachim Behr, Der Editor mittelhochdeutscher Texte, in Armin Burkhardt/Helmut Henne (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft, Braunschweig 1997, S. 28-34, hier S. 33], siehe auch Ernst: Im Namen der Geschichte (Anm. 17), S. 245-246). Vgl. Ernst: Im Namen der Geschichte (Anm. 17), S. 249. Vgl. Reinhold Jirgl: Die Stille. München 2009. Vgl. dazu den Anfang von Umberto Ecos Roman Baudolino, Mailand 2000.

Die Hand im Buch

annotierter Druckwerke.32 Visuell aufgebaut wird dadurch unter anderem eine doppelte Zeitebene. Die Geschichte der literarischen Fiktionen tritt mit der Photographie in eine neue Phase ein, weil sich mit der Reproduktion von Schriftstücken ab nun die Verheißung von Abbildlichkeit verbindet – nicht nur durch Photos fiktionaler Charaktere und Orte, sondern auch durch solche von Schriftstücken. Ins Spiel integriert werden können selbst die Kontingenzen reproduzierter Schriftstücke – die Kleckse, Risse, Farbnuancen etc., die scheinbar dem ›bloßen‹ Trägermaterial und nicht der Botschaft zuzurechnen sind. Innerhalb literarischer Druckwerke, die entsprechende Reproduktionen enthalten, können diese Zufälle dann durchaus bedeutsam sein und literarischem Kalkül entsprechen. Die scheinbar zur graphologischen Lektüre einladenden Handschriften fiktionaler Figuren können ferner Produkte einer intendierten Charakterzeichnung sein. Dass der reproduktive Textdruck als Photodruck im 20. Jahrhundert ständigen Verbesserungen unterliegt, wirkt sich auf seinen Einsatz in literarischen Werken aus – auch wenn es ums Fingieren geht.33 Neue drucktechnologische Reproduktionsformen von Texten lösen die photographischen Methoden im späten 20. Jahrhundert ab; sie kommen ohne zu kopierende Vorlage aus. Das bedeutet in literarischen Fiktionen aber nur, dass jetzt nun die Existenz einer Vorlage in anderer Weise zum Gegenstand der Fiktion werden kann. Photographische Techniken haben insgesamt auf die Geschichte der Reproduktion von Schriftstücken in Druckwerken einen derart prägenden Einfluss genommen, dass man (vereinfachend) zwischen einer präphotographischen, einer photographischen und einer post-photographischen Ära sprechen könnte, also einer Ära des manuellen Kopierens oder des Nachdruckens, einer Ära des Abphotographierens geschriebener Vorlagen und einer Ära ohne ›Vorlagen‹. Dabei nutzen auch digitale Drucke gern die spezifischen Affordanzen von Handschriftoptik – ebenso wie die von PhotoOptik insgesamt. Abgedruckten Handschriften sieht man oft ihre technische Genese ebensowenig an wie die ›Echtheit‹ oder ›Falschheit‹ dessen, was sie angeblich zeigen; auch dies gehört zur literarischen Gesamtkonstruktion. Zumindest in der ›photographischen‹ Ära spielt das Pathos der ›Spur‹

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Vgl. Doug Dorsts und J.J.Abrams’ Roman The Ship of Theseus, New York 2013. Die verbesserten Reproduktionstechniken des 20. Jahrhunderts erzeugen Faksimiles auf der Basis des Offset-Drucks, die mit dem menschlichen Auge von den Originalen nicht mehr unterscheidbar sind (vgl. Ernst: Im Namen der Geschichte [Anm. 17], 266).

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bei der Produktion und Rezeption photographierter Handschrift vielfach maßgeblich mit. Es gibt, so ließe sich zwischenbilanzieren, keine ›Schrift‹, kein ›Schriftstück‹, keine ›Handschrift‹ und kein ›Dokument‹ an sich. Lässt sich die Ära des Drucktextes mit Bennes überzeugender These als Voraussetzung dafür begreifen, dass die ›Handschrift‹ erfunden wird, so wäre zu betonen, dass auch der gedruckte Text entsprechenden Erfindungen und Neuerfindungen unterliegt, welche die Reinszenierungen und Semantisierungen des Typensatzes betreffen. Texte über Schrift und Schreibprozesse können auf sichtbare Weise Aushandlungsfelder der Bedeutung von ›Schrift‹ sein. Sie setzen historische Semantisierungen der Handschrift und der Druckschrift als Bezugsrahmen voraus. Angesichts der Fülle und Vielschichtigkeit von zu berücksichtigenden Aspekten – multiple Bedeutungspotentiale von ›Handschriftlichkeit‹, verschiedene Techniken der Produktion von Handschriftoptik, verschiedene Formen des Anschlusses an textgestalterische Konventionen –, vor allem aber wegen der Verbindung, die die entsprechende Gestaltungsebene mit der jeweiligen Inhalts-, respektive Bedeutungsebene des Textes, der verbalen Text-Aussage, eingeht, sollten konkrete Erscheinungsformen von Handschriftoptik in der Literatur jeweils als Einzelphänomene in den Blick genommen werden. Vergleiche, Gruppenbildungen, Nachzeichnungen historischer und anderer Verbindungslinien sollten sich anschließen, aber im Bereich der Textgestaltung präsentiert sich gerade die neuere Literatur als so inventiv, dass die Frage nach der jeweils besonderen Funktion von Handschriftlichkeit im Einzelwerk besonders vielversprechend erscheint.

Teil B: Handschriftoptik bei Michael Lentz (7)

Handschriftoptisches bei Lentz

Dass Texte über Schrift und Schreibprozesse auf sichtbare Weise zu Aushandlungsfeldern der Bedeutung von ›Schrift‹ werden können und dass Handschriftoptik dabei eine wichtige Rolle spielen kann, lässt sich bei Michael Lentz besonders gut zeigen. Das Themenfeld Schreiben und Schrift hat in

Die Hand im Buch

Lentz’ Werk zentrale Bedeutung; es wird auf facettenreiche Weise zum Anlass poetologischer Reflexionen und bestimmt diverse Erzähltexte maßgeblich.34 Die Frage, was ›Schreiben‹ und was ›Schrift‹ ist, wird auf unterschiedliche Weisen visuell inszeniert und explizit reflektiert. Heißt es im ersten Beitrag des Bandes Textleben, »Schreiben« könne »[…] als ›Einheit, Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung (-affektion) von Schreiber, Schrift und Geschriebenem‹« gelten,35 so verbindet sich dies u.a. mit der Voraussetzung, dass neben einem abstrakten Sinn der Textproduktion auch die Vorstellung manueller Arbeit gemeint ist: Was ist das eigentlich, Schreiben? So allgemein gesehen. So im Allgemeinen. Schreiben ist »die konkrete, in der abendländischen Kultur meist gewohnheitsmässig und wie unbewusst vollzogene Handbewegung, die Schriftzeichen und Schriftstücke hervorbringt, aber auch in einem weiteren Sinn das berufsmäßige Verfassen von Texten.«36 Die Erkundung von ›Schrift‹ erstreckt sich u.a. auf die Beschäftigung mit Buchstaben, das Verfassen von Anagrammtexten, die Analyse der Graphien phonetischer Poesie, Reflexionen über die alphabetische Ordnung und visuelle Aspekte von ›Schriftlichkeit‹. ›Stimme‹ und ›Handschrift‹ werden vergleichend in Relation gesetzt;37 die Körperbindung beider ist Motiv dafür.38

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Die Polyvalenz des Wortes ›Schrift‹ wird von Lentz wiederholt betont; vgl. u.a. Michael Lentz: Sprechen. Schreiben. Ich. Eine Auskunft, in: ders.: Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, Frankfurt a.M. 2011, 13-47. Ebd., S. 15; das Zitat stammt aus Detlef Thiel: Über die Genese philosophischer Texte. Studien zu Jacques Derrida, Freiburg/München 1990, S. 387. Lentz: Schreiben, Sprechen, Ich (Anm. 34), S. 15, Zitat aus: Thiel: Über die Genese (Anm. 35), S. 13. »[…] Stimme und Handschrift sind Bewegungen, die nie identisch wiederholt werden können. Das unterscheidet unter anderem den Menschen von der Maschine, die auf Grade von Wiederholbarkeit hin angelegt ist, deren Nichtidentisches wir wiederum ohne Maschinen nicht ermessen können.« (Lentz: Ich, anders. Eine Poetik der Schwelle, in: Textleben (Anm. 34), S. 97-173, hier S. 143). »In Zusammenhängen des künstlerischen und Selbst-Experiments kommt […] der materialen Eigenwertigkeit von Schreiben insbesondere im Sinne einer Resurrektion der Handschrift mit ihren individuellen Konzeptualisierungen als selbstbezügliches und subjektaffzierendes Medium, als ›Körpersprache‹ und Differenz zur normierten Typographie eine besondere Bedeutung zu. (Hand-)Schrift als Intermedium zwischen skripturaler und pikturaler Spur.« (Lentz: Sprechen. Schreiben. Ich [Anm. 33], S. 30).

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Mehrfach bietet Lentz auch Inszenierungen von Handoptischem innerhalb von gedruckten Texten; zu beobachten sind dabei unterschiedliche Strategien. Dies gilt etwa für diverse literaturtheoretisch-poetologische Beiträge des Sammelbandes Textleben und des Bandes muttersterben, für die Poetikvorlesungen Atmen Ordnung Abgrund sowie für den Roman Schattenfroh (zu dem das Buch Innehaben einen umfangreichen Meta-Text bietet). In Textleben und Atmen Ordnung Abgrund setzt sich Lentz u.a. mit Autoren auseinander, deren Oeuvre durch den Einsatz spezifischer Graphien geprägt ist: mit Oskar Pastior,39 mit Carlfriedrich Claus,40 mit Valeri Scherstjanoi;41 thematisch affin dazu verhält sich u.a. ein Beitrag über Joseph Anton Riedls optophonetische Poesie – wie denn insgesamt Lentz’ Beschäftigung mit diesem poetischen Genre seine Perspektive auf poetisch-literarische Graphien maßgeblich mitbestimmt.42 Die Poetikvorlesungen Atmen Ordnung Abgrund zeigen einleitend das Faksimile eines handgeschriebenen und mit dem eigenen Namen unterzeichneten Lentz’schen Gedichts mit der programmatischen Titel- und Eingangszeile: »habe nun den text meines lebens«.43 Ein Beitrag in muttersterben bietet handschriftliche Notizen des Autors, die auf einer Flugreise entstanden sind und das Fliegen in Verbindung mit der durch den Text in handschriftlich-faksimilierter Form dokumentierten Schreibszene thematisieren (»Einige anmerkungen zum fliegen im flugzeug nach Rom nebst anmerkungen«). Turbulenzen (nicht nur physische) und Kritzelschrift, räumliche Enge und Schreibgestik, Flugangst und Bodenlosigkeit verweisen aufeinander, im Faksimile vermittelt auch durch das Erscheinungsbild des Textes selbst.44 Auch ein ebenfalls faksimiliert abgedruckter handschriftlicher Brief

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Zu Pastior vgl. Michael Lentz: Atmen Ordnung Abgrund. Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 147-206 (und als reproduzierte Graphie schon ein Textbild Pastiors, S. 10); sowie Textleben (Anm. 34), S. 232-250 (=Pastiorphonie). Zu Carlfriedrich Claus vgl. Textleben (Anm. 34), S. 177-207 (=Claustrophonie). Zu Scherstjanoi vgl. Textleben (Anm. 34), S. 289-303 (=Der letzte Futurist. Valeri Scherstjanoi). Zu Riedl vgl. Textleben (Anm. 34), S. 223-231 (=Ohrenblicke. Josef Anton Riedl). Lentz hat zur neueren Lautpoesie auch als Wissenschaftler publiziert. Seine Siegener Dissertation zu diesem Thema (1998) erschien im Jahr 2000 in Wien sowie 2011 in Frankfurt a.M. (überarb. Fassung: Lautpoesie nach 1945, eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme). Lentz: Atmen Ordnung Abgrund (Anm. 39), unpag. [5]. Michael Lentz: muttersterben. Frankfurt a.M. 2002, S. 71-73 (gedruckte Version), [S. 7581, unpag.] faksimilierte Handschriftversion.

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an Hartmut Geerken in Textleben, »Tintenfluss« betitelt, wird zum Anlass einer die Schreibsituation einbeziehenden schreibpoetologischen Reflexion.45 Dabei unterliegen die beiden Faksimile-Texte in muttersterben und Textleben insofern differenten Inszenierungsstrategien, als ersterer Text (»Einige anmerkungen […]«) zunächst in Druckschrift, dann als Faksimile im Buch erscheint, während letzterer (»Tintenfluss«) nur als Faksimile in den Band Textleben aufgenommen wurde. Stets handelt es sich um faksimilierte Handschrifttexte, was nicht eigens erwähnt wird und insofern die Hypothese nahelegt, dass faksimilierte Handschrift und ihre jeweilige Unikat-Vorlage bei Lentz funktional kongruent sind. Nicht auf den Unikatcharakter, sondern auf das Aussehen der Schriftzüge kommt es an.

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Multiple Graphien in Schattenfroh

Lentz’ Roman Schattenfroh erzählt eine mehrschichtige Fabel.46 Ein Erzähler, der in der Ich-Form und in der Er-Form auftritt (und sich »Schattenfroh« nennt), agiert explizit als Schreibender, erzählt also, indem er schreibt und dabei auf diesen Schriftvorgang auch immer wieder hinweist. Im Buch manifestiert sich dieser Schreibvorgang in gedruckter Form. Der Erzähler charakterisiert sein Schreiben zunächst (und dann wiederholt) auf eine Weise, die die immaterielle Dimension des Geschehens betont, wenn auch mithilfe des ungewöhnlichen konkreten Sprachbildes vom »Gehirnwasser«;47 suggeriert wird ein ›reines‹ Schreiben, das seinen Ausgang im Gehirn nimmt, von welchem Impulse auf die Hände und Finger als Schreiborgane ausgehen. Mein Schreiben muss eine Projektion der Gehirnwasserschrift sein. Denn ist das Gehirnwasser nicht die Seele? Ich habe im Kopf nachgeblättert: Liquor cerebrospinalis. Das immerhin kann ich, im Kopf nach Wörtern suchen. Die 45 46

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Lentz: Tintenfluss. Lieber Hartmut Geerken, in: Textleben (Anm. 34), S. 349-365. Michael Lentz: Schattenfroh. Ein Requiem. Roman, Frankfurt a.M. 2018 (im Folgenden: Nachweise durch Nennungen im Text.). Die Geschichte des Erzählers, seines Vaters, seiner Mutter, weiterer ihm bekannter und mit ihm zusammentreffender Figuren (auch imaginär-fiktionaler) ist u.a. unterlegt mit der des Neuen Testaments, insbesondere der Passionsgeschichte und anderen Fabelmustern christlicher Provenienz; Vater und Sohn, Gottvater und Jesus rücken in Analogiebeziehungen. Zu Schattenfroh vgl. auch das Meta-Buch: Michael Lentz: Innehaben: Schattenfroh und die Bilder, Frankfurt a.M. 2020. »Ich habe kein Papier, keinen Stift, keine Schreibmaschine, keinen Computer. Ich schreibe in mein Gehirnwasser.« (Lentz: Schattenfroh [Anm. 46], S. 7).

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Sache selbst ist die Schrift, und alles spricht nur sich selbst aus. Und es gibt so viele Sachen, aber kein Jenseits der Sprache- Was hier vor sich geht, erkläre ich mir so: Die Gehirnwasserschrift wird auf meine Hände projiziert, von denen Schattenfroh, als gäben die Hände Befehl, das von mir Gedachte und Gesehene in Form eines Buches ablesen lässt, oder es findet über die Brille eine Fernübertragung des gedachten Gehörten Gesehenen an einen Apparat statt, der alles aufschreibt, und die schnellen Bewegungen meiner Finger sind nichts als ein Atavismus. Warum aber aufschreiben? Warum nicht überall ausstrahlen? (Schattenfroh, 10)48 Schrift ist durchgängiges Thema – und zwar in einem breiten Spektrum von Bedeutungen des Wortes; Schrift stellt sich mit verschiedenen Mitteln in ihrer Sichtbarkeit dar. So gibt es Passagen und Stellen mit ausbleibender, unterbrochener oder auch mit sich selbst überschreibender Schrift, Seitenflächen, die von Druckerschwärze und insofern zumindest von sichtbarer Schrift frei sind – und solche, die mit Druckerschwärze so dicht bedeckt sind, als hätten einander hier viele Texte bis zur Unleserlichkeit überlagert. Spielräume zwischen Lesbarem und Unlesbarem werden erkundet, unter anderem durch viele anagrammatische Passagen, durch elliptisch wirkende Passagen, durch Präsentation von (vordergründig) Unverständlichem. Unterschiedliche Farbstärken der verwendeten Druckschrift erzeugen Suggestionen des Verblassens. Zum Einsatz kommen verschiedene Schriftarten, Schriftgrößen, Buchstabenformen, Textsatzformen. Ein typographisches Dispositiv, das Lentz nicht nutzt, sind hingegen Gliederungsstrategien durch Kapiteleinteilungen (mit üblicherweise entsprechenden Kapitelüberschriften), ebenfalls ungenutzt bleibt das Dispositiv der Fußnoten oder anderer als Nebentext gesetzter Texteinheiten. Stattdessen suggeriert der Text inhaltlich wie optisch einen ununterbrochenen Textfluss, einen Manuskript- oder 48

Schattenfroh ist das alter ego dieses Ichs, gelegentlich beschrieben als die Instanz, die dem (schreibenden) Ich das zu Schreibende eingibt oder vorspricht (vgl. ebd., S. 12). Eine frühe Romanszene zeigt das Ich an einem Schreibtisch, dessen Tischplatte ein »Wunderblock« ist (ebd., S. 27), ein »Palimpsest« (ebd., S. 31), über das es (in Gegenüberstellung von ›charakteristischer‹ Handschrift/Besonderheit und Allgemeinheit/ Abstraktion) heißt: »Unterschiedliche Handschriften sind zu entdecken, die entweder sich oder den Buchstaben zu erkennen geben. indem sie das eine verbergen und das andere ausstellen. Lässt die eingeritzte Spur nicht mehr auf eine Hand schließen, ist aus dem Buchstaben jedwedes Bild gewichen, gehört der Buchstabe keiner bestimmten Schrift, sondern der Idealvorstellung eines Buchstabens und schließlich dem Begriff […]« (ebd., S. 28).

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Redefluss. Der Romantext nimmt seinen Ausgang vom Wort ›Schrift‹. Der erste Satz lautet: »Man nennt es Schrift« (Schattenfroh, 7), der letzte in interpretationsträchtiger Abwandlung: »Man nennt es schreiben« (Schattenfroh, 1008). Thematisch prägend ist die spannungsvolle Beziehung zwischen Körperlichkeit, Körperbindung und Materialität von Schrift auf der einen Seite, der immateriellen Dimension schriftbasierter Kommunikation auf der anderen. In diesem Themenfeld situiert ist auch das der Handschriftlichkeit. Genauer gesagt geht es um manuelles Schreiben und Handschrift an beiden Seiten des Spektrums: Handschrift steht hier vor allem in Beziehung zur Sphäre der Körperlichkeit, abgestimmt auf ein Kernthema des Romans: Dieser ist stark geprägt vom Versuch, sich mittels der Schrift den Grenzen des Darstellbaren, vor allem dem Schmerz und dem Tod zu nähern, auf entsprechend grenzwertige Erfahrungen und Imaginationen schreibend zuzuhalten, um sie als Grenzerfahrungen zwar nicht zu begreifen, aber doch deutlicher hervorzuheben. »Mittels der Schrift«: das bedeutet mehrerlei: Den Roman prägt erstens das Schreiben über Schmerz und Tod; er nimmt immer wieder Bezug auf die Passionsgeschichte, auf Märtyrer, auf säkulare Formen der Schmerzerfahrung und säkulare Tode, so auf die Geschichte der Folter, auf die Geschichte von verheerenden Kriegen etc. Zweitens werden auch schriftgraphische Mittel dazu eingesetzt, auf Schmerz und Tod hinzudeuten, diesen in einer (offensichtlich vermittelten) Weise Ausdruck zu verleihen, ihnen eine (mittelbare) Spur zu verschaffen. Das Pathos der Spur affiziert Schreibszenen und verbindet sich suggestiv mit dem Thema Handschrift.

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Spielformen und poetologische Aspekte reproduzierter Handschrift in Schattenfroh

Vom typographisch gestalteten Haupttext des Romans stechen diverse Passagen in Handschriftoptik ab. Das Vorstellungsbild des ›Handgeschriebenen‹ erfährt im Durchgang durch die Beispiele eine in ihm selbst angelegte semantische Ausdifferenzierung, für die jeweils unterschiedliche Felder kultureller Praxis grundlegend sind. Im das Buch eröffnenden Paratext werden die optisch abstechenden Graphien, darunter auch die faksimiliert-handschriftlichen, explizit genannt.    

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Die Geheimschriften auf den Seiten 162, 163, 164, 831, 835 wurden von Valeri Scherstjanoi nachgezeichnet [S. 164: Vorlage aus Tristram Shandy, Verlaufslinien des Erzählens!]. Die Skribentismen auf den Seiten 562, 836, 994 stammen von Valeri Scherstjanoi selbst. Die Handschriften auf den Seiten 61-136, 206-207 stammen vom Autor. Das Stadtwappen auf Seite 169 ist eine Montage von Valeri Scherstjanoi. (Schattenfroh, unpag.; Seite mit dem Impressum) Geheimschriften und Skribentismen als Sonderformen der Textbildlichkeit haben auf der Ebene der Romanhandlung verschiedene Funktionen. So finden sich auf den Seiten 162 und 163 Proben zweier manuell geschriebener Kryptographietexte, mit denen Mateo den Vater und der Vater Mateo am Lesen hindern will. Dazu werden Kommentare eines Kryptographen eingeholt (Schattenfroh, 163). Die ›Geheimschrift‹ auf S. 165, von Scherstjanoi kopiert, besteht aus einer Kopie von Tristram Shandys berühmten Verlaufslinien seines Erzählens. Der Erzähler nennt sie einen »Fluchtplan«.49 Auf S. 206 und 207 findet sich das Faksimile eines manuell abgeschriebenen barocken Passionsgedichts (als ein weiteres Sich-Heranschreiben an Schmerzen und Wunden), das sich vor den Augen des Schreibenden verkörpert, indem er es liest. Starre ich die Wörter nur lange genug an, öffnen sie sich wie Tulpen und geben sich zu erkennen. Andere lassen sich über den Kontext erschließen, einige wenige sind mir unbekannt (Schattenfroh, 205).50 Von jeder dieser handschriftoptischen Romanpartien her eröffnet sich ein Zugang zu dessen netzwerkartiger Gesamttextur (was hier im Einzelnen nicht dargelegt werden kann); jede korrespondiert mit einem Aspekt der dem Roman eingeschriebenen Poetik. Dies sei an zwei Beispielen verfolgt. (a) Skribentismen. Schattenfroh enthält, jeweils vom gedruckten Textrahmen abstechend, mehrere Zeilen in Valeri Scherstjanois skribentischer Schrift, eine davon zweimal. Sie wird auf S. 399 als »Schriftzüge eines besonderen Wurms« beschrieben, die ein »zunächst« nicht deutbares Bild 49

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Ebd., S. 165. Die Ausstülpungen nach oben seien »Darmausstülpungen, Divertikel«, die man regelmäßig beobachten müsse, weil sie »bösartig werden« könnten, oder auch »seismographische Linien« (ebd.). Es folgt der handschriftliche barocke Liedtext, eine drastische Beschreibung der Wunden Christi. Diese geht dann mitten im Satz in den Text des kommentierenden Erzählers über. (Vgl. ebd., S. 207).

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erzeugen (Schattenfroh, 399); die Wiederholung erfolgt auf S. 835, benachbart zu einer weiteren manuellen Schreibprobe in anderen Zeichen; den rahmenden Kontext bildet eine imaginäre Szene um den Guss von Lettern durch einen Drucker, verbunden mit einer Anspielung auf das sogenannte Voynich-Manuskript. Nicht nur diese wirft die Frage auf, ob die unlesbaren Zeichen auf dieser Seite (und auf S. 399) überhaupt eine ›Schrift‹ sind. Wo beginnt, anders gefragt, Schrift? Erst dort, wo Laute, Konzepte oder Dinge mittels eines graphischen Codes repräsentiert werden? Oder schon bei den Spuren eines Wurms? Auf S. 562 findet sich eine weitere skribentische Zeile, gerahmt von Passagen, die über Imaginäres sprechen. In dem Aufsatz »Der letzte Futurist. Valeri Scherstjanoi« (Textleben, 289-303) bezieht sich Lentz auf einen Erinnerungsbericht des Skribentisten, dessen Schreibpraxis in Beziehung zu Prozessen des »Schreibens im Dunkeln« gebracht wird – einer Praxis also, bei der der Blick des Schreibenden (und damit dieser selbst) die entstehenden Schriftzüge nicht kontrollieren und insofern auch nur eingeschränkt steuern kann. So entfaltet Schrift ein Eigenleben, gehen ihre Linien eigener Wege, ›schattenfroh‹ vielleicht (der rätselhafte Lentz’sche Romantitel könnte zumindest von hier aus interpretiert werden). Schreiben im Dunkeln ist ein Schreiben ohne ›Autor‹ im konventionellen Sinn, bei dem die Hände, von den Augen nicht geleitet, auf sich allein gestellt sind. Der Schreibende, über seine Hände Exekutivorgan des poetischen Vorgangs, mag auch im übertragenen Sinn hinsichtlich seines Gedichts im Dunkeln bleiben. In ›Nüchterne Nächte‹ liefert er (=Scherstjanoi) die Initiationsgeschichte seiner scribentischen Lautpartituren als Schreiben im Dunkeln: ›Ich erinnere mich an mich, das Kind, das seine Worte im Dunkeln schreiben musste, weil Mutter das Licht ausmachte, und ich sah das Geschriebene nicht mehr, schrieb aber weiter, dann schlief ich ein. Morgens betrachtete ich das Geschriebene und konnte es kaum entziffern. Aber es sah interessant aus. Die Zeilen trafen sich, gingen auseinander.‹ Jahre später […] wiederholt sich diese Urszene, der Schreibende imaginiert sich eine leuchtende Raumschrift, eine Ätherschrift, die den Grund, das Trägermedium, verfehlen mag, die ihren Grund in sich selber hat: ›Ich sitze am Küchentisch und schreibe im Dunkeln, ich habe das Licht ausgemacht. Ich sehe das Blatt nicht. Ich sehe meine Handschrift leuchtend und schwebend im Raum. Mutter kommt nicht, ich mache das Licht dennoch nicht an. Die leuchtende Handschrift. Die ersten Gedichte entstanden im Dunkeln.‹ (Textleben, 294-295)

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Gerade in ihrer Abweichung von konventionellen Schriftzeichen sind Scherstjanois skribentische Zeichen ein Anlass zur Reflexion über Schriftlichkeit – und über ›Schreiben‹ als poetische Arbeit. In jedem Strich sind die scribentischen Zeichen Differenz und bilden ein einzigartiges relationales System zwischen Lesbarkeit und stummer, das heißt rein visueller Autonomie, zwischen Determiniertheit und Indeterminiertheit. (Textleben, 295) Skribentische Schrift steht bei Lentz erstens für die körpergebundene, auto-biographische Dimension von Geschriebenem: Nicht allein, dass sich die Schreibenden den skribentischen Schriftzügen ganz konkret ein-schreiben; aufgrund der vielfältigen assoziativen Leseoptionen, die sie bieten, wird auch die Lektüre jeweils zur besonderen, individualisierten Lektüre. Zur Absonderung von Schriftzeichen läuft die Autobiographie der Handschrift mit ihren willentlichen Stilisierungen und unwillkürlichen, auch materialabhängigen Modifikationen parallel. Für den Autor kann sie signaletischen Wert besitzen bis hin zu einer Mnemotechnik der Erinnerung, des Heraufbeschwörens von Situationen, Stimmungen oder geistigen Prozessen. Wenn Erinnerung bedeutet, dass man sich nicht an etwas, sondern an sich erinnert, vermögen willentlich hervorgerufene Stilisierungen der Handschrift bis hin zu einer künstlerisch-künstlichen Handschrift eine fiktionale Autobiographie zu generieren. Man erinnert sich dann an seine Erinnerungen, die selbst schon mit keiner Realität zu verrechnen sind. In Form von getrockneter Tusche ist auch ganz materialiter Vergangenes in Scherstjanois scribentische Blätter eingeschrieben. […] Datierungen am unteren Ende des Blattes weisen dann nicht nur den Zeitpunkt der Entstehung aus, sondern grundieren das optische Tagebuch in loser Blattsammlung historisch, wenn auch vielleicht nur für den Autor. Die unterschiedlichen Gradationen der Lesbarkeit verführen den Rezipienten seinerseits wahrscheinlich schnell dazu, das einzelne Blatt nach symbolhaften Icons anzusuchen, an denen sich seine Augen sprichwörtlich festhalten können. Er rekonstruiert sich dann eine eigene Geschichte. (Textleben, 299-300) Skribentische Schrift provoziert zweitens die Frage nach ihrer ›Lesbarkeit (im Sinne von Interpretierbarkeit, Entschlüsselbarkeit, Verständlichkeit) und lässt sich unter anderem deshalb als eine metaphorische, gegebenenfalls auch

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metonymische Bespiegelung des literarischen Textes betrachten.51 (Schattenfroh ließe sich metaphorisch als ein einziges großes Kryptogramm charakterisieren.) Und sie löst drittens als Stimulus von Assoziationen und projektiven Deutungen Erinnerungen aus, eigene, subjektive, besondere – aber nicht deshalb, weil sie in dieser Funktion absichtsvoll und kontrolliert als fixierende Notation verwendet worden wäre, sondern weil ihr die Erinnerung an eine Körperlichkeit eingeschrieben ist, an Materielles, Konkretes.52 Lentz’ Skizze zu einer Poetik des Skribentischen hebt den Erinnerungseffekt des Blicks auf solche Schriftzüge hervor; sie erinnern die Schreibenden selbst an die konkrete, körperliche Schreibsituation – und katalysieren beim Lesen die jeweils eigene Erinnerungsarbeit. Erinnerung ist eines der Leitthemen in Schattenfroh, Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte des Erzählers (die der von Lentz in manchem gleicht), an Familiengeschichte, an die Geschichte der Stadt Düren (Lentz’ Heimatstadt), an eine insgesamt von Kriegen und Zerstörung gezeichnete Geschichte Europas. Wenn Lentz Scherstjanois Bild von der im Dunkeln leuchtenden Handschrift zitiert, so entspricht dies dem Umstand, dass der Weg seines Romans durch mehr als ein dunkles Gelände führt. (b) Eine handschriftliche Namensliste. Um Erinnerung in anderer Akzentuierung geht es mit einer zweiten Spielform von Handschriftlichkeit in Schattenfroh: mit einer vom Autor Lentz selbst handgeschriebenen und dann fak-

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In »Schreiben, Sprechen, Ich« wird im Abschnitt »Verstehen – Auslegen« die Spannung zwischen verstehender Erschließung von Texten und der Erfahrung ihrer Widerständigkeit betont: »Es gilt, einen Text als ein Kohärenz stiftendes Gebilde zu verstehen, als ein auf sich selbst abgebildetes System, das durchaus Aussagen über seine Gemachtheit zulässt. […] Die Debatte über die dem Text eigene Sinnkohärenz ist dabei ein so notorisch streitbares wie fruchtbares Unterfangen./Die Partie nachspielen, die dem Text zugrundeliegende Ordnung rekonstruieren – das hat mich als Leser immer interessiert. […] Den Text rätselhaft lassen, das hat mich nicht weniger interessiert.« (Lentz: Textleben [Anm. 34], S. 20-21). Vgl. ebd., S. 300. Trotz ihrer engen Beziehung zu lautpoetischen Performances sind skribentische Schriften keine ›Partituren‹, so Lentz. Denn »die scribentischen Blätter [sind] doch nur sehr bedingt auf Reproduzierbarkeit hin angelegt und könnten von anderen Interpreten als dem Autor, selbst bei vorhergehender Einübung, wohl kaum als Lautgedicht gelesen werden. Die fast unüberschaubare Vielzahl divergenter Zeichen, die eine Memorierbarkeit schon auf niedrigem Niveau scheitern lassen würde, oder zum Beispiel die grundsätzliche Offenheit der Leserichtung, sobald die Zeichen auf dem Blatt die lineare Zeichenabfolge […] verlassen, tun hier ihr Übriges. Gleichwohl können die Scribentismen als Animationsnotation für eigenwillige akustische Interpretationen verwendet werden.« (S. 300-301).

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similiert wiedergegebenen langen Liste von Personennamen.53 In alphabetischer Folge verzeichnet sind hier die Opfer eines Bombenangriffs, der 1944 die Stadt Düren weitgehend zerstörte. Der Romanerzähler enthält in Schattenfroh den väterlichen Auftrag, diese Listen auf der Basis eines älteren Verzeichnisses anzufertigen; er muss die Namen dabei umordnen, eine zunächst nach Straßennamen gegliederte Namensliste in eine reine Namensliste verwandeln.54 Und er empfindet die mit seiner Aufgabe verbundene Verantwortung: An ihm liegt es, ob wenigstens die Namen der Bombenopfer, wenn schon nicht diese selbst, dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben bleiben. Namen – hier die schriftförmigen Repräsentanten der einzelnen Toten – sind etwas Kontingentes, Äußerliches, nach rund 70 Jahren fast Nichtssagendes, und doch kondensiert sich in ihnen, was an Erinnerung an die Namensträger über die Zeiten hinweg erhalten blieb. Was ist, wenn ich jemanden übersehe, ihn in meiner Abschrift vergesse, dann wäre er ein zweites Mal ausgelöscht. Der Name ist der einzige Besitz, den wir wirklich haben, erst durch den Namen gibt es uns, geht mir jetzt durch den Kopf, Müdigkeit, Erschlaffung, das sind die Feinde des Namens ebenso wie die bloße Nummer, die an seine Stelle tritt, zum Beispiel 150564 oder 172364. (Schattenfroh, 59-60) Lentz’ Erzähler spricht über die in Schattenfroh vollständig reproduzierte Totenliste unter anderem im Rekurs auf eine Quelle, die die Schreibarbeit mit

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Von der Figur Mateo, der für seinen Vater arbeitet, erhält der in einer Zelle sitzende Erzähler eine Liste, eine Mappe und ein Buch; letzteres von einem »gewissen Speer« (Lentz: Schattenfroh [Anm. 46], S. 58). »In der Liste ist vermerkt, dass von den 6431 Häusern der Stadt 4253 zu einhundert Prozent in Schutt und Asche gelegt wurden, der Rest unbewohnbar war und ganze dreizehn Häuser verschont worden sind. Die Mappe enthält ein akkurat mit Schreibmaschine angefertigtes, alphabetisches geordnetes Verzeichnis der mehr als 3100 Toten – Einheimische, Auswärtige, Unbekannte –, zu dessen Komplettierung zehn Jahre nach der Auslöschung der Stadt jeder Bürger aufgefordert worden war, aus seiner Erinnerung Nachname, Vorname, Alter, Straße und Hausnummer von Verwandten, Bekannten, Freunden und Nachbarn mitzuteilen, die am 16. November 1944 oder während eines anderen Bombenangriffs auf die Stadt umgekommen sind. Mateo sagt, mein Vater lasse ausrichten, ich müsse die Namen, Vornamen und das Alter der Toten mit der Hand ohne Unterbrechung abschreiben.« (Ebd., S. 58-59). »[…] es begleitet mich die Sorge, einen Namen falsch zu schreiben, eine falsche Altersangabe zu machen […].« (ebd., S. 59).

Die Hand im Buch

der Hervorbringung und Erhaltung einer ganzen »Welt« analogisiert: Der babylonische Talmud berichtet von Rabbi Jischmael, der Rabbi Jehuda, den Toraschreiber, ermahnte: Jemand sagt mir: ›Mein Sohn sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben auslässest oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt.‹ (Schattenfroh, 60)55 Zu seiner als »Gottesdienst« bezeichneten Arbeit ansetzend, erfährt der Schreiber, wiederum in Anspielung auf jüdisch-kabbalistische Überlieferungen, die Buchstaben des Alphabets als lebendige, sprechende Wesen – und die Schreibarbeit selbst als eine Arbeit, deren unsachgemäße Ausführung schreckliche Folgen haben könnte.56 Schließlich wird sein eigener Körper zu einem Stück Schrift; er geht in Schrift auf. Ich schreibe mit links und rechts und lange Strecken mit links und rechts gleichzeitig. Meine Arme sind die Buchstaben, die ich auf das Papier bringe, zwei große I hängen von den Schultern herab, die sich schreibend zum L formen, durch das große A der gefalteten Hände geht der Leib, er ist die Interpretation einer verlorengegangenen Urschrift, schreibend verschwinde ich […] (Schattenfroh, 60) Einmal wird in Schattenfroh der Roman selbst als »ein ruiniertes Totenbuch« (593) bezeichnet. Verschiedene Interpretationen sind denkbar; in jedem Fall erscheint die manuell erstellte und reproduzierte Totenliste damit als ein Kernstück des Ganzen.

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Die Heilige Schrift darf beim Abschreiben nicht auch nur um eine einzige Letter modifiziert werden. Der babylonische Talmud berichtet von Rabbi Jischmael, der Rabbi Jehuda, den Toraschreiber, ermahnte: »Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben auslässest oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt.« (Der babylonische Talmud. Mit Einschluß der vollständigen Misnah, hg. u. übers. von Lazarus Goldschmidt. Bd. 2., Berlin 1900, S. 35). »Da treten die 22 Buchstaben vor mich hin und bitten mich, anfangen zu dürfen, da sie der Anfang sind. Der Kugelschreiber ist kalt, er schneidet in meine Finger, er hat die Gestalt eines Kreuzes, nie habe ich etwas Sinnvolleres getan, als diese Namen abzuschreiben. Meine Finger bluten. Ich lecke das Blut ab, sollte es auf das Papier tropfen, würden alle Bomben noch einmal fallen, und ich würde den Tod eine jeden Toten sterben, Tausende Male würde ich sterben […].« (Lentz: Schattenfroh [Anm. 45], S. 60).

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Monika Schmitz-Emans

Die als Visualzitate integrierten Skribentismen und die handschriftliche Totenliste als zwei Formen gedruckter Handschrift bestimmen nachhaltig über den Rahmen, innerhalb dessen in Lentz’ Roman über Schrift und Schriftlichkeit und damit über Literatur reflektiert wird; in beiden Fällen ist die Erscheinungsform der Textelemente dafür entscheidend. Different, teils komplementär konnotiert, umschreiben diese Kompositionselemente eine von Spannungen bestimmte Poetik. Der Skribentismus, kryptographische und körpergebundene Schrift eines Einzelnen, ist konnotiert mit Besonderheit; gebunden an ein im »Dunkeln« schreibendes Ich erscheint er zwar als dessen Spur, verschließt sich aber gegenüber einer entziffernden Lektüre von außen. Die Namenliste verbindet demgegenüber den Schreibenden mit der Geschichte anderer, konkreter: mit der seiner Stadt und ihrer 1944 zu Bombenopfern gewordenen Bürger. Sein Schreiben, auf faktischen Opferlisten basierend, erinnert ganz konkret an diese, implementiert ein Stück Realgeschichte in den Roman, dies aber in der spezifischen Handschrift eines individuellen Autors. Maskiert als Romanfigur, exerziert dieser mit der Abschrift alter Listen ein Ritual des Erinnerns. In mehr als einer Hinsicht nehmen gerade die gedruckten handschriftlichen Züge im Roman einen ›Brückenschlag‹ vor: zwischen Fiktion und Geschichte, zwischen Schattenfroh und Lentz poetologischen Reflexionen und, evidenterweise, zwischen dem Sichtbaren und kommunizierten Bedeutungen.

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Hände im Buch

Handgeschriebenes ist nicht die einzige Art von Spur, die sich in Büchern reproduziert finden kann. Auch Flecken, Knitterfalten, Risse, Gebrauchsspuren, Verschmutzungen und Ähnliches können zum Arrangement gehören. Sie können sogar in dessen Zentrum rücken – wie im Beispiel von John Cages und Lois Longs Mud Book, einer Anleitung zur Herstellung von Matschkuchen, bei der die einzelnen Schritte durch Handabdrücke inszeniert werden.57 Die Hand wird hier zur Protagonistin, einer Protagonistin, die als Bild auftritt – und sie lädt dazu ein, die eigenen Hände in analoger Weise zu benutzen.

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John Cage/Lois Long: Mud Book. How to make pies and cakes, entstanden in den 1950er Jahren (erstpubliziert 1983, neuaufgelegt in New York 2017). Der Schutzumschlag der Ausgabe von 2017 zeigt das weißgebliebene Umrissbild einer Hand, das von braunen Matschspuren umgeben ist, durch sie also erst seine Kontur gewinnt. Im Buch selbst sieht man dann matsch-bräunliche Handformen auf hellem Grund.

Die Hand im Buch

Cages und Longs Mud Book ist eine Hommage an die Hand und ihre Bilder. Die hier gezeigten Bilder der Hand, ihrer Spuren und Produkte erinnern an früheste Spuren menschlicher Bildproduktionskultur, an Handabdrücke und -umrisse von Händen an prähistorischen Fundorten – und damit an Formen der Erzeugung von Bildern der Hand, wie sie bis heute von Kindern praktiziert werden. Als Bilder von Händen verweisen die Motive des Mud Book auf die Hand als kulturstiftende kreative Instanz, als Bilder von Handabdrücken auf Abdruck- und Druckerzeugnisse verschiedener Art, als Bilder von Matschspuren auf die Symbolik der Substanz selbst, also der feuchten Erde, des Lehms, des ersten plastischen Stoffes, ja der Schöpfungsmaterie. Dass Hände durch ihre Matsch-Abdrücke, durch Schmier- und Klecksspuren und durch manuell gefertigte Abbilder von Hand-Arbeiten (hier: Bilder von Matschkuchen und ihrer Herstellung) ihre Spuren in Büchern hinterlassen, erscheint insofern wie ein Brückenschlag zwischen Techniken, die am Anfang aller Kultur stehen (und dabei auf präkulturelle Spuren verweisen) und der Geschichte des Buchs, des Drucks, der Konstitution historischen Bewusstseins, der Verstetigung von Zeitlichem im Medium von Repräsentationen. Sichtbar inszeniert wird ein fundamentaler Akt der Erzeugung kultureller Produkte als Spuren der arbeitenden und Zeichen hinterlassenden Hand; sichtbar wird aber auch, wie die Hand selbst durch ihre Spuren Profil gewinnt. Sinnfällig wird, wie Hand und Zeichen einander wechselseitig ein Gesicht geben, an Wänden, auf Papier und in Büchern, letztlich auch in Gestalt von handgeschriebenen und gedruckten Texten, vermittelt durch neue Arten des Handwerks; sinnfällig wird auch die Idee, Handabdrücke seien die kulturhistorischen Vorläufer der Schrift, auch der Druckschrift, in ihrer Eigenschaft der visuellen Repräsentation menschlicher Arbeit – in ihrer zugleich materiellen und sichtbar bezeigten wie symbolischen, bedeutungsvermittelnden und kommunikativen Dimension.

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Lesen/Sehen/Hören Thomas Kling führt sein Gedicht »effi b.; deutschsprachiges polaroid« auf* Lena Hintze

* Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder innerhalb des Exzellenzclusters Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective – EXC 2020 – Projekt-ID 390608380.   Am 18. März 1989 hat sich im Atelier des Malers Peter Bömmels im Kölner Klapperhof eine illustre Publikumsschar zu einer Veranstaltung versammelt. Der Abend, zumindest ein Teil davon, wird aufgezeichnet, der bildende Künstler Boscher Theodor hält ihn mit zwei Kameras auf Super 8 fest. Das Material, das Theodor selbst viele Jahre für verschollen hielt,1 wird 2015 anlässlich des zehnten Todestages von Thomas Kling, der im Zentrum der Aufzeichnung steht, in Form einer DVD mit Beiheft als – so der Untertitel – »spurensicherung einer lesung/performance« veröffentlicht. Der Auftritt des Dichters setzt in der Aufzeichnung mit einer Nahaufnahme ein. Kling steht vor einer weiß verputzten Wand, lässt mit leicht geöffnetem Mund seinen Blick umherschweifen, spricht die Begrüßungsformel »Guten Abend, meine Damen und Herren«, heftet seine Augen, unterstützt durch eine weisende Handbewegung, auf etwas außerhalb des Bildausschnitts und fügt den eröffnenden Worten nach einer kurzen Sprechpause hinzu: »Effi Briest.«2 Anschließend hält sich Kling, während seine linke Hand hinter seinem Rücken verbleibt, mit der rechten Hand ein einzelnes, gelochtes 1 2

Vgl. Boscher Theodor: ungelöscht, in: ders. (Hg.): kling ungelöscht. spurensicherung einer lesung/performance von thomas kling, Köln 2015, [o.P.]. Boscher Theodor (Hg.): kling ungelöscht. spurensicherung einer lesung/performance von thomas kling, Köln 2015, 00:19-00:25.

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Lena Hintze

Blatt Papier vor die Brust und hebt zum längeren Sprechen an. Als er den Titel seines Gedichts, »effi b.; deutschsprachiges polaroid«, nennt, zoomt die Kamera zu einer Ganzkörperansicht heraus, dann liest Kling das Gedicht vom mitgebrachten Zettel ab. Es handelt sich um die »Uraufführung«3 des Textes, so Gabriele Wix. Sie wählt dieses Wort, das für den Vortrag eines einzelnen Gedichts eher ungewöhnlich ist, sicher nicht ohne Grund. Einerseits ist es der einzige unveröffentlichte Text, den Kling an diesem Abend zu Gehör bringt. Dieser wird durch eine kurze Pause von acht weiteren Gedichten abgegrenzt, die Kling direkt aus seiner zweiten offiziellen, kurz zuvor veröffentlichten Buchpublikation4 geschmacksverstärker vorliest, einem blauen Band der Reihe edition suhrkamp.5 Andererseits ist der Auftritt auch keine genretypische Lesung wie in einem der in den 1980er Jahren in Deutschland entstandenen Literaturhäuser, bei der das Publikum auf eine Bühne blickt, auf der der Lesende mit einem Glas Wasser an einem Tisch sitzt. Kling, der sich zu dieser Zeit durch eine »wilde Lesungs- und Aufführungspraxis«6 in unterschiedlichen Kunstkontexten hervorgetan hat, steht, und zwar in einem Atelier, das ein entsprechendes Publikum aus dem Umfeld der bildenden Kunst aufbietet.7 Die bildende 3

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Gabriele Wix: Nachwort, in: Thomas Kling: Werke in vier Bänden, hg. v. Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Bd. 1: Gedichte 1977-1991, Berlin 2020, S. 463-487, hier S. 482. Sein erster, 1977 erschienener, Gedichtband der zustand vor dem untergang wird zum Werk offiziell nicht mitgezählt. Kling hatte die Restauflage eigenhändig zerschnitten und zu einem ›Büchergulasch‹ verarbeitet, wie der Autor es selbst nannte. Dieses Büchergulasch des Erstlingswerks wurde auf der Gegenbuchmesse 1979 in Frankfurt a.M. verkauft und erfuhr erst darüber eine Erwähnung in der Presse, vgl. Marcel Beyer: Nachwort, in: Thomas Kling: Werke in vier Bänden, hg. v. Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Bd. 3: Gedichte 2000-2005, Gedichte aus dem Nachlass, Berlin 2020, S. 741-760, hier S. 756f. In die 2020 erschienene vierbändige Werkausgabe bei Suhrkamp sind die Gedichte des Erstlingswerks mit aufgenommen. Der zweite Teil von Klings Auftritt findet um der Zentrierung auf das Gedicht »effi b:, deutschsprachiges polaroid« willen in diesen Ausführungen keine besondere Berücksichtigung. Wix: Nachwort (Anm. 3), S. 481. Gabriele Wix hat in der Aufzeichnung viele zeitgenössische Künstlerpersönlichkeiten im Publikum erkannt, darunter etwa Gerd Bonfert, Leiko Ikemura, Udo Kittelmann und Gerhard Naschberger, vgl. Gabriele Wix: Effi Briest: Kein Dienst nach Vorschrift. Eine ›Lesung/Performance‹ Thomas Klings im Künstleratelier aus dem Jahr 1989 ist jetzt auf DVD erschienen, in: https://literaturkritik.de/id/21635.

Lesen/Sehen/Hören

Kunst, das ist noch viel wichtiger, ist auch Teil der ›Uraufführung‹ des Gedichts. Das, worauf Kling nach seiner Begrüßung der Anwesenden mit den titelgebenden Worten »Effi Briest« weist und was sich zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb des Kameraauges befindet, später aber durch einen Schwenk eingeblendet wird, ist eine Skulptur des Künstlers Martin Gostner: Ein hüfthoher, mit gelber Wäscheleine umwickelter Kühlschrank, der mitten im Raum auf PVC-Fliesen steht. Genau diese Skulptur ist, wenn man den Erinnerungen Gostners glauben darf, Ausgangspunkt für das von Kling an diesem Abend vorgetragene Gedicht und so auch der Anlass für den Auftritt Klings im Atelier, in unmittelbarer Nähe zur Skulptur: Ruth Leuwerik, ihr Korsett als Effi, ihr wunderbar gespieltes langsames Erfrieren, aber auch Frank Zappas Textzeile She’s just like a penguin in bondage, boy… führten mich auf die Spur. Als der gefesselte Kühlschrank dann fertig auf seinem Spießer-Boden stand, erforschte Thomas seinen Fontane und fand die entscheidende Rückkopplung –/Woran scheitert man denn im Leben überhaupt? Immer nur an der Wärme –/über welche er dann sein erstaunliches Gedicht legte.8 Für diesen »produktionsästhetischen Zusammenhang«9 von Text und bildender Kunst spricht auch, dass der Katalog zur Ausstellung Martin Gostners im Kölnischen Kunstverein 1998 unter das Foto der Skulptur »Effi Briest« ein Typoskript von Klings Gedicht abbildet.10 Theodors Aufzeichnung der Aufführung dieses Gedichts stellt einen Glücksfall dar. In der Forschung ist hinlänglich betont worden, wie eindrücklich Klings Auftritte waren und welchen besonderen Stellenwert der laute und öffentliche Vortrag von Texten in seinem Werk einnahm – nicht zuletzt, weil der Dichter selbst in seinen Essay-Publikationen dieses Thema immer wieder umkreiste.11 Gleichzeitig aber ist die Quellenlage, auf die sich die Analysen seiner Auftritte stützen können, recht prekär. Zwar gibt 8 9

10 11

Martin Gostner: Effi, in: Theodor Boscher (Hg.): kling ungelöscht. spurensicherung einer lesung/performance von thomas kling, Köln 2015, [o.P.]. Christoph Jürgensen: Der Autor als Live-Act. Überlegungen zu Thomas Klings performativer Praxis am Beispiel von kling ungelöscht, in: Frieder von Ammon/Rüdiger Zymner (Hg.): Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen, Paderborn 2019, S. 303-321, hier S. 318. Vgl. Marcia Wallace (Hg.): Martin Gostner, Turin 1998, S. 44. Vgl. beispielhaft Hermann Korte: Thomas Kling, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 3 2009, S. 161-164 sowie Reinhart Meyer-

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Lena Hintze

es zahlreiche Audioaufnahmen, die entweder im Studio eingesprochen oder bei Live-Darbietungen mitgeschnitten wurden,12 sowie Fotos, die Klings Weisen des Auftretens belegen.13 Audiovisuelle Zeugnisse aber sind rar; die Aufnahme des Kölner Abends in Bild und Ton ist eines der wenigen zirkulierenden Videos. Eben diese Aufzeichnung soll im Folgenden die Grundlage für Überlegungen zur formästhetischen Dimension von Literatur bilden,14 wofür das diesem Sammelband den Titel gebende Begriffspaar Lesen/Sehen, das im Sinne von Paul Valérys Aufsatz »Die beiden Tugenden eines Buches« differente Rezeptionsweisen eines Textes bzw. Buches bezeichnet, durch eine dritte Möglichkeit der Rezeption, das Hören, ergänzt wird. Lesen und Sehen haben hier jeweils, so die Annahme, zwei Bedeutungsebenen, von denen eine durch das Hören aktualisiert wird. Einerseits geht es um das Lesen, wie Valéry es verstanden wissen will, als eine Bewegung, die »eine Zeile entlang von Wort zu Wort weiterleitet, […] und derart fortschreitend eine Folge geistiger Verhaltensweisen auslöst, die alle darauf hinauslaufen, die sinnlich wahrgenommenen Zeichen jeweils aufzuheben zugunsten von Gedächtnis-

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Kalkus: Thomas Kling. Der Dichter als Live-Act, in: ders.: Geschichte der literarischen Vortragskunst, Stuttgart 2020, S. 1000-1015. Den Gedichtbänden Fernhandel (1999) und Sondagen (2002) ist jeweils eine CD beigegeben (bei Sondagen ist es der Mitschnitt einer Lesung vom Deutschlandfunk). Ebenfalls zu Klings zehntem Todestag stellten Ulrike Janssen und Norbert Wehr das Hörbuch Die gebrannte Performance (2015) zusammen, das aus Audio-Aufzeichnungen von LiveLesungen sowie Interviews besteht. Verstreut finden sich außerdem Gedichtsprechungen und Lesungsmitschnitte auf den Websites lyrikline.org und dichterlesen.net. Vgl. etwa das Foto Klings vor einer Gedenktafel Oswald von Wolkensteins, das sich im Essayband Itinerar findet (Thomas Kling: Itinerar, Frankfurt a.M. 1997, S. 61) und das Frieder von Ammon als visuelle imitatio kennzeichnet, mit der Kling »sich selbst in der Nachfolge des spätmittelalterlichen Südtiroler Lyrikers sah« (Frieder von Ammon: Nachwort, in: Thomas Kling: Werke in vier Bänden, hg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Bd. 4: Essays 19742005, Berlin 2020, S. 861-880, hier S. 869). Sehr anschauliche Belege für die visuelle Inszenierung und die Auftritte Klings liefern auch die Fotos im posthum erschienenen Schreibheft mit Material aus dem Nachlass, vgl. Thomas Kling: Das brennende Archiv, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 76 (2011), S. 17 sowie S. 60-67. Vgl. dafür Torsten Hahn: Die skulpturale Form der Literatur. Das Buch als ästhetisches Artefakt mit paradoxer Tiefe (Übersetzungsketten), in: ders./Nicolas Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 337-356.

Lesen/Sehen/Hören

inhalten und deren Kombinationen.«15 Ebenso sehr wie um das Lesen als Bedeutungserfassung eines Buchinhalts, oder in diesem Fall: des Textes »effi b.; deutschsprachiges polaroid«, geht es andererseits aber auch um das Lesen als das laute Gelesenwerden desselben Gedichts durch den Autor am 18. März 1989 im Klapperhof in Köln, so wie es die Aufzeichnung Theodors wiedergibt. Gleichermaßen befassen sich die folgenden Betrachtungen mit dem Sehen, wie wiederum Valéry es beschreibt, als dem »Totaleindruck«, als »ein Ganzes oder ein Gefüge von größeren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen«16 , das die Textseite als Bild dem Auge bietet. Der Aspekt der Schriftbildlichkeit17 des Textes wird bei dem hier gewählten Beispiel durch die Wahrnehmung der Aufzeichnung von Klings Lesung vervollständigt, in der die visuelle Komponente auch in Form der Skulptur von Gostner eine wichtige Rolle spielt. Lesen und Sehen unterliegen in ihrer Bestimmung so einer ›Doppelbelichtung‹ – Kling wählt diesen Begriff, als er nach der Beziehung zwischen dem Akustischen und dem Visuellen in seinen Texten gefragt wird: Die Begriffe der Doppelbelichtung und das, was sich alles fachsprachlich den neueren modernen visuellen Medien verdankt – von der Daguerreotypie angefangen bis zum Film mit seinen Schnitten, Video usw. –, sind mir insofern wichtig, als das, was ich in den 80er Jahren als Sprachpolaroids bezeichnet habe, über die Augenblicksaufnahmen eines Brinkmanns hinausgeht. Es geht mir nicht um eine Aneinanderreihung, also das, was der Fotodokumentarist eine Strecke nennen würde, sondern tatsächlich um diese Doppelbelichtungen, also tief in die Sprach- und Wortgeschichte, in die Kulturgeschichte hinein.18 Doppelbelichtung meint, der fototechnischen Bedeutung nach, die Zusammenführung von mehreren Realitätsebenen in einem Bild, hier: in einem Begriff – von inhaltlicher Lektüre und lautem Vortrag im Terminus des Lesens,

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Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467471, hier S. 467. Ebd., S. 468. Vgl. dazu Sybille Krämer: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: dies./Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 157-176. Thomas Kling: Botenstoffe, Köln 2001, S. 216.

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vom Objekt Buchseite und dem Objekt der Skulptur im Ausdruck des Sehens – sowie das Phänomen, was die Oberfläche eines Bildes oder Textes unmittelbar mit Tiefe auszustatten vermag. Die Komponente des Hörens, charakterisiert durch die Verschiebung des gedruckten Textes in ein weiteres Medium – das des Mitschnitts des Live-Auftritts als DVD – lässt die einzelnen ›Belichtungen‹ von Lesen und Sehen ineinander verschwimmen. Die Form der audiovisuellen Aufzeichnung geht damit zwar über die Buchform des Textes hinaus, untermauert diese, wie aufgefächert werden soll, jedoch wesentlich. Oder, wie K. Ludwig Pfeiffer es in Bezug auf das Verhältnis von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Reoralisierung fasst: »Die jeweils neuen Medien fegen die älteren nicht hinweg, sondern verstärken oft kompensatorisch die in ihnen verbliebenen Potentiale.«19 Das, was der Auftritt Klings zeigt, ist längst in der Druckform des Textes angelegt, doch erst die Aufzeichnung der Aufführung ermöglicht die zusammenführende Analyse. Das Gedicht »effi b.; deutschsprachiges polaroid« wird 1991 im Band brennstabm im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Beim Auftritt im Kölner Klapperhof hält Kling zwar ein Typoskript in der Hand, durch das auch handschriftliche Notizen schimmern,20 rein vom Wortlaut her entspricht das Vorgelesene 1989 jedoch dem, wie das Gedicht zwei Jahre später in der Buchveröffentlichung wiedergegeben ist.21 Hier wird deshalb davon ausgegangen, dass die Form des Textes bereits bei dessen ›Uraufführung‹ feststand. In der gedruckten Fassung von 1991 liest sich das Gedicht wie folgt:22 19

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K. Ludwig Pfeiffer: Dimensionen der ›Literatur‹. Ein spekulativer Versuch, in: Hans Ulrich Gumbrecht/ders. (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 730-762, hier S. 737. Vgl. Theodor: kling ungelöscht (Anm. 2), 00:56-01:05 sowie 01:10-01:21. Die Werkausgabe weist als Entstehungsdatum für das Gedicht den 20.2.1989 nach, vgl. das Inhaltsverzeichnis von Thomas Kling: Werke in vier Bänden, hg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Bd. 1: Gedichte 1977-1991, Berlin 2020, [o.P.]. Thomas Kling: brennstabm, Frankfurt a.M. 1991, S. 165f. Wenn es sich bei dem im Ausstellungskatalog von Martin Gostner abgebildeten Typoskript des Gedichts (Anm. 10) auch nicht um das Blatt handeln mag, das Kling am 18. März 1989 in der Hand hielt (leider fehlen im Katalog jegliche Quellenangaben dazu), so ist dies doch immerhin eine Vorstufe zur Drucklegung von brennstabm, die ebenfalls zeigt, dass es im Druckbild nur wenige Abweichungen zur späteren Buchveröffentlichung gibt. Handschriftlich sind in diesem offensichtlich maschinengeschriebenen Typoskript Änderungen eingefügt, die für die Buchveröffentlichung übernommen wurden (Tilgung von zwei Getrenntstrichen sowie Positionierung des Worts »BLAUSTICHIG«), ansonsten weicht

Lesen/Sehen/Hören

effi b.; deutschsprachiges polaroid     1               endlostelefonate & lehm; woran schei (»wo?, woran bitte?«)                                                                                          di mo mente di aufnahmen, di pralleren albn: o vale photographien, apgefrühstükktn myrthn; begrenzungn, uneingesehene zungn (»nie gelernt«), gestopfter spül/be-för-derunk      na klar, im an sazz verschwindet das, ist schon verschwundn herztattoo urlaupsmunition AUSZEHRUN’ wg. SCHRANKWANT, SCHLAFZIMMERHUND NEUM TEPPICHBODN (hier fastzitat: »sehnsi di fototapete, breitwantschuldn      sehn sie sich das an ..«); WORAN SCHEITERT MANDN     2 effi bekompt von ihrn mann      I spülmaschine, elektr. dosnöffner, bodystockings (= ›neumieder‹) und worte; e. als (wider)wortmaschine, dida sagt sehnsuchtsehnsucht zu sich; effi macht sich zum abreißkalender, dabei füllt sichs familienalbum (…) JETZT, BLAUSTICHIG, UNFOTOGRAFIERT:                                                                                  »di mir gleich so sonderbar aussahn weilsi strip pe hattn und drei- o der 4mal umwikkelt u. dann eingeknotet und keine schlei fe di sahn ja schon ganz gelb aus«        

nur noch die Gestalt der doppelten und einfachen Anführungszeichen vom Druckbild der Buchfassung ab, was sicherlich den begrenzten Möglichkeiten der Schreibmaschine zuzuschreiben ist (dort stehen nur Zoll- oder Apostrophzeichen zur Verfügung, in der Buchveröffentlichung werden Guillemets genutzt).

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3 tablettnaugn, dazwischn grillabende o.ä. (zäheste dias), das schnurrt nur so runter GEBUZTAGE, FILMRISSE, auch etwas das sich häuft      ER (zu nem freund): WORAN SCHEITERT MAN DENN IM LEHM FRAGEZEICHEN ÜBERHAUPT IMMER NUR AN DER WÄRME Schon der Titel des Gedichts buchstabiert die drei Rezeptionsweisen Lesen, Sehen und Hören aus: Zunächst fällt der offensichtliche Bezug zu Fontanes Gesellschaftsroman Effi Briest auf, wobei der Nachname der auch Fontanes Buch den Titel gebenden Protagonistin aufgrund ihrer Bekanntheit nicht mehr ausbuchstabiert werden muss (Lesen). Das ebenfalls im Gedichttitel stehende ›polaroid‹ vermag das Sittengemälde, das als Charakteristik für Fontanes Roman gelten kann, ein knappes Jahrhundert Technikgeschichte später in ein Sofortbild zu verwandeln, was als erster Fingerzeig auf das Gewicht dient, das dem Visuellen in Klings Gedicht zukommt (Sehen).23 Schließlich lässt auch das zum ›polaroid‹ gehörige Beiwort ›deutschsprachig‹ aufmerken, ist doch nicht von einem ›deutschen‹, sondern explizit von einem ›deutschsprachigen polaroid‹ die Rede (Hören). Rollen wir das Gedicht von dort aus auf. Bei der Sprache scheint es Kling vor allem um das Ausgesprochenwerden zu gehen. Wiederholt tilgt er bei Nomen, Adjektiven und Verben das bei der Aussprache stumme e am Wortende auch in der Schrift (›albn‹, ›zungn‹, ›verschwundn‹, ›NEUM‹, ›hattn‹, ›tablettnaugn‹ usw.), verkürzt Vokale (›di‹), zieht

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Es ist nicht das einzige Gedicht, was Kling mit diesem Ausdruck im Titel versieht, im Band brennstabm finden sich noch zwei weitere Texte, die das Polaroid im Titel tragen (»siegfriedlinie. letales polaroid 1« und »siegfriedlinie. letales polaroid 2«). Die Werkausgabe weist darüber hinaus ein verstreut erschienenes Gedicht mit dem Titel »konterfei. polaroid« aus dem Arbeitszeitraum des Bandes geschmacksverstärker (1989) nach, der auf die Jahre 1985 bis 1988 datiert wird und somit zeitlich nah an Klings Auftritt im Kölner Klapperhof liegt, vgl. Thomas Kling: konterfei. polaroid, in: ders.: Werke in vier Bänden, hg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Bd. 3: Gedichte 2000-2005, Gedichte aus dem Nachlass, Berlin 2020, S. 494. Überhaupt spielt die bildende Kunst in Klings Wirken eine wichtige Rolle, vgl. dazu beispielsweise die Aufsätze von Mirjam Springer: Ekphrasis reloaded, in: Frieder von Ammon/Rüdiger Zymner (Hg.): Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen, Paderborn 2019, S. 141-165 oder Hans Jürgen Balmes: Bildberührung, Augeneinschreibung. Die Kollaborationen von Ute Langanky und Thomas Kling, in: Neue Rundschau (2017), H.1, S. 185-202.

Lesen/Sehen/Hören

mehrere Wörter zu einem zusammen (›sehnsi‹, ›MANDN‹, ›dida‹, ›sichs‹), zeigt die Stimmlosigkeit von stimmhaften Konsonanten im Wortauslaut oder vor anderen Konsonanten durch ihre direkte Umschrift in die stimmlose Variante an (›apgefrühstükktn‹, ›be-för-derunk‹, ›urlaupsmunition‹, ›SCHRANKWANT‹). Aus dem auch für den inhaltlichen Bezug zu Gostners Skulptur entscheidenden Wort ›Leben‹ – es wird darauf zurückzukommen sein – schafft die sich an der Aussprache des Worts orientierende Schreibung gar das Homophon ›LEHM‹ – ein Baustoff, der Wärme speichert, während es in der Wendung, in der das Wort im Gedicht gebraucht wird, um das Scheitern an der Wärme geht. Kling nimmt in der Schriftsprache gewissermaßen das Gesprochene vorweg, der Klang der Wörter wird bereits im Geschriebenen verdeutlicht und dann, zumindest beim hier gewählten Beispiel, im lauten Vortrag durch den Autor wieder aktualisiert. Seit Mitte der 1980er Jahre hat Kling den Gedichtvortrag mit dem von ihm erfundenen Neologismus der ›Sprachinstallation‹ bezeichnet, vor allem auch um sich von dem für ihn abgenutzten Begriff der ›Performance‹ abzugrenzen,24 obwohl genau dieses Label seine Auftritte vielleicht am besten beschreiben könnte, wie auch der Untertitel der hier vorgestellten DVD zeigt. »Bittebitte keine Mätzchen (Performance) mehr!«, heißt einer von »vier Wünsche[n] für den professionellen Vortrag eines Gedichts«25 , die Kling formuliert. Die Sprachinstallation indes will »Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten«26 . Dieses Aufeinandereinwirken von Sprache als Schrift und Sprache als Stimme lässt sich am lauten Gedichtvortrag nachweisen, bei dem der schriftlich niedergelegte Text mitunter als Partitur für die Verlautlichung fungiert, wie Kling ausführt: als theil dichterischer arbeit ist der mündliche vortrag schriftlich fixierter texte vor einer zuhörerschaft zu begreifen, die möglichst durch den verfasser selbst geschehen soll. […]: seine ganze konzentration gilt einzig dem auswendig-gesprochenen bzw. abzulesenden text – der ist nun seine partitur.

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Vgl. Kling: Itinerar (Anm. 13), S. 11 zur Performance: »[E]in Begriff, der in die 70er gehört und für mich Anfang der 80er, als ich aufzutreten, zu lesen begann, schon nicht mehr verwendbar war. Performance: das war völlig ausgefranst, vollkommen vernutzt […].« (Hervorhebung im Original). Kling: Botenstoffe (Anm. 18), S. 143. Kling: Itinerar (Anm. 13), S. 59.

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der dichter »erhebt seine stimme«, bringt die in seinen texten installierten klimata ERNEUT zur sprache […] …27 Bei den Auftritten Klings ist dieses Text-als-Partitur-Lesen an der Modulation seiner Stimme auszumachen, an unterschiedlichen Tonhöhen und Klangfärbungen, an der Variation von Lautstärke und Geschwindigkeit, mit der er spricht; manchmal scheint es, er nehme verschiedene Rollen an und agiere diese durch die Modifikationen aus. Auch in der Aufzeichnung von »effi b.; deutschsprachiges polaroid« sind diese Sprechweisen präsent: Recht monotones und unaufgeregt wirkendes Sprechen wird durch eindringlich geflüsterte und fast geschriene Passagen durchbrochen, einige Abschnitte verlangsamt Kling bewusst, andere treibt er erkennbar voran, Einzelsilben, die durch Enjambements (manchmal auch grammatisch nicht korrekt) getrennt sind, spricht er überdeutlich. Oft korrelieren diese Veränderungen der Stimme mit den wechselnden typografischen Möglichkeiten, denen sich der Text in seiner Druckfassung bedient.28 Spätestens hier wird deutlich, dass die ›Sprach-Räume‹, die Kling mit der Stimme gestaltet wissen will, sich bei weitem nicht nur auf die Verräumlichung der Sprache durch die Stimme beim öffentlichen Vortrag eines Textes beziehen, sondern auf den Raum der Buchseite, den Kling mit seiner Art des Schriftgebrauchs modelliert. Das unterstreicht der zweite Teil seiner ›Definition‹ der Sprachinstallation, die der Schrift eine Stimme zuweist. Abzulesen ist die Bedeutung der Schrift zudem an Klings Aussage, dass der Dichter im Vortrag die ›in seinen texten installierten klimata ERNEUT zur sprache bringt‹. Auch hier ist die Akzentuierung des Partikels ›ERNEUT‹ sicher nicht willkürlich erfolgt, hebt er doch die Bedeutung des geschriebenen Wortes vor dessen Sprechung hervor und darauf ab, dass es eine »Sprachinstallation vor der Sprachinstallation«29 gibt. So kommt, wie Lisa Müller es zusammenfasst,

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Thomas Kling: der dichter als live-act. drei sätze zur sprachinstallation, in: Proë, Berlin: Galrev 1992 [recte: 1991], [o.P.] (Hervorhebungen im Original). Vgl. Peer Trilcke: Klings Zeilen. Philologische Beobachtungen, in: Frieder von Ammon/Peer Trilcke/Alena Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings, Göttingen 2012, S. 293-325, hier S. 300, Fn. 27. Kling: Itinerar (Anm. 13), S. 20 (Hervorhebung im Original).

Lesen/Sehen/Hören

»wer ein close reading von Klings Gedichten anstrebt, […] um ein close looking nicht herum.«30 Die Einrichtung der Schrift ist bei Kling so plastisch gedacht, wie der Begriff der Installation vermuten lässt, davon zeugt nicht zuletzt das Kaleidoskop an (Satz-)Zeichen und Auszeichnungsmöglichkeiten, derer sich der Gedichttext »effi b.; deutschsprachiges polaroid« bedient. Kling scheint diesbezüglich nahezu alle Register zu ziehen: Es finden sich doppelte und einfache Anführungszeichen, Klammern, Kursivdruck und Großbuchstaben, Doppelpunkte, Semikola, Auslassungspunkte, Abkürzungen, Fragezeichen, Gleichheitszeichen, Ziffern, Schräg- und Trennungsstriche auch mitten im Vers sowie mehrfache Spatien zwischen einzelnen Wörtern und größere Leerräume durch die Einrückung von Versanfängen. Die so auf vielfältige Weisen hervorgehobene und abweichende Schrift, gepaart mit Klings eigenwilliger Schreibung von Wörtern, stört den Lesefluss: Die Aufmerksamkeit wird ganz auf den Text als das Sichtbare gelenkt, ohne dabei visuelle Poesie im eigentlichen Sinne zu sein. In den Worten Niklas Luhmanns: »[S]ie [die Textkunst, im Gegensatz zu normaler Textgestaltung, LH] strebt nicht nach möglichst automatischer Wiederholung eines bekanntes Zeichensinnes, sondern sucht […] Automatismen zu unterbrechen und das Verstehen eines Textes als Kunstwerk zu verzögern.«31 Damit suche die Kunst »ein anderes, nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert.«32 Die Auffälligkeiten an der Textoberfläche mögen an manchen Stellen bestimmten Intentionen folgen, etwa wenn durch doppelte Anführungszeichen different gemachte Textstellen Fremdzitate darstellen. Allerdings nutzt Kling für Zitate aus

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Lisa Müller: Schriftpoesie. Eigenbedeutung lyrischer Schriftlichkeit am Beispiel Thomas Klings, Paderborn 2021, S. 97 (Hervorhebung im Original). Müllers Arbeit ist die erste umfassende Monographie zur Überstrukturiertheit der Schrifttexte Klings. Ausführungen zu Klings Praxis der Schriftbildnerei finden sich daneben auch bei Trilcke, Klings Zeilen (Anm. 28). Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 46. Luhmann stellt auch infrage, ob man diese Art der Textrezeption überhaupt noch als Lesen bezeichnen kann: »Man mag sich fragen, ob der Begriff ›Lesen‹ dann noch sinnvoll ist, aber üblicherweise wird er auch dafür verwandt. Jedenfalls wird das abgeschliffene, rasche, sorglose Lesen blockiert; oder anderenfalls liest man den Text nicht als Kunstwerk« (ebd., S. 27, Fn. 21). Ebd., S. 42 (Hervorhebung im Original).

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anderen Texten auch die Großschreibung und durchbricht damit ein zunächst erkannt geglaubtes Schema sogleich wieder. Und doch setzen die mannigfaltigen Auszeichnungen des sprachlichen Materials »unterschiedliche Äußerungsebenen« in die Form des Gedichts ein, die diesem »eine graphische Äußerungsstruktur bei[geben], die über den Wortlaut hinaus kommuniziert, expliziert und veranschaulicht.«33 Die Stimme der Schrift spricht in vielen Zungen. Lisa Müller liest diese Vielstimmigkeit in der Textkunst Klings im Gefolge der literarischen Moderne als Reaktion auf die parallele Entwicklung des medientechnischen Fortschritts und den sich damit verändernden Wahrnehmungsbedingungen, welchen u.a. Arbeiten von Stéphane Mallarmé, Stefan George, Arno Holz, Kurt Schwitters und Filippo Marinetti ein Streben nach Medien- und Materialgerechtigkeit entgegengesetzt haben, »das sich zu gleichen Teilen in exzentrischer Laut- wie Schriftgestaltung manifestiert.«34 Auch Kling ist sich der Medienkonkurrenz bewusst, der die Schrift, aber vor allem auch das Wort ausgesetzt ist, wenn er in einem kurzen Essay über das Primat von »Geschau« oder »Gelausch« sinnt: Welcher Sinn mag den Vorrang haben […]? Die Antwort geben Paläoanthropologen. Sie wissen, wie auch die fitteren aus der Archäologie, daß das Auge das entwicklungsgeschichtlich bei weitem ältere Wahrnehmungsorgan ist, viel älter als das Gehör: aus Gründen des Fern- und des Weitblicks, versteht sich. […] Video killed the Radiostar!35 Sein Versuch einer Antwort darauf mag die ›bewegte Schrift‹36 sein, die bei ihm in Anlehnung an den Götterboten Hermes auch ›hermetisch‹ heißt – die Bedeutung des Unzulänglichen und Undurchdringlichen, die in diesem Adjektiv mitschwingt, mag von Kling nicht mitgemeint sein, trifft in der Beobachtung seiner Gedichttexte von außen zuweilen allerdings trotzdem zu. Für Kling sind die »Kommunikations- und Schriftgötter«, unter ihnen Thot, Merkur und eben Hermes, »Platzhalter des Bewegens« und so immer mit Beweglichkeit verknüpft, mit einer Tätigkeit, denn Bewegen bedeute, »etwas aus dem Ruhezustand bringen, um es in Bewegung zu setzen […]. Im Althochdeutschen

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Müller: Schriftpoesie (Anm. 30), S. 232. Ebd., S. 263. Vgl. zur literarischen Moderne auch das Kapitel 2 in Müllers Arbeit. Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten, Köln 2005, S. 125f. Vgl. zu diesem Konzept Peer Trilcke: Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings, Göttingen 2012, Kapitel V.3.

Lesen/Sehen/Hören

ist auch ›schütteln‹ mitgemeint. Das Schütteln des Körpers, das Schütteln von Körpern.«37 Dementsprechend aufgerüttelt und aus seinem Ruhezustand gelöst ist der Körper der Schrift, wenn er, wie bei Kling, die unterschiedlichsten Ausformungen annimmt. Dem »Sichtbare[n] der Gedichtschrift«38 fügt das Gedicht »effi b.; deutschsprachiges polaroid« zu allem Überfluss noch den geradezu als Aufforderung zu lesenden Satz hinzu: ›sehn sie sich das an.‹ Viel zu sehen gibt es ferner in der Aufnahme von Theodor: Klings Kleidung spielt bei seinen Auftritten eine nicht unwesentliche Rolle, wie etwa die akribischen Planungen verraten, die eines der Nachwörter der jüngst erschienenen Werkausgabe zutage fördert. Zu einer Lesung von 1985 in Wien notiert Kling: »OUTFIT: 1. Text: Sonnenbrille + 2 Jacken (mit je 1 button)/ S-Brille ab/ Nach 3. Text: fischgrät aus;/ bis kurz vor ENDE: outfit:/501; stiefel; lederjacke + button,/darunter d. WESPENPULLOVER/ ENDE: oberteil: nur WESPE!«39 Bereits Klings Initiation in die Bühnenwelt, zu der er vom österreichischen Lyriker Joe Berger bei einer Wien-Reise spontan aufgefordert wird, hatte mit einem Kleidungsstück zu tun, daran erinnert sich der Autor in seinem Essayband Itinerar: Wir betraten dann die Bühne, altes Wiener Gruppen-Konzept […], als beträten wir ein Kaffeehaus, behandelten die Zuschauer im überfüllten Saal als Gegenstand, ich querte die voll ausgeleuchtete Bühne, legte einen sehr langen und weiten Weg zurück, hängte meine Jacke an einem imaginären Garderobenhaken auf, die knallte hübsch auf die Bretter, […], die Leute waren schier begeistert, jetzt schon – dann las ich vom Standmikro aus.40 Bei seinem Auftritt im Kölner Klapperhof hängt Klings Jacke weder an einem Haken noch liegt sie am Boden. Kling hat sie an, was womöglich ein Zeichen für die überkommenen ›Mätzchen‹ ist, die Kling zugunsten der Professionalität des Gedichtvortrags verabschieden will. Über einem dunklen Pullover mit Rollkragen trägt er einen hellen Trenchcoat, seine enganliegende Hose ist in

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Kling: Botenstoffe (Anm. 18), S. 131 (Hervorhebungen im Original). Vgl. zur Medienpoetik Klings auch Matthias Bickenbach: Dichterlesung im medientechnischen Zeitalter. Thomas Klings intermediale Poetik der Sprachinstallation, in: Harun Maye/Cornelius Reiber/Nikolaus Wegmann (Hg.): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons, Konstanz 2007, S. 191-215. Müller: Schriftpoesie (Anm. 30), S. 249. Wix: Nachwort (Anm. 3), S. 482. Kling: Itinerar (Anm. 13), S. 13.

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die Stiefel gesteckt (Abb. 1). Christoph Jürgensen erkennt darin einen bewussten Umgang mit dem »Zeichensystem ›Mode‹«; Klings Kleidung vermittle einen »paramilitärischen Eindruck seines Habitus«, der sich, verstärkt durch den Auftritt in einem »von allen Insignien einer bürgerlichen literarischen Öffentlichkeit entleerten Raum« in einem »Angriffsmodus gegen das Establishment« befinde.41 Der Einsatz dieses zusätzlichen Zeichensystems ist so auch Ausdruck der Selbstinstallation der Dichterpersönlichkeit, die für Kling »die Installation des Dichters – sein Rollen-Bewußtsein«42 heißt, und die der Werkpolitik43 zuspielt, die Kling umfassend u.a. in seinen Essays, betreibt. In einer Rezension zum Erscheinen der DVD setzt Tobias Lehmkuhl Klings Auftreten in inhaltliche Beziehung zu dem von ihm vorgetragenen Gedicht: Fontanes Protagonistin, die nicht in der ihr zugewiesenen Welt funktionieren will, sei die Heldin für den jungen Dichter, »dem die klassische Dichterrolle ebenso ein Graus ist wie Effi das Hausfrauenleben.«44 Im Gedichttext selbst finden sich weitere inhaltliche – der Lektüre des Fontane’schen Romans verpflichtete – Bezüge zu Effi Briest, und zwar sowohl als Umschreibung des Romangeschehens als auch in Form von Zitaten aus dem Gesamttext. Dazu hebt das Gedicht schon in der zweiten Zeile mit der noch nicht ausformulierten Frage ›woran schei‹ an, die in der letzten Zeile des ersten Teils noch einmal anders, doch immer noch nicht vollständig gestellt wird: ›WORAN SCHEITERT MANDN‹. Auflösung bieten mit einem dritten Anlauf zur Phrase erst die allerletzten Zeilen des gesamten Gedichts, die ein, wenn auch in Klings eigene Schreibung überführtes, wörtliches Zitat aus Fontanes Effi Briest darstellen, und über die Kling’sche Schreibweise auch zum Anfang des Gedichts zurückführen, an dem das Wort ›lehm‹ zum ersten

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Jürgensen: Live-Act (Anm. 9), S. 315. Für diesen Angriffsmodus mag auch ein Moment im zweiten Teil des Abends im Kölner Klapperhof sprechen, als Kling in Reaktion auf kommentierende Worte aus dem Publikum während seines Vortrags des Gedichts »pathologischer boom«, die ihn etwas außer Konzentration zu bringen scheinen, den Satz »Klaus, halt’s Maul!« in den Gedichttext einbaut, was mit Gelächter und schließlich wieder einkehrender aufmerksamer Stille beantwortet wird, vgl. Theodor: kling ungelöscht (Anm. 2), 09:28-09:56. Kling: Botenstoffe (Anm. 18), S. 82. Vgl. dazu Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2007. Tobias Lehmkuhl: Dichters Performance. Wortmaschine, in: Süddeutsche Zeitung vom 06. Januar 2016, https://www.sueddeutsche.de/kultur/dichters-performance-wortmasc hine-1.2806834.

Lesen/Sehen/Hören

Mal und herausgelöst aus dem Kontext der Frage auftaucht. Im Originaltext werden die Worte von einem »alten Berliner Herren« gesprochen, der sich mit einem anderen, unbenannt bleibenden »Würdenträger« unterhält und die Redekünste des Pfarrers Niemeyer bei der Hochzeit von Effi und Innstetten lobt: »[J]a, Freund, sagen Sie selbst, hat er nicht gesprochen wie ein Hofprediger. Dieser Takt und diese Kunst der Antithese, ganz wie Kögel, und an Gefühl ihm noch über. Kögel ist zu kalt. Freilich, ein Mann in seiner Stellung muß kalt sein. Woran scheitert man denn im Leben überhaupt? Immer nur an der Wärme.«45 Dass die Rede des Dorfpastors Niemeyer Inhalt einer Unterhaltung ist, kommt für Fontanes Romane nicht von ungefähr, denn Sprechweisen gehören dezidiert zur Anlage seiner Figuren. Bei ihm beherrscht »der redende Mensch, sein Plaudern, der realistische, lebensnahe Dialog in einer Weise den Roman […], die bei keinem vergleichbaren Autor eine Parallele hatte«46 , wie Katharina Mommsen zusammenfasst. Das Reden, das die unterschiedlichen Figuren bei Fontane charakterisiert, und die variierten Redeweisen in den Gedichtsprechungen Klings richten jeweilig bestimmte Atmosphären – beispielsweise kühle oder warme – ein, oder mit einem Begriff von Kling: Klimata. Damit wird das Konzept der Sprachinstallation ganz nah an die Bedeutung herangerückt, die ihm im »Spenglergewerber«47 zugeschrieben ist. In der Aufführung im Klapperhof in Köln wird darüber auch der Bezug vom Inhalt der übernommenen Textstelle von Fontane via Klings Gedicht zu Gostners Skulptur, dem Kühlschrank, zentral. Es bleibt allerdings nicht bei diesem einen wörtlichen Zitat und es bleibt auch nicht bei nur einem Text-Verweis auf die Skulptur Gostners. Der mit ›2‹ nummerierte, mittlere Teil des Gedichts kann dabei als Kurzzusammenfassung des gesamten Romans verstanden werden: Effi Briest wird durch die Heirat mit Baron von Innstetten zu einer Ehe- und Hausfrau, für das im Gedicht die Utensilien, die sie von ihrem Mann geschenkt bekommt (›1 spülmaschine, elektr. dosnöffner, bodystockings (= ›neumieder‹)), exemplarisch stehen. Von ihrem Gatten vernachlässigt und vom eintönigen Eheleben in Hinterpommern gelangweilt, kann auch das gemeinsame Kind (›dabei füllt

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Theodor Fontane: Effi Briest, Berlin/Weimar 1989, S. 37. Katharina Mommsen: Vom ›Bamme-Ton‹ zum ›Bummel-Ton‹. Fontanes Kunst der Sprechweisen, in: Jörg Thunecke (Hg.): Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 325-334, hier S. 325. Kling: Itinerar (Anm. 13), S. 11.

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sichs familienalbum‹) Effi nicht aus ihrer Vereinsamung retten (›e. als (wider)wortmaschine, dida sagt sehnsuchtsehnsucht‹), und so entwickelt sich eine flüchtige Beziehung mit Major von Crampas (›effi macht sich zum abreißkalender‹). Da Innstetten beruflich nach Berlin versetzt wird und die Familie der Versetzung folgt, endet das Verhältnis unbemerkt. Einige ruhig verlebte Ehejahre später findet Innstetten jedoch die Briefe, die Crampas einst an Effi geschrieben hatte, wofür Kling wiederum beinahe wörtlich die entsprechende Stelle aus dem Ursprungstext übernimmt und sie auch als Zitat kennzeichnet (dieses Mal in Großbuchstaben, nicht in Anführungszeichen). Im Original richtet Roswitha, eine Bedienstete im Hause Innstetten, die Worte an ihre Kollegin Johanna. Beide tauschen sich im Rückblick über die Geschehnisse aus, die zum Bruch der Eheleute geführt haben, wobei Roswitha darauf beharrt, dass das mit den Briefen eine alte Geschichte und deshalb der Aufregung nicht mehr wert sei: »[D]ie Briefe, die mir gleich so sonderbar aussahen, weil sie die rote Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und dann eingeknotet und keine Schleife – die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her.«48 Der durch die Aufdeckung des Verhältnisses zwischen Effi und Crampas in seinem Ansehen verletzte Innstetten fordert, so wie es ihm die gesellschaftlichen Verpflichtungen gebieten, Crampas zum Duell heraus. Der siegreich aus dieser Auseinandersetzung hervorgegangene Innstetten lässt sich von Effi scheiden und nimmt das gemeinsame Kind zu sich, woran Effi letztlich zerbricht und verstirbt. Abgesehen von der Überführung einiger Zitatbestandteile in die wiederum ganz eigene Schreibung Klings tilgt der Dichter bei der Übernahme aus dem Original lediglich den Umstand, dass es sich beim Corpus Delicti um Briefe handelt und dass diese mit einem roten Faden umschnürt sind. Bei Kling ist die Farbe der Strippe schlichtweg nicht genannt, mehr Gewicht misst er der Gelbfärbung als zeitbedingter Nachdunklung bei. Diese NichtNennung des Gegenstands sowie die Vernachlässigung der Faden-Farbe bei gleichzeitiger Angabe der Vergilbung sind Hinweis auf das, was vor allem in der Aufzeichnung des Abends vom 18. März 1989 ganz deutlich wird: der Zusammenhang des Textes mit der Skulptur von Martin Gostner (Abb. 2). Der mit gelbem Nylon-Faden umwickelte Kühlschrank wird vom Aufzeichnenden Boscher Theodor zudem genau dann eingeblendet, als Kling den zweiten Teil des Gedichts vorzulesen beginnt. Theodor zoomt aus der Nahaufnahme von Klings Gesicht heraus und schwenkt auf die Skulptur, die daraufhin 48

Fontane: Effi Briest (Anm. 45), S. 258.

Lesen/Sehen/Hören

kurzzeitig ganz ohne den Dichter im Bild ist, nur dessen Worte sind zu hören.49 Der Begriff der Installation, bis hierhin in diesen Überlegungen mehr als (technische) Einrichtung verstanden, wird dann endlich auch in seiner Bestimmung für die bildende Kunst bedeutsam, nämlich als bildhauerisches Werk, das mehrere, auch medial verschiedenförmige Elemente in einer räumlich gebundenen Form zusammenführt und dessen Wirkung meist von der spezifischen Umgebung, für die das Werk konzipiert ist, abhängt.50 Wenn Kling in der unmittelbaren Nähe zu Gostners Kunstwerk spricht, ist auch dieses mehr Installation als Skulptur, da die orts- und situationsgebundenen Umstände, zu denen Kling und sein Gedichtvortrag hier offensichtlich zählen können, Teil des Werks sind. An dieser spezifischen Stelle des Gedichts ist aus dem Lese-Text aber auch wieder ein Seh-Text geworden, der geradezu skulptural funktioniert: Das Zitat ist im Gedichttext extra eingerückt, wodurch sich drei bis vier eigens abgesetzte Zeilen bilden, die den »drei- o/der 4mal umwikkelt[en]« Briefen aus der Textstelle selbst entsprechen. Dass diese Einrückung beim Vortrag Klings nicht zu hören ist (sie hätte beispielsweise durch eine Pause angezeigt werden können, die dem Leerraum entspricht, der durch den versetzten Beginn der Gedichtzeile entsteht), könnte für einen ganz und gar schriftbildnerischen Beweggrund der Gestaltung dieses Gedichtabschnitts sprechen. Vermittels des semantischen Feldes des Polaroids und der Photographie, dessen sich Kling im Titel bedient und das mit Textstellen wie ›di mo/mente di aufnahmen, di pralleren albn: o/vale photographien‹ sowie einzelnen Wörtern, darunter ›fototapete‹, ›familienalbum‹, ›BLAUSTICHIG, UNFOTOGRAFIERT‹, ›(zäheste dias)‹ und ›FILMRISSE‹ einmal mehr das Visuelle betont, mag die Erklärung zutreffen, die Jean Baudrillard für die »Ekstase der Polaroid-Aufnahme« verantwortlich macht: [F]ast im selben Moment das Objekt und dessen Bild vor sich zu haben; es ist, als ob sich die alte Physik oder Metaphysik des Lichts erfüllt hätte, der zufolge jedes Objekt Doppel oder Abbilder von sich abwerfe, die unserem Gesichtssinn entgegenkommen. […] Das Polaroidfoto ist wie ein vom wirklichen Objekt abgesondertes ekstatisches Negativ.51 49 50 51

Vgl. Theodor: kling ungelöscht (Anm. 2), 01:22-01:41. Vgl. Silvia Lorenz: Installation/Environment, in: Stefan Jordan/Jürgen Müller (Hg.): Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 171. Jean Baudrillard: Videowelt und fraktales Objekt, in: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 113-131, hier S. 120.

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Gostners Skulptur und Klings Objekt könnten in einem ähnlichen Verhältnis von ›wirklichem Objekt‹ und ›ekstatischem Negativ‹ stehen. Unbestritten ist, dass der Live-Auftritt Klings 1989 in Köln nicht konservierbar ist, viele Aspekte des Präsentischen gehen in der Aufzeichnung verloren. Jedoch bietet die Aufnahme die Gelegenheit, das Gedicht als, wie Kling es fasst, »optisches und akustisches Präzisionsinstrument«52 sehr genau in den Blick zu nehmen und gibt damit der »Aufgabe der Verzögerung und Reflexivierung«, welche der Kunst Luhmann nach zukommt, einen Raum. Denn Luhmann zufolge gehe es nicht nur darum, dass der Künstler das Werk herstellen muss und dafür Zeit braucht, »[v]ielmehr ist jede beobachtende Teilnahme am Kunstgeschehen ein zeitlicher Prozeß, eine als System geordnete Sukzession von Ereignissen. […]. [A]uch die Betrachtung erschließt das Kunstwerk temporal, also im schrittweisen Aktualisieren von Referenzen im Kontext von dadurch jeweils verschobenen Unterscheidungen.«53 Das ist mit der DVD von Theodor besonders gut möglich. Die Aufzeichnung des Auftritts kann dann als etwas erkannt werden, was über den gedruckten Text als Kunstwerk hinausweist, aber trotzdem auf das Engste mit ihm verbunden ist, zumal schon der Titel von Klings Gedicht mit der Verbindung von Audio (›deutschsprachiges‹) und Video (›polaroid‹) eine Filmaufnahme geradezu einfordert. Und dieser Film ermöglicht der Rezeptionsseite einen weiteren Zugang zu Klings Werk.

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Kling: Botenstoffe (Anm. 18), S 142. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 31), S. 37f. (Hervorhebung im Original).

Lesen/Sehen/Hören

Abb. 1: Thomas Kling führt sein Gedicht »effi b.; deutschsprachiges polaroid« auf (18. März 1989, Köln).

Abb. 2: Skulptur »Effi Briest« des Künstlers Martin Gostner (18. März 1989, Köln).

  Quelle: Filmstills aus Theodor, Boscher (Hg.): kling ungelöscht. spurensicherung einer lesung/performance von thomas kling, Köln 2015.

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Druck

Fehlerkulturen Epistemologie und Praxeologie des Drucktextes (auch etwas über Nietzsche, Goethe, Dada und die Dekonstruktion) Christopher Busch Es bleibt nur noch, wie üblich, zu sagen, daß verbleibende Fehler zu meinen Lasten gehen – mit Ausnahme von Fehlern in diesem Satz, versteht sich!1   »Litertur [sic!]«2

1.

Problemaufriss: Druckdefizienz (Nietzsche, Goethe u.a.)

Bevor sich Bücher an alle und keinen richten können, flattern ihre Druckbögen den Korrektoren ins Haus: Es fällt mir ein, daß ich neulich vergessen habe, Ihre Hülfe und Mit-Arbeit mir für den letzten Theil des Zarathustra auszubitten; und so mag vielleicht in diesen Tagen ein Correctur-Bogen ganz grob und ungezogen bei Ihnen zur Thür hinein gefallen sein. Seien Sie freundlich und helfen Sir [sic!] mir dies Mal noch! – Ich ärgere mich so über Druckfehler und habe davon so viel stehen lassen (im 2ten Theile, auf den 3 ersten Bogen, deren Manuscript der große Taps Schmeitzner Ihnen vorenthalten hatte) Sandte ich Ihnen nicht schon Einiges von dieser Gattung? hier gleich noch zwei! Seite 8 Zeile 5 von Oben muß es heißen Zeuge- und Werdelust s t a t t Zunge und Werdelust

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Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990, S. 10. Ebd., S. 96.

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– Seite 15 Zeile 12 von Oben muß es heißen Aber wen s t a t t Aber wer. usw.3 »Usw.«: Denn es hört nie auf. Noch die historisch-kritische Ausgabe der Briefe des verärgerten Philosophen wird Druckfehler4 enthalten. Dass Nietzsche seinen Freund Heinrich Köselitz, genannt Peter Gast, als »Sir« angeredet hätte, erweist sich als unwahrscheinlich. Im Manuskript des Briefes, das sich im Nietzsche-Nachlass in Weimar erhalten hat, lässt sich leicht »Sie« entziffern, ein Lesefehler der Editoren ist demnach nicht auszuschließen, aber hochgradig unwahrscheinlich.5 Viel eher ist damit zu rechnen, dass Giorgio Colli und Mazzino Montanari, dass Heinrich Köselitz alias Peter Gast und der tapsige Verleger Ernst Schmeitzner, dass wir alle als Leser*innen von Büchern nach wie vor in jenem Zeitalter leben, das Nietzsche zufolge den »alexandrinischen Mensch[en]« hervorgebracht hat, »der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.«6 Nietzsche selbst

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Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, 25. Februar 1884, in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari (= KSB), Bd. 6: Januar 1880 – Dezember 1884. 2. Aufl. München 2003, S. 480f., hier S. 481. Jean Paul formuliert den noch in modernen Setzerhandbüchern anzutreffenden Topos, »daß man Druckfehler heißet, was eigentlich Setzfehler, Greif- oder Sehfehler sind, als ob der gute Buchdrucker etwa anders thun könnte, als die schon eingerückten Lettern zu färben und abzufärben« (Ergänzblatt zu Levana. Zweyte, verbesserte und mit neuen Druckfehlern vermehrte Auflage, Stuttgart/Tübingen 1817, S. XX). Die folgenden Ausführungen orientieren sich allerdings an der gängigen Semantik des Begriffs, der als »Fehler im gedruckten Text, der auf einen oder mehrere falsch gesetzte Buchstaben o.Ä. zurückgeht«, verstanden wird (https://www.duden.de/rechtschreibun g/Druckfehler, abgerufen am 31.1.2022). Ein Druckfehler ist demnach ein potentiell zu korrigierender Zeichenbefund innerhalb eines Drucktextes, unabhängig davon, welche Instanz sein Zustandekommen verantwortet. Signatur: GSA 71/BW 275,7; eingesehen wurde das Digitalisat unter https://ores.klas sik-stiftung.de/ords/f?p=406:2:::::P2_ID:2767 am 31.1.2022. Am Tag der Abfassung des vorliegenden Beitrags hatte die digitale Revision der Colli/Montanari-Ausgabe (eKGW) den Druckfehler noch nicht behoben. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik/Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (= KSA, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870-1871. 6. Aufl., München 2003, S. 9-156, hier S. 120.

Fehlerkulturen

hat sich gelegentlich Schmeitzner als Exemplar der Gattung zu erkennen gegeben7 und sich für seine Bücher spätestens seit Menschliches, Allzumenschliches wiederholt eine gesteigerte verlegerische und herstellerische Aufmerksamkeit gewünscht. Dieser Wunsch verleiht sich gelegentlich in epistolaren Anfeuerungsrufen Ausdruck, die der Philosoph über die Alpen nach Sachsen sendet: Nun aber Eile! Eile! Eile! Ich will von Genua fort, sobald ich das Buch fertig habe und sitze bis dahin auf Kohlen. Helfen Sie! treiben Sie Herrn Oschatz! Kann er mir nicht ein schriftliches Versprechen machen, daß bis s p ä t e s t e n s E n d e A p r i l das Buch h i e r in meinen Händen ist – f e r t i g und v o l l k o m m e n? – Zu g l e i c h e r Zeit geht ein Bogen an Herrn Köselitz nach Venedig und ein Bogen an mich nach Genova (poste restante) ab. […] Lieber Herr Schmeitzner, wir wollen Alle diesmal unsre Sache so gut als möglich machen. Der Inhalt meines Buch ist so wichtig! Es ist unsre E h r e n s a c h e, in nichts es fehlen zu lassen, daß es würdig und makellos zur Welt kommt. –8 An dieser und den vorangegangenen Passagen interessiert nun aber gerade nicht das Exzeptionelle eines um die materiale Präsentation seiner Schriften besorgten, erblindenden Philosophen, der sich, schon weil es nur einen Dionysos und Gekreuzigten geben und eben nicht jeder Autor die Durchschlagskraft von Dynamit entfalten kann, um einen standesgemäßen und das heißt eben makellosen bibliographischen Auftritt sorgt. Bereits ein kursorischer Blick in Autor/Verleger-Korrespondenzen verrät freilich, dass Nietzsche nur eine Stimme ist im Chor der immer gleichen, über Jahrhunderte wiederkehrenden Wehklage von Autor*innen, die ihre Werke in unangemessener Weise verlegerisch und herstellerisch behandelt wähnen.9 Beschwerdebrie7

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»Sollte Naumann wieder der Drucker sein, so bestehen Sie unerbittlich auf t i e f s c h w a r z e n Druck, auch schon für die Correctur-Bogen (ich habe das letzte Mal mit dieser Leipziger ›Blässe‹ meinen A u g e n geschadet)« (KSB 6, S. 473f.). Friedrich Nietzsche an Ernst Schmeitzner, 13. Februar 1884, in: KSB 6, S. 69. Vgl. etwa die Belegstellensammlung bei Tobias Fuchs, die freilich über den Untersuchungszeitraum hinaus in beide Richtungen leicht zu erweitern wäre: Die Kunst des Büchermachens. Autorschaft und Materialität der Literatur zwischen 1765 und 1815, Bielefeld 2021, S. 169-181. Eine über den Zeitraum ausgreifende Zusammenstellung von Funden bietet etwa das Marbacher Magazin, Nr. 153: Errata. Fehler aus Zweiter Hand. Ein Gespräch in x Stichworten mit Hanns Zischler, Marbach am Neckar 2016. Die ältere Buchwissenschaft hat sich dem Thema immer wieder gewidmet, vgl. nur

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fe, Anfeuerungsrufe und Hilfegesuche an Kollaborateur*innen sind, dieser Eindruck drängt sich auf, ein notwendiges Korrelat der Druckkultur. Welche materialen, personellen und infrastrukturellen Settings machen Reaktionen wie diejenige Nietzsches wahrscheinlich und welche Strategien bilden die Akteur*innen der Bibliosphäre aus, um die ›Eigenschwingungen‹ (F. Heider) des Buchdrucks zu kontrollieren? Konsultiert man einschlägige historiographische Arbeiten an der Schnittstelle von materialer Philologie, Wissenschaftsgeschichte und analytischer Druckforschung, dann lässt sich die Diagnose der Defizienz- und Varianzaffinität des Buchdrucks zunächst leicht plausibilisieren.10 Hier trifft Bernard Cerquiglinis Beobachtung, gedruckter Text könne erst seit dem 19. Jahrhundert überhaupt (und prinzipiell fälschlicherweise) in Verdacht geraten, als »l’immuable multiple«11 (›unveränderlich Vielfaches‹) zu gelten, auf Martin Boghardts Arbeiten zu frühneuzeitlichen Doppeldrucken und Formen der Satzvarianz, sowie auf Adrian Johns’ gegen Elizabeth L. Eisensteins The Printing Press as an Agent of Change gerichtete Analyse der infrastrukturellen Voraussetzungen einer Allianz von (vor)moderner Naturwissenschaft und Druckkultur, mit dem Ergebnis, dass der Wahrheitsanspruch der Wissenschaften mit der im Europa der Frühen Neuzeit sattsam bekannten Fehleranfälligkeit des Buchdrucks allererst konsolidiert werden musste.12 An diesen Befund wiederum ist Marita Mathijsens Beobachtung anzuschließen, dass sich mit Blick auf Defizienz und Varianz des Buchdrucks die Annahme einer Zäsur ›um 1800‹, welche den frühneuzeitlichen Handsatz vom modernen, mechanisierten und schließlich computerisierten Druck zu

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Karl Schottenloher: Der Druckfehlerteufel der Reformationszeit, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 23 (1931), N.F., H. 6, S. 111-116; Ernst L. Griesbach: Wider die Druckfehler. Betrachtungen über das Korrekturlesen, Stuttgart 1961; Hans Widmann: »Die Lektüre unendlicher Korrekturen«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 5 (1964), Sp. 777-826. Vgl. zum Folgenden auch meine Argumentation: Ideen in Büchern. Überlegungen zur Mediengeschichte der Philosophie – Hobbes und Blumenberg zum Beispiel, in: Weimarer Beiträge 63 (2017), H. 3, S. 325-346, hier S. 328-332. Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, S. 19. Vgl. die posthum gebündelt herausgegeben Beiträge in Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches, hg. von Paul Needham in Verbindung mit Julie Boghardt, Wiesbaden 2008; vgl. Adrian Johns: The Nature of the Book. Print and Knowledge in the Making, Chicago/London 1998.

Fehlerkulturen

differenzieren erlaubte, als hinfällig erweist.13 Noch für das Zeitalter des Maschinendrucks ist demnach ein Gutteil jener Fehler gängig, die sich in einer Typologie aus einem bei Johann Prüß in Straßburg gedruckten Buch aus dem Jahr 1505 aufgelistet finden. Es spricht der Korrektor Matthias Schürer: Wenn etwas in diesem Buch verkehrt (inuersum), verstellt (transpositum), verändert (immutatum), ausgelassen (obmissum) ist, so wundere Dich nicht, ärgere Dich auch nicht: wer könnte alles sehen? Ich bin ein Mensch mit zwei Augen, nicht ein Argus, dessen Kopf, wie das Altertum in seinen Sagen erzählt, mit hundert Augen ringsum versehen war. Glaube mir, der ich Erfahrung habe: auf nichts konnte (bei der Korrekturarbeit) mit den Augen so geachtet werden, daß jeder Fehler vermieden wäre. Nimm dazu, daß die Textvorlage durch die Schuld des Abschreibers verstümmelt, entstellt und voller Fehler war. Zudem waren wir genötigt, dieses Werk wegen der bevorstehenden Frankfurter Messe in kürzester Frist zu drucken. Wir werden uns trotzdem nach Kräften Mühe geben, damit das Werk später sauberer und schöner in die Hand des Publikums gelange. Du, beflissener Leser, begnüge dich in der Zwischenzeit mit vorliegender Ausgabe und sei glücklich damit!14 Die Defizienzanfälligkeit des Buchdrucks und mit ihr die hohe Wahrscheinlichkeit von Varianten, bisweilen in derselben Auflage eines Werkes, haben dabei schon früh zum Ergreifen von Korrekturmechanismen Anlass gegeben, begleitet mitunter von rhetorischen Arsenalen der Indienstnahme von Leser*innen: »[A]chte darauf«, heißt es etwa bereits im Eichstätter Missale Michael Reysers von 1486, »dass Du – um beim Lesen recht zu verstehen und keinen Irrtümern zu unterliegen – den Text an den nachstehend verzeichneten Stellen ausbesserst.« Und weiter: Denn es ist nicht möglich, jede Kleinigkeit bis zum letzten Buchstaben im Auge zu behalten. Unterlasse es darum, den Vorwurf der Unwissenheit zu erheben. Im übrigen wird da, wo nur ein Buchstabe oder ein Punkt anders, als es sein muss, angetroffen wird und es geboten ist, diesen – bei gleich-

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Vgl. Marita Mathijsen: Neue Drucktechniken und alte Fehlerquellen. Die Entwicklung in der Buchdruckerkunst und die Folgen für die Edition, in: editio 6 (1992), S. 131-144. Jacob Wimpfeling: Epithoma rerum Germanicarum, Straßburg 1505, Übers. zit.n. Hans Widmann: Die Lektüre unendlicher Korrekturen (Anm. 9), Sp. 785.

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bleibendem Wortsinn – nach vorn oder hinten umzustellen, der freundliche Leser von sich aus die richtige Form einsetzen.15 Solche Hinweise sollen Zuständigkeiten delegieren, die grundsätzlich in den Bereich der Korrektoren fallen, deren Anstellung auch von der Obrigkeit immer wieder angemahnt wird.16 Einen Einblick in die Tätigkeit der Korrektoren gibt ein bis ins 18. Jahrhundert mehrfach aufgelegtes Werk von Hieronymus Hornschuch (Orthotypographia, lateinisch zuerst 1608, deutsch 1634), der als gelehrter Korrektor und promovierter Mediziner eine Reihe von Gründen anführt, warum es an der Korrektheit von Drucken mangeln kann, welche Dispositionen also die Wahrscheinlichkeit der von Matthias Schürer typologisierten Fehler erhöhen. Auf Seiten der in den Offizinen beschäftigten Akteure kritisiert Hornschuch mangelnde Gelehrsamkeit, diätetisches Fehlverhalten und zudem eine fehlende Kenntnis der technischen Abläufe des Druckprozesses.17 Zu ergänzen ist hier aus einer modernen editionsphilologischen Perspektive freilich jener Anteil, den die Autor*innen am Misslingen des Drucks haben können. Folgt man Mathijsens idealtypischer Rekonstruktion des Prozesses ›vom Manuskript zum Buch‹, dann gehen den vielgestaltigen Setzfehlern, die auf unaufgeräumte Setzkästen, Vergreifen (sog. ›muscular errors‹) der Setzer, Verlesungen des Manuskripts und sich vielfach überlagernde, gleichzeitige und rekursiv verschaltete Arbeitsschritte zurückgeführt werden können, bisweilen unleserlich geschriebene Autor*innenmanuskripte voraus, die dann in der Druckerei erneut und bisweilen falsch abgeschrie-

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Übers. zit.n. Widmann: Die Lektüre unendlicher Korrekturen (Anm. 9), Sp. 786f. So ergeht etwa im Jahr 1696 eine kurfürstliche Ermahnung an den Rat der Buchhandelsmetropole Leipzig, da festgestellt wurde, »daß in den Druckereien […] bei Euch allerlei Mißbräuche eingerissen, der Druck nicht fleißig corrigirt; […] auch ein großer Übelstand ist, wenn die gedruckten Scripta mit so vielen Erratis unter die Leute kommen, so ist es Uns etc. Unser Begehren, Ihr wollet mit ganzem Ernst daran sein, damit der Unfleiß der Druckereien abgeschafft und fleißig gelehrte Correctors gehalten werden« (Zit. n. Albert Kapr [Hg.]: Traditionen Leipziger Buchkunst, Leipzig 1989, S. 25). Zur frühneuzeitlichen Praxis des Korrekturlesens vgl. Percy Simpson: Proof-Reading in the Sixteenth, Seventeenth and Eighteenth Centuries, London 1930 sowie Anthony Grafton: The Culture of Correction in Renaissance Europe. Panizzi Lectures, London 2011; zur Integration des Korrekturwissens in die frühneuzeitliche Philologie vgl. Klara Vanek: ›Ars corrigendi‹ in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik, Berlin/New York 2007, besonders S. 156-195. Vgl. Hieronymus Hornschuch: Orthotypographia [1608/1634], Nachdruck. hg. von Martin Boghardt/Frans A. Janssen/Walter Wilkes, Pinneberg 1983, S. 9f.

Fehlerkulturen

ben wurden; der durch die Verleger*innen und Autor*innen selbst ausagierte Zeitdruck tat hier ein Übriges.18 Es verwundert also kaum, wenn noch 1820 ein zeit seines Lebens zu jedem Clinch mit Druckern und Verlegern bereiter Olympier in einem Aufsatz mit dem Titel Hör- Schreib- und Druckfehler konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der auch im 19. Jahrhundert grassierenden Druckfehlerplage abgeholfen werden kann. Ausgehend von der eigenen Schreibszene, in deren Zentrum ab einem gewissen Zeitpunkt der literarischen Karriere das Diktat siedelt,19 analysiert Goethe Kommunikationswege und Rekursionsschleifen, die eine Infrastruktur literarischer Produktion mit ihren Friktionspotentialen offenlegt.20 Dem Autor kommt das Diktierte nämlich, wenn er es nicht sogleich nach dem Diktat gegenliest, bisweilen als »Abracadabra« wieder unter die Augen. Um es »zu entziffern«, so Goethe weiter, »lese ich mir die Abhandlung laut vor, durchdringe mich von ihrem Sinn und spreche das unverständliche Wort so lange aus, bis im Fluß der Rede das rechte sich ergiebt.«21 Wohl auch, 18 19

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Vgl. Mathijsen: Neue Drucktechniken und alte Fehlerquellen (Anm. 13), S. 132f. Vgl. Natalie Binczek: Gesprächsliteratur – Goethes Diktate, in: Friedrich Balke/Rupert Gaderer (Hg.): Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas, Göttingen 2015, S. 225253; Stephan Kammer: Dichterwort. Die poetische Okkupation der Diktat-Szene, in: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Diktat. Phono-graphische Verfahren der Aufschreibung, München 2015, S. 171-185; Armin Schäfer: Befehlsketten. Diktatszenen mit Goethe und Beaumarchais, in: Binczek/Epping-Jäger (Hg.): Das Diktat, S. 187203. Es handelt sich dabei folglich um eine Rekonstruktion der ›Schreib-Szene‹ im Sinne von Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben [1991], in: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 269-282, hier S. 271 (Hvh. C. B.): »Auch und gerade wenn die ›Schreib-Szene‹ keine selbstevidente Rahmung der Szene, sondern ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste bezeichnet, kann sie dennoch das Unternehmen der Literatur als dieses problematische Ensemble, diese schwierige Rahmung genau kennzeichnen. Dann aber lohnt es, Ensemblebildung und Rahmung in ihrer begrenzten Geltung und mit ihren Rissen zu beschreiben.«. Johann Wolfgang Goethe: Hör- Schreib- und Druckfehler, in: Ueber Kunst und Alterthum. Zweyten Bandes zweyter Theil, Stuttgart 1820, S. 177-185, hier S. 178. Fast unnötig zu erwähnen, dass sich im Erstdruck an just der genannten Stelle ein Druckfehler befindet: »Um den Sinn ein solches [sic!] Abracadabra zu entziffern, lese ich mir die Abhandlung laut vor, durchdringe mich von ihrem Sinn, und spreche das unverständliche Wort so lange aus, bis im Fluß der Rede das rechte sich ergibt« (S. 178). In der Ausgabe letzter Hand ist der Fehler wie folgt berichtigt: »Um den Sinn eines solchen Abracadabra zu entziffern, lese ich mir die Abhandlung laut vor, durchdringe mich

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um eine solche hermeneutische Selbstreparatur des Teiles durch den ›Fluß‹ des Ganzen zu erleichtern, fährt Goethe fort, Beispiele für Hörfehler zu nennen, die er sowohl auf die Unbildung der Schreiber als auch die undeutliche Artikulation der diktierenden Instanz zurückführt; seine Beobachtung, dass die Verschreiber bisweilen auch damit erklärt werden können, »daß der Hörer seine inwohnende Neigung, Leidenschaft und Bedürfniß an die Stelle des gehörten Wortes setzt«22 , lässt an jene epistemologische Rahmung von Fehlleistungen denken, wie sie die Psychopathologen des Alltagslebens erst einige Jahrzehnte später vornehmen werden.23 Handelt es sich bei den bisher genannten Rekursionen um Maßnahmen der Manuskriptkorrektur und um, letztlich erwartbare, Strategien der Hör- und Schreibfehlerprävention, so verblüfft Goethe im letzten Abschnitt seiner Miszelle mit einem Vorschlag, dem Beobachtungen zur anfälligen Infrastruktur des Druckprozesses vorausgehen. Auf die topische Schelte der »gar oft stumpfe[n], nachlässige[n] Correctoren«, die, »besonders bey Entfernung des Verfassers vom Druckort, unzählige Fehler stehen lassen«24 , folgt eine Empfehlung, in der sich Ethosappelle und eine kreative Adressierung der Obrigkeit verschränken:

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von ihrem Sinn, und spreche das unverständliche Wort so lange aus, bis im Fluß der Rede das rechte sich ergibt« (Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 45: Goethe’s nachgelassene Werke, Bd. 5, Stuttgart/Tübingen 1833, S. 156f.). Die Weimarer Ausgabe (Bd. 40, 1. Abt.) emendiert schließlich zu: »Um ein solches Abracadabra zu entziffern, […]« (S. 183). Die Jubiläums-Ausgabe (Bd. 37) übernimmt die Berichtigung aus der Ausgabe letzter Hand (S. 155). Die Propyläen-Ausgabe wiederum (Bd. 31, S. 337) orientiert sich an der Weimarer Ausgabe. Die Frankfurter Ausgabe (Bd. 20, 1. Abt.) druckt den Originalbefund nach (S. 450) und übernimmt im Kommentar die Emendation der WA (S. 1300). Die Münchner Ausgabe (Bd. 11.2) markiert im Text die Emendation der WA (S. 289). Das Originalmanuskript hat sich nicht erhalten. Greifbar wird hier ein Beispiel, wie die Defizienz des Drucks die Varianz des Textes zur Folge hat – auch noch und gerade zu Bedingungen moderner Textualität. Goethe: Hör- Schreib- und Druckfehler (Anm. 21), S. 180. Vgl. Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum [1901], Frankfurt a.M. 2000, S. 167-194. Die frühe, um Reputation und Anerkennung ringende Psychoanalyse präsentiert dementsprechend immer wieder Funde, die in ihrem Zentralorgan bisweilen triumphalistisch ausgebreitet werden; vgl. etwa Otto Rank: Der teure Druckfehler, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 3 (1915), H. 1, S. 44f.; Adolf Josef Storfer: Ein politischer Druckfehler, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 3 (1915), H. 1, S. 45; Herbert Silberer: Tendenziöse Druckfehler, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 8 (1922), H. 3, S. 350f. Goethe: Hör- Schreib- und Druckfehler (Anm. 21), S. 182.

Fehlerkulturen

Ein bedeutender Schritt wäre schon gethan, wenn Personen, die ohnehin, aus Pflicht oder Neigung, von dem Ganzen der laufenden Literatur, oder ihren Theilen ununterbrochene Kenntniß behalten, sich die Mühe nehmen wollten bey jedem Werke nach den Druckfehlern zu sehen und zu bezeichnen: aus welchen Officinen die meisten incorrecten Bücher hervorgegangen. Eine solche Rüge würde gewiß das Ehrgefühl der Druckherrn beleben; diese würden gegen ihre Correctoren strenger seyn; die Correctoren hielten sich wieder an die Verfasser, wegen undeutlicher Manuscripte, und so käme eine Verantwortlichkeit nach der andern zur Sprache. Wollten die neuerlich in Deutschland angestellten Censoren, denen als literarisch gebildeten Männern ein solches Unwesen nothwendig auffallen muß, wenn sie, wie das Gesetz erlaubt, Aushängebogen censiren, die Druckherrn auch von ihrer Seite unablässig erinnern, so würde gewiß das Gute desto schneller gefördert werden.25 Kontext dieser Formulierungen sind die Pressegesetze, die infolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 erlassen wurden und die es der Obrigkeit gestatteten, sowohl die Presseerzeugnisse als auch die umfänglicheren Drucke (über 20 Bögen) zu begutachten und gegebenenfalls zu beanstanden.26 Goethe geht es tatsächlich um die Beschleunigung und Synchronisierung unterschiedlicher Begutachtungsrhythmen, wenn er auf die erhöhte Vigilanz der Zensoren/Korrektoren im Zusammenhang mit der Tagespresse verweist, »dagegen man bey langwierigen Arbeiten glaubt, der Unaufmerksame habe immer noch Aufmerksamkeit genug.«27 Bemerkenswert bleibt die autorschaftlich souveräne Geste der Indienstnahme polizeilicher Macht für die perspektivisch makellose Präsentation der Drucke und damit eben auch für die Wahrung der 25 26

27

Ebd., S. 183f. Goethes affirmative Haltung zur Zensur hat eine Vorgeschichte, die sich bis in die späten 1790er Jahre zurückverfolgen lässt (vgl. Hans-Joachim Koppitz: Goethes Verhältnis zur Zensur, in: Gutenberg-Jahrbuch 61 [1986], S. 228-240, hier S. 237f.). Sie ist zeitgenössisch nicht untypisch, waren Zensoren doch nach allgemeinem Verständnis zwar mit politischer, aber eben gleichzeitig auch mit sachlicher Kontrolle betraut und übernahmen dementsprechend auch Funktionen, die heute etwa dem peer-reviewing überantwortet sind; bisweilen kooperierten sie mit den Autoren (vgl. für das Ancien Régime Robert Darnton: Censors at Work. How States Shaped Literature, New York/London 2014, etwa S. 43-49). Auch in Goethes Einlassungen zur Zensur findet sich der Kooperationsgedanke ausgedrückt, er bleibt aber auf den Ausgleich der Interessen zwischen Staat und Autor bezogen (vgl. Koppitz: Goethes Verhältnis zur Zensur, S. 238). Goethe: Hör- Schreib- und Druckfehler (Anm. 21), S. 185.

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symbolischen Autorität eines eminenten Dichters deutscher Nation. Begreift man folglich – neben dem Diktat – die Korrektur als integralen Bestandteil der Schreib-Szene Goethes, dann lässt sich am Aufsatz über Hör- Schreib- und Druckfehler der exemplarische Versuch einer Modellierung des Copings mit Druckdefizienz beobachten, der sich als Rekalibrierung buchherstellerischer Praktiken zu lesen gibt. Vor dem Hintergrund des bislang entfalteten Materials erweist es sich aus systematischen Gründen folglich als fruchtbar und adäquat, Korrekturbedarfe nicht als unvordenkliche Ereignisse, sondern als druckkulturelle Normalfälle zu behandeln. Die Herstellung von Drucksachen basiert, wie gesehen, auf Infrastrukturen und Kommunikationswegen, die sich mitunter als fragil und kontingenzanfällig erweisen. Um an dieser Stelle zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren: Schmeitzner ist für Nietzsche ja nicht zuletzt deshalb ein ›Taps‹, weil er dem Korrektor Köselitz Korrekturbögen postalisch vorenthält. Aber Nietzsche ist selbst, auch das verrät der Brief, keineswegs sicher, ob er Köselitz nicht bereits entsprechend markierte Bögen übermittelt hat. Auf die auch bei Goethe thematisierte Gefahr infrastruktureller Störung, die etwa in einer großen räumlichen Distanz zwischen Autor, Verleger und Drucker bestehen kann, reagiert Nietzsche, nicht anders als Goethe, mit einem Tugendappell und der Kollektivierung von Verantwortung (»unsre E h r e n s a c h e«). Wollte man also Ernst machen mit dem allfälligen Befund, dass der Druck der Literatur je eine zu korrigierende Textualität produziert, dann wäre noch etwas systematischer zu fragen, welche Coping-Strategien sich auf Seiten der textproduzierenden Akteur*innen in der nach wie vor andauernden Epoche des Drucktextes herausgebildet haben. Sichtbar werden in einer Perspektive der longue durée Fehlerkulturen im Sinne verschiedener Register des Umgangs mit Druckdefizienz. Im Folgenden soll, anknüpfend an den Problemaufriss, eine Typologie solcher Reaktionsweisen vorgeschlagen werden.

2.

Fehler/Kulturen. Eine Typologie

Die vier Typen unterscheiden sich dabei hinsichtlich ihrer Referenz auf das Defizienzproblem. Zu differenzieren sind (a) ein restriktiver, (b) ein integrativer, (c) ein ludistischer und (d) ein transzendierender Umgang mit dem Befund der Druckdefizienz. Dabei wird auch interessieren, wie sich die Übergänge zwischen den Registern gestalten. Eine Beschreibung der Register lässt

Fehlerkulturen

schließlich abschätzen, inwiefern Druckfehler ihrerseits von den Akteur*innen als kulturell produktiv gelesen werden.28

a)

Restriktion

Wenig überraschend und im Problemaufriss bereits prominent dokumentiert, gibt sich das restriktive Reaktionsmuster als Versuch zu erkennen, Abläufe zu optimieren und Fehlerquellen auszuschalten. Es sucht bisweilen den polemischen Schulterschluss mit der Autorität. Resultat des restriktiven Reaktionsmusters sind mitunter auch Rezepturen, konkrete Verbesserungsanleitungen. Frühneuzeitliche Manuale, Druckerhandbücher, Erratalisten, Nietzsches Briefe und Goethes Miszellen, noch manche Typographiereform stellen sich in den Dienst der Druckfehlervermeidung und -verbesserung. Der Druckfehler wird interpretiert als Verstoß gegen eine Intention, die gleichzeitig als Norm ratifiziert wird.

b)

Integration

Auch für den integrierenden Umgang mit Druckdefizienz lassen sich im bereits diskutierten Material Beispiele finden. Denn Nietzsche etwa hat es, wie erinnerlich, nicht dabei belassen, Briefe an Kollaborateure zu verfassen, sondern er hat den Typus des ›alexandrinischen Menschen‹ erfunden, der ins Argumentationsgeflecht der Tragödien-Schrift eingewoben ist. Dieser Typus wiederum gehört Nietzsches Gegenwart an: »Unsere ganze moderne Welt ist im Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den

28

Anregend ist in diesem Zusammenhang Tabea Nixdorffs autoethnographischer und bisweilen gendertheoretisch argumentierender Essay: Fehler lesen. Korrektur als Textproduktion, Leipzig 2019. Nixdorff entwirft ihrerseits eine Typologie, in welcher »vier Perspektiven« auf Druckfehler vorgeschlagen werden: »medial, linguistisch, sozial, poetisch« (S. 15); dem assoziativen Modus des Textes ist es m.E. geschuldet, dass die Passgenauigkeit der Zuordnung von Phänomenen zu den Perspektiven nicht immer schlüssig beurteilt werden kann, weshalb an dieser Stelle auf eine Übernahme verzichtet wird. Weitere typologische Klärungen sind zu erwarten von den Beiträgen in Iuditha Balint/Janneke Eggert/Thomas Ernst (Hg.): Korrigieren. Eine Kulturtechnik, Boston, New York (i. E.); vgl. hierzu den Tagungsbericht von Moritz Ahrens: Korrigieren – eine Kulturtechnik. Digitalkonferenz des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund, der Universiteit van Amsterdam und der Universiteit Antwerpen, 19./20. November 2020, in: editio 35 (2021), S. 207-212.

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[…] im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n.«29 Der Druckfehler erfährt dergestalt eine Aufwertung zum Kulturindikator; er wird Bestandteil eines argumentativen Paradigmas, das davon überzeugen möchte, dass der Gegenwart Kultur nur mehr in Form philologischer Praktiken zugänglich ist und dass es diesen Zustand zu überwinden gilt. Nietzsches Wendung gegen den ›Alexandrinismus‹ im Dienste einer dionysischen Kulturauffassung reaktiviert dabei im gleichen Atemzug einen apollinischen Topos: platonische Schriftkritik.30 Um auch den zweiten Fall des Problemaufrisses zu diskutieren: Goethe verarbeitet das Problem ebenfalls literarisch, wenn er in einem Aphorismus der Maximen und Reflexionen ironisch bemerkt: »Ich denke immer, wenn ich einen Druckfehler sehe, es sei etwas Neues erfunden.«31 Spürbar wird hier eine Lakonie, die man als generalisiertes Stilmerkmal dem Alterswerk attestieren kann: Innovation entlarvt sich bisweilen als Insuffizienz. Wie bei Nietzsche wird der Druckfehler zum Motiv einer Kulturdiagnostik; pars pro toto dient er hier der Kritik am blinden Originalitätsglauben. Auf Druckdefizienz referiert das integrative Register demnach denotativ, um das Phänomen sodann konnotativ aufzuladen und metonymisch zu erweitern.

c)

Ludismus

Die Differenz des integrativen zum ludistischen Register lässt sich verdeutlichen, wenn man Goethes Zeitgenossen E.T.A. Hoffmann auf den zitierten Aphorismus aus den Maximen und Reflexionen antworten lässt: »Wahr ist es endlich, daß Autoren ihre kühnsten Gedanken, die außerordentlichsten Wendungen, oft ihren gütigen Setzern verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch so genannte Druckfehler.«32 Diese berühmte Bemerkung aus der Vorrede der Lebens-Ansichten des Katers Murr ist aber nicht in der Dimension des Widerspruchs interessant. Denn dann handelte es sich 29 30

31 32

Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik/Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus (Anm. 6), S. 116. Das liegt freilich ganz auf der Linie der Argumentation der Tragödien-Schrift, deren berühmter erster Satz sich auf »die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n« beruft (ebd., S. 25). Johann Wolfgang Goethe: Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (= Weimarer Ausgabe), Bd. 42, 2. Abth, Weimar 1907, S. 252. E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5: Lebensansichten des Katers Murr, Werke 1820-1821, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a.M. 1992, S. 12.

Fehlerkulturen

bloß um die Positivierung der Originalitätskritik Goethes. Vielmehr spricht die Forschung spätestens seit Hartmut Steineckes Kommentar in der DKVWerkausgabe von einer »Poetik des Druckfehlers«33 bei Hoffmann. Teil dieser Poetik ist eine Textproduktion, die Druckdefizienz nicht denotiert und dann konnotativ ins Kulturdiagnostische wendet, vielmehr werden die Druckfehler performativ in die Diegese des Textes integriert. Tatsächlich präsentiert Hoffmanns Vorrede zum Kater Murr im Originaldruck eine Errataliste, die in späteren Ausgaben des Textes häufiger gelöscht wurde, sich aber, bei genauerer Kenntnis des ästhetischen Kalküls, als Element einer Poetik zu lesen gibt, die sich auf die »Unentscheidbarkeit« zwischen »der fiktiven Welt des Romans« und »der Realität der vorliegenden Druckausgabe« kapriziert.34 Die Errataliste ist demnach konstitutiver Bestandteil der Herausgeberfiktion und mehr noch: Hoffmanns Bemerkung, nur die »Haupterrata« anzuzeigen, »geringere […] dagegen der Diskretion des gütigen Lesers [zu] überlassen«35 , erzeugt unter Rückgriff auf die bereits dokumentierte Figur der frühneuzeitlichen Leseranrede durch den Drucker, Verleger oder Herausgeber, hermeneutische Unsicherheit schon auf der Ebene des Textbefundes: »Die Druckfehler generieren buchstäblich neue Texte, indem tatsächliche Irrtümer aus dem Typographeum als Realitätsversatzstücke in den Fiktionsraum transponiert werden.«36 Wo aber genau die Grenze zwischen den Räumen verlaufen soll, das wird vom Autor strategisch verunklart. Hoffmann und andere, etwa Jean Paul, ein weiterer großer DruckfehlerPoet um 1800, fungieren als Verbindungsglieder zwischen den buchherstellerischen Praktiken der Frühen Neuzeit, die sie bereits keck poetisieren, und den literarischen Avantgarden der Moderne, die den hier exemplarisch ausgestellten Ludismus dankbar aufnehmen und mitunter auch weiter radikalisieren. Als Losung mag ein Vers aus Hans Arps Gedicht Der poussierte Gast dienen: »Das Imprimatur war verfrüht«37 – die Korrektur noch nicht abgeschlos33 34 35 36

37

Hartmut Steinecke: Stellenkommentar, in: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5 (Anm. 32), S. 994-1051, hier S. 997. Annette Gilbert: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle der literarischen Werkwerdung seit den 1950er Jahren, Paderborn 2018, S. 206. E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 5 (Anm. 32), S. 13. Magnus Wieland: Der Satz der Sätze. Praxis und Poesis des Schriftsetzers, in: Cornelia Ortlieb/Tobias Fuchs (Hg.): Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, Hannover 2017, S. 171-195, hier S. 183. Hans Arp: Der poussierte Gast [1920], in: Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Durchges. Ausg. hg. von Karl Riha, Stuttgart 2010, S. 95-99, hier S. 97.

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sen. Vielzitiert ist in diesem Zusammenhang Arps rückblickende, den Entstehungsprozess der dadaistischen Gedichte thematisierende Bemerkung, welche die defiziente Herstellung des Buches als legitimen Teil der Werkgenese ausflaggt: Ich schrieb diese Gedichte in einer schwer leserlichen Handschrift, damit der Drucker gezwungen werde, seine Phantasie spielen zu lassen und beim Entziffern meines Textes dichterisch mitzuwirken. Diese kollektive Arbeit glückte gut. Verbalhornungen [sic!], Zerformungen entstanden, die mich damals bewegten und ergriffen. Wie mancher mittelalterliche Kopist, sagte ich mir, hat durch Missverstehen oder durch unachtsames Abschreiben in seine Arbeit tiefsinnigen Geist gelegt.38 Rudolf Suter hat Arps ludistisches Kalkül mit dem Rigorismus parallelisiert, den er gegenüber den Setzern und Druckern bei der Gestaltung der Bücher hat walten lassen,39 was freilich keinen Widerspruch darstellt: So kontingenzaffin sich die Praxis der Einreichung eines unordentlich eingerichteten Manuskripts gibt, so exakt muss umgekehrt darauf geachtet werden, dass sich beim fertigen Buch alles an Ort und Stelle befindet. Solcher Ludismus ist stilprägend für die Avantgarden, aber nicht immer im Sinne Arps, der ja durchaus surrealistisch am Lapsus noch das Tiefsinnige und Unbewusste poetisch sublimieren will. Dieter Roth lehnt sich erkennbar an Arps Verfahren unfreiwilliger Indienstnahme der Setzer an, wenn er seinen Gedichtband Scheisse. Neue Gedichte (1966), in dem »gehäuft[] Satzfehler« auftreten, von »Studenten setzen ließ, die kein Deutsch konnten.« Dabei geht es Roth, Johannes Ullmaier zufolge, »bloß um das Fehlerhafte selbst« und zwar mit einem »mitfühlenden Zug: Daß da etwas ist, was nach jeglichem Ermessen weg muß, kein Argument für sich hat, keine Chance – und eben darum läßt man’s stehen.« Hier wird der Ludismus um eine ästhetische Haltung ergänzt, die sich mit glücklicher Formulierung als »dinglich-semiotische Barmherzigkeit« beschreiben lässt.40

38 39 40

Hans Arp: wortträume und schwarze sterne. auswahl aus den gedichten der jahre 19111952, Wiesbaden 1953, S. 7. Vgl. Rudolf Suter: Hans Arp. Weltbild und Kunstauffassung im Spätwerk, Berlin u.a. 2007, S. 289f. Johannes Ullmaier: Scheisse ohne Ende. Über eine Bücherserie von Dieter Roth, in: Uwe Lohrer/Ingo Borges (Hg.): Dieter Roth – Souvenirs. Vorträge, Filme und Gesprächsrunden mit Wissenschaftlern, Freunden und ehemaligen Mitarbeitern des Künstlers an-

Fehlerkulturen

Das ludistische Register referiert demnach auf Druckdefizienz, indem es performativ ästhetische Szenarien der Unentscheidbarkeit kreiert. Die Fehlerhaftigkeit des Textes wird in Kauf genommen und dann ins poetische Kalkül re-integriert. Dieses Kalkül kann sich bis hin zu einer ›Andacht zum Unbedeutenden‹ steigern und den Druckfehler ins Zentrum einer regelrechten Kontingenzbewunderung stellen.

d)

Transzendierung

Das ludistische Register wird nun aber von philosophischen und literaturtheoretischen Überlegungen noch einmal radikalisiert, die das Konzept einer »Schrift vor dem Buchstaben«41 instantiiert haben und der Literatur eine grundsätzliche »Unlesbarkeit«42 attestieren. Die Rede ist von der Dekonstruktion im Sinne Jacques Derridas und Paul de Mans. Der Fehler ist dabei zunächst einmal in berühmt-berüchtigter Weise als »grobe[r] orthographische[r] Fehler« präsent (oder gerade: nicht-präsent), nämlich als »a an der Stelle des e.«43 Als solcher ist er also kein Druckfehler, das wäre er nur, wenn ein Korrektor sich am restriktiven Register orientiert, die »différance« zur »différence« verbessert und die gängige französische Orthographie zur Norm erklärt hätte. Damit wäre er bereits eingestiegen ins ernste »Spiel«44 , das Derridas Überlegungen sein wollen, denn die différance bewahrt ja durchaus semantische Aspekte der différence, und geht dennoch nicht in ihr auf. ›Die Schrift vor dem Buchstaben‹, das ist demnach eine grundsätzliche medientheoretische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Speicherung und Archivierung von Kultur, die für ihre Argumentation der Buchstaben(manipulation) bedarf. Aber was wäre, wenn die auktoriale und durchweg souveräne Geste der Buchstabenkontrolle, die Derrida etwa auch in buchher-

41 42 43 44

lässlich der Tagung der Dieter Roth Akademie in Stuttgart am 14. und 15. November 2009, Stuttgart 2011, S. 71-143, hier S. 92. Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 9. Werner Hamacher: Unlesbarkeit, in: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. von W. H./Peter Krumme, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-26. Jacques Derrida: Die différance, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte, hg. von Peter Engelmann, Stuttgart 2004, S. 110-149, hier S. 110f. Ebd., S. 110.

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stellerischer Sicht im Fall von Glas (1974) hat walten lassen,45 irritiert würde durch Druckdefizienz? Orientieren wir uns also am emphatischen Begriff der Lektüre Derridas und Paul de Mans, lesen wir mikrologisch genau, detailversessen und schlagen auf: Glas, S. 177-179. Während die linke Spalte Auszüge aus Hegels Briefen an Nanette Endel und seine Verlobte und spätere Ehefrau Marie von Tucher zu lesen gibt, kapriziert sich die rechte Spalte auf eine Reflexion von Phonemclustern in Edgar Allan Poes Gedicht The Bells. Dabei handelt es sich just um jenes Cluster, dass der Titel des Buches aufruft, nämlich: »Konsonant + L.«46 Für Derrida ist es deshalb von einiger Bedeutung, weil er beobachtet, dass sich das Cluster, das eben in »glas«, der »Totenglocke«, zu finden ist, die wiederum einen prominenten Status in einigen Gedichten Stéphane Mallarmés einnimmt, auch in der Prosaübersetzung erhalten hat, die Mallarmé von Poes Gedicht anfertigte (Les Cloches). Dergestalt dominieren im Text von Poe und seinen Übersetzungen »relationale rhythmische Strukturen ohne irgendeinen invarianten Inhalt, ohne irgendein letztes Element.«47 Diese Deutung bringt Derrida nun gegen Überlegungen des Linguisten und Psychoanalytikers Ivan Fónagy in Stellung, der von »Triebgrundlagen der Lautbildung«48 und dergestalt von einer Essenz des phonetischen Ausdrucks ausgeht. Für Poes und Mallarmés Text stellt Derrida nun zwar in der Tat »den Anschein eines einfachen Kerns« fest, »um den sich alles zu agglomerieren scheint: gl, cl, kl, tl, fl«, aber nur, um gleich erneut daran zu erinnern, dass es keinen »absoluten Kern« und kein »absolutes Zentrum gibt, denn der Rhythmus ist nicht nur mit den Wörtern verbunden und vor allem nicht mit der Nähe des Kontakts zwischen zwei Buchstaben.«49 Dass Fónagy das genannte Phonemcluster in einigen Übersetzungen von Poes The Bells entgeht und dies »selbst in derjenigen«, in der es prominent auftaucht (nämlich »der deutschen«50 ), möchte Derrida seinen 45 46 47 48

49 50

Vgl. Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie. Übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a.M. 2013, S. 374f. Jacques Derrida: Glas. Übers. von Hans-Dieter Gondek/Markus Sedlaczek, München 2006, S. 176b. Ebd. So lautet Gondeks und Sedlaczeks Übersetzung (ebd., S. 178b) eines Aufsatztitels aus der Feder von Ivan Fónagy: Les bases pulsionelles de la phonation: Les sons, in: Revue française de Psychanalyse 34 (1970), S. 101-136; der Text wird von Derrida in dem Zusammenhang mehrfach ablehnend zitiert. Derrida: Glas (Anm. 46), S. 176b. Ebd.

Fehlerkulturen

Leser*innen mit einem Fónagy-Zitat plausibel machen, das hier wiederum gemäß der französischen Originalausgabe von Glas zitiert werden muss: Le principal objet de la traduction en prose est de traduire, par un simple mouvement de translation, le message de la langue originale vers la langue visée, en substituant à la forme a, empruntée à la langue de depart, une forme b empruntée à la langue de arrivée. […] C’est le contraire qui se passe, lorsque le traducteur s’attaque à la poésie. Ici, il retient et transpose certains traits de la forme a pour les reproduire dans la mesure du possible à l’arrivée, dans la forme b. Le tintement argentin des cloches dans l’air glacé de la nuit, dans le poème d’Edgar Allan Poe, se retrouve exprimé dans les traductions hongroise, allemande et italienne du poème, par la predominance des sons i, et les enchaînements des nasales:                                        ng, nk, nt, nd. How they tinkle, tinkle, tinkle In the icy air of night Halld, mind, pendül, kondul, csendül…                                                   (Mihály Babits) Wie sir [sic!] klingen, klingen, klingen Zwinkernd sich zum Reigen schlingen…                                                                  (Th. Etzel) Come tintinnano, tintinnano, tintinnano Di una cristallina delizia                                                (Frederico Olivero)51 Was tut der Druckfehler, ausgerechnet in der deutschen Übersetzung, die ja Derridas favorisiertes Phonemcluster enthält; was bewirkt er innerhalb einer Lektüre, die als Collage von Zitaten funktionieren muss, die immer wieder kommentierend gewendet werden? »Nehmen Sie einmal an«, so hat der Autor ein paar Seiten zuvor seine Leser*innen adressiert, »Sie würden, ohne es zu wissen, seit langem, für lange Zeit, hier und anderswo, nichts anderes tun, als es zu dechiffrieren, dieses ›Gedicht‹, Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe, Wort für Wort, Vers für Vers, in allen Bedeutungen/Richtungen (sens) […].

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Jacques Derrida: Glas, Paris 1974 (ND 2004), S. 178b–179b. Es handelt sich bei der Passage um ein Zitat aus Ivan Fónagy: Le langage poétique: forme et fonction, in: Diogène 51 (1965), S. 72-116, hier S. 77. Die Poe-Übersetzung von Etzel ist dort annährend korrekt wiedergegeben; »sie« steht statt »sir«.

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Was würde das geben?«52 Auch wenn sich die Passage auf Mallarmés Aumône bezieht, wird in ihr doch das Moment einer generellen Aufforderung zu insistierender Lektüre spürbar, die akribisch jeden Buchstaben zu wägen hätte. Was würde das geben, gingen wir mit Derridas Drucktext, der den Drucktext eines anderen entstellt hat, in der genannten Weise um? – Es mag auffallen, dass »sir« im vorliegenden Fall durchaus das Argument Derridas zu stützen scheint, indem es gegen Fónagys Konzentration auf den »i«-Laut gerichtet ist, der die alliterierende Ergänzung wäre zum vorausgehenden »Wie«, wo der Laut zudem auch kursiv markiert ist. Es hätte dementsprechend stehen müssen: »sie«. Indem dem korrumpierten Wort die Markierung vorenthalten und indem es als Wort zerstört wird, steigert sich der Druckfehler zum Index, der auf den für Derrida abseitigen Aspekt der deutschen Übersetzung verweist (den »i«-Laut), indem er damit gleichzeitig den für Derrida zentralen Aspekt in Erinnerung ruft, nämlich die Beibehaltung des »kl«-Lauts im Original und seinen Übersetzungen. Der Druckfehler stellt sich dergestalt in den Dienst der Argumentation Derridas, indem er die gegen Fónagy geführte Polemik performativ auf jener Textoberfläche austrägt, deren Struktur Derrida an den Texten Poes und Mallarmés interessiert. Er tut dem zitierten Text Gewalt an im Sinne der zitierenden Instanz. Andererseits: Imitieren wir die Geste des Drucktextes und zitieren den zitierten Text an der korrumpierten Stelle erneut korrumpierend, dann mag das potentiell dazu führen, dass Fónagys Text korrekt zitiert wird. Man kann sich überdies in Erinnerung rufen, dass jedes Zeichen, Derrida zufolge, dadurch definiert ist, dass es zitierbar, iterierbar und als Wiederholtes mit sich selbst identisch und zugleich nicht-identisch ist.53 Man wird also auch hier zu dem Schluss gelangen, dass die druckfehlerbehaftete Zitation einer Übersetzung eines Gedichtes in einem wissenschaftlichen Aufsatz, also ein Zitat auf vierter Stufe (Derrida(Fónagy(Etzel(Poe)))), letztlich nur die These der Iterabilität des Zeichens stabilisiert, indem sie die Leser*in dazu herausfordert, sich auf fünfter Stufe als Korrektor*in zu betätigen. Solcherart wäre der Druckfehler der Dekonstruktion Element einer Stra-

52 53

Derrida: Glas (Anm. 46), S. 168b. Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte (Anm. 43), S. 68-109. Vgl. für eine grundsätzliche, grammatologische Perspektive auf die Möglichkeit der Entscheidbarkeit linguistischer Performanzfehler und der These einer »Kultur als zitierter Fehler« David Martyn: »«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart, Weimar 2002, S. 397–419, besonders S. 412–418.

Fehlerkulturen

tegie der Transzendierung des Problems: Die Schrift vor dem Buchstaben hat die mögliche Defizienz ihrer medientechnischen Instantiierung immer schon eingepreist. Und doch könnte man bemerken, dass diese ›Rettung‹, wenn es denn eine ist, den Eindruck einer intellektuellen Gewalttat, und sei sie auch zufällig zustande gekommen, nicht vollständig egalisiert. Das hängt mit dem hohen philologischen Einsatz zusammen, den Derridas Texte auf diskursiver Ebene stets erneuern, wenn sie Aufmerksamkeit für die buchstäblichen Details einfordern, indem sie sich selbst als hochgradig aufmerksam inszenieren. Und Paul de Man? – Einflussreich ist in Deutschland eine Übersetzung eines Teiles der Allegories of Reading, die Werner Hamacher und Peter Krumme angefertigt haben; Hamachers Vorwort, das mit dem Konzept der Unlesbarkeit jene aporetische Struktur aufruft, die sich in jeder Lektüre entfalten können soll, hebt ab auf den Widerstreit zwischen Bedeutungsebenen, Oppositionen, die als Rhetorik und Grammatik, Innen und Außen des Textes, Metapher und Metonymie nicht erschöpfend zu bezeichnen wären. Paul de Mans epochemachender Aufsatz Semiology and Rhetoric, der 1979 zuerst erschienen war, liegt im Band Allegorien des Lesens in deutscher Übersetzung von Hamacher vor. Was die Lektüre literarischer Texte verunmöglicht ist de Man zufolge eine intrikate und nicht zu kontrollierende Verstrickung der rhetorischen und der grammatisch-logischen Dimension der Sprache, die letztlich dazu führt, dass Form/Inhalt-, Innen/Außen-Schematismen und mit ihnen Referenzialisierungsversuche unterlaufen werden. Berühmt geworden ist seine exemplarische Analyse einer Passage aus Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, die auf grammatisch-logischer Ebene die ästhetische Überlegenheit der Metapher über die Metonymie behauptet, diese Aussage aber rhetorisch mithilfe von Kontiguitätsbeziehungen, mithin metonymisch, generiert. Den Interpreten, der nachvollziehen möchte, welche Lesart zu bevorzugen wäre, soll dieser Befund ratlos zurücklassen. Die Differenz zwischen Literatur und Literaturwissenschaft ist für de Man denn auch nur mehr: »Trug«54 . Mit welchen Strategien stellt nun de Mans Text, der ja der Selbstaussage zufolge so literaturwissenschaftlich wie literarisch ist, seine Unlesbarkeit her? Auf Seite 43 der ersten Auflage von 1988 findet sich die einleitende Reflexion zur ProustInterpretation. Hier wird der Gedanke formuliert, dass sich auf Bedeutung fixiertes Lesen im Text selbst als Lektüre wiederfindet – es handelt sich also 54

Paul de Man: Semiologie und Rhetorik, in: ders.: Allegorien des Lesens (Anm. 42), S. 3151, hier S. 50.

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mit Blick auf den Titel der Aufsatzsammlung, Allegorien des Lesens, um eine Schlüsselstelle: Lesend gelangen wir, wie wir sagen, in einen Text hinein, der uns zunächst fremd gegenüberstand und den wir uns nun durch einen Akt des Verstehens aneignen. Doch dieses Verstehen wird sogleich zur Repräsentation einer außersprachlichen Bedeutung […]. Unsere Frage lautet […] in diesem Falle […], ob diese Verwandlung semantisch von grammatikalischen oder rhetorischen Prinzipien kontrolliert wird. Vereinigt die Metapher des Lebens tatsächlich äußere Bedeutung mit innerem Verstehen, Handlung mit Reflexion zu einer geschlossenen Totalität?55 Inwiefern kann die ›Metapher des Lebens‹ Gegenstand literaturtheoretischer Überlegungen sein, die die Möglichkeit referenzieller Bedeutungsgebung in literarischen Texten wie ihre Beschreibung vonseiten der Literaturwissenschaft zu irritieren versuchen? Das ist ad hoc nicht leicht einzusehen. Helfen könnte der Sprung in einen anderen Text des Bandes, der die ProustLektüre weiter entfaltet: Lesen (Proust), übersetzt von Peter Krumme. Immerhin setzt er direkt zu Beginn des zweiten Absatzes ein mit der Frage: »Was hat uns À la recherche du temps perdu über das Leben zu sagen?« Um dann gleich aufs Interesse für Lektüren umzuschwenken: »Ich will die Frage auf wortwörtliche und wirklich naive Weise angehen, indem ich einen Abschnitt lese, der uns Marcel beim Lesen eines Romans zeigt.«56 Das hat seine Konsequenz, denn Prousts Roman, der eine grundlegende Reflexion ist auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erinnerung und der schreibenden Vergegenwärtigung des Lebens, kreuzt Leben und Lektüre an mehr als einer Stelle. De Man wird seine Interpretation denn auch auf die Beobachtung zulaufen lassen, dass Prousts notorische Formulierung »plus tard, j’ai compris« (»später erst habe ich begriffen«) nicht auf die »Konvergenz des Erzählers Marcel mit dem Autor Proust« verweist, sondern immer nur der fromme Wunsch einer »unleserlichen Figur«57 bleibt, dessen Erfüllung sich für immer aufschiebt: »Als Schriftsteller ist Proust jemand, der weiß, daß die Stunde der Wahrheit, gleich der Stunde des Todes, niemals rechtzeitig eintritt, da das, was wir Zeit

55 56 57

Ebd., S. 43. Hvh. i. Orig. Paul de Man: Lesen (Proust), in: ders.: Allegorien des Lesens (Anm. 42), S. 91-117, hier S. 91. Ebd., S. 111f.

Fehlerkulturen

nennen, eben im Unvermögen der Wahrheit besteht, mit sich selbst übereinzustimmen.«58 Das ist einigermaßen enigmatisch formuliert, erlaubt aber immerhin die Beobachtung, dass de Mans Text, nachdem er mit dem Leben einsetzte, mit dem Tod endet. Die Formulierung ist de Mans Absage an die Möglichkeit, Bedeutung zu fixieren; eine These, die Prousts Text selber ausstellt, indem er in seinen Lektüreszenen demonstriert, dass eine allegorische Lektüre stets vom Lesen selbst wegführt. Das Lesen zu lesen bedeutet demnach immer, das Lesen zu verfehlen: »Die Allegorie des Lesens erzählt von der Unmöglichkeit des Lesens. Aber diese Unmöglichkeit erstreckt sich notwendigerweise auch auf das Wort ›Lesen‹, das so seiner referentiellen Bedeutung überhaupt beraubt ist […]. [D]as Wort selber […] wird niemals klar werden, denn Prousts eigener Erklärung zufolge ist es für immer unmöglich, LESEN zu lesen.«59 Wenn schon das Lesen unlesbar ist, dann ist, so wäre zu extrapolieren, das Leben wohl erst recht unlesbar und – »Fliehen der Bedeutung«60  – wohl auch unlebbar? Später erst haben wir begriffen, dass sich diese Aussage de Man in dieser Form nicht zuschreiben lässt. Die Originalfassung der Aufsätze macht unmissverständlich klar, dass wir hätten zitieren müssen »Metapher des Lebens [sic!]« und »Was hat uns À la recherche du temps perdu über das Leben [sic!] zu sagen?« Beide Male, sowohl in der Übersetzung Hamachers, als auch in derjenigen Krummes, wäre »reading« zu übersetzen gewesen.61 Es ist davon auszugehen, dass auch entsprechend übersetzt, aber nicht korrigiert wurde. Die Unlesbarkeit der Literaturwissenschaft, die auch Literatur ist, kommt also mitunter einfach durch Druckdefizienz zustande. Sie macht wortwörtlich und grundsätzlich LESEN bisweilen unlesbar, weil es nur als LEBEN zu entziffern ist. Das hat seine Rationalität. Für Prousts Erzähler flieht die Bedeutung wie die Zeit, auf deren Suche man sich begeben muss. Und für die Literaturwissenschaft ist die Konvergenz von Leben und Lektüre ohnehin evident.

58 59 60 61

Ebd., S. 112. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Vgl. Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven/London 1979, S. 13 u. S. 57.

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3.

[Sic!] – na und?

Gegen Ende der Diskussion jener Fehlerkulturen, die die Epoche des Drucktextes begleiten, sind wir eingestiegen in ein Spiel, das Christof Windgätter unter Rekurs auf Überlegungen Michel Serres’ als »Wettstreit der Unhintergehbarkeit«62 bezeichnet hat. Das Grimmsche Märchen illustriert ihn als Rennen zwischen Hase und Igel. »Ich bin schon da«, schreien Igelmann und Igelfrau im Wechsel – bis der Hase vor Erschöpfung zusammenbricht. Nikolaus Wegmann hat das Märchen auf das Verhältnis von Philologie und Theorie bezogen,63 es eignet sich gleichfalls zur Diskussion der Friktionen zwischen linguistischem und bibliographischem Code.64 Die Dekonstruktion amplifiziert den linguistischen Code, sodass er den bibliographischen Code miteinbegreift; die Historiker*innen des bibliographischen Codes erinnern daran, dass es materielle und buchherstellerische Ressourcen sind, die allererst die Sichtbarkeit einer Theorie garantieren, die sich sogleich an deren Ausbeutung macht – und die Dekonstruktion freut sich wiederum über diesen dekonstruktiven Gestus. Sie wird dann irgendwann im Laufe des Spiels die Bibliograph*innen wiederum daran erinnern, dass die bibliographischen Beobachtungen nur möglich sind auf der Grundlage von Normen, auf deren Arbitrarität die Dekonstruktion dann in einem korrigierten Drucktext hinweist etc. Man wird aber auch die Historiker*innen und Theoretiker*innen des bibliographischen Codes selbst fragen können, wie sie mit der Möglichkeit der Beobachtung der Defizienzanfälligkeit des Buchdrucks umgehen und umgegangen sind. Es soll ja mehr herausspringen als eine Kulturgeschichte der Pedanterie und deren Affirmation. Wie lässt sich der Befund, der hier tentativ in Form einer Typologie präsentiert wurde, abgleichen mit medienhistorischen Großerzählungen? Es kann auffallen, dass die Praktiken und Epistemologien, die sich als Umgangsweisen mit Druckdefizienz herausgebildet haben, ihrerseits die in 62

63 64

Christof Windgätter: Vom ›Blattwerk der Signifikanz‹ oder: Auf dem Weg zu einer Epistemologie der Buchgestaltung, in: ders. (Hg.): Wissen im Druck. Zur Epistemologie der Buchgestaltung, Wiesbaden 2010, S. 6-50, hier S. 9. Vgl. Nikolaus Wegmann: Philology – An Update, in: Hannes Bajohr u.a. (Hg.): The Future of Philology, Newcastle upon Tyne 2014, S. 24-43, hier S. 26. Unterscheidung nach Jerome J. McGann: The Textual Condition, Princeton 1991. Zur Applikation der Unterscheidung auf das Verhältnis von Buchform und Dekonstruktion vgl. auch Windgätter: Vom ›Blattwerk der Signifikanz‹ (Anm. 62), S. 9f.

Fehlerkulturen

den Großtheorien McLuhans, Eisensteins und Gieseckes anzutreffende Generalthese, dass der Buchdruck Prozesse der sprachlichen, sensuellen und kognitiven Standardisierung inauguriert hat, ex negativo stützen.65 Denn erst vor dem Hintergrund rudimentärer Standards, die potentieller Korrektur zur Orientierung dienen können, wird Aberration auffällig. Systemtheoretisch formuliert: »Irritationen ergeben sich aus einem internen Vergleich von (zunächst unspezifizierten) Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit etablierten Strukturen, mit Erwartungen.«66 Und die präsentierten Praktiken und Epistemologien lassen sich als Kommunikation von Erwartungen wie deren gezielter Enttäuschung interpretieren. Im Idiom der zitierten, medienhistoriographisch affinen Supertheorie, die etwa auch dem Buchdruck einiges an Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, ist nun die »Sensibilisierung […] für Störungen« selbst eine der »wichtigsten Leistungen der Kommunikation.« Was weiß die Systemtheorie über die Handhabe von Störungen und was weiß sie über den Druckfehler?67 Mit Hilfe von Kommunikation ist es möglich, Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich zu machen. ›Verständlich‹ heißt dabei nicht, daß man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern könnte. Das leistet die Kommunikation nicht ohne weiteres. Entscheidend ist, daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen werden und damit weiterbehandelt werden können. Man kann dann unterscheiden, ob die Störungen im Kommunikationsprozeß selbst auftreten, zum Beispiel als Druckfehler (der Begriff gibt Sinnlosem Sinn, man kann Druckfehler erkennen und beseitigen); oder ob sie in den Themen und

65

66 67

Vgl. pars pro toto Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man [1962], Toronto u.a. 2011; Elizabeth L. Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe. 2 Bde., Cambridge 1979 und Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien [1991], 4. durchges. Aufl., Frankfurt a.M. 2006. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Teilbd. 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 118. Vgl. grundsätzlich, ausgehend vom organisationssoziologisch argumentierenden, ›frühen‹ Luhmann Maren Lehmann: Das Fehlerproblem, in: Timon Beyes/Wolfgang Hagen/Claus Pias/Martin Warnke (Hg.): Niklas Luhmann am OVG Lüneburg. Zur Entstehung der Systemtheorie, Berlin 2021, S. 59-78.

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Beiträgen der Kommunikation zu suchen sind, so daß man sie nicht einfach technisch korrigieren kann, sondern ihre Gründe ermitteln muß.68 Diese Beobachtungen verdienen kritische Beachtung, kann doch das in der vorliegenden Darstellung präsentierte Material als Beleg dafür herhalten, dass die Unterscheidung zwischen einer Störung des Prozesses und einer Störung der Themen der Kommunikation so leicht nicht zu treffen ist, wie Luhmann das gerne hätte (Lesen/Leben). Im Hendiadyoin ›erkennen und beseitigen‹ liegt eine ganze Literatur der Praktiken und Epistemologien beschlossen, die auf den defizienten Drucktext reagieren und die so tatsächlich, mit Luhmann gesprochen, die Störung in die Form von Sinn zwingen. Es ist aber, wie gesehen, – gegen Luhmann gesprochen – keineswegs so, dass der Buchdruck selbst schon eine Technologie wäre, die Störungen beseitigt, indem etwa konstatiert werden könnte, dass die »Druckpresse […] die typischen Hör- und Schreibfehler [vermeidet], die beim Diktieren entstehen.«69 Tatsächlich steigert sich die Intensität der Störungen durch die erhöhten Distributionsmöglichkeiten des Buchdrucks; und überdies gesellen sich an die Seite der Hör- und Schreibfehler die Druckfehler. Die permanent mitlaufende Möglichkeit der Störung macht nun auch das »Lesen« gerade nicht zu »einer Technologie der Minimotorik des Wahrnehmens, die nicht ständig durch Entscheidungen unterbrochen wird.«70 Im Gegenteil bleibt die Möglichkeit des Lesens von Drucktexten unentwegt an die Möglichkeit gekoppelt, dass die Lektüre durch Druckfehler verunmöglicht wird. Gerade die fehlende Unterbrechung durch eine Entscheidung über den Status des Drucktextes kann die Lektüre scheitern lassen. Es empfiehlt sich dann für einen Anschluss der historiographischen Befunde zur Druckdefizienz an die wirkmächtige medienhistorische Erzählung der Systemtheorie dem Vorschlag Folge zu leisten, Drucktexten generell die Irritation von Wahrnehmung qua Fokussierung auf ihr Medium als eine zentrale Funktion zuzuschreiben.71 In einer Perspektive der longue durée würde Druckdefizienz dann einzupassen sein in ein Narrativ, dessen Fluchtpunkt die moderne Literatur bleibt, denn hier erst scheint »die Möglichkeit« gegeben, »den Blick auf die 68 69 70 71

Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 237. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 66), S. 293. Ebd. Vgl. Torsten Hahn: Drucksache. Medium und Funktion der Literatur, in: LiLi 49 (2019), S. 435-449, hier S. 442-449.

Fehlerkulturen

Formseite zu ziehen und durch Form, also Selbstreferenz, die das Medium hervorhebt, zu faszinieren.«72 Das könnte geschehen, indem man sich an die Vorschule dieser Faszination erinnert, welche die Beobachter*innen des Druckes und seiner Unwägbarkeiten seit den frühen Tagen des Buchdrucks instantiiert und ungebrochen aufrecht erhalten haben. Die Register des Umgangs, jene Fehlerkulturen, die vorliegend beschrieben wurden, Matthias Schürers »Argus«, Goethes und Nietzsches Forderungen nach gesteigerter Vigilanz, Derridas Buchstäblichkeitsemphasen und andere Haltungen, können zur These verleiten, dass es der Druckfehler ist, der, lange bereits vor den Sterne’schen und romantischen Bucheskapaden, lange bereits vor den Experimenten der Avantgarden – und lange danach, schon und noch jene Aufmerksamkeit schult, die als Bedingung der Möglichkeit einer Faszination durch den Druck fungiert.

72

Ebd., S. 442.

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Unsichtbarkeit, Unlesbarkeit oder: Wann ist ein Buch ein Buch? Manuela Günter Die Geschichte der Litteratur hat eine materielle Seite, die man wahrlich nicht ignoriren darf, wenn man sie richtig verstehen will. (Julian Schmidt, 1876)1

I. Nicht erst im Zeitalter des Digitalen richtet sich der Blick auf das Medium Buch und seine Materialität, die bis in die jüngere Vergangenheit die unhinterfragte und somit weitgehend unbeobachtete Voraussetzung der Literaturwissenschaften darstellte. Die Rücksicht auf die materielle Seite der Literatur, ihre Buchförmigkeit, ist, das wird schon bei Julian Schmidt ganz klar, nicht nur für buchwissenschaftliche und -geschichtliche Fragestellungen bedeutsam, sondern, so die Grundidee dieses Bandes, auch und gerade für das literaturwissenschaftliche Verstehen selbst. Diesen Zusammenhang von Literatur und ihrer materiellen Gestalt hat Paul Valéry als einer der ersten analysiert: Neben der Lektüre selber und unabhängig von ihr gibt es noch den bleibenden Gesamtaspekt alles Geschriebenen und Gedruckten. Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Ganzes oder ein Gefüge von größeren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen, einen Fleck von mehr oder minder glücklicher Gestalt und

1

Zit. n. Birgit Sippell-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9.11.1867 auf die Editionen deutscher ›Klassiker‹, in: AGB XIV (1974), Sp. 349-416, hier: Sp. 351.

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Überzeugungskraft. Diese zweite Art zu sehen, nicht mehr sukzessiv und linear fortschreitend wie bei der Lektüre, sondern als eine Zusammenschau auf den ersten Blick, gestattet uns, die Typographie in die Nähe der Architektur zu rücken […].2 Sehen und Lesen, Wahrnehmung und Kommunikation, die Valéry noch als zwei sich ausschließende Tugenden des Buches beschreibt, erscheinen in der Sicht des neueren Forschungsparadigmas einer material philology in einem engen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Ihr Gegenstand ist zuerst und vor allem das Buch im emphatischen Sinne, das in der Lage ist, ein ›Werk‹ durch die Zeiten zu überliefern, und das zur Erfüllung dieses Zwecks nicht nur einen ›schönen‹ Buchkörper aufweisen muss, sondern auch interessante Entstehungs- und Überlieferungsgeschichten sowie makellose Textkörper, bspw. in Bezug auf die historische Orthografie, der in peniblen editionsphilologischen Rekonstruktionen Rechnung getragen wird, welche wiederum eine Art »Präjudiz« für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung darstellen.3 Anschlussfähige Lektüren sind auf zitierfähige Texte angewiesen; erst eine gesicherte Textgestalt wiederum lohnt einen besonderen buchgestalterischen Aufwand, was sich in den letzten Jahren in einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Materialität kanonisierter Autorenœuvres niedergeschlagen hat. Umgekehrt ist die Verweigerung einer entsprechenden Textgestalt und Buch-Form Präjudiz für die fortwährende Abwertung bzw. literaturwissenschaftliche Ignoranz gegenüber der Literatur von Autorinnen, die von dieser Aufmerksamkeit traditionell ausgeschlossen war. Die Frage nach der Form des Buches ist also nicht nur in Bezug auf die ästhetische Gestalt des Textes relevant, sondern zeitigt auch weitreichende institutionelle, werk- und wissenschaftspolitische 2

3

»Diese beiden Einstellungen des Blickes sind unabhängig voneinander. Der gesehene Text, der gelesene Text sind durchaus zweierlei, weil die Aufmerksamkeit, die man dem einen widmet, jene auf den anderen ausschließt.« (Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467-471, hier: S. 467f.) Rüdiger Nutt-Kofoth: Leitlinien der editorischen Textkonstitution zwischen Autorkonzept und Textbegriff. In: Philip Ajouri/Ursula Kundert/Carsten Rohde (Hg.): Rahmungen. Präsentationsformen und Kanoneffekte, Berlin 2017, S. 189-198, hier: S. 195; vgl. dazu auch: Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung, in: editio 22 (2008), S. 22-46; Wolfgang Lukas/Rüdiger Nutt-Kofoth/Madleen Podewski (Hg.): Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation, Berlin/Boston 2014 (= Beihefte zu editio, Bd. 37).

Unsichtbarkeit, Unlesbarkeit oder: Wann ist ein Buch ein Buch?

Folgen, insofern auch das neue Paradigma der Buchphilologie Gefahr läuft, innerhalb der Logiken des längst verstaubten und immer noch so wirkmächtigen Kanons stecken zu bleiben. Wenn Niklas Luhmanns Annahme stimmt, dass Kunst-Literatur die Trennung von Wahrnehmung und Kommunikation überwindet bzw. die »Kommunikation in das Wahrnehmbare« verlagert,4 insofern ihre Buchform immer zugleich und in derselben Hinsicht den Text und das gedruckte Artefakt offenbart, dann stellt sich vor allem für die Literatur von Autorinnen die Frage, welche Rückschlüsse aus mangelnder editorischer und buchgestalterischer Sorgfalt in Bezug auf deren Texte für die Buchphilologie zu ziehen sind. Denn neben der wissenschaftlichen und publizistischen Aufmerksamkeit für die Buchgestalt zeigt sich im digitalen Zeitalter noch eine andere Seite der Buchkultur. Während das Hörbuch oder das E-Book eine grundsätzliche Transformation in audiovisuelle Wahrnehmungsdimensionen vollziehen, die die spezifischen Affordanzen des Buchs überschreiten,5 wird die materiale Buchform in der sich rasant ausbreitenden Produktions- wie Distributionspraxis des Print on Demand auf ein absolutes Minimum reduziert. Mittels OCR-Verfahren werden von gemeinfreien Ausgaben digitalisierte Druckvorlagen als PDF-Dateien erstellt, die dann auf Anfrage, meist broschiert, gedruckt werden. Da diese Entwicklung die aufwändigen und teuren Betriebsabläufe der traditionellen Literaturverlage wie auch deren gatekeeper-Position grundsätzlich infrage stellt, sprach Wolfram Göbel 2008 sogar von einer »Revolution auf dem Buchmarkt«,6 die mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern verglichen werden könne. Bücher blieben grundsätzlich als Bücher für alle Zeit lieferbar, Ressourcen würden geschont und Kosten eingespart. Als Rückseite dieser Revolution beschrieb Göbel aber zugleich die Gefahr, die von dem neuen Verfahren ausgeht, als Verlust der Zitierfähigkeit: 4 5

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Niklas Luhmann: Autonomie der Kunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 416-427, hier S. 420. Zum Begriff der Affordanz vgl. z.B. Matthias Bickenbach: Die Form des Buches. Oder warum das absolute Buch bei Novalis Seiten hat. In: Torsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 139-163. Wolfram Göbel: Die Veränderung literarischer Kanones durch Books on Demand, in: Matthias Beilein/Claudia Stockinger/Simone Winko (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, Berlin/Boston 2012, S. 225-235, hier S. 226.

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So bahnbrechend neu die Möglichkeit ist, vergriffene Texte […] wieder verfügbar zu machen, so eindeutig löst sich die durch den Druck fixierte Textgestalt und die über Jahrhunderte garantierte Sicherheit auf, einen Text unter Angabe der Quelle identifizierbar zu machen. Das so gedruckte Buch nähert sich als Quelle der flüchtigen Website.7 Grundsätzlich drucken Book on Demand-Verlage alles, was Umsatz verspricht. Da sie aber mit den Taschenbuchausgaben der etablierten Verlage in der Regel nicht konkurrieren können, wenden sie sich Bereichen zu, von denen sich jene abgewandt oder für die sie sich nie interessiert haben: allen voran das, was immer noch häufig ›Frauenliteratur‹ genannt wird. Tatsächlich ist es besonders auffällig, wie viele dieser neuen Verlage dezidiert auf Literatur mit weiblicher Signatur setzen, die von der Literaturgeschichtsschreibung marginalisiert bzw. vergessen wurde. Ich verwende im Folgenden den Begriff ›Frauenliteratur‹ und meine damit hier auch die Literatur mit weiblicher Signatur um 1900, die in den literaturwissenschaftlichen Forschungen zur Moderne keine nennenswerten Spuren hinterlassen hat und die deshalb bis heute vorwiegend biographisch, als sozialgeschichtliche Quelle weiblicher Lebenspraxis oder als Unterhaltung rezipiert wird.8 Ich werde zunächst den Zusammenhang zwischen Kanonisierungslogik und Buchgestaltung im 18. und 19. Jahrhundert vor allem auch in Bezug auf die Konkurrenz des Taschenbuchs perspektivieren und das Problem der Geschlechterdifferenz im Rahmen des Forschungsparadigmas einer material philology dann an einem Roman Franziska zu Reventlows entwickeln. Aufgrund der rasanten Entwicklungen auf diesem Markt, in dem in kürzesten Abständen Ausgaben verschwinden und neue auftauchen, kann es sich bei den folgenden Ausführungen freilich nur um eine Momentaufnahme handeln.

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Ebd., S. 233. Erst jüngst hat Nicole Seifert die Funktionsweisen dieses Gender Gap für die Gegenwartsliteratur beschrieben und zugleich dafür plädiert, auf den pejorativen Begriff zu verzichten, vgl. dies.: Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, Köln 2021. Dagegen kann der Begriff m.E. so lange nicht aufgegeben werden, so lange das, was er beschreibt, im Begriff der Literatur nicht automatisch mitgedacht wird. Das Maskulinum wird im Folgenden ausdrücklich nicht generisch verwendet.

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II. Mit der Ausbreitung des Buchdrucks entstand seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ein breiter Expertendiskurs über Formate, Bindungen, Drucklettern und -farben, Einbandmaterial, Papiersorten, Gießwerkzeuge usw.9 Schöne Literatur sollte von Anfang an buchstäblich schöne Literatur sein. Die Aufmerksamkeit für die Fortschritte des Buchdrucks sowie das Interesse der Autoren an der Gestalt, in der ihre Bücher an die gleichfalls neu sich konstituierende Öffentlichkeit traten, waren deshalb von Anfang an groß. Beides kulminierte im ausgehenden 18. Jahrhundert im dezidierten Anspruch auf aktive Beteiligung und Mitsprache. Man denke nur an den Frakturstreit, in dem die Frage nach der – verkaufsfördernden und/oder den Nachruhm sichernden – Wirkung des Schrift-Bildes von den Autoren gründlich abgewogen wurde: Je nachdem wurde die gebrochene ›deutsche‹ Frakturschrift gegen die elegantere ›französische‹ Antiqua ausgespielt oder umgekehrt. Friedrich Justus Bertuch hat 1793 den engen Zusammenhang zwischen ästhetischer Form des Buches und Kanonisierung beschrieben: Unsern klassischen Schriftstellern, deren Werke Jahrhunderte dauern werden, und auf deren, auch bey andern Nationen Europens allgemein anerkannten Werth Teutschland mit Rechte stolz seyn darf, gebührt vor andern diese Ehre [in Antiqua gedruckt zu werden, M.G.]. […] bey uns sey es nicht bloß blinde Mode, sondern raisonnirtes Prinzip, schöne Ausgaben unsrer Classiker und großen Männer und zwar wenn sie ihre Werke vollendet haben, sie uns dieselben von letzter Hand geben, und diesen also keine Veränderung mehr droht […] zu sammeln.10 9

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Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur, Paderborn 2020, S. 9. Die historische Produktivität des Begriffs des Formats, das nicht nur eine technische, sondern vor allem auch eine institutionelle und symbolische Dimension hat, entfaltet Michael Niehaus von den Anfängen der Buch- und Papierformate bis in die Fernsehformate und den Formatbegriff im digitalen Zeitalter, vgl. ders.: Was ist ein Format? Hannover 2018, S. 6. Zur »Frage der hermeneutischen Relevanz der Typographie« vgl. bspw. Rainer Falk/Thomas Rahn: Ausweitung der Interpretationszone, in: dies. (Hg.): Typographie und Literatur, Frankfurt a.M. 2016 (= Sonderheft zu Text. Kritische Beiträge), S. 1-11, hier S. 6. Friedrich Justus Bertuch: Ueber den Typographischen Luxus mit Hinsicht auf die neue Ausgabe von Wielands sämmtlichen Werken, in: Journal des Luxus und der Moden 8 (1793), 11, S. 599-608, hier S. 605f. – Bertuch hatte hier, wie Wieland, mit der Antiqua freilich aufs falsche Pferd gesetzt; für die Kanonisierung einer ›deutschen‹ Klassik kehr-

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Gegen die ephemeren literarischen Modeerscheinungen muss sich die klassische Literatur also durch schon als klassisch bezeichnete schöne Buchformen abgrenzen, die sich immer nur auf vollendete, autorisierte Texte beziehen, die keiner Veränderung mehr unterliegen, und die dem Autorwillen gemäß überliefert werden müssen. Im Feld des expandierenden Buchmarktes des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit immer preisgünstigeren Möglichkeiten des Buchdrucks, einer Fülle an sogenannter Unterhaltungsliteratur, einer ungeregelten Raub- und Nachdruckpraxis sowie den lukrativen Möglichkeiten des Erstdrucks in populären Periodika wie Journalen und Almanachen war die Distinktion des schönen, d.h. literarisch wertvollen Buches, wie Bertuch sie forderte, aber auch von Anfang an kompliziert. So druckten die Verlage oft qualitativ höchst unterschiedlich ausgestattete Ausgaben für ein sozial sich differenzierendes Publikum. Dies war so lange unproblematisch, als diese preisgünstigen Ausgaben ideell auf die ›eigentlichen‹, schönen und wertvollen Ausgaben bezogen blieben und so lange in der literarischen Öffentlichkeit nur diese zur Kenntnis genommen wurden. Die Krise der Unterscheidung verschärfte sich im 19. Jahrhundert trotz der rechtlichen Fixierung des Urheberrechts dadurch, dass Literatur fast ausnahmslos zuerst in Familien- und Rundschauzeitschriften erschien. Im Bündnis mit den Journalen brach die Literatur mit der klassisch-romantischen Buchpolitik.11 Zwar erschienen auch viele Texte von Goethe, Schiller, Herder, Humboldt u.a. zuerst in Almanachen und Zeitschriften; allerdings befanden sich diese in den Händen derselben Verleger – neben Johann Friedrich Cotta auch Georg Joachim Göschen, Johann Friedrich Unger u.a. – und galten als zu vernachlässigende und unbedeutende Vorstufe, die man in keiner Weise mit dem vollendeten ›Werk‹ in Verbindung brachte. In der Fusionierung von literarischem Schreiben und Journalismus zwischen Aufklärung und Verklärung in Vormärz und Realismus wurde der Anspruch auf eine autonome Buchpolitik zwar nicht aufgegeben, aber doch hinter

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ten die Autoren um 1800 nach ihren Antiqua-Experimenten zur ›deutschen‹ Fraktur zurück. Zur Rolle des Frakturstreits bei der Aushandlung einer klassischen Werkästhetik vgl. auch Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000, S. 231. Zur Buchpolitik um 1800 vgl. Verf.: Kalenderspuk in Schillers »Die Jungfrau von Orleans«. Ein Beitrag zu einer kritischen Buchphilologie, in: ZfDPh 140 (2021), 4, S. 503534, bes. S. 534.

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pragmatischen Erwägungen – großzügige Honorare, hohe Auflagen usw. – zurückgestellt. Parallel dazu boomte die Literatur aller Niveaus in billigen Heft- und Taschenbuchreihen, deren Produktions- und Distributionsweisen denjenigen der Zeitschriften deutlich näher waren als denen des Buchs. Der Aufbruch der Modernen am Ende des 19. Jahrhunderts ist deshalb eng mit publizistischen Feldzügen gegen die realistische ›Familienblattliteratur‹ einerseits, gegen eine Fülle formästhetisch anspruchsloser Buchreihen anderseits verbunden. Die literarische Moderne knüpfte mithin formästhetisch an die klassisch-romantischen Buchpolitiken an: Ambitionierte Verleger wie Samuel Fischer, Kurt Wolff oder Ernst Rowohlt stellten sich ganz in den Dienst dieses Aufbruchs. Wie ihre Vorgänger um 1800 taten sie sich durch gründliche Kenntnis der zeitgenössischen Literatur und des literarischen Marktes hervor und kannten die Bedeutung der Form des schönen Buches für die Distinktion im Bereich der Literatur. Vor allem die Covergestaltung durch namhafte Buchkünstler wurde jetzt zum äußeren Ausweis innerer literarischer Qualität. Auf diese Weise entstand die ›Marke‹ Moderne, in der sich literarische und Bildkünstler mit Verlegern zu Labels wie z.B. dem des ›Expressionismus‹ zusammenschlossen, um die prekäre Grenze zu den populären Massenkünsten aufrechtzuerhalten.12 Um 1800 wie auch um 1900 sind also besonders intensive Aushandlungsprozesse zwischen Verlegern und Autoren zu beobachten: Nicht nur über die Bilder für die Umschläge, sondern auch darüber, welches Papier benutzt, welche Schrifttypen ausgewählt, welches Format geeignet sei und in welchem Zeilenumbruch und Seitensatz die Texte am besten als ›Kunstwerke‹ zur Geltung kämen.

III. In dem schon zitierten Essay hat Paul Valéry festgestellt, dass der »Geist des Schriftstellers […] sich in dem Spiegel [betrachtet], den die Druckerpresse ihm liefert«: »Ein schreckliches Urteil, und ein höchst kostbares zugleich, wird da über einen gefällt, wo man sich prächtig gedruckt sieht.«13 Stefan Georges

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So spielte etwa der Kurt Wolff Verlag eine bedeutende Rolle bei der Etablierung des Expressionismus, vgl. Wolfram Göbel: Der Kurt Wolff Verlag. 1913-1930. Expressionismus als verlegerische Aufgabe, Frankfurt a.M. 1977. Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches (Anm. 2), S. 471.

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hoch exklusive Buchpolitik kann als Paradebeispiel für diesen Zusammenhang gelten: Nirgendwo sonst erscheinen Buchgestaltung, Autorinszenierung und poetologisches Programm so eng miteinander verwoben.14 Wie sehr ästhetische Buchform und Autor-Imago interferieren und wie sich diese Interferenzen auf die Überlieferung auswirken, hat Bodo Plachta 2007 an zwei sehr unterschiedliche Buch-Geschichten gezeigt, die für die folgenden Ausführungen als eine Art Matrix gelten können. Zum einen hat er das Engagement Kafkas bei der formalen Organisation der Erstausgabe des Erzählbandes Betrachtung aus dem Jahr 1913 rekonstruiert: »He prepared and stage-managed the reception of his writing by choosing Rowohlt, a publisher who was at the forefront of publishing expressionist literature, not only as to the kind of writing they published but also as to the design of their books.«15 Skrupel der eigenen Arbeit gegenüber, Angst vor den Reaktionen der Familie und Vorsicht bei der Fixierung eines Autor-Imagos bestimmten Kafka, möglichst viel Einfluss auf die Publikation seiner Erzählungen zu nehmen und deren Erscheinen in der Öffentlichkeit so weit als möglich zu kontrollieren. Das Resultat dieser Bemühungen erwies sich als Meisterwerk expressionistischer Buchkunst, das in seiner anspruchsvollen Schlichtheit die Zeitgenossen überzeugte und für den Nachruhm des Autors eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte, auch wenn sich zeigen sollte, dass Kafkas Œuvre das Label des Expressionismus bei weitem sprengte. Zum anderen beschreibt Plachta den Fall einer Autorin des 19. Jahrhunderts. 1838 erschien die erste Ausgabe der Gedichte Annette von DrosteHülshoffs, deren Veröffentlichung ebenfalls von Ängsten und Skrupeln begleitet war. Allerdings ging es hier nicht um die Vorsicht eines vom engeren Umfeld schon lange erkannten ›Genies‹, sondern um die Sorgen einer Autorin angesichts einer Geschlechterzensur, die im 19. Jahrhundert weibliche Autorschaft strikt auf Frauenliteratur ohne Kunstanspruch festlegte. Schreiben für die Öffentlichkeit und für Geld oder gar für künstlerischen Ruhm wurde diskursiv mit dem Verlust der Weiblichkeit, dem Ruin des

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Zur Bedeutung der Typographie für Georges poetologisches Programm vgl. z.B. Björn Märtin: Gedenken im Druck. Das Gedenkbuch für Maximin als medientechnischer Wendepunkt im Werk Stefan Georges, in: Rainer Falk/Thomas Rahn (Hg.): Typographie und Literatur, Frankfurt a.M. 2016 (= Sonderheft zu Text. Kritische Beiträge), S. 155-164. Bodo Plachta: More than Mise-en-Page. Book Design and German Editing, in: Variants 6 (2007), S. 85-106, hier: S. 94.

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Namens und somit Schande für die Familie, ja gar mit Prostitution verbunden.16 Um die nötige Diskretion zu wahren, beauftragte Droste-Hülshoff zwei männliche Vertraute, die mit dem renommierten, in Münster ansässigen Verleger Aschendorff über die Gestalt ihres ersten Buches verhandeln sollten. Um ja keinen falschen Eindruck zu erwecken, verzichtete sie schon vorsorglich auf ein Honorar. Während die Autorin angesichts des Resultats vor allem dankbar war, dass überhaupt eine Veröffentlichung zustande kam, erwies sich die ästhetische Form des Gedichtbandes als äußerst fatal: The layout of the type area, the use of headings and endpaper titles and the obtrusive accentuation of page numbers hardly lived up to the printing standards in poetry books of the time. The volume rather looked like the prayer or hymn books which Aschendorff was bringing out in large numbers.17 Damit war die ›geistliche‹ Provinzautorin geboren und zugleich bestätigte das Gebetsbuch-Design, das nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis aufwies, sowie »the overall dilettante handling of the production process«,18 was zu beweisen war: dass schreibende Frauen auch in dieser Hinsicht Dilettantinnen sind und dass sie zwar idealerweise für Kinder, aber nicht für Bücher sorgen können. Die Würdigung Droste-Hülshoffs als literarische Autorin konnte erst mit der Gedichtausgabe von 1844 beginnen, die Levin Schücking glücklicherweise im Cotta-Verlag unterbringen konnte – unter ihrem vollen Namen, in ansprechender Gestalt, mit Inhaltsverzeichnis und gegen Honorar. Diese Ausgabe veranlasste wiederum die Literaturkritik zu einer bemerkenswerten Kehre: Droste-Hülshoff wurde im 19. Jahrhundert nicht mehr als Dichterin, sondern als ›männlicher Geist‹, als ›deutscher Dichter‹ rezipiert und auf diese Weise in das männliche Genialitätskonzept integriert, auch wenn das Image der westfälischen und geistlichen Autorin, das mit Aschendorffs Ausgabe geprägt wurde, dabei nie aus dem Blick geriet.19

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Vgl. bspw. Friedrich Schiller: Die berühmte Frau. Epistel eines Ehemanns an einen andern, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. I, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt a.M. 1992, S. 265-269. Plachta, More than Mise-en-Page (Anm. 15), S. 95. Ebd., S. 95f. Zu Droste-Hülshoffs Buch- und Werkpolitik in Bezug auf diese Ausgabe vgl. Cornelia Blasberg/Jochen Grywatsch (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff Handbuch, Berlin/Boston 2018, S. 194-197. Vgl. auch Renate von Heydebrand: Annette von DrosteHülshoff. Der Weg einer Frau in den literarischen Kanon, in: Ortrun Niethammer

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IV. Obgleich in den zitierten Beispielen der Zusammenhang von ästhetischer Buchform und Kanonisierung relativ eindeutig scheint, er versteht sich keineswegs von selbst. Auch wenn die »bei Klassikern häufig anzutreffende gediegene Ausstattung (Fadenheftung, Leinen- oder gar Ledereinband und zusätzlicher Pappschuber) auf die Dauerhaftigkeit und Archivierbarkeit des enthaltenen Werks« verweist und »überzeitliche Gültigkeit« zu garantieren scheint,20 bleibt die Tatsache, dass es im 18. Jahrhundert ebenso prunkvoll ausgestattete und auf Haltbarkeit bedachte Ausgaben von Kalendern und Almanachen gab: Seidenschober oder Goldschnitt signalisierten hier freilich eher ein luxuriöses Konsumgut zur sozialen Distinktion als einen literarischen Wert.21 Darüber hinaus aber kann angenommen werden, dass wohl nicht so sehr die aufs Feinste ausgestattete Erstausgabe von Goethes Faust I im Cotta Verlag 1808 für dessen Etablierung als literarische Bibel der Deutschen sorgte, sondern viel mehr noch das erste Bändchen aus Reclams Universal-Bibliothek. Anton Philipp Reclams Geniestreich einer offenen Reihe »ohne numerische oder zeitliche Begrenzung«22 startete im sogenannten Klassikerjahr 1867 und bot kleinformatige Hefte auf billigem Papier, eng bedruckt, zu kleinem Preis einem Massenpublikum an. Dieses wurde damit erstmals in die Lage versetzt, eine private Bibliothek aufzubauen, auch wenn die Haltbarkeit der Bücher

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(Hg.): Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der historisch-kritischen Droste-Ausgabe, Bielefeld 2002, S. 165-182, hier S. 180f. Vgl. Franziska Mayer: Zur Konstitution von ›Bedeutung‹ bei der Buchgestaltung. Aspekte einer Semiotik des Buches, in: Lukas/Nutt-Kofoth/Podewski (Hg.): Text – Material – Medium (Anm. 3), S. 197-215, hier S. 205. Vgl. dazu Matt Erlin: Necessary Luxuries. Books, Literature, and the Culture of Consumption in Germany, 1770-1815, Ithaca 2014. Günther Fetzer: Das Taschenbuch. Geschichte – Verlage – Reihen, Tübingen 2019, S. 51. »Das Erscheinen sämmtlicher classischer Werke unserer Literatur, die ein allgemeines Interesse in Anspruch nehmen und deren Umfang es gestattet, wird versprochen. Hierdurch sollen aber keineswegs Werke, denen das Prädicat ›classisch‹ nicht zukommt, die aber nichts destoweniger sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen, ausgeschlossen werden. Manches fast vergessene gute Buch wird wieder ans Tageslicht gezogen werden – andere Werke sollen, in die ›Universal-Bibliothek‹ eingereiht, zum ersten mal vors Publicum treten. Die besten Werke fremder und todter Literaturen werden in guten deutschen Uebersetzungen in derselben ihren Platz finden.« (Ankündigung des Verlages, zit.n. Fetzer: Das Taschenbuch, S. 50).

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nunmehr eher an die Lebenszyklen der Lesenden angepasst als auf Unsterblichkeit ausgelegt war. Dabei verengte sich die Auswahl von der »Berücksichtigung aller berechtigten Geschmacksrichtungen«23 im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zugunsten dessen, was irgend als ›hohe‹, wertvolle Literatur galt. Die Karriere dieser Heftreihe und ihre Rolle bei der Überlieferung beruht also offenbar nicht auf der haptischen und visuellen Erfahrung des schönen Buchkörpers und dessen Haltbarkeit: Extrem schlicht, leicht, preiswert und damit allen zugänglich, lenkten ausgerechnet die Reclam-Hefte die Aufmerksamkeit auf die Texte zurück, die gerade dank ihrer vergänglichen Gestalt in jede Tasche passten und damit eine maximale Mobilisierung des Lesens garantierten.24 Freilich war Reclams Universal-Bibliothek um 1900 eine unter vielen Buchreihen und von der einzigartigen Position, die sie dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einnahm, noch weit entfernt: So zählte man allein zwischen 1910 bis 1912 »1.773 Reihen mit 70.979 Bänden. Den größten Anteil hatten mit deutlichem Abstand die belletristischen Reihen mit 21.357 Bänden.«25 Wenn die ›Modernen‹ gegen diese Flut an billigen Büchern mobil machten, dann auch, weil diese Reihen durch ihre Wahllosigkeit die für das Literatursystem 1900 bedeutende Unterscheidung zwischen der ›gesunden‹, ›männlichen‹ und der ›effeminierten‹, ›kranken‹ Literatur, und durch ihre universale Adressierung diejenige zwischen den ›richtigen‹ und ›falschen‹ Leser*innen verwischten. Der moderne Aufbruch war deshalb choreographiert von der Gründung namhafter Verlage, die sich programmatisch dem Kunstbuch verpflichteten: 1886 wurde in Berlin der S. Fischer Verlag gegründet, 1901 folgte in

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Deutscher Literaturkatalog 1907/08, unpaginiert, zit.n. Fetzer: Das Taschenbuch, S. 54 (Anm. 22). Das Taschenbuch war eine unmittelbare Reaktion auf die neue Mobilität und den Beginn des privaten Reisens im 19. und 20. Jahrhundert, vgl. dazu bspw. Christine Haug: Der Bahnhofs- und Verkehrsbuchhandel, in: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. I/2: Das Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M. 2003, S. 594-620; Patrick Rössler: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Massenpresse. Taschenbücher in Deutschland 19461963, Karlsruhe 1997. Zum Beitrag der Taschenbuchreihen zur Kanonisierung vgl. z.B. Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags, Berlin 2011; zum Beitrag Reclams vgl. Dietrich Bode (Hg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867-1992. Verlags- und kulturgeschichtliche Aufsätze, Stuttgart 1992. Fetzer: Das Taschenbuch (Anm. 22), S. 82.

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Leipzig der Insel Verlag, 1908 der Rowohlt-Verlag, ebenfalls in Leipzig. Und es waren paradoxerweise wiederum deren literarische Taschenbuchreihen, die dann nach 1945 nicht nur die Autoren der Moderne im Nachkriegsdeutschland etablierten, sondern auch die ökonomische Existenz dieser Verlage sicherten.26 Diese Reihen bei Fischer, Rowohlt, später Suhrkamp u.a. spielten – zusammen mit Reclam als »Mutter des Taschenbuchs«27 – für die Kanonisierung der europäischen Moderne eine kaum zu überschätzende Rolle. Wie schon erwähnt, waren formal und material sich unterscheidende Ausgaben für ein sozial differenziertes Publikum bereits seit dem 18. Jahrhundert üblich, aber nur »bedeutende Druckwerke«28 konnten einen solchen Luxus für sich beanspruchen und die preisgünstigen Ausgaben blieben auf die exklusiv ausgestatteten bezogen. Dies gilt für das literarische Taschenbuch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so nicht mehr. Die Fischer-Taschenbuchausgabe von Kafkas Werken wurde nicht mehr gemessen an der gebundenen Ausgabe, sondern musste sich legitimieren gegenüber den editorischen Erkenntnissen Malcolm Pasleys et al. in der Kritischen Ausgabe, die ab 1993 ebenfalls bei Fischer erschien. Es ging hier nicht um die ästhetische Buchgestalt, sondern um das Wissen und das wie 26

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Zu den Charakteristika des Taschenbuchs – flexibler Umschlag, einfache Ausstattung, hohe Auflage und weite Verbreitung, einheitliches, kleines Format, einheitliche und niedrige Preise, Zweitverwertung u.a. – sowie zur Nivellierung der Differenz zum Hardcover in den letzten Jahren vgl. zuletzt Elisabeth Kampmann: Stillschweigend integriert. Das Experimentierfeld Taschenbuchmarkt heute, in: Heinz Ludwig Arnold/ Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Auflage, Neufassung, München 2009, S. 175-190, hier S. 181f.; 188. Den Anfang machte 1950 rororo, gefolgt 1952 von der Fischer Bücherei. Eine besondere Rolle bei der Emanzipation des Taschenbuchs aus der Schmuddelecke bloßer Zweitverwertung, in der angeblich die Kultur aufs Taschenformat schrumpfe, spielte der Zusammenschluss von 11 Verlagen 1962 zum Deutschen Taschenbuch Verlag: »dtv – für anspruchsvolle Leser« (Hans Altenhein: Das Taschenbuch-Projekt. Ein Nachruf, in: Aus dem Antiquariat. Zeitschrift für Antiquare und Büchersammler NF 15 (2017), S. 70-76, hier S. 71f.). Bemerkenswert ist auch an dieser höchst instruktiven Darstellung zum Taschenbuch, dass das m.E. naheliegende Verhältnis zum Book on Demand nicht thematisiert wird. Wolfgang Rasch: Billig oder preiswert – die Gestalt der Taschenbücher, in: Friedrich Friedl et al. (Hg.): Die vollkommene Lesemaschine. Von deutscher Buchgestaltung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./Leipzig 1997, S. 188-229, hier S. 190. Metz hat dies bspw. für Wielands Sämmtliche Werke rekonstruiert, die zwischen 1794 und 1802 in verschiedenen Ausstattungen bei gleicher typographischer Einrichtung von einer Fürstenausgabe im Großquart bis zu einer Volksausgabe in Kleinoktav angeboten wurden (vgl. Metz: Lesbarkeit [Anm. 9], S. 73f.)

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auch immer gerechtfertigte Vertrauen in die editorische Sorgfalt, die den Texten in der Obhut der renommierten Herausgeber und des Verlags zu Teil wurde. Deshalb war es folgerichtig, dass die lange unangefochtene, noch von Max Brod verantwortete Kafka-Ausgabe im Fischer Verlag den neuen Standards der Forschung weichen musste. Denn nicht nur gepflegte Schlichtheit und niedriger Preis, sondern vor allem das Versprechen der Zitierfähigkeit begründete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Erfolg des literarischen Taschenbuchs, das trotz seines vergleichsweise ephemeren Buchkörpers im 20. Jahrhundert zum begehrten Objekt für Sammler wurde,29 und dessen äußere Gestalt gerade in der heutigen digitalen Konkurrenz zum Gegenstand erhöhter ästhetischer Aufmerksamkeit wird.30

V. Am 1. Dezember 1893 kündigte auch Albert Langen in München die Gründung eines Verlages an. In kürzester Zeit etablierte dieser sich als eine der ersten Adressen für die skandinavische, französische und deutsche Moderne. Zu den Autoren zählten in den folgenden Jahren Frank Wedekind, Heinrich Mann, Knut Hamsun, Henrik Ibsen, Ludwig Thoma u.a. Wie für die Verlage von Kurt Wolff und Samuel Fischer spielte in Langens Verlag die künstlerische Gestaltung der Buchcover eine herausragende Rolle. Langen gewann dafür bedeutende Buchkünstler wie Théophile Alexandre Steinlen oder Thomas Theodor Heine. Seit 1896 erschien die bedeutende satirische Wochenschrift Simplicissimus bei Albert Langen. Vor allem durch die Titelblätter, die durch dieselben Bildkünstler gestaltet wurden wie die Buchcover, beschleunigte die Zeitschrift die Etablierung des Verlages. Das Verzeichnis der Beiträger*innen des Simplicissimus liest sich wie das Who is Who der literarischen Moderne – und Franziska zu Reventlow, um die es im Folgenden gehen soll, gehörte

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Carlos Spoerhase hat im Anschluss an die Forschung nicht nur auf die Bedeutung des Sammelns für die »kulturelle Legitimität« des Taschenbuchs hingewiesen, sondern auch auf den »Modellcharakter des angloamerikanischen Verlagswesens« (vgl. ders.: Rauchen oder Lesen? Zur Erforschung der Geschichte des Taschenbuchs, in: AGB 72 (2017), S. 239-244, hier S. 241f.). Nils Kahlefendt: So schön können Taschenbücher sein, in: Börsenblatt 184 (2017) 2, S. 20-23.

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ebenfalls dazu: nicht nur als Übersetzerin, sondern v.a. auch mit eigenen Beiträgen.31 1913 erschien bei Langen ihr Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil als schönes Buch, in handlichem Format und in dezenter Fraktur, mit großzügigem Seitenlayout und versehen mit einem Titelbild von Alphons Woelfle (vgl. Abb. 1).32 Reventlows in jeder Hinsicht moderner Schelmenroman über den stets vom Verschwinden bedrohten, queeren Protagonisten Herrn Dame, der mit entwaffnender Naivität die verschrobene Münchner Künstler- und Literaturszene der Jahrhundertwende beobachtet, erschien also in einem erstklassigen Verlag, in einer ebenso schlichten wie seriösen buchkünstlerischen Gestalt. Dies entsprach nicht nur dem gesteigerten Selbstbewusstsein von Autorinnen um 1900, sondern auch deren zumindest in progressiven Kreisen gesteigerten öffentlichen Anerkennung.33 Das wären, möchte man meinen, eigentlich gu-

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Zur Geschichte des Verlages vgl. Helga Abret: Albert Langen. Ein europäischer Verleger, München 1993. Auch in dieser Geschichte ist Reventlow als moderne Autorin getilgt: Sie erscheint an wenigen Stellen und ausschließlich als Übersetzerin aus dem Französischen, deren Übersetzungskünste aber auch begrenzt gewesen seien und der man nur leichte französische Unterhaltung zutrauen konnte: »Nie hätte [Langen] daran gedacht, ihr eine Taine- oder eine Rabelais-Übersetzung anzubieten.« (Ebd., S. 325.) Zuvor waren bereits Reventlows ›Amouresken‹ Von Paul zu Pedro bei Langen erschienen und sie schrieb zudem regelmäßig Beiträge für den Simplicissimus. Dass diese Kreise durchaus begrenzt waren, zeigen beispielsweise die Ausfälle August Strindbergs: »Nicht alle Männer sind Genies, erwidert man. Ja freilich, aber keine Frau ist ein Genie. […] Und hebt sich eine einzelne ein wenig aus der Menge heraus, so weist dies auf eine Mißbildung hin, und auf das Aufhören des Frauseins. […] bei der Beschäftigung mit den Berufen des Mannes verliert sie ihre Weiblichkeit, das heißt genau die sekundären Geschlechtsmerkmale, die den Mann bei ihr anziehen, und so bleibt sie unverheiratet, was das Schlimmste ist, was ihr passieren kann, denn die Befriedigung des Geschlechtslebens ist für die Frau […] das Kind gebären zu dürfen. […] Der einzige Punkt, wo sie hineingekrochen sind, ist die Literatur. Sechshundert Schriftstellerinnen, fast alle unter angenommenen Männernamen, überschwemmen die Zeitschriften und Zeitungen mit schlechten Fortsetzungsromanen und bringen auf diese Weise junge Schriftsteller um die Gelegenheit, ihre ersten Probestücke zu publizieren.« (August Strindberg: Die Frauenfrage im Lichte der Evolutionstheorie, in: ders.: Werke in zeitlicher Reihenfolge, Bd. 5, hg. von Wolfgang Butt, Frankfurt a.M. 1984, S. 609-633, hier S. 619, 629, 633.) Zur Rolle der Geschlechterdifferenz in den poetologischen Programmen um 1900 vgl. Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900, Köln/Weimar 2005.

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te Voraussetzungen, den Text langfristig als Kunst wahrzunehmen und auch die Autorin entsprechend zu überliefern.

Abb. 1: F. Gräfin zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil

  Die prestigereiche Erstpublikation des Romans konnte keinen der renommierten, durch ihre Taschenbuchpolitik die Literatur der Moderne in der Nachkriegszeit etablierenden Literaturverlage dazu verleiten, den Titel in ihr Programm aufzunehmen. Die Taschenbuchausgaben, die 1976 bei Heyne, 1987 bei Ullstein und 1990 bei Morgenbuch erschienen, verorteten ihn dezidiert im Bereich der Unterhaltungs- bzw. der Frauenliteratur und dispensierten sich damit von vornherein von allen philologischen Pflichten. Nachdem auch diese Ausgaben seit langem vergriffen sind, versprechen seit etwa zehn Jahren diverse Book on Demand-Verlage fast jährlich – broschiert oder gebunden, mit ständig wechselndem Design, Layout, Format usw. – neue Ausgaben: Den Roman kann man derzeit u.a. bei Hofenberg, im Hamburger Verlag Tredition, bei Henricus, im Europäischen Literaturverlag

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oder auch im Verlag Leseklassiker bestellen – die Lieferzeiten reichen etwa von einer Woche bis zu einem Monat.

Abb. 2-6: Diverse Cover von Franziska zu Reventlows Roman in Print on DemandVerlagen. Die Cover wurden freundlicherweise von den Verlagen zur Verfügung gestellt.

Wie man an den abgebildeten Covers (vgl. Abb. 2-6) jedoch unschwer erkennen kann: Bereits hinsichtlich des Namens der Autorin besteht offenbar eine Unsicherheit bzw. Gleichgültigkeit, was dem Roman den Anstrich des Unseriösen verleiht: mit und ohne Gräfin, Franziska oder Fanny, zu oder von. Beständigkeit und Eindeutigkeit des Namens bilden aber die Voraussetzung,

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dass er überhaupt ein ›Werk‹ signieren kann.34 Die Cover-Illustrationen dieser Ausgaben weisen in zwei verschiedene Richtungen: Durch Porträts der Autorin wird deren biographisches involvement ins erzählte Geschehen perspektiviert, durch die Wahl von modernen bildkünstlerischen Frauenfiguren wird der Akzent auf die Frau als Objekt des männlichen Blicks gerichtet. Und das Cover aus dem Milena-Verlag verweist auf die Faschingsfeste als vermeintliche ›Schlüsselereignisse‹ des Romans. Ein besonderer Verstoß gegen die editorische Sorgfaltspflicht zeigt sich beim Untertitel: Aus »Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil« wird bspw. bei Hofenberg und Henricus »Herrn Dames Aufzeichnungen. Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil«. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die beim Scannen benutzten OCR- und ICR-Verfahren, die die Buchseiten zunächst in Rastergrafiken transformieren, um sie in einem zweiten Schritt in Text zurück zu verwandeln, fehleranfällig sind,35 sie übersehen aber in der Regel nicht, wie 34

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Vgl. dazu grundlegend Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198-229; und Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a.M. 1991. Folgt man den Gepflogenheiten für männliche Autornamen, in denen adlige Titel verschwinden, die Namenszusätze aber, v.a. beim sog. Geburtsadel, in der Regel bleiben, dann wäre wohl Fanny zu Reventlow richtig. Dennoch hat sich auch in der Forschung der Vorname Franziska durchgesetzt, der durch die erste Gesamtausgabe von der Schwiegertochter etabliert wurde (Franziska Gräfin zu Reventlow: Gesammelte Werke in einem Bande, hg. v. Else Reventlow. Langen, München 1925). Vgl. dazu Christoph Stollwerk: Machbarkeitsstudie zu Einsatzmöglichkeiten von OCRSoftware im Bereich ›Alter Drucke‹ zur Vorbereitung einer vollständigen Digitalisierung deutscher Druckerzeugnisse zwischen 1500 und 1930, Göttingen 2016 (= DARIAHDE Working Papers 16; http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl/?dariah-2016-2, aufgerufen am 28.06.2022). »Noch immer sind OCR-Anwendungen nicht dazu in der Lage, strukturierte Daten aus eingescannten Dokumenten korrekt abzuleiten.« (Ebd., S. 4); der Gebrauch von OCR Software ist zur Erschließung historischer Textkorpora zwar unverzichtbar, jedoch »only partially usable given the high error rate«. (Dario Del Fante/ Giorgio Maria Di Nunzio: OCR Correction for Corpus-assisted Discourse Studies. A Case Study of Old Newspapers, in: Umanistica Digitale 11 (2021), S. 99-124, hier S. 99.) Der Verzicht auf ein gründliches Lektorat in Bezug auf literarische Texte der Vergangenheit muss angesichts dieser Fakten als grobe Fahrlässigkeit erscheinen. Die Folgen der Vernachlässigung werden z.B. sichtbar an der Ausgabe von Bettina von Arnims Gespräche mit Dämonen, die 2010 von Rüdiger Görner im Verlag Berlin University Press unter dem Titel »Gespräch mit Dämonen« herausgegeben wurden und wo die editorische Achtlosigkeit so offensichtlich ist, dass Misia Sophia Doms in ihrer Rezension angemerkt hat:

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hier, einfach ein ganzes Wort – das muss schon als grobe Fahrlässigkeit gewertet werden. Vermehrte Druckfehler, die diesem Texterstellungsverfahren geschuldet sind, runden den Eindruck der Gleichgültigkeit gegen die Textkonstitution ab. Dafür entschuldigt sich denn auch der Verlag Leseklassiker in der Ankündigung: This is a reproduction of a book published before 1923. This book may have occasional imperfections such as missing or blurred pages, poor pictures, errant marks etc. that were either part of the original artifact, or were introduced by the scanning process. We believe this work is culturally important, and despite the imperfections, have elected to bring it back into print as part of our continuing commitment to the preservation of printed works worldwide. We appreciate your understanding of the imperfections in the preservation process, and hope you enjoy this valuable book.36 Die mangelhafte Form des Textkörpers erscheint, zusammen mit der auf das Nötigste reduzierten Form des Buchkörpers, als unvermeidliche Konsequenz und Notwendigkeit im Prozess der Überlieferung des kulturell Wertvollen, dem sich der Verlag verpflichtet hat. Das, was die Literaturverlage des Buchdruckzeitalters zusammen mit den Autoren garantiert haben: die ›schöne‹ Form des ›schönen‹ Textes im Sinne der »Komplexität von Materialität, Format und Heterogenität als Einheit einer Vielfalt von Text und Design, Typographie, Haupt- und Peritext«,37 wird hier grundlegend erschüttert. Der Verzicht auf ein Lektorat, das die digitale Texterstellung überprüft, erweist sich als fatal für die Zitier- und damit für die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit.

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»Trotz des lesenswerten Nachworts, das Rüdiger Görner zu seiner Neuedition verfasst hat und das zugleich als informationsreiche Einführung und gelungene Interpretation rezipiert werden kann, ist die hier vorliegende Ausgabe für den Gebrauch in Forschung und Lehre nur eingeschränkt und jedenfalls nicht als Zitiervorlage zu empfehlen, da ihr leider nicht genug redaktionelle Sorgfalt zuteil geworden ist.« Besonders erwähnt sie die Transkriptionsfehler, »von denen sich wiederholt mehrere auf einer Seite befinden.« (Dies.: Schlafender König – engagierter Dämon. Rüdiger Görner gibt Bettina von Arnims »Gespräche mit Dämonen« neu heraus, in: https://literaturkritik.de/id/1491 7, aufgerufen am 2.3.2022.) https://www.book-info.com/isbn/1-270-89927-9.htm (aufgerufen am 17.2.2022) – diese Ausgabe kostet derzeit 14,90 €! Alle Recherchen nach einer Kontaktadresse dieses Verlages blieben erfolglos. Bickenbach: Die Form des Buches (Anm. 5), S. 142.

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Die offenkundigen Schlampereien bezüglich der Textgestalt werden flankiert von Paratexten, die die Lesenden bis heute auf eine Interpretation als Schlüsselroman festzulegen suchen, was den Kunstanspruch, der auf prinzipieller Offenheit der Anschließbarkeit beruht, negiert – mit verheerenden Folgen für alle weiteren Lektüren. So wird in der Ausgabe von Holzinger bereits in der Titelei der vermeintliche ›Schlüssel‹ zum Roman abgedruckt, der die Lektüre von der eigenen Anstrengung entlastet und eine direkte Übersetzbarkeit in reale Personen und eine reale Szenerie suggeriert.38 In der Tat erlangte der Schlüsselroman um 1900 neue Attraktivität als Genre, das eine kritische Reflexion der Gegenwart ermöglichte. Doch Theodor Fontanes L’Adultera oder Thomas Manns Buddenbrooks werden heute natürlich nicht als Schlüsselromane vermarktet, vielmehr wird in den Paratexten alles getan, um den Blick der Lesenden von dieser den Kunstanspruch kompromittierenden Tatsache abzulenken.39 Die Book on Demand-Verlage treten in mehrfache Konkurrenz: zu den Produktionspraktiken der traditionellen Verlage (und deren Funktion als gatekeeper), zu den Distributionspraktiken des stationären Buchhandels (denn hier finden wir diese Bücher gerade nicht mehr und der Vertrieb läuft am Buchladen vorbei), wie auch zum Buch als verlegerische Marke, die den Unterschied von Erinnern oder Vergessen im kulturellen Gedächtnis bedeuten kann. Dagegen verspricht das Print on Demand-Verfahren, gerade diesen letzteren Unterschied ganz aufzulösen und tendenziell jederzeitige Lieferbarkeit auf Anfrage zu garantieren. Man könnte meinen, diese Entwicklung des Verlagswesens gäbe Hoffnung für das von der Überlieferung Vergessene, Verdrängte, Ausgeschlossene, und also auch für die seit langem vergriffene Literatur deutschsprachiger Autorinnen der Moderne. So gibt es bei Hofenberg einige der Romane und Novellen der Schillerpreisträgerin Helene Böhlau, die zuerst im angesehenen Verlag W.F. Fontane erschienen sind und bei der weder die zeitgenössische Anerkennung noch die prominente Herkunft nach 1945 zur Aufnahme in eine der etablierten Taschenbuchreihen

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Franziska Gräfin zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen. Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. Berliner Ausgabe 2015. Vollständiger, durchgesehener Neusatz mit einer Biographie der Autorin bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger. Vgl. dazu Annette Keck/Verf.: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: IASL 26 (2001), 2, S. 201-233.

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geführt haben. Bei Hofenberg findet man auch Gabriele Reuters Bildungsroman Aus guter Familie, der 1895 bei S. Fischer erschienen ist, der es aber nach 1945 nie in die prestigereiche Reihe der Fischer Bücherei geschafft hat. Stattdessen gibt es dort einen Essay von Thomas Mann über Reuter als »eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen ihrer Zeit«.40 Hedwig Dohm veröffentlichte ihre beiden Novellen Wie Frauen werden und Werde, die Du bist! 1894 bewusst in einem Band, weil beide Novellen eng aufeinander bezogen sind. Auch diese Tatsache wird in den Book on Demand-Ausgaben, bspw. bei Holzinger, ignoriert. Und da alle diese bedeutenden Texte der Moderne ja immer erst auf Anfrage gedruckt werden, sind sie weder in der Buchhandlung beim ›Stöbern‹ zu entdecken, noch werden sie durch ein systematisches Marketing beworben. So bleibt es den Algorithmen Amazons überlassen, wer wann überhaupt eine dieser Autorinnen wahrnimmt. Schließlich lassen sich diese Ausgaben zwar mit Mühe noch in ein Bücherregal stellen, aber nicht wiederfinden, weil auf den Buchrücken meist die Rückentitel fehlen, womit endgültig der Übergang vom Buch zur Broschüre vollzogen ist. Anhand der gebundenen Ausgabe von Herrn Dames Aufzeichnungen im Marix-Verlag (vgl. Abb. 7), die in Bezug auf die Buchgestalt hier eine Ausnahme darstellt, lässt sich die Bedeutung des Zusammenhangs von sichtbarer Form, anschlussfähiger Edition und der Zuschreibung von literarischem Wert noch genauer differenzieren. Denn diese Ausgabe erfüllt auf den ersten Blick durchaus die visuellen und haptischen Ansprüche an ein schönes Buch, das man gerne in die Hand nimmt und bspw. verschenken möchte; in der ästhetischen Buchgestaltung erinnert sie an die Bibliothek Suhrkamp. Name und Titel sind (fast) korrekt, die ornamentale Spanish Woman auf dem Cover legt aber bereits erste Spuren, die vom Roman wegführen. Spätestens das Motto von Annette Kolb, »zynisch mit Grazie«, weist wieder auf den Namen der Autorin zurück, statt, wie bei Motti für Romane eigentlich üblich, auf den Text vorauszuweisen. Im Nachwort von Gunna Wendt wird dann die

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»Thomas Manns Essay über eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen ihrer Zeit, Gabriele Reuter, entstand als Auftragsarbeit und wurde in zwei Teilen am 14. und 17. Februar 1904 in der überregionalen Berliner Zeitung ›Der Tag‹ abgedruckt. Wenn Mann im ersten Satz das »Künstlerschicksal« beklagt, »Autor eines erfolgreichen Erstlingswerkes zu sein, geht es ihm nicht nur um Leben und Werk der Autorin, als ebenso um den Künstler im Allgemeinen und damit um ihn selbst.« (https://www .fischerverlage.de/buch/thomas-mann-gabriele-reuter-9783104003306, aufgerufen am 26.6.2022.)

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Abb. 7: Cover von Herrn Dames Aufzeichnungen im Marix-Verlag

Verbindung von autobiographischer Erzählung und Schlüsselerzählung interpretatorisch fixiert. Reventlows erster Roman Ellen Olestjerne wird hier umstandslos als »einzige Quelle«41 für die Kindheit der Autorin genutzt und der schmerzhafte Entstehungs- und Schreibprozess, der in Reventlows Briefen und Tagebüchern bezeugt ist und der – durch Kafka, Proust u.v.a. – zum Topos moderner Autorinszenierung und literarischer Selbstverständigung avancierte, wird hier als therapeutische Erfahrung der Heilung lesbar. Zugleich erscheinen Herrn Dames Aufzeichnungen als amüsanter »Lebens- und Erlebnisbericht«42 über die Schwabinger Bohème um 1900, den einer ihrer bekanntesten Protagonisten, Karl Wolfskehl, noch 1946 in genau diesem Sinne uneingeschränkt als solchen empfiehlt: »Die beste Quelle, fast bis ans

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Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow, in: Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen. Oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, Wiesbaden 2014, S. 177-192, hier S. 178. So die Ankündigung der Ausgabe »Leseklassiker« (https://www.buecher.de/shop/buec her/herrn-dames-aufzeichnungen/reventlow-fanny-zu/products_products/detail/prod _id/43016663/aufgerufen am 17.2.2022).

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Tatsächliche heran, jedenfalls doch für Stimmung und Luft der Epoche, ist und bleibt der Reventlow ›Herrn Dames Aufzeichnungen‹.«43 Die vernichtende Ironie wie die sich selbst verzehrende künstlerische Form des Romans, das zeigt diese Empfehlung exemplarisch, spielen für diese Rezeption keine Rolle. Der Roman wird restlos auf den außerliterarischen Kontext reduziert, sodass man editorisch philologische Hinweise auf die Textgeschichte, auf die zugrundeliegende Ausgabe, auf etwaige Probleme der Textsicherung o.ä. nicht vermisst, weil man gar keinen Text mit künstlerischem Anspruch erwartet.

VI. Die Unterschiede bei der editorischen Sorgfalt der traditionellen Taschenbuchreihen zu den meisten Book on Demand-Ausgaben liegen offen zu Tage. Diese vermögen nicht, was das lektorierte Buch als komplexe Einheit vermag: einen eindeutig signierten Text mit einer Geschichte, mit einer schönen Oberfläche und mit editorischer Tiefe in ein ›Werk‹ zu verwandeln. Sie bieten durch ihre Gleichgültigkeit gegenüber der komplexen ›Architektur‹ des Buches den Lesenden keine Kunst. Die durchgehende Anpreisung des Romans als »Klassiker« erweist sich als reine Verkaufsstrategie, die sich von Kanonisierungslogiken ganz abgekoppelt hat. Die vielen verschiedenen Book on Demand-Ausgaben von Reventlows Roman, für die man auf den ersten Blick nur dankbar sein müsste, setzen auf den zweiten nolens volens die fatale Entwertungsspirale der Frauenliteratur fort, die ihre prekäre Existenz Verlagspolitiken und gutgemeinten Vorreden und Nachworten ebenso verdankt wie den gegenderten Auswahlprozeduren in Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung. Sie verbleibt auch hier, wie schon in den ästhetischen Diskursen um 1800 und 1900 immer wieder klargestellt wird, auf der anderen Seite der Form – als Lebensgeschichten von Dilettantinnen, die der Erziehung oder dem Amüsement eines weiblichen Publikums dienen und darüber hinaus keine weitere Aufmerksamkeit beanspruchen können. Das, was die Book on Demand-Verlage versprechen – Lieferbarkeit – bedeutet also noch lange nicht Überlieferung. Obgleich das Prinzip des Codex, das ja Buch und Heft

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Karl Wolfskehl an Ludwig Curtius, 23.9.1946, zit.n. Wendt: Franziska zu Reventlow (Anm. 41), S. 184.

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umschließt, beibehalten wird, verflüchtigen sich in diesen Broschüren die Tugenden des Buches, oder wie Kathleen Fitzpatrick sie nannte: »the values of ›print culture‹ surrounding authorship, stability, veracity.«44 Die Überlieferung der Literatur im Buchdruckzeitalter ist angewiesen auf wissenschaftlich gesicherte Texte, deren Physiognomie dem autorisierten Original, so vorhanden, entspricht. Der Aufstieg von Reclams UniversalBibliothek zum Hort des deutschen Bildungskanons beruhte zwar auf der Neuregelung des Urheberrechts 1867, durch die literarische Texte nach Ablauf einer Schutzfrist zu Allgemeingut erklärt wurden, womit die exklusiven Verwertungsrechte wie auch die mit den Autoren vereinbarten Sorgfaltspflichten der Verlage endeten.45 Allerdings realisierte sich der symbolische ›Wert‹, den die Reihe im 20. Jahrhundert entfaltete, und damit ihr Potential zur Kanonisierung, erst mit dem Bekenntnis zu editorischen Mindeststandards – die Tendenz zur zitierfähigen Studienausgabe wird gerade jüngst bei Überarbeitungen alter Ausgaben wieder forciert. So repräsentiert Reclams Universal-Bibliothek heute nicht weniger als den literarischen Schul- und Universitätskanon deutschsprachiger und europäischer Literaturen, obwohl die Hefte den maximalen Abstand vom schönen Buch markieren. Auf der »Gemeinfreiheit« beruht auch das Geschäftsmodell der Book on Demand-Verlage. Doch was sie betreiben, ist eigentlich eine Art Resteverwertung: als ›Klassiker‹ wird auch alles das angepriesen, was von den etablierten Verlagen als unrentabel ausgesondert wurde. Literatur hat in den hier betrachteten Ausgaben alle Exklusivität abgestreift. Für den Literaturunterricht und damit den wichtigsten Ort ihres Weiterlebens bedeutet das, dass man auf gesicherte Texte verzichten und sich auf eine Vielzahl obskurer Leseausgaben einlassen muss. Wenn in der Literaturgeschichtsschreibung der Moderne Reventlows Roman auch nach 50 Jahren feministischer Literaturwissenschaft und Gender Studies immer noch kaum eine Rolle spielt, dann nicht nur deswegen, weil Verlage sich keinerlei ökonomischen Gewinn bzw. symbolisches Kapital von

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Kathleen Fitzpatrick: The Future History of the Book. Time, Attention, Convention, in: Babette B. Tischleder/Sarah Wasserman (Hg.): Cultures of Obsolescence. History, Materiality, and the Digital Age, New York 2015, S. 111-124, hier S. 112. Fitzpatrick nimmt nur die große Differenz vom Codex zu digitalen Formen und zum Audiobook in den Blick. Vgl. dazu ausführlich: Sippell-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts (Anm. 1).

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dessen Aufnahme ins Programm versprechen, sondern auch, weil er, von dem es so viele Ausgaben gibt, offenbar der textkritischen Mühe nicht lohnt. Von einer ästhetischen Form, die Buch- und Textgestalt integrierte, lässt sich nicht sprechen – als Literatur im emphatischen Sinn bleibt Reventlows Roman unsichtbar und unlesbar. Oder, mit Luhmann: er bleibt Kommunikation und damit: Nicht-Kunst. Die Ironie der Geschichte: Reventlows weitsichtiger Roman handelt von einem verhinderten Autor, der schon zu Beginn der Erzählung tot ist, und von dessen ungeschriebenem Roman. Scheinbar setzt der Roman also sein eigenes Scheitern in Szene. Doch es zeigt sich, »dass das eigentlich zum Scheitern verurteilte Romanprojekt am Ende in einer verschachtelten und metaleptischen Konfiguration doch noch an die Öffentlichkeit gelangt.«46 Reventlow hätte sich über das publizistische Chaos ihrer Bücher also wohl kaum gewundert. Ihre parodistische Distanz zum Literatursystem um 1900 teilte sie mit ihrem Protagonisten, der seine Aufzeichnungen kurz vor seinem Tod bei einem Eisenbahnunglück den fiktiven Herausgeber*innen übergibt: »Was damit geschehe, sei ihm ganz gleichgültig, wir möchten es je nachdem weitergeben, verschenken, vernichten oder veröffentlichen.«47

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Alina Boy: Inszenierungsspiele. Geschlecht, Autofiktion und Autorinnenschaft bei Franziska zu Reventlow, Baden-Baden 2021, S. 261. Hier auch ein umfassender Forschungsbericht. F. Gräfin zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, München 1913, S. 9.

›Wissenschaftskunst‹? Wie die »Entwicklung des deutschen Geistes« um 1930 (nicht nur) typographisch inszeniert wird – und was das Ganze mit aktuellen geisteswissenschaftlichen Publikationen zu tun hat Sven Schöpf

Im Jahr 1930 erscheint, gedruckt und verlegt bei B. G. Teubner, der von Hermann August Korff und Walther Linden herausgegebene Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten, ein Buch, das die sogenannte ›Geistesgeschichte‹ – und das nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell – in nuce verkörpert. »Der hier veröffentlichte Aufriß der deutschen Literaturgeschichte«, so ist dem von den Herausgebern verfassten Vorwort zu entnehmen, »ist zuerst, in den Jahren 1927-1930, in der Zeitschrift für Deutschkunde erschienen.«1 Die Zeitschrift für Deutschkunde, dies wiederum verrät eine Annonce, die am Ende des Bandes für den aktuellen Jahrgang jenes Periodikums wirbt, »behandelt in maßvoll moderner, geisteswissenschaftlich vertiefter Betrachtungsweise alle Fragen deutschen Wesens, deutscher Literatur, Sprache, Volkskunde, Theaters, deutschkundlicher Bildung und deutschkundlichen Unterrichts.«2 Die Begriffe ›Deutschkunde‹ bzw. ›deutschkundlich‹ sind übrigens keine Kreation der Redaktion der Zeitschrift für Deutschkunde. Im Wilhelminischen Kaiserreich ist man, wie Wilhelm II. selbst auf der

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Hermann August Korff/Walther Linden: Vorwort, in: dies. (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten, Leipzig/Berlin 1930, S. III. Annonce: Zeitschrift für Deutschkunde. 44. Jahrgang der Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Begründet durch R. Hildebrand und O. Lyon, in Verbindung mit E. Ermatinger/O. Lauffer/W. Linden/A. Ludwig/Fr. Neumann, hg. von W. Hofstaetter/H. A. Korff, in: ebd., unpag.

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Berliner Schulkonferenz im Jahr 1890 konstatiert, darauf erpicht, »nationale junge Deutsche« zu »erziehen und nicht junge Griechen und Römer«.3 Im Jahr 1912 plädiert der frisch gegründete Deutsche Germanistenverband für eine programmatische »Umgestaltung des Deutschunterrichts zu einer Deutschkunde«.4 »Erziehung im Sinne der Deutschkunde«, wie Otto Ludwig zusammenfasst, ist nicht Ausbildung eines Gelehrten, auch nicht die allseitige Bildung einer Persönlichkeit, sondern die Erziehung des Deutschen zum Deutschen: »wir trachten danach«, schreibt Johann Georg Sprengel, vielleicht der rührigste unter allen Deutschkundlern, das »wahrhaft zu werden, was wir allein sein können, wenn wir in der Welt überhaupt etwas sein wollen: Deutsche«.5 Wenngleich der »Name ›Deutschkunde‹ neu gewesen sein [mag], der Grundgedanke war es«, wie Ludwig betont, »mit Sicherheit nicht«, denn »[d]as ganze 19. Jahrhundert hindurch sind ähnliche Ideen immer wieder vorgebracht worden«.6 Den Namen Zeitschrift für Deutschkunde trägt das Blatt selbst erst seit 1920. Zuvor heißt das erstmals 1887 publizierte Periodikum Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Die Idee der Deutschkunde, die nicht nur darin besteht, »allen Schulfächern eine deutsch-völkische Ausrichtung«7 zu implementieren, sondern die auch auf der Vorstellung beruht, dass es etwas ›wesenhaft Deutsches‹ gebe, das man Schülerinnen und Schülern im Unterricht vermitteln könne, korrespondiert – sowohl zeitgeschichtlich als auch in ideologischer Hinsicht – der Neuausrichtung der Germanistik in den 1910er und 1920er Jahren, die bekanntlich unter dem Terminus ›Geistesgeschichte‹ firmiert. Die Geistesgeschichte muss als Reaktion auf vor allem zwei Entwicklungen verstanden werden, die ihren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert haben. Einerseits »steigt«, wie Gerhard Kaiser resümiert, »im Gefolge der Reform des höheren Bildungswesens seit 1890 nicht nur die Zahl der auszubildenden Studenten, sondern auch die Leistungserwartung, das Fach möge 3

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Zit. n. Sabine Anselm: Ästhetische und ethische Bildung im Literaturunterricht, in: Christine Lütge (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik, Berlin/Boston 2019, S. 182-201, hier S. 183. Ebd. Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin/New York 1988, S. 353. Ebd., S. 354. Anja Ballis/Vesna Bjegač: Literatur im Deutschunterricht des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Lütge (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 47-75, hier S. 51.

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seine Bildungsaufgaben für das erzieherische Teilsystem nicht vernachlässigen und den angehenden Lehrern mehr als eine bloß formale, rein fachwissenschaftliche Ausbildung zum Philologen angedeihen lassen«.8 Andererseits finden sich die historischen Wissenschaften durch den anhaltenden ›Siegeszug‹ der Naturwissenschaften einem zunehmenden »öffentliche[n] Druck« ausgesetzt, »ihre ›Lebens‹bezogenheit, und d.h. immer auch ihre Nützlichkeit, wenn schon nicht durch die Produktion von unmittelbar anwendbarem Wissen, so doch zumindest durch das Bereitstellen von Orientierungswissen zu dokumentieren«.9 Zum fachinternen Feindbild geistesgeschichtlicher Literaturwissenschaft avanciert die im Zuge der Neuausrichtung als ›positivistisch‹ diffamierte Philologie der ›Scherer-Schule‹. Letzterer wird vor allem »der Vorwurf zuteil«, sich durch die »Konzentration auf Textkritik, Quellenkunde, Editionstätigkeit, Motiv- und Stofforschung sowie auf Dichterbiographien unter jeweils bis in die kleinsten Details gehender Forschung« im Mikrologischen zu verlieren, und dabei sowohl den Bezug zum ›Leben‹ sowie »die Synthese der gewonnenen Ergebnisse in größere Zusammenhänge zu vernachlässigen«.10 »Die objektivistische Voraussetzungslosigkeit, mit der ›die Philologie‹ an ihre ›Gegenstände‹ heranzutreten zu können glaubte«, so der zentrale Vorwurf, »habe zu einer letztlich sinnentbehrenden Anhäufung von bloßen Fakten, von bloßem Material geführt.«11 Dass der Aufriß der deutschen Literaturgeschichte, einerseits, alles andere als eine ›sinnentbehrende‹ Ansammlung von Fakten bieten soll, und dass das Projekt, andererseits, mit nicht weniger als dem Anspruch angetreten ist, aus dem Fundus der deutschen Literaturgeschichte das »W e s e n h a f t - G e i s t i g e« zu extrapolieren, macht das Vorwort der Herausgeber deutlich. »In jeder der zehn Unterabteilungen« – die Unterabteilungen widmen sich, chronologisch geordnet, verschiedenen Zeitspannen bzw. Epochen innerhalb der deutschen Literaturgeschichte –, so wird der »Plan« des Projekts ausgeführt, sollte ein berufener Vertreter der Wissenschaft den Versuch unternehmen, einen ihm vertrauten Zeitraum der deutschen Literaturgeschichte auf knappem Raume und mit scharfen Linien so zu umreißen, dass nur 8 9 10 11

Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008, S. 221. Ebd. Irene Ranzmaier: Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte, Berlin/Boston 2008, S. 21. Kaiser: Grenzverwirrungen (Anm. 8), S. 220.

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noch dasjenige hervorträte, was als das wahrhaft Wesentliche und damit als das Bildungswichtigste erschiene. Der Zweck des Unternehmens war somit eine Erhebung der Literaturgeschichte über das rein Stoffliche, das in zahlreichen Handbüchern mehr oder minder zuverlässig, fast immer aber ohne eigentliche Vertiefung, dargeboten wird. Zweck war es, auf das W e s e n h a f t - G e i s t i g e zurückzugreifen und dem Grundzuge moderner Literaturauffassung Geltung zu verschaffen, d i e L i t e r a t u r g e schichte in ihrer Lebensbedeutung und als das fortlaufende Zeugnis einer Entwicklung des d e u t s c h e n G e i s t e s d a r z u s t e l l e n.12 Der damit formulierte »makrologische[] Impetus«, vermittels einer »transhistorischen Makrooptik eine Reduktion des Literaturgeschichtlichen auf ein […] ›Wesentliches‹«13 zu reduzieren, bringt nicht nur auf den Punkt, was für die geistesgeschichtliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft symptomatisch ist, sondern korrespondiert auch vollkommen dem Programm der Deutschkunde. Und dem Anspruch beider Programme wiederum, der vor allem darin kulminiert, »das W e s e n h a f t - G e i s t i g e«14 des »deutschen Wesens«15 zu erheischen – und dementsprechend die deutsche »L i t e r a t u r g e s c h i c h t e […] a l s d a s f o r t l a u f e n d e Zeugnis einer Entwicklung des deutschen Geist e s«16 zu begreifen – korreliert der optische Auftritt der von Korff und Linden herausgegebenen Literaturgeschichte – vor allem die typographische Gestaltung des Bandes. Der Aufriß der deutschen Literaturgeschichte ist in Fraktur gedruckt (vgl. Abb. 1 u. 2). Zunächst einmal kann dieser Umstand, historisch betrachtet, wenig verwundern. Die printmediale Landschaft sowohl des Wilhelminischen Kaiserreichs als auch der Weimarer Republik war noch von der Zweischriftigkeit geprägt.17 »Nach einer Statistik des Börsenvereins«, wie bei Susanne Wehde nachzulesen ist, »lag der Anteil des Fraktursatzes« im Jahr »1930«

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Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III. Kaiser: Grenzverwirrungen (Anm. 8), S. 223-224. Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III. Annonce: Zeitschrift für Deutschkunde (Anm. 2), unpag. Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III. Der ›Normalschrifterlass‹ der Nationalsozialisten im Jahr 1941 setzt der Zweischriftigkeit ein Ende. Vgl. Günter Karl Bose: Normalschrift, in: ders.: Elementum. Über Typographie, Bücher und Buchstaben, Göttingen 2020, S. 73-99, hier S. 92-93.

›Wissenschaftskunst‹?

Abb. 1 und 2: Hermann August Korff/Walther Linden (Hg.) Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten, Leipzig/Berlin 1930, Titelblatt und Seite III.

– also in dem Jahr, in dem der Band erscheint – »bei 50,5 %«.18 Trotz des insgesamt ausgeglichenen Verhältnisses variiert die Verwendung der Schriften allerdings stark, differenziert man zwischen einzelnen Textgruppen. »Während wissenschaftliche Texte, Kataloge und Fachbücher«, wie Günter Karl Bose festhält, im Normalfall »im Antiquasatz erschienen, wählte man für Werke, die eine breitere Leserschaft erwarten konnten, gewöhnlich den Satz aus Frakturlettern.«19 Als »Textgruppen«, die primär in Fraktur gedruckt wurden, führt Wehde auch die Publikationen aus dem »Bereich Populärwissenschaft bzw. Sachbuch«20 an. Letzterem Bereich muss man sicherlich auch den Aufriß der deutschen Literaturgeschichte zuordnen. Die buchmediale Visualität des Bandes entspricht also, orientiert man sich an

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Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000, S. 304. Bose: Normalschrift (Anm. 17), S. 78. Wehde: Typographische Kultur (Anm. 18), S. 304.

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den Statistiken, völlig den zeitgenössischen Konventionen. Allerdings sind Antiqua und Fraktur zu jener Zeit alles andere als rein ›funktional‹ bestimmt. Die beiden Schriftartgattungen sind, und das fast seit Anbeginn des ›Typographeums‹ (Giesecke), semantisch codiert. »Im Kontext der lutherischen Reformation zeichnet sich« eine »diskursive Verknüpfung von gebrochenen Druckschriften, deutscher Sprache und nationalsprachlichem Bewußtsein ab«, und das »bei gleichzeitiger polar entgegengesetzter konnotativer Codierung der Antiqua als Lateinschrift«; bekanntlich wählte Luther »Deutsch als Bibel- und Kirchen-Sprache der Reformation und setzte sich damit gegen den lateinsprachlichen Katholizismus ab«.21 In seinem 1928 publiziertem Werk Die neue Typographie geht beispielsweise Jan Tschichold sogar soweit, die »Fraktur« – zusammen mit den beiden anderen zeitgenössisch, wenn auch viel seltener als die eigentliche Fraktur, verwendeten gebrochenen Schriften (die allerdings häufig auch unter den Begriff Fraktur subsumierten werden), nämlich »Schwabacher« und »Gotisch« – unumwunden als ein Indiz für »Nationalismus«22 zu bestimmen. Tschichold vertritt, soviel muss eingeräumt werden, in diesem Punkt eine Extremposition. Es gibt zu jener Zeit übrigens auch Stimmen, die die Ansicht vertreten, Antiquasatz sei deutschsprachigen Texten per se angemessener. Der bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gegründete Verein für Altschrift, mit Altschrift ist in diesem Fall die Antiqua gemeint, propagiert beispielsweise die Idee, bei der Antiqua handle es sich um die »älteste deutsche Volksschrift«.23 Nichtsdestoweniger gilt die Fraktur grundsätzlich als ›genuin‹ deutsche Schrift. Entsprechend wird die Fraktur im Glossar von Paul Renners 1922 erschienenem Buch Typographie als Kunst auch als »Deutschschrift«24 bezeichnet. Und in der 1926 veröffentlichten, siebten Auflage von Friedrich Bauers Handbuch für Schriftsetzer ist von der »deutsche[n] Druckschrift«25 die Rede. Historisch gesehen, soviel am Rande, ist die Antiqua weder älter als die gebrochenen Schriften – die Antiqua geht aus der am Ende des 14. Jahrhunderts in Italien entwickelten humanistischen Minuskel hervor –, noch ist die Fraktur eine originär deutsche Druckschrift. Spezifisch deutsch ist einzig die Schwabacher. Die ›eigentliche‹ Fraktur, die,

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Ebd., S. 218-219. Jan Tschichold: Die neue Typographie, Berlin 1928, S. 77. Silvia Hartmann: Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941, 2. überarbeitete Auflage, Frankfurt a.M. 1999, S. 38. Paul Renner: Typographie als Kunst, München 1922, S. 135. Friedrich Bauer: Handbuch für Schriftsetzer, 7. Auflage, Frankfurt a.M. 1926, S. 46.

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historisch betrachtet, auf die Schwabacher, die vor allem zur Zeit der Reformation verwendet wird, folgt, entsteht auch erst im 16. Jahrhundert.26 »[Z]ur ausschließlichen Schrifttype für nationalsprachliche Druckerzeugnisse«27 avanciert die Fraktur im 17. Jahrhundert. Ihren nationalistisch konnotierten Status behält die Fraktur, abgesehen von einigen Ausnahmen, bei, solange sie verwendet wird. Der ›Normalschrifterlass‹ der Nationalsozialisten im Jahr 1941, das sogenannte ›Frakturverbot‹, setzt zwar nicht jenen Assoziationen, aber der Verwendung der Fraktur ein Ende.28 Dass der Aufriß der deutschen Literaturgeschichte – ein Sachbuch, das die Literaturgeschichte Deutschlands thematisiert – in einer Fraktur gedruckt ist, ist also an sich wenig verwunderlich. Verwunderlich wäre es eher, hätte man das Buch in Antiqua gedruckt. So viel zum Grundsätzlichen. Nun ist der von Korff und Linden herausgegebene Band, wie bereits thematisiert wurde, allerdings ein Sachbuch, das sowohl der ›Geistesgeschichte‹ als auch der ›Deutschkunde‹ verpflichtet ist – also Bewegungen, die nicht nur an deutschsprachiger Literatur interessiert sind, sondern am »W e s e n h a f t G e i s t i g e [ n ]« deutscher »L i t e r a t u r g e s c h i c h t e«, um anhand dessen »e i n e [ ] E n t w i c k l u n g d e s d e u t s c h e n G e i s t e s d a r z u s t e l l e n«.29 Und gerade jenem Vorhaben korrespondiert die Fraktur. Man sieht dem Buch, etwas pauschal formuliert, bereits auf den ersten Blick an – zumindest dann, wenn man mit dem Konzept der Geistesgeschichte, den semantischen Konnotationen von Antiqua und Fraktur zu jener Zeit und der deutschkundlichen Provenienz des Bandes vertraut ist –, dass es danach trachtet, das ›Wesenhaft-Geistige‹ der deutschen Literaturgeschichte auch optisch zu vergegenwärtigen. Die semantischen Konnotationen, die durch die Type evoziert werden, resultieren allerdings nicht nur aus der Verwendung einer, wie im Rekurs auf Tschichold konstatiert werden kann, nationalistisch konnotierten Schrift, sondern aus einem Zusammenspiel von Inhalt und optischem Auftritt. Wenn vom ›Wesenhaft-Geistigen‹ der deutschen Literarhistorie die Rede ist, dann liefert die Fraktur jenem ›Wesenhaften‹ das adäquate typographische ›Kleid‹. Wenn Gustav Kühl, im Hinblick auf die Psychologie der Schrift, im Jahr 1904 postuliert: »Bibel und

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Vgl. Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung, Wiesbaden 1999, S. 37-40. Ebd., S. 90. Vgl. Bose: Normalschrift (Anm. 17), S. 92-93. Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III.

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Gesangbuch werden auch bei uns nicht von der Antiqua erobert werden, denn diese entspricht dem Geist solcher Bücher nicht. Schon die äußere Erscheinung eines Buches, meine ich, muß etwas von der Atmosphäre seines Inhalts verraten«,30 dann ist damit jener Zusammenhang gemeint. Das heißt allerdings nicht – an diesem Punkt wäre Tschichold zu widersprechen –, dass jeder in Fraktur gedruckte Text nationalistisch aufgeladen sein muss. Typographie gewinnt ihre semantischen Implikationen vor allem durch das Wechselverhältnis zwischen Type und textlichem Inhalt. Dadurch, dass die Type des von Korff und Linden herausgegebenen Bandes in einer Beziehung zum Inhalt steht, also etwas von dessen, wie es Kühl ausdrücken würde, »Atmosphäre« vermittelt, stellt sich die Frage, ob dem Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nicht das vorgehalten werden kann, was Klaus Weimar als ein ›Symptom‹ geistesgeschichtlicher Forschung identifiziert, nämlich den Umstand, dass »Methode« innerhalb der »geistesgeschichtliche[n] Richtung« primär »eine Sache der Darstellung« zu sein scheint, »nicht der Erkenntnis«; dass es der Geistesgeschichte also, anders formuliert, vor allem um »Darstellung« geht, nicht um »Information über das Dargestellte«.31 In dieselbe Richtung zielend wirft Harry Maync den Literaturwissenschaftlern Friedrich Gundolf und Ernst Bertram bereits 1927 vor: »Die George-Schüler, Gundolf sowohl wie Ernst Bertram, sind selbst Künstler und machen sich«, so der Vorwurf Mayncs, »anheischig, im Geiste Platons und Goethes auch die Wissenschaft als Kunst zu betreiben; sie sind nicht sowohl Kunstwissenschaftler als Wissenschaftskünstler.«32 Vor dem Hintergrund derartiger Diagnosen ist es plausibel, zu vermuten, dass auch der Aufriß der deutschen Literaturgeschichte sich ›anheischig‹ macht – und das zunächst auch unabhängig von der konkreten buchmedialen Visualität des Bandes –, nicht nur ›Informationen‹ zu vermitteln, sondern das Wesen bzw. den Geist der deutschen Literaturgeschichte ›vergegenwärtigen‹ zu wollen. Das im Vorwort deklarierte Ziel, »d i e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e i n 30 31

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Gustav Kühl: Zur Psychologie der Schrift. Randbemerkungen. Zur Welt-Ausstellung in St. Louis 1904, Offenbach/M. 1904, S. 8. Klaus Weimar: Das Muster geistesgeschichtlicher Darstellung. Rudolf Ungers Einleitung zu ›Hamann und die Aufklärung‹, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a.M. 1993, S. 92105, hier S. 92-93. Harry Maync: Die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft. Rektoratsrede gehalten am 13. November 1926, dem 92. Stiftungsfeste an der Universität Bern, Bern 1927, S. 19.

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ihrer Lebensbedeutung und als das fortlaufende Zeugnis einer Entwicklung des deutschen Geistes d a r s t e l l e n«33 zu wollen, spricht diesbezüglich Bände. Die für ein derartiges Vorhaben konstitutive, teleologisch-essentialistische Wortwahl findet sich übrigens nicht nur im Vorwort. Karl Viëtor beispielsweise interpretiert das literarische Barock als »Wegstrecke zwischen Reformation und Aufklärung«, die keine »Wüste war, sondern ein höchst interessanter Landstrich der Anfänge, des Übergangs und Aufbruchs«, und resümiert: »Wir wissen nun, daß die Geschichte der Entwicklung des neuzeitlichen deutschen Geistes und seines literarischen Ausdrucks in anderem und höherem Sinne, als man bisher sah, hier beginnt, in dieser Epoche, die in Europa das Zeitalter des Barock heißt.«34 Korff geht darauf ein, dass »der f a u s t i s c h e M e n s c h e n t y p u s« symptomatisch sei für die »Goethezeit«.35 Und im Abschnitt über »Das Zeitalter des Realismus (1830-1885)« attestiert Linden dem »poetischen Realismus«, er habe zu jener Zeit »ein Großes, ja des Größte geleistet«, und zwar, »den äußeren Erfolg in innerer Klarheit verachtend, die deutsche Seele gerettet durch die Zeiten der V e r ä u ß e r l i c h u n g u n d M e c h a n i s i e r u n g h i n d u r c h«.36 Wenn Emil Ermatinger in seinen Ausführungen zum »Zeitalter der Aufklärung« behauptet, es sei »das tragische Verhängnis der Zürcher gewesen«, ihre Einsicht, dass »Dichtung […] nicht dem Verstande [entspringt], sondern dem Gemüt und der Phantasie«, »in der rationalistischen Sprache der damaligen deutschen Philosophie vortragen« zu müssen – was zu einem »Widerspruch zwischen der Form und dem Inhalt ihrer Lehre« geführt habe –, dann kann man diesen Gedanken auch auf den Aufriß der deutschen Literarturgeschichte selbst übertragen: Auch innerhalb einer geistesgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte gilt es, die Wechselwirkung zwischen Darstellung und Dargestelltem zu berücksichtigen. Dem entspricht – vom optischen Auftritt des Bandes zunächst weiterhin abgesehen – besagte Wortwahl. Begriffe wie

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Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III. Karl Viëtor: Das Zeitalter des Barock, in Korff/Linden (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte (Anm. 1), S. 83-103, hier S. 84. Hermann August Korff: Die erste Generation der Goethezeit (Sturm und Drang und Klassik), in: Korff/Linden (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte (Anm. 1), S. 126-148, hier S. 137. Walther Linden: Das Zeitalter des Realismus (1830-1885), in: Korff/Linden (Hg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte (Anm. 1), S. 167-191, hier S. 171.

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›Geist‹, ›Wesen‹, aber auch die zeitgenössisch vielbeschworene ›Idee‹,37 gehören zum Begriffsrepertoire der Publikation. Und damit kann man dem Buch fast schon unterstellen, das zu betreiben, was Maync den wissenschaftlichen Publikationen aus dem George-Kreis vorwirft, nämlich die Orientierung an einem metaphysisch anmutenden ›Ideal‹.38 Die Rede davon, dass man es dem Buch unterstellen kann, ist – und zwar im Rekurs auf Niklas Luhmann – wörtlich zu nehmen. »Mittelalterliche Textgepflogenheiten, die das Buch selbst wie einen Autor sprechen lassen«, so Luhmann in Die Wissenschaft der Gesellschaft, »haben den Buchdruck nicht überlebt. Es wäre nicht ganz abwegig, sie wiederaufzugreifen, denn schließlich stammt, jedenfalls wo es wissenschaftlich zugeht, nur sehr weniges, was in einem Buch zu lesen ist, vom Autor selbst.«39 Luhmann geht es im vorangegangenen Zitat zwar – grob gesagt – darum, darauf hinzuweisen, dass das meiste in wissenschaftlichen Büchern nicht dem ›Kopf‹ des jeweiligen Autors bzw. der Autorin entstammt, sondern gesellschaftlich erarbeitet und tradiert ist. Aber mit der typographischen Gestaltung des Sammelbandes ist es, zumindest wenn man vom Regelfall ausgeht, nicht viel anders. Dass Sachbücher in Fraktur gedruckt werden, ist – ob die typographische Gestaltung von den jeweiligen Autor:innen bzw. Herausgeber:innen im Einzelfall beabsichtigt ist oder nicht –, zumindest im untersuchten Zeitraum, Konvention. Die semantischen Implikationen, die ein Schriftstück zu evozieren vermag, resultieren, nichtsdestoweniger, stets aus dem jeweils konkreten Wechselverhältnis zwischen der Schrift und dem Inhalt. So macht es beispielsweise einen 37

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»IDEENGESCHICHTLICHE Betrachtung von Dichtung ist heute«, so ist 1926 bei Oskar Walzel zu lesen, »etwas Selbstverständliches geworden.« Oskar Walzel: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Leipzig 1926, S VII. Relativierend gilt es allerdings einzuräumen, dass es keiner der am Aufriß der deutschen Literaturgeschichte beteiligten Autoren methodisch so weit treibt wie z.B. Bertram. »ALLES Gewesene«, so ist beispielsweise in Bertrams Nietzsche zu lesen, »ist nur ein Gleichnis. Keine historische Methode verhilft uns – wie ein naiver historischer Realismus des 19. Jahrhunderts so oft zu glauben scheint – zum Anblick leibhaftiger Wirklichkeit, ›wie sie eigentlich gewesen‹. Geschichte, zuletzt doch Seelenwissenschaft und Seelenkündung, ist niemals gleichbedeutend mit Rekonstruktion irgendeines Gewesenen, mit der möglichsten Annährung auch nur an eine gewesene Wirklichkeit. Sie ist vielmehr gerade die Entwirklichung der Wirklichkeit, ihre Überführung in eine ganz andere Kategorie des Seins; ist eine Wertsetzung, nicht eine Wirklichkeitsherstellung.« Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, S. 1. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1992], 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2018, S. 11, Anm. 1.

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Unterschied, ob in einem Fraktur-Text vom ›Wesen‹ der deutschen Literaturgeschichte die Rede ist – oder z.B. von Pflanzenarten. Doch nicht nur im Hinblick darauf, in welcher ›Tradition‹ von Büchern Vermitteltes steht, ist es lohnend, auf Luhmann zurückzugreifen. Ein Rekurs auf Luhmann ermöglicht es auch, und zwar ganz grundsätzlich, der Frage nachzugehen, ob man den Aufriß der deutschen Literaturgeschichte als ein Werk bezeichnen kann, das man, zumindest in gewisser Hinsicht, nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Kunst zuordnen kann. Durch die Verwendung einer bestimmten Type ist das Buch nämlich optisch – hier sei noch einmal an die Thesen Tschicholds und Kühls erinnert – codiert. Und eine optische Codierung ist, zumindest laut Luhmann, alles andere als ein Spezifikum wissenschaftlicher Arbeiten. Eine »Verlagerung von Kommunikation in das Wahrnehmbare« ist ein Spezifikum der »Kunst«.40 Zur Kunst zählt Luhmann, unter anderem, auch Gedrucktes, wobei er dabei vor allem die »Literatur«41 im Blick hat. Doch zunächst ein paar grundsätzliche Worte zu Luhmanns Theorie. Luhmanns (in seiner grundlegenden Schrift Soziale Systeme ausführlich niedergelegte) Gesellschaftstheorie besagt, dass man die Gesellschaft nicht als Interaktion einzelner Individuen oder Gruppen miteinander definieren sollte, sondern als Kommunikation.42 Des Weiteren unterteilt Luhmann die Gesellschaft in unterschiedliche, funktional ausdifferenzierte Teilsysteme. Zwei dieser Teilsysteme sind die Kunst und die Wissenschaft, ein anderes, beispielsweise, das Recht der Gesellschaft.43 Ein funktional ausdifferenziertes Teilsystem zeichnet sich durch operative Schließung und Differenzierung gegenüber anderen Teilsystemen sowie der jeweils eigenen Umwelt aus und trägt, vermittels Autopoiesis, für den eigenen Fortbestand Sorge.44 Dass es sich vor allem 40 41 42 43

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Niklas Luhmann: Die Autonomie der Kunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 416-427, hier S. 420. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur (Anm. 40), S. 139-188, hier S. 139. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1987. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995; Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992; sowie Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. In Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst (in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur [Anm. 40], S. 139-188) formuliert Luhmann (S. 140): »Meine Hypothese ist, daß die Struktur der modernen Gesellschaft es ermöglicht, funktionsbezogene autopoietische Teilsysteme zu bilden. Die Art, wie dies geschieht, ist durch die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems bedingt. Durch funktionale Differenzierung gewinnt die Gesellschaft die Möglichkeit, die wichtigsten Teilsysteme im Hinblick auf ih-

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bei der Kunst um ein geschlossenes Teilsystem handelt, merkt man besonders daran, dass man bestimmte Kunstwerke bzw. Kunstrichtungen (wie z.B. den Futurismus, den Expressionismus und den Dadaismus) nur versteht, wenn man sich innerhalb der ›Kunstwelt‹ auskennt, also zu den, wenn man so will, ›Eingeweihten‹ gehört. Denn die »Kunst etabliert«, wie Luhmann konstatiert, »eigene Inklusionsregeln«.45 Und im Hinblick auf die »Funktion der Kunst« formuliert Luhmann die bereits zitierte These, nämlich, dass für die Kunst eine »Verlagerung von Kommunikation in das Wahrnehmbare«46 konstitutiv ist. In puncto Wahrnehmbarkeit ist für Luhmann ein Konzept zentral: die Unterscheidung von Medium und Form. Zu beachten gilt es dabei, dass weder Medien noch Formen, zumindest im Sinne Luhmanns, ontologisch verstanden werden dürfen. Die Unterscheidung zwischen Medium und Form ist stets relational, setzt also »Systemreferenz« voraus und wird ausschließlich »von Systemen aus konstruiert«.47 Als Medium bezeichnet Luhmann »den Fall loser Kopplung von Elementen«, d.h. »eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen«.48 Formen wiederum »werden in einem Medium durch feste Kopplung seiner Elemente gewonnen«49 – wobei die Kombinationsmöglichkeiten der Formbildung mannigfaltig sind, was Varietät garantiert. Dabei ist zu beachten, dass auch eine Form wiederum das Medium für weitere Formbildungen, quasi auf einer anderen Ebene, bereitstellen kann.50 »Eine lose gekoppelte Menge von Zeichen (Laut/Sinn-Differenzen) erlaubt«, wie Thomas Khurana im Hinblick auf die Sprache pointiert, »die Kopplung verschiedener

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re gesellschaftliche Funktion auszudifferenzieren und sie damit aus ihrer innergesellschaftlichen Umwelt stärker herauszulösen.« Vgl. ausführlich dazu Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 42). Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst, in: ders. Schriften zu Kunst und Literatur (Anm. 40), S. 123-138, hier S. 128. Niklas Luhmann: Die Autonomie der Kunst, in: ders. Schriften zu Kunst und Literatur (Anm. 40), S. 416-427, hier S. 420. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 43), S. 166. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ein konkretes Anwendungsbeispiel, das die Fruchtbarkeit von Luhmanns Differenzierung für den literaturwissenschaftlichen Diskurs beweist, liefert z.B. Nicolas Pethes: Ornamentaler Realismus. Zur Poetik der reinen Prosa bei Adalbert Stifter, in: Torsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 209-228.

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Worte (Formen).«51 Aber auch »[e]ine Reihe möglicher, wahrheitsfähiger, auf Wahrheit hin codierter Aussagen kann als Medium dienen, das in Gestalt einer Theorie zu einer Form gekoppelt wird«.52 Bei den »Elemente[n]«, die zu Form kondensieren, handelt es sich also nicht zwangsläufig um »›materielle‹ Teilchen«; die aus einem Medium generierte Form muss »nicht notwendig von dinglicher Natur sein«.53 In Bezug auf das »Medium der Schrift« ist die »Materialität« von Medium und Form jedoch zentral: Das Bleiben der Schrift, gerade als im Moment nicht gelesene und verstandene, aber als ein weiterhin materiell bestehendes und wahrnehmbares Ensemble, verweist auf die Potenzialität weiterer Kommunikationen (die im Lesen und ferner im Bezug nehmenden Schreiben gebildet werden können) und die Gegenwart des Inaktuellen (die Präsenz des schon Geschriebenen, des noch zu Lesenden). Sie ähnelt darin Kunstwerken, die durch ihr »materielles Substrat die Wiederholbarkeit der Beobachtungsoperation, das Mitsehen der Wiederholbarkeit und damit die Aktualisierung des im Moment Inaktuellen« garantieren – und zwar derart, dass die »Nichtidentität der Wiederholungssituation mitangezeigt« wird. Das Bleiben der Schrift und die neue Art, mit der dadurch Potenzialität und Inaktualität appräsentiert werden, beinhaltet eine Veränderung der Gedächtnishaftigkeit des Kommunikationsmediums und der Form des gesellschaftlichen Gedächtnisses. Das Substrat der Schrift fungiert als eine neue, von psychischen und neurophysiologischen Bedingungen unabhängige materielle Grundlage von Gedächtnisleistungen. Schrift macht als eine Form des »äußerlichen« Gedächtnisses die Gegenwart des Inaktuellen und den Rückbezug auf dieses in besonderer Weise sichtbar und auf direktere und andere Art sozial konditionierbar.54 Den Aspekt, dass Schrift, und zwar vermittels ihrer Materialität, etwas mit »Kunstwerken« gemein hat, gilt es an dieser Stelle zu betonen. Khurana thematisiert allerdings nur die Schrift, d.h., er differenziert nicht zwischen unterschiedlichen Schriftartgattungen. Darauf, dass im Hinblick auf Schrift

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Thomas Khurana: Niklas Luhmann – Die Form des Mediums, in: Alice Lagaay/David Lauer (Hg.): Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 97-125, hier S. 99-100. Ebd. Ebd. Ebd., S. 120-121.

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auch in diesem Punkt differenziert werden sollte, weist Marcus Krause hin. Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der buchmedialen Visualität der Erstausgabe von Robert Musils Vereinigungen aus dem Jahr 1911, die in Fraktur gedruckt ist, und einer Werkausgabe aus dem Jahr 1978, die in Antiqua gedruckt ist, erörtert Krause den Umstand, dass Medium und Form auch im Hinblick auf die Schriftart unterschieden werden können: »Auch wenn das Druckbild also jeweils einen ganz anderen Eindruck macht, liegt hinsichtlich des Mediums der (Schrift-)Sprache […] in beiden Fällen«, also in der Erst- und der Werkausgabe, »dieselbe Form, dieselbe strikte Kopplung der verwendeten Sprachzeichen, vor. Der ›Text‹ im abstrakten Sinne einer festgelegten Abfolge sprachlicher Zeichen ist in beiden Fällen derselbe.« »[A]uf der nächsten Ebene der Formbildung« allerdings wird es – zumindest dann, wenn man nicht permanent die Bezugspunkte ändern möchte, also Form und Medium nicht permanent neu definieren – »schwierig«. Man muss dann nämlich »entscheiden, ob man die offenkundige Differenz zwischen den beiden Texten in der Erst- und in der Werkausgabe dem Medium der Schrift oder dem Medium des Drucks zuordnen möchte, ob man z.B. die Differenz Fraktur/Antiqua als Problem der Schrift oder des (Schrift-)Drucks begreift.« Diese »Zuordnungsschwierigkeit« mache »deutlich, dass die Formbildung eines Mediums zu einem oder in ein neues Medium führt (also der Druck als Form des Mediums Schrift und die Schrift als Form des Mediums der Sprache aufgefasst werden kann)«, sowie, »dass mediale Artefakte wie Bücher nicht einfach nur durch den Wechsel von Formbildungen in verschiedenen Medien, also durch den Hinweis auf die festere oder losere Kopplung von Elementen beschrieben werden können. Ein Schriftsatz« sei »nämlich ein gutes Beispiel dafür, dass sich zwischen Formen und Medien Verknüpfungsweisen ausmachen lassen, deren Kopplung als weniger rigide als in Formen, aber zugleich […] stringenter als bei Medien zu beschreiben sind. Und diese Verknüpfungsweisen oder -vorgaben lassen sich«, so Krauses Fazit, »als Formate bezeichnen«.55 Im Gegensatz zu Musils Vereinigungen gibt es den Aufriß der deutschen Literaturgeschichte zwar nur in Fraktur – und auch nicht als Teil einer Werkausgabe –, von einem Format im Sinn Krauses zu sprechen, ist jedoch trotzdem plausibel. Das Buch hätte nämlich durchaus auch in Antiqua gedruckt werden können. 55

Markus Krause: Die Gestalt der Literatur. Zum Verhältnis von Form, Format und Formation in Robert Musils Journalprosa, in: Hahn/Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur (Anm. 50), S. 257-287, hier S. 266-269.

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Im Hinblick auf die Korrelation zwischen dem gewählten Format, der Fraktur, und der von den Autoren teilweise verwendeten Semantik kann konstatiert werden, dass der Band mehr ›liefert‹ als bloß eine der Objektivität verpflichtete, literarhistorische Überblicksdarstellung. Dass im Aufriß der deutschen Literaturgeschichte die deutsche Literaturgeschichte ausgelegt bzw. interpretiert wird, ist eine Sache. Bereits aufgrund dessen könnte man natürlich die Frage aufwerfen, ob man den Band, im Rekurs auf Luhmann, eher der Kunst oder der Wissenschaft der Gesellschaft zuordnen sollte. Davon, dass es sich beim Aufriß der deutschen Literaturgeschichte um Wissenschaft handeln soll, lässt das Vorwort des Bandes, in dem dessen Entstehungsgeschichte rekapituliert wird, zumindest keinen Zweifel: In jeder der zehn Unterabteilungen, so lautete der Plan, sollte ein berufener Vertreter der Wissenschaft einen Versuch unternehmen, einen ihm vertrauten Zeitraum der deutschen Literaturgeschichte auf knappem Raume und mit scharfen Linien so zu umreißen, daß nur noch dasjenige hervorträte, was als das wahrhaft Wesentliche und damit Bildungswichtigste erschiene.56 Es ist hier, wie dem vorangegangenen Zitat zu entnehmen ist, nicht nur von Wissenschaft, sondern auch von ›Wahrhaftigkeit‹, also von Wahrheit die Rede. Eine Definition davon, wie man Wissenschaft definieren kann, gibt der Band freilich nicht. Es ist allerdings, ganz grundsätzlich, sinnvoll, Wissenschaft zu definieren. In Die Wissenschaft der Gesellschaft beschäftigt sich Niklas Luhmann ausführlich mit diesem Thema. Seine zentrale These bringt Magdalene Göbl auf den Punkt: »Die Wissenschaft als selbstreferenziell geschlossenes Teilsystem einer funktional differenzierten Gesellschaft operiert mit der binären Codierung wahr/falsch«.57 Von Wahrheit ist auch im Aufriß, wie bereits bemerkt wurde, die Rede. Es gehe im Band darum, das »wahrhaft Wesentliche« der deutschen Literaturgeschichte zu skizzieren. Wissenschaft – und damit auch wissenschaftlich verstandene Wahrheit – allerdings zeichnet sich, wie Göbel (unter anderem auch im Rekurs auf Armin Nassehi und Bruno Latour) zusammenfasst, »[g]egenüber anderen Wissensarten« vor allem durch ein »methodisch gesicherte[s] experimentelle[s] Forschungshandeln[]«58 aus. Des weiteren wird »[w]issenschaftliche Er-

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Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III. Magdalena Göbl: Die Paradoxie der Ökologie. Mit einem Vorwort von Armin Nassehi, Baden-Baden 2019, S. 63. Ebd.

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kenntnisproduktion […] als praktisches Forschungshandeln verstanden und ist wesentlich vom Einsatz wissenschaftlicher Methoden und Materialien geprägt«.59 Und »[w]issenschaftliche Wahrheiten werden gemeinhin im Labor, mithin unter Bedingungen einer künstlich geschaffenen Umgebung konstruiert, die klar von« der »Außenwelt abgegrenzt ist und gegenüber den realen Einsatzbedingungen hochgradige Komplexitätsreduktionen vornimmt«.60 Eine derart enge (auf die Naturwissenschaften zugespitzte) Auffassung von Wissenschaft wirft zugegebenermaßen die Frage auf, inwiefern man die Geisteswissenschaften überhaupt dem Bereich der Wissenschaft zuordnen kann. Diese Frage kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht beantwortet werden. Wenn Robert B. Brandom, einer der führenden Philosophen auf dem Gebiet der analytischen (Sprach-)Philosophie, sein Hauptwerk Expressive Vernunft (orig.: Making it Explicit) selbst dem Genre »kreativer wissenschaftlicher Literatur«61 zuordnet, dann klingt damit genau jener Aspekt an. Dass es innerhalb der Geisteswissenschaften aber durchaus angebracht ist, von einem methodologisch fundierten ›Diskurs‹ – im Rekurs auf Oliver Jahraus und Mario Grizelj sogar von einem »Ort avancierter Theoriebildung«62  –, und deshalb von Wissenschaft bzw. Forschung zu sprechen, ist, nichtsdestoweniger, plausibel. Dass die Rede vom ›deutschen Wesen‹ oder einem ›faustischen Menschentypus‹ mit einem methodologisch bzw. theoretisch fundierten Wissens- bzw. Wahrheitsverständnis nicht viel zu tun hat, liegt auf der Hand. Tendenziell verifizierbar ist natürlich die zeitliche Situierung der besprochenen Werke sowie die Zuordnung bestimmter Werke zu bestimmten Autor:innen. Die Komposition der einzelnen Beiträge – beispielsweise die Entscheidung, was thematisiert wird und was nicht, was in welchen Kontext gestellt wird und warum – ist allerdings, ein wenig polemisch formuliert, ›Geschmackssache‹. Dieser Umstand geht sehr deutlich aus einer Rezension des Bandes in der

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Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, aus dem Amerikanischen von Eva Gilmer und Hermann Vetter, Frankfurt a.M. 2000, S. 11. Mario Grizelj/Oliver Jahraus: Einleitung: Theorietheorie. Geisteswissenschaft als Ort avancierter Theoriebildung – Theorie als Ort avancierter Geisteswissenschaft, in: dies.: Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften, München 2011, S. 9-14, hier S. 9.

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Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur hervor. Hermann Schneider resümiert, wie selbstverständlich, dass »natürlich jeder der zehn vff. im grund unter litteraturgeschichte etwas anderes [versteht], aber das ist gerade der vorzug des buchs«.63 Und wenn es am Ende der Rezension heißt, dass »das buch« dem »kenner der deutschen litteratur […] viel anregung und freude [bereitet]«,64 dann wird deutlich, dass nicht nur die Komposition der einzelnen Beiträge einzig dem Ermessen der Verfasser unterliegt, sondern auch, dass das, was das Buch hervorruft – »anregung und freude« –, sich in gewisser Hinsicht mit dem überschneidet, was man von Literatur erwartet. Berücksichtigt man, dass, zusammengefasst, nicht nur der Komposition der einzelnen Beiträge sowie der essentialistischen Semantik ein gewisser Grad an kompositorischer Willkür anhaftet, sondern auch, dass der Band zudem auch durch die verwendete Schrifttype (potentiell) codiert ist, dann lässt sich behaupten, dass der Aufriß der deutschen Literaturgeschichte (auch) eine Inszenierung dessen liefert, was im Vorwort programmatisch angekündigt wird: eine Darstellung des »W e s e n h a f t - G e i s t i g e [ n ]« der deutschen Literaturgeschichte sowie der »E n t w i c k l u n g d e s d e u t s c h e n G e i s t e s«.65 Zu behaupten, dass es sich beim Aufriß der deutschen Literaturgeschichte um Kunst bzw. Literatur im konkreten Sinn handelt, geht sicherlich zu weit. Ebenso fragwürdig wäre es allerdings, hier vorbehaltlos von Wissenschaft zu sprechen. In der Terminologie Luhmanns ausgedrückt, könnte man konstatieren, dass der Band von Korff und Lindner die eigentlich für die Kunst spezifische Umfokussierung von Kommunikation auf Wahrnehmung imitiert, also auf die Wissenschaft zurück überträgt, und auf diese Weise selbst ästhetische Effekte generiert. So gesehen oszilliert der Band zwischen Wissenschaft und Kunst. Es wird nämlich nicht nur auf einer abstrahierenden Ebene über Kunst geschrieben, sondern sich gleichzeitig auch der Mittel bedient, die Kunst als Kunst auszeichnen: eine Vermittlung von Inhalt durch Form.

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Hermann Schneider: Aufriss der deutschen literaturgeschichte nach neueren gesichtspunkten. In verbindung mit E. Ermatinger, P. Merker, G. Müller, H. Naumann, H. Pongs, Fr. Strich und K. Viëtor herausgegeben von H. A. Korff und W. Linden, Leipzig/Berlin, Teubner 1930, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 68, 4. H. (1931), S. 173-176, hier S. 173. Ebd., S. 175. Korff/Linden: Vorwort (Anm. 1), S. III.

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Und diese Stellung zwischen Wissenschaft und Kunst teilt sich der Aufriß, um an dieser Stelle eine provokante These zu formulieren, auch mit aktuellen Büchern, in denen eine professionelle Auseinandersetzung mit Literatur anzutreffen ist. Die Option, Texte entweder in Antiqua oder Fraktur zu drucken, steht heutzutage natürlich nicht mehr (ernsthaft) zu Debatte. Innovative Modi geisteswissenschaftlicher Darstellung allerdings haben durchaus Konjunktur. Friedrich A. Kittlers Aufschreibesysteme beispielsweise erscheint, was einen Bruch mit jedweder Konvention geisteswissenschaftlicher Gepflogenheiten darstellt, in einer serifenlosen Antiqua.66 Dies kann als performativer Akt verstanden werden, da die buchmediale Visualität von Kittlers Buch der geschulten Leserschaft – beim Lesen – unmittelbar als befremdlich ins Auge springt, wodurch die mediale Beschaffenheit von Schrift demonstrativ zur Schau gestellt wird. Dieser Umstand wiederum korreliert mit Kittlers besonderem Interesse an der Technizität der Medien sowie der von ihm betonten »Abhängigkeit des Schreibens von seiner medialen Bedingtheit«67 – wenngleich sich Kittler in seinem Buch inhaltlich auf die Zeit um 1800 und 1900, nicht auf die Zeit der Abfassung bzw. des Drucks seiner eigenen Arbeit, fokussiert. Die Pfennig-Magazine zur Journalliteratur treten der Leserschaft im Spaltensatz gegenüber – wie ein Großteil der darin erörterten Zeitschriften.68 Die vom Wallstein Verlag herausgegebene Reihe zur Ästhetik des Buches beschäftigt sich nicht nur mit der konkreten Materialität von Texten. Die einzelnen Hefte überzeugen auch mit einer ambitionierten typographischen Gestaltung, wodurch, quasi performativ, demonstriert wird, dass die Gestalt eines Textes in einem Bezug steht (bzw. gestellt werden kann) zu dessen Inhalt.69 Und Stefanie Junges Oszillation als Strategie romantischer Literatur, ein, wie der Untertitel verrät, Experiment in drey Theilen, wartet mit einem, roman-

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Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. Die vierte Auflage allerdings bricht wiederum mit dem Konventionsbruch. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, vierte, vollständig überarbeitete Neuauflage, München 2003. Jochen Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Literatur. Mit einem Versuch über Jahnns Prosa, Stuttgart 2000, S. 199. Vgl. z.B. Nicola Kaminski/Jens Ruchatz: Journalliteratur – ein Avertissement, Hannover 2017 (= Pfennig-Magazin zur Journalliteratur, Heft 1). Vgl. z.B. Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014.

›Wissenschaftskunst‹?

tische Darstellungsmuster adaptierenden, Zwiegespräch als Prolog auf.70 Mit der tendenziell nationalistisch ausgerichteten Geistesgeschichte der 1920er und der frühen 1930er Jahre haben die zuletzt genannten Publikationen aber ansonsten freilich nichts gemein. Es wäre vielleicht, ganz grundsätzlich, an der Zeit, dass sich die Geisteswissenschaften auch theoretisch damit auseinandersetzen, inwiefern fachwissenschaftliche Publikationen von der Einsicht profitieren können, dass ›Form‹ und Inhalt, zumindest potentiell, in einem Wechselverhältnis stehen.71 Bereits Roger Chartier weist darauf hin, dass eine »rein semantische[] Definition« eines »Textes« davon abstrahiert, dass auch »Formen den Sinn erzeugen«.72 Und eine Form hat jeder Text, auch ein wissenschaftlicher. Bedenkt man zudem, dass geisteswissenschaftlichen Publikationen, und das auf vielerlei Ebenen, stets ein Moment des Kontingenten anhaftet, dann kann konstatiert werden, dass wissenschaftliche und literarische Produktionen eine mehr als nur marginale Schnittmenge aufweisen. Mit Kontingenz behaftet sind nicht nur die optischen Auftritte geisteswissenschaftlicher Publikationen, der Aufbau der Texte oder die Wahl der Methode. »Auch Wissenschaftler müssen«, wie Luhmann festhält, wenn sie publizieren wollen, Sätze bilden. In der dafür notwendigen Wortwahl herrscht jedoch ein für die meisten Leser unvorstellbares Maß an Zufall. Auch die Wissenschaftler selbst machen sich dies selten klar. Der weitaus größte Teil der Texte könnte auch anders formuliert sein und wäre auch anders formuliert, wenn er am nächsten Tag geschrieben worden wäre. Die Füllmasse der Worte, die zur Satzbildung erforderlich sind, entzieht sich jeder begrifflichen Regulierung. Zum Beispiel »entzieht sich« im vorangehenden Satz. Das läßt sich nicht vermeiden, selbst dann nicht, wenn man auf die

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Stefanie Junges: Oszillation als Strategie romantischer Literatur. Ein Experiment in drey Theilen, Paderborn 2020 (= Schlegel-Studien, Band 13). Einen historisch orientierten, allerdings von wenig Resonanz geprägten Aufschlag diesbezüglich hat Michael Cahn bereits 1991 gemacht. Vgl. Michael Cahn: Die Medien des Wissens. Sprache, Schrift und Druck, in: ders. (Hg.): Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation, Wiesbaden 1991 (= Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge 41), S. 31-64. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Aus dem Französischen von Brita Schleinitz und Ruthard Stäblein, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 8.

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Unterscheidbarkeit und Wiedererkennbarkeit von Worten, die mit begrifflicher Bedeutung aufgeladen sind, äußerste Sorgfalt verwendet.73 Angesichts dessen, dass auch der Inhalt von Texten, zumindest größtenteils, der ›Kreativität‹ der Verfasser:innen anheimgestellt ist, könnte man sich durchaus die Frage stellen, ob dieser Umstand sich auch im äußeren Erscheinungsbild einer Publikation widerspiegeln sollte – oder ob es gerade deshalb geboten ist, sich an eine konventionelle Form der Darstellung zu halten.

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Niklas Luhmann: Lesen lernen, in: ders. Schriften zu Kunst und Literatur (Anm. 40), S. 9-13, hier S. 9.

Ästhetiken

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹ Zur Rahmung heterogener Elemente in Karl Philipp Moritz’ Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente Torsten Hahn

Die folgenden Ausführungen sind Karl Philipp Moritz’ Vorbegriffen zu einer Theorie der Ornamente (1793) gewidmet. Es geht dabei nicht um eine Diskussion der Kunsttheorie im Kontext der Ästhetik der Zeit, sondern um die Frage nach den Vorbegriffen als ›Buch‹. Mit ›Buch‹ ist dabei kein physischer Gegenstand gemeint, sondern ein ›Werk‹, letzteres verstanden im Sinne der Zeit, nämlich als ein abgeschlossenes und, mit dem leicht abgewandelten Fragment eines Aufsatz-Titels von Moritz: in sich vollendetes Ganzes. Dies bedeutet, wie gezeigt werden soll, zugleich auch einen Wechsel vom Register des Lesens in das des Wahrnehmens. Der Text selbst ist eine von Moritz kurz vor seinem Tod buchförmig veröffentlichte Kompilation bereits verstreut publizierter Schriften. Der vorliegende Beitrag fragt vor diesem Hintergrund danach, wie daraus ein ›Buch‹ im oben bestimmten Sinne wird. Die Frage ist, ob und wie die Schließung gelingt. Dieser Transfer von einer theoretischen Schrift zum letztlich kunstförmigen Werk wird von dem Umstand, dass Moritz dem Text durch den Titel einen vorläufigen Status (Vorbegriffe) zuweist, keineswegs dementiert. Es geht, wie Moritz anlässlich der Frage nach der Beschreibbarkeit von Kunstwerken ausführt, darum, zu verfolgen, wie »die Beschreibung mit dem Beschriebenen eins wird, weil sie nicht mehr um des Beschriebenen willen da ist, sondern ihren Endzweck in sich selber hat«1 . Das Buch (der physische Gegenstand) verweist nach seiner Schließung, die sich im Moment des Wechselns vom Lesen zum Wahrnehmen des ›Buchs‹ (als Werk) vollzieht, nicht mehr auf einen 1

Karl Philipp Moritz: Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können, in: ders.: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie, hg. von Heide Hollmer (= Werke in zwei Bänden, 2), Frankfurt a.M. 1997, S. 992-1003, hier S. 998.

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externen Zweck in seiner Umwelt (wie z.B. Studenten etwas über Ornamente beibringen), sondern nur auf sich und seine innere Vollendung, d.h. Schließung durch Rahmung.2 Um der Spur dieser inneren Vollendung, die die im Titel sedimentierte Intention des Autors unterläuft, nämlich Vorläufiges, im Sinne von noch nicht Abgeschlossenem vorzulegen, und sich so gegen diesen wendet, steht im Folgenden die Logik des Ornaments und des Rahmens im Zentrum. Der Text folgt damit der Spur der Konstitution des ›Buchs‹ im Sinne eines werkförmigen Ganzen, das sich von seiner Umwelt und seinem Schöpfer abgrenzt.3 Aus dem Schreiben ›über‹ Ornamente und Rahmen wird die Rahmung des Werks. Der Diskurs über Ornamente verfügt also über performative Kraft: Er bringt das hervor, wovon er handelt, gerahmte Kunstwerke nämlich.4 Die Frage lautet also: Wie wird aus der Publikation verstreut erschienener und nur mit minimalen Änderungen erneut publizierter Beiträge ein ›Buch‹? Welches Element der Schrift vollzieht die Transformation? Dies führt zugleich zu folgender Frage: Wann schlägt Lesen in Sehen bzw. Kommunikation in Wahrnehmung um? Das Werk Karl Philipp Moritz’ stellt eine dichte Verschlingung spätaufklärerischer und klassisch-romantischer Diskursstränge dar. Moritz ist vor allem Autor zentraler autonomieästhetischer Aufsätze, die noch der Aussage, Zweck des Kunstwerks sei es, zu vergnügen, keineswegs aber zu nutzen, eine 2

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Das Kunstwerk verweist für Moritz auf nichts ihm äußerliches, im Gegensatz etwa zu »Uhr« und »Messer«: »[D]iese haben ihren Zweck außer sich.« Dagegen ist es »[b]eim Schönen […] umgekehrt. Dieses hat seinen Zweck nicht außer sich und ist […] wegen seiner eigenen inneren Vollkommenheit da.« Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten, in: ders.: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie (Anm. 1), S. 943-949, hier S. 944. Es geht also darum, das Werk-Werden des Buchs vor dem Hintergrund von Moritz’ eigenen ästhetischen Prinzipien zu diskutieren. Was der Abkopplung des Kunstwerks von allen äußeren Ursachen geschuldet ist, die zentral für Moritz’ Ästhetik ist. Vgl. die Formulierung bei Dembeck, mit Bezug zum Rahmen: Das Kunstwerk »entfaltet eine Eigendynamik, in der das Werk […] im Grunde seine eigene Rahmung übernimmt und sich damit auch gegenübe [sic!] seinem Schöpfer isoliert.« Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin/New York 2007, S. 275. Vgl. zu Paratext, Rahmen, Parerga, Performativität und Grenze, also den auch im Folgenden zentralen Begriffen: Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus der Herausgeberfunktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München 2008, S. 81-118.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

Absage erteilen.5 Das Horaz’sche Paradigma, das die ästhetischen Diskurse der Aufklärung vorsteuerte, wird von Moritz nicht nur aufgebrochen und zugunsten des delectare entschieden, wie etwa von Friedrich Nicolai oder Johann Elias Schlegel, sondern insgesamt verabschiedet. Zugleich bleibt Moritz auf Distanz zum Kant’schen Ästhetizismus der Formästhetik, der sich deutlich in den Beispielen für die pulchritudo vaga – Laubwerk und Zeichnungen à la grecque werden bekanntlich in der Kritik der Urteilskraft paradigmatisch enggeführt6 – niederschlägt. Tatsächlich, dies wird häufig übersehen, geht Moritz’ Absage an jedweden äußeren Zweck der Kunst, die zugleich aber die zweckmäßige Anordnung der dem Werk immanenten Teile konstatiert, der Kunsttheorie Kants voraus. Inwieweit Kant bei der Entwicklung seiner Kunsttheorie von Moritz beeinflusst wurde, wird kaum zu ermitteln sein. Allerdings bleibt anzumerken, dass im dritten Stück der Berlinischen Monatsschrift des Jahrgangs 1785, in der Moritz den Aufsatz publiziert, der das In-sich vollendetsein7 zum Prinzip der Kunst erklärt, Kant einigermaßen unfruchtbar über die Vulkane im Monde spekuliert. Dennoch blieb Moritz’ Werk lange unterschätzt, trotz des Fürsprechers Goethe, der ersteren in einem Brief an Frau von Stein als seinen vom Schicksal dort, wo er begünstigt wurde, benachteiligten jüngeren Bruder bezeichnete.8

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So die Ausführungen im 1785 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (Anm. 2), S. 944: »Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unsrer bedarf, um erkannt zu werden. Wir können sehr gut ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen, diese aber können, als solche, nicht wohl ohne unsre Betrachtung bestehen. Je mehr wir sie also entbehren können, desto mehr betrachten wir sie um ihrer selbst willen, um ihnen durch unsre Betrachtung gleichsam erst ihr wahres volles Dasein zu geben.« Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 16, in: ders.: Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg. von Manfred Frank/Véronique Zanetti, Frankfurt a.M. 2009, S. 555-558. Vgl. Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung (Anm. 2). Durch die innere Vollendung des Werks sollen sich wahrhaft kunstförmige Werke von alltäglichen Gegenständen abgrenzen. »Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin«, schreibt Goethe bekanntlich im Dezember 1786 an Charlotte von Stein, vgl. Brief an Charlotte von Stein vom 14. Dezember 1786, in: Johann Wolfgang Goethe: Italien – im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794, hg. von Karl Eibl (= Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1991, S. 193.

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Ob es nun Moritz’ früher Tod im Jahr 1793 war, der die Systematisierung seines Denkens verhindert hat, oder ob die Systemform schlicht nicht seinem Denken entsprach, wofür meines Erachtens die einigermaßen dunklen Stellen in den Aufsätzen sprechen, ist eine letztlich müßige Frage. Seine Theorie des Ornaments musste, soviel ist gewiss, im Status der Vorbegriffe verharren. Die Schrift Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente veröffentlicht er in seinem Todesjahr. Sie ist der Versuch, vor dem Tod das zusammenzubringen, was bisher verstreut publiziert wurde und dieses – und darin liegt die eigentliche Aufgabe – zu vereinheitlichen. Letzteres ist aufgrund der Heterogenität der Teile alles andere als trivial. In der bei DKV erschienenen Ausgabe des Bandes Klassik und Klassizismus, die Moritz’ Schrift enthält, wird etwa im Kapitel Über die Allegorie ein »Vereinigungspunkt«9 ausgemacht. Dieser Sichtweise zufolge ist es ebenjenes Kapitel, das die Schließung vollzieht. Das Fazit lautet dann: »Das Buch, das sich auf den ersten Blick wie kunterbunt zusammengeflickt ausnimmt, erscheint beim näheren Hinsehen absichtsvoller, grundsätzlicher und ernst.«10 Im Folgenden wird es, mit Blick auf die oben angesprochene performative Dimension, ergänzend oder vielleicht sogar alternativ zu diesem Befund um das gehen, was er voraussetzt, nämlich, dass es sich bei den Vorbegriffen überhaupt um ein Buch handelt – was selbstverständlich vom Verständnis des Begriffs abhängt.11 Dieses soll über die Frage, ob man der Publikation Absicht und Ernst unterstellen kann, hinausgehen. Es geht mir vielmehr darum, die Frage nach dem ›Buch‹ jenseits der Intention Moritz’ zu stellen. Im Gegensatz zur Setzung des buchförmigen Charakters möchte ich danach fragen, wie der Text das Buch als ein Ganzes performativ hervorbringt – was durchaus offen

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Helmut Pfotenhauer: Kommentar zu Karl Philipp Moritz Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente, in: ders.: (Hg.): Klassik und Klassizismus. (= Bibliothek der Kunstliteratur, 3), Frankfurt a.M. 1995, S. 758-801, hier S. 779. Ebd., S. 782. Hierbei ist auch an die Unterscheidung von materieller und konzeptueller Buchförmigkeit denken, vgl. dazu Charlotte Coch: Lektüre als Form. Zum absoluten Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann, Bielefeld 2021, S. 15: »Mit dem an Mallarmé angelehnten Terminus des absoluten Buchs ist hier eine sich im Text vollziehende Schließungsbewegung gemeint, die als konzeptuelles Buch mit dem materiellen Buch in einem Verhältnis steht, das jedoch – wie zu zeigen sein wird – historischen Wandlungen unterliegt.« Vgl. auch die Unterscheidung von kleingeschriebenen und großgeschriebenen Büchern bei Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018, S. 27.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

bleibt für die zentrale Annahme der Intertextualität, dass nämlich das Buch nur eine statische Phase des Textes ist.12 In Frage stehen damit der Begriff ›Buch‹ und der mit diesem verwandte Begriff ›Werk‹. Dies führt im Folgenden noch einmal in die abgründige Diskussion um die Parerga im Sinne der Dekonstruktion, denn bei der Frage nach dem Buch geht es um die Möglichkeit der Schließung bzw. den Versuch der Überformung des Verstreuten durch einen Rahmen. Die Vorbegriffe bestehen zunächst aus einer Folge von Texten, die aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und deren Schnittkanten nicht oder wenn überhaupt nur minimal geglättet, gefugt oder verborgen wurden. Es sind Teile eines zentrumslosen Diskurses des Ornamentalen, deren Ränder ausgestellt sind.13 Über deren Herkunft informiert etwa die von Hanno-Walter Kruft besorgte Konkordanz, die dem fotomechanischen Nachdruck der Vorbegriffe von 198614 vorausgeht. Die Frage nach der gelungenen Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit und damit die Verhinderung der Dispersion der Teile, was im Sinne von Moritz’ Ästhetik das Absinken auf den Status der ›Vielfältigkeit‹ bedeuten würde, möchte ich mit der Frage verbinden, ob es sich bei den Vorbegriffen um ein ›Buch‹ im Sinne des Werks handelt. Moritz’ Buch ist dann zugleich Ästhetik wie selbst kunstförmige Kommunikation, oder anders: es ist zugleich Kunstwerk wie dessen Theorie, es beschreibt das Kunstwerk und bringt es/sich dabei als ›Buch‹ hervor. Das, was hier ›Buch‹ genannt wird, 12

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Vgl. Julia Kristevas Aussage zum ›Buch‹: »Mehr noch, da die Zersetzung des Symbolischen durch das Semiotische im Hinblick auf ein Objekt stattfindet – ein Buch, das Werk –, tritt dieses Objekt dann nicht an die Stelle des thetischen Moments, nimmt es nicht dessen Platz ein? Verdunkelt das Objekt nicht die ihm zugrunde liegende Symbolhaftigkeit, indem es sie mit seiner Präsenz füllt, deren Anspruch auf allgemeine Verbreitung in umgekehrtem Verhältnis zur individuellen Begrenztheit steht?«, in: dies.: Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen von Reinold Werner, Frankfurt a.M. 1978, S. 74. Das intertextuelle Verständnis von ›Buch‹ und ›Text‹ hat auch direkte Folgen für die editorische Praxis, hier sei auf den wichtigen Aufsatz von Günter Martens verwiesen: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie, in: Poetica 21 (1989), S. 1-25. Zuletzt auch in gekürzter Fassung in: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hg.): Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, S. 94-115. Vgl. Karl Philipp Moritz: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Faks.-Neudr. d. Ausg., Berlin 1793. Mit einer Einführung von Hanno-Walter Kruft, Nördlingen 1986, S. 27-30. Ebd., S. 27-28.

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suspendiert damit die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Metakommunikation. In ein Luhmann’sches Begriffspaar gebracht15 geht es darum, zu fragen, was der Varietät der heterogenen Bestandteile der Vorbegriffe so viel Redundanz beisteuert, dass diese sich als ›Buch‹ stabilisieren. In diese Begriffe aus Luhmanns Kunst der Gesellschaft gebracht muss, zumindest wenn man dessen Lösung ernst nimmt, die Frage nach der Produktion eines »inneren Ornament[s]«16 gestellt werden. Luhmann beschreibt die Dynamik oder Bewegung, in der das innere Ornament durch die Differenz von Varietät und Redundanz eine paradoxe Einheit realisiert (die durch ihre paradoxe Verfasstheit auf Selbstdekonstruktion angelegt ist – was der Dynamik aus Stasis und Dynamik, die Text als Text auszeichnet, Rechnung trägt): »Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen. Sie lassen die Einheit von Redundanz und Varietät erscheinen. Dabei werden die Übergänge unkenntlich gemacht, zumindest nicht als Brüche betont, denn jede Stelle im Ornament ist zugleich die andere einer anderen.«17 Man beachte hier schon Luhmanns Rückgriff auf das Register der Wahrnehmung, wenn es um die Invisibilisierung der Übergänge geht – die Einheit ist eine erscheinende. Auf das Paar Wahrnehmung/Kommunikation werde ich noch zurückkommen. Im Fall der Vorbegriffe, dies sei hier schon vorausgeschickt, wird das innere Ornament durch ein auf der Schwelle von Innen und Außen angesiedeltes, paratextuelles Element produziert. Anders formuliert: Moritz schreibt über Ornamente, bringt aber dabei gleichzeitig einen ornamentalen, rahmenden Diskurs hervor, in dessen Zentrum die Produktion von Einheit steht. Das Thema wird so in den Text eingefaltet und dieser durch das Ornamentale zum Buch: Das Äußere wird zum Inneren. Ornamente sind im Sinne der Systemtheorie, an die hier angeschlossen wird, insofern eine paradoxe Sache, als sie »einen durch sie selbst definier15

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Die Unterscheidung wird insbesondere für Kunstwerke verwendet, vgl. etwa Peter Fuchs: Niklas Luhmanns Notizen zu »Reden und Schweigen«, in: Soziale Systeme 5.2 (1999), S. 213-238, hier S. 216: »Bei einem auf Elemente aufgeteilten System (Kunstwerk) ist die Redundanz in dem Maße höher, als man von einem Element aus andere erraten kann, der Informationswert der weiteren Kenntnisnahme also abnimmt. Das Problem aller Kunstwerke scheint darin zu bestehen, hinreichende Redundanz mit größtmöglicher Varietät (Zahl und Verschiedenheit der Elemente) zu kombinieren – eine Art Leibnizformel.« Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 198. Ebd., S. 195.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

ten und gleichsam von innen geschlossenen Raum voraus[setzen]«18 . Gelingt dies, wird eben ein »inneres Ornament«19 beobachtbar – also Einheit hergestellt. Diese Herstellung von Einheit gehört zu den obersten ästhetischen Prinzipien, die in den Vorbegriffen entfaltet werden. Als ästhetisches Prinzip findet es sich in den Ausführungen zu »Abwechslung und Einheit in der Landschaft«20 . Dort heißt es entsprechend: »In einer Landschaft, wo die verschiedensten Gegenstände aus der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, ohne Plan und Zweck zusammen gedrängt sind, […] herrscht Vielfältigkeit, aber keine Mannichfaltigkeit.«21 Und weiter: »Wo Mannichfaltigkeit herrscht, da bietet sich bei den verschiedensten Gegenständen dennoch ein Hauptgesichtspunkt für das Ganze dar, worunter sich alles übrige ordnet, und die Übersicht dem Auge erleichtert wird.«22 Der Hauptgesichtspunkt bezeichnet eine höhere, nicht-triviale Form der Wahrnehmung von Einheit, nämlich ›Einheit‹ in Form der Synthesis des Mannigfaltigen. Die Fixierung eines inneren Plans und Zwecks verhindert das Auseinanderdriften der Elemente. Alles ist, obwohl verschieden, zweckmäßig aufeinander bezogen. Es ist nun die unwillkürliche Tätigkeit des Geistes, einen solchen Hauptgesichtspunkt zu schaffen. In den Vorbegriffen heißt es: »Der menschliche Geist ist immer wirksam […] er schafft und bildet nach sich selber […]. Was ist es anders, als der innere Trieb nach Vollkommenheit […], der demjenigen, was an sich keinen Schluß, keine Grenze hat, eine Art von Vollendung zu geben sucht, wodurch es sich zu einem Ganzen bildet.«23 Zunächst war dieser Text ein Kapitel in Reisen eines Deutschen in Italien und unter der Überschrift »Über Verzierungen« als Gedanken »[b]ei Betrachtung der Logen des Raphael«24 ausgewiesen und publiziert worden. Durch die Tilgung des Anlasses der Reflexion soll der Text bei seiner späteren Verwendung und erneuten Publikation als allgemeine Einleitung fungieren. Die Bildung zu einem Ganzen wird im Folgenden im Punkt des Umschlags von Kommunikation in Wahrnehmung aufgesucht, der von einer Irritation des

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Ebd., S. 185. Ebd., S. 198. Moritz: Vorbegriffe (Anm. 13), S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 3. Pfotenhauer: Kommentar (Anm. 9), S. 773.

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Bewusstseins ausgelöst wird.25 Das ›Buch‹ bedarf also des Lesers, um als Ganzes hervorgebracht zu werden.26 Dies setzt nicht zuletzt die Bereitschaft des Lesers voraus, sich irritieren zu lassen. Es geht darum, das Angebot des Textes anzunehmen, also die Tendenz27 im eigenen Bewusstsein zu realisieren. Weiter bedeutet es, die Absonderung des Werks von der Umwelt mitzuvollziehen, also die Bereitschaft, dem Rahmen Aufmerksamkeit zu schenken – und ihn nicht als ›bloßes‹ Beiwerk des Werks zu vernachlässigen. Es gilt also ernst zu nehmen, dass, wie wiederum Schlegel jedem Kunstwerk zumutet, dieses »seinen Rahmen mit auf die Welt«28 bringt. Das Werk muss, wie es in dem entsprechenden Fragment aus den Fragmenten zur Litteratur und Poesie heißt, »die Kunst merken lassen«29 . Übersetzt man dies in die Begriffe der Schrift, die hier im Zentrum steht, um die im Folgenden zentralen Begriffe zu umreißen, stellt sich die Frage nach dem ›Buch‹ als die des Kunstwerks und seines wesentlichen (da es das Kunstwerk als Ganzes allererst hervorbringt) »Supplements, […] [der] äußerliche[n] Ergänzung«30 : dem Ornamentalen. Dieses führt dann zu dem, was das Kunstwerk umschließt und absondert: den Rahmen als ein Umfassen-

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Vgl. dazu die Literatur-Definition bei Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003. Vgl. Fußnote 5. Das wahre volle Dasein ist die Synthesis des Mannigfaltigen zu einem Ganzen. Hier wäre selbstverständlich auch an den frühromantisch aufgeladenen TendenzBegriff zu denken, wie er sich in zahlreichen Fragmenten des Athenäums, am berühmtesten wohl im Fragment 216 (»Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« [Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner. (KFSA Bd. II), München u.a. 1967, S. 198]) ausdrückt, und wie er an dieses Fragment anschließend von Schlegel im Essay Über die Unverständlichkeit eigens als selbstverständlich selbst ironisch-progressiver Begriff ausgelegt wird, vgl. ebd., S. 363-372. Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie, Nr. 80, in: Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar, hg. von Hans Eichner. (KFSA Bd. XVI), Paderborn u.a. 1981, hier S. 92. Ebd. Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 254.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

des von Teilen, die durch ihn, und damit durch etwas Äußeres, zum Ganzen werden.31 Zunächst sei nun, um die angesprochene Logik zu entfalten, Jacques Derridas Lektüre der Kritik der Urteilskraft aus La vérité en peinture (1978)/Die Wahrheit in der Malerei (1992) wiederholt.32 Damit ist die Frage nach den Elementen, die um das Werk herum sind, sich von ihm unterscheiden und dennoch konstitutiv für es sind, aufgerufen. Dies ist zugleich die Frage nach dem ›Buch‹ – und mit der Frage nach dem Buch ist zugleich die des Kunstwerks gestellt. Es heißt also, sich auf die Suche nach einem ornamentalen Supplement zu begeben, das in den Text ein- (als Theorie des Ornaments) und aus diesem ausgefaltet (als Rahmen) ist. Der Bewegung des Supplements zu folgen, bedeutet zugleich die Wiederholung einer Form des Lesens, die einen Text gegen den Strich als Kunstwerk behandelt und damit die Frage nach dem Buch stellt. Derrida bestimmt in diesem Sinne seine Form der Lektüre der Kritik der Urteilskraft wie folgt: Indem ich die dritte Kritik als ein Kunstwerk oder einen schönen Gegenstand behandle, was nicht gerade ihre Bestimmung war, tue ich so, als ob die Existenz des Buches mir gleichgültig wäre (was, wie Kant uns erklärt, von jeder ästhetischen Erfahrung gefordert wird) und mit einer unerschütterlichen Gleichgültigkeit betrachtet werden könnte. | Aber was ist die Existenz eines Buches?33 Damit ist eine grundsätzliche Frage gestellt, um die auch der vorliegende Text kreist. Analog dazu wird es darum gehen, die Vorbegriffe als Kunstwerk zu diskutieren, auch wenn dies selbstverständlich von Moritz so nicht intendiert war. Es geht mir darum, zu zeigen, wie die Schließung eines theoretischen Textes (die Emergenz des ›Buchs‹), diesen als das hervorbringt, wovon er handeln soll: nämlich Kunst. Die Frage nach Existenz eines Buches ist dann eine Frage, die sich im Feld der Theorie stellt und von der Kunst beantwortet wird. Zumindest ist es im Fall der Vorbegriffe offenbar einfacher, interesselos zu werden, was die Existenz genau dieses Buches betrifft: Die Germanistik hat

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Vgl. dazu grundsätzlich, besonders aber mit Blick auf die ästhetischen Schriften Moritz’ und die Theorie des Rahmens Dembeck: Texte rahmen (Anm. 3). Vgl. dazu im Kontext einer Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie zwischen Moritz und Kant ebd., S. 275-284. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, hg. von Peter Engelmann, Wien 1992, S. 63.

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dies lange geschafft – und auch gegenwärtige Moritz-Ausgaben, wie etwa die des Deutschen Klassiker Verlags, ignorieren sie nach wie vor, aus ja teils durchaus nachvollziehbaren ökonomischen Gründen.34 Als geschlossene Einheit bzw. als Reproduktion des ›Buches‹ sucht man die Vorbegriffe in der zweibändigen Moritz-Ausgabe vergeblich: was so verloren geht, ist weniger eine Frage des Gehalts (die Änderungen sind marginal), denn der Produktion von Einheit aus dem Dispersen. Die faksimilierte Ausgabe lässt der Schrift in diesem Sinne mehr Gerechtigkeit widerfahren, ohne die Erstausgabe ersetzen zu können.35 Das ›Buch‹ Vorbegriffe einer Theorie der Ornamente ist offenbar angesiedelt auf der Schwelle von An- und Abwesenheit. Diese Schwelle ist vermutlich zugleich der existentielle Grund der Versammlung der Schriften im ›Buch‹: Kurz vor seinem Tod versucht sich Moritz in dieser Form an einer Bilanzierung seiner Theorie des Ornaments. Die Vorbegriffe sind, jenseits dieses biographischen Umstands, in einem emphatischen Sinn ›Text‹: Sie sind die Stasis des Textes, der zugleich immer wieder im Textstrom aufgeht. An das ›Buch‹ lassen sich eben jene Fragen stellen, die Derrida mit Blick auf die dritte Kritik als Aussagen präsentiert: »Wie soll man dieses Buch behandeln. Ist es ein Buch. Was heißt, dies Buch zu lesen. Wie soll man es nehmen. Habe ich das Recht zu sagen, daß es schön ist.«36 Und es geht abgründig weiter, insofern das Buch noch weiter verschoben und nahezu unerreichbar gemacht wird (als wäre die Situation im Fall der Vorbegriffe nicht schon schwierig genug): Wenn der (schöne) Gegenstand ein Buch ist, was existiert dann und was existiert nicht mehr? Das Buch ist unterschieden von der sinnlichen Mannigfaltigkeit seiner existierenden Exemplare. Das Objekt Buch stellt sich als solches folglich in seiner intrinsischen Struktur als unabhängig von seinen Abbildern (copies) dar. Aber was man unter diesen Umständen seine Idealität nennt, ist nicht rein […].37

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Im Apparat wird selbstverständlich auf den Neudruck in Vorbegriffe hingewiesen und eine Konkordanz erstellt. Es geht hier an keiner Stelle darum, die sorgfältige Ausgabe zu kritisieren. Nur werden die Vorbegriffe so zu einem Gespenst des Apparats. Interessant ist hier die Frage des Digitalisats, dass die Schrift in Bild verwandelt; vgl. h ttps://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/17358/1. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (Anm. 33), S. 69. Ebd.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

Sie ist nicht rein, weil die Differenz von Innen und Außen, Wesentlichem und bloß Zufälligem, nicht aufrechterhalten werden kann: Sie ist instabil. Dies führt in den notorisch gewordenen Abgrund der Unterscheidung von Ergon und Parergon. Die Differenz von Werk und Umstand, eben Ergon und Parergon, definiert Kant in Paragraph 14 der Kritik der Urteilskraft: Selbst was man Zieraten (Parerga) nennt, d. i. dasjenige, was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert, tut dieses doch auch nur durch seine Form: wie Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude. Besteht aber der Zierat nicht selbst in der schönen Form, ist er, wie der goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen angebracht; so heißt er alsdann Schmuck, und tut der echten Schönheit Abbruch.38 Das Problem ist, dass die Parerga äußerlich und doch dem Wesen des Werks wesentlich sind. Derrida führt dazu aus: »Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk, entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Innern des Verfahrens mit, weder einfach außen noch einfach innen; wie eine Nebensache, die man verpflichtet ist, am Rande […] aufzunehmen.«39 Die Frage ist also, wie aus den äußeren Zieraten das innere Ornament im Sinne der Einheit der Differenz wird, mit anderen Worten: wie ein innerer Rahmen entsteht (den, man erinnere sich an Schlegel, das Kunstwerk dann mit auf die Welt bringen und veräußern muss, um sich als Kunstwerk von der es umgebenden Kommunikation zu unterscheiden). Denn genau dies, die Verwandlung in ein Kunstwerk, in ein durch sich und in sich geschlossenes Ganzes, ist es auch, welche durch das innere Ornament ›bewerkstelligt‹ wird, wenn diese die Einheit der Differenz hervorhebende Formulierung erlaubt ist.40 Luhmann schreibt: »Das innere Ornament dient der Selbstbeschreibung 38 39 40

Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 6), S. 550-551. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (Anm. 33), S. 74. Luhmanns Lösung der Schwierigkeit, den Code der Kunst zu benennen, die darin besteht, die Grenzziehung in die Verantwortung jedes neuen Kunstwerks zu verlagern, ist offenbar, gewollt oder nicht an Schlegels Beobachtung angelehnt und führt so zurück zur Autonomieästhetik. Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 16), S. 306: »Die Besonderheit des Kunstsystems im Vergleich zu anderen Funktionssystemen liegt

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des Kunstwerks; es macht schön, weil es schön ist.«41 Es macht also schön. Und dies auch gegen die Anlage eines Buches oder einer Schrift. Die Frage ist dann, wie die Vorbegriffe sich dem Phänomen des ›Rahmens‹ nähern. Moritz analysiert die Funktion des Rahmens, also des Beiwerks des Werks, in Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786-1788, erschienen 1792/93 in Berlin und darin genauer im Kapitel Verzierungen (Rom, den 24. Juli). In den Vorbegriffen überschreibt Moritz das entsprechende Kapitel direkt und programmatisch mit Der Rahmen. Der Grund dafür, dass der Rahmen ein Gemälde »verschönert« ist, so erfahren wir hier, dass »er es isolirt und aus dem Zusammenhange der umgebenden Dinge sondert«42 . Schönheit wird so offenbar als Qualität verstanden, die aus einer Differenz entsteht. Mit der Benennung dieser Differenz verschwindet allerdings der Unterschied von Werk und Beiwerk, d.h. die Differenz von Kunstwerk und Rahmen: »Die Schönheit des Rahmens und die Schönheit des Bildes fließen aus einem und demselben Grundsatze. – Das Bild stellt etwas in sich Vollendetes dar; der Rahmen umgrenzt wieder das in sich Vollendete.«43 Er ist wesentlich, da er isolirt – und zugleich tritt er zum Vollendeten hinzu; er ist ein Supplement, das zwischen Außen und Innen vermittelt. Dieser Grundsatz ist der des Vollendet-Seins, in den so allerdings zugleich eine Differenz (Werk/Beiwerk) eingeschrieben wird. Aber auch, wenn der Rahmen ausfällt, wohnt jedem Bild die Potenz inne, aus sich einen idealen Rahmen zu produzieren. Dieser nimmt dann die Form der »Grenzlinie« an, die die Funktion des Rahmens übernimmt. Das Supplement steigt hier aus dem Kunstwerk auf, das ein Element veräußert, um sich zu schließen: »Durch den Werth und Umfang des Gemähldes zeichnet die Grenzlinie sich

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weniger in den Namen der Codewerte, als vielmehr darin, daß die Asymmetrisierung (Konditionierung, Zeitbildung und Zeitgebrauch) weitgehend dem einzelnen Kunstwerk selbst obliegt und Zwischenebenen wie Regeln oder Stilvorstellungen zwar möglich, aber weitgehend entbehrlich sind.« Ebd., S. 198. Moritz: Vorbegriffe (Anm. 13), S. 6. Ebd.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

von selber, wo der Rahmen ein plumpes überladenes Ansehen erhalten, und das Ganze dadurch wie erdrückt scheinen würde.«44 Allerdings fehlt in der Fassung der Vorbegriffe der Satz, der in den Reisen diese Ergründung des Wesens des Rahmens präludierte. Dieser lautet: »Aus dem Grundsatze des Isolierens, des Heraushebens aus der Masse, lassen sich die Ornamente am natürlichsten klären.«45 Es ist durchaus merkwürdig, dass Moritz den Satz ausgerechnet aus den Vorbegriffen zu einer Theorie der Ornamente gestrichen hat. Allerdings führen die Vorbegriffe dies vor – und zwar durch ein paratextuelles Element, das hinzutritt und vorführt, was der Satz aussagt. Das, wovon zuvor gehandelt wurde, wird nun zum Verfahren der Produktion eines Ganzen. Statt Erläuterungen zu folgen, ist es nun der Leser bzw. die Tätigkeit seines produzierenden Geistes, die die Einheit durch die Wahrnehmung des Buches (als Dialektik von Text und Paratext) hervorbringt. Das ›Buch‹ umfasst in diesem Sinne die heterogenen Teile/Texte und eint sie. Es erscheint mit dem Rahmen und macht die Schrift zum Werk. Rahmen bringen – und dies gilt auch für das paratextuelle Element, gemäß Moritz’ Analyse des »vatikanischen Palastes«46 und seiner von Raphael zur Groteske ergänzten Malereien, das Wunder der Einheit des Heterogenen hervor. Im Kapitel Arabesken stellt sich die Frage nach der Emergenz von Einheit aus der Heterogenität der Teile, also nach dem Umschlag des Verschiedenen in synthetisierte Mannigfaltigkeit: »Thiere – Masken – Laubwerk – Kameen Vasen – Trophäen – Sirenen – Termen und Terminetten – Satyren – kleine Schilde – Gesimswerk – Pavillons – Waffen – Insekten – u.s.w. befinden sich in diesen Zusammensetzungen in der wunderbarsten Mischung«47 . Dass sich diese Elemente trotz ihrer Heterogenität nicht zerstreuen, sondern

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Ebd. Dembeck sieht darin die Andeutung einer Potenz des Bildes, sich selbst zu schließen, wenn der Rahmen ästhetisch ausfällt: »Der Rahmen isoliert das Bild, hebt es hervor, markiert eine Schwelle – zugleich aber wird angedeutet, daß das Bild sich durchaus auch selbst von seiner Umgebung abschließen kann, falls der Rahmen ›das Ganze‹ durch seine Plumpheit erdrückt.« (Dembeck: Texte rahmen [Anm. 3], S. 287). Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788, hg. von Jan Röhnert, Berlin 2013, S. 795. Vgl. zum Isolieren bei Moritz das Kapitel bei Dembeck: Texte rahmen (Anm. 3), S. 284-294. Vgl. auch den Befund zu Moritz’ Verständnis von Zierrat und Ornament, der sich auf das ›Buch‹ und die Paratexte übertragen lässt: »Aller Ornamentik, allem Zierat kommt eine […] rahmende Funktion zu.« (Ebd., S. 285). Moritz: Vorbegriffe (Anm. 13), S. 26. Ebd., S. 28.

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»[d]emohngeachtet« sich »auch hier noch alles zu einer gewissen Einheit [reihet]«, liegt am »Wesen der Zierde selbst, die sich an kein Gesetz bindet«48 . Das zugleich innere wie rahmende Ornament beginnt, immateriell zu werden. Egal, wie verschieden die Elemente sind: Im Modus des Kunstwerks ist es genau ihre Gesetzlosigkeit, die Kohärenz stiftet: Varietät wird zur Redundanz. Beschreibbar wird dies durch den Begriff der Arabeske. Die Einheit ist dann die der »Arabeske« bzw. des Zierats. Wo Einheit nicht ausmachbar ist, wird sie aus der Differenz der Elemente erzeugt. Mit Blick auf den vatikanischen Palast wird klar, dass die Voraussetzung des Ganzen der Mangel ist: Die »Einheit« der Zieraten wird vom »innerlichen Mangel des Werks«49 an Kohärenz hervorgebracht – es ist die mangelnde Einheit, die die Möglichkeit schafft, das differierende Mannigfaltige als »Arabeske« erscheinen zu lassen. Aus dem Mangel an Gesetzmäßigkeit produzieren die Zieraten Einheit. Diese gibt dem Ganzen seinen Sinn, was der Logik des Supplements entspricht: Die Supplemente »[stiften] den Sinn dessen […], was sie verschieben«50 . Dieses ›Verschieben‹ ist im Fall der Vorbegriffe eines vom Register der Theorie in das der Kunst, wie gleich abschließend zu zeigen sein wird. Luhmann bestimmt die supplementäre Logik ebenso konzise wie beinahe lakonisch: »Die Ornamentik, der nur eine dienende Funktion zugedacht war, übernimmt die Last der Sinngebung.«51 Der Zierat produziert einen Exzess, aus dem die Gestalt des Ganzen hervorgeht bzw. umrissen oder: umfasst wird. Im Kapitel Vase diskutiert Moritz den Charakter der Vase, die selbst äußerlich wird, indem sie ein Inneres stiftet: »Das eigentliche Fassende selbst, die Vase, dienet schon an sich zur Zierrath, weil sie den Begriff des Isolirens oder des in sich fassens durch sich selbst bezeichnet.«52 Die Vase ist also zugleich, vermittelt durch den Begriff des Isolirens, ein Rahmen oder ein Saum: »So wie der Rahmen am Gemählde, sind die Einfassungen überhaupt, durch die Idee des Isolirens oder Heraushebens aus der Masse zu Verzierungen geworden, der Saum und die Bordirung am Gewande […] ; der Ring am Finger […].«53

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Ebd. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (Anm. 33), S. 80. Derrida: Grammatologie (Anm. 30), S. 272. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 16), S. 196. Moritz: Vorbegriffe (Anm. 13), S. 39. Ebd., S. 7.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

Hier schließt sich ein Kreis zu Kants metonymischer Reihe, die von der Malerei ihren Ausgang nimmt und beim Schmuck endet: »Zu der Malerei im weiten Sinne würde ich noch die Verzierung der Zimmer durch Tapeten, Aufsätze und alles schöne Ameublement, welches bloß zur Ansicht dient, zählen; imgleichen die Kunst der Kleidung nach Geschmack (Ringe, Dosen, u.s.w.).«54 Das Ganze wird also vom Rand, dem feinen Saum, der, kaum merklich, umlaufend abschließt, wahrnehmbar. Das, was am äußersten Rand angesiedelt ist, ist zunächst nichts als dieser Rand selbst. Aber dabei bleibt es nicht. Die Bewegung des Supplements führt ins Innere. In Grammatologie (1967/1974) heißt es: »Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt. Wenn es repräsentiert und Bild wird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz.«55 Es ist der Mangel, der es angezogen hat: »Irgendwo kann etwas nicht von selbst voll werden, sondern kann sich nur vervollständigen, wenn es durch Zeichen und Vollmacht erfüllt wird. Das Zeichen ist immer Supplement der Sache selbst.«56 Nun sind in Moritz’ Ästhetik Figuren schön, weil sie nichts außer sich selbst bedeuten. Im Gegensatz zur bloßen Allegorie oder der Hieroglyphe soll diese Figur, »insofern sie schön ist, […] nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was außer ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen, soll durch sich selbst bedeutend werden.«57 Dies ist offenbar die zentrale Figur. Ein solches Element präsentiert Moritz am Saum des Buches, seinem äußersten Rand. Hier findet sich eine Widmung, die das Wesen des Buchs im Buch erscheinen lässt: Das Wesen, welches darin besteht, ein fassendes Gefäß zu sein. Während die hier platzierte Widmung an »Eure Exzellenz, den Herrn Friedrich Anton Freiherrn von Heinitz« selbstverständlich funktional eingebunden ist, ist es die konkretepoesieeske Anordnung des Textes nicht. Diese typographisch bestimmte Erscheinungsform auf der Seite ist es jedoch, welche die Widmung erst in den

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Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 6), S. 677. Derrida: Grammatologie (Anm. 30), S. 250. Ebd. Moritz: Vorbegriffe (Anm. 13), S. 41.

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Stand erhebt, das oben bestimmte Wesen des Buches zu kommunizieren. Sobald die Vase wahrgenommen wird, hört sie auf, auf anderes als das ›Buch‹ und damit: sich selbst zu verweisen. Abb. 1: Widmung in den Vorbegriffen

  Quelle: SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Art.plast.2169

Die Widmung ist ein perfektes äußerliches, paratextuelles Element, am Rand des Buches, das den Raum hervorbringt, der die Teile als Ganzes fasst. Dessen Wahrheit erschließt sich dann, wenn man auf die, wie Paul Valéry es nennt, zweite Tugend des Buches abhebt. Dann nämlich endet die Bedeutung dort, wo die Wahrnehmung der Seite beginnt. Aus Zeitkunst wird, mit den Worten von Lessings medienästhetisch epochaler Schrift, Raumkunst.58 Kunst irritiert, indem sie ein re-entry produziert. Die Unterscheidung von

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Vgl. grundsätzlich zu Lessing und Moritz das entsprechende Kapitel in Dembeck: Texte rahmen (Anm. 3), S. 261-270.

Texte, Vase, Urne – ›Buch‹

Kommunikation und Wahrnehmung wird von der Kunst unterlaufen, insofern sie Wahrnehmung auf Seiten der Kommunikation und damit im Unterschiedenen wieder eintreten lässt.59 Dies weiß nicht erst Niklas Luhmann, sondern schon der angesprochene Paul Valéry. In seinem Aufsatz Die beiden Tugenden eines Buches (Les deux vertus d’un livre) von 1926 hebt er eben jene Qualität des Buches hervor, die nicht den Vorgaben von Sinn und Bedeutung folgt. Dies ist das Bild, das jede Buchseite auch ist, also das, was sie zu ›sehen‹ und dann eben nicht: zu ›lesen‹, gibt: »Der gesehene Text, der gelesene Text sind durchaus zweierlei, weil die Aufmerksamkeit, die man dem einen widmet, jene auf den anderen ausschließt.«60 Sieht man auf die hier abgebildete Seite (vgl. Abb. 1), erschließt sich die Wahrheit des Buches: Diese liegt in der Malerei, die ebenjenen idealen Raum schafft, welcher das Verschiedene zum Mannigfaltigen einen und damit Synthesis vollziehen kann. Am Rand des Buches erscheint die Vase als Grenzzeichen und Supplement, welches das Innere produziert – als Produktion der Vase im konkreten, bildlichen Sinne. Man kann hier aber natürlich auch an anderes denken: die Urne nämlich, der Vase zum Verwechseln ähnlich – etwa eine solche, wie der von Moritz in seiner Fußnote als Vasenkünstler erwähnte61 Bildhauer Johann Gottfried Schadow sie für seine 1797 verstorbene Mutter Anna Schadow entworfen hat, und welche bis heute in der Dorfkirche in Lichtenberg steht (vgl. Abb. 2). Für die Schließung sorgt so ein Rahmen, der zugleich die Schließung der Schrift im Bild produziert. Dafür aber muss man beginnen, den Text zu sehen, statt ihn zu lesen. Die Stasis des Textes ist ein Bild, seine Dynamik die Schrift, die, liest man den Text, aus dem Buch heraus führt. Spätestens hier zeigt sich, dass die Einheit, die das Supplement hervorbringt, nicht kostenfrei ist, sondern zu Lasten des Künstlers geht, dem sie zumindest das Werk, das

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Vgl. etwa Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 16), S. 42: »Offenbar sucht die Kunst ein anderes, nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert.« An genau dieser Stelle geht Luhmann übrigens auf Karl Philipp Moritz und sein Konzept des In-sich-vollendeten ein (vgl. ebd.). Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467471, hier S. 468. Schadow findet Erwähnung in einer Anmerkung innerhalb der Beschreibung eines neuen Gesellschaftssaals des erwähnten Freiherrn von Heinitz, welchem die Widmung gilt; vgl. Moritz: Vorbegriffe (Anm. 14), S. 126.

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Abb. 2: Johann Gottfried Schadows Urne für seine Mutter Anna

  Quelle: © Bildarchiv Foto Marburg

sich absondert, entzieht: »Das Supplement ist […] gefährlich, insofern es uns mit dem Tode bedroht«62 ; im Fall der Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente in Gestalt der Urne.

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Derrida: Grammatologie (Anm. 30), S. 268.

Rotationen im Buchformat Ferdinand Kriwets Rotor und seine Vermittlungen Natalie Binczek

Der Umschlag 1961 erscheint Ferdinand Kriwets Buch Rotor. Ein Erzähltext, der die Gesetze klassischen Erzählens verwirft, um stattdessen eine Reflexion der sprachlichmedialen Zusammenhänge seines eigenen Funktionierens zu betreiben.1 So zumindest wird er im Klappentext des Schutzumschlags kommentiert.2 Die Lektüre von Rotor beginnt mit den Worten Jean-Pierre Wilhelms, sie wird also von einem anderen Verfasser als dem Autor des Textes eingeleitet. Zudem setzt sie mit einer graphischen Umschlaggestaltung ein, die die Unterscheidung Lesen/Sehen in besonderer Weise reflektiert (Abb. 1). Indem sie den literarischen Text als fortlaufende, in Zeilen angeordnete Aneinanderreihung von Wörtern und Wortclustern wiedergibt, die in einer schwarzen Serifenschrift – times – auf weißem Hintergrund gesetzt sind, rückt sie deren typographische3 Sichtbarkeit in den Vordergrund. Das Bild 1

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Damit lässt er sich als zeittypisches Dokument lesen: Zur historischen Einordnung dieses Textes sowie Ferdinand Kriwets im Kontext der konkreten Poesie vgl. z.B. die Anthologie: Eugen Gomringer (Hg.): konkrete poesie: deutschsprachige autoren. anthologie, Stuttgart 2018; siehe auch Claus-Michael Ort: Kontingenz und ›poetische Funktion‹. Rotor (1961) von Ferdinand Kriwet, in: Klaus Gereon Beuckers/Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Ferdinand Kriwet: Visuelle Poesie und ihre Medialität, München 2019, S. 13-33. »Das, was Valéry so endgültig widerstrebte, ›la marquise sortit à cinq heures‹, ist für diesen Autor bereits kein Gegenstand der Diskussion mehr. Nichts Narratives; es werden keine ›Geschichten‹ erzählt. Die herkömmliche Romanform hebt sich folgerichtig selbst auf: alle Requisiten, welche sie aufbot, werden abgestoßen: Handlung, ›Intrigue‹, Held, Deskription, Stimmung, Chronologie etc.« (Jean-Pierre Wilhelm: Klappentext, in: Ferdinand Kriwet: Rotor. Mit einem Nachwort von Konrad Boehmer, Köln 1961). Zu Typographie in der Literatur siehe: Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Ent-

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Abb. 1: Umschlaggestaltung von Ferdinand Kriwets Rotor

auf dem Umschlag zitiert die Schrift aus dem Innenteil des Buchs. Am oberen Rand seiner Vorderseite sind zwischen diese Zeilen in einer orangenen serifenlosen Schrift sowohl der Autorname als auch der Titel des Werks – vergleichsweise klein und blass – eingefügt. Rechts unten steht der Verlagsname: DuMont, ebenfalls in blassem Orange. Während der Text auf dem Schutzumschlag einerseits das Schriftbild des Innenteils von Rotor nach außen stülpt und dabei vergrößert – es in gewisser Weise heranzoomt –, wodurch nicht nur einzelne Wörter, sondern vor allem auch ihre Anordnung in Zeilen graphisch hervorgehoben erscheint, drängt sich andererseits ein wie mit einem Pinselstrich in Orange ausgeführter Farbstrudel ins Zentrum. Der Bezug zum Titel ist erkennbar. Erkennbar ist auch, dass hier die Bewegung der Rotation gemeint ist. Das dynamische Moment wird bildhaft gemacht, da sich der Kreis nicht schließt, sondern zur Spirale tendiert. Dabei scheint diese Rotation gleichsam auf dem Text aufgemalt zu sein, sie reißt die Buchstaben nicht mit. Die von dem Orange gedeckten Textpassagen – »gestern neben den betten«, »verschlossenen stirnen«, »in den gesten von lauten«, »kehlen über den

wicklung, Tübingen 2000; Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur, Paderborn 2019; Christopher Busch: Unger-Fraktur und literarische Form. Studien zur buchmedialen Visualität der deutschen Literatur vom späten 18. bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2019.

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lippen« und »lippspreicheln fortsprechen« – widerstehen der spiralförmigen Dynamik des Pinselstrichs und behaupten so ihre horizontale Linearität. In seiner Funktion als Verpackung und damit als die »dingkörperlich realisierte Umgebung«4 des Textes befindet sich der Schutzumschlag5 in unmittelbarer Interaktion mit ihm. Man kann den peritextuellen Angaben des Buchs nicht entnehmen, wer seine Gestaltung zu verantworten hatte. Anzunehmen ist gleichwohl, dass sie nicht auf Ferdinand Kriwet zurückgeht.6 Dennoch leistet er einen Beitrag zu den vielfältigen Vermittlungsprozessen des Textes.7 Mit Hilfe der beschriebenen Anordnung bringt er recht präzise einen zentralen Aspekt zur Anschauung: die in Rotor ausgestellte Widerständigkeit der horizontalen Ausrichtung der Zeile. Was aber ist das für ein Text? Die auf dem Umschlag reproduzierten Passagen lassen bereits einige der narrativ-sprachreflexiven Strukturmuster zum Vorschein kommen, die auch im Innenteil des Buchs prägend sind. Eine mehrfach variierende Wiederholung derselben Wörter bzw. Wortelemente sowie eine assoziative Öffnung von semantischen Feldern, die das Sprechen und die Sprache betreffen, fallen auf: »über den lippen«, »lippspreicheln

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Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002, S. 216. Vgl. dazu Genettes Beschreibung des Schutzumschlags als Träger von »paratextuelle[n] Mitteilungen, die kurzfristig wirken und danach dem Vergessen anheimfallen sollen.« Und weiter: »Die offensichtlichste Funktion des Schutzumschlags besteht darin, die Aufmerksamkeit des Lesers durch Mittel auf sich zu lenken, die spektakulärer sind als diejenigen, die sich ein Umschlag leisten kann oder möchte« (Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 33). Ferdinand Kriwet hat den Umschlag nicht gestaltet. (Für diese Auskunft danke ich Bettina Brach, die Nachlassverwalterin des Werks von Ferdinand Kriwet.). Zur Bedeutung der Buchumschläge in der Literatur siehe: Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Bd. 1: Theorie und Forschung, Berlin 2010, S. 156200; Jörg Döring: Paratext Tristesse Royale, in: Björn Weyand/Alexandra Tacke (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 178-198. Beide untersuchen jedoch Covergestaltungen als letztlich der auktorialen Kontrolle der Verfasser unterstehende Konzeptentscheidungen. Aus verlagshistorischer Perspektive und auf den Spezialfall des Taschenbuchs bezogen widmen sich Elisabeth Kampmann und Eva Morawietz: Wie das Cover so der Text? Grafische und typografische Umschlaggestaltung im amerikanischen und deutschen Taschenbuch, in: Sylwia Werner (Hg.): Der Betrachter ist im Text! Kunstrezeption in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Berlin 2012, S. 317-346 der Covergestaltung.

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fortsprechen«, »unter den worten«. Großbuchstaben und Interpunktionszeichen fehlen. Im Klappentext werden weitergehende Auskünfte geliefert: »Die Syntax ist so beschaffen, daß einmal dem Leser der natürliche Fluß der Sprechbewegungen auf Anhieb kenntlich wird, zum anderen die Elemente sich so perfekt ineinander verzahnen, daß eine reibungslose Artikulation entsteht.«8 Mit der hier angesprochenen ›Verzahnung‹ deutet der Kommentar auf ein mechanisches Modell hin, nicht zuletzt auf ineinandergreifende Zahnräder, die eine Bewegung in der Übertragung zwischen zwei Drehungen erzeugen. Der daran anschließende Hinweis auf »reibungslose Artikulation« ruft mündliche Rezeptivität des Textes auf. Während in Rotor einerseits Strukturen mündlicher Rede einer analytischen Beobachtung unterzogen und in einen Text übersetzt werden, der weder von Interpunktionszeichen noch auch von der Großschreibung zäsuriert, sondern als eine gleichsam ununterbrochene Abfolge von schriftlichen Zeichen organisiert wird, soll er andererseits selbst »reibungslose Artikulation«9 ermöglichen. Die Formulierung, »daß eine reibungslose Artikulation entsteht«, impliziert beinahe eine appellative Dimension, als müsste die Lektüre der Aufforderung folgen, die schriftlich vorliegenden Zeichen in Lauteinheiten zu übersetzen, und dies reibungslos, also ohne Widerstand, ohne zu stocken, ohne Störung. Als sollte sie in rotierende Artikulation übergehen. Sie zielt auf einen Medienwechsel von Schrift zur Mündlichkeit, zum Sound ab. Impliziert ist damit auch eine Überwindung des Buchmediums. Eine Selbstüberwindung, die von dem, dem Text als Motto vorangestellten, Mallarmé-Zitat »Un livre ne commence ni ne finit« sekundiert wird. Ein entgrenztes, ein transgrediertes Buch bildet demnach eine zentrale Perspektive von Rotor.10

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Wilhelm: Klappentext (Anm. 2). Siehe zur Artikulation in kulturwissenschaftlicher Perspektive Natalie Binczek: Aussprachen und Sprechweisen. Die Medialität des aktikulatorischen Akzents, in: Hajnalka Halász/Csongor Lörincz (Hg.): Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen, Bielefeld 2019, S. 99-114. An Mallarmé interessiert Kriwet die Gleichzeitigkeit der Reflexion auf die Hörbarkeit und Sichtbarkeit: »Interessant ist, daß dieser Text nicht ausschließlich der visuellen Wahrnehmung, der Lektüre vorbehalten sein sollte, sondern daß Mallarme ihn ebenso als Partitur für lautes Lesen verstand. Und in der Tat wurde der C O U P DE DES in Paris einmal szenisch aufgeführt.« (Ferdinand Kriwet: Über die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer visuell wahrnehmbaren Literatur, in: Thomas Kopfermann [Hg.]: Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie, Tübingen 1974, S. 103-112, hier S. 110).

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Auch wenn sich Kriwets Text über weite Strecken mündlicher Sprachstrukturen bedient, auch wenn er »den Fluß der Sprechbewegungen« abbildet, indem er die Ich-Erzählung etwa in Formen einer anonymen Vielstimmigkeit des Klatsches und Hörensagens übergehen lässt, so sondiert er zugleich auch die Strukturen der schriftlichen Bedingungen der Sprachverwendung und -darstellung im Buch. Dezidiert will er als ein Text gelesen werden, dessen Funktionieren an die Bedingungen der Schrift gebunden ist. Während er einerseits das Konzept der Drehung umzusetzen versucht, zielt Rotor andererseits – wie der im Klappentext veröffentlichte Kommentar nahelegt – auf eine Weiterbearbeitung als Artikulation ab. Es gehört demnach zu seinem Konzept, auch über sich hinaus auf weitere Bearbeitungsschritte, auf weitere Vermittlungen zu verweisen und die eigene Fortschreibung geradezu zu initiieren und antizipieren. Der Verfasser des Kommentars im Klappentext war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Rotor eine prominente Persönlichkeit des deutschen Kulturbetriebs, insbesondere der Kunstszene der späten 1950er und frühen 1960er Jahre: Ein Vermittler auf unterschiedlichen Feldern.11 In seiner Düsseldorfer Galerie 22 lancierte Jean-Pierre Wilhelm nicht nur die informelle Malerei, sondern später auch den Fluxus. Dabei umfasste sein Engagement für die bildende Kunst stets auch den Einbezug von Literaten und Literatur. Für die Ausstellungskataloge der von ihm vertretenen Künstler und kuratierten Ausstellungen wurden Texte renommierter Autoren wie André Malraux oder Francis Ponge eingebunden. Indem sie Kunst beschrieben und kommentierten, vermittelten sie sie zugleich auch in andere Perspektiven. Insbesondere in seinen früheren Jahren war Wilhelm selbst auch als Übersetzer tätig, der u.a. Paul Celan ins Französische und André Malraux ins Deutsche übertrug. Ein Vermittler und Übersetzer, der Kriwets Text Rotor mit einer Art Übersetzung im Klappentext versieht, indem er erklärt, wie er zu lesen sei, indem er ihn gewissermaßen souffliert. Gewiss ist der Kommentar auch das Ergebnis eines ihm vorausgegangenen Austausches mit Kriwet, der sich seinerseits mit Wilhelm über Projekte und Konzepte austauschte, die den in Rotor erkennbaren Strukturen korrespondieren.  

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Siehe dazu: Sylvia Martin: Sprache im Ausnahmezustand. Wie Jean-Pierre Wilhelm das Grenzland zwischen Text und Bild neu durchmisst, in: Susanne Rennert/Sylvia Martin/Erika Wilton (Hg.): Jean-Pierre Wilhelm. »Le hasard fait bien les choses«, Köln 2013, S. 34-67.

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In einem an Wilhelm adressierten Brief von 1960 schreibt er: »arbeite an der sache die ich bei euch angefangen habe. in der nacht von montag auf dienstag. wird ein seh-text draus, der gleichzeitig zur partitur wird für einen hörtext, wenn man ein transparentblatt darüberlegt. aber kein schema.«12 Aus dem Brief geht zwar nicht hervor, auf welches Projekt sich Kriwet hier bezieht. Jedoch trifft die vorgenommene Strukturbeschreibung einer Verknüpfung zwischen einem »seh-text« und der »partitur […] für einen hörtext« auch auf Rotor zu. Ferdinand Kriwet ist als Autor und bildender Künstler, ein »Mixed-MediaKünstler«, wie er oft genannt wird und wie er sich selbst positioniert,13 ebenfalls ein Übersetzer zwischen den Künsten und Medien gewesen. Texte, insbesondere auf Scheiben kreis- und spiralförmig aufgetragen, bilden einen wichtigen Bestandteil seines bildnerischen Oeuvres (Abb. 2). »Sehtexte« heißt die über viele Jahre von ihm verfolgte Serie, deren Produktion beinahe zeitgleich mit der Veröffentlichung von Rotor einsetzt. Auf den Unterschied zwischen Scheibe und Buch, die jeweils eine andere Organisation der Zeilenführung ermöglichen, kommt es an. Das Modell der Rotation, wie sie Rotor reflektiert und zum Teil auch anstrebt, letztlich jedoch in die Abfolge eines gebundenen Papierblocks mit linearen, in horizontaler Schreibrichtung gesetzten Textzeilen überträgt, findet in den scheibenförmigen Artefakten eine konsequente Realisationsform. Hier nämlich ist die Schrift durch keinen Anfangs- oder Endpunkt begrenzt, selbst wenn die Scheiben perspektivisch fixiert werden. Eine Steigerung der Drehbewegung wird mit mehrschichtigen, spiralförmig organisierten Überschreibungen erreicht, wo mehrere Zeilen, etwas versetzt, übereinander laufen und in dieser Anordnung ein Entziffern der einzelnen Wörter beinahe verunmöglichen. Sie werden zu »Sehtexten«, die keine Lesetexte mehr sind.

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Walter Gödden (Hg.): Lesebuch Ferdinand Kriwet, zusammengestellt von Bettina Brach, Köln 2020, S. 25. Ebd., S. 71.

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Abb. 2: Spiralförmiger Text von Ferdinand Kriwet

  © Ferdinand Kriwet; Foto © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Franz J. Wamhof

Die Zeile Die Leseordnung von Rotor setzt mit mehreren markanten Vermittlungen ein: Nach seiner graphischen Präsentation auf dem Schutzumschlag, nach seiner von Jean-Pierre Wilhelm verfassten Kommentierung im Klappentext, die ihrerseits vielleicht auf Kriwets Anregungen zurückgeht, und schließlich nach dem kommentierenden Motto in Form des Mallarmé-Zitats – sowie den üblichen Angaben zum Erscheinungsjahr und -ort, Titel etc. in der Titelei – beginnt das, was die Narratologie als Diegese bezeichnen würde, was hier aber nur bedingt, wenn überhaupt mit dieser Terminologie belegt werden kann: »in drei tagen in drei tagen natürlich in drei tagen ja ja sicher in drei in«,14 lau-

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Kriwet: Rotor (Anm. 2), unpaginiert.

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tet die erste Zeile des Textes, die eine bemerkenswerte Symmetrie erkennen lässt: eine Spiegelung der Präposition »in« am Anfang und Ende der Zeile fällt auf.15 Semantisch verweist sie auf die zeitlich, aber auch räumlich bestimmte Verortung im Innerhalb. Formal jedoch zeigt die erste Zeile auf die Texteinheit Zeile hin, die fortan von der Erzählung einer experimentellen Analyse unterzogen wird.16 Überdies wird die Formulierung »drei tagen« drei Mal genannt, womit eine Spiegelung zwischen der semantischen Aussage und der Frequenz ihrer Nennung gegeben ist. Auch der Titel dieser Erzählung führt eine solche Spiegelung vor: Das Wort ›Rotor‹ ist ein Palindrom, vor- und rückwärts gelesen ergibt es in diesem Fall sogar dasselbe Wort, weshalb es sich gewissermaßen in sich selbst spiegelt. Dass hier die ›Zeile‹17 als konstitutives Textelement und damit auch als philologisches Konzept zugrunde gelegt werden kann, hängt damit zusammen, dass Rotor keine anderen textanalytischen Einheiten vorgibt. Da weder Sätze, noch Absätze, noch Kapitel die Erzählung gliedern, sie gewissermaßen vorstrukturieren, muss man anderen Hinweisen nachgehen. Dabei ist für eine an den Vermittlungen interessierte Lesart des Textes der Umstand, dass die Typoskriptfassung des Verfassers eine andere Verteilung der Wörter auf die Zeilen aufweist (Abb. 3) als die gedruckte Ausgabe, bedeutsam. Denn wie die graphische Gestaltung des Umschlags so formt auch die Typographie den Text nach spezifischen Gesetzmäßigkeiten, die im Fall von Rotor der auktorialen Kontrolle entzogen sind, dafür aber die vielfältigen Transformationen seiner Vermittlung und der beteiligten Mittler18 umso deutli15

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Zu den symmetrischen Strukturen in Rotor – »[k]leine Symmetriestörungen« eingeschlossen – auf der Grundlage von Jakobsons Strukturanalyse siehe Ort: Kontingenz und ›poetische Funktion‹ (Anm. 1), S. 32. »Seit diesem Roman hat er immer radikaler das Prinzip linear geordneter Texte verlassen und das Prinzip der Dekomposition verfolgt«, schreibt Pavel Navotny: Akustische Literatur. Experimentelles Hörspiel im Zeitalter analoger Technik. Eine Untersuchung im deutsch-tschechischen Kontext, Dresden 2020, S. 125. Auch wenn diese »Dekomposition« bereits in Rotor beginnt und konsequent umgesetzt wird, so findet hier jedoch auch eine Hervorhebung der Linearisierung (mittels) der Buchzeile statt. Unter einer Zeile versteht die Buchwissenschaft »die Gesamtheit der auf einer Linie aneinandergereihten Zeichen« (Ursula Rautenberg [Hg]: Reclams Sachlexikon des Buches, Stuttgart 2003, S. 544). Der Begriff bezieht sich dezidiert auf Bruno Latours Konzeption des »Médiateur«– also ›Mittlers‹ (Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, S. 70) – womit einerseits die medien- und zeichenanalytische Perspektive des Vermittelns (Uwe Wirth: Die Frage nach

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cher zutage treten lassen. Die Form eines Textes ist stets das Ergebnis von vielfältigen Vermittlungen, die auf unterschiedliche Expertisen und Akteure zurückgehen, aber auch okkasionell und akzidentell zustande kommen.

Abb. 3: Verteilung der Wörter auf die Zeilen in der Typoskriptfassung des Verfassers

dem Medium als Frage nach der Vermittlung, in: Stefan Münker/Alexander Roesler [Hg.]: Was ist ein Medium? Frankfurt a.M. 2008, S. 222-234) gestärkt und andererseits eine einfache Kausallogik der ›Einflussnahme‹ problematisiert wird.

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Während der Erzählanfang die Textzeile als geschlossene Einheit inszeniert, durchbricht bereits die zweite Zeile diese Ordnung. Wiederholt wird die in der vorangehenden Zeile dominante Formulierung »drei tagen« – »drei tagen drei tagen drei tagen vielleicht oder auch man wird«.19 Nicht unwichtig ist jedoch, dass die Präposition »in« hier fehlt. Als sollte damit angedeutet werden, dass diese Zeile nicht mehr innerhalb derselben Ordnung angesiedelt ist wie die ihr unmittelbar vorangegangene. Sie versteht sich nicht als Einheit innerhalb des durch die Ränder der Buchseite vorgegebenen horizontalen Raumes. Der zweite Teil der zweiten Zeile drängt überdies syntaktisch nach Fortsetzung. Diese wird in der Folgezeile, wo es heißt: »sehen«,20 also zusammenhängend: »oder auch man wird sehen«, geleistet. Im Fall eines lyrischen Textes würde man hier von einem Enjambement sprechen. Mit Blick auf die Texteinheit ›Textzeile‹ – die hier vielleicht auch als eine Verszeile beschreibbar ist – führt der Text im weiteren Verlauf eine bemerkenswerte Weiterentwicklung vor. So verschwinden an einigen Stellen zwischen den einzelnen Wörtern die Spatien, die zu immer weiter anschwellenden, über mehrere Zeilen verlaufenden Wortkomposita zusammenschmelzen und die Lektüre nicht nur herausfordern, sondern zum Teil sogar fast unterlaufen. Für diese Dynamik, die, indem sie die Zäsurierung der Worteinheiten aufhebt, auf der Ebene der Sichtbarkeit des Textes Kontinuität erzeugt und die Schrift zu einer Linie aus Buchstaben werden lässt, wird allerdings der Einsatz eines besonderen Interpunktionszeichens benötigt: des Bindestrichs. Dieser regelt symbolisch, wozu das kodikale Trägermedium nicht imstande ist, nämlich die Verlängerung der Zeilen über den Seitenrand hinaus. Auch er fungiert mithin als ein Vermittler: Eine Buchzeile bricht am Rand ab und kann allein mittels des Bindestrichs mit der Folgezeile verknüpft werden (Abb. 4): unaufhörlichununterbrochenineinandertourohnendeandauerndunausläßlich ziellos planlos redet21 Ein anderes Beispiel, das die Exzessivität dieses Anschwellens von Komposita dokumentiert, findet sich auf der übernächsten Seite. Eine neunzeilige Verknüpfung (Abb. 5):

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Kriwet: Rotor (Anm. 2), unpaginiert. Ebd. Ebd.

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Abb. 4: Abbrechende Buchzeile mit Bindestrich

                                                                                                                            hinundherundhinundherundherundherundhierunddaunddortherhinherhernunjaabersichergenausodachteichmirdasauchsiehabenganzrechtnawiegefälltesihnenverkehrensieöftersdesöfterenoderseltenhabesieschonmalhierkanndasseingesehenoderverwechseleichsiedaskanndochnichtwahrseindasmußichmirüberlegensieessichmalüberlegenschöneswetterheutewollenwirnichteinwenigrausfahrenoderhabensiejaichhabeeineverab-

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Abb. 5: Neunzeilige Verknüpfung

redungvorwannkönnenwirunsmalsehenichhabeetwaszubesprechenmitihnenhabeichnocheinhühnchenzurupfenkonversationenhastdu22 Anhand dieser Textstelle lässt sich nachweisen, dass die Funktion der mehrzeiligen Wortkonstruktionen nicht nur darin besteht, die Einheit ›Buchzeile‹ zu reflektieren, indem sie gewissermaßen gesprengt wird, sondern auch der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Spatien zwischen den einzelnen

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Wörtern haben. Eine scriptio continua verweist nämlich stets auf die Notwendigkeit, sie mithilfe der Stimme entschlüsseln zu müssen; sie weist auf die Notwendigkeit der Übersetzung, also Vermittlung in hörbare Zeicheneinheiten hin, um aus der indifferenten Aneinanderreihung von Buchstaben einzelne Sinneinheiten herauszulösen und in distinkte, also artikulierbare Einheiten zu übertragen.23 Das bedeutet auch, dass die vermeintliche Gleichförmigkeit der aneinanderhaftenden Buchstaben in der Artikulation durch interne Zäsuren gelöst wird: Die Wortkomposita werden demnach artikulatorisch dekomponiert. ›Reibungslose Artikulation‹ setzt prosodische Zäsurierung voraus. – Aber auch dieses System wird in einigen Passagen von Rotor variiert und einer weiteren Komplexitätsstufe zugeführt, wenn einzelne Buchstaben innerhalb der Wortkomposita doppelt belegt werden. Deren Artikulation wird zu zwar minimalen, aber unumgänglichen rekursiven Bewegungen gezwungen (Abb. 6): kölnippeseeseneuwiedüsseldorfreiburgarmischrambergotthardortmunduisburgroningen[…] Die kleinen rekursiven Schleifen, die in der Rückkehr zum jeweils letzten Buchstaben des vorangehenden Wortteils bestehen, versetzen die Artikulation in eine Rotation. So zumindest die eine Variante, sich diese Textstelle zu erschließen: als Rückübersetzung in einzelne Wortbestandteile, in diesem Fall: vor allem Städtenamen. Dafür aber müssen die Buchstaben an der Schnittstelle zwischen den beiden Kompositateilen doppelt gelesen werden: »köln nippes seesen neuwied«. Die zweite Variante würde die Buchstaben hingegen einer linearen und ununterbrochenen Dekodierung unterziehen, derzufolge die einzelnen Kompositabestandteile insbesondere an ihren Rändern undeutlich würden. Ihre Artikulation würde die Zeile tendenziell dem Rauschen zuführen, insofern die eingebauten Städte- und Ortsnamen nicht mehr zweifelsfrei erkennbar wären. Von dieser Textstelle aus lässt sich grundsätzlich festhalten, dass gerade an den über eine Zeile hinausgehenden Wortkomposita eine große Diskrepanz zwischen Schriftbild und Artikulation, zwischen ›Sehtext‹ und ›Hörtext‹ zutage tritt. Die Artikulation verselbständigt sich gegenüber dem schriftlichen Text und umgekehrt. Der Umstand, dass diese Passage in unterschiedlichen Formen artikuliert werden kann, dass sie folglich verschiedene mündliche Realisationen ermöglicht, unterstreicht die 23

Vgl. dazu in historischer Perspektive Paul Saenger: Space Between Words. The Origins of Silent Reading, Stanford 1997.

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Abb. 6: Rekursive Bewegungen

Kennzeichnung des Textes als »partitur«. Sie führt jedoch auch die Beobachtung vor, dass die von der Partitur suggerierte Beziehung zwischen der visuellen Fixierung eines Textes und der Variabilität ihrer Hörbarmachung letztlich auf eine grundlegende Ungesichertheit hinausläuft. In der Gegenüberstellung von ›Seh- und Hörtext‹24 treten auch die Grenzen ihrer Vermittlung als Grenzen der gegenseitigen Un/Übersetzbarkeit in Erscheinung. Rotor gehört we-

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Von der Arbeit an der Sprache her spezifiziert Kriwet diese beiden Textsorten und -bereiche und versieht deren Differenz mit einer zukunftsträchtigen Programmatik: »Gemäß den optischen und akustischen Verhaltensweisen von Sprache wird man zu-

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der der Werkgruppe der »Hörtexte« noch auch derjenigen der »Sehtexte«25 an, sondern geht beiden voraus bzw. deutet auf beide als unterschiedliche, zum Teil in- und miteinander vermittelbare, zum Teil aber gerade nicht ineinander zu vermittelnde Systeme hin. Auch auf dieser Ebene verhandelt Rotor die Frage der Vermittlung. Die ungeraden Seiten des Buchs sind nicht bedruckt. So durchzieht eine Taktung leerer Seiten den Text und unterbricht auch die Linearität der Zeilen.26 Rotor ist ausschließlich auf den geraden Seiten abgedruckt (Abb. 7).

Abb. 7: Bedruckte ›gerade‹ und unbedruckte ›ungerade‹ Seite

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künftig summarisch zwischen SEHTEXTEN und HÖRTEXTEN unterscheiden.« (Gödden: Lesebuch Ferdinand Kriwet (Anm. 12), S. 39). Siehe dazu: Brigitte Weingart: »Sehtextkommentar«: Schriftbilder, Bilderschriften (F. Kriwet), in: Claudia Benthien/Brigitte Weingart (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, Berlin/Boston 2014, S. 519-543. »Damit der Leser sinnvoll freie Entscheidungen treffen kann, müssen Textformen ausgebildet werden, die offen und nicht geschlossen sind. Zwar sind weiterhin Streckenkompositionen möglich, solche, die von Α nach B lesbar sind, doch auch ebenso der Lektüre von Κ nach Q oder gar von S über L nach F sich erschließen. Nicht möglich sind dagegen Finalformen, deren Wirksamkeit in der Motivation aller vorangegangenen Einzelteile vom Finale her liegt.« (Kriwet: Über die Wirklichkeiten und Möglichkeiten (Anm. 10), S. 104).

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Von ›geraden‹ und ›ungeraden‹ Seiten zu sprechen, heißt, sich an der numerischen Logik der Paginierung zu orientieren, die hier allerdings außer Kraft gesetzt ist, da der Text keine Seitenzahlen verzeichnet. Der Verzicht auf die lineare Sequenz der Paginierung dient nicht zuletzt der Suggestion, er werde rotieren und d.h. immer auch: am Ende an den Anfang zurückkehren, also eben nicht abgeschlossen sein. Überdies mag das ihm eingeschriebene Modell der Rollkartei,27 deren einzelne Karteien tendenziell nur einseitig beschriftet sind, zu dieser gestalterischen Entscheidung beigetragen haben. Schließlich wiederholt sich hier auch die Praxis der bildkünstlerischen Bearbeitung von Papierbögen, die in der Regel nur eine bearbeitete Vorder- und eine leere Rückseite haben, oder eines ›Blätter-Buchs‹.28 Zugleich entsteht durch die gleichförmige, regelmäßige Unterbrechung der bedruckten durch die unbedruckten Seiten eine zwar einfache, aber verlässliche Gliederungsstruktur: die Binarität bedruckt/unbedruckt bzw. Information/keine Information. Sie korrespondiert weder den sprachformalen noch semantischen Bezügen des Textes, sondern ist ihnen gegenüber rein äußerlich, weil ausschließlich durch die dem Medium Buch/Kodex eigene Struktur bestimmt. Und auch diese Struktur fragt nach den Möglichkeiten ihrer Übertragung in die Artikulation. Sollen die nicht bedruckten Seiten als Pausen mitgelesen oder vielmehr aus dem Rezeptionsprozess ausgeblendet werden?

Die Adaption Ferdinand Kriwet ist nicht nur ein bedeutsamer bildender Künstler und literarischer Autor gewesen. Er hat vielmehr auch die Geschichte des Hörspiels seit den 1960er Jahren entschieden mitgeprägt29 und gehört zu den wichtigsten Innovatoren dieses Formats. Mit Apollo Amerika, einer Produktion des SWF/BR/WDR 1969, hat er neue Maßstäbe hinsichtlich des Einsatzes von OTönen und ihrer Montage gesetzt.30 Das Hörspiel-Oeuvre sowie überhaupt 27 28 29 30

Für diesen Hinweis danke ich Bettina Brach. Siehe dazu Christoph Benjamin Schulz: Poetiken des Blätterns, Hildesheim/Zürich/ New York 2015, S. 388-396. Siehe zur Einordnung: Stefan Bodo Würffel: Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978, S. 147-185. Das darauf aufbauende Buch, eine weitere Vermittlung: Apollo Amerika ist bei Suhrkamp, ebenfalls 1969 erschienen. Vgl. dazu Hans-Edwin Friedrich: Kriwets Apollo Amerika (1969) und der Dokumentarismus, in: Klaus Gereon Beuckers/Hans-Edwin Fried-

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das akustische Oeuvre Kriwets ist umfangreich. Es umfasst zahlreiche Rundfunkproduktionen. Rotor allerdings ist nicht als Hörspiel konzipiert worden, obgleich der Text zumindest teilweise hörspielaffine Strukturen aufweist. Vor allem die ihm attestierte Tendenz, er laufe auf »Artikulation« und damit auf eine akustische Umsetzung hinaus, bestätigt diese Beobachtung. Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen, also 2011, nimmt der Autor Michael Lentz sich des Textes an, um ihn für den Hörfunk zu bearbeiten. Auch Michael Lentz’ literarische Arbeit ist von einem starken Interesse an sprachexperimentellen Einsätzen geprägt. Auch er kooperiert intensiv mit dem Hörfunk. Auch er lotet die Sounddimension von Texten aus.31 Es zeugt daher von einer gewissen Folgerichtigkeit, wenn er Ferdinand Kriwets Rotor für das Radio adaptiert. Mit dem Konzept ›Adaption‹ ist eine komplexe Form der Vermittlung, im vorliegenden Fall spezifischer noch: der Literaturvermittlung angesprochen,32 die sich zwar als »Umarbeitung eines lit. Werks« mit dem Ziel, »es – ohne den Gehalt wesentlich zu verändern – den strukturellen Bedingungen einer anderen Gattung oder eines anderen Mediums anzupassen,«33 bestimmen lässt. Jedoch reicht diese Definition nicht aus, um alle Erscheinungsformen adaptiver Bezugnahmen zu erfassen.34 Überdies ist die Aussage, dass literarische Texte einen stabilen »Gehalt« enthielten, der in andere Medien bzw. Genres transportierbar wäre, in mehrfacher Hinsicht, vor allem aber aufgrund des implizierten Substantialismus, heikel. Gleichwohl setzt das Konzept der Adaption eine erkennbare Beziehung zwischen dem Ausgangstext und der adaptierten Fassung voraus. Der Ausgangstext muss demnach in der Adaption wiedererkennbar sein. Dieses Kriterium ist ebenso konstitutiv

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rich (Hg.): Ferdinand Kriwet. Visuelle Poesie und ihre Medialität, München 2019, S. 131148. Seine 1240 Seiten im Druck umfassende Dissertation widmet sich den lautpoetischen und -musikalischen Entwicklungen nach 1945, die sie überhaupt erstmalig systematisch erschließt. Michael Lentz: Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme, Wien 2000. Linda Hutcheons: A Theory of Adaptation, New York 2006; Julie Sanders: Adaptation und Appropriation, London 2015; zu den theoretischen Implikationen siehe Kamilla Elliott: Theorizing Adaptation, New York/Oxford 2020. Heike Gfrereis: Adaption, in: Dies. (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1999, S. 2f. In den meisten deutschsprachigen Handbüchern wird »Adaption« als Grundbegriff der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht bedacht. Im Reallexikon wird sie nicht lemmatisiert, sondern an die Konzepte »Intertextualität« und »Übersetzung« weitergegeben. In den ästhetischen Grundbegriffen ist »Adaption« auch nicht enthalten.

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wie der Medienwechsel, wobei ein literarischer Text nicht zwangsläufig den Ausgangspunkt bildet. Adaptionen finden auch von Hörspielen in Filme, von Computerspielen in Bücher oder von Theaterspielen in Hörspiele etc. statt. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Bearbeitungen sowohl als Differenzen wie als Wiederholung der adaptierten Vorlage nachvollziehbar sein müssen. Dabei gehört nicht einmal die Titelübernahme des adaptierten Textes zu den Spielregeln. Wird ein Hörspiel, eine Graphic Novel oder ein Film als eine neue Bearbeitung bzw. Interpretation eines literarischen Textes lesbar, können sie als Adaptionen behandelt werden. Im Unterschied zu einem »Originalhörspiel«35 etwa beruht die Adaption auf einer Vorlage, die sich allerdings nicht auf das Zitat einzelner Motive oder Figuren beschränkt, sondern den Zusammenhang des adaptierten Textes erkennbar werden lässt. So schreibt sich die literarische Vorlage – als ein Zusammenhang – in ein anderes Medium ein, wird mithin – trotz der grundlegenden formalen Transformationen – gleichwohl reproduziert und in anderen Formen aufbewahrt. Julie Sanders spricht der Adaption daher die Funktion zu, »endurance and survival of the source text, alongside the various versions and interpretations that it stimulates and provokes«36 zu sichern. Gemäß dem Modell der Adaption scheint die Forschungsperspektive in gewisser Weise vorgegeben zu sein. Sie läuft – wie implizit auch immer – auf die Prüfung der Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen und der Übersetzung vom Original zur Neuinterpretation hinaus. Wieviel von der Vorlage bewahrt die Adaption auf, welche Abweichungsgrade lässt sie sichtbar werden? Selbst dann, wenn über Adaptionen die Vorlagen überhaupt erst (wieder) entdeckt oder zugänglich gemacht werden, bleibt die vergleichende Perspektive noch leitend. Jedoch sind adaptive Prozesse komplexer. Zum einen führen Adaptionen nicht immer nur auf eine Vorlage zurück, sondern können sich auch über mehrere Bearbeitungen als Adaptionen von Adaptionen verketten. Zum zweiten rückt die Analyse der Vermittlungen auch Elemente in den Blick, die in dem Zwischenbereich wirksam sind, in dem die Verbindungen von einem Ausgangstext zu seiner Bearbeitung hergestellt werden.

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Vgl. dazu Natalie Binczek/Vera Mütherig: Hörspiel/Hörbuch, in: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin/Boston 2013, S. 467-480. Sanders: Adaptation und Appropriation (Anm. 32), S. 34.

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Die auf der Homepage des Bayerischen Rundfunks (Abb. 8) veröffentlichten Information zu dem Hörspiel-Projekt lauten: »Ferdinand Kriwet. Rotor.« Seit den späten 1990er Jahren trägt der Bayerische Rundfunk mit seiner von Herbert Kapfer geleiteten Abteilung »Hörspiel und Medienkunst« zur Erneuerung und Weiterentwicklung des Genres bei.37 Auch Herbert Kapfer ist daher ein wichtiger Vermittler.38 Dass Lentz’ Projekt in diesem Kontext entsteht, ist in gewisser Weise auch folgerichtig. – Von der Autor- und Titelanagabe des Referenztextes etwas abgesetzt, steht: »Mit Michael Lentz/ Sampling: Gunnar Geisse./Realisation: Michael Lentz/BR 2011/Länge: 54’00«// In dem Hörspiel nach Ferdinand Kriwets 1961 erschienener Prosa Rotor wird der Titel zu einem ästhetischen Prinzip.« Abb. 8: Information zum Hörspiel-Projekt auf der Homepage des Bayerischen Rundfunks

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Mit dem Namen Herbert Kapfer ist eine ganze Infrastruktur für Vermittlungen akustischer Projekte verknüpft. Neben dem auf der Homepage des BR verfügbaren Hörpool ist insbesondere das Label intermedium records hervorzuheben. Eine Literaturgeschichte der sozialen Vermittler der Moderne, mithin der Akteure des Literaturbetriebs seit dem 18. Jahrhundert müsste noch geschrieben werden. Für einen aktuellen, wenn auch ausschließlich auf buchförmige Literatur ausgerichteten Ansatz siehe: Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin 2021

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Anhand dieses Informationstableaus wird sichtbar, welche Elemente in welcher Weise an der Vermittlung, präziser: der ›Literaturvermittlung‹ mitarbeiten. Dass die Bezeichnung ›Adaption‹ hierbei nicht verwendet wird, ihr gleichsam aktives Fehlen, ist ein zentrales Vermittlungsinstrument. Als ›Adaption‹ will Lentz’ Projekt mithin nicht verstanden werden. Auch wenn die ersten Angaben »Ferdinand Kriwet. Rotor« gerade die ganze Bandbreite der Vermittlungen, die ja bereits dem Buch selbst eignen und im Zuge der Bearbeitung als Hörspiel noch in andere Richtungen ausgebaut werden, gerade ausblenden, so treten sie in den nachfolgenden, unter der Photographie Kriwets platzierten Angaben durchaus in Erscheinung: »Mit Michael Lentz« bedeutet, dass dieser dem Text in seiner akustischen Umsetzung seine Stimme verleiht. Man könnte sogar sagen: Er ist derjenige, der die bereits im Klappentext des Buchs avisierte Artikulation übernimmt. Allerdings handelt es sich um eine ›gesampelte‹ Wiedergabe, die wiederum von dem Musiker und Komponisten Gunnar Geisse verantwortet wird. Die als Hörspiel aufgezeichnete Artikulation der »Prosa« Rotor wird von Michael Lentz selbst geleistet, jedoch einer weiteren Vermittlung, dem Sampling39 Gunnar Geisses unterzogenen. Einer Vermittlung, in welcher all die Implikationen, die dem ›Sampling‹ als einem der Musik entlehnten und literarisch in unterschiedlichen Kontexten adaptierten sowie von der literaturwissenschaftlichen Forschung eine Zeit lang mit großem Interesse verfolgten Verfahren angehören, mitschwingen.40 Insofern aber Michael Lentz die sogenannte »Realisation« des Hörspiels zugeschrieben wird, zeichnet er letztlich auch für die Beiträge all der anderen daran Beteiligten verantwortlich. Bedeutsam ist schließlich die Formulierung: »In dem Hörspiel nach Ferdinand Kriwets 1961 erschienener Prosa Rotor«, weil sie eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber der Erstnennung vornimmt. Rotor gilt hier nicht als Vorlage, als Ausgangstext, der radiophon übersetzt würde, sondern als Referenz, »nach« welcher dieses Hörspiel komponiert und produziert worden ist. Kriwets Rotor erscheint mehr als Anlass, denn ein Original, das mit den Mitteln des Radios reproduziert werde. Trotz der Titelübernahme ist Lentz’ Rotor ein von Kriwets Rotor grundlegend unterschiedenes, ein eigenständiges Projekt. Obwohl diese Eigenständigkeit

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Siehe dazu Britta Herrmann: Rotoren. Zwei akustische Adaptationen von Ferdinand Kriwets Lesetext Rotor und Aspekte einer intermedialen Werkpolitik, in: Klaus Gereon Beuckers/Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Ferdinand Kriwet: Visuelle Poesie und ihre Medialität, München 2019, S. 204-229, hier S. 212. Vgl. dazu Lev Manovich: Cultural Analytics, Cambridge (MA) 2020, S. 93ff.

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auf der Homepage zur Sprache gebracht wird, dominiert Kriwets Photographie den Auftritt. Der Verweis auf Michael Lentz als Sprecher des Hörspiels, der somit gekennzeichnete Verweis auf seine Stimme wird hier in gewisser Weise mit dem photographierten Gesicht des Buchautors in unmittelbare Beziehung gebracht. Lentz’ Hörspiel funktioniert als eine Verknüpfung aus artikulierten und verzerrten Passagen, aus Sprechtext und Rauschen. Lentz’ Interesse richtet sich erstens auf diejenigen Textstellen in Rotor, die selbstreferentiell auf das Erzählen und die Sprache bzw. das Sprechen abheben. Zweitens nimmt es diejenigen Passagen auf und setzt sie sprachlich um, die das Format geschwätziger Alltagskommunikation andeuten. Auch wenn der Anfang und das Ende des Hörspiels mit dem Anfang und Ende des schriftlichen Textes kongruieren, so orientiert sich Lentz’ akustische Bearbeitung nicht an der Abfolge der Vorlage, sondern konfiguriert unterschiedliche Textteile neu. Dabei wird Rotor von Lentz »einer technischen Transsubstantiation unter[zogen] und […] als Spielanweisung interpretier[t]«,41  wie Jochen Meißner in seiner Besprechung des Hörspiels festhält. »Die extreme Beschleunigung einzelner Passagen kommt entweder als Fast-Forward einer Tonbandmaschine mit ihrem sich steigernden hochfrequenten Gezwitscher daher, oder der Text wird in gleicher Tonhöhe digital zusammengestaucht und so auf Höchstgeschwindigkeit gebracht.«42  Über weite Strecken ist Rotor nicht mehr als Artikulation hörbar, sondern als Effekt technisch erzeugter Störung. So stellt Lentz in seiner Übersetzung des Buchs fürs Radio nicht nur eine Stimme aus, die als Ausdruck eines klatschförmigen Kollektivs inszeniert wird. Vielmehr hebt er den Einsatz audiotechnischer Medien hervor, indem die Stimme durch Beschleunigung ins Unverständliche getuned wird.

Rotor – Rotor – rotoradio Wo der literarische Text Rotor mit der Extension der Zeilenführung experimentiert, dort werden im Hörspiel Rotor die technisch erzeugten Geräusche eingesetzt, die sich nicht mehr als Stimme, gar als Stimme des Sprechers und

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Jochen Meißner: Analog-digital-Wandler. Ferdinand Kriwet: Rotor,Bayern 2, Fr. 13.12.11, 20 Uhr, in: Hörspielkritik (27. Juli 2012) (https://hoerspieldesmonats.wordpress.com/20 12/07/27/analog-digital-wandler/). Ebd.

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seiner Artikulation identifizieren lassen, sondern als Eigendetermination der akustischen Technik wahrnehmbar sind. Wo aber die Stimme den Sound dominiert, bemüht sie sich immer wieder um den prosodisch erzeugten Effekt, gerade noch eine Geschichte erzählen zu wollen. Dieser Effekt kontrastiert den von Anbeginn ins Feld geführten, in unterschiedlichen Konstellationen wiederholten und durch Verdoppelung der Tonspur akustisch hervorgehobenen Worten: »ich halte nichts von geschichten und halte nichts von geschichten«. Die Spannung zwischen den disparaten Bruchstücken, heterogenen Fetzen einer Erzählung einerseits und ihrer Demontage im Klatsch sowie mittels medientechnischer Verzerrung der Stimme andererseits steht im Fokus des Hörspiels. Lentz inszeniert es als einen eben noch mündlich erzählenden und erzählbaren Hörtext, was sich an der Intonation der ersten Sprechzeile veranschaulichen lässt. Im Gegensatz zu der zuvor hier vorgeschlagenen Deutung, sie als symmetrische, zwischen »in« und »in« komponierte Texteinheit zu lesen, setzt Lentz die artikulatorischen Zäsuren so, dass die Zeile sich nicht an dem Rand des Buchs, an seinem Format orientiert, mithin: reibt und abbricht. Die Zeile ist für ihn keine relevante Einheit. Er gliedert sie vielmehr intern, als handle es sich bei dem Text um mündliche Redereste. Nach dem »ja, ja, sicher,« folgt: »in drei,« – dann, wie durch ein Komma zäsuriert – »in drei tagen«, womit das »in« prosodisch in die nächste Zeile geführt wird. Es soll hier nicht um eine Analyse des adaptiven Verhältnisses zwischen Kriwets Text und Lentz’ Hörspiel gehen, sondern um ein punktuelles Aufzeigen von Vermittlungsmomenten, die die Einheit von Texten in unterschiedliche, in kleinere und größere, Netzwerke zerlegen. Aus dieser Perspektive kann nur ein vorläufiger Schluss formuliert werden, wenngleich ein offener, der zugleich Ausblicke auf weitere Bearbeitungsprozesse, Rekurse und Fortschreibungen liefert. 2012, ein Jahr nach Lentz’ Bearbeitung von Rotor, inszeniert Ferdinand Kriwet selbst sein literarisches Debüt für das Deutschlandradio Kultur. Das Projekt trägt den Titel rotoradio, mit nur einem »r« in der Mitte. Es ist rekursiv angelegt, knüpft es doch an ein frühes Werk an, das seinerseits von rekursiven, da stets wiederkehrenden Wortclustern geprägt ist. Zugleich ist es als eine Vermittlung beschreibbar, da es den Text in ein anderes Format überträgt und modifiziert fortführt, dabei aber auch auf Lentz’ Bearbeitung rekurriert und daher als »›rückholende‹ Reaktion«43 dieser Aneignung verstanden werden kann. Die transformative Dimension des Projekts ist, nicht zuletzt in Absetzung von Lentz, auch in seiner Titelgebung markiert. 43

Herrmann: Rotoren (Anm. 39), S. 229.

Rotationen im Buchformat

Aus dem Palindrom Rotor ist hier das Kompositum rotoradio geworden, das an der Nahtstelle zwischen den beiden Komposita eine kleine rekursive Schleife enthält. Das mittlere ›r‹ muss zwei Mal gelesen werden. So verweist der Titel auf die Gleichzeitigkeit des Textbezugs Rotor und seiner medialen Transposition im Radio. Rotor ist als Text vergegenwärtigt und vom »radio« unterschieden, in das er dennoch übergeht, mit dem er sich verbindet. Wenn indes im Nachwort des Buchs Konrad Boehmer festhält: »›Rotor‹ will sagen: den Mittelpunkt Umkreisendes, – in Kriwets ROTOR sind Peripherie und Mittelpunkt identisch«,44  dann wären mit dieser Charakterisierung sowohl die transformierenden Weiterführungen als auch die rekursiven Schleifen des Textes erfasst. Bevor er im Buch ein erstes Ende findet, wird er von einem Nachwort, das sich über acht beidseitig bedruckte Seiten erstreckt, in einer musikästhetisch-formpoetologischen Betrachtung flankiert und kommentiert. Nicht nur einleitend, sondern auch im Schlussteil wird der Text einer Vermittlung übergeben. Mindestens drei, mit dem im Motto zitierten Mallarmé sogar vier, Verfassernamen schreiben so am Buch Rotor mit.

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Nachwort zu Rotor von Konrad Boehmer, in: Kriwet: Rotor (Anm. 2), unpaginiert.

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»Corpus Abfall« Figurationen der Buchmedialität von Mallarmé bis Goetz Livia Kleinwächter

Die Debatte über das Ende oder die Zukunft des Buches rückt die Materialität und Multimodalität eines Objektes, die Medialität und Affordanz eines Formats und die Rolle eines Mediums für die literarische Kommunikation regelmäßig in den Fokus der künstlerischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, wobei der vorliegende Band als ein Beispiel für die anhaltende Aktualität dieser Auseinandersetzung gelten mag.1 Dass das vermeintliche Ende des Buches als bevorzugtem Trägermedium poetischer Kommunikation die Aufmerksamkeit für seine Beschaffenheit evoziert, ist dabei eben keine genuine Signatur der heutigen Zeit, in der die Debatte durch die Herausforderung der analogen Medien durch die digitale Wende initiiert ist, sondern ein rekurrierender Topos, der sich entlang der Genese konkurrierender Medien zwischen apokalyptischem Ton und Feier eines vollendeten Textträgers behauptet. Gerade die apokalyptischen Szenarien einer Welt ohne Buch, ar-

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Anders als im angloamerikanischen Forschungsraum, in dem die Book History sich früh als feste, institutionalisierte Größe etabliert hat, ist die Verbindung von buch- und literaturwissenschaftlicher Expertise in Deutschland noch überschaubar (vgl. David Finkelstein/Alistair McCleery (Hg.): The Book History Reader, New York 2002). Nichtsdestotrotz zeichnet sich auch hier eine disziplinenübergreifende Konjunktur des Interesses am Medium Buch ab. Vgl. u.a. Christof Windgätter (Hg.): Wissen im Druck. Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung, Wiesbaden 2010; Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buchs, Göttingen 2014; Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buchs in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne, Göttingen 2016; Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018.

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gumentiert Georg Stanitzek, legen als Gedankenexperimente die Funktionsstellen und -weisen des Mediums offen.2 Merkmale dieses wiederkehrenden diskursiven Programms, so soll im Folgenden gezeigt werden, sind erstens ein die Materialität des Buches (wieder-)entdeckender Theorieschub, der sich auch in Form poetischer Texte realisiert. Im Zuge der durch die konkurrierenden Medien in den Fokus rückenden Medialität des Buches rücken dabei zweitens seine Multidimensionalität und Affordanz in den Blick. Drittens weitet dieser Blick die Perspektive auf die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsmechanismen, die sich um das Buch gruppieren und die nicht nur die Funktion Autorschaft ins Zentrum rücken, sondern auch die Geschichte und Bedeutung der Leserschaft. Im Folgenden soll die Struktur dieses Diskurses anhand schlaglichtartig hervorgehobener historischer Konfigurationen nachgezeichnet werden, um verschiedene seiner Elemente zu erhellen, wobei den Fluchtpunkt dieses Durchlaufes das Werk eines Autors bildet, dessen ›Buchaufmerksamkeit‹ seinerseits auffällig ist: An den Werken und Werkkomplexen Rainald Goetzʼ soll gezeigt werden, wie die Reflexionen über Buchmedialität und Paratextualität selbst konstitutiv für die poetische Textproduktion werden. Die These ist, dass diese »Fetischisierung des Mediums Buch«3 ein sich entwickelndes Paradigma im Œuvre des Popautoren ist, das sich aus dem popliterarischen Spiel und Experiment mit den Medien Buch und Schrift ergibt, die als Grenzerkundungen immer im Kontext ihrer (massen-)medialen Umgebung stehen. So soll gezeigt werden, wie im Rahmen einer hier durch die Literatur selbst gestellten systemtheoretischen Frage nach der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der (anhaltenden) Buchkommunikation – als Kommunikation durch und über das Buch –, diese in den Vordergrund nicht nur in Bezug auf die Frage nach Rezeptionsgewohnheiten, sondern auch nach den Bedingungen der Text- als Buchproduktion rückt. Dass die Materialität des Textträgers Buch keine selbstverständliche und deswegen poetologisch zu vernachlässigende Dimension von Literatur ist, lässt sich hier zeigen: Das 2

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Vgl. Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland: Ein Handbuch, Berlin/ New York 2010, S. 157-200, hier S. 165. Der vorliegende Aufsatz orientiert sich an der in diesem Aufsatz an Genettes Paratextualitätsbegriff und Luhmanns systemtheoretischer Unterscheidung von Medium und Form orientierten Konzeptualisierung von ›Buchmedialität‹. Lena Hintze: Werk ist Weltform. Rainald Goetzʼ Buchkomplex Heute Morgen, Bielefeld 2020, S. 10.

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betrifft eine spezifische, in den Texten zu findende Aufmerksamkeit für die Praktiken des Umgangs mit dem Objekt Buch, die eben nicht nur auf das Lesen abzielt, sondern die Dimension der sehenden Erfassung des Arrangements, des taktilen Blätterns und des Ausstellens als Artefakt einbegreift und bis zu fast vergessenen bibliographischen Praktiken wie dem Auftrennen von Seiten neuer Bücher reicht. Diese Dimensionen werden einerseits in Goetzʼ Texten reflektiert, andererseits peri- und epitextuell inszeniert.

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Sehen, Lesen und Blättern: Mallarmé und Valéry

Ein frühes ›Ende‹ des Buches findet sich im Aufschreibesystem 1900. Eine entscheidende Zäsur für dieses Narrativ markiert dabei Stéphane Mallarmés epochemachendes Werk Un Coup des Dés n’abolira le Hasard, das für Walter Benjamin das Ende des Buchzeitalters prophetisch andeutet, da die vom Buch in die horizontale, lineare Form gezwungene Schrift sich nun in Richtung Vertikalität und auf die Straße hin befreit habe. Nun deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht. Mallarmé, wie er mitten in der kristallinischen Konstruktion seines gewiß traditionalistischen Schrifttums das Wahrbild des Kommenden sah, hat zum ersten Male im »Coup de dés« die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild verarbeitet.4 Für Mallarmés Interesse am visuellen Arrangement der Buchseite sind sowohl der heterogene Aufbau der Zeitungsseite als auch der Stil der Plakatkunst der Belle Époque dahingehend entscheidend gewesen, als die auf Aufmerksamkeitserregung und Kommerzialisierung gerichteten schriftlichen Erzeugnisse, wie die Kunsthistorikerin Anna Sigrídur Arnar beschreibt, als »Trainingsgelände zur Entwicklung neuartiger Lesewahrnehmungspraktiken dienten«.5 Es ist die Struktur der Zeitungsseite, die Mallarmé selbst als Promenade in den Kaufhäusern und Arkaden jenes Paris, von dessen Verschwinden Benjamin in seinem Passagenwerk erzählt, imaginiert und metaphorisiert, indem

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Walter Benjamin: Der vereidigte Bücherrevisor, in: ders.: Einbahnstraße, hg. von Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a.M. 2009, S. 29-31, hier S. 29. Anna Sigrídur Arnar: Stéphane Mallarmé über das demokratische Potential der Zeitungen im Fin de Siècle, in: Sabine Folie (Hg.): Un Coup de Dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Wien/Köln 2008, S. 14-25, hier S. 17.

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er bspw. den marktschreierischen Effekt der großflächigen Annoncierungen ins Bild fasst, die die Lektüre unterbrechen und das immersive Lesen verunmöglichen: Vielmehr hat die Presse, bei uns allein, dem Schrifttum einen Platz gewahrt wissen wollen – ihr traditionelles Feuilleton stützte lange als Erdgeschoß die Masse des ganzen Anzeigenraums: wie in den Prachtstraßen auf dem zerbrechlichen Glanz eines Geschäftes, Glasscheiben mit ihrem Funkeln von Juwelen oder besänftigt durch einen Hauch von Stoffen, sicher ein viele Etagen schweres Gebäude ruht. […] Die vulgär herausgeschrieene Plakatierung, wie sie breit geöffnet an den Straßenöffnungen sich aufdrängt, empfängt diesen Abglanz, so von welchem Himmel herabgesandt in den Staub, des politischen Textes.6 Die etablierte Praxis des stillen, einsamen und störungsfreien Lesens steht dem sich Irritieren-Lassen einer Lektüre gegenüber, in der die Störungen in das Medium, aber auch die Umgebung eingelassen sind. Diese Kreuzung ziele, so Arnar, auf eine multimodale Rezeptionserfahrung, die Leser und Buch neu denkt: »Such a vision of reading recognized varied levels of engagement, and therefore, in Mallarmé’s hands, the book is not simply an exquisitely rendered container or precious relic but a catalyst for redefining the relationship between the book and its reader.«7 Mallarmés im Coup de Dés gestaltgewordene Leistung sieht auch Paul Valéry darin, dass dieser die graphische Organisation des Textes und seiner Umgebung nicht als schmückendes Beiwerk begreift, sondern als integralen Bestandteil des Textkunstwerks.8 6

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Stéphane Mallarmé: Das Buch betreffend [1895], in: ders.: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe. Mit einer Auswahl poetologischer Schriften, München 2007, S. 288-303, hier S. 296f. Anna Sigrídur Arnar: The Book as Instrument. Stéphane Mallarmé, The Artist’s Book, and the Transformation of Print Culture, Chicago/London 2011, S. 2. Für Arnar verbinden sich in der Figur Mallarmé zwei einander widerstrebende Tendenzen: zum einen die Ausrichtung auf die Funktion der Demokratisierung und Breitenwirksamkeit, die sich das Medium des Buches vom Konkurrenzmedium der Zeitung auch angesichts einer zu der Zeit virulenten Krise des Buchmarktes (»krach du livre«) abschauen soll, und zum anderen die tatsächlichen Distributionsstrategien seiner Texte, die vor allem auf eine semi-öffentliche Zirkulation von handgeschriebenen Kopien und Publikationen in teuren und auflageschwachen Zeitschriften sowie die Einbettung in die zeitgenössische Salonkultur zielten. Zum Begriff ›Textkunst‹ vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2015, S. 46. Dieser Begriff soll verdeutlichen, dass es in der modernen Literatur

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Der Coup de Dés ist in dieser Lesart Ergebnis einer poetischen Analyse, die sich auf die Seite als visuelle Einheit konzentriert: Sehr sorgfältig hatte er die Wirkung der möglichen Anordnungen von Schwärze und weißen Zwischenräumen studiert (sogar auf Plakaten, in Zeitungen) und die Intensität verschiedener Drucktypen verglichen. Er hatte den Gedanken gefaßt, diese Mittel zu vervollkommnen, die bis dahin nur dazu gedient hatten, auf grobe Weise Aufmerksamkeit zu wecken oder als natürlicher Schmuck des Schriftbilds zu gefallen.9 Mallarmé, der in der poetischen Auseinandersetzung mit der Medienkonkurrenz von Buch und Zeitung im Essay »Das Buch betreffend« nicht nur räumliche Allegorien nutzt, wenn er die semantisch-typographische Struktur der Zeitung mit einem Warenhaus vergleicht, sondern auch den konkreten Raum, den die Objekte Buch und Zeitung einnehmen, reflexiv einholt, ruft dabei nicht nur die zweidimensionale Struktur der Buchseite auf, sondern auch die Körperlichkeit des Buches,10 die es letztlich zu poetisieren gelte, wobei sowohl in Bezug auf die ›Reinheit‹ der weißen, unbedruckten Seite als auch im Bezug zum unbeschnittenen Buch (»non coupé«11 ) das Konzept der Verletzung der Unberührtheit des Buchkörpers – der Einschnitt oder die Imprägnierung – im Vordergrund stehen: »Die jungfräuliche Übereinanderfaltung des Buches gibt noch immer zu einem Opfer Anlaß, unter dem der rote Schnitt der alten Bände blutete; die Einführung einer Waffe oder Brieföffners, um die Besitzergreifung zu besiegeln.«12 Der Leser bei Mallarmé ist nicht wie bei Valéry

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gerade nicht um die Übermittlung einer Botschaft und um hermeneutisches Verstehen geht, sondern um die Erzeugung eines Widerstandes gegen das Paradigma des Verständlichen. Paul Valéry: Über den ›Würfelwurf‹ von Mallarmé, in: ders.: Über Mallarmé, Frankfurt a.M. 1992, S. 11-16, hier S. 14. So kann zumindest an dieser Stelle die Diagnose Carlos Spoerhases, dass die Dreidimensionalität des Buchartefakts systematisch und ausgehend von der Moderne bis zur heutigen wissenschaftlichen Debatte ausgeblendet wird, ein wenig relativiert werden. »Für weite Teile der theoretischen Reflexion über textuelle Materialität ist das Buch als bloß zweidimensionale Seitenfläche von einem Bildschirm überhaupt nicht zu unterscheiden.« (Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 49 [Anm. 1]). Oder zumindest lässt sich zeigen, dass die poetische Autoreflexion in Bezug auf die Multidimensionalität des Buches den theoretischen Deskriptionen immer einen Schritt voraus ist. Der Fachbegriff unbeschnittener Bücher – »non coupé« – ruft klanglich die Assoziation zum Coup de Dés auf. Mallarmé: Das Buch betreffend (Anm. 6), S. 303.

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nur Sehender und Lesender, sondern auch taktil Involvierter, da das Objekt des Buches eben nicht nur auf die Serialität seiner zweidimensionalen Seiten reduziert wird, sondern als greifbares Medium des Textes figuriert wird, womit die Lektüre als ein komplexes Zusammenspiel von Hand, Auge und Bewusstsein vorgestellt wird, was wiederum die poetischen Möglichkeiten der literarischen Produktion unabsehbar erweitert. Ja, ohne die Übereinanderfaltung des Papiers und das sich so einstellende Darunter würde der in schwarzen Lettern zerstreute Schatten keinen Grund aufweisen, sich wie ein Aufbruch von Geheimnis an der Oberfläche zu verbreiten, in der vom Finger angehobenen Lichte.13 Der Coup in der Erstausgabe ist ein Gedicht und ein visuelles Experiment sowie ein Buch und eine Zeitschrift. 1896 erhält Mallarmé ein Angebot der britischen Kulturzeitschrift Cosmopolis, ein Gedicht oder Artikel seiner Wahl zu publizieren. Angesichts des provozierend neuen Formats nutzt Mallarmé die Chance, seinen Coup hier zu platzieren. Es folgt ein Aushandlungsprozess mit dem Verleger des Pariser Büros des Magazins in dessen Folge der Dichter einige Konzessionen an die konservative Leserschaft hinnehmen muss, die u.a. die Kürzung des Textes und die Ergänzung eines Vorwortes beinhalten,14 sodass noch vor Erscheinen des Magazins der Plan für eine Luxusedition des Coup de Dés in voller Länge und mit Illustrationen des Künstlers Odilon Redon entworfen wird, die aber nie erscheint.15 Der grafisch und poetisch innovative Text handelt von Orientierungsverlust und dem Versuch der trotzdem stattfindenden Navigation – das angedeutete Motiv des Schiffbruchs wird in der Wechselwirkung von textueller und grafischer Gestalt auf eine Lektüre übertragen, die in ihrer modularen Gestalt, in der die einzelnen Elemente aus ihrer sukzessiven Stellordnung herausgenommen werden und wie ein Puzzle nach ihrer je typographischen Form neu zusammengesetzt werden können, aber nicht müssen, unbekanntes Terrain erschließt. Dergestalt hat der Text tatsächlich prophetische Quali-

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Ebd., S. 301. Das Vorwort beginnt entsprechend mit der Bemerkung, dass es ihm, dem Autor, lieber wäre, das Vorwort würde nicht gelesen. (Vgl. Stéphane Mallarmé: Un Coup de Dés Jamais NʼAbolira Le Hasard, in: ders.: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe. Mit einer Auswahl poetologischer Schriften, München 2007, S. 221-266, hier S. 223). Vgl. R. Howard Bloch: One Toss of the Dice. The Incredible Story of How a Poem Made Us Modern, New York 2017, S. 235-237.

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täten – aber er kündet nicht vom Ende des Buches, sondern, so eine These in der Forschung, der Ankunft des Hypertextes.16 Er ist also zugleich hyper- als auch ›klassisch‹ modern; letzteres vor allem, indem er auf eine säkularisierte, entzauberte und rationalistische Welt trifft, der er die spirituelle Dimension nicht in Form institutionalisierter Religion, sondern einer kultischen, ursprünglichen und musikalischen Ursprungssprache wiedergeben möchte, indem er von der Kommunikationsfunktion auf die konkrete Materialität von Sprache und Schrift umstellt. Im Anschluss an diese ›magische‹ Dimensionalisierung der Sprache bei Mallarmé und Valéry analysiert der Strukturalist Gérard Genette einen Teilbereich dessen, was er ›linguistische Imagination‹ nennt; nämlich das, was in Anlehnung an andere Theoretiker wie Benjamin oder Foucault ›Ähnlichkeitsdenken‹ genannt werden kann und das Genette hier im Anschluss an Platons vielleicht dunkelsten Dialog »Kratylismus« nennt.17 Es geht um zwei fundamental verschiedene Sprachkonzeptionen, bei denen die eine von der Arbitrarität und Konventionalität des Zeichens ausgeht und die andere – kratylistische – von einer mimetischen Beziehung zwischen einem Ding und seiner Bezeichnung. Genette ordnet Mallarmé als einen solchen Kratylisten ein, der aber einen Sonderfall insofern bilde, als er nicht die Muttersprache, sondern die englische in seinem Aufsatz »Les Mots Anglaises« von 1877 als eine solche motivierte Sprache beobachtet, von der aus gesehen die eigene französische Sprache als defizitär erscheint.18 Entscheidend ist nun, dass dieser Defekt Bedingung der Möglichkeit des poetischen Sprachgebrauchs ist. Der Ursprung der Literatur liegt im Mangel ihres Instrumentes: The nonmimetic character of language is thus, in a certain way, the opportunity and the condition for poetry to exist. Poetry exists only to »remunerate«, in other words, to repair and compensate for the »defect of languages«. If a language were perfect, poetry would have no reason for being, since it would

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Vgl. ebd., S. 25. Vgl. Gérard Genette: Valéry and the Poetics of Language, in: José V. Harari (Hg.): Textual Strategies. Perspectives in Post-Structuralist Criticism, Ithaca 1979, S. 359-373, hier S. 359. Dabei geht es um Dinge wie Klangfarbe und Tonalität, zum Beispiel den Umstand, dass das französische Wort, das Dunkelheit bedeutet, heller klinge als sein englisches Pendant.

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have nothing to repair. Language itself would be a poem and poetry would be everywhere, which obviously means that it would be nowhere.19 Von hier aus gesehen teile sich die Sprache für Mallarmé und Valéry in zwei Bereiche: die alltägliche, auf Kommunikation und Pragmatik abgestellte, und die Sprache im eigentlichen, essentiellen und engen Sinne: Poesie.20 Genette unterscheidet die beiden Positionen, die er primären (Mallarmé) und sekundären (Valéry) Kratylismus nennt, dahingehend, dass letztere die mimetische Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem um eine entscheidende Ambivalenz bereichert: sie soll zugleich notwendig sein und undefinierbar bleiben. Das Primat der Form äußert sich darin, dass das Material nicht in Signale übersetzbar sein darf. Wichtiger noch für Genette ist allerdings Valérys Antwort auf das Problem, wie man mit konventionalisierten Sprachzeichen einen nicht konventionellen Zustand dieser herstellen kann: The indissolubility of sound and meaning, the harmony between word and idea is, language being what it is, only an illusory sensation. The poetʼs task is to create this illusion; this task is magical, but magical in the most devalued, doubtless the most critical meaning of the term. In performing this task, the magician is only an illusionist, even if he were to become the first victim of his own illusion. […] The amazed reader, the reader in the poetic state is therefore the reader to whom the »verse«, in other words the fragment of language before him, appears as necessary, definitive, forever completed and unchangeable, sealed by the indissoluble harmony of sound and meaning.21 Der Leser ist also der Ort, an dem sich der poetische Zustand qua Faszination mit den Worten des Dichters herstellt und der wiederum diese Macht dem Dichter zuschreibt (und ihn so erzeugt wie umgekehrt). Von dieser Warte aus rückt für Genette die ästhetische Einheit ›Werk‹ als ›glückliche Illusi-

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Genette: Valéry, S. 364 (Anm. 17). »Henceforth there are two languages in language, one of which (everyday language) is left to arbitrariness and convention, while the other (poetic language) is the refuge of mimetic virtue, the locus of the miraculous survival of the primitive verb in all its ›incantatory‹ power. (Ebd., S. 365) Der Titel des Würfelwurfs bekommt von hier aus gesehen eine neue Dimension: mit der defekten a-mimetischen Sprache lässt sich der Zufall nicht besiegen. Ebd., S. 371.

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on‹22 in den Blick.23 Und auch wenn Genette hier noch nicht auf die Materialität des Textträgers abstellt, lässt sich die Bedeutung dieser Verbindung von den Fragen nach dem ›Sound‹ auch auf die Materialität der schriftlichen Zeichen übertragen,24 zumal sich gerade bei Mallarmé Reflexionen zur Bedeutung der visuellen Repräsentation des poetischen Textes finden und der Coup de Dés selbst als ein Experiment gelten kann, dem Defekt der zufälligen konventionellen Zeichen eine Werkgestalt gegenüberzustellen, die gerade in der Auflösung des standardisierten Zeichengebrauchs Kontingenz ausstellt als einen Raum, den es im Modus des poetischen Zustands zu navigieren gilt. So betont Mallarmé in seinem Vorwort zum Coup de Dés die Bedeutungen des weißen Raums für die poetische Kommunikation. Gerade die Lyrik sei auf ein großzügiges Verhältnis zwischen schwarzen Lettern und unbedrucktem Papier angewiesen: Das gelte nicht nur für die konstellative, versprengte Gestalt der Verse im Coup, sondern auch für die konventionelle Form des Gedichts als Block, das die weiße Rahmung als umgebende Stille, als eine Art

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Vgl. ebd. »All these resonances are sufficient proof that Valery’s (Mallarme-Valery’s) version of Cratylism – the mimetic virtue of language as a real or illusory privilege of the poem or of poetic language – and therefore the poetic function as a compensation for and a defiance of the arbitrariness of the sign, have become our Vulgate, the implicit fundamental article of our literary aesthetic.« (Ebd., S. 373). Eine solche Option ist die Verbindung dieser Überlegungen Genettes mit Aleida Assmanns von der Instanz des Lesers ausgehender Unterscheidung von lesendem und starrendem Blick. Den starrenden Blick bzw. die »wilde Semiose« versteht sie als einen spezifischen Weltwahrnehmungsmodus, eine Disposition des Beobachtersubjekts, für das die Transparenz der Zeichen auf Basis konventioneller Zeichenordnungen nicht gegeben ist: »Dem schizophrenen, ästhetischen, erotischen Blick ist die Welt unselbstverständlich. Indem er der Dinge in ihrer Materialität ansichtig wird, dringt er durch die Anonymität des Gewöhnlichen und die ewige Wiederkehr des Alltäglichen.« (Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988, S. 237-251, hier S. 237) Die entscheidende Differenz zwischen dem Lesen und dem Starren liegt im Subjekt: Als lesendes wahrt es Distanz und die eigene Stabilität als Beobachter, als starrend-fasziniertes lässt es sich affizieren und transformieren. Lesen heißt decodieren, kommunizieren und orientieren, Starren heißt zögern, warten und staunen. Der Begriff der ›wilden Semiose‹ kann für die hier vorliegende Fragestellung zweierlei bedeuten: eine Aberration – so pathologisch wie schöpferisch –, oder einen alternativen Modus der Wahrnehmung von Schrift, der die Oberfläche der schwarzen Buchstaben auf weißem Grund nicht auflöst.

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visuellen Echoraum benötige. Ein Drittel der Seite soll den gedruckten Lettern gehören, konstatiert Mallarmé, das gelte für das konventionelle Layout in der Präsentation von Versen wie für das proto-avantgardistische Design seines Textes. Das Papier drängt sich immer dann auf, wenn ein Bild sich von selbst verliert oder zurücktritt, anderen das Kommen überlassend und, da es sich nicht wie sonst um regelmäßige klingende Passagen oder Verse handelt – eher um prismatische Nebenformen des Grundgedankens, im Augenblick ihres Auftretens und während der Dauer ihres Mitspielens in einer geistig exakten Inszenierung, fällt der Text an immer anderer Stelle, nach dem Gebot der Wahrscheinlichkeit, dem verborgenen Leitmotiv näher oder ferner, wieder ins Auge.25 Die Form der Lektüre, das macht diese Vorrede deutlich, zielt eben nicht auf den Nachvollzug eines kommunizierten Inhalts, sondern bereits auf eine schöpferische Antwort: Der Text wird als Partitur oder Skript vorgestellt, das zur ›geistigen Inszenierung‹ als komplementärer produktiver Praxis auffordert. Das Vorwort fordert den Leser zum Entdecken des Verborgenen auf, doch liegt das Verborgene gerade in der Außenseite und im Wechselspiel von semantischer und typographischer Bildreflexion. Der Coup, das betont hier Mallarmé selbst, ist eben jenes Spiel mit der von Valéry entworfenen Kippfigur von Sehen und Lesen,26 denn im Kontinuum der sukzessiv-linearen, zeitlichen Lektüre kommt dem Schriftbild die Funktion der Geschwindigkeitslenkung zu. Die typographische Gestalt, die »akzentuierend den Fortgang beschleunigt oder verlangsamt«, lenkt zugleich das Auge auf eine üblicherweise übersehene Einheit, die nicht Vers, Strophe oder Gedicht heißt, sondern »simultane[s] Bild der Buchseite«.27 Für Mallarmé ist nicht zuletzt die Frage nach der Beziehung des Werkes zur literarischen Tradition entscheidend und anders als viele seiner späteren Leser vermuten, soll der Coup hier noch nicht den finalen Durchbruch zum ominösen Buchgesamtkunstwerk Le Livre darstellen,28 sondern einen über das Entwurfsstadium nur einen kleinen, aber 25 26

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Mallarmé: Un Coup (Anm. 14), S. 223 Vgl. Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467-471. Mallarmé: Un Coup (Anm. 14), S. 223. Mallarmés Pläne, Ansätze und vor allem Andeutungen zu ›dem Buch‹ als Gesamtkunstwerk in Konkurrenz zu Wagners medientechnisch spektakulären Opern können als

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entscheidenden Schritt hinausgehenden Bruch, der vollendet genug für den Zweck scheint, »die Augen zu öffnen«,29 was eben nicht nur in Form einer Bewusstseinserweiterung zu lesen ist, sondern auch die rein physiologische Dimension des geweiteten Blickes vom Zeilensprung zur Gesamtwahrnehmung der Seite meint. Valérys Konzept der beiden Tugenden eines Buches ist sichtbar an der Auseinandersetzung mit Mallarmés Coup geschult. Bei ihm ist die Konzeptualisierung der Lektüre allerdings stärker in ein kulturkritisches Narrativ eingebettet, demzufolge die Kompetenz der multimodalen Rezeption poetischer Texte gesellschaftlich im Niedergang begriffen ist. Die in seinen Augen vor allem durch den Siegeszug des Romans und den Einfluss der Romantik bedingte, defizitäre Praxis des Lesens zeichne sich dadurch aus, dass der Leser vor der Materialität der Sprache ebenso zurückweiche wie vor der Anerkennung ihrer Geformtheit. Dieser moderne Leser sei daran erkennbar, dass er »dem Satz und der Seite zu entfliehen [sucht], sobald der Sinn oberflächlich berührt ist«.30 Formalistische Literatur meint also nicht allein das rhetorische Kalkül, sondern ist vielmehr in genau dem Wechselspiel von visuell-sinnlichem Reiz und nachvollziehender Lektüre zu suchen. Valéry offenbart sich in der Kontrastierung von schwarzen Lettern und weißer Seite das hinter dem Kunstwerk verborgene, ›eigentliche‹ Werk, denn für ihn ist die Selektionsarbeit die entscheidende künstlerische Tat, das bedeutet hier für das Werk Mallarmés vor allem die Löschung aller konventionalisierten Schreib- und Sprechweisen: »Denn dieses beispiellose Werk […] scheute sich nicht, die fundamentale Konvention der Alltagssprache anzutasten und anzugreifen, die besagt: Du würdest mich nicht lesen, wenn du mich nicht schon verstanden hättest.«31

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Beispiel für die Macht des epitextuellen Elementes gelten. Neben dem Coup ist es diese in einem Brief erwähnte Vorstellung des ultimativen Buches, das durch die Kulturgeschichte geistert und mit dem Namen Mallarmé untrennbar verbunden ist. Mitte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert der Philologe Jaques Scherer Mallarmés Skizzen eines solchen Buchs als »Kunstwerk[] in Bewegung«, das dem Ansatz nach den Leser in die Rolle des Arrangeurs der Textelemente zwingt und so das Prinzip der Permutabilität an die Stelle der Linearität setzt, was die Frage nach den Grenzen des Mediums Buch aufwirft. (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1977, S. 46). Vgl. Christoph Benjamin Schulz: Poetiken des Blätterns, Hildesheim 2015, S. 278f. Mallarmé: Un Coup (Anm. 14), S. 225. Paul Valéry: Ich sagte manchmal zu Stéphane Mallarmé, in: ders.: Über Mallarmé (Anm. 9), S. 34-53, hier S. 36. Paul Valéry: Brief über Mallarmé, in: ders.: Über Mallarmé (Anm. 9), S. 21-33, hier S. 27.

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Rahmen und Oberflächen: Warhol und Genette

Marshall McLuhans im Modus fröhlicher Endzeitprophetie verkündete Ablösung der buchförmig organisierten ›Gutenberg-Galaxis‹ durch das globale Dorf der elektronischen Medien ist eines der prominenten Beispiele der Austragung gesellschafts- und kulturpolitischer Debatten im Medium der Theorie und das heißt zu der Zeit auch: im Medium des Buches, sodass das Narrativ seiner sinkenden Bedeutung sich selbst in Frage stellt. Vielmehr steht das Buch Ende der 1960er auch im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen: »Symbolhaft zeigte sich dies auf den Buchmessen von 1967 und 1968, die von der Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizei geprägt waren.«32 Zur Vorgeschichte dieser Konfrontationen gehört die Durchsetzung eines neuen Buchformats, das lange mit Vorurteilen zu kämpfen hat und noch um 1950 von der Stabilität der eine Dekade später herausgeforderten Grenze von U- und E-Literatur zeugt: Der wachsende Erfolg des preiswerten Taschenbuchs und die Herausbildung einer vor allem aus dem universitären Milieu rekrutierten Leserschaft verändern die Verlagslandschaft nachhaltig. Der Balanceakt zwischen bibliophilem, intellektuellem Anspruch und der Orientierung am Markt veranlasst im Zuge dieser Entwicklungen, zu denen der Zusammenschluss mehrere Verlage zur Gründung des Deutschen Taschenbuchverlags (dtv) gehört, den Suhrkamp Verlag unter der Leitung Siegfried Unselds 1963 zur Herausgabe der hauseigenen edition suhrkamp, zu deren Erfolg die äußere Gestalt der Buchreihe entscheidend beiträgt: Willy Fleckhaus hatte die einfache wie effektive Idee, die pro Jahr anvisierten 48 Buchtitel am Sonnenspektrum zu orientieren, der sich die berühmte Regenbogenreihe verdankt.33 Der von Philipp Felsch anhand der Geschichte des Merve-Verlags präsentierte ›lange Sommer der Theorie‹ wird hier als ein Konglomerat aus Interesse an theoriegesättigten Debatten und der Sichtbarkeit dieses Interesses an seinen Buch-Marken beobachtbar.34 Im Ankündigungstext der neuen 32 33

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Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1999, S. 423. Dass letztlich die Entscheidung auf den erst nicht geplanten Einsatz von (bunten) Buchumschlägen und grauer Buchcovergestaltung fällt, verdankt sich der Konzession an die Kritiker der Pläne für die neue Edition, wobei die graue Farbe die Ernsthaftigkeit des Selbstverständnisses als ›intellektuelle‹ Reihe vermitteln soll. Vgl. Raimund Fellinger/Wolfgang Schopf: Kleine Geschichte der edition suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003, S. 26. Vgl. Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990. München 2015.

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Taschenbuchreihe wird dieser Verbindung bereits Rechnung getragen: »Die ›edition suhrkamp‹ leistet sich Luxus und Leidenschaft einer Linie.«35 Die alliterierende Selbstbeschreibung ist aufschlussreich: Die Linie suggeriert einen inneren inhaltlichen Zusammenhang, der zum einen die konsequente Orientierung der theoretischen und schönen Literatur an den Interessensfeldern der Gegenwart meint, zum anderen die politisch linke Ausrichtung. Zugleich wird die linienförmige Zusammengehörigkeit der Bücherreihe über den Farbverlauf im Layout klar nach außen kommuniziert und als durch käuflichen Erwerb zusammenzubringendes Ensemble suggeriert. Entscheidend ist dabei auch das Attribut des Luxus, denn hier wehrt man sich prospektiv gegen die Zuschreibung ökonomischer Erwägungen und versucht so, die zeitgenössischen intellektuellen Vorurteile gegenüber dem Taschenbuch – Billigkeit und Beliebigkeit – abzumildern. Die schmale Linie ist dabei der Luxus, der sich geleistet wird: Das Buchlayout innen und außen verzichtet auf Werbemaßnahmen und setzt auf verlagsbezogene Wiedererkennbarkeit. Die Strategie von Verlagen wie Suhrkamp oder Merve, »aus Revolutionären Klassiker werden zu lassen«,36 ist eine erfolgreiche Kanonisierungsmaschinerie, die den neuen Bedürfnissen ihrer Leserschaft – Benjamin, Adorno und Brecht statt Goethe, Schiller und Humboldt – Rechnung trägt. Auffällig ist, dass trotz dieser Umbrüche der Graben zwischen U- und E-Literatur, dessen Überbrückung Leslie Fiedler zufolge »die exakte Funktion des Romans heute ist«,37 nicht dauerhaft kleiner wird, sondern sich nur verschiebt. Populärkultur wird herausgehobener Beobachtungsgegenstand, ohne dass dieser deswegen im Zuge seiner Analyse und Theoretisierung zwingend (re-)popularisiert würde. Im Zuge dieser Allianz von postmoderner Theoriebildung und avancierter Pop- und Undergroundliteratur kommt im Anschluss an apokalyptische Diskurse und die Beobachtung des Einflusses neuer Medien auch ein quasi-ethnologisches38 Interesse für die populärkulturellen Phänomene der Geschichte der Buchkultur ins Spiel. Gérard Genettes wirkmächtiger und heute wieder vermehrt in den Fokus

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Zitiert in: Fellinger/Schopf: edition suhrkamp, S. 29 (Anm. 33). Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (Anm. 32), S. 429. Leslie Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! (1968), in: Charis Goer/ Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart 2013, S. 79-99, hier S. 86. Angeschlossen wird dabei üblicherweise an die strukturalistische Ethnologie von Claude Lévi-Strauss.

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rückender Begriff der Paratextualität ist zu jenen theoretischen Konzepten zu zählen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand eines als möglich imaginierten Endes des Buches dessen sowohl funktionsanalytische als auch mediale Gestalt herauspräparieren. In einem die Rolle der strukturalistischen Literaturkritik historisch aufbereitenden Aufsatz kommt Genette von der Imagination eines solchen Endes des Buches zur Forderung nach einer Literatur- und Kulturgeschichte des Lesens und des Lesers: The day when the Book ceases to be the principal vehicle of knowledge, will not literature have changed its meaning once again? Perhaps we are quite simply living through the last days of the Book. This continuing adventure ought to make us more attentive to certain episodes in the past: we cannot go on speaking of literature as if its existence were self-evident, as if its relations to the world and to men had never varied. We do not have, for example, a history of reading.39 Stanitzeks produktiver Vorschlag einer Verbindung von systemtheoretischem Beobachtungsmodus und strukturalistisch-klassifizierender Organisation der einzelnen funktional analysierbaren Elemente ist in dieser, als Ausweitung des strukturalistischen Arbeitsfeldes lesbaren, Forderung einer Geschichte des Bücherlesens bereits angelegt.40 Genette geht vom Konzept einer literarischen Funktion aus, die prinzipiell jedem schriftlichen Artefakt zukommen kann; nämlich in dem Moment, in dem etwas (kollektiv nicht individuell) als Literatur rezipiert wird, das heißt, wenn der Text nicht als Botschaft decodiert, sondern als Ereignis rezipiert wird, oder, um es mit Luhmann zu reformulieren: wenn das literarische Kunstwerk als angeleitete Wahrnehmung von Kommunikation erfahren wird.41 Luhmanns

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Gérard Genette: Structuralism and literary criticism, in: David Lodge (Hg.): Modern Criticism and Theory. A Reader, London/New York 1988, S. 63-78, hier S. 76. Vgl. Stanitzek: Buch (Anm. 2), S. 164. Im Anschluss an Luhmanns Unterscheidung von lose gekoppelten (Medium) und fest gekoppelten (Form) Elementen sucht Stanitzek nach jenen spezifischen, die die buchförmigen Konventionen in Literatur und Wissenschaft formatieren und die sich in der jeweiligen Buchform realisieren. Er findet diese vor allem in den rahmenden peritextuellen Elementen des Formats Buch: Das begreift technische Grenzen (bspw. den Umfang), soziale Konventionen und ökonomische Erwägungen ein. Die »Kontingenz dieser Konventionen« wird dabei natürlich in Rechnung gestellt. (Stanitzek: Buch [Anm. 2], S. 188.) Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 8), S. 39.

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entscheidende Pointe zielt auf die Lücke zwischen lesender und aisthetischer Aufnahme literarischer Schrift: Wie immer man sich dann die Beteiligung des Bewußtseins vorzustellen hat: es wäre sehr irreführend, sie unter den Begriff des Lesens zu subsumieren. Eher geht es darum, herauszufinden, welche Wortklänge und Sinnverweisungen einander wechselseitig erschließen. Nichts anderes ist gemeint, wenn wir sagen werden: Worte werden als Medium verwendet und nicht im Hinblick auf einen eindeutig denotativen Sinn.42 Torsten Hahns These, dass die Literatur als »buchförmige Drucksache codiert«43 sei, speist sich aus der hieran anschließenden Beobachtung, dass der materielle Aufwand, den die Buchförmigkeit bezeugt, genau hier sein Korrelat in der Funktionsbestimmung von Literatur haben muss: »Damit einhergeht die Möglichkeit, den Blick auf die Formseite zu ziehen und durch Form, also Selbstreferenz, die das Medium hervorhebt, zu faszinieren, und zwar durch die Differenz von Kommunikation und Wahrnehmung.«44 Literatur ist demnach eine Form der poetischen Kommunikation, die durch die Konventionen des Buchdrucks formatiert wird – von hier aus rücken auch die sonst übersehenen Formatbedingungen literarischer Werke in den Blick.45 Genette bezieht sich in seinem Aufsatz erneut auf Valéry und dessen Bestimmung von Poesie als einem Zögern zwischen Klang (Sound) und Sinn (Sense) – wobei die Bestimmung dieses Moments der Suspension auch auf die Kippfigur des Lesens und des Sehens übertragbar ist –, um einerseits sein Konzept der literarischen Funktion zu illustrieren und zum anderen die analytische Schärfe solcher poetisch-theoretischer Gedankenfiguren gegen das Gros der geisteswissenschaftlichen Interpretationen in Stellung zu bringen. Ziel seines Aufsatzes ist aber nicht vorrangig die Bestimmung dessen, was Literatur ist und leistet, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Aufgabenfeld der strukturalistischen Analyse, die er vom ›Phoneme-Zählen‹ auf die

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Ebd., S. 46. Torsten Hahn: Drucksache. Medium und Funktion der Literatur, in: LiLi 49 (2019), S. 435449, hier S. 437. Ebd., S. 442. »Die mediale Form der Literatur, im Sinne der dinglichen Materialität der Kommunikation, ist das Buch in all seinen (visuellen und haptischen) Dimensionen zuzüglich der eben nicht ›bedeutungslosen‹ Teile wie Umschlag, Schmutzseiten usw.« (Ebd., S. 438).

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Rekonstruktion der Strukturen des kulturellen Codes einer Epoche ausgeweitet sehen will:46 Das betrifft zum einen die Ausdehnung des Gegenstandsbereichs auf die dem ethnographischen Zugriff sich anbietenden Phänomene einer Populärkultur und zum anderen die erwähnte Topografie des kollektiven Imaginären einer (historischen) Leserschaft: Mit der synchronen, an der klassischen Rhetorik orientierten Inventarisierung der Elemente, argumentiert Genette, muss die Verfolgung der diachronen Entwicklung der funktionalen Positionen einhergehen. Entscheidend ist dabei das Medium des Buches, das er zwar als möglichen historischen Textträger vorstellt, dessen Affordanz aber eben all jene Elemente der literarischen Funktion im gesellschaftlichen Gefüge trägt, die entsprechend neu besetzt werden müssten. Deswegen fordert er eine umfassende Geschichte des Lesens, die nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial und physikalisch-physiologisch sein soll, also entscheidende Differenzen wie die zwischen lautem und leisem Lesen analytisch aufbereitet. Sein eigener, späterer Beitrag zu dieser Literaturgeschichte – Paratexte (Seuils) – setzt an der Schnittstelle zwischen literarischer Produktion und Konsumtion an: an der Wiedererkennbarkeit eines literarischen Objekts durch die Gestalt seiner paratextuellen Rahmung. Es geht ihm um die Elemente, deren Zugehörigkeit zur Einheit ›Text‹ umstritten sind, deren Funktion es aber ist, diesen »zu präsentieren: ihn präsent zu machen«47 und damit überhaupt erst als Text konsumierbar. Der französische Originaltitel stellt das in zweifacher Weise heraus – Seuils bezeichnet zum einen die Schwelle, die den Übergang von Werktext und Rahmen bezeichnet und die Bewegungen der Rezeption steuert: Von den Signalen der Covergestaltung, der Nennung des Autornamens, des Titels und der Typographie, die als Peritexte den Zugang zur Lektüre entscheidend steuern bis zur noch schwierigeren Distinktion von Text und Epitext, also all jenen der Text- und Buchgestalt räumlich fernen Elemente, die dessen Aufnahme allerdings ebenso steuern, vor allem in ihrer Funktion der Erzeugung und Vermarktung des Autorenbildes. Zum anderen erscheint Seuils 1987 ausgerechnet in der Editions du Seuil – einem der drei mächtigen Verlagshäuser Frankreichs

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»The ambition of structuralism is not confined to counting feet and to observing the repetition of phonemes: it must also attack semantic phenomena which, as Mallarmé showed us, constitute the essence of poetic language, and more generally the problems of literary semiology.« (Genette: Structuralism [Anm. 39], S. 67f.). Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [1987]. Aus dem Frz. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 2001, S. 9.

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in Paris – und verweist so im Spiel mit der Wiederholung des Titels auf die im literaturwissenschaftlichen Kontext fast vollständig ausgeblendete Akteursposition des Verlags, die aber im Literaturbetrieb selbst im Zentrum der Macht der Steuerung der Aufmerksamkeitsökonomie steht, und die als ›verlegerischer Peritext‹48 hier im System der Genette’schen Rhetorik der Buchgestalt ihre adäquate Repräsentation findet. »Paratexte« kann neben dem Konzept der Intertextualität als Antwort auf einen der grundlegenden Angriffspunkte des strukturalistischen Paradigmas gelten: der Problematisierung der Einheit des literarischen Werkes. Hatte Genette in der Auseinandersetzung mit Valéry die ästhetische Einheit des Werkes als geglückte Illusionsbildung, die auf eben jenen Moment, in der der Rezipient sich fasziniert weiß und die Kontingenz dieser Einheit plötzlich notwendig, oder mit Luhmann als Moment »unwahrscheinliche[r] Evidenz«49 scheint, entworfen, so perspektiviert »Paratexte« die Seite der Institutionalisierung dieser Beziehung, die aber ebenso auf das prekäre Verhältnis von Rahmen und Gerahmten abzielt. Wenn Stanitzek auf das Potential der in dieser Form konzeptualisierten Paratextualität für die medienkomparatistische Forschung verweist, gerade weil im Zuge der Transkriptions- und Substitutionsverfahren die Eigenheiten des jeweiligen Mediums zum Vorschein treten, dann zeigt die Wahl seiner Beispiele, dass dieses Spiel mit den verschiedenen medialen Varianten der jeweiligen Elemente, immer schon Teil des poetischen Diskurses ist. Das zeigt die von ihm ausgewiesene Nähe von frühen popliterarischen Experimenten – bei Brinkmann oder Handke bspw. – und den zur selben Zeit populären, noch jungen Medientheorien, die, wie das Beispiel von McLuhans The Medium is the Massage zeigt, selbst mit der Buchgestalt experimentieren.50 Im Popdiskurs wird das Medium des Buches dabei entweder im Sinne McLuhans zum Symbol einer untergegangenen Kultur erklärt oder umcodiert: Vom Medium, in dessen Tiefe man im Rahmen der Lektüre eintaucht, zu einer Oberfläche, die wiederum genau jenen Kippmoment, in dem das Sehen ins Lesen umschlägt, nachvollzieht. Die Emphase der Oberfläche verdankt Pop vor allem Warhols zahlreichen Eigenbeschreibungen. Dass diese Oberflächen nicht nur flach sind, liegt an

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Vgl. ebd., S. 22. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (Anm. 8), S. 191. Vgl. Stanitzek: Buch (Anm. 2), S. 170.

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eben jenen materialgesättigten Formkonzepten, wie sie Genette schon für Valéry und Mallarmé beschreibt, nur dass die Leitunterscheidung von Essenz und Oberfläche hier ihre Vorzeichen tauscht. Das wird zum Beispiel an der Beschreibung der eigenen Lesepraktiken bei Warhol ersichtlich, die die Differenz von Lesen und Sehen in dem Sinne unterläuft, als sie das Sehen selbst erneut in zwei Modi unterteilt: das gestalterkennende und das sinnlich-tastende Sehen: »I just read the textures of the words. […] I see everything that way, the surface of things, a kind of mental Braille, I just pass my hands over the surface of things«, führt Warhol in einem Interview aus.51 Dieses Abtasten korrespondiert dem bevorzugten Aufzeichnungsmedium des Popartist: seinem Taperecorder.52 Und es ist schließlich Warhol, der die Frage nach dem Status des literarischen Werkes zwischen der Gestalt des Textes und der Gestalt des Buches am radikalsten stellt, indem er auf Grundlage der mit dem Rekorder aufgezeichneten Umgebung der Factory und ihrer Transkription ein Buch publiziert, das als ein solches sofort erkennbar ist, ohne im engeren Sinne – oder zumindest nicht als der apostrophierte Roman – lesbar ist. A. a novel ist das Produkt der Transkription einer Serie von Tapes, die 24 Stunden im Leben von Ondine, einem der Protagonisten der Factory in den sechziger Jahren, dokumentieren. Der Roman endet mit dem Satz: »Out of the garbage, into The Book«.53 Schon die Großschreibung spielt mit der dem Medium zugeschriebenen kulturellen Weihe, welche allein qua äußerer Gestalt dem ›Müll‹ einen diesen transzendierenden Rahmen verleiht. Der Literaturwissenschaftler Craig Dworkin argumentiert überzeugend, dass dort, wo keine narrative Einheit für die Genrebezeichnung bürgen kann, stattdessen der Akt der Konstruktion des Buches in dessen Zentrum rücke.54 Das

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Gretchen Berg: Nothing to lose. An Interview with Andy Warhol [1966], in: Michael O’Pray (Hg.): Andy Warhol Film Factory, London 1989, S. 54-61, hier S. 54. In dieser Beschreibung wird, so könnte man sagen, eine Binnendifferenzierung der Differenz Lesen/Sehen eingeführt, bei der innerhalb des Sehens von Visualität auf Taktilität umgestellt wird, als eine dritte Form, die ein algorithmisch-maschinengleiches Abtasten ist, wie man es z.B. von Lochkarten kennt, die schon Mallarmé faszinieren. Während das Lesen die Zeichen übersetzt und Kommunikation herstellt und das Sehen sich faszinieren lässt und den Prozess der Bedeutungsproduktion sistiert, entleert das Abtasten die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat endgültig. Andy Warhol: A. A novel [1968], London 2005, S. 451. Vgl. Craig Dworkin: Whereof One Cannot Speak, in: Grey Room 21 (2005), S. 46-69, hier S. 48f.

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Potential zur Roman- und Buchförmigkeit ist dabei selbst schon Thema der aufgezeichneten Monologe und Konversationen: No it’s novel that it’s being a novel as a matter of fact – vut what do you mean by a novel? uhhhhhh I know it just … there’s no other brush stroke. 12 hours of Ondine a novel? qou’re not going – are you going to put it in a in a book or what make it be one whole book really […]55 Die Definition des Romans als ›ganzem Buch‹ verweist auf die Bedeutung des Buchmediums für die innere und äußere Einheit eines literarischen Textes. Struktur und Schreibweise des Zitates weisen auf die Produktionsweise des Textes hin – kollaborativ in den Aufzeichnungen, die eine Reihe von Gesprächsteilnehmern versammeln, kollaborativ in der anschließenden Transkription. Diese übernahmen die Drummerin der Band Velvet Underground Maureen Tucker und zwei Highschoolmädchen – keine von ihnen taucht im peritextuellen Rahmen des Buches namentlich auf, aber ihr Einfluss auf die konkrete Textgestalt ist groß und folgt dem verkündeten Programm: »I wanted to do a ›bad book‹, just the way I’d done ›bad movies‹ and ›bad art‹, because when you do something exactly wrong, you always turn up something.«56 Die Textoberfläche ist Teil ihres Programms, in dem wenige Strukturangebote gemacht werden: Die Szenen sind durchnummeriert und den technischen Vorgaben des Taperecorders – der Anzahl an Bändern und aufgenommenen Szenen – angepasst. Zusätzliche Informationen zum Kontext – Datums- oder Ortsangaben, oder Szenenbeschreibungen – gibt es nicht. Neben den Nummerierungen ist das einzige dem transkribierten Text hinzugefügte Element ein Piktogramm eines Hermes-Kopfes. Dworkin spürt dieser Logik des Boten im Buch nach, im doppelten Sinn einer »recording interference as well as conversations, and registering the mercurial logic by which channels of communication both convey and distort their messages«.57 Das Rauschen und die Störung der Produktion können dergestalt als Leitmotive

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Warhol: A (Anm. 53), S. 100. Andy Warhol/Pat Hackett: POPism. The Warhol Sixties, New York 1980, S. 362. Die idiosynkratischen Transkriptionsweisen – so weigerte sich bspw. Tucker, Flüche und Schimpfwörter zu transkribieren –, und eigenwillige Orthographie sowie verschiedene Seitenlayouts – das Changieren zwischen Ein- und Zweispaltigkeit – wurden im endgültigen Manuskript beibehalten. Dworkin: Whereof One Cannot Speak (Anm. 54), S. 50.

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des Romans gelten – seien es die nicht transkribierbaren Stimmüberlagerungen, wo der laute Opernplattenspieler die Stimmen auslöscht; sei es die Thematisierung des Mediums Telefon, mit den von ihm verursachten Verbindungsproblemen. Und natürlich gehört auch der Rausch selbst dazu, als Gesprächsthema, aber auch als Bedingung für den amphetamininduzierten Rededrang und das, was Ondine als »that filthy pun stage where where [sic!] I throw out every line that’s in my reservoir«58 bezeichnet: das Spiel mit klangähnlichen Worten, mit Paronomasie und Homonymie; wobei auch hier nie deutlich zwischen Spiel und Missverständnis unterschieden werden kann und das Problem auf Ebene der Übersetzung in Schrift verdoppelt wird. Informationsüberfluss und Informationsmangel gehören in A. A Novel zusammen: Dem voyeuristischen Blick in das Innere der Factory und den dort stattfindenden Trips korrespondiert die Absenz jeglicher kontextuellen Information. Im Grenzbereich zwischen gesprochener Sprache und ihrer Verschriftlichung operiert A. A novel genau an der Schnittstelle von Rausch- und Signalquelle,59 die durch die verschiedenen Stadien der Buchwerdung – von der Aufzeichnung berauschten Diskursmaterials über die fehleranfälligen Transkriptionsmomente bis zur Organisation der Publikation unter der Signatur ›Warhol‹ – führt und Autorschaft als Marke inszeniert, der außer dem Bedienen des Taperecorders und der finalen Signatur keine Funktion zukommt und die doch über das Schicksal des Buches entscheidet – schließlich hätte der Roman ohne das Gewicht des Namens keine wirkliche Chance auf irgendeine Form der Aufmerksamkeit gehabt. So aber wird er zu einem möglichen Intertext auch für die deutsche Popliteratur.

3.

Den Betrieb provozieren: Brinkmann und Goetz

Das Buchmedium übersteht die zahlreichen Prophezeiungen seines nahenden Endes relativ unbeschadet, nichtsdestotrotz verändert die sich immer schneller wandelnde mediale Umwelt die Position des literarischen Buches

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Warhol: A (Anm. 53), S. 95. Mit Kittler könnte man A. A novel als literarisches Experiment der Maximierung des Signal-Rausch-Abstandes lesen. Kommunikation wird so selbst messbar, d.h. gesprochene Sprache nicht mehr innerlich, sondern äußerlich – von Übertragungsqualitäten – bestimmt. (Vgl. Friedrich Kittler: Signal-Rausch-Abstand, in: Gumbrecht/Pfeiffer [Hg.]: Materialität der Kommunikation (Anm. 19), S. 342-359).

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im kulturellen Feld. Das Lesen von Büchern steht dabei nun auch für eine alternde Kulturtechnik, die angesichts des aufmerksamkeitsökonomischen Konkurrenzkampfes ein auf elitäre Abkopplung zielendes Rückzugsgefecht antritt. Es ist dieses Bild, mit dem Warhol spielt, wenn er davon spricht, ein schlechtes Buch ›out of the garbage‹ machen zu wollen. Sowohl Rolf Dieter Brinkmann als auch später Goetz – dessen Blogtitel ›Abfall für alle‹ als Referenz oder Reverenz auf A. A novel gelesen werden kann – rufen die Verbindungen zwischen Warhols Buch und ihrem eigenen Werk in diesem Zusammenhang auf.60 In seinen »Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹« bezieht sich Rolf Dieter Brinkmann explizit auf das Ende von A. A novel und hebt die im Gedicht immer wieder betonte Rolle des vom Boden aufgelesenen ›Abfalls‹ so noch einmal hervor: »Es ist die Energie des Abfalls, die mich antreibt! Ich/bin irritiert, ich bin entzückt.«61 Die popliterarische Cut-Up-Technik ist, das zeigt die Referenz auf Warhols Garbage-Begriff, vor allem ein Recyclingverfahren, das autonomieästhetische, an das Medium Buch gekoppelte Kategorien wie Originalität und Subjektivität bewusst herausfordert und sich zugleich als buchförmige und hochgradig selbstbezügliche, innerpoetische Reflexion der Stellung der Literatur zu anderen Medien innerhalb des autonomieästhetischen Paradigmas bewegt. Das Gedicht »Vanille« erscheint zusammen mit den »Anmerkungen«, einem eigenen Kommentar, der dessen Produktion offenlegt, 1969 in der Sammlung ›März-Texte‹ des gleichnamigen Verlags: Dieser kann als Beispiel für die hohe Beweglichkeit des Buchmarktes dieser Zeit um 1970 stehen, in der um die Zukunft des Buchmediums implizit und explizit verhandelt und gestritten wird. Die Stellung gegen das Establishment äußert sich zum einen in der Umstellung auf genossenschaftliche Führung des Verlags, zum anderen in programmatischen Auskünften wie dem »Statement« zur Einleitung des Bandes: Wir sind der Meinung, daß Bücher aus abstrakten kulturellen Ansprüchen herauszulösen sind, damit sie Gebrauchsgegenstände werden können. Dies

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Vgl. Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M. 1999, S. 824. Rolf Dieter Brinkmann: Vanille. Gedicht, in: MÄRZ-Verlag (Hg.): März Texte 1/ Trivialmythen [Reprint], Erftstadt 2004, S. 108-142, hier S. 123. Die Referenz auf Warhol, von Brinkmann nicht ganz wortgetreu zitiert, lautet: »Die letzte Zeile in Andy Warhols Buch ›a‹ lautet: ›from the garbage into the book!‹« (Rolf Dieter Brinkmann: Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹, in: MÄRZ-Verlag (Hg.): März Texte 1/ Trivialmythen [Reprint], Erftstadt 2004, S. 143-146, hier S. 146).

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setzt gedankliche Attraktivität voraus, die im Gegensatz steht zu der hierzulande sich als progressiv gebärdenden Feststellung vom Ende der Literatur.62 Brinkmanns Lyrik steht dabei zugleich auf Linie als auch quer zu dieser Programmatik, denn zum einen reiht er sich mit seinen Gedichten und den von ihm selbst mit herausgegeben Anthologien in den Versuch ein, die vor allem aus dem amerikanischen Kulturraum importierte Undergroundästhetik gegen den deutschen konservativen Literaturbetrieb in Stellung zu bringen, zum anderen ist die Geste der Verabschiedung der Literatur selbst wiederum Teil dieser Haltung und Form und Inhalt seiner Gedichte hinreichend komplex und kulturell angereichert, dass zwar der Betrieb provoziert, die Grenze zur populären Massenkultur aber nicht wirklich überschritten wird. »Vanille« bildet das Protokoll eines Alltags ab, der mit den autonomieästhetischen Ansprüchen des Kulturbetriebs kollidiert, was er vor allem an der vom Filmstudio Goldwyn adaptierten Formel »ars gratia artis« versinnbildlicht.63 Die visuell-graphische Dimension des Gedichtes spielt dabei eine entscheidende Rolle, da die einzelnen Zeilen und Zeilenblöcke verschieden eingerückt sind und mit einzelnen objets trouvés spielen, die unter anderem aus der Zeitung stammen, aber nicht als Bildausschnitte kopiert sind, sondern in einer sofort wiedererkennbaren typographischen Gestalt mimetisch abgebildet sind. Das gilt auch für den Briefkopf, der die Bitte an den Autor zur Teilnahme an einem universitären Veranstaltungsformat zur deutschen Gegenwartsliteratur rahmt, und der trotz der Enjambements auf den ersten Blick die Formalität der Adressierung sowie die simulierte Textart freigibt, ohne dass der Rezipient diese im engeren Sinne lesen müsste. GERMANISTISCHE INSTITUTE DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN INSTITUT FÜR DEUTSCHE SPRACHE UND LITERATUR Walter Hinck64

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MÄRZ-Verlag: Statement (11. April 1969), in: MÄRZ-Verlag (Hg.): März Texte 1 (Anm. 61), S. 7f., hier S. 7. Im Logo mit dem berühmten, brüllenden Löwen steht die Formel im Ring über dem Kopf des Tieres. Brinkmann: Vanille (Anm. 61), S. 110, in der Adaption des Textes findet zugleich eine Grenzüberschreitung statt, wenn Brinkmann die im Brief mitgelieferte (mutmaßlich echte) Privatadresse des Germanisten ein paar Zeilen später mit abdruckt.

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Anhand der ›ars gratia artis‹-Formel markiert Brinkmann im Anschluss an den zitierten Brief die Differenz von literarischen und filmischen Ereignissen. Wo die universitäre Lesung und Diskussion für das eigentliche Ende der Literatur als Kunstform stehen, wobei nicht einmal der Schlips des Professors interessant gebunden sei und das lyrische Ich bekräftigt: »hier hat alles aufgehört!«,65 gewinnt der Film im Kampf um Aufmerksamkeit klar die Oberhand, denn »keiner kann mit den/Titten Raquel Welchs/ernsthaft konkurrieren«.66 So wird das literarische Buch im kulturellen Feld als das Medium einer übersättigten, selbstzufriedenen Bourgeoisie ausgewiesen, die sich gegen die Ubiquität von Werbung und Bildern im Alltag abzuschotten versucht und deshalb überhaupt erst provozierbar wird. Die Literatur kann in den Augen des Dichters nur in der Auflehnung gegen die Selbstgenügsamkeit und in Anlehnung an die Macht der Bilder, im Auflesen und Recyclen dessen, was Film und Magazine übriglassen, überleben: Das suggeriert auch das Titelblatt des Gedichtes, das, an der Optik von Hochglanzmagazinen orientiert, die peritextuellen Angaben Autorname, Titel, Genrebezeichnung, Jahr und Widmung auf ein Bild der genannten Schauspielerin im Bikini druckt. Brinkmanns in kleiner Auflage publizierte Anthologie Godzilla treibt dieses Prinzip auf die Spitze, insofern er die einzelnen Gedichte auf verschiedene leicht bekleidete Frauenkörper druckt, sodass dem Changieren zwischen Lesen und Sehen bzw. Starren eine konkrete Dimension hinzugefügt wird, die zielgerichtet die konkurrierenden Wahrnehmungs- und Medienpraktiken beleuchtet. Die popliterarische Ästhetik kopiert, extrahiert und montiert sowohl gefundenes Material als auch formatspezifische Eigenheiten anderer Medien und reichert damit das Buchformat entscheidend an, womit zugleich seine Grenzen, wie im Fall von Warhols A, hervortreten. Die collagenförmige Zusammenführung von Materialien, die eben nicht mehr nur lesbare Texte nebeneinanderstellt, adressiert vor allem das sehende Auge, das sich auf sich selbst verwiesen sieht, denn im Zentrum steht die Frage: Was vermag die meiste Aufmerksamkeit zu erregen? Die Antwort zeichnet sich gerade durch ihre Profanität aus: Sex und Tod. Denn »Vanille« wird gerahmt durch das Coverbild in Pin-up-GirlOptik und die Abbildung einer Todesanzeige am Ende des Gedichts: Dieser Rahmen orientiert sich also zum einen an der Ästhetik von Magazinen und Werbung und zum andern an jenem Format in der Zeitung, das die Monumentalisierungsfunktion von Schrift ausgerechnet an eines der flüchtigsten 65 66

Ebd., S. 111. Ebd.

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Medien bindet. Genau in dieser Fluchtlinie liegt nun auch Brinkmanns spezifische Zusammenführung von profaner Alltagswelt und literarisch-kultureller Matrix, in der er allerdings die Wertehierarchie umkehrt, wie sich schon am Titel zeigt, der das gewöhnliche und darum eigentlich nicht wahrnehmbare Geschehen des Puddingeinkaufs, also das Nebensächliche ins Zentrum stellt: »ich finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und daß sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehr ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche, und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹!«67 Es ist eine Tiefe, für die die bis dato gültigen literarischen Kategorien nicht zutreffen. An die Stelle der Differenz von Essenz und Erscheinung tritt die Kategorie der sinnlichen Attraktivität.68 Dass die Oberflächen tief sind, deutet auf die direkte Verbindung von Blick und Begehren, die durch Stimulation hergestellt wird und sich dem rationalen, sprachlichen Zugriff entzieht. Es ist keine decodierbare Tiefe, sondern Energieaustausch im Sinne des beschriebenen Recyclingprozesses. Ausschneiden, Montieren und Re-Arrangieren sind dabei Praktiken, die dem Text keine Autorität verleihen sollen, sondern ihn unter die Leitdifferenz von Anziehung und Abstoßung stellen. »Who wants yesterdays papers?«,69 fragt Brinkmann mit den Rolling Stones, beantwortet die selbst gestellte Frage aber durchaus affirmativ mit der Archivierung eben jenes durch den wachsenden Medienkonsum geprägten Alltags der kleinen Attraktionen, die diesen zugleich durchbrechen und strukturieren. Das Buch, gegen dessen Kulturraum Brinkmann immer wieder polemisiert, bleibt das Medium der literarischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, das genau durch den Abstand zur direkten, reizgesteuerten Ansprache der Sinne jene Grenze zwischen sensibler und intelligibler Aneignung der Außenwelt mittels Sammlung dessen, was als Abfall auffällt, zu befragen erlaubt. Diese Mischung aus performativer und reflexiver literarischer Arbeit mit Schnitten und Ausschnitten kennzeichnet auch Goetz’ Debütroman Irre sowie seinen berühmten Auftritt in Klagenfurt. Die vor allem durch den Rasierklingenschnitt in die Stirn ins kulturelle Gedächtnis gebrannte Lesung setzt mit dem Vortrag eines Romanabschnittes aus Irre ein, der dezidiert als ein solcher zitierter Ausschnitt markiert wird und damit auf den Umstand

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Brinkmann: Anmerkungen (Anm. 61), S. 142. Vgl. Gerd Gemünden: The Depth of the Surface, or, What Rolf Dieter Brinkmann Learned from Andy Warhol, in: The German Quarterly. Vol. 68, No. 3 (1995), S. 235-250, hier S. 236. Brinkmann: Anmerkungen (Anm. 61), S. 144.

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verweist, dass der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb immer auch Teil einer Marketingstrategie ist, die das aktuelle Werk des Autors anteasert und ins Bewusstsein der adressierten bildungsbürgerlichen Leserschaft hebt. Goetz spielt hier als noch nicht arrivierter Autor im doppelten Sinn mit dem paradoxen Prinzip literarischer Kommunikation, die zugleich auf Originalität und Konventionalität verpflichtet: Hier bedient er die Konvention der Vorschau im Rahmen des Wettbewerbssettings und zugleich steigt er mit dem im Roman selbst als narrativ konventionell ausgewiesenen Mittelteil ein, um die Erwartungen scheinbar zu bedienen, um dann unvermittelt abzubrechen und um, wiederum durch verschiedene inszenierte Wahrnehmungs- und Reflexionsebenen gefiltert, bei der Situation der voyeuristisch anmutenden Lesung vor den Kritikern selbst anzukommen:70 Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das, die ich mitbringen täte und hier voll tot auf den Tisch legen täte, ich bin doch kein Blödel nicht, ich legen denen doch keinen faulig totig stinkenden Kadaver da vor sie hin, von dem sie eine Schlafvergiftung kriegen müssen, es muß doch bluten, ein lebendiges echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn […] Röchel Röchel –.71 Die Wahl eines Ausschnittes aus dem narrativ linear erzählten Mittelteil des Romans ist deswegen entscheidend, da die beiden diesen rahmenden Teile selbst wiederum durch die Aneinanderreihung von Textblöcken gekennzeichnet sind, die in der assoziativen Zusammenschau, die auch das Einzelwerk überschreiten muss, zusammen gelesen werden sollen bzw. so sukzessive angereichert werden. Der in Klagenfurt präsentierte Text »Subito« ist dabei bereits Teil dieses Netzwerkes an Texten, die in verschiedenen Medien erscheinen, und die Vermischung der feuilletonistischen und literarischen Welten, eines der Kennzeichen der deutschen Popliteratur, anzeigen. Dabei ist es – ganz im Sinne der Orientierung an den Cut-Up-Verfahren der ersten Generation der deutschen Popliteratur – das Prinzip der Organisation von Ausschnitthaftigkeit selbst, das hier im Vordergrund steht sowie die Funktion der Zäsur als Schnitt. Auch stilistisch ist dieser Bruch eingefangen: Im Fall

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Vgl. Rainald Goetz: Subito, in: ders.: Hirn, Frankfurt a.M. 2015, S. 9-21, hier S. 9 sowie Rainald Goetz: Irre. (16. Auflage), Frankfurt a.M. 2015, S. 107. Goetz: Subito (Anm. 70), S. 9f.

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des Textes aus Klagenfurt beginnt nach dem Abbruch des Romanausschnittes einer jener langen Kettensätze, die sich vor allem durch das Ausbleiben der Zäsur des den Satzabschluss markierenden Punktes auszeichnen. So bestimmt sich zugleich der Rhythmus des Textes: Immer wieder werden lange Textketten durchbrochen und markieren den Vorgang des Aufwachens und Hochschreckens, der der Kritikerschläfrigkeit Einhalt gebieten soll – ein Problem, das sich mit der realen Verletzung des eigenen Körpers, so die ironische Volte des Ganzen, ganz abseits des Raums der Schrift löst. Die metaphorische Rede vom ›Romankadaver‹ deutet auf die im Rahmen der Lesung hervortretende Differenz von lebender Autorstimme und -körper und dem Objekt des Buches, die auf den ersten Blick nur den alten Topos vom toten Buchstaben und der lebendigen Stimme reproduziert. Zugleich wird dieser in den Rahmen einer theatralen Inszenierung in Klagenfurt gesetzt, die eben dem gedruckten Buch gilt. Die emphatische Affirmation des Buches im späteren Werkkomplex ›Heute morgen‹, die gerade auf die sinnlichen Komponenten des bibliographischen Codes – die typographische Charakteristik des Buchstabens,72 die Beschaffenheit des Papiers73 u.ä. – verweist, ist hier noch nicht so prominent platziert, und doch ist wie im Fall von Brinkmann nicht von der Hand zu weisen, dass am Ende das Medium des Buches das heimliche Zentrum einer Textproduktion ist, die sich für peri- und epitextuelle Phänomene sensibel zeigt und dabei, wie im Fall von Irre, auch die dreidimensionale Beschaffenheit des Buchobjekts im Blick hat: Denn nicht nur betont Goetz schon in seinem Debütroman, dass das Buch nicht nur gelesen, sondern vor allem geblättert werden will,74 auch der Blick auf den Buchschnitt zeigt, dass die charakteristische Dreiteilung seiner Bücher auch ohne Blick ins Inhaltsverzeichnis oder lineare Lektüre kommuniziert und ausgestellt werden kann, da die Teile durch ganzseitig bedruckte Bilder als Trennwände separiert sind, die sich als Schnittverzierung abbilden.75     72 73 74

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Vgl. Goetz: Abfall (Anm. 60), S. 187. Vgl. ebd., S. 678. »Meine Fürsorge gilt heute vor allem jenen Benützern, die von längeren zusammenhängenden WortPassagen eher angeätzt sind, die sich so ein Buch wenn überhaupt mehr durchblättermäßig reinziehen.« (Goetz: Irre [Anm. 70], S. 259). In Abfall für alle sind es schließlich sogar völlig schwarze Seiten, die, bedruckt mit der römischen Bezifferung, sich stark abzeichnen und zugleich den schwarzen Vorhang, der sich im Theater zwischen den Akten senkt, als Bild aufrufen.

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Neben dem Buchschnitt und dem prominenten Schnitt mit der Rasierklinge, der die Rezeption von Irre überlagert und auf Punk verpflichtet, kommt im Roman Irre außerdem einer gerne übersehenen Schnitttechnik eine signifikante Rolle zu, auch deswegen, weil sie auf eine inzwischen weitestgehend vergessene Kulturtechnik verweist: das Aufschneiden von Büchern, das für Mallarmé noch eine – wenn auch bei ihm als gewaltsam metaphorisierte – Selbstverständlichkeit darstellt. Im formell experimentellen dritten Teil von Irre kommt die Sprache auf die Technik des Aufschneidens anhand zweier Beispiele aus wiederum unterschiedlichen Medien: Zum einen die Zeitschrift Eltern, in der der verfängliche Teil, »das Geilste, die ganze Aufklärung und so, auf einem besonderen Papier gestanden und zugebunden, daß man es zum Lesen erst hat aufschneiden müssen« – oder, wie das neugierige Kind, oben zwischen den Fäden hineinschauen kann.76 Das Kontrastbeispiel zu dieser mäßig funktionalen Barriere stammt aus der Wissenschaft: Im Laufe der Arbeit an einer historischen Promotionsschrift, einer Phase, die im Folgeroman Kontrolliert ausführlich ausgestaltet wird, findet Goetz’ Alter Ego Raspe in der Institutsbibliothek der Sorbonne das »vielhundertseitige« prosopographische Lebenswerk eines Historikers, das zwar vor bereits zehn Jahren erschienen war, doch »erbrochen waren nicht einmal alle sechzehn Seiten des ersten Druckbogens.«77 Symbolisiert das quasi noch jungfräuliche Buch den »WissenschaftsHorror[]«78 , so steht das Zubinden der verfänglichen Seiten für den verkrampften Umgang mit Sexualität in der Bundesrepublik, der durch den Versuch des Verbergens diese erst recht interessant macht. Die Kontrastierung beider Beispiele ist aber nur die Ouvertüre zu einem Abschnitt des dritten Romanteils, der das Problem der Beziehung von Ausschnitt und Rahmen auf zweifache Weise adressiert, erstens, indem er die Organisation des Textes am so kontingenten wie überstrukturierten Verlauf eines Jahres ausrichtet und zum anderen in der Rahmung durch das zitierte Prinzip des absondernden Zubindens. Diese Technik wird in Irre mit typographischen Mitteln simuliert, die die Differenz zwischen zweidimensionaler und dreidimensionaler Form des Buches umso mehr hervorheben:

76 77 78

Goetz: Irre (Anm. 70), S. 288. Ebd. Ebd.

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»XXXXXXXXXXXX Hier offen XXXXXXXXXXXX«79 leitet diesen Textteil ein, »XXXXXXXXXXXXX Hier Zu XXXXXXXXXXXXX«80 schließt am Seitenende ab. Zweck dieser Simulation ist die Anzeige der doppelten Bedrohung jedes provokativen Textes: entweder, die Provokation trifft nicht und erregt keine Aufmerksamkeit, ist also funktionslos, oder die Provokation trifft und verletzt. Dieses Problem wird genau im hier durch die beiden Beispiele veranschaulichten Begehren adressiert, den folgenden Romanabschnitt zugebunden präsentieren zu können, der »das Äußerste«81 enthalte: das Achternbuschjahr, wie er jenen Teil nennt, in dem es weniger um den Filmemacher und Künstler geht, als um dessen germanistischen Interpreten, der hier einer Reihe von Beschimpfungen ausgesetzt wird, und der unter dem Synonym Professor De nur schwach verschlüsselt ist. Die Markierung eines auf eigene Gefahr hin zu öffnenden Teils des Buches hebt diesen heraus und verweist zum einen auf die Goetz bis zu seinem jüngsten blauen Werkkomplex beschäftigende Frage nach den für den literarischen Text gültigen Grenzen der Sagbarkeit,82 und zum anderen auf die Frage nach der Organisation des Romantextes abseits erzählerischer und dramaturgischer Konventionen. Gleichzeitig spielt dieses Kapitel mit dem ihm vorgelagerten Bild des neugierigen Kindes, wenn die zeittypischen medienpathologischen Diskurse über die Gefahren des Fernsehkonsums aufgerufen werden, um die Opposition von Sex – also Attraktivität und Reiz – und Kritik – also Hemmung und Humorlosigkeit – zutage treten zu lassen. So wird wie bei Brinkmann innerhalb des Buches die Buchkultur selbst als okkupierte Zone des Kulturkritikers entworfen, der sich von hier aus von der feindlichen Welt der Bilder umstellt sieht. Wissen Sie, was der Unterschied ist: Sie denken beim Fernsehen an die KulturVerteidigung, und ich denke an den Sex. Ich bin ein normaler Mensch, Sie eine blöder. […] Sie brauchen nur zwei Seiten in Ihrem, dieser kleingeschriebenen Tante gewidmeten AchternbuschTextlein, bis Sie genau da sind, wo der Analphabet sich mit seinesgleichen trifft, bei den terminologischen

79 80 81 82

Ebd., S. 290. Ebd., S. 316. Ebd., S. 289. Dies ist vor allem Thema seines Vanity-Fair-Blogs, der später in Buchform unter dem seine Mehrdeutigkeit ausschöpfenden Titel Klage publiziert wird.

»Corpus Abfall«

Schwierischkeiten. Die sind dem Professor seine Pornos. An denen geilt er sich auf. Dann relativiert er sich den Rest der Zeit. Abspritzen tut so einer nie.83 Es sind die selbstzweckhaften Gesten und Schreibweisen des Wissenschaftsbetriebs, gegen die im Modus des pöbelnden Punks Stellung bezogen wird. Das betrifft die formelhafte Reproduktion rhetorischer Gewohnheiten und reflexhafte Thesenbildung und sogar typographische Modeerscheinungen wie der unter linken Intellektuellen zeitweise im Trend liegenden Kleinschreibung, die Jugend und Rebellion signalisieren soll und sich dadurch für Goetz erst recht als peinliche Grenzüberschreitung entlarvt. Brinkmann und der junge Goetz zelebrieren mit ihren experimentellen Erkundungen der Grenze zwischen buchförmiger Literatur und ihrer Umwelt den Widerstand im eigenen Lager. Es geht dabei in zweifacher Weise um Formatierung: Zum einen um die Rückkopplungseffekte des bibliographischen Codes auf die literarische Produktion, die in den autoreflexiven Texten in den Fokus rücken.84 Das führt zu paradoxalen Effekten wie demjenigen, den Stanitzek für Brinkmanns persönliche Gestaltung des Piloten-Covers beschreibt: Die ohnehin invisibilisierten kollaborativen Praktiken, die hinter der Herstellung eines Buches stehen, werden hier weiter reduziert, was einen Hiatus zwischen a-hierarchischem Selbstverständnis und der Verstärkung des autoritativen und zentristischen Urheberschaftsprinzips im literarischen Bereich erzeugt. »Der Traum von einem anderen Paratext des Buchs […] resultiert insofern, paradox, in der Bestätigung, ja, in der Forcierung jener biblionomen Tradition.«85 Andererseits geht es um die Gestalt der Literatur im Gewand eines Mediums, in das die bourgeoisen Altlasten und Vorurteile imprägniert sind: Programmierungen, die Brinkmann und Goetz aufrufen und angreifen, ohne ihre eigene Zugehörigkeit zu eben diesem an angestaubte Institutionen wie die Universität und ihre trägen Traditionen und Bildungskonzepte angeschlossenen Betrieb leugnen zu können.

83 84

85

Goetz: Irre (Anm. 70), S. 310. Die analytischen Differenzbegriffe des linguistischen und des bibliographischen Codes bringt Jerome McGann in The Textual Condition als Alternative zu Genettes Unterscheidung von Text und Paratext ins Spiel, um die materielle Dimension des Buchkörpers zu akzentuieren und die auch für die Interpretationsprozesse entscheidenden Unterschiede zwischen verschiedenen Editionen eines Textes sichtbar zu machen. (Vgl. Jerome McGann: The Textual Condition, Princeton 1991, S. 13). Stanitzek: Buch (Anm. 2), S. 181.

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Schaut man genauer hin, ist es also nicht das Medium des Buches, das hier in Frage gestellt wird, sondern das Buch als standardisiertes wie standardisierendes Format. »Es gehört zur Logik des Formats, dass von ihm eine Art Ordre oder Devise zu einer immer weitergehenden Vereinheitlichung ausgeht. Formate sind übergriffig.«86 Es sind eben jene Grenzen des Formates, die die Ausstellung der Materialien mit ihren ausgefransten Rändern und angedeuteten Rahmen in Nebeneinanderstellung mit dem klassisch linearen Text erkundet, testet und dabei die Beziehung von Buchgestalt und Literatur aufscheinen lässt. Letztlich ist aber, das wissen auch beide Schriftsteller, das Buchformat nirgendwo übergriffiger als in der Konstruktion der Autorschaftsfunktion: Beide Texte sind auch Gesten des Widerstands des schreibenden Subjektes gegen die Dispositive, die es schreiben und normieren – das ist konkret Gegenstand in Irre, hier bezogen auf den psychiatrisch-medizinischen Bereich, meint aber auch die Einschreibung des Subjektes in die Normen und Konventionen des Kulturbetriebs mit. So gesehen bilden Brinkmanns und Goetz’ frühe Texte diesen Kampf gegen die Formatierung durch das Buch im Buch ab.

4.

Programmierte Form: Goetz’ Buchserie ›Heute morgen‹

Mit den mannigfaltigen Umbrüchen im Zuge der Digitalisierung der Lebenswelt scheint das Ende des Buches plötzlich wieder präsent, aber zugleich könnte man auch vom Ende des Endes des Buches sprechen, denn es wird immer offensichtlicher, wie komplex die Lage tatsächlich ist, welche verschiedensten alten und neuen Techniken und Praktiken sich um das Buch gruppieren und wie verschiedene Textformate in ganz unterschiedlicher Weise von den Transformationen betroffen sind. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob es um das Buch als Wissensträger geht oder um das literarische Buch. Als nicht für Maschinen lesbares und damit nicht per Suchbefehl ansteuerbares analoges Medium ist das Buch für weite Teile der akademischen Welt unattraktiver geworden, wer gelesen werden will, publiziert im Open Access.87 In der literarischen Buchbranche lassen sich dagegen zwei Tendenzen 86 87

Michael Niehaus: Was ist ein Format?, Hannover 2018, S. 16. Mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf das geisteswissenschaftliche Buch beschäftigt sich Michael Hagner (Zur Sache des Buches, Göttingen 2015).

»Corpus Abfall«

bzw. Adaptionsstrategien an die neue Umwelt beobachten: Zum einen die simultane Publikation von Texten als elektronische und gedruckte Bücher, wobei der E-Book-Markt auch das Self-Publishing in einem Maße fördert, der zur Herausforderung für die etablierte Verlagslandschaft wird. Zum anderen ist eine Besinnung auf die Materialität des Buches zu beobachten, die einerseits die Experimentierfreude mit dem Medium zu stärken verspricht, andererseits Teil einer eher restaurativen Bewegung ist, die auf Luxusausstattung und Biedermeier setzt. Rainald Goetz’ Werkkomplex »Heute Morgen« kann als ein sehr frühes literarisches Beispiel gelten, das auf die digitale Wende mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Rolle der Buchmedialität und -materialität reagiert – und das im Raum des noch jungen Webs selbst, noch bevor die epitextuelle Vermarktung von Autorschaft auch hier Standard wurde. Spielt in Irre die Buchförmigkeit eine anderen Motiven und Themen des Romans noch untergeordnete Rolle, sieht es vor allem für den Monumentaltext Abfall für alle anders aus, der in zwei Realisierungsformen Einzug in die Geschichte der Popliteratur hält und so die Differenz von linguistischem und bibliographischem Code einerseits im Medientransfer ausstellen muss, aber zugleich, so soll im Folgenden gezeigt werden, auch die Spielregeln und Formationen, die zwischen Text- und Buchproduktion herrschen, selbst zum Fluchtpunkt und Narrativ des so entstehenden Textes macht. Die tagebuchartige Textstruktur hält dazu zwar an – ist es doch wenig überraschend, dass der Alltag eines Schriftstellers mit der Herstellung, Vermarktung und Begleitung seiner Bücher einhergeht –, dabei fällt jedoch umso mehr auf, was in anderen schriftstellerischen Tagebüchern gerne ausgespart wird: die Distributionsseite. Daran lässt sich ein typisches, zum Mythos des Gutenberg-Zeitalters gehörendes Narrativ erkennen: Ein Buch ist fertig, wenn der Text fertig ist. Abfall für alle weist dieses Narrativ als unzulässige Reduktion aus, nicht nur, weil sich hier die Frage nach dem Medium oder den Medien der Literatur im Medienwechsel beinahe zwangsläufig stellt,88 sondern auch, weil die Frage nach der werkförmigen Erscheinungsweise des prozessualen Schreibvorgangs hier selbst verhandelt wird. So wie das eingeklammerte Achternbuschjahr in Irre eine durch die ›Gelegenheit der Datierbarkeit‹89 gegebene

88 89

Vgl. Hahns These zur »Drucksache« Literatur (Anm. 43). Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 269-282, hier S. 272: »Die Gelegenheit des Datums ergibt sich, wo die Datierbarkeit der Gelegenheiten wartet.«

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Binnenstruktur hat, so wird in Abfall für alle, dem Buch, die logbuchartige Struktur im Nachhinein als zeitlich sukzessive Entwicklung lesbar, wohingegen die mediale Affordanz des Blogs durch die Aktualisierungsfunktion auf die momenthafte und flüchtige Singularität des neuesten Eintrags setzte und damit alle weniger gegenwärtigen Einträge in den Hintergrund rückte. In Abfall für alle wird dabei die Differenz von gedrucktem, materiell unveränderlichem Werk und dem transitorischen Charakter des digitalen Textes betont und über alternative Publikationsformen reflektiert, die zugleich die materiell-greifbare Form und das transitorische Moment der Praktik des »Auflesens« verbinden: Ich kann einfach nicht erkennen, was die Totenform dieses hier live entstehenden Textkonvoluts ist. Anfallsweise denke ich, selbstverständlich muß das erscheinen. Und schon im selben Moment kommt es mir viel richtiger vor zu sagen, eine Netzgeschichte, und das wars. Meine Lieblingsvorstellung: daß es ohne groß zu erscheinen, einfach irgendwie da wäre, wenn das Netzleben erloschen ist, in sieben reclam-kleinen Heftchen vielleicht. Daß das rumliegen würde, umsonst, bei den Prospekten, als Werbegimmick, eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses. Abfall für alle eben.90 Der ursprüngliche Blog, der aus dem Gedächtnis des öffentlich zugänglichen Netzes gelöscht wurde, wird so letztlich zu einer Art abwesendem, gespenstischem Epitext. Die Buchversion fügt neben rein bibliographischen Konventionen wie dem Impressum einen entscheidenden Untertitel hinzu, der die Gattung der ›Netzgeschichte‹ bestimmt, um so zugleich die Frage nach der Legitimität der für die strategische Vermarktung von Büchern fast unabdingbaren Praxis der peritextuellen Zuweisung von Genre und Gattung zu provozieren. Der »Roman eines Jahres« wird in der voluminösem Form des Buches als eine Inversion des traditionellen Bildungsromans inszeniert, der eben nicht mehr von der Entwicklung eines einzelnen Individuums handelt, sondern von der netzwerkartigen Entstehung von Literatur in einem doppelten Sinne: als Arbeit am ›aufgelesenen‹ Sprach- und Diskursmaterial und als ein um die Publikation eines literarischen Werks gruppiertes Netzwerk von Voraussetzungen, die zum einen die Instandsetzung der Funktion Autor betreffen, anderseits das beziehungsreiche Zusammenspiel von Verlag, Lektor, Autor und Druckerei meint, das bis zurück zur Papierfabrik reicht:

90

Goetz: Abfall (Anm. 60), S. 724f.

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Herr Staudt erzählt eben, weil ich noch mal wegen dem Papier anrufe: ja, das Papier stünde eben so in Bottichen, da wäre ja viel Wasser dabei, und wenn die da in der Papierfabrik in den Bottichen länger mal nicht umrühren, dann käme es eben zu so – ja: FÄULNISPROZESSEN, und das würde eben dann so bißchen – ich: BRUTAL STINKEN – er: ja, etwas riechen. Aber in unserer Papierfabrik, da würden sie schön brav rühren. Danke, Papierfabrik. Seit Jahren frage ich überall rum, wo kommt denn der Gestank her, bei manchen Büchern?91 Das Buch ist in diesem Sinne in Abfall für alle nicht nur ein kontingenter Textbehälter, sondern ein Objekt, an das eine Reihe von Anforderungen gestellt wird, die von der Optik, über die Haptik bis zur Olfaktorik reichen, und zugleich ein vielseitig nutzbares Objekt, das gelesen werden, oder auch, im Sinne Warhols, als Lifestyle-Accessoire dienen kann. Goetz spielt mit genau der Gegenüberstellung von der auf ihre sprachlichen Phänomene abgetasteten Umwelt, die alle Medien von der Zeitung bis zum Fernsehen einbegreift, und dem als opakes Objekt inszenierten Buch. An die Schnittstelle dieser Beziehung rückt dabei Luhmann, denn zum einen ist es die systemtheoretische Beobachterhaltung, die Ausgangspunkt und Matrix für die Auseinandersetzung mit der massenmedial erzeugten Gegenwart ist, zum anderen werden die Bücher Luhmanns als Verkörperungen dieser Matrix fetischisiert. Diese Bücher nehmen konkreten Raum im Alltag ein: »2305. Mit Luhmann, erst beim Eis, dann am Balkon.«92 Oder: »2212. Wieder ein Abend mit Luhmann, beim Eis, auf langem Gang, am Balkon, im Zimmer.«93 Auf die Spitze getrieben wird dieser ausgestellte Fetisch bei Goetzʼ Auftritt bei Top of the Pops zu Westbams ›Beatboxrocker‹, wo er im Hintergrund als ravender Mönch Luhmanns »Die Gesellschaft der Gesellschaft« als Bibel und damit als Buch der Bücher in die Luft streckt. Das verweist nicht unernst auf die algorithmische Struktur der Systemtheorie, die ja tatsächlich in diesem Sinne als welthaltiges Buch bezeichnet werden kann,94 wenn man denn ein Anhänger ist.

91 92 93 94

Ebd., S. 377. Ebd., S. 473. Ebd., S. 481. Vgl. Charlotte Coch: Lektüre als Form. Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann, Bielefeld 2021, S. 38: Coch rekonstruiert, wie »bei Luhmann das absolute Buch gerade nicht dasjenige [ist], welches die Fülle der Welt enthält, sondern dasjenige, welches die nur ungeschrieben zu wahrende Struktur aller möglichen Bücher darstellt, und damit entweder – wie bei Mallarmé – am besten

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Die ausgestellte Verehrung der Theorie und Person Luhmanns und Goetzʼ »Fetischisierung des Mediums Buch«95 gehen Hand in Hand. Ziel ist es den »Lebendigkeitsaugenblick«96 des Schreibereignisses durch die ›tote Schrift‹ hindurch zum Ereignis der Lektüre zu führen. Dieses wird durch die Gestalt des Buches ebenso begünstigt wie durch das Interesse an seinem Inhalt: »Die unendliche Schönheit dieser speziellen Sache, dieses Objekts«97 liegt gerade in seiner sinnlichen – also optischen und haptischen – Präsenz. Lena Hintze rekonstruiert diese Bedeutungsverschiebung hin zur visuellen Gestalt des Buches, die erst einmal unabhängig von seiner Lesbarkeit ist, wenn sie das Coverdesign, also die Oberflächengestalt der Werke Goetz’ in den Vordergrund ihrer Analyse rückt und mit seinem »Faible für die Konzeption«98 verknüpft, das vor allem in der Relationierung der Einzelwerke einer Serie durch ein numerisches System zur Geltung kommt. Die Gestalt der einzelnen Bücher, so Hintze, weise von außen – der Wiedererkennbarkeit der Zugehörigkeit vor allem durch die Farbcodierung – nach innen, womit der ›innere‹ Text wiederum seine Projektion nach außen – die »Werkumgebung«99 – verlange: Denn das wörtlich genommene ›Beiwerk‹ eines Bandes innerhalb eines Werkkomplexes – nämlich die anderen Einzelbände, die ›daneben‹, d.h. chronologisch gesehen: davor, danach oder gleichzeitig, veröffentlicht werden – bildet die Umgebung und fungiert wiederum als Paratext, der ein weiteres Außen eines Buch-Außen ist und auf das Innen des entsprechenden Bandes einwirkt.100 Goetzʼ Reihen werden so als ein komplexes Gefüge von intertextuellen und paratextuellen Verhältnissen sichtbar, deren Komplexität vor allem durch den Fokus auf den sinnlich-aisthetischen Aspekt des literarischen Werkes reduziert wird. Wenn also, wie Hintze herausarbeitet, ein peritextuell als Theatertext ausgewiesenes Werk wie Jeff Koons als eine Art Skript fungiert, dann eben nicht einfach nur als ein auf der Bühne umzusetzender Text, sondern als Skript im akteur-netzwerktheoretischen Sinne eines Programmcodes, der gar nicht mehr geschrieben werden sollte, oder zu einem Buch wird, ›das sich selbst jeden Tag neu schreibt‹.« 95 Hintze: Werk ist Weltform (Anm. 3), S. 10. 96 Goetz: Abfall, S. 838 (Anm. 60). 97 Ebd., S. 333. 98 Hintze: Werk ist Weltform (Anm. 3), S. 10. 99 Ebd., S. 12. 100 Ebd., S. 28.

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aber erst les- und inszenierbar gemacht werden muss und zwar im Hinblick auf seine Werkumgebung. Auch die Reflexionen zur literarischen Produktion gruppieren sich bei Goetz um das Konzept des »Formprogramm[s]«.101 Die Merkmale eines Genres oder einer Gattung werden dabei algorithmisiert und zur Grundlage eines schreibenden Probehandelns, welches auf den Moment der ›unwahrscheinlichen Evidenz‹ zielt, also den nicht planbaren Moment der Stimmigkeit: Man geht ja rückwärts vor. Sieht nicht, wo es hingeht. Sieht immer nur den neuen Fehler, der durch die letzte Bewegung entstanden ist. Den Folgefehler, den die Korrektur hervorruft. Und immer neu ist die interessante und nie endgültig klärbare Frage, wie sich die vielen Widersprüche plausibel und realitätsentsprechend ausbalancieren lassen.102 Die Leitunterscheidung dieser künstlerischen Arbeit – ›Stimmt’s/Stimmt’s nicht‹ – ist theoretisch erkennbar an Luhmann angelehnt und wird von Goetz vom hermeneutischen Gegenmodell abgegrenzt, dem »Kitschroman vom Künstlerweg«,103 also dem Narrativ des Autors, der sich in der Schrift findet und verwirklicht. Dieser biographisch-genetischen Logik gelte es gerade zu entkommen. Zum Spiel mit der peritextuellen Rahmung gehört im Fall von Abfall für alle auch die bereits erwähnte Ergänzung des Titels mit der Gattungsbezeichnung ›Roman‹. Die im Anschluss an Hahns These von der buchförmigen Codierung des Mediums Literatur entscheidende Frage lautet, ob diese Selbstzuschreibung auch eben nur für die spätere Publikationsform gelten kann. Das muss in der Logik der Goetz’schen Figuration der Buchmedialität unbedingt bejaht werden, ja, man könnte auch behaupten, dass es diese peritextuelle Provokation ist, die genau die Schwelle von Blogexperiment und Buch poetologisch einholen soll. Die gelungene Provokation liegt dabei auch in der kalkulierten Reaktion des Literaturbetriebes auf die Durchkreuzung der Erwartungshaltung, die den Roman auf Subjektentwicklung und die konventionelle Verbindung von Fiktionalität und Narrativität verpflichtet. In einem Interview modelliert Goetz den Leser, der diese Romanform als Prototypen vor Augen hat, dessen Familienähnlichkeit mit Abfall für alle deshalb für diesen nicht erkennbar ist: 101 Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, Berlin 2001, S. 123. 102 Ebd., S. 121. 103 Ebd.

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Der Kritiker der ›Faz‹ fühlt sich bei dem Wort Roman an ein ihm entgegenquellendes Sofa erinnert, an etwas Gemütliches. Ich schreibe natürlich einen modernen Roman, was Kaputtes, einen Entwicklungsroman, der die Form des Romans entwickelt, weniger den Helden.104 Das Formprogramm, das Abfall für alle durchlaufen hat, besteht also genau in der Verbindung vom durch die Struktur der bloggenden, sich täglich aktualisierenden Praxis geformten Text und dem Spiel mit dem Format des Buches, wobei diese Grenze immer wieder gekreuzt wird, wenn innerhalb des Textes selbst eben jene Netzwerke der Werk-, Buch- und Autorschaftsproduktion aufgerufen werden, die eben nicht mehr zugunsten der Werkeinheit verschleiert werden, sondern poetologisch reflexiv und damit wiederum Text werden. Goetz’ Werk zeichnet sich durch das Bespielen dieses Grenzbereiches aus: Durch die peritextuelle Gestaltung – vom Buchcover bis zur tabellarischen Liste der zum Werkkomplex gehörenden Publikationen, die neben der Titelseite positioniert ist – wird die Grenze zwischen Text und Beiwerk immer wieder als prekäre ausgewiesen: Die Arbeit an der Funktion (Pop-)Autor ist dabei durch solche als Serie präsentierten Bücher ausgestellt, wie die Anziehungskraft des kulturellen Autorschaftskapitals Voraussetzung für die Anerkennung der Werkförmigkeit der buchgewordenen Blogs, Interviews und journalistischen Texte ist. Goetz selbst erklärt die Unterscheidung des ›eigentlichen‹ Werktextes von den ihn begleitenden Epitexten für hinfällig und setzt diese Aussage performativ um, wenn er sie in dem zu ›Heute morgen‹ gehörigen Band Jahrzehnt der schönen Frauen abdruckt, einem Buch, das zum einen die lyrischen Beiträge Goetzʼ zum Projekt des Internetautorenkollektivs ampool.de, zum anderen Ausschnitte aus bereits publizierten Interviews enthält: Für mich ist, deswegen habe ich auch so Schwierigkeiten mit Interwiews [sic!], jede Interviewäußerung gleich wichtig wie die heiligste Zeile in einem poetischen Werk. Das ist auch ein Grundzugriffsmoment der Textpraxis, die ›Abfall‹ realisiert, daß man alle Textformen auf gleicher Ebene ansiedelt. Egal, ob das aus dem Fernsehen kommt, ob das ein Wort ist, das irgendwo auf einem Haus steht, ob das ein Gedicht ist, ob das ein theoretischer Text ist oder ein Tagestext in der Zeitung. Die Heiligkeit der Schrift gilt für alle

104 Ebd., S. 136.

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Texte, für jeden Buchstaben. Das ist die Rezeptionsform. Und für die eigene Produktion sehe ich das natürlich genauso.105 Das Format gibt die Struktur vor: Das besagt nicht nur der Inhalt des Textes, sondern auch seine an den Verlagseigenheiten orientierte Form. Die zweite Merve-Ausgabe des Werkkomplexes passt die Texte nicht nur typographisch dem vorgegebenen Layout an, sondern stimmt auch die in ihrem ursprünglichen Publikationskontext erschienenen Interviews auf den reduzierten Merve-Stil ab und kehrt so das übliche Verhältnis von journalistischem Interview und interviewtem Künstler um, indem die ans Unzulässige grenzende Kürzung der Fragen und Aussagen hier vom Wechsel des Zeitschriftenmediums ins Buch vorgenommen wird. Die Mimesis am Laissez-Faire-Image des Verlages geht so weit, dass nicht zu entscheiden ist, ob die Druckfehler im Text Teil des Verfahrens oder tatsächlicher Nachlässigkeit des Lektorats geschuldet sind.106 Ein solch spielerischer Umgang mit Elementen der Buchmedialität reproduziert die eingangs beschriebenen Merkmale des Diskurses um die mögliche historische Begrenztheit des Buches: die poetische Exploration und Exploitation der Gestalt des Buches zwischen ästhetisch-literarischer und aisthetischbiblionomer Einflussphäre, die vor allem seine multidimensionale Affordanz hervorhebt, den Leser entsprechend als Benutzer figuriert und die Position der eigenen Publikationen am Kreuzungspunkt der sich hier treffenden akademischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Interessen ausstellt. Die poetische Nutzbarmachung des bibliographischen Codes ist, so kann man nach diesem kursorischen Durchgang zusammenfassen, Merkmal literarischer Texte, die weniger auf die Herstellung einer fiktionalen Parallelwelt aus sind, sondern stattdessen die sprachliche und schriftliche Umwelt als Material und Ausgangspunkt der eigenen Arbeit an der Sprache in den Vordergrund stellen – von den vertikalen Schriften im Straßenbild über die Text-Bild-Konkurrenz mit Magazin und Fernsehen bis zum Wechsel zwischen

105 Ebd., S. 149. 106 Ein weiteres Beispiel für die Adaption nicht nur des verlegerischen Layoutdesigns im Allgemeinen, sondern des spezifischen Stils des jeweiligen Verlagshauses ist die Taschenbuchausgabe von Klage. Nur in dieser Ausgabe findet sich ein Register im Anhang, was für wissenschaftliche, aber nicht literarische Texte üblich ist. Elias Kreuzmair deutet die Änderungen gegenüber der Hardcoverausgabe als »Anspielung auf die Einrichtung der Bände der Reihe ›suhrkamp taschenbuch wissenschaft‹«. (Elias Kreuzmair: Pop und Tod: Schreiben nach der Theorie, Heidelberg 2020, S. 150).

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analogem und digitalem Textträger. Dabei stellen sie das Medium des Buches als eines aus, das keineswegs auf die lineare, die Materialität der schriftlichen Signifikanten ausblendende Lektüre beschränkt sein muss. Experimente und Provokationen sind deshalb nie Selbstzweck, sondern Hinweise auf die Proliferation eines Objektes, das als solches – als Oberfläche und Gebrauchsgegenstand – schön ist.

Utopische Umschläge Überlegungen zur Materialität möglicher Welten Charlotte Coch

Der Roman, so die These Blumenbergs, bildet nicht die Welt nach; er realisiert diese vielmehr: »Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.«1 In der Doppelung von ›Thema‹ und ›Anspruch‹ versteckt sich die Brisanz der These, die in der Wiederaufnahme und Weiterführung des Blumenberg‘schen Gedankens durch Niklas Luhmann noch deutlicher zur Geltung kommt. Letzterer erblickt in der weltproduzierenden (und für Luhmann damit gleichzeitig weltdekonstruierenden) Fähigkeit des Romans gar eine mögliche Funktion von moderner Kunst und Literatur insgesamt. Dies ist gemeint, wenn Luhmann von »Weltkunst« spricht: »Diese Überlegungen erlauben es, die Kunst als Weltkunst zu beschreiben. Sie leistet auf ihre Weise (und niemand wird sagen wollen, es gebe keine anderen Möglichkeiten) das Sichtbar- und Unsichtbarmachen der Welt.«2 Auf besonders augenfällige, nämlich gleichermaßen Anspruch und Thema bildende

1

2

Hans Blumenberg: Wirklichkeit und Möglichkeit des Romans, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 2001, S. 47-73, hier S. 61. Niklas Luhmann: Weltkunst, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 189-245, hier S. 209. Die noch bekanntere Formulierung findet sich in Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1997), S. 334-335: »Das Kunstwerk nimmt diese erhellende und verdeckende Funktion von Sinn in Anspruch, steigert sie aber so, daß auch Unsichtbares sichtbar und, wenn es gelingt, die Welt in der Welt dargestellt wird. Eben deshalb müssen die Normalverweisungen des täglichen Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten gebrochen werden, um die Aufmerksamkeit von diesen Ablenkungen abzulenken. Die Darstellung der Welt in der Welt modifiziert die Welt selbst im Sinne des ›so nicht Nötigen‹. Das Kunstwerk erbringt für sich selbst den Notwendigkeitsbeweis – und entzieht ihn damit der Welt.«

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Weise, handeln SF-Romane von ›möglichen Welten‹.3 Diejenigen Romane, um die es im Folgenden gehen wird, erzeugen diese Welten nicht nur über die dem Medium Buch als Affordanz eingeschriebene internalisierte Praxis des Text-Lesens, sondern die ihm gleichermaßen inhärente Praxis des sehenden und haptischen Interagierens mit dem Objekt Buch, über den Weg der Benjamin’schen »Gewöhnung«4 . Es wird also im Folgenden nicht um Romanformen innerhalb der Gattung Roman als Medium gehen, sondern um Buchformen innerhalb des Mediums Buch.5 Es geht um mögliche Welten, die nicht im hermeneutischen Durchgang durch die Lektüre, sondern im Gadamer’schen ›Vorurteil‹ entstehen – im ersten Griff zum Buch, im rein visuellen Sich-irritieren-lassen von der Visualität und Haptik des Umschlags.6 Die im Folgenden zu beschreibenden Buchobjekte sind also Peritexte in einem programmatischen Sinne: nicht nur als schmückendes »Beiwerk«, wie es in der deutschen Übersetzung von Genettes Paratexte heißt, sondern

3

4

5

6

Zum Zusammenhang von SF, Fantastik und possible world theories aus der analytischen Philosophie siehe etwa die Beiträge im Sammelband Pascal Klenke et al. (Hg.): Writing Worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik, Heidelberg 2014. Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Fünfte Fassung, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Ausgabe. Bd. 16, hg. von Burkhardt Lindner, Berlin 2012, S. 207-255, hier S. 246. Benjamin entwickelt hier eine interessante Idee zu Medienumbrüchen und damit einhergehenden Veränderungen im individuellen und kollektiven ›Apperzeptionsapparat‹, die für ihn nicht visuell oder kognitiv, sondern vielmehr eben »allmählich nach Anleitung der taktischen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt« (ebd.) werden. Grundlegend hier Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin 2010, Bd. 1: Theorie und Forschung, S. 156-200. Stanitzek verbindet Genettes Begriff des Paratexts mit Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form. Im Aufsatz argumentiert er dafür, dass diese geeignet sei, Buchmaterialität beschreibbar zu machen und argumentiert für die ›Körnigkeit‹, also die bereits vorhandenen Einschränkungen, die mit den jeweiligen peritextuellen Elementen zusammenhängen, vgl. S. 190: »Ein Buch, das im Medium der peritextuellen Formen Gestalt annimmt, ist immer ein komplexes Gefüge von Einzelformen. Jedes der dabei selektiv kombinierten Elemente ist befestigt in einem und als ein Bündel von – mehr oder weniger material verfassten, in praktisch buchmacherischem, verlegerischem und schriftstellerischem Wissen überlieferten – Konventionen. Dass nicht alle möglichen Elemente aufgerufen beziehungsweise in Anspruch genommen werden, gehört zur Selektivität der je spezifischen Buchform im Buchmedium.« Zu Bucheinbänden als ersten Formen vgl. grundlegend Klaus Detjen: Außenwelten. Zur Formensprache von Buchumschlägen, Göttingen 2018.

Utopische Umschläge

vielmehr als Passage von den »Normalverweisungen des täglichen Lebens«7 hin zur möglichen Welt des Buchs/Romans. So vollziehen die äußeren und inneren Oberflächen der hier vorgestellten Buchobjekte – Ernst Jüngers Heliopolis (I), Frank Töppes Regen auf Tyche (II), Dietmar Daths Feldeváye (III) und schließlich Leif Randts Planet Magnon (IV) – auf je spezifische Weise bereits für das sehende Auge und die betastende Hand den Übergang; den ›Umschlag‹. Der Begriff des ›Umschlags‹ bezieht sich im vorliegenden Kontext einerseits auf die materielle Umhüllung des Buchobjekts, als »primitivste Einbandart« und »zugleich […] älteste Form des Schutzes für das Buch«8 . Er bezieht sich aber auch auf den Prozess des Umschlags, der gerade in der Interaktion mit dem Buchobjekt statthat. Der ästhetisch gestaltete, materielle Umschlag des Buchs ermöglicht den, wenn man so möchte, phänomenologischen Umschlag von empirischer Alltagswelt in fiktive, mögliche Welt. Diese Brückenfunktion verleiht den materiellen Umschlägen ihre u-topische Qualität. Die räumliche Vorstellung des Peritextuellen wird dabei gleichzeitig bestätigt wie überschritten. Der Rahmen der Buchobjekte ist parergon, in dem Sinne, welchen Derrida dem Begriff in Die Wahrheit in der Malerei zugewiesen hat: »Weder Werk (ergon) noch Beiwerk (hors d’œuvre), weder innen noch außen, weder unten noch oben, bringt es [das Parergon, CC] alle Gegensätze aus der Fassung, ohne doch unbestimmt zu bleiben und schafft Raum [Herv. CC] für das Werk. Es ist nicht mehr allein um das Werk herum angesiedelt.«9 Das jeweilige parergon der hier vorgestellten Bücher, unter welchem ich das Ensemble aus Bucheinband, Schutzumschlag – sofern vorhanden – und Vorsatz begreife10 , grob gesagt also das vermeintliche ›Außen‹ des Buchs (wel7 8

9 10

Luhmann: Weltkunst (Anm. 2), S. 209. Ilse-Valerie Cohnen: Buchumschläge. Eine Sammlung herausragender Beispiele, Mainz 1999, S. 9. Lesenswert ist hier auch die umfassende (Vor)geschichte der Buchumschläge, auch wenn die Betrachtung der herausragenden Beispiele selbstverständlich im Vordergrund steht. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, hg. von Peter Engelmann. Wien 2008, S. 25. Hier weiche ich also von der älteren, begrifflich stärker differenzierenden Forschung ab, die etwa einen engen oder weiten Begriff des Buchumschlags unterscheidet, ersterer wäre dann nur ein Schutzumschlag, letzterer auch ein einfacher Broschurdeckel und mitgehefteter Papierumschlag. Die Gestaltung des festen Einbands wäre hier ausgeschlossen (vgl. Heinz Kroehl: Der Buchumschlag als Gegenstand kommunikationswissenschaftlicher Untersuchungen. Diss., Mainz 1980, S. 10). In Anbetracht der aktuellen Publikationen, die pauschal von ›Cover‹ sprechen und überhaupt nicht mehr zwi-

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ches aber in Derridas Sinn des Worts parergon gerade nicht nur als ein solches Außen begriffen werden kann) schafft auf je spezifische Weise Raum für die entworfene mögliche Welt, insofern es diese materiell und gleichzeitig symbolisch präformiert. Der Umschlag ist eine Zwei-Seiten-Form11 , in welcher instantan die dem Zeichen eigene Unterscheidung von Materialität und Symbolizität emergiert, »lebendig« gemacht und überbrückt wird. Der Umschlag im materiellen Sinne hat eine konkrete räumliche Funktion: Er umgibt das ›Buch‹ im Sinne eines Schutzes der inneliegenden papiernen Seiten. Als gestalteter ›Umschlag‹ übernimmt er jedoch insbesondere in den hier zu schildernden Beispielen eine weitergehende u-topische Funktion: Er eröffnet den symbolischen Raum der möglichen Welt und ist damit Teil einer vielgestaltigen Übersetzungskette12 , einer prozessualen Vermittlung zwischen empirischer Welt und der Welt der Fiktion. Dieser Übergang wird damit von einer simplen Dualität zwischen Faktualität und Fiktionalität zu einem vielschichtigen Übergangsprozess, der alle materiellen, sinnlichen und symbolischen Aspekte des Objekts Buch miteinschließt. Die Vielschichtigkeit des Prozesses lässt sich auch daran erkennen, dass materielle, textuelle und bildliche Elemente des Umschlags mit dem ›eigentlichen Text‹ in ein spannungsvolles Verhältnis treten. Um dieses Verhältnis und damit um die jeweils spezifischen Übersetzungsketten, welche bei konkreten Lektüreprozessen in Aktion treten, wird es im Folgenden gehen. Ich möchte zeigen, dass die für den Roman generell und für den SF-Roman ganz besonders gattungstypische Imagination einer ›möglichen Welt‹ auf das engste an die Form des Buchs gekoppelt ist – und dies nicht nur, insofern die Gattung mediengeschichtlich mit der Erfindung der Druckerpresse und der sich mit einer Latenz von etwa dreihundert Jahren durchsetzenden Verdruckschrift-

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schen verschiedenen Umschlags- und Bindetechniken unterscheiden, erscheint mir meine moderate Generalisierung angemessen. Vgl. Luhmann: Weltkunst (Anm. 2), S. 196: »Form ist immer ›Zwei-Seiten-Form‹, immer Differenz. Nur so wird verständlich, daß Form die Fähigkeit besitzt, das durch sie Unterschiedene lebendig zu machen, und zwar nach beiden Seiten.« Vgl. zur Idee einer Übersetzung bzw. zum Verhältnis von Welt und Sprache anstatt eines ›Grabens der Korrespondenz‹ als Verkettung von technischen Übersetzungsschritten Bruno Latour: Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Aus dem Englischen von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2002, S. 36-96, hier S. 83-90.

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lichung gesellschaftlicher Kommunikation13 koevolviert. Vielmehr lässt sich für jeden der hier diskutierten SF-Romane zeigen, dass es die konkrete, materielle Form des Buchs ist, welche den Übertritt in die andere, mögliche Welt ermöglicht beziehungsweise gar forciert. Die vermeintlich ›äußere‹ Form ist also immer schon eine, die Oppositionen wie ›außen/innen‹, ›fiktional/faktual‹, ›materiell/symbolisch‹ oder auch ›Zeichen/Referenz‹ herstellt und gleichzeitig überbrückt bzw. den Raum für Übergänge zwischen diesen Ordnungen schafft. Diese Einsicht wiederum ist keine, welche die Literaturwissenschaft von außen an ihre Objekte herantragen müsste: Vielmehr findet sie sich bereits in den Texten selbst und wird von dort auf vielfältige Weise zurückgeworfen.

I.

Das blaue Buch: Jüngers Heliopolis

Ernst Jüngers Roman Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt 14 erscheint im Jahr 1949 im Heliopolis-Verlag in Tübingen. Dessen Verleger Ewald Katzmann ist von der Lektüre des Jünger’schen Manuskripts offenbar so beeindruckt, dass er seinen Verlag nach dem Roman umbenennt. Als erstes Buch des frisch umgetauften Verlags erscheint dann aber nicht Heliopolis selbst, sondern, ebenfalls im Jahr 1949, aber kurz zuvor, Strahlungen, Ernst Jüngers 648 Tagebuchseiten aus den Jahren 1941-1945. Dieses Buch ist in »moosgrüne[s] Leinen« eingeschlagen, wie es in einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 195015 heißt; Heliopolis erscheint dagegen in »gedecktem Blau«. Beide Bände sind mit dem ele13

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Hierbei handelt es sich selbstverständlich um eine äußerst stark verkürzte Adressierung der mit dem Buchdruck einhergehenden gesellschaftlichen Transformationen. Zwecks Umkehrung der Komplexitätsreduktion wäre etwa, stellvertretend für die nicht abreißenden Diskussionen um Ab- und Einschätzung dieser Transformationen, zu konsultieren: Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1998. Für eine kritische Befragung der Symbolkraft solcher Buchdruck-Geschichten innerhalb der Medientheorie vgl. Sven Grampp: Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit. Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medientheorie, Konstanz 2009. Ernst Jünger: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Tübingen 1949. Zitate aus dieser Ausgabe finden sich im Folgenden im Fließtext mit Angabe der Sigle H und Seitenzahl in runden Klammern. Online einsehbar unter https://www.spiegel.de/politik/der-traum-von-der-technik-a-8 a873d3e-0002-0001-0000-000044446318, zuletzt abgerufen am 18.01.2022.

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ganten Prägestempel des Verlags versehen, welcher die stilisierten Initialen Ernst Jüngers zu einer optischen Gesamtheit verschlingt. Der neue Titel ist nicht das einzige, das Jünger mit Katzmanns Verlag verbindet. Armin Mohler, Doktor der Philosophie und gleichzeitig Jüngers Privatsekretär, arbeitet außerdem auch für den Heliopolis-Verlag. Bei der Gestaltung des titelgebenden Buches bleibt folglich nichts dem Zufall überlassen. Beauftragt ist mit Emil Preetorius einer der renommiertesten Grafiker und Buchgestalter der Zeit, der bereits zu Beginn des Jahrhunderts Bücher für die Brüder Mann gestaltete und der es – in einer Formulierung, die sicherlich Jüngers Gefallen erregt hätte – vermochte, »Wesen und Geist eines Dichters oder Schriftstellers liebevoll und einfühlend in seinen Entwürfen zu verschmelzen«16 . Seine grafische Bearbeitung des Schutzumschlags nähert sich in Farbgebung und Raumaufteilung stark einem Musterbeispiel früher Publikationskunst, dem vom österreichischen Illustrator und Maler Julius Klinger gestalteten Band Frag Mich Was! aus dem Jahr 1939, an. Letzterer ist ebenfalls in einem eher gedeckten Rot gehalten und trägt vorne auf dem Buchdeckel in Großbuchstaben den Titel FRAG MICH WAS! sowie ganz unten die Angabe k27, wohl der Verweis auf eine Reihe.17 An genau der gleichen Stelle findet sich auf dem Schutzumschlag von Heliopolis ein großes P, dessen Referenz für mich nicht aufzulösen war – möglicherweise handelt es sich um die Abkürzung für Port und somit um einen Hinweis auf den imaginären Stadtplan auf der Innenseite, um den es gleich noch gehen wird. Gegenüber der großflächig bedruckten Oberfläche des Schutzumschlags ist der blaue Leineneinband nur sehr sparsam gestaltet. Er nennt Autor und Titel des Romans nur, in Gold, auf dem Buchrücken, nicht jedoch auf dem vorderen Buchdeckel. Hier findet sich lediglich der erwähnte Prägestempel des Heliopolis-Verlags mit den stilisierten Initialen Jüngers, ebenfalls in Gold. Das innere Buch präsentiert sich so nicht als ein konkretes, sondern als ein ideales – als Muster ›des Buchs‹ insgesamt. Interessant ist außerdem die differenzielle Kontinuität zwischen Schutzumschlag und Leineneinband. Bei aller Gegensätzlichkeit wird sie gestiftet durch die fast identische Positionierung und Gestaltung des Buchrückens – auf dem Leineneinband rutscht Name des Autors und Titel ein klein wenig nach oben und enger zusammen: So entsteht der optische Eindruck eines Hineingesogen-Werdens in das (ideale) Buch.

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Cohnen: Buchumschläge (Anm. 8), S. 19-20. Für diesen Hinweis danke ich Lena Hintze.

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Die zweite Kontinuität zwischen Schutzumschlag, Bucheinband und diesmal auch den Innenseiten (zunächst in materieller Hinsicht) stiftet die Innenseite des Schutzumschlags. Auf der Außenlasche mahnt der Satz »Bitte beachten Sie auf der Innenseite des Umschlages den Stadtplan von ›Heliopolis‹« die voreiligen Rezipientinnen und Rezipienten, sich nicht direkt dem regelmäßigen Schwarz-Weiß der Buchstaben zu widmen, sondern vielmehr – vor dem Lesen – den beinahe ebenso regelmäßigen, jedoch teilweise farbigen Stadtplan des Freiburger Malers und Holzschneiders Werner Höll, welchen Jünger in seiner Zeit bei der Wehrmacht kennenlernte, zu betrachten. Das Bild, welches die Bezeichnung ›Stadtplan‹ trägt und also als technisches Hilfsmittel, weniger als Kunstwerk ausgewiesen ist (was der Untertitel »Heliopolis – Schematisch von Werner Höll« bekräftigt), bietet eine genordete Ansicht von Heliopolis. Der Eindruck von Ordnung, welcher sich beim Betrachten des Bildes unweigerlich einstellt, wird bestätigt durch den Untertitel – es ist in der Tat eine stark schematisierte Skizze der fiktiven Stadt, welche stilisierte Straßenzüge und einige strategisch bedeutsame Gebäude zeigt. Die Hintergrundfarbe des Stadtplans nimmt die Farbe des Buchblocks auf, die sehr subtile Kolorierung des Meeres das Blau des Bucheinbands. So ergibt sich wiederum eine differenzielle Kontinuität zwischen Außen und Innen: Dieses Verhältnis wandelt sich von einer schlichten Dichotomie in eine mehrstufige Übersetzungskette, welche die Materialität des Buches mit seiner auf der symbolischen Ebene entworfenen u-topischen Räumlichkeit verkoppelt. Insbesondere das Sehnsucht assoziierende Blau (bzw. Blau-Gold) des Einbands ist hier wiederum als spezifischere ZweiSeiten-Form erkennbar: als materielle Formatierung des Umschlags und als Tor zur, also Umschlag in die, Utopie.18 Gleichzeitig führt der imaginäre Stadtplan auf der Ebene der literarischen Semantik einerseits in die Literaturgeschichte der Utopie19 , andererseits in die textuell ausgestaltete konkrete Utopie, in die »Einheit des Ortes« (H, 58) 18

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Hier ist insbesondere an die besondere Bedeutung der Farbe Blau sowie die Kombination Blau-Gold für die von Jünger sehr geschätzten Frühromantiker zu denken, etwa Novalis’ Blaue Blume. Vgl. dazu den Ausstellungskatalog Olaf Breidbach (Hg.): Über die Natur des Lichts – die Farbe Blau in der Romantik: Ausstellung vom 01. November 2013 bis 31. Dezember 2014, Wiederstedt 2013. Siehe außerdem Irmgard Egger: Blau und Gold: Chromatik der Sehnsucht bei Novalis, in: Walter Pape (Hg.): Die Farben der Romantik, Berlin 2014, S. 127-136. Eine umfassende Betrachtung des Zusammenhangs von Kartographie, imaginären Räumen und Literatur findet sich in der Dokumentation des DFG Symposions von

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der Stadt Heliopolis. Die im Roman enthaltene geordnete Schilderung der architektonischen Gesamtschau Heliopolis’, die »zwei Felsenspitzen, die nach der Farbe der Gesteine unterschieden wurden als Weißes und Rotes Cap« (ebd.), der Dom, der Sitz des Zentralamts auf dem »östlichen Teil des Höhenrückens« (H, 59) lässt sich auf dem Stadtplan nachverfolgen. Hier ist das letzte Glied der Übersetzungskette erreicht: die Materialität des Stadtplans beglaubigt die Referentialität des literarischen Texts auf visueller Ebene und schafft damit den Raum für eine visuelle Imagination der möglichen, fiktionalen Welt – die imaginären Spaziergänge der Figuren lassen sich koppeln mit aus der Interaktion von Fingerspitze und Papierseite entstehenden physischen ›Spazierwegen‹. Der literarische Text jedoch enthält gleichzeitig implizit eine Poetik möglicher Welten, welche die eigene Buchförmigkeit ins Zentrum stellt. Nigromontanus20 , ein fiktiver Gelehrter, der bereits in Jüngers abenteuerlichem Herz auftritt, inspiriert den Protagonisten Lucius zur Erkenntnis, »die Welt sei wie ein Buch, von dessen zahllosen Seiten wir nur die eine sehen, die aufgeschlagen ist« (H, 15). Die Imagination eines Orts des Möglichen wird enggeführt mit der Buchkultur, genauer: mit der Praxis des Lesens.21 Diese Kopplung

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2004: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/Weimar 2005. In der Jünger-Forschung wird der Philosoph Hugo Fischer als Vorbild für die literarische Figur gehandelt. Dagegen vertritt Bernhard Gajek die These, Jünger selbst verberge sich hinter dem geheimnisvollen Gelehrten: »Denn Jünger ist, wie die Gegenüberstellung der ersten und zweiten Fassung des ›Abenteuerlichen Herzens‹ zeigte, selbst Nigromontan; er ist derjenige, der den Einstieg in die eigene Tiefe gewagt und bestanden hat.« (Bernhard Gajek: Magister-Nigromontan-Schwarzenberg. Ernst Jünger und Hugo Fischer, in: Revue de Littérature Comparée 71 (1997), Heft 4, S. 479-500, hier S. 500.) Die Identifikation der Figur mit Positionen des Autors würde den (medien)reflexiven Charakter der Nigromontanus zugeschriebenen Äußerungen zusätzlich unterstreichen. Die andere Seite, die Praxis des Schreibens, ist ein gutes Jahrzehnt vor der Veröffentlichung von Jüngers Heliopolis ebenfalls bereits kartographiert worden: in der sogenannten »Karte des Bücherlandes« des Münchner Graphikers und Illustrators Alphons Woelfle aus dem Jahr 1938. Im Gegensatz zu Jüngers Roman, welcher die Verbindung von utopischer, imaginärer Kartographie und Buchkultur über einen mehrstufigen Übersetzungsprozess organisiert, stellt sie sich bei Woelfle direkt her. Auf der Karte finden sich etwa die »Leser-Republik«, der Gipfel (die »Poesie«) und der »erloschene dramatische Vulkan«. Vgl. dazu Georg Zimmermann: Karte des Bücherlandes. BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen 23 (2009), S. 184-185.

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kulminiert im für die Utopie-Tradition zentralen Topos der Insel. Der Protagonist Lucius situiert hier eine Privatutopie: »Das mochte noch eine Form sein, in der das Leben würdig zu führen war – Lucius hatte oft daran gedacht: auf einer Insel in warmen Meeren, mit einer Hütte und einem kleinen Boot. Dort müßte man als geistiger Fischer leben, das Netz auswerfend in die Schatzgründe der See.« (H, 48) Die Formulierung des ›geistigen Fischers‹ macht bereits darauf aufmerksam, dass die Insel weniger zu einer konkreten Insel in der empirischen Welt, als vielmehr zur konkreten Insel des Schutzumschlags und damit zur vermeintlichen ›Hülle‹ Buch zurückführt: Die Insel wird zur Bibliothek: »Der Zauber drang mächtig auf ihn ein. Auch in den Bibliotheken konnte man noch leben, so wie noch ein Leben am Meeresstrande in der Betrachtung der Tiere möglich war.« (H, 74) Die Bibliothek wird, ebenfalls frühromantisch,22 als Potenzierung des einzelnen Buches verstanden. Auch dieses ist als materielles Objekt eine Kulmination des ›richtigen Lebens‹, in welchem Vergangenheit und Zukunft zu einem historischen Kontinuum verschmelzen: »Es ist auch die Menschenhand, die an den Bänden fortwirkt, indem sie wieder und wieder nach ihnen greift. Die Söhne und Enkel setzen das Werk der Väter fort. Auch werden die Bücher durch den Besitz bereichert, mit Liebe imprägniert.« (H, 73) Bücher und Bibliotheken sind damit Teil einer »magische[n] Substanz« (ebd.), welche als Insel adressierbar ist, gleichzeitig aber qua der oben geschilderten Übersetzungskette erst die Einheit und Adressierbarkeit eines solchen Raumes stiftet. Es handelt sich also bei Jüngers Heliopolis genau genommen nicht um eine Kette der Übergänge zwischen Materialität und Symbolizität sowie zwischen Sehen und Lesen, sondern vielmehr um einen Zirkel. Die nur dem Lesenden zugängliche Stufe der Abstraktion einer immanenten Poetik verweist diesen wieder zurück auf das Sehen: das Sehen des Stadtplans, des Einbands, des Buches in all seinen Facetten. Das alles dominierende Blau verweist zusätzlich auf die Richtung des Zirkels, welche die Konfiguration aus Materialität 22

Die zentrale Idee Novalis’ zum absoluten Buch verknüpft dieses mit einer Bibliothek: Die frühromantische ›Bibel‹ als »Ideal jedweden Buchs« (Novalis: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, in: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1975, S. 262) ist gleichzeitig »Keim aller Bücher« (Novalis: Das philosophische Werk II, in: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1968, S. 363) und »vollständige – gutgeordnete Bibliothek – Das Schema der Bibel ist zugleich das Schema der Bibliothek« (ebd., S. 365).

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und Symbolizität im Zeichen einer utopischen geistigen Verwandtschaft der Generationen und Sphären zu transzendieren sucht.

II.

Das Buch als Bühne: Töppes Regen auf Tyche

Das Buch Regen auf Tyche23 von Frank Töppe erscheint im Jahr 1978 im Verlag Das Neue Berlin. Es präsentiert sich nicht als Roman, sondern als Erzählungsband, und wird auch in der zeitgenössischen Forschungsliteratur als eine Sammlung »unkonventionelle[r] Erzählungen«24 rezipiert. Schlägt man jedoch das Buch auf, um ebenjene Erzählungen einzeln zu lesen, wird man auch hier zunächst zum Sehen des Ganzen zurückgeführt. Der erste Satz lautet: »Das vorliegende Buch besteht nicht nur aus Geschichten, es ist selbst eine.« (RaT, 5) In der Tat bestätigt sich die Narrativität des Buchs in seiner materiellen Gestaltung als vom Autor Frank Töppe selbst entworfenes Gesamtkunstwerk. Der Schutzumschlag stellt sich als gerahmter Ausschnitt wie eine Bühne dar, die peritextuellen Angaben des Autornamens und des Titels finden sich vorne und auf dem Buchrücken, eingefasst als von der Decke herabhängende Schilder. Den Rahmen der Bühne bilden an allen vier Seiten dichte Striche, welche etwa die Materialität von Holz suggerieren. Auf dem ›Bühnenboden‹ finden sich in knalligem Rot gehaltene Erdbeeren, welche die gesamte untere Bildfläche bedecken, außerirdische Figuren und das Bild eines Baums. All diese bildlichen Elemente scheinen im Meer aus Erdbeeren zu versinken. Von der ›Decke‹ hängt neben den als Schilder präsentierten peritextuellen Angaben ein Yin-Yang-Symbol. Außerhalb der Erdbeeren, einer kleinen Schnecke, die links am Rand der Bühne nach oben kriecht und zweier blauer Punkte ist der gesamte Schutzumschlag in Schwarz-Weiß gehalten.

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Frank Töppe: Regen auf Tyche, Berlin 1978. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit Angabe der Sigle RaT und Seitenzahl in runden Klammern im Fließtext zitiert. Horst Heidtmann: Utopisch-phantastische Literatur in der DDR. Untersuchungen zur Entwicklung eines unterhaltungsliterarischen Genres von 1945 – 1979, München 1982, S. 133. Heidtmann platziert den Autor Töppe immer wieder als progressiven und avancierten Literaten, der gegenüber den engen Genrekonventionen unkonventionelle Wege einschlägt, vgl. etwa auch S. 104: »An Einzelfällen, z.B. Erik Simon oder Frank Töppe (die das Lesen und Schreiben vom Hobby zum Beruf als Autor und Lektor machen), zeigt sich, daß die intensive Beschäftigung mit den Traditionen und Spielarten des Genres zu seiner Weiterentwicklung beitragen kann.«

Utopische Umschläge

Der Bühnenrahmen setzt sich auf dem vorderen und hinteren Vorsatz fort, welcher identisch gestaltet ist. Ähnlich wie im Falle Jüngers ergibt sich so eine visuelle Kontinuität zwischen dem Schutzumschlag und dem Inneren des Buches, insofern der gezeichnete Rahmen auf letzterem in Anordnung und Größe exakt demjenigen des Vorsatzes entspricht. Es finden sich hier auf der dadurch eingerahmten Bühne selbst jedoch keine Erdbeeren mehr, sondern nur noch außerirdische Figuren, die zum Teil denjenigen auf dem Schutzumschlag entsprechen. Zu den Figuren dazu tritt die Zeichnung eines der Protagonisten des Buches, des Raumfahrers Roul. Dieser ist mit ausgebreiteten Armen dargestellt und scheint den Mittelpunkt des Bühnengeschehens zu bilden. Im Gegensatz zum chaotisch wirkenden Ensemble der diversen Figurationen auf dem Schutzumschlag strahlt die Gestaltung des Bühnenraums auf dem Vorsatz deutlich mehr Ruhe und Ordnung aus, was sich gut mit der beherrschenden Geste des Raumfahrers Roul in Verbindung bringen lässt. Seine visuelle Präsenz ordnet den Raum und macht ihn allererst darstellbar. Der Einband des Buches schließlich nimmt das Bild des Rahmens auf, verkleinert jedoch deutlich den ›sichtbaren‹ Einschnitt. Die dichten Striche, welche im Falle des Schutzumschlags und des Vorsatzes nur etwa zwei Zentimeter des Randes einnehmen, bedecken quasi den gesamten vorderen und hinteren Buchdeckel und -rücken und gestalten das Buch so insgesamt zu einem dreidimensionalen Haus. Der vordere Buchdeckel gibt die Sicht auf ein etwa fünf Zentimeter großes, quadratisch gerahmtes Fenster frei, hinter welchem blaue Regentropfen und das halbe Gesicht eines Mannes – wohl wiederum der Raumfahrer Roul – sichtbar werden. Im rechten unteren Quartal findet sich die Abbildung eines Türknaufs. Die Rückseite wiederholt das Bild des Türknaufs auf der gleichen Stelle und bildet außerdem einen Spalt in der Mauer ab, durch den sich so etwas wie ein Auge erkennen lässt. Die Angabe von Autor und Buchtitel ist typographisch exakt der Angabe auf dem Schutzumschlag nachempfunden, sie befindet sich jedoch nicht am oberen, sondern am unteren Rand und ist in einer Form umrandet, die am ehesten an ein Klingelschild erinnert. Auf dem vorderen und hinteren Buchdeckel findet sich überhaupt kein Text, welcher den Gesamteindruck eines Hauses stören könnte. Die Gesamtheit der skizzierten Bildkonstellationen: das Bühnenbild des Schutzumschlags mit den roten Erdbeeren, das dreidimensionale Haus des Bucheinbands und das geordnete Bühnenbild des Vorsatzes treten wiederum miteinander sowie mit dem Text in ein spannungsvolles Wechselverhältnis, welches die Dichotomie von innen und außen von vorneherein durch-

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kreuzt. Zu dem Ensemble tritt außerdem noch ein Titelkupfer auf der zweiten Seite des Buchblocks, welches den Namen des Autors und des Buchtitels in einer sehr ähnlichen Gestaltung wie vorne auf dem Schutzumschlag aufnimmt, ihn aber um folgenden bereits in der Fiktion beheimateten Untertitel ergänzt (»All-Geschichten, erzählt vom Raumpiloten Roul, unter Verwendung von Texten Irdischer und Außerirdischer, illustriert vom Herausgeber.«) sowie jeweils die Kapitel einleitende kleinere Zeichnungen, die das Bild des Rahmens mit wechselnden von der Decke hängenden Elementen wieder aufnehmen und weitere Abbildungen innerhalb des Buchs, welche etwa den Protagonisten Roul oder ausgewählte außerirdische Gegenüber zeigen (vgl. etwa RaT, S. 135 und S. 192). Das einer klassischen Herausgeberfiktion folgende Vorwort, welches mit dem Namen Töppes unterzeichnet ist, betont in besonderem Maße die Funktion dieser Illustrationen: »Dem Unterzeichner wurde die Herausgabe des Bandes freundlicherweise übertragen. Und man gestattete ihm, das Werk mit Illustrationen zu versehen. Selbstverständlich wurde dieser so überaus schöpferische Anteil am Buch dazu genutzt, seine dramaturgische Linie, die über die Rahmenhandlung so deutlich zutage tritt, zu verbildlichen.« (RaT, 5) Die Bedeutung der Rahmenhandlung besteht, wie es zuvor heißt, darin, dass diese es »vermochte das Bild endlich zu runden, den eigentlichen Sinnzusammenhang, die innere Logik der Abläufe zu offenbaren« (RaT, 5). Die Rede vom ›Bild‹, das gerundet wird, sowie die Formulierung der ›dramaturgischen Linie‹ und der ›Rahmenhandlung‹ verweisen bereits über diese hinaus auf die konkrete Bildlichkeit des einer Bühne nachempfundenen Schutzumschlags und Vorsatzes. Die Bühnenanalogien setzen sich in der Symbolik des eigentlichen Textes fort. Wie man in der ›Erzählung‹ »Die Argonauten« in der zweiten Buchhälfte erfährt, befinden sich die vermeintlichen Raumfahrer vielmehr mitten in der griechischen Mythologie, genauer in Euripides’ Medea: Hilflos sah ich zu Schwert. Er saß mit dem HARNISCH gewappnet in seinem Sessel und starrte auf den Bildschirm. Und ich sah ORPHEUS und KASTOR, und alle sahen aus, als wären sie zu allem entschlossen. Und ich sah MEDEA in weißem, hochgeschlossenem Kleid der Braut. Und sie zitterte. Da schien es mir, als ginge es zur Schlacht, als gäbe es nur noch den Kampf, als müsse man die KOLCHER vernichten, denn wir hatten das leuchtende VLIES. (RaT, S. 215)

Utopische Umschläge

Es geht also nicht darum, gegen Außerirdische zu kämpfen. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, die dramaturgischen Stoffe der Vergangenheit umzuschreiben: Doch plötzlich wußte ich, daß ich mich von der jahrtausendealten Geschichte befreien konnte, die immer wieder gleich ablief, immer wieder denselben Irrtümern entsprang und in den immer gleichen Irrtümern endete. Und im Leid. Seit jeher war es der Mensch, der Schaden nahm. Ich mußte sie einfach aufheben, einfach drehen! Ich mußste eine neue Geschichte entwerfen, indem ich ihr übliches Ende verhinderte, indem ich ein anderes Ende indizierte, indem ich den ewigen Kreislauf durchstieß. (RaT, S. 213) Das Entwerfen einer neuen Geschichte kulminiert, wie das abschließende und folgerichtig dem Buch seinen Titel gebende Kapitel ›Regen auf Tyche‹ enthüllt, in der Publikation der erlebten Geschichten als Buch. Auch hier verschlingt sich das binäre Verhältnis von Außen und Innen zu einem Zirkel, dessen Form und Funktion nun noch besser beschreibbar wird. Der Zirkel wird sichtbar als Ornament. Hierbei handelt es sich um einen Schlüsselbegriff der Luhmann‘schen Kunstbeschreibung, deren Einheit für ihn in der »Produktion für Beobachtung«25 besteht. Mithilfe des Ornaments verdichtet sich »das Kunstwerk […] nach innen«: Mithilfe der vom Kunstwerk geschaffenen Differenzen entsteht ein »abgegrenzter, eigens präparierter, markierter Raum, in dem das Kunstwerk dem Sog selbstfestgelegter Unterscheidungen folgt und eigene Formen bestimmt.«26 Am Ende dieses Sogs steht die »Schließung des Kunstwerks« durch »Wiederinanspruchnahme des schon Bestimmten als andere Seite anderer Unterscheidung«, im Sinne einer »oft auf den ersten Blick nicht faßbaren (oder nur ›intuitiv‹ faßbaren) zirkulären Sinnanreicherung dessen, was schon festliegt.«27 Genau eine solche zirkuläre Sinnanreicherung wird im Zusammenspiel der flächigen Erdbeeren, dem chaotisch wirkenden Ensemble aus außerirdischen Figuren, dem rätselhaften Buchhaus sowie dem von der Decke hängenden Yin-Yang erreicht. Die Raumfahrer-Saga entpuppt sich, im Regen des Planeten Tyche, als nicht zuletzt von chinesischer Philosophie inspirierte Liebesgeschichte zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip, deren gegenseitige Anziehungskraft die Gesamtheit der Geschichte erzeugt, welche 25 26 27

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 188. Ebd., S. 189. Ebd., S. 193.

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wiederum in der Publikation des Buches ihren materiellen Wert erhält. Die Wohnung des Protagonisten Rouls, in welcher sich die konkrete Liebesgeschichte des Buchs, welche gleichzeitig ebenjene Publikationsgeschichte ist, abspielt, bildet deshalb auch in der Gestaltung des Einbands den tatsächlichen ›Rahmen‹ – im Sinne von Derridas parergon und gleichzeitig im Sinne von Luhmanns Ornament, dessen Funktionsweise als zirkuläre Sinnanreicherung vom Text reflektiert wird.

III.

Ein Ende des Buchs?: Daths Feldeváye

Dietmar Daths Roman Feldeváye erscheint 2014 im Verlag suhrkamp nova.28 Es handelt sich um eine Softcover-Aufgabe, die farblich dezent in Schwarz und einem warmen Grau gehalten ist. Gestaltet ist sie vom Büro des einstigen Spex-Gestalters Mario Lombardo, der als Begründer eines haptischen Illustrationsstils im Print-Bereich gilt. Das auffälligste Gestaltungselement ist die runde Ausstanzung in der oberen Mitte des vorderen Buchdeckels, welche einen gleichermaßen optischen wie haptischen Eindruck vermittelt. Sie gibt den Blick frei auf die zweite Seite des durch eine Faltung verdoppelten vorderen Buchdeckels, auf den hier abgebildeten ebenfalls schwarzgrauen Planeten. Ganz oben, im oberen schwarzen Rand des Covers stehen links die Worte: »Roman der« und rechts »letzten Künste«. Diese Raumaufteilung ist ungewöhnlich, insofern sie den Blick auf den nicht-begrifflichen Planeten in der Bildmitte lenkt. Der Titel »FELDEVÁYE« ist in Großbuchstaben gehalten und bezieht sich in seiner Gestaltung ebenfalls auf vielfältige Weise auf die haptische Erscheinung des Planeten in der Bildmitte. Dessen Dreidimensionalität wird nicht nur durch die Ausstanzung und die damit ermöglichte Tiefe erzeugt, sondern auch durch die Umrandung der Ausstanzung mit einem dunklen Schatten. Ebenjener Schattenwurf zeigt sich auch in der Gestaltung des Titels. Die Buchstaben selbst wirken wie leere Schablonen innerhalb dieses Batik-artigen Farbspiels. Auf diese Weise ergibt sich der optische Eindruck des Indirekten; einer Sichtbarkeit, die nur aufgrund eines Hintergrunds bzw. einer darauf gerichteten Perspektivierung ermöglicht wird. Genau wie bei der Gestaltung des Planeten werden Absenz und Präsenz

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Dietmar Dath: Feldeváye, Berlin 2014. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit Angabe der Sigle F und Seitenzahl in runden Klammern im Fließtext zitiert.

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miteinander verschränkt und erzeugen erst in dieser Vermittlung den Eindruck des Dreidimensionalen. Das Fehlende ist in dieser materiellen Ästhetik mindestens genauso wichtig wie das Anwesende. Dies passt zum ersten Satz des Klappentexts, welcher sich im aufgeschlagenen Zustand des doppelten vorderen Buchdeckels rechts neben dem ausgestanzten Kreis befindet: »Seit Jahrhunderten gibt es keine Kunst mehr.« (F, o.S.)29 Dies ist die eine Referenz des Namens von Buch und Planeten gleichermaßen: »›Feldeir‹, das hieß: ›Künste in der Neige‹«. (F, S. 18) Es gibt jedoch einen zweiten Teil des Namens, der diese Endzeitlichkeit durchkreuzt und aufhebt: ›Váye‹, das hieß: ›sicherer Ort‹ (ebd.). Bei dem Namen handelt es sich um eine paradoxe Kreuzung des Vergehens und Bleibens. Schon die Gestaltung des doppelten, vorderen Buchdeckels macht deutlich, dass die Paradoxie des Buchs und des Planeten gleichzusetzen ist. Der namentlich als sicherer Ort für das Vergängliche gekennzeichnete Planet Feldeváye wird nicht nur vom referentiellen Text des Romans Feldeváye sondern vom Buch selbst erzeugt – aber ebenfalls auf paradoxe Weise, insofern in der materiellen Gestaltung des Planeten Abwesenheit und Anwesenheit ineinander greifen, genauer: es die Abwesenheit ist, die den Raum des Planeten konstruiert. Der von der Dreidimensionalität des Covers suggerierte Durchgriff auf den Raum, den Planeten selbst, enthüllt nämlich, faltet man das doppelte Cover auf, ›nur‹ eine weiße Buchseite. Der im Vorhergegangenen beschriebenen Ornamentik des Buchs wird hier eine weitere Zwei-Seiten-Form hinzugefügt, welche die titelgebende Unterscheidung des Sammelbands selbst betrifft, nämlich die Unterscheidung

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Damit bezieht sich Dath natürlich auf das berühmteste Ende der Kunst, nämlich dasjenige aus Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, die eine regelmäßige und nicht zu vernachlässigende Rolle in Daths Schriften spielen. Der programmatische Bezug auf dieses Ende der Kunst und Daths Weiterentwicklung kann hier nicht weiterverfolgt werden – ein entscheidender Hinweis findet sich jedoch in Dietmar Dath: G.W.F. Hegel. 100 Seiten, Ditzingen 2020, S. 82: »Sieht man Kunst als Spiel mit dem Ziel der Nachricht über Haltungen der Erkenntnis und der Praxis, so hat sie ihr Ende da, wo sie Haltungen behauptet, die Erkenntnis und Praxis nicht bewähren können, Haltungen, mit denen sich nichts Menschliches machen lässt, und Haltungen, die Erkenntnis und Praxis für inkommensurabel erklären.« Vgl. dazu auch Torsten Hahn: Vom (aufgeschobenen) Ende der Kunst als Medium des Möglichen. Die Funktionsbestimmung der Kunst in Systemtheorie (Niklas Luhmann) und Zukunftsroman (Dietmar Dath), in: Anja Lemke/Niklas Largier (Hg.): Theorien des Möglichen, Berlin 2021, S. 185-217.

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Charlotte Coch

von Lesen und Sehen. Das Buch als Form konstituiert sich aus der Gleichzeitigkeit von Sehen und Nicht-Sehen; aus dem Sehen der Abwesenheit des Visuellen, aus dem wiederum erst die Möglichkeit des Lesens entsteht. Hier könnte man an den Vater der Unterscheidung, an Paul Valéry zurückdenken. Dieser beschreibt den Modus des Lesens als »sich fortfressende Flamme«30 , als zerstörerischen Akt der Auslöschung von Materialität. Das Buchobjekt Feldeváye weist auf den grundlegend konfliktiven Charakter von Lesen und Sehen hin, auf die interne Widersprüchlichkeit von Buchobjekten und damit auf den fragilen Status der möglichen Buchwelten innerhalb der sich wiederum in einer grundlegenden Transformation des »Apperzeptionsapparats«31 befindenden ›Normalwelt‹.

IV.

Von Möglichkeit zu Medialität: Randts Planet Magnon

Leif Randts Roman Planet Magnon erscheint 2015 im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch.32 Es handelt sich nun wieder um eine hochwertig wirkende Hard-Cover-Ausgabe mit Leineneinband. Hervorstechend ist jedoch ebenfalls die Gestaltung des ›Planeten‹: einer in Gold schimmernden, spiegelnden applizierten Kreisfläche, welche in etwa die obere Hälfte des vorderen Buchdeckels einnimmt. Darunter befinden sich in ausladenden Großbuchstaben der Name des Autors sowie noch etwas größer der Titel des Romans, Planet Magnon. Während der Planet Feldeváye nach innen verlagert ist, richtet sich der Planet Magnon nach außen: Durch die spiegelnde Qualität der applizierten Folie befindet sich jeweils im ganz konkreten Sinne ein Widerschein der Betrachterin oder des Betrachters im Zentrum des Planeten.33 Die ins Buch 30

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Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 467471, hier S. 467. Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk (Anm. 4), S. 244, Anm. 2. Leif Randt: Planet Magnon, Köln 2015. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit Angabe der Sigle PM und Seitenzahl in runden Klammern im Fließtext zitiert. Darauf weist auch Immanuel Nover hin, deutet dies jedoch im weitesten Sinne aufklärerisch, vgl. ders.: Postpolitische Stagnation. Leif Randts Planet Magnon, in: Wirkendes Wort 66.3 (2016), S. 447-459, hier S. 456, Anm. 76: »Über die Form des Textes wird hingegen wieder eine politische Dimension auf der Ebene der Rezeption eröffnet: Das Buch macht bereits auf dem Cover den Referenzpunkt der textexternen Realität auf, indem der Leser in dem auf dem Cover aufgedruckten kupferfarbenen Spiegel sein eigenes Gesicht erkennt – was als Anspielung auf die Inschrift auf dem Apollotempel in

Utopische Umschläge

führende Richtung ist jedoch ebenfalls Teil des Gestaltungskonzepts: Auf dem vorderen und hinteren Vorsatz befindet sich genau an der Stelle des ›Planeten‹ eine im gleichen kupfergoldfarbenen Ton eingeprägte kreisrunde Karte des fiktiven Sonnensystems, innerhalb dessen die Handlung des Romans spielt. Unterhalb dieser kreisrunden Karte findet sich ein linear gestaltetes Schema, welches Größe, Lokalisation und Entfernung der Planeten von der zentralen, durch einen Stern markierten ›Sonne‹ verzeichnet. Die Wiederholung dieses kartographisch erfassten ›Sonnensystems‹ an der exakt gleichen Stelle im hinteren Vorsatz entwirft ein Koordinatennetz quer durch den Buchblock, welches die materiellen Seiten, auf welchen das fiktive Sonnensystem referentiell gefüllt wird, an Ort und Stelle fixiert und den vom Text referierten fiktionalen Raum mit dem konkreten Raum des Buches engführt. Der derart numerisch erfasste, auf eine dreidimensionale Ausdehnung von etwa 10*10*3 cm verengte Raum zwischen dem »Müllplanet[en] Toadstool« (PM, o.S.) auf der äußersten Umlaufbahn und der ›Sonne‹ in der Mitte des Schemas, spiegelt die Enge und Ordnung der vom Text referierten Welt. »Nein, die Faszination fremder Welten treibt dieses Buch nicht an«, konstatiert zu Recht Philipp Theison in einer Rezension für die Neue Zürcher Zeitung.34 Das »galaktische Panorama« ist nicht das interessante, es erweist sich vielmehr als ein neuer, noch engerer Rahmen für ebenso ›enge‹ Narrative. Anders, als es auf der ersten Seite des Buchblocks in einer Kurzbeschreibung des Buches heißt, geht es gerade nicht um die »unendlichen Weiten des Weltraums« (PM, o.S.), deren Eroberung und Zivilisation das Neue verheißen könnte. Es ist vielmehr alles schon geordnet, schon berechnet: von der »weisen Computervernunft« (ebd.) namens ActualSanity. Ausstattung (simulierter Leinenumschlag mit Goldprägung) und Gestaltung des Buchs (etwa die kartographische Darstellung der erzählten Welt) erzeugen ebenfalls einen Zirkel: Sie verweisen zurück auf Jüngers Heliopolis und damit auf die anfängliche Verschränkung von utopischen, möglichen

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Delphi (γνῶθι σεαυτόν: Erkenne dich selbst) verstanden werde [sic!] kann. Und auch das auf dem Rückdeckel abgedruckte Zitat – ›HEUTE NOCH WERDEN WIR AUS DEM HALBSCHLAF ERWACHEN‹ –, das den Leser direkt anspricht und einbindet, könnte eine politische Lesart andeuten.« Eine solch einfache aufklärerische Intention der buchästhetischen Gestaltung wäre angesichts der plakativen Alltäglichkeit des Kreismotivs und der ironischen Selbstausstellung des vermeintlich bibliophilen Umschlags eher zu bezweifeln. Philipp Theison: Die literarische Droge. Leif Randts phantastischer Roman »Planet Magnon« will uns das Sprechen lehren, in: Neue Zürcher Zeitung, Samstag, 11. April 2015.

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Weltentwürfen und der Form des Buchs.35 Wiederum entsteht so eine mehrstufige Übersetzungskette zwischen der Materialität des Buchobjekts und der Referenz des Textes, dem dort entworfenen ›Sonnensystem‹. Es ergibt sich jedoch eine entscheidende Differenz zu Heliopolis: nämlich die vollständige Abwesenheit von Differenzen. Während sich bei Heliopolis die Kontinuität und Stabilität des Übergangs vom Außen zu Innen, von der Materialität zur Symbolizität über eine Kette von minimalen Differenzen ergibt, finden sich in der Gestaltung von Planet Magnon gerade keine solchen Differenzen. Der den Planeten erzeugende Kreis bleibt eine reine, durch die Spiegelung noch verstärkte, Oberfläche: Es ergibt sich keine Interaktion, keine Anschlussmöglichkeit nach ›Innen‹, hin zum Symbolischen, zur utopischen Welt des Möglichen. Der »tatsächlich produktive[] Schutzraum«, welcher dem Buch seinen Namen verleiht, ist die »Flüssigkeit Magnon« (PM, S. 9). Diese verbindet als gleichförmige, flüssige Masse auf differenzlose Weise Materialität und Symbolizität des Romans und erweist sich als Allgemein-Medium für das Buchobjekt wie das Narrativ. Die im Roman und Buchobjekt Feldeváye gleichermaßen affirmativ erhoffte Utopie einer möglichen Welt erweist sich in Roman und Buchobjekt Planet Magnon als Trugschluss: die Emphase der Möglichkeit wird zum Realismus der differenzlosen Medialität, aus der sich keine echten Überraschungen oder ganzheitlich zu betrachtenden ›anderen Welten‹ mehr stiften lassen: vielmehr nur instantan aus der materiellen wie symbolischen Medialität emporsteigende Konfigurationen aus Schon-Vorgefundenem36 . Alle vier Bücher präsentieren sich bereits für den Modus des Sehens als erste Zwei-Seiten-Form, welche den unmarked space auf sinnliche Weise präformieren, teilen und innerhalb dieses unbestimmten Raums eine mögliche Welt für die von den Texten referierten fiktionalen Räume, Figuren und Vorgänge errichten. Der Prozess der Interaktion mit Büchern, des ›Eintauchens‹ in von diesen geschilderte fiktionale Welten stellt sich so als mehrstufiger Übersetzungsprozess dar, der die allgemeine Form des Buchs, die je konkrete, 35

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Zum merkwürdigen Kontrast zwischen der bibliophilen Leinenoptik und typographischen Elementen wie etwa Emojis in Randts Nachfolgeroman Allegro Pastell (2020) vgl. Ronald Röttel: Emojis, Instagram, Messenger-Apps: Zur Oberflächenästhetik von Allegro Pastell und Demonji, in: Fan Jieping/Liu Yongjang (Hg.): Bildforschung aus interdisziplinärer Perspektive, Hangzhou 2021, S. 333-344, bes. S. 340. Dazu passt, dass es sich bei der bereits erwähnten Kreisform auf dem Cover höchstwahrscheinlich um ein lizenzfreies Template der Mikrostock-Agentur Plasteed auf shutterstock.com handelt. Hier danke ich Ronald Röttel für den Hinweis (vgl. dessen Anmerkung in Röttel: Emojis, Instagram [Anm. 34], S. 341, Anm. 2).

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materielle Gestaltung der einzelnen Bücher, visuelle und textuelle Elemente genauso wie die Ebene der Referenz miteinschließt und auf vielfältige Weise miteinander koppelt. Die je spezifische Art der Kopplung inszeniert dabei nicht nur Interaktionen zwischen dem Buchobjekt und der Symbolizität der vom Roman entworfenen ›anderen Welt‹, sondern lässt sich auch als Selbstverortung des Mediums/Objekts Buch innerhalb je verschiedener medialer Umgebungen verstehen. Insbesondere an den beiden letzten Beispielen, an Feldeváye und Planet Magnon lässt sich zeigen, dass dem Buch als zu sehendem Objekt und Medium der Lektüre gleichermaßen spätestens im postdigitalen Zeitalter stets ein trotziger Zug der Selbstbehauptung auf feindlichem Terrain eingeschrieben ist.

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AutorInnenverzeichnis

Binczek, Natalie, Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Letzte Veröffentlichungen: ›Rauh‹ – ›heftig‹ – ›scharf‹. Der Ton der Kritik in der Gruppe 47, in: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger/Nina Janz (Hg.): Auditory Spaces. Resonanzräume der Literatur nach 1945, Berlin 2022, S. 143–167; Virtualität der Literatur. Eine Sondierung (zus. mit Armin Schäfer), in: Stefan Rieger/Armin Schäfer/Anna Tuschling (Hg.): Virtuelle Lebenswelten. Körper – Räume – Affekte, Berlin 2021, S. 87–101; Die Leidener Schule der literaturwissenschaftlichen Systemtheorie, in: Dirk Baecker (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2021, S. 465–473. Busch, Christopher, Jun.-Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Letzte Veröffentlichungen: Adorno für Ruinenkinderkindeskinder. Beratung, Betrachtung und Kritik im Gegenwartsfeuilleton, in: Oliver Ruf/Christoph H. Winter (Hg.): Small Critics. Zum transmedialen Feuilleton der Gegenwart. Würzburg 2022, S. 49–67; Schreibhaltungen. Rainald Goetz’ früher Journalismus zwischen Verständigungstext und New Journalism, in: Erika Thomalla (Hg.): Text + Kritik. Sonderband: Literarischer Journalismus, München 2022, S. 124–133; Unger-Fraktur und literarische Form. Studien zur buchmedialen Visualität der deutschen Literatur vom späten 18. bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2019. Coch, Charlotte, Dr. phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft I an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u.a.: Traduttore traditore. Zur komparativen ›Verbuchung‹ der Vorlesung, in: Christopher Busch/Oliver Ruf (Hg.): Buch-Aisthesis. Philologie und Gestaltungsdiskurs, Bielefeld 2022 [i.E.], S. 77–102; Poetik der Regel-

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kreise oder Thomas Meineckes erzählerische Ethik, in: Charlotte Jaekel (Hg.): TEXT+KRITIK 231 (2021): Thomas Meinecke, S. 57–64; Lektüre als Form. Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann, Bielefeld 2021. Günter, Manuela, Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u.a.: Kalenderspuk in Schillers »Die Jungfrau von Orleans«. Ein Beitrag zu einer kritischen Buchphilologie, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 140 (2021), 4, S. 503–534; Artes Populares: Serielles Vergnügen in der Frühen Neuzeit zwischen Gattungs- und Medieneffekten (zs. mit Michael Homberg), in: Daphnis 44 (2016), S.257–293; Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008. Hahn, Torsten, Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Letzte Veröffentlichungen: »Alles war krank«: TerrorPhantasien und Bio-Politik in ›Dr. Mabuse, der Spieler‹, in: Susanne Düwell/ Christof Hamann (Hg.): Verbrechen als »Bild der Zeit«. Kriminalitätsdiskurse der Weimarer Republik in Literatur, Film und Publizistik, Berlin: 2021, S. 87–105; Die Kunst des Möglichen unter schwarzer Flagge (rother Tod auf derselben): Piraterie und Welthandel in Friedrich Schillers nachgelassenen Dramenentwürfen, in: Die Horen 22 (2021), S. 45–51; Schwarze Flächen und weiße Leerräume: Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik. Eine Buchseite von Thomas Meinecke, in: Charlotte Jaekel (Hg.): TEXT+KRITIK 231 (2021): Thomas Meinecke, S. 38–45. Hintze, Lena, Dr. phil., bis August 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Temporal Communities« an der Freien Universität Berlin. Letzte Veröffentlichungen: Auftritte statt Bücher? Die Wiener Gruppe als Live-Act, in: Alina Boy/Vanessa Höving/Katja Holweck (Hg.): Vexierbilder. Autor:inneninszenierung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2022, S. 125–146; Werk ist Weltform. Rainald Goetz’ Buchkomplex Heute Morgen. Bielefeld 2020.  Kleinwächter, Livia, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft I an der Universität zu Köln. Letzte Veröffentlichungen: Poetiken des Notierens. Epistemologie und Ästhetik einer Schreibszene bei Elias Canetti, Ludwig Hohl und Rainald Goetz. Bielefeld 2023 [i.V.];

AutorInnenverzeichnis

Rainald Goetz: »Die PRAXIS Notieren«, in: Schliff 10 (2019), S. 156–165; The Literary Manuscript as a Challenge for Philological Knowledge Production, in: Pál Kelemen/Nicolas Pethes (Hg): Philology in the Making. Analog/Digital Cultures of Scholarly Writing and Reading, Bielefeld 2019, S. 109–128. Pethes, Nicolas, Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u.a.: Vermischte Schriften. Jean Pauls Romananthologie D. Katzenbergers Badereise (1809), Hannover 2022; ›Experimentelle Völkerpsychologie‹. Konstruktionen kollektiver Medienwirkungen im frühen Kinodiskurs, in: Hofmannstahl-Jahrbuch zur europäischen Moderne 29 (2021), S. 389–408; ›the form of forms‹. Zur Poetik bürokratischen Schreibens in David Foster Wallace’ The Pale King, in: Peter Plener/Niels Werber/Burkhardt Wolf (Hg.): Das Formular. Berlin 2021, S. 215–228. Schmitz-Emans, Monika, Prof. Dr., lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u.a.: Imaginäre Texte, Literaturgeschichte und Literaturgeschichten. Zur Bedeutung erfundener Bestände literarischer Werke für die Literaturgeschichtsschreibung, in: Urs Büttner/David D. Kim (Hg.): Globalgeschichten der deutschen Literatur. Methoden – Ansätze – Probleme. Stuttgart 2022, S. 245–261; Sprache(n) der Zukunft im Spiegel von Zukunftsromanen. In: Kristin Platt/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit. Poetisch-Politische Imaginationen, Berlin/Boston 2022, S. 215–262; Zeitungstheater. Über Bühnen und Akteure von Humorblättern und Comicbeilagen um 1900, Hannover 2020. Schneider, Ute, Prof. Dr., lehrt am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der JGU Mainz Buchwissenschaft. Neueste Veröffentlichungen sind u.a.: Autorschaft und literarischer Markt, in: Michael Wetzel (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Autorschaft, Berlin/Boston 2022, S. 429–447; Bilder vom Lesen in der bildenden Kunst: ein Forschungsüberblick, in: Medium Buch, Heft 2 (2020), S. 5–31 (zs. mit Philip Ajouri); Digital reading and gender inequality in higher education, in: Higher Education Research & Development (2021), DOI: 10.1080/07294360.2021.2019201 (zs. mit Axel Kuhn und Annika Schwabe). Schöpf, Sven, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe »Journalliteratur. Formatbedingungen, visuelles Design, Rezeptions-

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kulturen«. Letzte Veröffentlichungen: »Schrift [...] fällt beim Lesen nicht ab wie Schlacke«. Die buchmediale Visualität von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, Bielefeld 2022; Zeit/Schrift 1813-1815 oder Chronopoetik des ›Unregelmäßigen‹, Hannover 2022 (zus. mit David Brehm, Nicola Kaminski, Volker Mergenthaler und Nora Ramtke). Ungelenk, Johannes, Prof. Dr., lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Potsdam. Letzte Veröffentlichungen: Touching at a Distance. Shakespeare’s Theatre, Edinburgh 2023 [i.V.]; Berühren Denken, Berlin 2021 (Hg. mit Andrea Erwig); Berühren Lesen, Berlin 2021 (Hg. mit Hanna Sohns).

Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4

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