Schriften zum transzendentalen Idealismus 3787313702, 9783787320622

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Schriften zum transzendentalen Idealismus
 3787313702, 9783787320622

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Friedrich Heinrich Jacobi Werke · Band 2,1

FRIEDRICH HEINRICH JACOBI WERKE Gesamtausgabe herausgegeben von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke Band 2,1

Meiner

FRIEDRICH HEINRICH JACOBI SCHRIFTEN ZUM TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS

Unter Mitarbeit von Catia Goretzki herausgegeben von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-7873-1370-2

eBook-ISBN: 978-3-7873-2062-2

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2004. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Rheingold-Satz Hildegard Smets, Flörsheim-Dalsheim. Druck: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

MEINE VORSTELLUNGEN (1782) Meine Vorstellungen … ..................................................

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DAVID HUME ÜBER DEN GLAUBEN ODER IDEALISMUS UND REALISMUS. EIN GESPRÄCH (1787) Vorbericht ....................................................................... [Das Gespräch] .................................................................. Beylage. Ueber den Transscendentalen Idealismus ..............

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BERICHTIGUNG EINES PHILOLOGISCHEN; EINES HISTORISCHEN; UND EINES PRAGMATISCHEN PUNKTES IN DER RECENSION DES GESPRÄCHES ÜBER IDEALISMUS UND REALISMUS (1788) Nicht Antikritik; … ......................................................

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EPISTEL ÜBER DIE KANTISCHE PHILOSOPHIE (1791) Es ist sehr grosmüthig … .................................................

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VI

Inhalt

UEBERFLÜSSIGES TASCHENBUCH FÜR DAS JAHR 1800. VORREDE (1799) Aus dem Inhaltsverzeichnis ................................................ Vorrede. Ein Brief an den Herausgeber .............................. Nachschreiben...................................................................

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JACOBI AN FICHTE (1799) Vorbericht......................................................................... 191 [Sendschreiben] ................................................................. 194 Beylagen I–III ................................................................... 227 Anhang 1. Ueber die Freyheit des Menschen................................... 2. Aus Allwills Briefsammlung............................................ 3. Aus derselben Schrift ..................................................... 4. Aus Woldemar............................................................... 5. Auszug aus einem Briefe an einen Freund über Kants Sittengesetz ..................................................................

243 252 253 255 257

UEBER DAS UNTERNEHMEN DES KRITICISMUS, DIE VERNUNFT ZU VERSTANDE ZU BRINGEN, UND DER PHILOSOPHIE ÜBERHAUPT EINE NEUE ABSICHT ZU GEBEN (1802) Vorbericht......................................................................... 261 Ihr saget laut, … ............................................................... 274

Inhalt

VII

DREI BRIEFE AN FRIEDRICH KÖPPEN (1803) Erster Brief........................................................................ 335 Zweyter Brief.................................................................... 353 Dritter Brief ...................................................................... 369

EINLEITUNG IN DES VERFASSERS SÄMMTLICHE PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN (1815) Vorrede, zugleich Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften .................................................... 375

TAFELN Abbildungen 1–8 ...............................................................

2*

ANHANG Zeichen, Siglen, Abkürzungen ........................................... 437 Editorischer Bericht........................................................... 441 Kommentar....................................................................... 495 Literaturverzeichnis ........................................................... 779 Personenverzeichnis .......................................................... 815

MEINE VORSTELLUNGEN (1782)

Meine Vorstellungen …

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Meine Vorstellungen danken Ihnen, theuerste Samlung von Vorstellungen, sonst Freund genant, für die Mittheilung der Nachricht, daß Sie, der Mittheilende und ich, dem mitgetheilt wird, beide Schimären sind. In der That, ich bewundre den Scharfsin der Königsbergischen Vorstellungen, I m m a n u e l K a n t genant, die einen neuen Idealismus erfunden haben, der unserm Zeitalter nicht angemessener sein könte. Die Menschen haben in diesem Jahrhundert in der Abnahme aller ihrer Kräfte so erstaunliche Schritte gethan, daß das bischen, was etwa noch davon übrig ist, füglich für nichts geachtet werden kan. Nur Vorstellungen sind von uns noch übrig geblieben und bei der chaotischen Unordnung, worin diese sich befinden, werden sie sich nach und nach auch wohl einander aufreiben. Dan gute Nacht! Welt, dafern die Kantischen Vorstellungen nicht etwa auf einem neuen luftigen Spaziergange – ihrer Einbildungskraft hätte ich bald gesagt, weil ich mich von dem nichtssagenden Worte K r a f t noch nicht recht loszumachen weiß – Mittel finden, ein neues, vermuthlich besseres Weltal zu schaffen. Aber auch dem | Geschmakke unsers Jahrhunderts, der bekanter maßen das Wunderbare sucht, wie so ganz angemessen! Gedanken ohne Denkkraft – ein rollender Wagen ohne Räder und Axe – Musik ohne Instrumente und Musikanten – theatralische Vorstellungen ohne Schauspieler und Maschinen: was kan wunderbareres gedacht werden? Ich wette, diese philosophische Farce wird noch mehr Zulauf haben, als der Schifbruch. C’est un malheur des hommes de se degouter enfin de la raison même et de s’ennuyer de la lumiere. Les chimeres commencent à revenir et plaisent, parcequ’elles ont quelque chose de merveilleux. Il arrive dans le païs philosophique ce qui est arrivé dans le païs poetique. On s’est lassé des Romans raisonnables et on est revenû depuis quelque tems (aux Messiades) aux contes des féés. Leibniz im prophetischen Geist.

4 Mittheilende aus Mittheilu 11 sind] folgt gestr: uns 12 Unordnung] Unnordnung 15 neuen] folgt gestr: Spazierga 20 maßen] folgt gestr: s 25 35 Zulauf] aus zum (?)

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Meine Vorstellungen

Meine Vorstellungen sehnen sich nach der Vorstellung, Ihren Vorstellungen gegenwärtig zu sein, um sich mit Ihnen der Vorstellung zu erfreuen, daß so wichtige Entdekkungen noch in unsern Tagen gemacht worden | sind. Die liebenswürdige Samlung weiblicher Vorstellungen, welche Sie die Ihrige nennen, ist von mir und von denen, die man die Meinige nent, mit Ihnen zugleich von Herzen gegrüßt. Die C x x schen Vorstellungen

Nirgends und zu keiner Zeit. (Denn da Raum und Zeit nur Modifikazionen unsers sogenanten Wesens sind, unser sogenantes Wesen aber nichts ist: so gibt es auch keine C x x burg und keinen 12. Februar und kein Jahr 1782 mehr.)

10 Modifikazionen aus m

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DAVID HUME ÜBER DEN GLAUBEN ODER IDEALISMUS UND REALISMUS. EIN GESPRÄCH (1787)

David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. 5

Ein Gespräch von Friedrich Heinrich Jacobi.

Nafe, kai mimnaß çpistein; çrvra tauta twn frenwn.

Epicharm. Fragm. Troch.

Breslau, bey Gottl. Loewe. 1787.

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2 Glauben] Glauben,

5–12 Gespräch von … 1787.] Gespräch.

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David Hume über den Glauben · 1787

La nature confond les Pyrrhoniens, & la raison confond les Dogmatistes. – Nous avons une impuissance à prouver, invincible à tout le Dogmatisme. Nous avons une idée de la vérité, invincible à tout le Pyrrhonisme. Pascal.

1 Pyrrhoniens,] Pyrrhoniens

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Vorbericht.

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Das folgende Gespräch zerfällt in drey Theile, deren jeder anfangs besonders erscheinen sollte. Das erste Gespräch, unter dem Titel: D a v i d H u m e ü b e r d e n G l a u b e n . Das zweyte, unter dem Titel: I d e a l i s m u s u n d R e a l i s m u s . Und das dritte, unter dem Titel: L e i b n i t z , o d e r ü b e r d i e V e r n u n f t . Gewisse Ereignisse störten diesen Entwurf, und die drey Gespräche zogen sich in eins zusammen. Den Inhalt der dritten Abtheilung konnte der Titel der zweyten füglich mit befassen. Aber das O d e r hinter der Ueberschrift der ersten, läßt sich nicht ganz rechtfertigen, und ich muß wegen | dieser Verknüpfungsart um Verzeihung bitten. Der Gebrauch den ich in den Briefen über Spinoza von dem Worte G l a u b e n , ausser der gemeinen Art, gemacht habe, bezieht sich auf das Bedürfniß – nicht meiner eigenen, sondern derjenigen Philosophie, welche behauptet, daß Vernunfterkenntniß nicht blos auf Verhältniß gehe, sondern daß sie auf das w ü r k l i c h e D a s e y n selbst von Dingen und Eigenschaften, und zwar dergestalt sich erstrecke, daß eine solche E r ke n n t n i ß d e s w ü r k l i c h e n Daseyns durch Vernunft, eine apodictische Gewißheit habe, welche der sinnlichen nie zugeschrieben werden dürfe. Nach dieser Philosophie findet also eine zwiefache Erkenntniß des würklichen Daseyns Statt: eine g e w i s s e und eine ungewisse. Letz|tere, sagte ich, darf also nur G l a u b e genannt werden. Denn das war vorausgesetzt worden, daß alle Erkenntniß, d i e n i c h t a u s V e rnunftgründen entspringe, Glaube sey. Meine Philosophie behauptet keine zwiefache Erkenntniß des würklichen Daseyns, sondern nur eine einfache, durch Empfindung; und schränkt die Vernunft, für sich allein betrachtet, auf das bloße Vermögen Verhältnisse deutlich wahrzunehmen, d. i. d e n S a t z d e r I d e n t i t ä t z u f o r m i r e n u n d d a r n a c h z u u r t h e ilen, ein. Nun muß ich aber eingestehen, daß die Bejahung bloß

1–11,13 Vorbericht. Das … Otway.] in D2 ersetzt durch die Vorrede, zugleich eine Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften. S. unten, 35 373–433

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David Hume über den Glauben · 1787

identischer Sätze, allein apodictisch sey, und eine absolute Gewißheit mit sich führe; und daß die Bejahung des Daseyns a n sich von einem Dinge ausser meiner Vorstellung, nie eine solche apodictische Bejahung seyn, und eine absolute Ge|wißheit mit sich führen könne. Also kann der Idealist, gestützt auf diesen Unterschied, mich nöthigen einzuräumen, daß meine Ueberzeugung vom Daseyn würklicher Dinge ausser mir, nur G l a u b e sey. Alsdenn aber muß ich, als R e a l i s t , sagen: alle Erkenntniß könne einzig und allein aus dem Glauben kommen, weil mir D i n g e g e g eben seyn müssen, ehe ich Verhältnisse einzusehen im Stande bin. Die Entwickelung dieser Materie, ist der Inhalt des folgenden Gesprächs, welches ich aufrichtigen Freunden der Wahrheit nicht ohne gutes inneres Bewustseyn widme; und denen, welche andre Dinge mehr als die Wahrheit lieben, mit der entschiedensten Verläugnung dahin gebe. Nur noch zwey Erinnerungen möchten hier nicht überflüßig seyn. | I. Wie ich in dem folgenden Gespräch mich für den Realismus und gegen den Idealismus erkläre; eben so hatte ich in den Briefen über Spinoza, S. 162–164. und 180–181, mich deutlich genug, wie ich glaube, in Absicht dieser Lehrbegriffe schon geäussert. Dem ohnerachtet hat man nachher vermuthen wollen, daß ich mich zum transscendentalen Idealismus neige. Diese Vermuthung konnte, gegen den klaren Augenschein, d a r a u f einzig und allein gegründet werden, daß ich in meiner Rechtfertigung gegen Mendelssohn, von K a n t als einem großen Denker mit der Hochachtung und der Bewunderung, die ich empfinde und nie verläugnen werde, gesprochen habe. Dabey stützte man sich auf die Stelle vom Glauben, die ich aus der Critik der reinen Vernunft dieser Rechtfertigung eingeschaltet hatte, ohne die Anmerkung die | ich unmittelbar damit verknüpfte, und eine andere die ich gleich darauf folgen ließ, in die mindeste Betrachtung zu ziehen. Die Vorsichtigkeit und der Ton meiner Aeusserung, hätte aber von Seiten der transscendentalen Idealisten, die mich genug verstanden, eine bessere Erwiederung verdient, als ich erfahren habe. II. In der Beylage zu diesem Gespräche: U e b e r d e n t r a n sscendentalen Idealismus, habe ich mich bey dem Vortrage des Kantischen Lehrbegriffs überall der eigenen Worte des Verfassers bedient, welches man auch da, wo es nicht durch Striche besonders angezeigt ist, beym Nachschlagen der angewiesenen Seitenzahlen

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Ein Gespräch

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finden wid. Da es aber dennoch nicht unmöglich ist, daß man sage: ich hätte den transscendentalen Idealismus unrecht gefaßt: so gebe | ich hier zum voraus zu bedenken, daß dieser Vorwurf unter der einzigen Bedingung eingreifen werde, wenn man zugleich zeigt: wie der transscendentale Idealismus anders als er von mir ist dargestellt worden, gefaßt werden könne, ohne mit sich selbst in den unversöhnlichsten Zwist zu gerathen, und alle seine Ansprüche zu verlieren. Auf dieses aut, aut, ist mein ganzer Aufsatz berechnet. Düsseldorf, den 28ten Merz 1787.

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Speak not of all these shining qualities: The mind’s preeminence is to be free, And freedom shews itself in openness and truth. Otway. |

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Ein Gespräch

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On dit en morale, tot capita, tot sensus; c’est le contraire qui est vrai; rien n’est si commun que des têtes, & si rare que des avis. Diderot. Nafe, kai mimnaß çpistein: çrvra tauta twn frenwn.

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Er. Im Schlafrock? Sind Sie krank? Ich. Etwas verkältet. Ich hielt mich im Bette bis um Mittag; mochte nicht essen; und so bin ich sitzen geblieben. Er. Was hatten Sie da für ein lustiges Buch? Ich. Ein lustiges Buch? Woraus schließen Sie das lustige? Er. Aus Ihrer Miene da ich ins Zimmer trat. | Ich. Ich las Betrachtungen über den Glauben. Er. Die im May der Berliner Monats-Schrift? | Ich. Sind die so lustig? Sehen Sie den Band an! – Hume’s Essays! Er. Also w i d e r den Glauben? Ich. Für den Glauben! Haben Sie den Hume kurz gelesen? Er. Die Essays seit vielen Jahren nicht. Ich. Seit vielen Jahren nicht? – Sie haben sich um die Kantische Philosophie bekümmert, und nach dem, was in der Vorrede zu den Prolegomenen steht, griffen Sie nicht auf der | Stelle nach Ihrem Hume, um ihn von neuem durchzulesen? – Das ist unverzeihlich! Er. Sie wissen, wie es mir mit Kant gegangen ist. Und gehört dann zu dem Begriff eines jeden philosophischen Systems so schlechterdings seine ganze ausführliche Geschichte? Da wäre ja kein Ende. | Ich. Kein A n f a n g , wollen Sie sagen. Er. Ich verstehe Ihr Lächeln. – Lassen wir das seyn, und machen Sie mich mit Hume als Glaubenslehrer bekannt; oder

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30 1–3 On dit … Diderot.] Zwischentitel: | Idealismus und Realismus. / Ein [1252]

Gespräch. 4 frenwn.] frenwn. / Epicharm. Fragm. Troch. 5 Schlafrock?] Schlafrock! 6 verkältet] erkältet 16 kurz] kürzlich 29–14,4 bekannt; oder … erfahre.] bekannt. / Ich. / Nun muß ich wohl.

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David Hume über den Glauben · 1787

geben Sie mir den Band mit nach Haus. Ich habe die Uebersetzungen, nachdem ich das Englische gelernt hatte, vertauscht, und seitdem immer versäumt, mir das Original anzuschaffen. Ich. Gut, daß ich es erfahre. So lange | hatte ich mir die Zunge zerbissen, um mein Geheimniß nicht vor der Zeit zu verrathen, und nun entwischte mir’s, ich weiß nicht wie. Er. Ein schönes Geheimniß, das in einem gedruckten Buche steht. Ich. Gerade dieses ist das Beste an der Sache, daß es in einem gedruckten, in mehrere Sprachen übersetzten, sehr berühmten Buche steht, und dennoch ein Geheimniß ist. – Aber wo bleibt mein Sextus Empirikus? Er. Ich bitte Sie tausendmal um Vergebung. Ich war beyde Male nicht zu Hause, da Sie gestern zu mir schickten. Mein Bedienter muß ihn nun doch abgegeben haben. Ich. Wenn er ihn gebracht hätte, wär’ er mir auch eingehändigt worden. | Er. Darf ich fragen, was Sie darinn nachzuschlagen so ungeduldig sind? Ich. Eine Stelle über das Orientieren – oder über den Glauben: wie Sie wollen. Er. Im Sextus Empirikus? Ich. Nicht anders. Etwas ähnliches im Aristoteles brachte jene Stelle mir plötzlich wieder ins Gedächtniß. Er. Sie sind ja voll sonderbarer Neuigkeiten. Ich. Von ein paar tausend Jahren her. Er. Ihre Neuigkeiten und Geheimnisse werden Sie doch nicht immer blos für sich behalten. | Wenn erscheint die neue Ausgabe der Briefe über Spinoza mit den Zusätzen? | Ich. Schwerlich vor der künftigen Jubilate-Messe. Er. Und sollte die vorige Jubilate-Messe schon erscheinen! Ich. Ich wollte, ich hätte sie damals nur gleich ohne Zusätze heraus kommen lassen. Er. Sind Sie da nicht wieder bey dem Ausspruch des Seneka, den ich öfters von Ihnen hörte: Quæ ego scio, populus non probat; quæ populus probat, ego nescio? Einmal bin ich sehr versucht gewesen zu dem großen NB. in Ihrem Seneka bey diesen Worten, das deutsche Sprüchwort zu schreiben: A l l z u k l u g i s t d u m m ! 11–27 ist. – Aber … Ihre Neuigkeiten und] ist. / Ich. / Ihre

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Würklich hat man Ihnen nicht ohne Grund vorgeworfen, daß Sie oft nöthige Mittelbegriffe auslassen. Ab hoste consilium! »Zu scharf schneidet nicht.« | Wenn Sie gutem Rath nicht folgen wollen, so folgen Sie dem glücklichen Beyspiel. Sie sehen, man darf willkührlich genug verknüpfen, wenn man nur weitläuftig genug verknüpft, und vor | allen Dingen Sorge trägt, daß die Schleifen recht ordentlich zu sitzen kommen. Der Symmetrie zu Liebe gehört es sich, auch b l i n d e S c h l e i f e n anzubringen. Wozu der böse Geiz mit dem Bande? Ich. Sie haben Recht. Was Sie empfehlen bringt eine Bündigkeit zuwege, die in die Augen fällt. Er. Das ist die Sache. Wenn Sie’s nur recht zu Herzen nehmen wollten. Wahrlich, es ist Ihre eigene Schuld, wenn man Ihnen eine wächserne Nase andreht. Ich. Weil ich der meinigen keine von Pappendeckel vorhänge, nach einem der Redoutenverordnung gemäßen Schnitt. Er. Lassen Sie nur Ihre wahre eigene recht | sehen. Es kann Ihnen doch unmöglich schwer fallen, die Sätze, über welche Sie hauptsächlich angefochten werden, von aller Zweydeutigkeit zu befreyen. Ich. Das ist freylich sehr leicht; so leicht – | Er. Daß Ihnen davor eckelt. Ich. Wie vor einer unnützen Arbeit. Erinnern Sie sich einer jugendlichen Fabel von Leßing, wo ein unzufriedenes Geschöpf Augen verlangt, und so bald es sie erhält, ausruft: » D a s s i n d unmöglich Augen!«1 Er. Sagen Sie was Sie wollen, wer sich selbst versteht, und nur nicht ungeduldig wird, der bringt es auch dahin, daß ihn andere verste|hen, wenn auch alle gelehrte Zeitungen und Journale sich zusammen verschwören, um die Wahrheit in pragmatischer Gerechtigkeit aufzuhalten. Ich. Da P. Claudius die heiligen Hüner, die nicht fressen wollten, t r i n k e n ließ, verlor er die Schlacht2. | 1

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Leßings vermischte Schriften. Berlin 1784. Th. II. S. 94. Aeltere Ausgabe

35 1770. Th. I. S. 125. 2

Cicero de Nat. Deorum. Lib II. §. 3. Ein Freund, dem ich dies Gespräch in der Handschrift mitgetheilt hatte, schrieb zu dieser Citation folgende Stelle aus der Re|de für den Roscius Ame- 1332 rinus. – »Anseribus cibaria publice locantur, & canes aluntur in capitolio, ut 40 significent, si fures venerint. At fures internoscere non possunt. Significant

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Er. Wie billig. Aber wer räth Ihnen sich an | den heiligen Hünern zu vergreifen, im Angesicht eines Volks, das auf ihr ominöses Fressen oder Nichtfressen, ein so andächtiges Auge heftet, wie kein andres von den gebildeten in Europa. Verfolgen Sie, um diesen Aberglauben unbekümmert, Ihren Weg, und lassen Sie die Todten ihre Todten begraben. Ich. Lieber Freund, ich habe meine drey und vierzig Jahre auf dem Rücken, und bin mit ziemlich derber Hand vom Schicksal hin und her geworfen worden. Tausende von Menschen können mich an Geistesgaben übertreffen, aber gewiß nur wenige an Standhaftigkeit und Eifer im Ringen nach Einsicht und Wahrheit. | Den berühmtesten, und auch unberühmten1 Quellen menschlicher Erkenntniß, | bin ich unermüdet nachgegangen, und von manchen erforschte ich den Ursprung bis dahin, wo sie in unsichtbaren Adern sich verlieren. Andre Forscher, und nicht wenige von den größten Geistern unter meinen Zeitgenossen, sah ich lange in der Nähe. Ich habe Gelegenheit gehabt, und bin gezwungen gewesen, meine Kräfte vielfältig zu versuchen, und versuchen zu lassen. Und so wär’ es eine Art von Wunder, wenn ich, wie ein unerfahrner Jüngling, ein in sich verkrochener Pedant, oder sonst auf eine thörichte Weise, mehr von mir halten könnte, als ich soll. Aber aus eben diesen Gründen geht es | auch | nicht an, daß ich mich zu tief hinunter täusche; daß ich mich für geringer halte, als andre, die nur mit einem Theile meines armseeligen Wissens, sich schon so viel wissen; für geringer als diejenigen, die mich zu Irrthümern, die ich längst abgelegt habe, nun erst durch ihre v i e l s e i c h t e r e Trugschlüsse bekehren wollen. Und das sollte ich doch; sollte mich

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tamen, si qui noctu in capitolium venerint: &, quia id est suspiciosum, tametsi bestiæ sunt, tamen in eam partem potius peccant, quæ est cautior. Quod si luce quoque canes latrent, cum deos salutatum aliqui venerint: opinor, iis crura suf- 30 fringantur, quod acres sint etiam tum, cum suspicio nulla sit.« 1 Alius error est eorum, qui omnium sectarum, atque hæresium veterum, postquam excussæ fuissent & ventilatæ, optimam semper obtinuisse, posthabitis aliis, existimant. Itaque putant, si quis de integro institueret inquisitionem & examen, non posse non | incidere in aliquas ex rejectis opinionibus, & post rejec- 35 tionem amissis & obliteratis: quasi vero multitudo, aut etiam sapientes, multitudinis deliniendæ gratia, non illud sæpe probarint, quod populare magis atque leve sit, quam quod solidum, atque alte radices agens. Tempus siquidem simile est fluvio, qui levia atque inflata ad nos devehit, solida autem & pondus habentia submergit. Baco, de 40 augmentis scientiarum. 3 Nichtfressen,] Nichtfressen

24 Wissens,] so auch D2; Dv(D2): Wissens

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dahin bequemen, daß ich es natürlich, schicklich, ganz in seiner Ordnung fände, gleich einem feilen Rosse, von einem halbblinden oder schelmischen Philister auf den Markt geritten zu werden, um mir von jedem Vorübergehenden ins Maul sehen, und über alle sieben Mängel mich untersuchen zu lassen; unterdessen muthwillige Knaben mir die Haare aus dem Schweife rupfen, und mit Nadeln nach mir stechen. – Es mag von bloßer Ungewohnheit herkommen; aber ich fühle, es ist ein wenig mehr als ich zu ertragen Lust habe. – Sie schütteln den Kopf? Er. Weniger Stolz, oder weniger Empfindlichkeit! – Nennen Sie mir den wackern Mann, | der sich nicht dasselbige gefallen lassen mußte! Der aufgeblasene, zornmüthige Hallische Ludwig, der mir gerade wegen einer Localbeziehung einfällt, nannte den Hieronymus Gundling nie anders, als den Bagatellisten1. Ich führe Einen an aus Tausenden: nehmen Sie sich acht Tage Zeit, um mir dagegen einen andern wackern Mann, irgend einen eindringenden Schriftsteller zu nennen, dem es besser gegangen wäre, als denen tausenden, woraus ich meinen Gundling griff. N u r e i n e n e i n z ig e n s o l l e n S i e m i r n e n n e n ! Und welchem wackern Manne hat dergleichen je geschadet? | Ich. Ach, vor Schaden ist mir gar nicht bange. Gefahr ermuntert. Aber ich hasse die Uebelkeiten; hasse die Unlust, welche folgt, wenn man aus dem Innersten der Seele hat verachten, vor M e nschen ausspeyen müssen, weil sie ihrem eigenen Gefühl von Recht und Wahrheit keck ins Angesicht schlugen, und niedrig und Gewissenlos die Lüge küßten2. Warum soll ich mir die wenigen Tage, die ich noch zu leben haben mag, auf diese Art verbittern?

1 S. Pütters Litt. des D. Staatsr. Th. I. Nicht besser als Gundlingen war es einem, um das deutsche Staatsrecht noch verdienteren Manne, dem vortrefli30 chen H e r m a n n C o n r i n g ergangen. Dieser suchte den Grund der Deutschen Rechte und der Verfassung unsers Vaterlands in den eigentlichen Quellen, der Geschichte und den älteren Gesetzen auf; und mußte sich dafür von dem Canzler Tabor einen B a r b a r e n schelten lassen, der das Licht der Römischen Jurisprudenz beyseite setzte, um mit unseren unwissenden rohen Vorfahren wieder 35 im Finstern zu tappen. Grivenkerl wußte unsern Conring noch anders zu fassen. S. Pütter am angef. Orte, und Heinec. Vorr. zu dem Corp. J. Germ. 2 En verité le mentir est un maudit vice. Nous ne sommes hommes, & nous ne tenons les uns aux autres que par la parole. Si nous en connoissions l’horreur & le

6–7 rupfen, … stechen] rupften, … stächen 12–19 mußte! Der … n e n28–36 S. Pütters … Corp. J. Germ. fehlt

40 nen!] mußte!

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Er. Weil ein Mann nicht unausgeführt läßt was er angefangen hat. Ich. Gut. Damit wir der Worte nicht zu viel machen: was soll ich ausführen; wo soll ich wieder anfangen? | Er. Das fragen Sie unter dem lauten Geschrey, | daß Sie einen blinden Glauben lehren, und die Vernunft herabwürdigen! Ich. Was ist blinder Glaube? Ist er etwas anders, als ein auf Ansehen gestützter Beyfall, ohne Gründe oder eigene Einsicht? – Worauf besinnen Sie sich? Er. Nein, es ist nichts gegen Ihre Erklärung einzuwenden. Ich. Gut! Und einen solchen Glauben gelehrt zu haben, sagen Sie, bin ich im Verdacht. Nicht wahr? Er. Freylich! Aber um des Himmels willen, was wollen Sie mit diesen Fragen? Ich schickte Ihnen vor ein paar Tagen die vorläufige Darstellung des Jesuitismus. Haben Sie das Buch bey der Hand? Ich. Dort liegt es. | Er. Sehen Sie hier, S. 173., steht ausdrücklich, »daß Sie einen unbedingten blinden Glauben empfehlen, dadurch dem Protestantismus seine stärkste Stütze, nemlich den uneingeschränkten Forschungsgeist und Vernunftgebrauch« – Ich. Lesen Sie: d e m H y p e r k r y p t o J e s u i t i s m u s s e i n e stärkste Stütze, nemlich den uneingeschränkten Verdrehungsgeist, und Gebrauch der Mentalreservation, Wortschrauberey und Windbeuteley – Er. »entreissen, und a l s o die Rechte der Vernunft und der Religion d e n A u s s p r ü c h e n e i n e r menschlichen Autorität unterwerfen.« – In der zu dieser Stelle gehörigen Anmerkung steht noch deutlicher: »daß ihre Theorie von Glauben und Offenbarung den Catholicismus befördere, | und bey Prüfung der Religionswahrheiten den Gebrauch der forschenden Vernunft verschreye – daß Sie durch eine l i s t i g e Abänderung der bisher | gebräuchlichen Worte, z u r A n e r k e n n u n g e i n e r menschlichen Autorität bereden wollen.« – Haben Sie genug?

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poids, nous le poursuivrions à feu, plus justement que d’autres crimes. Ess. de Montaigne. L. I. Ch. IX. p. 79. S. auch: D. Mus. 1787. Jan. S. 49. 35 22–23 Verdrehungsgeist] Verdrehungsgeist S. 49.] p. 79. 20 Vernunftgebrauch«] D1D2: Vernunftgebrauch

35 p. 79. S. auch …

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Ich. Vollkommen. Aber nun zeigen Sie mir auch in meiner Schrift, was eine solche Anklage – ich will nicht sagen rechtfertigen – was sie nur beschönigen könnte; etwas, woraus sie mit irgend einer vernünftigen Füglichkeit auch nur z u e r s c h l e ichen wäre. Das bloße Wort, G l a u b e , ausgenommen, wissen Sie nichts. Und der Mann, der jene Anklage schrieb, wußte auch nichts ausser diesem bloßen Worte. Er wußte aber, daß in meinem Buche Dinge stunden, die ihm nicht gefielen, und trug kein Bedenken, im Vertrauen auf das politische Gewicht seiner Parthey, eine ganz grundlose Beschuldigung gegen mich zu erdichten, mit dem klaren | deutlichen Bewußtseyn, daß er sie blos erdichtete. Mit dieser Beschuldigung verknüpfte er durch ein leeres: a l s o , eine zweyte, um die Sache noch ein wenig giftiger zu machen. – Ist das wahr, oder ist das nicht wahr? Er. Es ist allerdings wahr. | Ich. Also wahr: daß in meinem Buche nicht der geringste, nicht der entfernteste Anlaß zu der Beschuldigung ist, daß ich einen blinden Glauben lehre; und wahr, daß ich doch beym Publikum im Verdacht dieser Lehre stehe? Wie soll ich es nun anfangen, mich vor einem so blindgläubigen Publikum des blinden Glaubens wegen zu rechtfertigen? Man braucht mir ja nur auf der Stelle dieselbigen Beschuldigungen von neuem anzulügen, und der Verdacht bleibt stehen. Er. Nicht so geschwinde, Lieber! Lassen Sie uns zu der Erklärung, die Sie vorhin vom | blinden Glauben gaben, zurück gehen. Ihre Gegner würden vermuthlich sagen, diese Erklärung schränke den Begriff des blinden Glaubens zu sehr ein; jeder Beyfall, jede Bejahung, die nicht auf Vernunftgründen beruhe, könne und müsse so benannt werden. Ich. Sollten meine Gegner dergleichen wohl behaupten wollen? Er. Warum nicht? | Ich. Sie haben Recht: Warum nicht? – So antworten Sie mir denn: Glauben Sie, daß ich gegenwärtig hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen rede? Er. Das g l a u b e ich nicht blos; das w e i ß ich. 8 stunden, … gefielen] stehen, … gefallen

14 das] es

22 dieselbigen] so DvDv(D2); D1D2: dieselbige

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Ich. Woher wissen Sie das? Er. Weil ich es empfinde. | Ich. Sie empfinden, daß ich hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen spreche? Das ist mir ganz unverständlich. Was? Ich, wie ich hier sitze, hier mit Ihnen spreche, bin Ihnen e i n e E m p f i ndung? Er. Sie sind meine Empfindung nicht, sondern die äusserliche Ursache meiner Empfindung. Die Empfindung, verknüpft mit ihrer Ursache, giebt mir diejenige Vorstellung, die ich S i e nenne. Ich. Also empfinden Sie eine Ursache a l s U r s a c h e ? | Sie werden eine Empfindung gewahr, und in dieser Empfindung eine andere Empfindung, durch die Sie empfinden, daß diese Empfindung die Ursache von jener Empfindung ist, und das zusammen macht eine Vorstellung aus; eine Vorstellung, die ein Etwas enthält, welches Sie den Gegenstand nennen? Noch einmal, ich begreife von dem allen nichts. Und dann sagen Sie mir nur, | woher Sie wissen, daß die Empfindung einer Ursache als Ursache, die Empfindung einer äusserlichen Ursache, eines würklichen Gegenstandes a u s s e r I h r e r Empfindung, eines Dinges an sich ist? Er. Das weiß ich zufolge der sinnlichen Evidenz. Die Gewißheit, die ich davon habe, ist eine unmittelbare Gewißheit, wie die von meinem eigenen Daseyn. Ich. Sie haben mich zum Besten! So kann der Philosoph aus der Kantischen Schule, der b l o s e m p i r i s c h e Realist1 wohl sprechen, aber kein eigentlicher Realist, wie Sie doch seyn wollen. Die Gültigkeit der sinnlichen Evidenz ist ja gera|de das, wovon die Frage ist. Daß uns Dinge als ausser uns erscheinen, bedarf freylich keines Beweises. Daß aber diese Dinge dennoch | nicht bloße Erscheinungen i n u n s , nicht bloße Bestimmungen unseres eigenen Selbstes, und, folglich, a l s V o r s t e l l u n g e n v o n e t w a s ausser uns, gar nichts sind; sondern daß sie, a l s V o r s t e l l u n g e n i n u n s , sich auf würklich äusserliche, an sich vorhandene 1

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S. die Beylage über den transcendentalen Idealismus.

17 allen] allem 20 Empfindung, eines Dinges an sich] Empfindung 35 27–28 Die Gültigkeit … Frage ist.] D i e Gültigkeit d e r s i n n l i c h e n E v id e n z i s t j a g e r a | d e d a s , w o v o n d i e F r a g e ist. 16 nennen?] so DvD2; D1: nennen.

Ein Gespräch

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Wesen beziehen, und von ihnen genommen sind: dawider lassen sich nicht allein Zweifel erregen, sondern es ist auch häufig dargethan worden, daß diese Zweifel durch Vernunftgründe im strengsten Verstande, nicht gehoben werden können. Ihre unmittelbare Gewißheit der äussern Gegenstände, wäre also, nach der Analogie meines Glaubens, e i n e b l i n d e G e w i ß h e i t . Er. Sagen Sie denn nicht selbst in Ihrem dritten Brief an Mendelssohn, »daß wir andre würkliche Dinge gewahr werden, m i t derselben Gewißheit, mit der wir uns selbst gewahr werden?« Ich. Nachdem ich unmittelbar vorher bemerkt | hatte, | daß, nach streng philosophischen Begriffen, dieses Wissen nur ein Glauben sey; indem, was keines strengen Beweises fähig ist (unser gegenwärtiges augenblickliches Bewußtseyn ausgenommen), nur geglaubt werden kann, und für diesen Unterschied kein andres Wort sich in der Sprache findet. Freylich drückt man sich auf diese Weise im gemeinen Leben nicht aus; aber von dem Unterschiede, der hier bezeichnet werden soll, ist auch im gemeinen Leben nie die Frage; wohl aber in der Philosophie, wo eben dieser Unterschied bey Untersuchung der menschlichen Vernunft und ihrer Verrichtungen (provincia sua) von der größten Wichtigkeit, und seine Bestimmung von den erheblichsten Folgen ist. So war der Fall zwischen Mendelssohn und mir. Mendelssohn hatte mir, o h n e die geringste Veranlassung, christliche Gesinnungen aufgebürdet, die weder christlich noch die meinigen waren; diesen setzte er die seinigen, a l s j ü d i s c h e , entgegen, indem er sagte: »Meine Religion kennt keine Pflicht, dergleichen Zweifel anders als durch Ver|nunftgründe zu heben, befiehlt keinen Glauben an ewige Wahrheiten. Ich habe also einen Grund mehr U e b e r z e ugung zu suchen.« – Ohne diesen sarkastischen Ausfall – welchem | die Beschuldigung: ich suche mich nur durch eine Hinterthüre zu retten, leicht anzusehen war – durch eine Widerlegung abzutreiben, die mich in Dinge verwickelt hätte, in die ich mich nicht verwickeln lassen wollte; gab ich nur folgendes zur Antwort: »Wenn jedes F ü rwahrhalten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, 4 Verstande,] Verstande 5 Gegenstände,] Gegenstände 8 andre würkliche Dinge] a n d r e w i r k l i c h e D i n g e 13–14 ist (unser … ausgenommen)] ist 29 mehr] mehr, 36 entspringt] sich entwickelt

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Glaube ist (denn dieser Gegensatz von Vernunfterkenntniß und Glaube war von Mendelssohn selbst angegeben): so muß die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft von ihm allein empfangen.« – Ich drückte mich auf diese Weise aus in einem Privat-Schreiben an einen berühmten Philosophen, von dem ich annehmen mußte, daß ihm die Vordersätze, worauf ich mich stützte, und ihre angenommene Richtigkeit bekannt wären. Die | Billigkeit erforderte, da dieses Privat-Schreiben, als eine unveränderte Urkunde, ins Publikum kam, daß es auch als ein Privat-Schreiben, (das aus dem Studierzimmer eines Gelehrten nur in das Studierzimmer eines andern Gelehrten gehen sollte, und mit nichten an das Publikum gerichtet war) gelesen und beurtheilt würde, und daß man die | verschiedenen Beziehungen, in denen das Gesagte da steht, nicht aus der Acht ließe. Alsdann würde n a c h d e r A u s d e h n u n g , d i e M e n d e l s s o h n d e m Begriffe von ewigen Wahrheiten gegeben hatte, mein Satz … Er. Lieber, ich fürchte, wir gewinnen zu viel Terrain, und verlieren die Richtung. Vor diesem Fehler müssen wir uns hüten. Sie sagen: was keines strengen Beweises fähig sey, könne nur geglaubt werden, und diesen Unterschied im Fürwahrhalten zu bezeichnen, habe die Sprache kein anderes Wort, als das Wort Glauben. Nun ist aber die|ser Unterschied, wie Sie ebenfalls behaupten, schon längst und vielfältig wahrgenommen worden. Wie geht es denn zu, daß man des einzigen Wortes, welches die Sprache hat, dabey entbehren konnte? Denn der Gebrauch, den Sie von diesem Worte machen, ist doch unerhört; man findet es nirgendwo in derselbigen Bedeutung. Ich. Nirgendwo? Schlagen Sie nur die Recension von Reid’s Essays on the intellectual Powers of | man, im April der diesjährigen (1786) Allg. Litt. Zeitung auf; da finden Sie dieses Wort gerade in derselbigen Bedeutung; und so werden Sie es überall finden, wo über diese Materie philosophirt wird. Noch einmal, die Sprache hat kein anderes Wort1 1

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Auch Mendelssohn bedient sich desselben. S. Morgenstunden, erste Aus- 35 gabe. S. 106. 1–2 (denn … angegeben):] d e n n d i e s e r G e g e n s a t z v o n V e r n u n f t e rkenntniß und Glaube war von Mendelssohn selbst angegeben); 18 gewinnen zu viel Terrain] laufen zu weit aus 28 derselbigen] derselben

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Er. Was? In der Allg. Litt. Zeitung? | Ich. Da, lesen Sie, S. 182, »Er (Reid) unterscheidet Conception … von Perception, das vielleicht am besten durch Empfindung gegeben wird; denn es ist nach seiner Definition, die Vorstellung einer Sache v e r b u n d e n m i t d e m Glauben v o n i h r e m ä u s s eren Gegenstande.« Er. Ich muß lachen, daß Sie sogleich mit einem Beleg aus demselbigen Journal bey der Hand sind, welches Ihnen die empfindlichsten Vorwürfe über den Gebrauch eben dieses Wortes gemacht hat. | Ich. Ich habe die auffallendsten dieser Vorwürfe ausgezogen und zusammengestellt. Sie liegen hier in meinem Hume. Wollen wir einmal das Blatt mit einander ablesen? Er. Sehr gern. | Ich. »Allg. Litt. Zeitung Nro. 36. und Nro. 125. Wir g l a u b e n nicht, daß wir einen Cörper haben, und daß ausser uns andre Cörper und andre denkende Wesen vorhanden sind; sondern: wir empfinden uns selbst, empfinden unsern und andre Cörper ausser uns, und schließen auf denkende Wesen ausser uns. Logik und Gemeinsinn haben seit undenklichen Zeiten zwischen Glauben und Empfindung einen Unterschied gemacht. Ihn vernachläßigen, heißt einen der ersten Begriffe der Vernunftlehre ganz unnöthig verwirren. Was andre Empfindung, sinnliche Ueberzeugung heissen, auch Glaube zu nennen, ist eine willkührliche Verdrehung des gemeinen Sprachgebrauchs, Wortspielerey, um den Schein zu gewinnen, als hätte man etwas neues gesagt. Ke | nodoxia ist aber noch etwas schlimmer als Paradoxia. Man soll bekannte Sachen mit bekannten Worten ausdrücken; gangbare Münze nicht eigenmächtig umprägen; nicht einen, wo nicht blauen, wenigstens doch | leeren Dunst erregen, Mißverstand veranlassen, und zu dem Verdacht Gelegenheit geben, man wolle unvermerkt alles auf Glauben an positive Sätze der Religion zurück bringen.« – Fällt Ihnen etwas erhebliches ein, das ich ausgelassen hätte? Er. Nichts erhebliches; nur daß ich die einschärfenden Wiederholungen vermisse, deren Nachdruck aber, wie mir däucht, durch die dichte Zusammenstellung der Urtheile ziemlich ersetzt wird. Ich bin neugierig, wie man Ihre Gründe, wenn Sie damit hervorrücken, empfangen wird. Ich. Gründe? Ich habe etwas Besseres, worüber man nicht so schlechterdings herfahren, oder es nur gerade zu unter die Bank

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schieben darf, wie Gründe: ich habe eine Autorität1. | Alle die bittern Vorwürfe, | die ich eben abgelesen habe, die muß alle hier mein guter David Hume aufladen. Er mag sehen, wie er sich mit der Logik und dem Menschenverstande vergleicht, und zu den ersten Regeln des Vernunftgebrauchs den Rückweg findet; er mag sehen, wie er die Vorwürfe von kenodoxia, von Wortspielerey, Windmacherey, blauen oder leeren Dunst, vornemlich aber den Verdacht von sich abtreibe: er wolle unvermerkt alles auf Glauben an positive Sätze der Religion zurück bringen: denn es ist auch nicht Einer von diesen Ausfällen, der ihm nicht gerade auf den Leib gienge, da er sich des Wortes G l a u b e nicht allein in demselbigen Verstan|de, worinn es von mir gebraucht worden ist, bedient, sondern auch bey demselben mit Bedacht sich aufhält, um zu erhärten, daß es das eigentliche Wort für die Sache | sey; das E i n z i g e , dessen man sich dabey mit Fug bedienen könne2. |

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Cartesius wünschte seine Schrift über den Menschen der Sorbonne zuzueignen, und schrieb an den Pater Mersenne: »Ich muß | auf alle Weise suchen mich auf Autorität zu | stützen, weil die Wahrheit an sich so wenig gilt.« – Daß die Sorbonne für den Cartesius selbst keine Autorität war, bedarf wohl keiner Erinnerung. Hier sind seine eigenen Worte: Fateor enim tibi, quorundam cavillationibus eo me adductum fuisse, ut aliena dehinc autoritate, quantum potero, munitum me velim, quandoquidem veritas sola tantopere algeat. Ep. P. II. Ep. 43. 2 Man hat mir noch besonders, und als etwas doppelt und dreyfach unerhörtes vorgeworfen, daß ich sogar von unserm eigenen Cörper sage, auch s e i n Daseyn könne nur g e g l a u b t werden. Aeusserst befremdend ist dieser Vorwurf, da sich dieselbige Behauptung beym Cartesius und einer Menge Philosophen nach ihm findet. Bilfinger sagt in seinen Dilucid. Phil. §. CCXLIII. »Scio, ridere homines, si quis postulet, ut probent, hoc corpus esse suum corpus. Rideant sane, si quis dubitabundus quærat. Idea enim illius notæ tam est omnibus hominibus communis & clara, ut nemo hic falli possit. Sed philosophi est, distincte nosse, quod alii clare norunt: hoc est, posse criteria illa, quibus omnes homines sua discernunt corpora, enumerare. Unde nosti, hoc corpus esse corpus tuum? Absit, ut philosophus respondeat cum | infantibus: ich weiss es eben!« Hierauf beweißt er im 247 und 248sten §., wie mir deucht unwiderleglich, daß man das würkliche Daseyn der Dinge, die uns ausser unserm Cörper erscheinen, nicht bezweifeln könne, ohne zugleich das Daseyn des eigenen Cörpers zu bezweifeln. Der gelehrte und verdienstvolle Redacteur der Jenaer Litteraturzeitung, Herr Professor Schütz, fängt seine Metaphysik (Lemgo, 1776.) mit diesen Worten an

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8–9 er wolle … zurück bringen] e r w o l l e u n v e r m e r k t a l l e s a u f G l a u b e n 40 a n p o s i t i v e S ä t z e d e r R e l i g i o n z u r ü c k b r i n g e n 37–25,20 bezweifeln. Der … u.s.w.« –] bezweifeln. 31 philosophi] so DvD2; D1: philosophi,

37 des] so DvD2; D1: unseres

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Er. Ihr Geheimniß wird los. Rücken Sie doch nur vollends damit heraus. | Ich. Ohne mich lange bitten zu lassen, nachdem ich schon so viel verrathen habe. Zuerst, als Vorbereitung, sehen Sie in dem Abschnitte über die Akademische oder Skeptische Philosophie, hier diese Stelle1: | »Es scheint unläugbar, daß die Menschen durch einen angebornen Trieb, oder | eine Grundbeschaffenheit ihres Wesens, genöthiget werden, ihren Sinnen zu glauben; und daß wir ohne alle Vernunftschlüsse, ja fast vor allem Gebrauche der Vernunft, eine äussere Welt beständig vor|aussetzen, die von unserer Wahrnehmung unabhängig ist, und auch alsdann noch bestehen würde, wenn auch wir und alle andre empfindende Wesen nicht mehr darinn gegenwärtig oder ganz vernichtigt wären. Selbst das Thiergeschlecht steht unter der Herrschaft dieser Meynung, und bleibt dem G l a u -

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(§. 22. u. 23.): »Die menschliche Seele ist ihres eigenen Daseyns gewiß; indem sie sich ihrer Vorstellungen bewußt ist. Niemand hat je seine eigene Existenz bezweifelt. Aber ob ausser der Seele das, was man Cörper nennt, existire, darüber konnte ein Zweifel entstehen. Hier ist der Ort noch nicht, ihn ganz zu untersuchen, u.s.w.« – Eine höchst merkwürdige Stelle über diese Materie findet sich in Büffons Naturgeschichte (Tom. II. p. 432. u. f. prem. Edit. in 4to), die ich bedaure, nicht ganz hier einrücken zu können. Ich reisse folgende Zeilen (p. 434.) | aus der Mitte. »Cependant nous pouvons CROIRE qu’il y a quelque chose 331 hors de nous, mais nous n’en sommes pas sûrs, au lieu que nous sommes assurés de l’existence réelle de tout ce qui est en nous; celle de notre ame est donc certaine, & celle de notre corps paroît douteuse, dès qu’on vient à penser que la matiere pourroit bien n’être qu’un mode de notre ame, une de ses façons de voir.« Also auch B ü f f o n glaubt nur, daß er einen Cörper hat. 1 Da die bekannte deutsche Uebersetzung des Hume mir nicht Genüge thut, und man an der Pünktlichkeit der meinigen zweifeln könnte, so werde ich überall den Englischen Text beyfügen. Meine Ausgabe ist die Londoner von 1770. in klein 8vo. – »It seems evident, that men are carried, by a natural instinct | or prepossession, to repose faith in their senses: and that, without any 341 reasoning, or even almost before the use of reason, we always suppose an external universe, which depends not on our perception, but would exist, though we and every sensible creature were absent or annihilated. Even the animal creation are governed by a like opinion, and preserve this belief of external objects, in all their thoughts, designs, and actions. … This very table, which we see white, and which we feel hard, is believed to exist, independent of our perception, and to be something external to our mind, which perceives it. … « Hume’s E n q u i r y concerning Human Understanding. Sect. XII. 10 fast] selbst

14 vernichtigt] vernichtet

40–41 it. …« Hume’s … Sect. XII.] D1D2: it. … Hume’s … Sect. XII.[«]

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ben an äussere Gegenstände in allen seinen Gedanken, Absichten und Handlungen getreu.« … »Von dieser Tafel hier, die wir nach dem Gesichte weis, und nach dem Gefühl hart nennen, g l a u b e n w i r , d a ß s i e w ü r k l i c h v o r h a n d e n s e y ; vorhanden unabhängig von unserer Empfindung, und als Etwas ausser dem empfindenden Wesen, welches ihre Vorstellung hat.« Nun wollen wir die eigentlichen Hauptstellen aufschlagen. Sie erinnern sich doch Hume’s berühmter Zweifel gegen die Zuverläßigkeit der Schlüsse, die wir aus einer nothwendigen Verknüpfung von Ursache und Würkung herzuleiten pflegen. | Er. Wenn ich mich recht erinnere, so sind seine Gründe kürzlich diese. Der sinnliche Schein entdeckt uns nichts von den innern Kräften der Dinge. Adam, da er zuerst einen durchsichtigen See erblickte, konnte nicht wissen, daß er ersticken würde, wenn er sich hineinstürzte; eben so wenig von dem Einen Cörper, daß er die Kraft habe ihn zu ernähren, als von dem andern, daß er diese Kraft nicht habe. Wir wagen auch nie auf einzelne Wahrnehmungen, wenn wir zum erstenmal eine Erscheinung unmittelbar auf eine andre folgen sehen, von der ersten zu entscheiden, daß sie eine Ursache, und von der andern, daß sie eine Würkung dieser Ursache sey. Dieses Band wird allein in der Imagination durch die wiederholte Erscheinung derselbigen Folge geknüpft. Und wie oft wird nicht ein solches Band, nachdem es Jahrhunderte gehalten hat, durch eine neue auffallende Entdeckung plötzlich zerrissen? Beweis genug, daß wir blos das auf einander folgende; nie das verknüpfende in dieser Folge wahrnehmen. Selbst bey den | Bewegungen unseres eigenen Cörpers, wissen wir blos aus der Erfahrung, welche von diesen Bewegungen auf eine gewisse Bestimmung | unseres Willens sich ergeben, und welche sich nicht darauf ergeben. Ich stehe von meinem Stuhle auf wenn ich will; aber ich schlafe nicht ein wenn ich will: der eigentliche medius terminus des Erfolgs oder Nichterfolgs ist uns aber in beyden Fällen gleich unbekannt. Und wie hier, so fehlt dieser medius terminus, wenn wir bis auf den geltenden Punkt zurückgehen, überall. Das Verknüpfende der Erscheinungen, i h r Z u s a m m e n h a n g selbst, da derselbe sich nie in der Anschauung darstellt, kann noch weniger durch Vernunftschlüsse gefunden werden. Denn die blos comparativ allgemeinen Sätze drücken nur eine unbestimmte 31 ein] ein, hungere und durste nicht,

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Summa einzelner Wahrnehmungen aus, die vorhergegangen seyn müssen; schlechterdings allgemeine Sätze aber nur Verhältnisse von Begriffen, oder das Identische in denselben: so daß der unwidersprechliche Satz, idem est | idem, ihr ewiger medius terminus ist, aus welchem das Facit eines directen simpeln Esse sich nie ergeben kann. | Ich. Vortrefflich! Nun hören Sie an.1 »Nichts ist freyer, als die Einbildungskraft des Menschen, und | obgleich sie den von den äusserlichen und innerlichen Sinnen gelieferten Vorrath von Ideen nicht über|schreiten kann, so hat sie doch ein uneingeschränktes Vermögen, diese Ideen zu mischen, zusammenzusetzen, | zu trennen und zu theilen, um alle Mannichfaltigkeiten der Dichtung und des Wahns hervorzubringen. Sie kann eine Folge von Begebenheiten mit allen Um|ständen der Würklichkeit ersinnen, ihnen Zeit und Ort bestimmt anweisen, sie als würklich vorhanden betrachten, sie ausmahlen und mit allem dem versehen, was eine Geschichtswahrheit an sich hat, die wir mit der größesten Gewißheit glauben. Worinn besteht nun der Unterschied zwischen einem solchen e i n b i l d e n und g l a u b e n ? Er liegt nicht blos in einer besondern Vorstellung, die mit einer solchen Vorstellung, welche den Begriff des Würklichen und Wahren nach sich zieht, verknüpft, und mit dem, was wir Empfindung nennen, nicht | verknüpft wäre. Denn da die Seele über alle ihre Vorstellungen Gewalt hat, so könnte sie willkührlich diese besonderen Vorstellungen mit irgend einer Erdichtung verknüpfen, und folglich glauben was ihr be-

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1 »Nothing is more free than the imagination of man; and though it cannot exceed that original stock of ideas, furnished by the internal and external senses, it has unlimited power of mixing, compounding, separating and dividing these ideas, to all the varieties of fiction and vision. It can feign a train of events, with 30 all the ap|pearance of reality, ascribe to them a particular time and place, con- 391 ceive them as existent, and paint them out to itself with every circumstance, that belongs to any historical fact, which it believes with the greatest certainty. Wherein, therefore, consists the difference between such a fiction and belief? It lies not merely in any particular idea, which is annexed to such a conception as 35 commands our assent, and which is wanting to every known fiction. For as the mind has authority | over all its ideas, it could voluntarily annex this particular 401

20–23 einer solchen … wäre] der Vorstellung dessen, was sich uns als wirklich und wahr aufdringt, verknüpft wäre, der anerkannten Erdichtung aber mangelte 24 besonderen Vorstellungen] besondere Vorstellung 40 22 verknüpft] so D2; D1: ver-|verknüpft

32 certainty.] so D2; D1: certainty

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liebte; welches der täglichen Erfahrung widerspricht. In unserer Einbildung können wir den Kopf eines Menschen mit dem Leibe eines Pferdes vereinigen, aber es ist nicht in unserer Macht zu glauben, daß ein solches Thier je da gewesen sey. Also folgt, daß der Unterschied zwischen Er|dichtungen und dem was wir glau|ben, in einer gewissen Empfindung oder einem gewissen Gefühl liegt, welches mit diesem verknüpft, mit jenem aber nicht verknüpft ist; einem Gefühl, das nicht von unserem Willen abhängt, und nach Wohlgefallen kann hervorgerufen werden. Die Natur muß es erregen, gleich allen andern Gefühlen; und es muß aus dem besondern Zustande entspringen, in welchen die Seele bey irgend einem besondern Anlasse gesetzt wird. Wenn dieser oder jener Gegenstand sich den Sinnen oder dem Gedächtniß darstellt, so wird, durch die Macht der Gewohnheit, die Einbildungskraft unmittelbar | auf die Vorstellung geleitet, welche gewöhnlich mit diesem Gegenstande verknüpft ist; und diese Vorstellung ist begleitet von einem Gefühl, welches sie von den leeren Träumereyen der Phantasie unterscheidet. H i e r i n n b e s t e h t d i e g a n z e N a t u r d e s G l a u b e n s . Denn da wir keine Thatsache dergestalt auffassen, daß der Begriff ihres Gegentheils unmöglich wäre, so würde zwischen einer Vorstellung, die wir als das Würkliche bezeichnend annehmen, und einer andern, die wir als solche verwerfen, kein Unterschied vorhanden seyn, | würde dieser Unterschied

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idea to any fiction, and consequently be able to believe whatever it pleases, contrary to what we find by daily experience. We can in our conception, join the 25 head of a man to the body of a horse; but it is not in our power to believe that such an animal has ever really existed. It follows, therefore, that the difference between fiction and belief lies in some | sentiment or feeling, which is annexed to the latter, not to the former, and which depends not on the will, nor can be commanded at pleasure. It must be 30 excited by nature, like all other sentiments; and must arise from the particular situation, in which the mind is placed at any particular juncture. Whenever any object is presented to the memory or senses, it immediately, by the force of custom, carries the | imagination to con|ceive that object, which is usually conjoined to it; and this conception is attended with a feeling or sentiment, different 35 from the loose reveries of the fancy. In this consists the whole nature of belief. For as there is no matter of fact which we believe so firmly, that we cannot conceive the contrary, there would be no difference between the conception assented to, 23–29,1 dieser Unterschied … nicht] nicht dieser Unterschied mittelst eines 40 gewissen Gefühls 26 body of] D1D2: body

38 between] so D2; D1: betwen

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mittelst einer gewissen Empfin|dung nicht gegeben. Wenn ich auf einer glatten Tafel eine Biljardkugel gegen eine andere sich bewegen sehe, so kann ich mir leicht die Vorstellung machen, daß jene Kugel im Moment der Berührung stille stehen bliebe. Diese Vorstellung hat an sich nichts widersprechendes; aber sie ist doch von einer ganz andern Art als jene, die mir den Stoß und die dadurch der einen Kugel von der andern mitgetheilte Bewegung darstellt. Der Versuch, von diesem Gefühl eine Erklärung zu geben, würde ein sehr schweres, wo nicht unmögliches Unternehmen | seyn, gerade so, als wenn wir einem, der nie Kälte oder Zorn empfunden hätte, jenes Gefühl und diese Leidenschaft begreiflich machen wollten. GLAUBE ist der wahre eigentliche Name für dies Gefühl, und niemand kann wegen seiner Bedeutung sich in Verlegenheit befinden, da jeder Mensch in jedem Augenblick der durch dieses Wort bezeichneten Empfindung sich bewußt ist. Uebrigens möchte es nicht unzuläßig seyn, eine Beschreibung dieses Gefühls zu versuchen, in Hoffnung, daß wir auf diese Weise zu | einigen Analogien gelangen möchten, die uns einer Ein|sicht in dasselbe näher brächten. Ich sage also, daß Glaube nichts anders ist, als eine stärkere, lebendigere, mächtigere, festere, anhaltendere Vorstellung eines Gegenstandes, als die Einbildungskraft allein je zu erreichen im Stande ist. Diese Mannichfaltigkeit von Ausdrücken, die

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and that which is rejected, were it not for some sentiment, which | distinguishes 431 the one from the other. If J see a billard-ball moving towards another, on a 25 smooth table, J can easily conceive it to stop upon contact. This conception implies no contradiction; but still it feels very differently from that conception, by which J represent to myself the impulse, and the communication of motion from one ball to another. Were we to attempt a definition of this sentiment, we should, perhaps, find it 30 a very difficult, if not an impossible task; | in the same manner as if we should 441 endeavour to define the feeling of cold or passion of anger, to a creature who never had an experience of these sentiments. BELIEF is the true and proper name of this feeling; and no one is ever at a loss to know the meaning of that term; because every man is every moment conscious of the sentiment represented by it. 35 It may not, however, be improper to attempt a description of this sentiment; in hopes we may, by that means, arrive at some analogies, which may afford a more | perfect explication of it. J say then, that belief is nothing but a more vivid, lively, 451 forcible, firm, steady conception of an object, than what the imagination alone 8 Erklärung] Definition

14–15 der … Empfindung] des … Gefühls

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40 Uebrigens möchte es nicht unzuläßig] Gleichwohl mag es nicht übel gethan

16 Beschreibung] Beschreibung 17–18 daß wir … gelangen möchten] dadurch zu einigen Analogien zu gelangen

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sehr unphilosophisch scheinen mag, hat allein zur Absicht, jenen Act der Seele zu bedeuten, in welchem das Reale, oder was dafür gehalten wird, mehr Gegenwart, mehr Gewicht im Verstande, und einen stärkeren Einfluß auf die Leidenschaften und | die Einbildungskraft erhält, als das Erdichtete. Es ist unnütz über Worte zu streiten, wenn wir in der Sache einig sind. Die Einbildungskraft hat über ihre Vorstellungen zu gebieten; sie kann sie auf alle mögliche Weise mischen und verändern; sie kann erdichtete Gegenstände mit allen Umständen des Orts und der Zeit hervorbringen; sie kann sie mit dem vollen Anstrich der Wahrheit, gerade wie sie hätten vorhanden seyn können, uns vor Augen stellen. Da aber dennoch die Einbildungskraft mit diesem Vermögen es für sich allein nie dahin brin|gen kann, den Glauben zu bewürken, so ist es klar, daß der Glaube nicht auf einer besonderen | Natur oder Ordnung der Vorstellungen, sondern auf der A r t ihrer Wahrnehmung, und wie sie von der Seele empfunden werden, beruhe. Ich gestehe, daß es unmöglich ist, dies Gefühl, oder diese Art der Wahrnehmung vollkommen klar zu machen. Es giebt Worte, die etwas ähnliches ausdrücken; a b e r d a s w a h r e e i g e n t l i c h e W o r t d a f ü r i s t Glaube, ein Ausdruck, den jedermann im gemeinen Leben versteht. Und die Philosophie kann | nicht mehr herausbringen, sondern muß dabey stehen bleiben, daß Glaube Etwas von der Seele Gefühltes sey, welches die Bejahung des Würklichen und seine Vorstellung, von den Erdichtungen der Einbildungskraft unteris ever able to attain. This variety of terms, | which may seem so unphilosophical, is intended only to express that act of the mind, which renders realities, or what is taken for such, more present to us than fictions, causes them to weigh more in the thought, and gives them a | superior influence on the passions and imagination. Provided we agree about the thing, it is needless to dispute about the terms. The imagination has the command over all its ideas, and can join and mix and vary them, in all the ways possible. It may conceive fictitious objects with all the circumstances of place and time. It may set them, in a manner, before our eyes, in their true colours, just as they might have existed. But as it is impossible that this faculty of imagination can | ever, of itself, reach belief, it is evident, that belief consists not in the peculiar nature or order of ideas, but in the manner of their conception, and in their feeling to the mind. J confess, that it is impossible perfectly to explain this feeling or manner of conception. We may make use of words, which express something near it. But its true and proper name, as we observed before, is belief; which is a term, that every one sufficiently understands in common life. And in philosophy we can | go no farther than assert that belief is something felt by the mind, which distinguishes the ideas of the judgment from 18 klar zu machen] ins klare zu stellen

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scheidet. Dadurch erhalten jene Vorstellungen mehr Gewicht und Einfluß, setzen sich in größeres Ansehen, durchdringen die Seele, und werden zum herrschenden Prinzipio unserer Handlungen.« Nun, was sagen Sie zu dieser Vorlesung? Er. Was jedermann wird sagen müssen. Nicht | allein derselbige Gebrauch des Wortes Glaube, sondern auch Ihr Satz: daß Glaube das Element aller Erkenntniß | und Würksamkeit sey, liegt hier klar zu Tage. Es scheint sogar, daß Hume unter diesem Satz noch mehr befaßt, und ihm eine sich weiter verbreitende Anwendung giebt, als Sie. Ich. Allerdings. Ich gebe Ihnen hernach das Buch mit nach Hause, damit Sie den ganzen Abschnitt, und auch die beyden folgenden mit Muße und Aufmerksamkeit lesen. Das verzweifelte Wort G l a u b e kommt immer wieder vor, und Sie werden finden, daß wir ohne Glauben nicht vor die Thüre gehen, und weder zu Tische noch zu Bette kommen können. Er. Nun fehlte nichts, als daß Sie auch noch den Gebrauch des Wortes Offenbarung, bey der Wahrnehmung der Dinge ausser uns, aus dem Hume oder sonst einem berühmten Manne von eben so gutem Namen, zu rechtfertigen im Stande wären. | Ich. Was der allgemeine Sprachgebrauch rechtfertigt, sollte das noch eines besondern Beyspiels oder Zeugnisses bedürfen? Wir sagen ja gewöhnlich im Deutschen, | daß die Gegenstände sich uns durch die Sinne offenbaren. Eben so drückt man sich im Französischen, Englischen, Lateinischen und mehreren andern Sprachen aus. Mit dem besondern Nachdruck, welchen ich auf diese Redensart gelegt, kann sie im Hume nicht vorkommen; unter andern deswegen, weil er es überall unentschieden läßt, ob wir Dinge würklich ausser uns, oder blos als ausser uns wahrnehmen. Darum heißt es auch in der Stelle, die ich Ihnen eben vorlas: »das

the fictions of the imagination. It gives them more weight and influence; makes them appear of greater importance, inforces them in the mind; and renders them the governing principle of our actions.« – Hume’s E n q u i r y concerning H u m a n 35 Understanding. Sect. V. – Seite 71–73. im 3ten Bande der von mir angezeigten Ausgabe seiner Essays. 3 Prinzipio] P r i n z i p außer als] a l s 35 Seite] so D1; D2: Seit

21 gutem] geltendem

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Reale, oder was dafür gehalten wird.« Und nach seiner ganzen Denkungsart mußte er, in der speculativen Philosophie, dem skeptischen Idealismus geneigter als dem Realismus seyn. Der entschiedene Realist hingegen, der auf das Zeugniß seiner Sinne äussere Dinge unbezweifelt annimmt; nach dieser Gewißheit jede andere Ueberzeugung abwiegt, und nicht an|ders denken kann, als daß aus dieser Grunderfahrung alle Begriffe, selbst diejenigen, welche wir a priori nennen, müssen hergeleitet werden – Ein solcher entschiedener Realist, wie soll er das Mittel benennen, wodurch ihm die Gewißheit von äusseren Gegenständen, a l s D i n g e n a n s i c h, zu Theil wird? Er hat nichts, worauf sein Urtheil sich stützen | könnte, als die Sache selbst; nichts als das Factum, daß die Dinge würklich vor ihm stehen. Kann er sich mit einem schicklichern Worte, als dem Worte Offenbarung hierüber ausdrücken; ist nicht hier vielmehr die W u r z e l dieses Worts, und d i e Q u e l l e s e i n e s Gebrauchs zu suchen? Er. So scheint es allerdings. Ich. Daß diese Offenbarung eine wahrhaft wunderbare genannt zu werden verdiene, folgt von selbst. Denn wenn man die Gründe für den Satz: daß unser Bewußtseyn schlechterdings nichts anders als bloße Bestimmun|gen unseres eigenen Selbstes zum Inhalt haben könne, gehörig ausführt, so steht der Idealismus, als mit der speculativen Vernunft allein verträglich, in seiner ganzen Stärke da. Bleibt nun der Realist demohnerachtet ein Realist, und behält den Glauben, daß z. B. dieses hier, was wir einen Tisch nennen, keine bloße Empfindung, kein nur in uns selbst befindliches Wesen, sondern ein von unserer Vorstellung unabhängiges Wesen ausser uns | sey, das von uns nur wahrgenommen wird: so darf ich ihn kühn nach einem schicklicheren Beywort für die Offenbarung fragen, deren er sich rühmt, indem er behauptet, daß seinem Bewußtseyn sich etwas ausser ihm darstelle. Wir haben ja für das Daseyn an sich eines solchen Dinges ausser uns gar keinen

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3 geneigter] geneigter, 5–6 annimmt; nach … abwiegt] annimmt, diese Gewißheit als eine ursprüngliche Ueberzeugung betrachtet 6–8 aus dieser Grunderfahrung … hergeleitet werden] auf diese Grunderfahrung aller Ver- 35 standesgebrauch zur Erkenntniß der Außenwelt sich gründen muß, 9 Realist,] Realist 10 von äusseren Gegenständen, a l s D i n g e n a n s i c h] äußerer Gegenstände, als von seiner Vorstellung derselben unabhängig daseyender Dinge 14 Offenbarung] Offenbarung, 21 anders] anders,

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Beweis1, als das Daseyn dieses Dinges selbst, und müssen es schlechterdings unbegreiflich finden, daß wir ein solches Daseyn gewahr werden können. Nun behaupten wir aber, wie gesagt, demohner|achtet, daß wir es gewahr werden; behaupten, mit der vollkommensten Ueberzeugung, daß Dinge würklich ausser uns vorhanden sind: daß unsere Vorstellungen und Begriffe sich nach diesen Dingen, die wir vor uns haben, und nicht, umgekehrt, daß die Dinge, die wir vor uns nur zu haben w ä h n e n , sich nach unseren Vorstellungen und Begriffen bilden. – Ich frage: worauf stützt sich diese Ueberzeugung? In der That auf nichts, als gerade zu auf eine Offenbarung, die wir nicht anders als eine w a h r h a f t w u n d e rbare nennen können. Er. Aber wenigstens doch keine unmittelbare? | Ich. Unmittelbar in Absicht auf uns, weil wir das eigentliche Mittelbare davon nicht erkennen. Aber deswegen zu läugnen, daß sie durch ein natürliches Mittel dennoch geschehe; oder wie der Idealist, das Factum selbst, als der Vernunft entgegen, zu verwerfen: dies halte ich beydes dem ächten philosophi|schen Geiste nicht gemäß. Zu oft setzen wir den innigsten Erfahrungen Schlüsse aus entfernten höchst unvollkommenen Erfahrungen entgegen, und bauen unbegreiflich auf dergleichen Schlüsse. Leibnitz hatte wohl Recht, da er sagte: D i e M e n s c h e n s u c h e n w a s s i e s c h o n w i s s e n , u n d w i s s e n n i c h t w a s s i e s u c h e n 2. Er. Ich bin vollkommen Ihrer Meynung. – Mir schwebt itzt eine Stelle von Hume in Gedanken, auf die ich mich umsonst besinne, wo auch er, bey Gelegenheit der sinnlichen Vorstellungen, von Offenbarung spricht. Erinnern Sie sich nichts davon? Ich. Sie werden eine Stelle meynen, die in demselbi|gen Abschnitte steht, aus dem ich Ihnen zuerst vorlas. Den gegenwärtigen Punkt unserer Unterredung wird sie wohl nicht treffen. Sehen Sie hier! | Er. Ganz richtig. »Zu der Wahrhaftigkeit des höchsten Wesens seine Zuflucht zu nehmen, um die Wahrhaftigkeit unserer Sinne zu 1

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Critik der reinen Vernunft, S. 368. Nouv. Essais. p. 138.

8 uns nur zu haben] uns zu haben nur 20 entfernten höchst unvollkommenen] entfernten, höchst unvollkommenen, 25–26 Gedanken, auf … besinne,] Gedanken, 33 nehmen,] nehmen, (wie Cartesius,) 34 Critik … S. 368. fehlt

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beweisen, wäre ein höchst sonderbarer Umweg. Käme Gottes Wahrhaftigkeit bey dieser Sache im mindesten in Anspruch, so müßten unsere Sinne überall untrüglich seyn; weil Gott unmöglich betrügen kann. Zu geschweigen, daß wenn die äusserliche Welt einmal in Zweifel gezogen wird, schwerlich noch Beweise für das Daseyn Gottes, oder irgend eine seiner Eigenschaften werden aufzutreiben seyn.«1 An der Seite, wo ich glaubte, paßt diese Stelle freylich nicht; aber sie paßt an einer andern, weil sie an die größte Schwierigkeit erinnert, die sich bey dieser Sache überhaupt findet, nemlich zu bestimmen: in wie fern wir, vernünftiger Weise, dem Bericht unse|rer Sinne glauben | dürfen oder nicht. Daß sie uns unaufhörlich betrügen, liegt am Tage, und wenn man der Menge ihrer Täuschungen nachdenkt, so scheint der Argwohn sehr verzeihlich, daß unsere ganze sinnliche Welt, mit unserem Verstande, der sich ganz auf sie bezieht, weiter nichts, als ein optischer Betrug sey. Am mehrsten Genüge hierüber hat mir noch Bonnet mit denen Einschränkungen gethan, die er im XV. Hauptstücke seines analytischen Versuchs vorträgt. Ich. Was Bonnet an diesem Orte sagt, ist würklich sehr gut überdacht. Aber viel d u r c hgedachter und tiefer ausgeholt, was Sie sich erinnern müssen, im Sophyle meines Freundes Hemsterhuis gelesen zu haben. Nach dem Sophyle sind unsere Vorstellungen von den Gegenständen, das R e s u l t a t d e r B e z i e h u n g e n , w e l c h e s i c h z w is c h e n u n s u n d d e n G e g e n s t ä n d e n , u n d allem w a s u n s von den Gegenständen trennt, befinden. So sind | zwischen uns und den sichtbaren Gegenständen, Licht, unsere Augen, der Verfolg der Nerven. Setzen wir | jetzt z. B. für den Gegenstand die Zahl 4; für den Inbegriff von allem, was zwischen uns und dem Gegenstande ist, die Zahl 3; und für die Vorstellung des Gegenstandes, die Zahl 12. Nun wäre freylich 12 nicht =4. Wäre aber die Zahl 4 nicht 4, so wäre 4 multipliciert mit 3, nicht 12. Die Vorstellung =12, ist also weder die reine Vorstellung der für den Gegenstand gesetzten Zahl 4, noch der für den Inbegriff des1

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Hume’s Inquiry concerning Human Understanding. Sect. XII. Im 3ten Theil 35 seiner Essays, S. 215.

12 unaufhörlich] häufig 20 ausgeholt,] ausgeholt, obgleich auch nicht auslangend, 21 müssen,] müssen 24 das] das 25 allem] a l l e m ,

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sen, was sich zwischen ihm und mir befindet, gesetzten Zahl 3, noch der Handlung des Zusammen- und Aufnehmens: sondern sie ist die Vorstellung von 12. Betrachte ich nun z. B. eine Kugel, so giebt der äusserliche Gegenstand, nebst allem was sich zwischen ihm und mir befindet (der gesammte Eindruck und seine Aufnahme in mir), diejenige Vorstellung, die ich eine Kugel nenne. Betrachte ich eine Säule: so giebt der äusserliche Gegenstand, nebst allem was sich zwischen ihm und mir befindet, diejenige Vorstellung, die ich | eine Säule nenne: da aber, was sich zwischen mir und der Kugel befindet, dasselbige ist, was sich auch zwischen mir und der Säule befindet, so muß ich schließen, daß der Unterschied, welchen ich zwischen der Kugel und der Säule wahrnehme, sich in diesen Gegenstän|den selbst befindet. – Sie begreifen, wie fruchtbar an Folgerungen diese Bemerkung seyn muß. Auf diese Weise also zeigt Hemsterhuis, daß eine wahrhafte Analogie zwischen den Dingen und unsern Vorstellungen von ihnen seyn müsse; und daß in den Verhältnissen unserer Vorstellungen, die Verhältnisse der Dinge selbst, auf das genaueste gegeben werden; welches auch die Erfahrung bestätigt, indem sonst schwerlich eine Erfindung der Kunst, deren Ausführung nach einem bloßen Ideal versucht werden muß, je in der Würklichkeit zutreffen und gelingen würde. Er. In der That, diese Vorstellungsart befriedigt sehr. Sagen Sie mir: Hemsterhuis be|hauptet doch auch, daß unsere Ueberzeugung von dem würklichen Daseyn (oder dem Daseyn an sich) der Dinge ausser uns eine unmittelbare Ueberzeugung sey? Ich. Wenigstens streift er nur an den Versuch, sie erst durch den Verstand herauszubringen. Er. Von Bonnet weiß ich, daß er diesen Weg ein|schlägt, und auch unser I c h , erst mit Hülfe der Einbildungskraft, durch eine Operation des Verstandes herausbringt. Ich. Wo wird derselbige Weg n i c h t eingeschlagen? Der Realist aber, wenn er ihn geht, muß nothwendig dem Idealisten in die Schlinge kommen. Er. Helfen Sie mir aus einer, in der ich mich in diesem Augenblick gefangen fühle. Ich glaubte begriffen zu haben, daß unsere 4 allem] allem, 18 selbst,] selbst 23 befriedigt sehr] hat etwas sehr einnehmendes 25 Daseyn (…)] Daseyn 26 unmittelbare] unmittelbare 31 herausbringt] entstehen läßt

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Ueberzeu|gung von dem e i g e n e n Daseyn der Gegenstände unserer Vorstellungen, nur eine unmittelbare seyn könne; und nun deucht mir doch wieder, daß sie auf einer Schlußfolge beruhe. Einen Theil meiner Vorstellungen bringe ich willkührlich hervor, und verknüpfe sie nach Wohlgefallen: hier fühle ich mich als ein thätiges Wesen. Eine Menge anderer Vorstellungen kann ich nicht willkührlich hervorbringen, noch sie beliebig verknüpfen: hier fühle ich mich als ein leidendes Wesen. Die Vergleichung beyder Vorstellungen, der willkührlichen und unwillkührlichen in ihrer Entstehung und Verknüpfung, leitet | mich zu dem Schlusse, daß jene eine Ursache ausser mir haben müssen: folglich zu dem Begriff und der Ueberzeugung, von würklich ausser mir vorhandenen, von meinen Vorstellungen unabhängigen Gegenständen. Ich. So machen Sie es in der That? – Also hier dieser Tisch; dort jenes Schachbrett mit seinen aufgestellten Figuren; meine Wenigkeit | die mit Ihnen spricht: wir werden, nur durch einen Schluß, aus Vorstellungen, für Sie z u D i n g e n a n s i c h? Erst hinten nach, durch einen Begriff, den Sie uns beyfügen, gelangen wir dazu, daß wir wohl ausser Ihnen vorhanden, und nicht bloße Bestimmungen Ihres eigenen Selbstes seyn mögen? – Warum nicht? Die Vorstellung, a l s b l o ß e V o r s t e l l u n g , kann und m u ß ja wohl vorhergehen! Sie ist ja überall das Erste! Würklichkeit, Seyn, nur ein hinzukommendes Prädicat; weil unsere Seele eine Vorstellungskraft ist, folglich die Vorstellung als bloße Vorstellung vorab bewürken muß. Aus dem Orpheischen Ey des Denkbaren, das ist, a u s d e m Principio Contradictionis, gehen die Dinge, ohne den entbehrlichen Umstand der Realität, zuerst hervor; Möglichkeit ist … Er. Hören Sie auf, Sie werden ungeduldig. Ich. Es ist wahr; ich habe Mühe gelassen zu bleiben, wenn ich auf diesen Punkt komme. | Mir ist, als sähe ich die Leute auf den Köpfen gehen, unterdessen sie aus vollem Halse schreyen: Kopf oben! Kopf oben! Und, Kopf ab dem Ketzer, dem K o p f V e r ä c hter, der auf seinen Füßen stehen bleibt!

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16 Wenigkeit] Wenigkeit, 17 z u D i n g e n a n s i c h] zu w i r k l i c h e n G e- 35 genständen 18–19 gelangen wir] kommt es 19–37,6 wir wohl … ungereimte Vorstellung,] Sie uns für etwas außer Ihnen vorhandenes, nicht für bloße Bestimmungen Ihres eigenen Selbstes halten? – / Er. / Das freilich nicht. Aber bleibt es nicht dennoch wahr,

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Er. Sie wissen, daß ich hierüber mit Ihnen gleich denke, und es höchst ungereimt finde, die Materie aus der Form entspringen zu lassen: das Reale dem Idealen, das Würkliche dem Möglichen, die Sache dem Begriff als eine blos hinzukommende Bestimmung nur beyfügen zu wollen. Aber ist es denn eine eben so ungereimte Vorstellung, daß wir die Ueberzeugung von dem würklichen Daseyn der Gegenstände ausser uns daher erhalten, daß uns ihre Vorstellungen ohne unser Zuthun gegeben werden, und wir, bey geöffneten Sinnen, nicht einmal vermögend sind, sie abzuweisen; d a h e r ; daß wir uns dabey p a ß i v fühlen? | Ich. Auch das Bewußtseyn wird uns ohne unser Zuthun gegeben; wir sind auch dieses nicht | vermögend abzuweisen, und fühlen uns dabey nicht weniger paßiv als bey denen Vorstellungen, die wir, von äusseren Dingen, nennen. Worinn liegt nun der Unterschied des leidenden Zustandes in beyden Fällen?1 Er. Ich sehe Licht! – Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das Bewußtseyn zur Wahr|nehmung des Gegenstandes. Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas ausser mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblicke leidet meine Seele vom Gegenstande nicht mehr als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung. Nichts tritt i n d e r Seele zwischen die Wahrnehmung des Würklichen ausser ihr und des Würklichen in ihr. Vorstellungen sind noch nicht; sie erscheinen erst hinten nach, als Schatten der Dinge, welche g e g e n w ä rtig waren. Auch können wir sie immer auf das Reale, wovon sie genommen sind, und welches sie voraussetzen, | zurückführen;

1 Vita est principium perceptivum. Repræsentatio externi in interno, compositi in simplice, multitudinis in uni30 tate, revera perceptionem constituit. SENSIO est perceptio quæ aliquid distincti involvit, & cum attentione & memoria conjuncta est. Leibn. Opp. II. P. I. p. 227. 232. Vorstellungen von äussern Dingen, ohne Empfindung und Bewußtseyn, 35 sind nach Leibnitzens Lehre nicht unmöglich; unmöglich aber, auch nach s e iner Lehre, Empfindung und Bewußtseyn, ohne Vorstellung von äusseren Dingen.

11–12 wird … gegeben] entsteht uns ohne unser Zuthun 13 paßiv] paßiv, 14 wir, von äusseren Dingen,] wir Vorstellungen äußerer Dinge 21 mehr] 25 nach] nach in der Reflexion 28–37 Vita … Dingen. fehlt 40 mehr,

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und wir müssen sie jedesmal darauf zurückführen, wenn wir wissen wollen, ob sie wahr sind. Ich. Sie haben’s gefunden! Aber ich bitte, strengen Sie noch einmal Ihre ganze Aufmerksamkeit an, und fassen Sie Ihr Wesen in dem Punkte einer einfachen Wahrnehmung zusammen, damit Sie ein für allemal inne, und | für Ihr ganzes Leben unerschütterlich überzeugt werden: daß auch bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, das I c h und das D u , inneres Bewußtseyn und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn muß; beydes in demselben Nu, demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach, ohne irgend eine Operation des Verstandes, ja ohne in diesem auch nur von ferne die Erzeugung des Begriffes von Ursache und Würkung anzufangen. Er. Gewiß, mein Freund, ich habe dies nun so gefaßt, daß nie mehr ein Zweifel dagegen in mir aufkommen kann. Mir ist nicht anders, als ob ich am hellen Mittage aus einem tiefen Traum erwachte. Nun helfen Sie mir, wo möglich, aus noch Einem Traume. | Ich sehe vollkommen ein, daß wir bey der bloßen Wahrnehmung äusserlicher Dinge, nichts erfahren, was uns auf den Begriff von Ursache und Würkung leiten könnte. Aber | wie gelangen wir nun zu diesem Begriffe? Es ist schon so viel über diesen Gegenstand geschrieben worden, und wird nun von neuem so viel darüber geschrieben. Mendelssohn in seinen Morgenstunden gründet den Begriff von Ursache und Würkung auf die Wahrnehmung dessen, was beständig unmittelbar auf einander folgt; also, auf Erfahrung und Induction. Dieses läuft aber, wenn man die Sache gehörig auseinander setzt, auf eine bloße Erwartung ähnlicher Fälle hinaus; diese, auf eine angewohnte Verknüpfung in der Einbildungskraft; und so hätte David Hume gesiegt. Ich frage: Sind wir gezwungen ihm diesen Sieg zu lassen? Meine Unterwerfung hat ein unüberwindliches Gefühl bisher verhindert, ob ich gleich in der Welt bey allen Verknüpfungen des Vorhergehenden und Nachfolgenden, würklich nichts weiter wahrnehme, als das Beständige der unmittelbaren Folge. Helfen Sie mir aus dieser Verwirrung, wenn Sie sich nicht etwa selbst darinn befinden. | 9 muß] müssen 10 demselben] in demselben Dv(D2): Dinge 36 Verwirrung] Verlegenheit

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Ich. Ich befinde mich nicht in dieser Verwirrung, habe mich aber ehmals darinn befunden, und ich will Ihnen treu erzählen, wie ich herausgekommen bin. Wenn ich etwas weiter zurückgehe, als Sie es für nöthig halten möchten, so trösten Sie sich damit, daß unsere Aufmerksamkeit einer kleinen Erfrischung wohl bedarf, und daß es zu unserem besseren, selbst zu unserem geschwinderen Fortkommen dienen wird, sie ihr zu gönnen. – Aber lassen Sie mich vorher ins Vorzimmer sehen, ob niemand da herum ist. Denn ich werde nicht von mir erzählen können, ohne von mir selbst zu reden, und Sie wissen, wie leicht bescheidene Leute ein gewaltiges Aergerniß nehmen, und anstatt mit Einem, mit z e h n Mühlsteinen herbey eilen: sintemal sie keine d e r G e r i n g s t e n sind. Er. Ich höre Sie ungern auf diese Weise scherzen, denn es beweist, daß Sie elendes Gewä|sche doch nicht ganz unbemerkt lassen, und ich wüßte nicht, was ich Sie nicht lieber aufs Spiel setzen sähe, als den frischen Muth, wobey Sie jederzeit so offen, und so unbekümmert waren. Ich. Fürchten Sie nichts! Aber Ihre Warnung ist gut, und ich will sie nicht vergessen. Hören Sie nun meine treue Erzählung; und es höre mit wer Lust hat. So lange ich mich besinne, hat mir das angeklebt, daß ich mit keinem Begriffe mich behelfen konnte, dessen äusserer oder innerer Gegenstand mir nicht anschaulich wurde. Objective Wahrheit und Würklichkeit, war in meinem Sinne eins, so wie deutliche Vorstellung des Würklichen und Erkenntniß. Jede Demonstration, die mir nicht, Satz für Satz, auf diese Weise wahr gemacht werden konnte; jede Erklärung, die sich mit keinem Gegenstande intuitiv vergleichen ließ; die aussersinnlich, übersinnlich, oder nicht genetisch war: dafür war ich blind, ganz stockblind. So habe ich | den mathematischen Punkt, die mathematische Linie und Fläche, so lange als bloße | Hirngespinste, oder, nach einem Ausdruck des Voltaire, comme de mauvaises plaisanteries angesehen, bis sie mir nicht mehr v o r dem Cörper, sondern erst n a c h demselben, und in umgekehrter Ordnung erklärt wurden: die Fläche, als das Aeus1 Verwirrung] Verlegenheit 8–21 gönnen. – Aber … Lust hat.] gönnen. – 24 wurde] wurde durch Empfindung oder durch Gefühl 25 war] waren deutliche] klare 29 ließ; die aussersinnlich, übersinnlich, oder] ließ, die 30 ganz stockblind] und verstockt

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serste, das Ende, oder die Grenze des Cörpers; die Linie, als das Aeusserste der Fläche; der Punkt, als das Aeusserste der Linie. Nicht eher verstand ich das Wesen des Cirkels, bis ich seine Entstehung aus der in Einer Richtung fortgesetzten Bewegung einer Linie, wovon das eine äusserste Ende beweglich, das andre unbeweglich wäre, begriff. Er. Und die Natur des Cörpers selbst? Ich. Davon nachher. Ich e r z ä h l e gegenwärtig blos. Diese meine philosophische Idiosynkrasie verursachte mir früh eine Menge unangenehmer | Begegnungen. Dummheit wurde mir beständig, und sehr häufig Leichtsinn, Hartnäckigkeit und Bosheit vorgewor|fen. Aber weder Schimpfworte, noch die härtesten Behandlungen konnten mich von meinem Uebel heilen. Man gewann nur so viel, daß ich selbst eine sehr schlechte Meynung von meinen Geistesfähigkeiten bekam, die mich um so mehr drückte, da sie mit der brennendsten Begierde nach philosophischen Einsichten verknüpft war. Eine sehr glückliche Wendung nahm mein Schicksal, da ich nach Genf kam. Mein Lehrer in der Mathematik, der alte rechtschaffene Durand, rieth mir, die Algeber bey Le Sage zu hören, und führte mich bey demselben ein. Le Sage wurde mir bald sehr gut, und ich hieng an ihm, von meiner Seite, mit der innigsten Ehrfurcht, und dem liebevollesten Zutrauen. An einem Morgen, da ich es nach der Lehrstunde wagte, den vortreflichen Mann wegen eines wissenschaftlichen Anliegens um Rath zu fragen, erkundigte er sich umständlicher nach | der Eintheilung meiner Stunden, und jedem Gebrauch meiner Zeit. Er wunderte sich, da er hörte, daß ich keinen Unterricht in der Philosophie nähme, sondern sie blos für mich triebe. Ich versicherte ihn, ich wäre von so schwerem und lang|samem Begriff, daß ich bey jedem auch dem deutlichsten Lehrer zurückbliebe, folglich aus dem Zusammenhange käme, und nur meine Zeit verlöre. – »Vous êtes malin!« sagte Le Sage lächelnd. – Ich wurde über und über roth, wie eine Flamme, und stammelte eine Betheurung nach der 4 in Einer Richtung fortgesetzten Bewegung] Bewegung 5–6 beweglich, das andre unbeweglich] vest, das andre beweglich 6 begriff.] begriff. Fußnote: S. Simsons Euklid. Anm. zur ersten Erklärung, und B. d. S. Opp. posth. p. 387.589. 20 Algeber] so auch D2; Dv(D2): Algebra

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andern heraus, daß ich im Ernst gesprochen hätte. Ich versicherte, daß ich von Natur der unfähigste Mensch wäre, der je gebohren worden, und allein durch den hartnäckigsten Fleiß etwas von meiner Dummheit überwunden hätte. Ich war reich an Erläuterungen und Beyspielen, die Wahrheit meiner Aussage zu bekräftigen, und es recht augenscheinlich zu machen, daß es mir durchaus an glücklichen Anlagen fehle; an Penetration, an Einbildungskraft, an allem. Le Sage that verschiedene Fragen, die ich mit der Treuherzigkeit eines Kindes beant|wortete. Er faßte darauf meine Hand in seine beyden Hände, und drückte sie mit einer Bewegung, die ich noch fühle. An dem Abend desselbigen Tages hörte ich etwas meine Windeltreppe heraufkommen ins vierte Stock, und mit einem sachten Pochen an meine Thüre die Worte: »Est-il permis?« – Eine bekannte Stimme. Ich flog auf, und vor mir stand Le Sage. | Er. Mir klopft das Herz, indem ich mir vorstelle, wie Ihnen seyn mußte. Dergleichen Erscheinungen hat man nur in d e m Alter, unter s o l c h e n Umständen; sie gehören in die Zeit der Patriarchen und der Unschuld, wo die Himmlischen noch die Hütten der Sterblichen besuchten. Ich. Denken Sie Sich einen feurigen, und eben so weichherzigen Jüngling, voll Schüchternheit und Mißtrauen in sich selbst, und voll Enthusiasmus für jede höhere Geisteswürde … | Mit diesem Abend fieng eine neue Epoche meines Lebens an. Le Sage zeigte mir an verschiedenen Beyspielen, daß was ich geglaubt hatte nur nicht begreifen zu können, größtentheils entweder leere Worte oder Irrthümer waren; ermahnte mich auf meinem Wege getrost fortzugehen, und allenfalls nur auf sein Wort, wenn ich nicht anders könnte, guten Muth zu fassen. Ich äusserte den Wunsch, über S’Gravesande Introductionem ad Philosophiam, mit nicht mehr als zwey oder drey andern Studierenden, einen Privatunterricht von ihm zu erhalten. Er versprach, dieses | sogleich ins Werk zu richten, welches auch geschah. Durch meinen liebreichen Gönner kam ich bald in die vortheilhaftesten Verbindungen, unterdessen ich von ihm selbst, als wäre ich sein leiblicher Sohn, geleitet und bewacht wurde; letzteres auf eine damals von mir unbemerkte Weise, indem er seine Väterliche Sorgfalt, unter den

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Aeusserungen und Begegnungen einer beynah Brüderlichen Vertraulichkeit mit der holdesten Zärtlichkeit zu verbergen wußte. So verstrichen mir zwey der glücklichsten, | und gewiß der fruchtbarsten Jahre meines Lebens. Ich hatte mich unter die Medicinische Facultät begeben, und lag meinem Vater an, mich nach Glasgow zu schicken: da auf einmal meine Aussichten verrückt, und die Anschläge meiner Gönner und Freunde vernichtet wurden. Meine Zurückkunft nach Deutschland traf gerade in die Zeit der Aufgabe der Berliner Akademie über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften. Keine Frage hätte meine Aufmerksamkeit in einem höheren Grade reitzen können. Ich erwartete mit Sehnsucht die Herausgabe der Abhandlungen. Dieser Zeitpunkt | erschien, und wurde mir auf eine doppelte Weise merkwürdig. Die gekrönte Schrift erfüllte die Erwartungen nicht, die der Name des damals schon sehr berühmten philosophischen Verfassers in mir erregt hatte. Desto größer war die Ueberraschung, da ich in der zweyten Abhandlung, die nur hatte accedieren können, Winke und | Aufschlüsse fand, die meinen Bedürfnissen nicht angemessener hätten seyn können. Diese Abhandlung verhalf mir zur vollkommenen Entwickelung derjenigen Begriffe, in welchen die Ursache meiner so hart bescholtenen Ungelehrigkeit, das ganze Geheimniß meiner Idiosynkrasie verborgen lag. In der gekrönten Abhandlung war es mir besonders auffallend gewesen, den Beweis vom Daseyn Gottes aus der Idee so weitläufig erörtert, und seine Bündigkeit mit so großer Zuverläßigkeit behauptet zu finden. Der Zustand, in welchen ich über dem Lesen dieser Abschnitte gerieth, war von der sonderbarsten Art. Er. Wie, Sie kannten diesen Beweis, oder seine Ausführung noch so wenig? | Ich. Ich kannte beydes. Da mir aber dieser Beweis in jeder Gestalt als subreptiv gleich aufgefallen war, und ich überall nur die Bestätigung meines Urtheils gefunden hatte: so | kam die gegenwärtige späte Störung in dieser Ruhe mir ganz unerwartet. Er. Der Beweis machte also diesesmal doch mehr Eindruck auf Sie? Ich. Das nicht. Ich fühlte nur die Nothwendigkeit, ihn jetzt aus dem Grunde zu studieren, um seinen Fehler augenscheinlich 32 überall] bey wiederholter Untersuchung

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darthun zu können, und seine Kraft bey andern mir selbst vollkommen begreiflich zu machen. Er. Ich verstehe Sie nicht genug. Ich. Sie sollen mich sogleich verstehen. Immer war das meine Art, wenn ich Behauptungen, die mir ungegründet oder irrig schienen, von einem guten Kopf so vorgetragen fand, daß der Vortrag selbst bewies, | er habe die Sache reiflich, mehr als einmal, und von verschiedenen Seiten betrachtet: daß es mir dann | nicht genug war, von meiner entgegen gesetzten Meynung zu wissen, daß sie auf eben so reifliches Nachdenken gegründet sey, um so fort zu schließen, weil Wahrheiten nicht miteinander im Widerspruch stehen können, daß die mit meiner, als Wahrheit erwiesenen Meynung im Widerspruch stehende Behauptung, schlechterdings ein Irrthum seyn müsse. Ich hatte zu meiner Beruhigung ganz andere Dinge nöthig. Bey mir kam es darauf an: nicht die entgegen gesetzte Behauptung ungereimt, sondern sie vernünftig zu machen. Ich mußte den Grund des Irrthums, seine Möglichkeit in einem guten Kopfe entdecken, und mich dergestalt in die Denkungsart des Irrenden versetzen können, daß ich ihm nachzuirren, und mit seiner Ueberzeugung zu sympathisieren im Stande war. Eh’ ich es dahin gebracht hatte, konnte ich mich nicht überreden, den Mann mit dem ich kämpfte, recht gefaßt zu haben. Ich warf, wie billig, lieber Verdacht auf mich selbst, argwohnte Blödsinn von meiner Seite, und vermuthete an der andern tieferen Verstand, und eine Menge | Gründe im Hinterhalt. Nie bin ich von | dieser Weise abgegangen, und hoffe, sie bis an mein Lebens Ende zu behalten. – Nun denke ich, werden Sie den Zustand leicht begreifen, in den ich über dem Lesen der kritischen Stellen in Mendelssohns Abhandlung gerieth. Er. Vollkommen. Sie sahen, er stand noch, nun seit mehr als hundert Jahren, dieser Beweis, den ein Cartesius aufgefunden und bearbeitet, ein L e i b n i t z angenommen, und noch einmal bearbeitet hatte, und auf den noch immer trefliche Weltweisen mit vollkommener Zuversicht sich stützten. Nach Ihren Grundsätzen hiebey zu verfahren, war ein Unternehmen, vor dem Sie schon etwas zurückbeben durften. 30–34 nun seit … bearbeitet hatte] der alte Beweis, den vor hundert Jahren Cartesius neu bearbeitete, L e i b n i t z ernstlicher prüfte und annahm 33 Weltweisen] Denker

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Ich. Ich griff ohne weiteres die Sache an, indem ich, nach meiner Gewohnheit, rastlos den historischen Faden verfolgte. Und hier ist die Epoche meiner näheren Bekanntschaft mit den Schriften des Spinoza. Ich hatte im | Leibnitz gelesen, daß der Spinozismus der übertriebene Cartesianismus sey. Die Principia Philosophiæ Cart. des Spinoza waren mir bekannt, und ich erinnerte mich aus den angehängten Cogitatis Metaphysicis, was für eine von der | Cartesianischen ganz verschiedene Anwendung der Beweis vom Daseyn Gottes aus dem Begriffe dort erhielt. Die Opp Posth. besaß ich nicht, fand aber glücklich bey einem Freunde, unter Wolfs Schriften, die E t h i k in einer Uebersetzung, welche der Wolfischen Widerlegung vorgedruckt war. Hier stralte mir der Cartesianische Beweis in seinem vollen Licht entgegen, und alles was ich suchte war mit einem Mal gefunden. Meine Freude wurde durch die Betrachtung unterbrochen, daß die Wahrheit anstatt dem Menschen entgegen zu kommen, ihn zu fliehen scheine, und den größten Scharfsinn oft am weitesten hinter sich zurücklasse. Denn was kann klarer und deutlicher, was kann selbst auffallender seyn, als die Wahrheit folgender Sätze. Das Seyn ist keine Eigenschaft, sondern es | ist das, was alle Eigenschaften trägt. Die Eigenschaften sind d e s Seyns; sind nur an ihm; Modificationen, Aeusserungen desselben. Folglich: da alle Dinge nur als Beschaffenheiten eines zum Grunde liegenden Realen, oder Absoluten Seyns, gedacht werden können: so ist es ungereimt, ihre Mö glichkeit als das E r s t e zu setzen, und von dieser Möglichkeit zu reden, als wenn sie etwas absolutes wäre, das für sich bestehen oder wenigstens gedacht werden könnte; ungereimt im höchsten Grade, anstatt die Beschaffenheiten aus dem Realen herzuleiten, das Reale aus den Beschaffenheiten herleiten zu wollen. Der Begriff von Gott ist aus Vorstellungen von Beschaffenheiten zusammen gesetzt. Es muß dargethan werden, daß diese Beschaffenheiten s i c h i m S e y n b e f i n d e n , wenn man einen Gott darthun will. Ist nun der Begriff von Gott nach der Weise des Spi-

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4 im] in 13–46,7 entgegen, und … einem Freunde] entgegen; nämlich für 35 welchen Gott er gelte, und für welchen durchaus nicht. / Meine Betrachtungen über diesen Gegenstand faßte ich in einen Aufsatz zusammen, dem ich die größte Klarheit und Bündigkeit zu geben bemüht war. Ich zeigte ihn, sobald er vollendet war, einem sehr scharfsinnigen Manne

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noza gebildet, so daß das höchste Wesen nichts anders als das Reale selbst ist, und seine Werke nichts anders als die Beschaffenheiten dieses | Realen: dann hat es mit der Cartesischen Demonstration seine gute Richtigkeit, und der Begriff von Gott ist zugleich der unumstößliche Beweis seines nothwendigen Daseyns. Ist aber der Begriff von Gott aus Deistischen Vorstellungen zusammengesetzt, nach welchen Gott nicht sowohl das höchste, als ein Wesen a u s s e r allen Wesen ist: alsdann läßt sich weder die innerliche Wahrheit des Begriffes aus ihm selbst darthun, noch seine Verknüpfung mit dem nothwendigen Daseyn zu Stande bringen, wenn man auch vorläufig die wahre Ordnung der Dinge ganz umkehren wollte, um die Materie aus ihrer Form, das Reale oder das Subject aus seinen Prädicaten, die Sache aus ihren Beschaffenheiten entstehen zu lassen. Er. Ich finde dies alles ganz ungemein klar. Aber Ihre Bemerkung: daß die Wahrheit, anstatt dem Menschen entgegen zu kommen, ihn zu fliehen scheine, ist nicht in meiner Art zu sehen. Mir däucht die Wahrheit kommt dem Menschen nicht allein entgegen, sondern | sie dringt sich ihm auf. Wenn er aber, mißtrauisch gegen ihren Unterricht, sich von ihr wegwendet, so erhebt sie nicht die Stimme, um sich Gehör zu erzwingen. Aber sie verstummt auch nicht, und verläßt nicht ihren Platz. Sieht der Abgewendete im Entweichen sich öfter nach ihr um, so wird seine Bewegung sphärisch, und er findet sich am Ende wieder an der Stelle, wo er sie verließ. Sieht er hingegen im Entweichen sich nie mehr nach ihr um, so verliert er sie auf immer. – Mit andern Worten. Es kostet dem Menschen viel saure Mühe und Arbeit, bis er es dahin bringt, seinen Sinnen, der natürlichen Verknüpfung ihrer Vorstellungen im Verstande, und den daraus gezogenen gemeinen Schlüssen der Vernunft, nicht mehr zu trauen. Nachdem er sich unter die Oberfläche, wo es hell war, ins Dunkle gewühlt hat, kommt alles auf die Richtung an, die er gewinnt. Ist die Richtung schief, so verschwindet ihm bald auch der letzte Schimmer von Licht, und er gräbt in tausend Krümmungen ewig unter der Rinde fort. Ist aber seine Richtung senkrecht, | so trift er, wenn ihm die Kräfte nicht ausgehen, auf den Kern, und lernt das Aeussere aus dem Inneren, den Schein aus dem Wesen verstehen. – Ich sage, was ich ahnde, nicht was ich selbst erfahren habe.

1 anders] D1: auders

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Ich. Wie liebe ich Sie wegen dieser Ahndung, die so ganz auch die meinige ist, wie Sie bald hören werden. Lassen sie uns eilen! Da ich mit dem Cartesianischen Beweise im Reinen war, trug ich meine Betrachtungen darüber in einen kleinen Aufsatz, der sich noch unter meinen Handschriften finden muß, zusammen. Diesen Aufsatz zeigte ich einem Freunde, der Metaphysik mit Eifer unter Wolf und Meier studiert hatte, und ein sehr scharfsinniger Mann war. Und nun stellen Sie sich meinen Verdruß vor: weder mein Aufsatz, noch alle Erläuterungen, die ich mündlich hinzuthat, konnten meinen Freund von seinem Glauben an den Cartesianischen Beweis abbringen. Dasselbige begegnete mir | mit einem andern Gelehrten, einem Schüler des Daries, und sehr philosophischen Kopfe, der in einer benachbarten Stadt wohnte. Das Fehlschlagen dieser | beyden Versuche lag mir auf eine unangenehme Weise in Gedanken, und ich sann auf Mittel, wie sich die Sache noch deutlicher machen ließ. Um diese Zeit kam mir der XVIIIte Theil der Litteraturbriefe zu Gesicht, welcher die Beurtheilung von K a n t s e i n z i g möglichen B e w e i s g r u n d z u e i n e r D emonstration vom Daseyn Gottes enthält. Der g n ä d i g seyn wollende, nicht sehr empfehlende Ton, in welchem hier von dieser Schrift gesprochen wird, verhinderte mich nicht, im höchsten Grade aufmerksam auf sie zu werden Die ausgezogenen Sätze und Stellen sagten mir genug1. Meine Begierde, die Abhand|lung |

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Briefe, die neueste Litteratur betreffend, Th. XVIII. S. 69. u. f. f. 25 »Das Daseyn ist gar kein Prädikat oder Determination von irgend einem Dinge; sondern es ist die absolute Position eines | Dinges, und unterscheidet sich dadurch von einem jeglichen Prädikat, welches als ein solches jederzeit blos Beziehungsweise auf ein anderes Ding gesetzt wird. – Das Daseyn kann also nicht als eine Beziehung auf ein Ding angesehen werden; sondern es ist das Ding 30 selbst, es ist das Subject, darauf alle Eigenschaften, die durch den Namen des Dinges bezeichnet werden, Beziehung haben. – Daher muß man nicht sagen: Gott ist ein existierend Ding; sondern umgekehrt: ein gewisses existierendes Ding ist Gott, oder es kommen ihm alle die Eigenschaften zu, die wir unter dem 35 Namen Gott begreifen.« | »Die innere Möglichkeit setzt allezeit ein Daseyn voraus. Wenn kein Materiale, kein Datum zu denken wäre, so könnte auch keine innere Möglichkeit 8–9 und ein sehr scharfsinniger Mann war] folglich einem wohl competenten Richter 13 Daries,] Daries 16–17 wie sich … machen ließ] meine Sache 40 noch deutlicher zu machen 19 möglichen] möglichem 8 Meier] so DvD2; D1: Mayer

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selbst zu besitzen war so groß, daß ich, um | sicherer zu gehen, zugleich an zwey verschiedene Orte darum schrieb. Ich hatte keine Reue über meine Ungeduld. Gleich die erste Betrachtung, vom Daseyn überhaupt, schien mir denselben Mann zu verrathen, der mich durch seine accedierte Abhandlung über die Evidenz in | einem so hohen Grade schon verpflichtet | hatte. Meine Freude stieg unter dem Fortlesen bis zum lauten Herzklopfen; und ehe ich an mein Ziel, das Ende der IIIten Betrachtung gekommen war, hatte ich verschiedene Male aufhören müssen, um mich zu einer ruhigen Aufmerksamkeit von neuem fähig zu machen. Er. Sie erinnern mich an Malebranche, der ein ähnliches Herzklopfen bekam, da er von ohngefähr über des Cartesius Abhandlung vom Menschen gerieth. Fontenelle macht dabey eine schöne Anmerkung. »Die unsichtbare und unnützliche Wahrheit,« sagt er, »ist nicht gewohnt, so viel Anhänglichkeit und Wärme bey den Menschen anzutreffen; und die gewöhnlichsten Gegenstände ihrer Leidenschaften müssen oft mit weniger zufrieden seyn1.« | Ich. Sie thun mir auf alle Weise zu viel Ehre mit dieser Vergleichung an. Meine Freude war zu stark mit persönlichem Interesse untersetzt. Aber ich könnte Ihnen ein Beyspiel erzählen, das mir etwas rühmlicher ist, wo ich in einen ähnlichen Zustand bey

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gedacht werden. Wäre nun alles Daseyn aufhoben, so wäre nichts absolute gesetzt, und überhaupt also auch nichts gegeben; es wäre also auch kein Mate25 riale zu etwas Denklichen da, folglich fiele auch alle innere Möglichkeit hinweg. – Die innere Möglichkeit | muß also ein Daseyn voraussetzen, und jedes innere 861 Mögliche hat, quoad materiam, seinen Realgrund im Daseyn der Sache.« »Weil alles Mögliche etwas Würkliches voraussetzt, wodurch das Materiale alles Denklichen gegeben wird, so muß eine gewisse Würklichkeit seyn, deren 30 Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige, dessen Aufhebung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings nothwendig. Also existiert etwas absolut nothwendiger Weise.« »Was den letzten Grund von einer inneren Möglichkeit enthält, muß ihn von allen überhaupt enthalten, und es kann dieser Grund nicht in verschiedene 35 Substanzen vertheilt seyn.« 1 L’invisible & inutile verité n’est pas accoutumée à trouver tant de sensibilité parmi les hommes, & les objets les plus ordinaires de leurs passions se tiendroi881 ent heureux | d’y en trouver autant. Oeuvres de Fontenelle, Tom. V. p. 430. 20–49,6 an. Meine … meine Antwort] an; es war diesmal zu viel persön|liches 1922 40 Interesse mit im Werk; andere Beyspiele könnte ich erzählen, die mir vielleicht

etwas rühmlicher sind. – Doch zur Antwort nun chem 34 allen] allem

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einem Buche gerieth, mit dessen Inhalt eine solche Erscheinung bis zum Lächerlichen contrastiert. Es war eine Vernunftlehre! Die Vernunftlehre des Reimarus. Er. Und das kam so ganz allein von dem Buche? Ich. Wie es möglicher Weise von ihm allein nur kommen konnte. Eine Beziehung auf mich mußte freylich da seyn. Ich hatte die besten Vernunftlehren gelesen und studiert; hatte sogar selbst schon eine zusammengereimt; aber | keine, auch nicht mein eigenes Gemächte, stimmte im Gange der Entwickelung und der Bestimmung eines Begriffes durch den andern nach diesem Gange, zu meiner individuellen Sinnes- und Denkensart, wie die von Reimarus1. | 1 Seit einem Jahre bin ich Unbescheidener (S. über Bescheidenheit und Unbescheidenheit Anti-Götze IV. S. 14.) ein paar Mal von bescheidenen Gelehrten ermahnt worden, mich der ersten Sätze der Logik zu erinnern. Ich will diese Humanität durch eine andere erwiedern, indem ich einige §§. aus der Einleitung zur Vernunftlehre des vortrefflichen Reimarus hier einrücke, deren wiederholte Einschärfung nicht anders als sehr nützlich seyn kann. §. 21. »Weil die Erfahrung lehret, daß wir nicht von allen und jeden Dingen so klare und deutliche Vorstellungen haben, als zur Einsicht ihrer Einstimmung und ihres Widerspruchs erfordert wird, so hat die Vernunft in ihrem Gebrauche Schranken. Alles, wovon wir eine zur Vergleichung erforderliche Klarheit und Deutlichkeit | haben, ist innerhalb der Schranken der Vernunft, und gehöret vor ihren Richterstuhl. Aber, wo wir die zur Vergleichung nothwendige Klarheit und Deutlichkeit nicht haben, da ist die Sache ausser den Schranken unserer Vernunft, wir haben keinen rechten Begriff davon, und können nicht davon urtheilen.« §. 25. »Weil sich der richtige Gebrauch der Vernunft nach den Schranken der erforderlichen Klarheit und Deutlichkeit richtet: so besteht der M i ßbrauch der Vernunft in einer solchen Anwendung der Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs auf vorkommende Fälle, welche über die Schranken der erforderlichen Klarheit und Deutlichkeit gehen.« »Man wird also die Vernunft mißbrauchen, wenn man, bey unzulänglicher Klarheit und Deutlichkeit, etwas gegen die erste Regel, für nothwendig; gegen die IIte Regel, für unmöglich; gegen die IIIte Regel, für mög|lich; gegen die IVte Regel, für gewiß; gegen die Vte Regel, für wahrscheinlich hält. Wie nun der richtige Gebrauch der Vernunft zur Wahrheit führet: so ist der Mißbrauch der Vernunft die Q u e l l e a l l e s I r r t h u m s . « §. 26. »Allein, niemand kann wissentlich ohne und wider die Regeln der Vernunft etwas gedenken. Da nun doch alle Irrthümer daraus entstehen, daß wir ohne und wider die Regeln der Vernunft etwas gedenken: so muß aller Irr-

13–49,40 Seit … S. 15. 20 & 21. fehlt 38 Irrthums.«] D1: Irrthums.

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Er. Das heißt: Sie sahen sich in einem Spiegel, welcher Sie verschönerte. | Ich. Oder machte mir nur weiß, daß die Gestalt | die ich erblickte, d i e m e i n i g e i n e i n e m S p i e g e l s e y ? Glauben Sie Ihrem Urtheile, wenn Sie können, und hören Sie nur jetzt meine Antwort auf Ihre Frage über Ursache und Würkung. Aus dem, was ich Ihnen über meine Methode zu philosophieren, die ich Sie nur wollte recht ins Auge fassen lassen, gesagt habe, können Sie leicht urtheilen, daß es keine schlechtere giebt, um geschwinde von der Stelle zu kommen. Ich brauchte Wochen, wo andre nur Stunden; Monate, wo sie nur Tage; Jahre, wo sie Monate gebrauchen. Ein solches langsames Weiterkommen hat aber das Gute, daß man um dies wenige | denn in der That doch weiter kommt, und den Verdruß nicht hat, indem man abschneiden wollte, in die Irre gerathen zu seyn, und nun auf dem Rückwege sich noch zehn, noch zwanzigmal aufs neue zu verirren. Hingegen auch das Böse, daß es marternd ist bis zur Verzweiflung, an schwürigen Stellen auszuhalten, bis entscheidende Merkmale des rechten Weges sich entdecken. An eine solche Stelle kam ich, da ich die Möglichkeit der Entstehung eines würklichen Dinges in der Zeit, aus der Möglichkeit der Entwickelung einer | deutlichen Vorstellung aus einer verworrenen, begreiffen, und das principium generationis aus dem principio compositionis herleiten sollte. Wenn ich den Satz des Grundes recht gefaßt hätte, stand in meinen Büchern, so müßte ich auch die nothwendige Verknüpfung von Ursache und Würkung in der Zeit, oder die Quelle des würklichen Aufeinanderfolgens deutlich einzusehn im Stande seyn.

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thum aus der Unwissenheit unseres Mangels an der zur Einsicht erforderlichen 30 Klarheit und Deutlichkeit, d. i. aus der Unwissenheit unserer Vernunft-

schranken, entstehen. Solche Unwissenheit seiner Vernunftschranken bringen eines Theils die Schranken der Vernunft selbst mit sich; indem einer, so zu reden, kein Arges daraus hat, daß noch ein mehreres zur Einsicht erfordert werden sollte. Andern 35 Theils setzet eine starke Neigung und Abneigung des Willens, | den Verstand, 921 durch Uebereilung, in die Unwissenheit seines Mangels an nöthiger Einsicht. Denn, wenn man allzu wißbegierig ist, oder zum voraus gerne will, daß etwas wahr oder falsch sey, so ist man nicht geneigt, zu untersuchen, ob man auch genug Erkenntniß dazu habe.« Reimarus Vernunftlehre, 3te Aufl. Ham40 burg, 1766. S. 15. 20 & 21. 6 Ursache und Würkung] U r s a c h e u n d W i r k u n g

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Der Satz des Grundes läßt sich leicht er|klären und beweisen; er sagt weiter nichts aus, als das totum parte prius esse necesse est des Aristoteles; und dieses totum parte prius esse necesse est heißt, in dieser Beziehung, wieder nichts anders, als idem est idem. Drey Linien, die einen Raum einschließen, sind der Grund, das principium essendi, compositionis, der in einem Triangel befindlichen drey Winkel. Der Triangel aber ist nicht vor den drey Winkeln da, sondern beyde sind zugleich in demselben untheilbaren Augenblick vorhanden. Und so verhält es sich überall, wo wir eine Verknüpfung von Grund und Folge wahrnehmen; wir werden uns nur des Mannichfaltigen in einer Vorstellung bewußt. Weil aber dieses succeßiv geschieht, und eine gewisse Zeit darüber | verfließt, so verwechseln wir dieses Werden eines Begriffes mit dem Werden der Dinge selbst, und glauben die würkliche Folge der Dinge eben so erklären zu können, wie sich die ideale Folge der Bestimmungen unserer Begriffe, aus ihrer nothwendigen Verknüpfung in Einer Vorstel|lung erklären läßt. – Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich genug mache? Er. Ich glaube Sie zu verstehen. Ich. Sie müssen nicht g l a u b e n . Nafe, kaì mimnaß çpistein! Ich will suchen mich noch deutlicher zu machen. Stellen Sie sich einen Zirkel vor, und machen Sie sich davon einen deutlichen Begriff. Wenn der Begriff genau bestimmt ist, und nichts ausserwesentliches enthält, so wird das Ganze, welches Sie sich vorstellen, eine ideale a b s o l u t e Einheit haben; und alle Theile werden, nothwendig miteinander verknüpft, aus dieser Einheit hervorgehen. Nun haben wir, wenn wir von einer nothwendigen Verknüpfung des Successiven reden, und das Verknüpfende selbst i n d e r Z e i t uns da|bey vorzustellen glauben, nie etwas andres w a h r h a f t in Gedanken, als gerade ein solches Verhältniß wie das bey’m Zirkel; ein Ver|hältniß, worin alle Theile zu einem Ganzen würklich schon vereinigt, u n d z u g l e i c h v o rhanden sind. Die Succeßion, d a s o b j e c t i v e W e r d e n lassen wir aus; als wenn es sich von selbst begriffe, wie es sinnlich sich von selbst vor Augen stellt; da doch gerade dieses, nemlich das Vermittelnde der Begebenheit, der Grund des Geschehens, das 21 mich noch deutlicher zu machen] noch deutlicher zu werden 22–23 machen Sie sich davon einen] erheben Sie diese Vorstellung zu einem 25 ideale a b s o l u t e] ideale 31 bey’m] bey dem 32 vereinigt,] vereinigt

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Innere der Zeit, kurz das principium generationis dasjenige ist, was eigentlich erklärt werden sollte. – Sind Sie nun gewiß, daß Sie mich verstehen? Er. Ich will Sie in den Stand setzen selbst darüber zu urtheilen, indem ich Ihre Hauptsätze wiederhole. Aus dem Begriffe eines Dreyecks, folgt der Begriff dreyer in ihm befindlicher Winkel, und das Dreyeck ist auch der Zeit nach im Begriffe, oder subjectiv, würklich vor den drey Winkeln. In der Natur aber oder o b j e c t i v sind die drey Winkel und das Dreyeck zugleich. Und so sind auch Ursache und Würkung im | Vernunftbe|griffe überall zugleich und i n einander. Dieser Vernunftbegriff ist aus dem Verhältniße des Prädikats zum Subject, der Theile zu einem Ganzen genommen, und enthält gar nichts von einem Hervorbringen oder Entstehen, das objectiv, oder ausser dem Begriffe wäre. Ich. Sehr gut. – Aber wird uns dies nicht zwingen anzunehmen, daß in der Natur alles zugleich, und was wir Succeßion nennen, eine bloße Erscheinung ist? Er. Sie haben diesen paradoxen Satz schon in Ihrem ersten Briefe an Mendelssohn vorgetragen1. Aber mir deucht, er kann weder | dem Spinoza zugehören, noch von Ihnen im Ernst angenommen werden. | Ich. Dieser allerdings paradoxe Satz gehört nicht dem Spinoza, und wird auch von mir nur als bloße Folgerung behauptet. Seit fünfzehn Jahren und länger, habe ich ihn gegen manchen Philosophen vertheidigt, und keiner hat mir im Schlusse einen Fehler zeigen können. Aber Mendelssohn war der erste der es unbedenklich fand ihn gelten zu lassen. 1

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»Im Grunde ist das, was wir Folge oder Dauer nennen, bloßer Wahn; denn

30 da die reelle Würkung mit ihrer vollständigen reellen Ursache zugleich,

und allein der Vorstellung nach von ihr verschieden ist: so muß Folge und Dauer n a c h d e r W a h r h e i t , nur eine gewisse Art | und Weise seyn, das Man- 981 nigfaltige im Unendlichen anzuschauen.« Briefe über die Lehre des Spinoza. S. 17. 6 Dreyecks,] in drey Linien eingeschlossenen Raumes 9 aber oder o b j e c t i v] 15 wäre.] wäre. Fußnote: Vergl. Von den göttlich. Dingen. Beyl. C. 27 erste] erste, 30 reelle Würkung] r e e l l e W i r k u n g vollständigen reellen] vollständigen reellen 32 Dauer n a c h d e r Wahrheit,] Dauer, nach d e r W a h r h e i t 34 S. 17.] S. 17. der ersten Ausg.

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Er. Wenn ich nicht irre, so tadelte er blos, daß Sie Wahn anstatt Erscheinung geschrieben hatten? Ich. Nichts als dieses1. Ich weiß aber noch | immer nicht, warum man eine Erscheinung, die gar nichts objectives enthält, und sich dennoch als etwas objectives darstellt: warum man eine solche leere Erscheinung nicht einen Wahn nennen sollte? Das objective Vor|bilden derselben ist ja a l s o b j e c t i v , ein eigentliches Blendwerk, und keine Erscheinung. Er. Und ich begreife nicht, wie die objective Erscheinung der Folge, eine blos subjective Art und Weise seyn sollte, das Mannigfaltige im Unendlichen anzuschauen. Wenn Sie den Apfel, den Sie da eben schälen, nun gleich durchschneiden, so werden wir Kerne zu sehen bekommen; und wenn Sie von diesen Kernen künftiges Frühjahr einen in die Erde stecken, so wird nach einigen Monaten aus | ihm ein Reis in die Höhe schießen. Und nun möchte ich wissen, wie diese Folge von Erscheinungen im Würklichen sich a u s e i n e r A r t u n d W e i s e d a s M a n n i g f a l t i g e i n d e m U n e n dlichen anzuschauen begreifen ließe. Die objective Folge, die ich in den Dingen wahrnehme, ist ja etwas noch ganz anderes, als das Succeßive der Handlung des Wahrnehmens i n m i r . Und auch ohne diese offenbare Verschiedenheit: W a s m a c h t d e n n d a s Successive im Denken um ein Haar begreiflicher, als d a s S u c c e s s i v e i n a n d e r n Erscheinungen? Müssen wir dies Succeßive im Denken nicht aus den Organen, aus dem Allmählichen der Bewegung, welcher sie unterworfen sind: f o l g l i c h a u s et wa s au s s er de r De nkk ra f t e r k l är e n? Wären die Gegenstände alle zugleich, das ist, in unveränderlichen Ver|hältnissen dem denkenden Wesen auf einmal gegenwärtig, so würden sie auch nur E i n e unveränderliche Vorstellung in ihm ausmachen. Ich. Sie kommen mir den halben Weg entge|gen. Also, d a s Successive selbst ist das Unbegreifliche; und der Satz des zurei1

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In den Erinnerungen. »Was Sie hierauf von Folge und Dauer sagen, hat völlig | meinen Beyfall, nur daß ich nicht sagen würde, sie seyn bloßer Wahn. Sie sind nothwendige Bestimmungen des eingeschränkten Denkens; also Erscheinungen, die man doch von bloßem Wahn unterscheiden muß.« Men- 35 delss. an die Freunde Leßings. S. 44.

23–26 Erscheinungen? Müssen … erklären?] Erscheinungen? Folge] F o l g e Dauer] D a u e r 33 bloßer Wahn] b l o ß e r W a h n Erscheinungen,] Erscheinungen,

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chenden Grundes, weit entfernt, uns dasselbe zu erklären, könnte uns verführen, die Realität aller Succeßion zu läugnen. Denn wenn es mit dem Principio generationis nicht anders beschaffen ist, wie mit dem Principio compositionis, so muß jede Würkung als mit ihrer Ursache objectiv zugleich vorhanden gedacht werden. Ist diese Würkung wieder Ursache, so muß ihre unmittelbare Folge abermals mit ihr zugleich seyn, und so bis ins Unendliche. Also können wir auf diese Weise schlechterdings nicht zu einem Begriffe gelangen, der uns die Erscheinung der Folge, der Zeit, oder des Fließenden erklärte. Denn zwischen die Ursache A und die Würkung B ein Mittelding von Seyn und Nichtseyn einrücken zu wollen, hieße, deucht mir, den Unsinn zum Vehiculo des Verstandes machen. | Er. Sie vermehren meine Verwirrung, anstatt mir heraus zu helfen. Denn wenn der Begriff | von Ursache und Würkung, und die Vorstellung des Succeßiven, zwey ganz verschiedene Dinge sind, so kann jener Begriff eben so wenig sich aus dieser Vorstellung entwickelt haben, als diese Vorstellung aus jenem Begriffe sich hat erklären lassen. Auf diese Weise aber sehe ich den Begriff von Ursache und Würkung, als Principium fiendi, generationis, ganz vor mir verschwinden, und es bleibt mir nichts als die Verwunderung übrig, wie nur diese Worte mögen in die Sprache gekommen seyn. Ich. In die Sprache von Wesen, d i e n u r a n s c h a u e n u n d urtheilen könnten, würden sie auch nicht gekommen seyn. Sind wir aber solche Wesen? Lieber, wir können ja auch h a n d e l n ! Wenn wir die ersten Bedeutungen der Wörter aufsuchen, finden wir nicht selten ein Licht, sehr dunkel gewordene Begriffe damit aufzuhellen. Der nicht speculative Mensch hatte lange gesprochen, ehe Philosophen anfiengen | zu reden, und ehe einige Philosophen | es allmählich dahin brachten, daß der Gebrauch der Sprache umgekehrt wurde, und die Dinge sich nach den Worten richten mußten, wie vorher die Worte sich nach den Dingen hatten richten müssen. In dem gegenwärtigen Falle können wir noch kürzer davon kommen, und ohne lange den Worten nachzugehen, zur ursprünglichen Beschaffenheit des Begriffes selbst, wovon die unzweydeutigsten Nachrichten vorhanden sind, hinaufsteigen. 3 ist,] ist 26 auch] a u c h 33–34 nach den Dingen hatten] hatten nach den Dingen 35 ohne lange] ohne

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Wir wissen nemlich von alten, und ungebildeten neuen Völkern, daß sie keine Begriffe von Ursache und Würkung haben und gehabt haben, wie sie unter mehr gebildeten Völkern vor und nach entstehen. Jene erblicken überall lebendige Wesen, und wissen von keiner Kraft, die nicht sich selbst bestimmte. Jede Ursache ist ihnen eine solche lebendige, sich selbst offenbare, persönliche Kraft; jede Würkung T h a t . Und ohne die lebendige Erfahrung in uns selbst von einer solchen Kraft, deren wir uns in einem fort bewust sind; die wir auf so manche willkührliche Weise anwenden, und, ohne sie zu | vermindern, auch von uns ausgehen lassen können: ohne diese Grunderfahrung würden wir nicht die geringste Vorstellung von Ursache und Würkung haben. | Er. Sie haben doch nicht vergessen, was Hume von dieser Grunderfahrung sagt. Ich. So wenig als ich die Beweise in meinen Briefen an Mendelssohn und Hemsterhuis vergessen habe, aus denen sich ergab, daß das denkende Vermögen überall nur das Zusehen hätte, und auf keine Weise eine Quelle äusserlicher Handlungen seyn könnte. Er. Es ist nicht einerley, was in Ihren Briefen steht, und was Hume sagt. Lassen Sie uns bey Hume bleiben. Ich. Gut. Was sagt denn Hume? | Er. Die Hauptsache besteht darinn, daß wir nur aus Erfahrung, folglich erst n a c h d e r T h a t wissen, daß auf diese oder jene Vorstellung, diese oder jene Bewegung unserer Glieder folgt, oder daß beydes mit einander in Verbindung steht. Es fällt uns eben so wenig ein, durch eine Handlung unseres Willens die | Bewegung unseres Herzens vermehren oder vermindern, oder unsere Gesichtsfarbe verändern zu wollen, als es uns einfällt, durch eine solche Handlung dem Winde einen andern Lauf, oder einem Gebürg eine andere Gestalt geben zu wollen. Wir sind nicht einmal im Stande, eine solche Anwendung dessen, was wir unsere Willenskraft nennen, zu versuchen, weil wir nicht wissen, wo wir diese Kraft nur aufsuchen sollen, und wie sie, wenn wir sie aufgespürt hätten, an Ort und Stelle zu bringen wäre. Man versuche einmal nur so tanzen zu wollen, wie ein Vestris kann tanzen wollen. Wo aber der Wille die That bey der Hand hat, wissen wir nie wie er dazu gekommen ist, und gerathen bey’m | Nachspüren rückwärts von 2 keine] keine solche 6 lebendige,] lebendige persönliche] freythätige, persönliche 14 sagt.] so auch D2; Dv(D2): sagt? 32 wissen,] wissen

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Moment zu Moment, in die dicksten Finsternisse. Denn niemand wird doch sagen, daß er, z. B. seine Hand oder seinen Fuß, durch seinen Willen unmittelbar bewege. Muskeln, Nerven, eine Menge fester und flüßiger Theile mußte der Wille vorher in Bewegung setzen; welches er denn wenigstens that, ohne zu wissen w a s er that. – Wie könnten wir nach dergleichen Betrachtungen, die sich eben so leicht vermehren als erweitern lassen, noch behaupten, daß wir uns einer Kraft, welche Thaten | hervorbringt, bewußt sind, und aus ihr die Erkenntniß einer U r s a c h e schöpfen?1 Ich. Hume darf sich nicht über Sie beschweren; es ist würklich das innerste Mark seiner Einwürfe, was in wenigen Worten über Ihre Zunge floß. Aber diese Einwürfe greifen meine Behauptung kaum von der Seite an. Wie Sie wissen, gesteht Hume selbst, in eben | dieser Abhandlung, daß wir die Vorstellung von Kraft allein aus dem Gefühl unserer e i g e n e n K r a f t haben, und zwar aus dem Gefühl ihres Gebrauchs u m e i n e n W i d e r s t a n d z u ü b e r w i nden 2 . Das Gefühl einer Kraft, und die Wahrnehmung des Erfolgs ihrer Anwendung, giebt er also zu. Er hält aber dieses für keine vollständige Erfahrung von Ursache und Würkung, weil wir nicht auch empfinden, WIE diese Kraft diesen Erfolg zuwege bringt. Seine Zweifel sind nach Art der Idealistischen, und hängen mit diesen sehr genau zusammen. Auf diese Weise | kann ich allerdings bezweifeln, daß ich, vermöge dessen, was mir als eine Kraft in mir erscheint, meine Hand ausstrecke, meinen Fuß bewege, den Faden unseres gegenwärtigen Gesprächs verfolge, und ihn von meiner Seite lenke: weil ich weder die Natur von dem, was ich für die Ursache halte, noch seine Verknüpfung mit dem Erfolg einzusehen | im Stande bin: ich kann es eben so bezweifeln, wie daß ich Etwas a n s i c h ausser mir wahrnehme. Sind Sie fähig durch dergleichen Zweifel sich stöhren zu lassen, so weiß ich Ihnen keinen Rath. Ich denke aber, Ihr G l a u b e siegt darüber eben so leicht wie der meinige. 1 2

Enquiry concerning Human Understanding. Sect. VIII. Enquiry concerning Human Understanding, the same Sect. p. 99. Note C.

35 21–22 sind nach … genau zusammen] sind, im Geiste des Universal- oder

Zwillings-Idealismus, den er zuerst auf die Bahn brachte a n s i c h] E t w a s 12 Behauptung] so DvD2; D1: Behauptungen

28–29 Etwas

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Sie bemerkten vorhin, daß die Lehre des Spinoza über diesen Punkt, von der skeptischen Lehre des Hume noch sehr verschieden sey, und hatten darinn vollkommen recht. Denn wenn auch, nach Spinoza, die Vorstellungen die Handlungen nur begleiten, so ist doch beydes in einander; beydes in Einem und demselben untheilbaren Wesen und Bewustseyn unzertrennlich verknüpft. Der Wille ist zwar nicht v o r der Handlung und ihre würkende Ursache; aber die Handlung ist auch nicht v o r dem Willen und s e i n e würkende Ursache: sondern dasselbige Individuum will | und handelt zugleich, in demselben untheilbaren Augenblick. Es will und handelt nach der Beschaffenheit, und gemäß den Erfordernissen und Verhältnissen seiner besonde|ren Natur; welches alles sich, minder oder mehr verworren oder deutlich, in seinem Bewustseyn darstellt. Wie sehr nun auch, das Individuum von aussen her bestimmt werden mag, so kann es doch nur zufolge den Gesetzen seiner eigenen Natur bestimmt werden, und bestimmt sich in so fern also selbst. Es muß schlechterdings etwas für sich seyn, weil es sonst nie etwas für ein anderes seyn, und diese oder jene zufällige Bestimmung annehmen könnte; es muß selbst würken können, weil es sonst unmöglich wäre, daß irgend eine Würkung durch dasselbe geschähe, fortgesetzt würde, oder nur in ihm erschiene. Letzteres hat in allen Systemen gleichen Bestand, die Idealistischen Systeme allein ausgenommen. Er. Sie haben sich tapfer gehalten, und ich werde wohl um Friede bitten müssen. Daß unser Bewustseyn l a u t e r i n e i n a n d e r g r e i f e n d e M o m e n t e d e s T h u n s u n d L e i d e n s , d e r W ü rkung und Gegenwürkung darstellt, die ein reales, in sich | bestimmtes und selbstthätiges Principium voraus setzen, ist würklich auffallend: und so beruht der Begriff von | Ursache und Würkung denn allerdings auf einem Facto, dessen Gültigkeit nicht geläugnet werden kann, wenn man nicht in das Leere des Idealismus verfallen will. – Indessen ist der Begriff von Ursache und Würkung hiemit noch nicht, als schlechterdings zum Begriffe der Möglichkeit der Dinge überhaupt gehörig, dargethan. Da Sie ihn aus der Erfahrung herleiten, werden Sie seine absolute Allgemeinheit oder Nothwendigkeit wohl im Stiche lassen müssen. 5 in] i n 14 auch,] auch 21–23 erschiene. Letzteres … ausgenommen.] erschiene. 28–29 würklich auffallend] auffallend 32–33 Begriff von Ursache und Würkung] Causalitäts-Begriff

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Ich. Es wird darauf ankommen, was Sie unter der absoluten Nothwendigkeit eines Begriffes verstehen. Ist es Ihnen genug, um einen Begriff nothwendig zu nennen, wenn sein Object, als ein schlechterdings allgemeines Prädikat, in allen einzelnen Dingen so gegeben ist, daß die Vorstellung dieses Prädikats allen endlichen mit Vernunft begabten Wesen gemein seyn, und j e d e r ihrer Erfah|rungen zum Grunde liegen muß: so glaube ich, Ihnen den Begriff von Ursache und Würkung als nothwendig darthun zu können. | Er. Wenn Sie das könnten …! Ich. Stehen Sie mir nur zur Probe. Sie wissen, wir sind darüber eins geworden, daß zu unserm menschlichen Bewustseyn (und ich darf nur gleich hinzu setzen, zu dem Bewustseyn eines jeden endlichen Wesens) ausser dem empfindenden Dinge, noch ein würkliches Ding, welches empfunden wird, nothwendig sey. W i r m ü s s e n u n s v o n E t w a s unterscheiden. Also zwey würkliche Dinge ausser einander, oder Dualität1. Wo zwey erschaffene Wesen, die ausser einander sind, in einem solchen Verhältnisse gegen einander stehen, daß eins in das andre würkt, da ist e i n a u s g e d e h n t e s W e s e n . | Mit dem Bewustseyn des Menschen und einer jeden endlichen Natur, wird also ein ausgedehntes Wesen gesetzt; und zwar, nicht blos idealisch, sondern würklich. Folglich muß auch überall, wo Dinge ausser einander sind die in einander würken, ein ausgedehntes Wesen würklich vorhanden seyn; und die Vorstellung | eines ausgedehnten Wesens auf diese Weise, m u ß a l l e n e n d l i c h e n e m p f i n d e n d e n N a t u r e n g emein seyn, und ist eine objectiv wahre Vorstellung. Geben Sie mir diese vier Sätze zu? Er. Vollkommen, und mit nicht geringer Freude. Ich. Also weiter. 1

S. die Anmerkung S. 63.

3 nothwendig] einen nothwendigen Begriff

8 nothwendig] einen nothwen-

35 digen, einen Grundbegriff; und das Gesetz der Causalverknüpfung als ein noth-

wendig das ganze Naturgebiet beherrschendes Grundgesetz, 29 u n d i s t … Vorstellung] u n d i s t e i n e o b j e c t i v w a h r e V o r s t e l l u n g 31 Vollkommen, und … Freude.] Ich gebe sie zu. 33 S. die Anmerkung S. 63. fehlt

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Wir fühlen das mannigfaltige unseres Wesens in einer reinen Einheit verknüpft, die wir unser I c h nennen. | Das Unzertrennliche in einem Wesen bestimmt seine Individualität, oder macht es zu einem würklichen Ganzen; und alle diejenigen Wesen, deren Mannigfaltiges wir in einer Einheit unzertrennlich verknüpft sehen, und die wir allein nach dieser Einheit unterscheiden können, (wir mögen nun annehmen, daß das Principium ihrer Einheit Bewustseyn habe oder nicht), werden I n d i v idua genannt. Dahin gehören alle organische Naturen. – Wir können keinen Baum, keine Pflanze, als solche, das ist, i h r o r g an i | s c h e s W e s e n , d a s Principium i h r e r b e s o n d e r n M a nnigfaltigkeit und Einheit, zerlegen oder theilen. Die menschliche Kunst vermag nicht Individua, oder irgend ein reales Ganzes hervor zu bringen; denn sie kann nur zusammensetzen, s o d a ß d a s G a n z e a u s d e n T h e i l e n e n t s p r i n g t , u n d n i c h t d i e T h e i l e a u s d e m G a n z e n . Auch ist die Einheit, welche sie hervorbringt, blos idealisch, und liegt nicht in dem hervorgebrachten Dinge, sondern ausser ihm in dem Zwecke und | Begriff des Künstlers. Seine Seele ist die Seele eines andern1. | 1

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Tout ce que nous appellons organe, est un total, que nous avons ou modifié, ou composé de parties, pour que ce total réponde à un but determiné, à une fin proposée, qui n’est pas ce total, mais son usage ou son effet. Une lime est faite pour limer; une pendule pour marquer les heures; un poëme pour plaire ou pour instruire. Ainsi, tout ce qui est l’ouvrage des hommes, ou d’un Etre borné, est un moyen pour produire un effet déterminé, & non pour produire une substance. L’homme a entrevu, dans le mechanisme des animaux & des plantes, des moyens pour produire la génération, & l’accroissement des individus: il a cru voir quelque analogie entre ces moyens, & les ouvrages de sa propre industrie; & il a appellé ces moyens organes; ce qui pouvoit se faire en quelque façon. Mais il reste cette difference remarquable, que l’ouvrage de l’homme n’est | une chose, que pour tel effet determiné; tandis que l’ouvrage de la nature est une chose pour être cette chose, pour être telle independamment de ses effets. | Lorsque par abstraction vous ôtez à la montre la faculté de mesurer le temps, la montre n’est plus un tout, mais un amas confus de pieces hétérogenes; tandis qu’un arbre est toujours arbre, quelque abstraction que vous fassiez des effets qu’il pourroit produire au dehors. La nature produit des substances pour être; & l’homme ne produit que des moyens pour modifier des effets. Aristée ou de la divinité, p. 56. Leibnitz sagt gerade dasselbe an verschiedenen Orten. Ich rücke folgende Stellen hier ein, hauptsächlich um dasjenige, was in der Folge dieses Gesprächs über diese Materie vorkommen wird, einzuleiten. In dieser Absicht ist die dritte, aus dem Briefe an Remond, die merkwürdigste. 8 nicht),] nicht,) 11 Principium] P r i n c i p eines solchen Dinges

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Etwas, der Individualität einiger Maaßen | Analoges nehmen wir in der cörperlichen Ausdehnung | überhaupt wahr, indem das ausgedehnte Wesen, a l s s o l c h e s , nie getheilt werden kann, sondern überall dieselbige Einheit, die eine Vielheit unzertrennlich in sich verknüpft, vor Augen stellt. Wenn Individua, ausser der immanenten Handlung, wodurch ein jedes sich in seinem | Wesen erhält, auch das Vermögen haben ausser sich zu würken: so müssen sie, wenn die Würkung erfolgen soll, andre Wesen mittelbar oder unmittelbar berühren. Ein absolut durchdringliches Wesen ist ein Unding. Ein relativ durchdringliches Wesen kann, in so fern es einem andern Wesen durchdringlich ist, dasselbe weder berühren, noch von ihm berührt werden. Die unmittelbare Folge der Undurchdringlichkeit bey der Berührung, nennen wir den Widerstand. Wo also Berührung ist, da ist Undurchdringlich|keit von beyden Seiten; folglich auch Widerstand; Würkung und Gegenwürkung. Der Widerstand im Raume, W ü r k u n g u n d G e g e n w ü rkung, ist die Quelle des Successiven; und der Z e i t , welche die Vorstellung des Succeßiven ist. | Wo also einzelne s i c h s e l b s t o f f e n b a r e W e s e n , die in Gemeinschaft mit einander stehen, vorhanden sind, da müssen auch die Begriffe von Ausdehnung, von Ursache und Würkung, und von Succeßion schlechterdings vorhanden seyn. Ihre Begriffe sind also in allen endlichen denkenden Wesen n o t h w e n d i g e B e -

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L’unité d’une horloge dont vous faites mention, est tout autre chez moi que celle d’un animal: celui ci pouvant être une substance douée d’une veritable unite, comme ce qu’on appelle Moi en nous; au lieu qu’une horloge n’est autre 30 chose qu’un assemblage. Leibn. Opp. T. II. P. I. p. 68. | Par le moyen de l’ame ou de la forme, il y a une véritable unité qui répond à ce 1161 qu’on appelle MOI en nous; ce qui ne sauroit avoir lieu ni dans les machines de l’art, ni dans la simple masse de la matiere, quelque organisée qu’elle puisse être; qu’on ne peut considérer que comme une armée ou un troupeau, ou comme une 35 montre composée de ressorts & de roues. Ibid. T. II. P. I. p. 53. | Une véritable substance, telle qu’un animal, est composée d’une ame 2122 immatérielle, & d’un corps organique; & c’est le composé de ces deux qu’on appelle Unum per se. Ibid. T. II. P. I. p. 215.

5 stellt.] stellt. Fußnote: Man vergleiche Link über Naturphilosophie (1806) 40 S. 11, 12, 75, 79, 113, 124.

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griffe: welches ich zu erweisen hatte. – Thut Ihnen meine Deduction nicht Genüge, so lassen Sie mich Ihre Gründe hören. Er. Ich finde gegen Ihre Deduction nichts einzuwenden. Denn wo mehrere einzelne Dinge in Verbindung stehen, da muß Würkung und Gegenwürkung, da muß Succeßion der Bestimmungen seyn, oder es wären nicht mehrere einzelne Dinge, sondern nur Ein einzelnes Ding; und hinwider, wo nur Ein einzelnes Ding | wäre, da wäre keine Würkung und Gegenwürkung, und keine Succeßion der Bestimmungen. Ich. Richtig. Wir hätten also die Begriffe von | Realität, von Substanz oder Individualität, von cörperlicher Ausdehnung, von Succeßion, und von Ursache und Würkung als solche herausgebracht, die allen endlichen sich selbst offenbaren Wesen gemein seyn müssen, und auch i n d e n D i n g e n a n s i c h ihren vom Begriffe unabhängigen Gegenstand, folglich eine wahre o b j e ctive Bedeutung haben. Dergleichen Begriffe aber, die i n j e d e r E r f a h r u n g eben vollständig, und dergestalt a l s d a s E r s t e gegeben seyn müssen: daß ohne ihr Objectives kein Gegenstand eines Begriffes; und ohne ihren Begriff, überhaupt keine Erkenntniß möglich wäre: dergleichen Begriffe hat man von je her schlechterdings allgemeine oder nothwendige Begriffe; und die aus ihnen entspringenden Urtheile und Schlüsse, E r k e n n t n i s s e a p r i o r i genannt. Wir brauchen also nicht, d a m i t d i e s e G r u n d b e g r i f f e u n d Urtheile von der Er|fahrung unabhängig werden, sie zu bloßen Vorurtheilen des Ver|standes zu machen; zu Vorurtheilen, von welchen wir g e h e i l t werden müssen, indem wir erkennen lernen, daß sie sich auf nichts, was den Gegenständen a n sich zukommt, beziehen, folglich keine w a h r e objective Bedeutung haben: ich sage, wir brauchen dieses nicht, weil die Grundbegriffe und Urtheile, weder von ihrer Allgemeinheit, noch von ihrer Nothwendigkeit etwas verlieren, wenn sie aus dem, was allen Erfahrungen gemein seyn und ihnen zum Grunde liegen muß, genommen sind: sie gewinnen im Gegentheil einen weit höheren Grad von unbedingter Allgemeinheit, wenn sie aus dem Wesen und der Gemeinschaft e i n z e l n e r D i n g e ü b e r h a u p t können hergeleitet werden. A l s b l o ß e V o r u r t h e i l e d e s m e n s c hlichen Verstandes gölten sie nur für den Menschen und seine 18 müssen:] müssen,

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eigenthümliche Sinnlichkeit; und zwar unter Bedingungen, die ihnen, nach meinem Urtheile, allen Werth benehmen würden. | Er. Hierinn stimme ich mit Ihnen aus dem innersten Grunde meiner Seele überein. Wenn | unsere Sinne uns gar nichts von den Beschaffenheiten der Dinge lehren; nichts von ihren gegenseitigen Verhältnissen und Beziehungen; ja nicht einmal, daß sie ausser uns (im transcendentalen Verstande) würklich vorhanden sind: und wenn unser Verstand sich blos auf eine solche gar nichts von den Dingen selbst darstellende, objectiv platterdings leere Sinnlichkeit bezieht, um durchaus subjectiven Anschauungen, nach durchaus subjectiven Regeln, durchaus subjective Formen zu verschaffen: so weiß ich nicht, was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Verstande habe, als | daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe. Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein l e e r e s Blendwerk von Etwas; d i e F o r m e i n e r F o r m ; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze. – Und ein sol|ches System darf mit lauter Stimme und in vollen Chören angepriesen werden, als wenn es das längst erwartete Heil wäre, das in die Welt hat kommen sollen. Ein System, welches alle Ansprüche an Erkenntniß der Wahrheit bis auf den Grund ausrottet, und für die wichtigsten Gegenstände nur einen solchen b l i n d e n ganz und gar Erkenntnißleeren Glauben übrig läßt, wie man den Menschen bisher noch keinen zugemuthet hat. Der Ruhm, aller Zweifeley

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2 würden.] würden. Fußnote: Diese Deduction der apriorischen oder allgemeinen und nothwendigen Begriffe und Grundsätze gab mir (nämlich den Hauptund Grundgedanken dazu) die Ethik des Spinoza an die Hand (v. | Opp. Posth. 2162 30 pag. 74–81.) Ich setzte sie der Kantischen Deduction der Kategorien entgegen, nach welcher diese Begriffe und Urtheile aus einem in sich selbst fertigen r e inen Verstande hervorgehen, der nun den in ihm selbst allein gegründeten Mechanismus seines Denkens in die Natur blos überträgt, und so nur ein logisches Erkenntnißspiel treibt, durch welches der allgemeine Menschenverstand 35 keinesweges befriedigt, vielmehr nur, wie von Hume, verspottet wird. – Man sehe Schulzens Grundsätze d. allg. Logik; die Recension dieser Schrift in den Götting. gelehrten Anz. 1802 St. 142; und in Reinholds Beyträgen, Heft III, die Abhandlung über das Unternehmen des Criticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen. 6–7 uns (im transcendentalen Verstande)] uns 14 wie] als 40 wie 22 sollen.] so auch D2; Dv(D2) irrtümlich: sollten?

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auf diese Art ein Ende zu machen, ist wie der Ruhm des Todes in Beziehung auf das mit dem Leben verknüpfte Ungemach. Ich. Thun Sie nicht so böse! Das System, gegen welches Sie eifern, wenn es so gelehrt wird wie | Sie es gefaßt haben, erhält schwerlich viele Anhänger. Er. Können Sie sagen, daß ich es unrecht gefaßt habe? Ich verdanke ja meinen Begriff davon größtentheils Ihrem Unterricht. | Ich. Gut. Gerade darum, weil Sie den transcendentalen Idealismus, wie ich glaube, recht gefaßt haben, sollen Sie seiner Entwikkelung nur ganz ruhig zusehen, und sich mit mir alles des Guten herzlich freuen, welches die Critik der reinen Vernunft nothwendig stiften muß. Er. Die Critik eines Dinges, das nicht ist! Ich. Dergleichen Dinge bedürfen der Critik am mehrsten. Denn was g a r n i c h t s wäre, dafür hätte die Sprache auch kein Wort. Jedes Wort bezieht sich auf einen Begriff; jeder Begriff auf Wahrneh|mung, d. i. auf würkliche Dinge und ihre Verhältnisse. Die reinsten Begriffe, oder wie Hamann sie irgendwo genannt hat, die Jungfernkinder der Speculation, sind davon nicht ausgenommen: sie haben zuverläßig einen Vater, wie sie eine Mutter haben, und sind zum Daseyn auf eine eben so natürliche Weise gekommen, wie die Begriffe von einzelnen Dingen und ihre Nomina propria. | Er. So wären Sie ja wohl im Stande, die reine Vernunft die wir haben, und die ich so gern einmal recht v o r mir haben möchte, würklich mir zu stellen? Ich. Da Sie selbst ein vernünftiges Wesen sind, warum nicht? Leeren Sie nur Ihr Bewußtseyn von aller Thatsache, von allem würklich Objectiven rein aus, so werden Sie Ihre reine Vernunft allein übrig behalten, und ohne Zeugen um alle ihre Geheimnisse sie befragen können.

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15–16 Denn … Wort.] Ich meine so: Ein durchaus grundloser Gedanke kann in einer menschlichen Seele nicht entstehen, und die Sprache kann für ihn auch kein Wort erfunden haben. 16–17 auf Wahrnehmung, … Verhältnisse] ursprünglich auf Wahrneh|mung durch den äußeren oder inneren Sinn 18 35 oder] oder, 19–20 ausgenommen:] ausgenommen; 23 Nomina propria] Benennungen, welche nomina propria waren, ehe sie nomina appellativa wurden 24–26 Stande, die … zu stellen?] Stande mir die r e i n e Vernunft – im Menschen nämlich – wirklich darzustellen. 27 nicht?] nicht? folgen Sie nur meiner Anweisung. 28 Sie nur] Sie 28–63,8 von aller … Ihnen] rein aus 40 von allem materiellen Inhalt; es darf nichts von der Erfahrung allein Herrühren-

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Er. Das nemliche könnten Sie wohl auch meinem Hunde anbieten. Er ist nicht ohne verknüpfendes Bewußtseyn; folglich auch nicht ohne das ursprüngliche Vermögen dazu. Und was die bloße Verschiedenheit der Anwendung, nach Maaßgabe der organischen Maschine betrifft, so kann diese hier, wo von r e i n e r Vernunft allein die Rede ist, nicht in Betrach|tung kommen. Also wohnte in meinem Hunde dieselbige reine Vernunft, die in mir wohnt. Ich. Das folgt nicht so schlechterdings. Aber ich kann es Ihnen einräumen, und werde | nichts dabey verlieren1. – Erinnern Sie |

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Ich möchte nicht gern über einen so wichtigen Punkt wie dieser, auch nur einen Augenblick mißverstanden werden, und erinnere deswegen vorläufig, was sich in der Folge des Gesprächs klar genug entwickeln wird, nemlich, daß die absolut reine Vernunft eine absolut reine Persönlichkeit voraussetzt, die Gott allein, und gar keinem erschaffenen Wesen zukommen kann. Eine reine 15 Vernunft aber, die nicht eine a b s o l u t reine Vernunft wäre, ist ein Gedicht, oder ein bloßes Abstractum. Grade der Annäherung finden hier nicht statt, weil der Unterschied absolut und entgegenstehend ist, wie der des Endlichen und des Unendlichen, des Zusammengesetzten und des Einfachen, des Geschöpfs und des Schöpfers. Die erschaffenen Wesen alle sind zusammengesetzte Wesen, und 20 gegenseitig abhängig von einander in ihrem Daseyn. De Deo res secus habet, sagt unser Leib|nitz, qui sufficiens sibi, causa est 1261 materiæ, & aliorum omnium: itaque non est anima mundi (wie unser I c h des organischen Cörpers); sed autor. Naturale vero est creaturis materiam habere, neque aliter possibiles sunt, nisi Deus per miraculum suppleat materiæ 25 munus … Etsi ergo Deus per potentiam possit substantiam privare materia 10

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des, ihr allein Angehöriges darin zurückbleiben; geben Sie das alles vollständig und zusammen an die Sinnlichkeit zurück; trennen Sie sich ganz von ihr, damit der Moment des Versuchs eintreten könne. | / Er. / Es sey gewagt! – Und nun? 2202 / Ich. / Sie fragen? – Es ist unmöglich, wenn Sie allen materiellen Inhalt aus Ihrem Bewußtseyn wirklich vertilgten, daß nicht in demselben Augenblick eine in sich bestehende, aus sich allein hervorwirkende Kraft, daß nicht r e i n e V e rnunft sich Ihnen unwiderstehlich offenbarte. / Er. / Allerdings! – Aber sollte sich d i e s e reine Vernunft nicht als überall nothwendig vorhanden nachweisen lassen, wo nur Spontaneität mit Bewußtseyn ist? Bey den Geschöpfen, die wir Thiere nennen, wohnt sie nur in einem andern Leibe, und erhält nach den verschiedenen Beschaffenheiten dieser Leiber und der Mittel der Erhaltung, welcher sie bedürfen, eben so viele verschiedene Richtungen, Anwendungen und Gestalten; hier in meinem Hühnerhunde zum Beyspiel eine ganz andre als dort in Ihren Wetterfischen. / Ich. / Ich kann Ihnen das 10–64,14 Ich möchte … nachzulesen.] Von hier an bis zum Ende des Gesprächs tritt der in der Vorrede angezeigte Fehler der Nichtunterscheidung zwischen Verstand und Vernunft immer sichtbarer hervor. So bald der Verfasser, einstimmig mit den Philosophen seiner und der vergangenen Zeit seit Aristoteles, annahm, Vernunft und Verstand seyen unter zwey Nahmen, doch in Wahrheit nur das bloße Reflexionsvermögen, die im Bilden von Begriffen und Begriffen von Begriffen, von

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sich der Stellen aus Leibnitz, die ich in meinem | letzten Schrei|ben an Mendelssohn angeführt habe; lesen Sie Sulzers Zergliederung des Begriffs der Vernunft; oder noch besser, gehen Sie in sich selbst hinein, und forschen Sie tief und immer tiefer dem, was wir Versecunda, non tamen potest eam privare materia prima, nam faceret inde totum 5 purum, qualis ipse est solus. (Opp. T. II. P. I. p. 275 & 276. S. auch ibid. p. 44.) Dieses stimmt auch gewissermassen mit Kant überein, der von der nothwendigen Beziehung des Denkens auf die Anschauung ausgeht. Seine Form a priori der Anschauung, hat mit der materia prima passiva des Leibnitz; so wie seine Form a priori des Denkens, oder seine Spontaneität der Begriffe, mit der 10 materia prima activa eben dieses Leibnitz eine auffallende Aehnlichkeit. Die Empfindungen selbst, oder die würklichen Erscheinungen, sind die materia secunda. – Hier|über sind vornehmlich Leibnitzens Briefe an Des-Bosses (Opp. T. II. P. I. p. 265–323.) nachzulesen.

Urtheilen und Schlüssen sich äußernde Spontaneität der Vorstellungskraft; so blieb ihm für das Vermögen der unmittelbaren Gewißheit, für jenes Vermögen der Offenbarung, welches er jetzt V e r n u n f t nennt, kein andres Wort als S i n n , welchem eine, in der Anwendung nie ganz zu vertilgende Zweydeutigkeit anhängt, eben so wie den Worten Vernunft und Verstand, Empfindung und Gefühl. Er besorgte aber nicht, daß, weil er sich so ausdrückte, irgend jemand ihm den Vorwurf machen werde, er lasse alle Erkenntnisse als gleichartig in einander fließen, und, wie die Philosophen aus der Lockischen Schule, auch das ganze geistige Leben aus den Sinnen entspringen. Die Uebereinstimmung seiner Grundansichten mit den Grundansichten des entschiedenen und dafür allgemein anerkannten Antisensualisten Leibnitz, welche diese zweyte Abtheilung des Gesprächs auffallend darthut, mußten die Gefahr einer solchen Auslegung von ihm abwehren, und thaten es auch wirklich. Nur für sich selbst langte er damit nicht aus, weil Leibnitz denn doch im Grunde mit Locke nur dasselbe Spiel trieb. Beyde wollten die Vernunft zu Verstande bringen. Locke, indem er, nach Kants treffendem Ausdruck, die Verstandesbegriffe sensificirte, Leibnitz, indem er die Erscheinungen intellectuirte. So blieb die eigene Lehre des Verfassers in dem Gespräch unaufgestellt. Das System seiner Ueberzeugungen war in der Tiefe seiner Seele schon damals | ganz dasselbe, was es heute ist, aber zu einer auch andern mittheilbaren Philosophie noch nicht vollendet. Eingeschreckt durch das wider seine Aeußerungen in dem Werke über die Lehre des Spinoza erhobene heftige Geschrey der Schulen, war er auch geneigter sich zu verschließen als weiter mitzutheilen. Daher der ungenügende Ausgang des Gesprächs, das mehr nur abgebrochen als geschlossen wird. Was das Ganze betrifft, so berufe ich mich auf das in der Vorrede darüber Gesagte. Jeder, der diese Vorrede mit einiger Aufmerksamkeit a b e r b i s z u E n d e liest, wird sich über alle in dem Gespräche selbst enthaltenen Aeußerungen vollkommen zu recht finden und sich auf das bestimmteste sagen können, was und wie viel davon mir noch heute als Wahrheit gilt, und was und wie viel davon ich gegenwärtig zurücknehme und es als irrig und unstatthaft verwerfe.

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6 44.)] D1: 44.

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nunft heissen, nach. Sie werden finden, daß Sie entweder das Principium der Vernunft, mit dem Principio des Lebens für einerley halten, oder die Vernunft zu einem bloßen Accidens einer gewissen Organisation machen müssen. Was mich betrifft, so halte ich das Principium der Vernunft mit dem Principio des Lebens für einerley, und glaube an gar keine i n n e r l i c h e o d e r a b s o l u t e Unvernunft1. Wir schreiben einem Menschen vor | dem andern einen 1

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Vita est principium perceptivum. – Perceptio nihil aliud | est, quam illa ipsa repræsentatio variationis externæ in interna. Quum ergo ubique dispersæ sint per materiam Entelechiæ primitivæ, ut facile ostendi potest ex | eo, quod principia motus per materiam sunt dispersa; consequens est, etiam animas ubique per materiam dispersas esse, p r o o r g a n i s o p e r a n t e s ; & proinde etiam corpora brutorum organica anima prædita esse. – Sensio est perceptio quæ aliquid distincti involvit, & cum attentione & memoria conjuncta est. Sed aggregatum confusum multarum perceptionum parvarum nihil eminentis habentium, quod attentionem excitet, stuporem inducit. Nec ideo tamen anima, aut vis sentiendi in ea foret inutilis, etsi nunc ab exercitio suspensa esset; quia cum tempore massa iterum evolvi & ad sensionem apta reddi posset, ut stupor ille cesset, prout oriuntur perceptiones magis distinctæ, quando etiam corpus fit perfectius & magis ordinatum. (Leibn. Opp. T. II. P. I. p. 227 & 232.) – On a cru que les pensées confuses different toto genere des distinctes, au lieu qu’elles sont seulement moins distinguées & moins developpées, à cause de leur multiplicité. Cela a fait, qu’on a tellement attribué au corps certains mouvemens qu’on a raison d’appeller | involontaires, qu’on a cru qu’il n’y a rien dans l’ame qui y reponde; & qu’on a cru réciproquement que certaines pensées abstraites ne sont point representées dans le corps. Mais il y a erreur dans l’un & dans l’autre, comme il arrive ordinairement dans ces sortes de distinctions: parcequ’on n’a pas pris garde qu’à ce qui paroit le plus. (Ej. Opp. T. II. P. I. p. 87.) – Natura ubique organica est, & a sapientissimo autore ad certos fines ordinata, nihilque in natura incultum censeri debet, etsi interdum non nisi rudis massa nostris sensibus | appareat. Ita igitur eximus omnes difficultates, quæ ex natura animæ prorsus ab omni materia separatæ nascuntur, a) ita ut revera anima animalve ante nativitatem aut post mortem ab anima aut animali vitam præsentem vivente, non nisi rerum habitu & perfectionum gradibus, non vero toto entium genere differat. Idemque de geniis sentio, esse mentes corpore valde penetrante, & ad operandum apto, præditas: quod fortasse pro lubitu mutare possunt, unde etiam animalia appellari non merentur. Itaque omnia | in natura sunt analogica, e t f a c i l e ex crassis subtilia intelligi possunt, quum utraque eodem modo se habeant. Solus Deus substantia est verè a materia separata, quum sit actus purus, nulla patiendi potentia præditus, q u æ u b i c u n q u e e s t , m a t e r i a m c o nstituit. Et vero omnes substantiæ creatæ habent antitypiam, per quam fit naturaliter, ut una sit extra alteram, adeoque penetratio excludatur. (Ej. Opp. T. II. P. I. p. 228.) – [Oben zu a) gehörige Note: Non sine veritatis specie in systemate Leibnitii & Chr. Wolfii contra animæ immortalitatem objicitur: Anima est substan-

45 1–2 Principium] Princip

Principio] Princip

2 Principio] Princip 12 etiam] etiam

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höheren Grad der Vernunft | zu, in demselbigen Maaße, wie er einen hö|heren Grad von | Vorstellungskraft äussert. | Die Vorstellungskraft äussert sich aber nur reagierend, und entspricht genau der | Fähigkeit, von den Gegenständen mehr oder weniger vollkommne Eindrücke anzunehmen; oder, die Spontaneität des Menschen ist wie seine Receptivität. Ich verweise Sie, besonders was diesen letzten Punkt angeht, nochmals auf Sulzers vortrefliche Zergliederung des Begriffs der Vernunft. Er. Ich kenne diese Abhandlung, und erinnere mich unter andern, daß Sulzer den Umfang der Vernunft von dem Umfange des Geschmacks abhängen läßt, und ihren wahren Grund in | der durch die Deutlichkeit der Vorstellungen verursachten Aufmerksamkeit findet. Nun muß nothwendig diese Deutlichkeit der Vorstellungen, die eine U r s a c h e der Aufmerksamkeit ist, zu i h r e r Ursache die Vollkommenheit der Eindrücke haben; welches denn allerdings darauf hinausläuft, daß die Vernunft, als auszeichnender Character des Menschen vor den Thieren, nur der Character seiner besondern Sinnlichkeit sey. Ich. Dies behauptet Sulzer auch mit klaren Worten. | Und wo lebt die Philosophie, aus deren Grundsätzen sich nicht dasselbige ergäbe; die es nicht auch, in dieser oder jener Form als Lehre vortrüge, und ihre Lieblingshypothesen darnach bildete? Nur daß wir meistens hinterher diese aus der Sinnlichkeit hervorgegangene Vernunft, ich weiß nicht was für ein Junges wunderbar gebähren lassen, das mit ganz eigenen Gaben und Kräften ausgerüstet seyn soll, um uns weit über die Sphäre unserer Empfindungen zu erheben. – Ich lästre doch wohl nicht, was auch Sie anbeten? |

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tia repræsentativa hujus mundi pro situ corporis organici in mundo. Tolle corpus, typum illum, secundum quem mundus repræsentatur: tollis repræsentationem. Sine repræsentatione nulla spiritualitas; nulla immortalitas. Hanc ipsam objectionem autem nullo 30 negotio removeri, si cum Leibnitio defendatur, nunquam deesse spiritibus finitis corpora, quis non intelligit? – Ibid.] – – Sane aliquando cogitavi innumeras quidem animas sensitivas esse in semi|nibus humanis, ut omnium animalium; sed eas solas habere rationalitatem, etsi nondum se exserentem, quarum corpus organicum in id destinatum esset, ut aliquando sit humanum, quod jam in ea perspici posset a 35 satis perspicaci. (p. 288.) – Itaque statuo animas quidem in animalculis | seminalibus inde ab initio rerum latentes non esse rationales, donec per conceptum ad vitam humanam destinentur. (p. 229.)

7–8 vortrefliche Zergliederung] Zergliederung dasselbige] dasselbe 21 Form] Form,

20 lebt] lebt seit Aristoteles 40

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Er. Darüber können Sie ruhig seyn. Sie müssen bemerkt haben, daß wenn ich von einem Menschen das Höchste sagen will, ich von seinem S i n n e rede. M a n h a t n i e m e h r V e r s t a n d a l s man Sinn hat. Ich. Der gemeine Sprachgebrauch, der gewöhnlich klüger ist als die Philosophie, wenn sie ihn zum Narren machen will, lehrt dasselbige; zumal in unserer Deutschen Sprache, von welcher Leibnitz sagte: ignorat inepta. Die treffendsten Charactere, sowohl | des Verstandes als des Unverstandes, sind vom Sinne hergenommen. Unsinn, als der äusserste Mangel des Verstandes, steht dem Sinne entgegen. Hernach kommen Schwachsinn, Stumpfsinn, Leichtsinn, und ihr Entgegengesetztes, Scharfsinn und Tiefsinn. Er. Sie vergessen den Wahnsinn; ein Wort, dessen Bedeutung mir in diesem Augenblick | ganz ausserordentlich auffällt. Wir nennen einen Menschen wahnsinnig, wenn er seine Einbildungen für Empfindungen oder würkliche Dinge hält. Also sprechen wir ihm deswegen die Vernunft ab, weil seinen Vorstellungen, die er für Dinge hält, d a s D i n g , oder die sinnliche Wahrheit mangelt; weil er für würklich a n s i e h t , was nicht würklich ist. Und folglich würde alle Vernunfterkenntniß geschaffener Wesen zuletzt an ihrer sinnlichen Erkenntniß geprüft werden müssen; jene müßte von dieser ihre Gültigkeit entlehnen. Ich. Mir deucht, wer hieran zweifelt, darf nur an seine Träume denken. So oft wir träumen, befinden wir uns in einer Art von Wahnsinn. Das Principium aller Erkenntniß, alles Wahrheitsgefühls, aller rich|tigen Verknüpfung, d i e W a h r n e h m u n g d e s Würklichen verläßt uns, und in dem Augenblick, da sie uns verläßt, oder aufhört überwiegend zu seyn, können wir Dinge (d. i. Vorstellungen, die wir für Dinge halten, | wie im Traume geschieht) auf die tollste Weise zusammenreimen; denn wir reimen die Dinge objectiv nie anders zusammen, als nach den objectiven Bestimmungen der Ordnung, in der sie uns erscheinen; und die objective Ordnung, in der sie uns im Traume erscheinen, erfolgt hauptsächlich nach blos subjectiven Bestimmungen. Wir halten aber überhaupt, was uns als objectiv erscheint, für würklich, oder w i r g l a u b e n w a s w i r s e h e n , u n d k ö n n e n g a r n i c h t a nders; darum müssen wir im Traume, wo das würkliche Daseyn, 7 dasselbige] dasselbe 18 die sinnliche Wahrheit] d i e s i n n l i c h e Wahrheit 25 Principium] Princip 37 Daseyn,] Daseyn

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das Zugleichdaseyn des blos Vorgestellten nicht ausschließt, die ungereimtesten Dinge glauben. Ueberall bequemt sich die Vernunft nach den Erscheinungen; sie schickt sich in den Wahn, wie sie sich in die Wahrheit schickt; träumt mit der Seele, und wacht mit dem Leibe. Er. Aber woher nun die Gewißheit, wenn wir wachen, daß wir nicht träumen? Woran läßt sich das | Wachen vom Träumen, und das Träumen vom Wachen zuverläßig unterscheiden? | Ich. Vom Träumen läßt sich das Wachen nicht unterscheiden, wohl aber vom Wachen das Träumen. Er. Was wollen Sie mit diesem Wortspiel? Ich. Sie erinnern, daß zu jedem Unterschiede wenigstens zwey Dinge erforderlich sind. Er. Ich fange an Sie zu verstehen. Sie wollen sagen, im wachenden Zustande haben wir eine klare Vorstellung von diesem Zustande, und zugleich vom Zustande im Traume; im Traume hingegen haben wir … Nein, so geht es nicht. Ich. Nicht wahr, Sie wissen nicht, ob Sie im Traume mehr eine Vorstellung vom Wachen, oder mehr eine vom Traume haben wollen? | Er. Sie habens getroffen. Wir glauben zu wachen wenn wir träumen; also haben wir beym Träumen eine Vorstellung vom Wachen. Wir untersuchen oft im Trau|me, ob wir nicht träumen; also haben wir selbst im Traume auch eine Vorstellung vom Träumen. Nun ist aber die Vorstellung vom Wachen im Traume eine falsche Vorstellung; und die vom Traume im Traume verdient gewiß keinen bessern Namen. Wirren Sie mir dieses auseinander, wenn Sie können. Ich. Das Auseinanderwirren ist eine böse Sache. Lassen Sie uns den Anfang des Fadens suchen. Erinnern Sie sich noch, was Sie erst vor einer Stunde versicherten, nie in Ihrem Leben mehr vergessen zu können? Er. Sehr wohl! Ich. Schwerlich! Was Sie glaubten nie mehr | vergessen, und nie mehr bezweifeln zu können, war, daß die Erkenntniß des Würklichen ausser uns, uns geradezu durch die Darstellung des Würklichen selbst gegeben werde, so daß kein andres Erkennt14 Ich … verstehen. Sie] Sie 21 Sie habens getroffen.] So ist es. wachen] wachen, 23 untersuchen] fragen uns 36 uns geradezu] geradezu

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nissmittel dazwischen eintrete. Ferner: daß alle bloße V o r s t e llungen von Gegenständen ausser uns nur Copieen | der in so fern unmittelbar wahrgenommenen würklichen Dinge seyn, und darauf auch immer, als auf ihre Quellen zurückgeführt werden können. – War es nicht dieses, was Sie vollkommen gefaßt zu haben versicherten? Er. Und abermals versichere. Ich. Also noch einmal: alle Vorstellungen von Gegenständen ausser uns, sind Copieen der unmittelbar1 von uns wahrgenommenen würklichen Dinge, oder sind aus Theilen der|selben zusammengesetzt; kurz: b l o ß e d e n w ü r k l i c h e n D i n g e n n a c h g emachte Wesen, die ohne dasselbe auf keine Weise da seyn können? Er. Zuverläßig. Ich. Aber auch darinn sind wir, meine ich, übereingekommen, daß diese nachgemachte Wesen von würklichen Wesen nur durch Vergleichung mit dem Würklichen selbst unterschieden werden können? Er. Richtig. | Ich. Also muß in der Wahrnehmung des Würklichen etwas seyn, was in den bloßen Vorstellungen nicht ist, sonst könnte beydes nicht von einander unterschieden werden. Nun betrifft aber dieser Unterschied gerade d a s W ü r k l i c h e und sonst gar nichts. Also kann in der bloßen Vorstellung d a s W ü r k l i c h e s e l b s t nie dargestellt werden. | Er. Wie? die Vorstellungen sind nur Copieen der würklichen Dinge, nur aus Theilen derselben zusammengesetzt, und sollen das Würkliche doch nie darstellen können? Ich. Ich sage, die Vorstellungen können das Würkliche, a l s solches, nie darstellen. Sie enthalten nur Beschaffenheiten der würklichen D i n g e , nicht das W ü r k l i c h e s e l b s t . Das Würkliche kann ausser der unmittelbaren Wahrnehmung desselben eben so wenig dargestellt werden, a l s d a s B e w u s t s e y n a u s s e r d e m 1

Ich bitte nicht zu vergessen was hier unter unmittelbar verstanden wird.

35 S. S. 56–65 dieser Schrift.

2–3 in so fern unmittelbar] unmittelbar 4 Quellen] Quellen, 9 uns,] uns 12 dasselbe] dieselben 24–25 Also … werden.] A l s o k a n n i n d e r b l o ß e n Vorstellung das Wirkliche selbst, die Objectivität, nie dargestellt werden. 34–35 Ich bitte … dieser Schrift. fehlt

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Be w u s t s e y n , d a s L e b e n a u s s e r d e m L e b e n , d i e W a h r h e i t ausser der Wahr|heit. Wahrnehmung des Würklichen und Gefühl der Wahrheit, Bewustseyn und Leben, sind Eine und Dieselbe Sache. Der Schlaf ist des Todes Bruder, und der Traum nur des Lebens Schatten. Wer nie gewacht hätte, könnte nie träumen, und es ist unmöglich, dass es ursprüngliche Träume, einen ursprünglichen | Wahn geben könne. Diese Wahrheit scheint mir von der größten Wichtigkeit zu seyn, und deswegen bat ich Sie vorhin so sehr, den Erkenntnißgrund derselben, welcher der Erkenntnißgrund der Gewißheit selbst, und ihre einzige Quelle ist, recht fest zu halten. Er. Würklich fühle ich erst jetzt, wie sehr Sie Ursache hatten, mir dieses so nachdrücklich zu empfehlen, und wie hart es hält, aus einem langen tiefen Traume recht zu erwachen. Man träumt das Erwachen selbst wieder in seinen Traum hinein, und hat nur desto grössere Mühe, sich von neuem und vollkommen zu besinnen. Ich. Darum, mein Freund, was die philosophischen | Magnetisierer1 auch von ihren Manipu|lationen, und dem dadurch erregten divinatorischen Schlaf rühmen mögen: wir wollen lieber allen Schlaf uns aus den Augen reiben, und anstatt diesen eine Klemme zu erkünsteln, sie so weit aufthun als wir können; lieber das Wachen verbessern, als das Träumen, und für keinen Preis uns desorganisieren lassen. Wer über seinen Vorstellungen, und den Vorstellungen von seinen Vorstellungen aufhört die Dinge selbst wahrzunehmen, der fängt an zu träumen. Die Verknüpfungen dieser Vorstellungen, die Begriffe die sich aus ihnen bilden, werden dann immer subjectiver, und in demselbigen Verhältniß an objectivem Inhalt ärmer. Wohl ist das ein großer Vorzug unserer Natur, daß wir fähig sind, von den Dingen solche Eindrücke, die uns ihr Mannichfaltiges unterscheidend darstellen, anzunehmen, und so das innere Wort, d e n B e g r i f f , zu empfangen, dem wir alsdann ein äusseres Wesen durch einen Schall unseres Mundes erschaffen, und | ihm die flüchtige Seele einhauchen. Aber diese aus endlichem 1

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Den medicinischen Magnetismus lasse ich an seinen Ort gestellt seyn, ohne dafür noch dawider eine entschiedene Meynung zu haben, weil verstän- 35 dige, gelehrte und ehrwürdige Männer versichern gesehen zu haben, und ich nicht gesehen habe. 7 geben könne] gebe Darum,] Darum

8 und deswegen] deswegen

15 seinen] den

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Saamen gezeugten Worte, sind nicht wie die | Worte deß d e r d a ist, und ihr Leben ist nicht wie das Leben des aus dem Nichts hervorrufenden Geistes. Lassen wir diesen unendlichen Unterschied ausser Acht, so entfernen wir uns in demselben Augenblicke von der Quelle aller Wahrheit, verlieren Gott, die Natur, und uns selbst. – Und es ist so leicht, ihn ausser Acht zu lassen! Denn erst werden unsere der Natur abgeborgten Begriffe minder oder mehr nach subjectiven Bestimmungen der Aufmerksamkeit gebildet, fortgeleitet, verknüpft und geordnet. Hernach geht aus der erhöhten Fertigkeit zu abstrahieren, und willkührliche Zeichen an die Stelle der Dinge und ihrer Verhältnisse zu setzen, eine solche blendende Klarheit hervor, daß d i e D i n g e s e l b s t davon verdunkelt, und am Ende gar nicht mehr gesehen werden. Nichts kann einem Traume ähnlicher seyn, als der Zustand, in welchem sich der Mensch alsdenn befindet. Denn auch im Traume sind wir nicht ohne alle Empfindung des Würklichen. Aber die lebhafteren Vorstellungen überwiegen diese schwachen Eindrücke, und die Wahrheit wird im Wahn verschlungen. | Er. Ich wünschte, diese Vergleichung würde von einem guten Kopf einmal so ausgeführt, wie sie ausgeführt werden könnte. Ein merkwürdiger Unterschied zwischen dem gemeinen und dem philosophischen Traume, müßte aber nicht vergessen werden; nemlich, daß man aus dem gemeinen Traume endlich doch von selbst erwacht, in den philosophischen hingegen sich nur immer tiefer hineinträumt, und seine Vollkommenheit bis zum wunderbarsten Somnambulism erhöht. Ich. Sehr gut! Stellen Sie sich einen Somnambulisten vor, der auf die höchste Spitze eines Thurms geklettert wäre, und nun träumte – Nicht, daß Er auf dem Thurm stünde, und von ihm getragen würde; sondern daß der Thurm an ihm herabhienge; am Thurm hienge die Erde; und E r hielte das alles schwebend – O Leibnitz, Leibnitz! | Er. Wie kommen Sie zu dieser plötzlichen Ausrufung? A n r ufung kann es doch unmöglich seyn. | Ich. Warum sollt’ es keine A n r u f u n g seyn können? Ich wüßte kaum einen Denker, der heller gewacht hätte wie unser Leibnitz. 2–3 hervorrufenden] Wesen hervorrufenden 20 werden könnte] zu werden verdiente 22 Traume,] Traume 35 keine] nicht

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Er. Doch auch keinen der tiefer g e t r ä u m t hätte? Wenn Sie dieses vom Erfinder der prästabilierten Harmonie und der Monaden läugnen, so weiß ich wahrlich nicht, was ich von Ihrer Lobrede auf das Wachen denken soll. Ich. Die prästabilierte Harmonie ruht auf einem Grunde, der mir sehr fest zu seyn dünkt, und auf den ich mit Leibnitz baue. Auch stehen die Monaden, oder die substanziellen Formen nebst den angebohrnen Ideen, bey mir in nicht geringem Ansehn. – Was sehen Sie mich so steif an? | Er. Ich kann nicht glauben, daß Sie meiner spotten wollen; und Ihr Ernst kann es doch auch nicht seyn, wenn Sie von Schwarz und Weiß, wie von einerley Farbe reden. Erst leiten Sie die Beschaffenheit der Vernunft aus der Beschaffenheit der Sinnlichkeit her, | und lassen die Vollkommenheit der Organisation die mögliche Vollkommenheit der Erkenntniß bestimmen; und nun läugnen Sie mit Leibnitz allen physischen Einfluß des Leibes auf die Seele, und lassen diese alle Vorstellungen aus sich selbst herausspinnen. Ich. Wenn Sie die Philosophie des Leibnitz im Leibnitz selbst studiert hätten, würden Sie mir keine Widersprüche vorwerfen. Es lehrt ja dieser große Mann ausdrücklich, und wird nicht müde zu wiederhohlen, daß alle erschaffenen Geister, nothwendig mit einem organischen Cörper vereinigt seyn müssen. Ich erinnere mich unter andern sehr deutlich einer Stelle aus den Nouveaux Essais sur l’entende|ment humain, wo es (p. 171) heißt: »Die Sinne geben den Stoff zur Reflexion, u n d w i r w ü r d e n u n s e r D e nken selbst nicht denken, wenn wir nicht an etwas anders dächten, nemlich an die Particularitäten, welche die Sinne uns verschaffen. Und ich bin überzeugt, daß erschaffene Seelen und Geister sinnlicher Werkzeuge und sinnlicher Vorstellungen eben so wenig je entbehren können, als sie je ihren Verstand, | ohne willkührliche Zeichen zu Hülfe zu nehmen, gebrauchen können.« – Eben dieser Leibnitz sagt in der Theodicee (§. 124.): »Woran sollte ein vernünftiges Wesen denken, wenn keine Bewegung, keine Materie, keine Sinne wären? Hätte ein solches 9 steif] starr 12 Weiß,] Weiß (p. 171)] (p. 171) wo es

22 Geister,] Geister

21 große Mann] so DvD2; D1: Mann

24 aus] in

25 wo es

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Wesen nur deutliche Vorstellungen,« (d. i. erkennte es alles auf einmal unmittelbar und vollkommen) »so wäre es Gott; seine Einsicht hätte keine Grenzen. So bald aber eine Mischung von verworrenen Vorstellungen da ist, so sind Sinne, so ist Materie da. Deswegen giebt es nach meiner Philo|sophie kein vernünftiges Geschöpf ohne irgend einen organischen Cörper; keinen erschaffenen Geist, der von aller Materie getrennt wäre.« – Dieselbige Behauptung finden Sie überall im Leibnitz wiederholt, denn sie hängt mit allen seinen Grundsätzen auf das genaueste zusammen1. | 1

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Zu den auffallendsten Stellen gehören diejenigen, welche ich in meinem dritten Schreiben an Mendelssohn aus den Principes de la Nature & de la Grace angeführt habe. Sie mögen hier noch einmal, i n D e u t s c h e r S p r a c h e , verknüpft mit einigen andern, erscheinen. »Eine Monade für sich, und nur in Einem Moment betrachtet, kann von einer andern nur durch ihre innere Eigenschaften und Handlungen, welche nichts anders seyn können, als ihre Perceptionen, (das ist, die Vorstellungen des Zusammengesetzten, oder des Aeusserlichen, im Einfachen,) und ihre Appetitionen, (das ist, ihr Streben von einer Perception zur andern,) welche die Quellen der Veränderungen sind, unterschieden werden. Denn die Einfachheit der Substanz verhin|dert nicht die Mannichfaltigkeit der Modificationen, 1491 die sich in derselbigen Substanz beysammen finden müssen, u n d s i e m ü s s e n in der Verschiedenheit der Verhältnisse zu den Dingen, die ausser ihr sind, bestehen. Gerade wie in einem Centro oder Punkt, ob er gleich ganz e i n f a c h i s t , e i n e u n e n d l i c h e M e n g e W i n k e l d u r c h d i e L i n i e n , w e lche darinn zusammenlaufen, gebildet werden.« §. II. »… Jede einfache Substanz, oder Monade, welche das Centrum einer zusammengesetzten Substanz, (wie z. B. eines Thieres) und das Principium seiner U n i c i t ä t ausmacht, ist mit einer aus unendlich vielen andern M o n a d e n zusammengesetzten M a s s a umgeben, welche den eigenen Leib dieser C e ntral-Monade ausmachen. Z u f o l g e d e n A f f e c t i o n e n d i e s e s L e i b e s s t e l l t d i e M o n a d e , w i e i n | e i n e r A r t v o n C e n t r u m , d i e D i n g e a u s- 1501 s e r i h r v o r . « §. III. » J e d e M o n a d e , m i t e i n e m b e s o n d e r n L e i b e , m a c h t e i n e l e b e nd i g e S u b s t a n z a u s . Also ist nicht allein mit den Gliedern oder Organen überall Leben verknüpft, sondern es giebt auch eine Unendlichkeit von Graden in den Monaden, indem die einen vor den andern minder oder mehr hervorragen. Wenn aber die Organen einer Monade so eingerichtet sind, daß das Verschiedene in den Eindrücken, und folglich in den Perceptionen, welche diese Eindrücke darstellen, hervorkommt und sich unterscheidet (wie z. B. wenn vermittelst der Gestalt der Säfte in den Augen, die Lichtstrahlen concentriert wer-

2 vollkommen] vollkommen, 11–74,36 ich in … angeführt werden.] in dem dritten Schreiben an Mendelssohn aus den Principes de la Nature et de la Grace 45 angeführt worden sind.

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Er. Aber eben dieser Leibnitz sagt doch eben so | ausdrücklich auch: daß man ihn ganz unrecht | verstünde, | wenn man glaubte, er eigne einer jeden Seele eine besondere Portion von Materie zu, eine gewisse Masse, die ihr eigen zugehöre, und zu ihrem Dienst gewidmet sey. Er sagt ausdrücklich, daß wenn es auch keine Seelen gäbe, die Leiber dennoch handeln wür|den wie sie gegenwärtig handeln; und umgekehrt, wenn es auch keine Leiber gäbe, die Seelen dennoch handeln (d. i. eben die Vorstellungen und Bestimmungen des Willens hervorbringen) würden, wie sie gegenwärtig thun1. Ich. Sie bringen zwey Sätze in Verbindung, die nicht zusammen gehören. Was den ersten angeht, so soll durch denselben nur besser eingeschärft werden, daß jede Substanz jeder andern Substanz zugleich Sinn und Gegenstand sey, und es keine besondere Materie für die Formen der Anschauung gebe. Jede einzelne Form wird durch die Form des Ganzen bestimmt, und was wir Sinn nennen, ist nichts anders, als die Art des Verhältnisses einer Substanz zur andern im großen All2. | Seele, Sinn und | Gegenstand; Begierde, Genuß, und Mittel des Genusses, sind in jedem Punkte der Schöpfung unzertrennlich vereinigt. Darum macht auch nach Leibnitz, die mit einem Leibe vereinigte Entelechie, ein Unum per den, und mit vermehrter Kraft würken); so kann der Eindruck bis zum anhaltenden Bewustseyn (sentiment), das ist, bis zu einer mit Gedächtniß verknüpften Perception steigen, so daß von dem Eindruck ein gewisses Echo lange zurückbleibt, um sich bey Gelegenheit hören zu lassen. Und ein solches lebendiges Wesen wird ein T h i e r , wie seine Monade | eine S e e l e genannt. Und wenn diese Seele bis zur V e r n u n f t erhoben wird, so ist sie etwas höheres, und sie wird zu den Geistern gezählt.« (§. IV.) … »Die menschlichen Saamenthierchen sind nicht vernünftig, und sie werden es erst, wenn die Empfängniß diese Thiere zur menschlichen Natur bestimmt.« §. VI. In einem Schreiben an Des Maizeaux (Rec. de Des Maiz. P. II. Opp. II. p. 66.) sagt Leibnitz: »Ich glaube, daß die Seelen der Menschen präexistiert haben, nicht als vernünftige, sondern blos als sensitive Seelen, die erst dann zu ihrem höheren Grade, nemlich der Vernunft, gelangt sind, da der Mensch, den die Seele beleben sollte, empfangen war. « Mehrere Stellen sollen unten angeführt werden. 1 Principia Philosophiæ. §. 74. 84. 2 Les unités de substance ne sont autre chose, que de differentes concentrations de l’univers, representé selon les diffe|rens point de vûe qui les distinguent. Leibn. Opp. T. II. p. 75. 2 verstünde, … glaubte] verstehe, | … glaube 14 Sinn und Gegenstand] Sinn und Gegenstand 15 Formen] Werkzeuge

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se, und nicht blos ein Unum per accidens aus1. Wenn irgend ein Theil der Materie zu keinem organischen Gebäude gehörte, so wäre irgend ein Theil der Welt ohne Beziehung auf die übrigen. Also ist jeder, auch der kleinste Theil der Materie, ein gegliedertes Glied, und die Materie nicht allein ins Unendliche theilbar, sondern würklich ins Unendliche getheilt2. | Die Beschaffenheit eines jeden einzelnen organischen Gebäudes, bestimmt die Beschaffenheit einer jeden einzelnen Seele, denn eine jede Seele stellt zuerst ihren Cörper, d e r i n i h r a u s g edrückt ist; und nicht anders, als nach Maaßgabe dieses Cörpers, die Welt vor. Non in objecto, sagt Leibnitz, sed in modificatione cognitionis objecti monades limitatæ sunt. Omnes confuse ad infinitum tendunt, sed limitantur & di|stinguuntur per gradus perceptionum distinctarum 3. |

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Lettre à Mr. Remond de Montmort. §. III. (Opp. II. p. 215.) Nouveaux Essais p. 278. Vornemlich die Briefe an Des Bosses, Opp. T. II. P. I. p. 265. 2 Principia Philos. §. 68. Considérations sur les Principes de vie, & sur les Natures Plastiques. Opp. T. II. P. I. p. 39. Am Schlusse (p. 44) sagt Leibnitz: Dieu seul est au-dessus de toute la matiere, puisqu’il en est l’auteur; mais les créatures franches ou | affranchies de la matiere, s e r o i e n t d e t a c h é e s e n m ê m e t e m s 1541 de la liaison universelle, et comme les deserteurs de l’ordre général. – S. 275. (ibid.) wo von den Engeln die Rede ist, heißt es: Has (intelligentias) removere a corporibus & loco, est removere ab universali connexione & ordine mundi, quem faciunt relationes ad | tempus & locum. – Auf derselben Seite, 2422 vorher, wo von einer zwiefachen Art, wie Engel mit Cörpern vereinigt seyn können, die Rede ist, sagt Leibnitz: Fatendum tamen est, ambas corpori unitas esse, ut rationem habeant Entelechiæ. 3 Ibidem §. 62. Folgende Stellen aus eben diesen Princ. Philos. mögen die Materie noch mehr ins Licht setzen. §. 24. Appareat inde, nos, quando nihil distincti, & ut ita loquar, sublimis, ac gustus altioris in nostris perceptionibus habemus, in perpetuo fore stupore. Atque id monadum nudarum status est. §. 25. Videmus etiam naturam dedisse animantibus perceptiones sublimes, dum iis organa concessit, quæ complures radios luminis, aut complures undulationes aëris colligunt, ut per unionem fiant magis efficaces. §. 62. Cæterum ex eo, quod modo retuli, de rationibus a priori, videmus, cur res aliter se habere nequeant, quoniam Deus totum ordinans respexit ad quam-

7–10 Die Beschaffenheit … nach Maaßgabe] Wie nach Spinoza so auch nach 2422 40 Leibnitz, stellt eine jede Seele zuerst, das ist unmittelbar, ihren Körper, und

nicht anders, als gemäß der Beschaffenheit und Einrichtung 22 es:] so D1; D2: es.

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Ich glaube nun zu Ihrem zweyten Satz übergehen zu können. | Er. Da erwarte ich Sie! | Ich. Und ich freue mich darauf, Sie da zu treffen. | Wir sind vorhin mit einander übereingekommen, als über etwas das in allen Systemen, die Idealistischen Systeme allein ausgelibet partem, & inprimis ad unamquamque monadem, cujus natura cum sit repræsenta|tiva, nihil est quod eam limitare posset ad unam tantum rerum partem repræsentandam, | quamquam verum sit, quod hæc repræsentatio non sit, nisi confusa respectu partium universi, nec distincta esse possit, nisi quoad exiguam rerum partem, hoc est earum, quæ aut propiores sunt, aut majores respectu uniuscujusque monadis, alias quælibet monas foret aliqua Divinitas. §. 64. Quamvis itaque quælibet monas creata totum universum repræsentet; multo tamen distinctius repræsentat corpus, quod ipsi peculiari ratione adaptatum est, & cujus entelechia existit. Et sicuti hoc corpus exprimit totum universum per connexionem omnis materiæ in pleno, ita etiam anima totum repræsentat universum, dum repræsentat hoc corpus, quod ad ipsam spectat peculiari quadam ratione. §. 85. Quod spiritus, seu animas rationales concernit, quamvis reperiam eodem modo se rem habere cum omnibus viventibus, & animantibus, quemadmodum dixi, scilicet quod animal & anima nec oriantur nisi cum mundo, nec intereant nisi cum | mundo: id tamen peculiare est in animalibus rationalibus, quod ipsorum animalcula spermatica, qua talia, habeant tantum animas ordinarias, seu sensitivas, sed quæ electa sunt, ut ita dicam, & quum ad naturam humanam ope conceptionis actualis perveniunt, eorum animæ sensitivæ elevantur ad gradum rationis, & prærogativam spirituum. Es ist kaum zu begreifen, wie K a n t (Cr. d. r. Vern. S. 276.) Leibnitzen Schuld geben konnte, »er habe den Sinnen nichts als das verächtliche Geschäft gelassen, die Vorstellungen des Verstandes zu verwirren und zu verunstalten.« Vollkommen mit demselben Grunde könnte man behaupten, Leibnitz hätte auch d e m g a n z e n U n i v e r s o nichts als das verächtliche Geschäft gelassen, die Vorstellungen des Verstandes zu verwirren und zu verunstalten. – Diese Beschuldigung, die ich kaum begreife, erinnert mich an eine andere, die ich mir schlechterdings nicht zu erklären weiß. | Nach Herrn Kant (Berl. Monat. Schrift. Octob. 1786. S. 323. Note) soll der Spinozismus (doch wohl der Spinozismus, wie ihn die Ethik lehrt, oder wie er von mir ist dargestellt worden? denn was hätte ein andrer an diesem Ort zu thun) »von Gedanken sprechen, die doch selbst denken, und also von einem Accidens, das doch zugleich für sich als Subject existiert.« – Wenn je ein Mensch davon entfernt war, dergleichen Ungereimtes sich einkommen zu lassen, so war es Spinoza. Wie würde man mit unser einem umgehen, wenn er dergleichen Urtheile von sich gäbe? Aber sehr tröstlich ist es für unser einen, dergleichen Urtheile auch über Männer, wie Leibnitz und Spinoza, zu lesen.

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26–43 Es ist … zu lesen. fehlt 41 gäbe?] so Dv; D1: gäbe.

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nom|men, gleichen Bestand hätte: daß, wie sehr ein Individuum auch von aussen her bestimmt werden möchte, es doch allein nach den Gesetzen seiner eigenen Natur bestimmt werden könne, folglich, in sofern, s i c h s e l b s t b e s t i m m e n m ü s s e . Wir behaupteten einmüthig, ein solches Individuum müsse etwas an und für sich selbst seyn, weil es sonst nie etwas für ein andres seyn, und diese oder jene zufällige Beschaffenheit annehmen könnte; es müsse an und für sich selbst würken können, weil es sonst unmöglich wäre, daß irgend eine Würkung durch dasselbe entstünde, fortgesetzt würde, oder nur in ihm erschiene. – Nun sagen Sie mir, ob Sie diese Meynung behalten wollen, oder nicht? Er. Ich behalte sie zuverläßig. Ich. So werden Sie denn auch ohne Anstand einräumen, und hätten mir es wahrscheinlich auch schon gerade zu eingeräumt: daß die Ge|genstände, die wir | ausser uns wahrnehmen, unser W a h rnehmen selbst, das ist, die innere Handlung des Empfindens, Vorstellens und Denkens nicht hervorbringen können; sondern daß unsere Seele, oder die denkende Kraft in uns, jede Empfindung, jede Vorstellung und jeden Begriff, als solche, s e l b s t u n d allein hervorbringen müsse? Er. Ohne Anstand. Der äusserliche Gegenstand kann eben so wenig irgend eine Bestimmung des Denkens, a l s s o l c h e , hervorbringen, als er das Denken selbst, oder die denkende Natur hervorbringen kann. Würklich drückt es zu wenig von dem Ungereimten der entgegengesetzten Meynung aus, wenn man, wie Spinoza, fragt: ob die Seele eine leblose Tafel sey, welche von den Dingen nur übermahlt werde; oder, wie Leibnitz, ob sie Fenster oder andre Oeffnungen habe, durch welche die Dinge hineinsteigen. Ich. In dem denkenden Wesen selbst werden | folglich, u n t e r derselbigen Einschränkung, alle seine Modificationen oder Veränderungen, wie sie Namen haben mögen, auch einzig und allein gegründet seyn müssen. Imagination, Gedächtniß, Verstand, als Beschaffenheiten, die dem denkenden Wesen allein zugehören können, müssen auch, a l s s o l c h e , allein durch das denkende We-

19–20 jede Empfindung, jede] jede 20–21 als solche, s e l b s t u n d a l l e i n] a l s s o l c h e , s e l b s t u n d a l l e i n 23 des Denkens, a l s s o l c h e ,] d e s D e n k e n s , als solche, 30–78,3 Ich. In dem … unstreitig. fehlt

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sen selbst i n i h m s e l b s t gewürkt oder hervorgebracht werden. Er. Ganz unstreitig. Ich. Nun weiter. Das denkende Wesen, a l s s o l c h e s , hat mit dem cörperlichem Wesen, a l s s o l | c h e m , keine Eigenschaften gemein, und es ist unmöglich, daß irgend eine Bestimmung des Einen, je eine Bestimmung auch des Andern werde. – Das geben Sie doch zu? Er. Warten Sie einen Augenblick, daß ich mich besinne. | Ich. So lange Sie wollen. Er. Wenn ich Ihnen Ihren letzten Satz zugebe, so werden Sie fortschließen: folglich können beyde Wesen gegenseitig keine Beschaffenheiten von einander annehmen; folglich auch nicht in einander würken, und so hätte es mit dem Wesentlichen der harmonia præstabilita seine Richtigkeit. Ich. Ich begreife nicht, was Sie dagegen haben können, da dieselbige Gedankenreihe, und dasselbige Resultat Ihnen in den Briefen über Spinoza so durchaus und so auffallend wahr geschienen hat. Er. Mir deucht, da wäre doch ein mächtiger Unterschied. Cörperliche Ausdehnung und Denken sind beym Spinoza nur verschiedene Eigenschaften Eines und desselben Wesens; bey Leibnitz hingegen zwey ganz verschiedene Din|ge, die, man weiß nicht in was für eine Harmonie gerathen sind. Ich. Zwischen Spinozens und Leibnitzens Vorstellung von der Vereinigung des denkenden Wesens mit dem cörperlich ausgedehnten Wesen, ist allerdings ein Un|terschied. Ich glaube aber, Sie werden nach einer tieferen Untersuchung finden, daß nicht Spinoza, sondern unser Leibnitz dabey gewinnt1. Zwey ganz verschiedene Dinge, wie Sie Sich ausdrücken, die, man weiß nicht in was für eine Harmonie (öfters gebraucht Leibnitz die Wörter Con-

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Unterschied und Vorzug liegen im Begriff der formæ substantialis, welche der eigentliche Kern ist, aus welchem Leibnitzens System erwuchs. Hierüber mehr an einem andern Ort.

6–15 und es … Richtigkeit.] es ist also unmöglich … / Er. / Daß sie in einan- 35 der eingehen, wollen Sie sagen, Bestimmungen gegenseitig mit einander wechseln, sich gegenseitig geben, und von einander nehmen können: A l s o … 16 dagegen] dawider 32 formæ] forma 34 Ort.] Ort. S. Briefe über die Lehre des Spinoza, zweyte Aufl. Beilage VI.

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formitas und Consensus) gerathen sind, sind nach Leibnitz das denkende und das cörperliche Wesen keinesweges. Sie sind, was die erschaffenen Wesen angeht, vollkommen so unzertrennlich bey ihm wie bey’m Spinoza. | Er. Reimen Sie mir das mit der deutlichen Aeusserung des Leibnitz, die ich Ihnen vorgehalten habe: daß wenn es auch keine Seelen gäbe, die Leiber dennoch handeln würden, wie sie gegenwärtig handeln; und umgekehrt, wenn es auch keine Leiber gäbe, die Seelen dennoch handeln würden, wie sie gegenwärtig handeln. | Ich. Sie vergessen das PER IMPOSSIBILE, welches Leibnitz wohlbedächtig hinzufügte. Er erlaubt sich öfter dergleichen metaphysische Fictionen, wie er selbst sie wiederholt genannt hat. In dem ersten öffentlichen Vortrage seines neuen Systems äusserte er sich sogar dahin: »Daß die Perceptionen, oder die Vorstellungen von äusseren Dingen, in der Seele, kraft ihrer eigenen Gesetze, wie in einer besondern Welt entstünden, u n d a l s w e n n n i c h t s a l s G o t t u n d d i e S e e l e v o r h a n d e n w ä r e n .« Aber nun lesen Sie seine Erläuterungen dar|über, vornemlich die gegen Bayle; lesen Sie das Schreiben an Wagner; die Commentatio de Anima Brutorum; die höchst merkwürdigen Briefe an Des Bosses1. – Uebri1

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Um weniger zum Nachschlagen geneigte Leser etwas mehr zu reizen, rücke ich hier ein Paar kurze Stellen aus den Briefen an Des Bosses, und ein Paar andre aus Leibnitzens zweyter Antwort an Bayle ein. »Quod anima non 25 volendo, id est qua spiritualis seu libera est, sed ut Entelechia corporis primitiva adeoque non nisi secundum leges mechanicas influat in actiones corporis, jam monui literis præcedentibus. In schedis autem Gallicis de systemate harmoniæ præstabilitæ agentibus, animam tantum ut substantiam, non ut simul corporis Entelechiam consi|deravi, quia hoc ad rem, quam tunc agebam, ad explicandum 2492 30 nimirum consensum inter corpus & mentem non pertinebat; neque aliud a Cartesianis desiderabatur.« (Opp. T. II. P. I. p. 269.) – Porro substantiam compositam, seu rem illam, quæ facit vinculum monadum, cum non sit mera modificatio monadum, nec quiddam in illis existens, tanquam subjectis, | (neque enim 1661 simul pluribus subjectis inesse eadem modificatio posset) statuerem dependere 35 a monadibus; non dependentia logica (ita scilicet, ut nec supernaturaliter ab iis 4 bey’m] bey 16–18 wie in … w ä r e n .«] w i e i n e i n e r b e s o n d e r e n W e l t entstünden, und als wenn nichts als Gott und die Seele vorhanden wären.« 1–2 das denkende und das cörperliche] so D1; D2: das körperliche 27 Gallicis] 28 animam] so D1; D2: animum 29 consideravi] so D1; D2: ren|sideravi 31 desiderabatur.«] D1D2: desiderabatur.

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gens | möchte | ich für keinen Preis mit einem philo|sophischen Zänker mich auf etwas von allem diesem einlassen. Leibnitz | hat seine Ideen so vielerley Köpfen und Systemen anzupassen, so häufig die Wahrheit dem Irrthum gleich|sam nur unterzuschieben gesucht, und war überhaupt (gezwungen und ungezwungen) so voll allerley Rücksichten: daß wie seine Schriften nun da liegen, man leicht, auch mit dem ehrlichsten Gemüth, aus Vorurtheil oder Kurzsichtigkeit ihn mißverstehen; aber noch unendlich leichter aus Schalkheit ihn mit sich selbst entzweyen kann. Ein jeder nütze nach seiner Art diesen unschätzbaren Nachlaß. Sie aber, lesen Sie die Stücke die ich Ihnen nannte: hernach sprechen wir weiter. Er. Ich verstehe mich zum Lesen und zum Verschub. Aber Eins müssen Sie mir noch heute sagen: in wel|chem Verstande Sie den angebohrnen Ideen und den Monaden zugethan sind. Ich habe eine Citation in petto, die ich gern anbringen möchte. Ich. Damit Sie desto eher zum Schlage kommen, wollen wir mit den Monaden anfangen. Lassen Sie uns abermals von Sätzen aus|gehen, über die wir uns heute schon einmal verstanden haben, und worüber wir uns also separari possit), sed tantum naturali, nempe ut exigat illa venire in substantiam compositam, nisi Deus aliter velit. (Ibid. p. 300.) – Substantia composita non consistit formaliter in monadibus, & earum subordinatione, ita enim merum foret aggregatum, seu ens per accidens. (Ibid. p. 320.) – Tout ce que l’ambition, ou autre passion fait faire à l’ame de César, est aussi representé dans son corps: & tous les mouvemens de ces passions viennent des impressions des objets joints aux mouvemens internes; & le corps est fait en sorte, que l’ame ne prend jamais de resolutions que les mouvemens du corps ne s’y accordent; les raisonnemens mêmes les plus abstraits y trouvent leur jeu par le moyen des caracteres qui les représentent à l’imagination. En un mot, tout se fait dans le corps à l’égard du detail des phénomenes, comme si la mauvaise doctrine de ceux qui croyent que l’ame est maté|rielle, suivant Epicure & Hobbes, étoit véritable; ou comme si l’homme même n’étoit que corps ou qu’Automate. Aussi ont-ils poussé jusqu’à l’homme ce que les Cartésiens accordent à l’égard de tous les autres animaux; ayant fait voir en effet que rien ne se fait par l’homme avec toute sa raison, qui dans le corps ne | soit un jeu d’images, de passions & de mouvemens. O n s ’ e s t prostitué en voulant prouver le contraire, et on a seulement préparé m a t i e r e d e t r í o m p h e à l ’ e r r e u r , e n s e p r e n a n t d e c e b i a i s . (Opp. T. II. P. I. p. 83 & 84.) – La raison du changement des pensées dans l’ame, est la même que celle du changement des choses dans l’univers qu’elle représente. Car les raisons de Mécanique, qui sont developpées dans les corps, sont réunies & pour ainsi dire concentrées dans les ames ou Entelechies, e t y t r o u v e n t m ê m e l e u r s o u r c e . (Ibid. p. 86). 8 mißverstehen;] mißverstehen,

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wahrscheinlich auf das Erste Wort zum zweyten Mal verstehen werden. Wenn ich drey, vier oder fünf verschiedene Dinge hier auf dem Tische zusammenstelle, und sie entweder nach ihrer Zahl oder andern Verhältnissen in Einer Vorstellung vereinige, so ist meine Vorstellung die Vorstellung einer Totalität oder eines Ganzen. Diesem Ganzen oder dieser Totalität correspondiert aber ausser mir nichts, das a n s i c h ein Ganzes oder eine Totalität wäre. Die Einheit meiner Vorstellung ist keine würklich objective oder reale, sondern eine blos ideale Einheit. Er. Ganz richtig. Nur muß nicht vergessen werden, daß doch die D a t a zu dieser Einheit, nicht allein was | die Materie, sondern auch was die Form angeht, würklich ausser mir vorhanden, und das Ganze oder die Totalität in sofern also auch würklich o b j e c t i v ist. Stünden der isolierten Dinge nur vier da, | so hätten Sie nicht die Vorstellung von fünfen; und stünden die fünfe in einer andern Ordnung, so könnten Sie nicht zu demjenigen Bilde sie w a h r h a f t vereinigen, zu welchem Sie sie jetzt vereinigen. Wenn ich nicht irre, so hat aus dieser Ursache Leibnitz dergleichen Dinge semimentalia genannt, und sie mit dem Regenbogen verglichen. Ich. Richtig; und Ihre Bemerkung ist in verschiedenen Absichten von der größten Wichtigkeit. Sie setzt den wahren Unterschied zwischen dem Idealisten und dem philosophischen Realisten fest. Hier aber kommt es nicht auf objective D a t a zu einer Erscheinung, sondern auf das Verknüpfende im Dinge selbst an; auf das Verknüpfende zu einer realen v o l l k o m m e n e n o bjectiven Einheit. Daß aber hier diese isolierten Cörper, weder zu der Zahl fünf, noch sonst einer Form innig verknüpft sind, und also f ü r | s i c h , ausser der Vorstellung, kein Ganzes ausmachen, werden Sie mir ohnbedenklich zugeben? | Er. Ohnbedenklich. Ich. Dasselbige wird von allen Kunstwerken gelten müssen, wie bewundernswürdig ihr Mannichfaltiges auch zu Einem Zweck zusammengefügt sey. Die Form, welche ihre Einheit ausmacht, wohnt in der Seele des Künstlers der sie erfand, oder des Kenners der sie beurtheilt, nicht in ihr selbst. In ihr selbst ist sie ohne wesentlichen Zusammenhang, wie der roheste Klumpe. 1 Erste] so auch D2; Dv(D2): erste 12–13 sondern … angeht,] s o n d e r n a u c h w a s d i e F o r m a n g e h t , 28 noch] noch zu

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Er. Vollkommen richtig. Den organischen Maschinen allein können wir eine solche innerliche Einheit zuschreiben, die wahrhaft objectiv und real ist. Ich. Also, wenn wir die fünf Gegenstände hier auf dem Tische in ein würkliches Ganzes, in ein unum per se verwandeln wollten, müßten wir eine organische Maschine aus ihnen bilden können? | Er. So ist es. Ich. Würden wir aber eine solche Bildung durch ein bloßes Bilden wohl herauszubringen im Stande seyn, gesetzt auch, daß uns alle physischen Kräfte zu Gebot stünden, die Materie grenzenlos nach Willkühr zu zertheilen, und diese Theile eben so willkührlich und grenzenlos gegen einander in Bewegung zu setzen? Würde daraus wohl eine solche Refraction entstehen können, die eine Essenz, ein Compositum substantiale, ein unum per se ausmachte? Er. Unmöglich. Ich. Also, um die Möglichkeit eines organischen Wesens zu denken, wird es nothwendig seyn, dasjenige was seine Einheit ausmacht zuerst: d a s G a n z e v o r s e i n e n T h e i l e n z u d e n k e n?| Er. Allerdings; und ich sitze hier, um durch Sie ein solches Denken in mir bewürken zu lassen. | Ich. Das ist in Ihnen schon lange ohne mich bewürkt, da Sie selbst ein Compositum substantiale sind, und zu dem Gefühl Ihres Daseyns gewiß nie gekommen wären, wenn Sie dasjenige, was Ihre Einheit ausmacht, nicht zuerst empfunden hätten. Sicher sind Sie nicht aus der Peripherie in das Centrum, sondern aus dem Centro in die Peripherie gekommen. Er. Ich bin weder aus der Peripherie in das Centrum, noch aus dem Centro in die Peripherie gekommen, sondern mein ganzer Zirkel war mit einem Male da. So lehren Sie ja selbst. Ich. Wir wollen uns nicht damit aufhalten, einen Mißverstand zu heben, der gering, und hier ohne Folgen ist. Genug, Ihr Cörper | ist aus einer unendlichen Menge von Theilen zusammengesetzt, die er annimmt und wieder zurückgiebt, so daß von allen auch nicht Einer wesentlich zu ihm gehören kann. Sie fühlen aber diese Theile als zu ihm gehörig mittelst einer unsichtbaren Form, die w i e e i n e n W i r b e l m i t t e n i n e i n e m S t r o m e verursacht. 1 Maschinen] Wesen 6 eine organische Maschine] ein organisches Wesen 13–14 eine solche Refraction … die] ein solches Gesammtes … das

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Blos nach | Maasgabe dieser Form fühlen Sie die Menge der Theile, und Sie fühlen sie in einem einzigen, unveränderlichen, untheilbaren Punkt, den Sie Ihr Ich nennen. Sollte dieser Punkt wohl ein bloßer mathematischer Punkt seyn? – Oder denn ein p h y s ischer? Er. Also vollends ein U n d i n g . Ich. Etwas muß unser Ich doch seyn, wenn es anders mit dem, was wir eben ausgemacht haben, seine Richtigkeit behält, nemlich, daß aus der Vielheit nie eine wahre objective Einheit entspringen kann. Dieses Etwas nun, das unmöglich etwas n i c h t reales ist, wird | von Leibnitz die substanzielle Form des organischen Wesens; das vinculum Compositionis essentiale, oder die Monade genannt. Und in so weit bin ich der Monadenlehre mit ganzer Seele zugethan. | Er. Sie überraschen mich. – Aber ich bitte, fahren Sie fort, und sagen Sie mir, was für eine Vorstellung Sie sich von dieser substanziellen Form der organischen Wesen machen. Ich. Ich glaube Ihnen dieses schon gesagt zu haben. Eigentlich kann ich mir gar keine Vorstellung von ihr machen, denn das Eigenthümliche ihres Wesens ist, s i c h v o n a l l e n E m p f i n d u ngen und Vorstellungen zu unterscheiden. Sie ist dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande m i c h s e l b s t nenne, und von dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subject aller seiner Veränderungen ist. Die Seele, um | eine Vorstellung von sich zu haben, müßte sich von sich selbst unterscheiden, s i c h s e l b s t ä u s s e r l i c h w e r d e n k ö n n e n 1. Von dem,

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1 Nous connoissons n o t r e e x i s t e n c e par l’intuition, & celle des autres par sensation … L’apperception immédiate de notre existence & de nos pensées nous fournit les prémieres verités a posteriori ou de fait, c’est-à-dire les prémieres 30 ex|périences; comme les propositions identiques contiennent les premieres 2582 verités a priori, ou de raison, c’est-à-dire les prémieres lumieres. Les unes & les autres sont incapables d’être prouvées & peuvent être appellées immédiates; celles-là, parcequ’il y a immédiation entre l’entendement & son objet, celle-ci, parcequ’il y a immédiation entre le sujet & le prédicat. Leibn. Nouv. Essais sur l’entendement 35 humain. Ch. IX. §. 3.

4–5 seyn? – Oder denn ein physischer?] seyn? / Er. / Unmöglich! / Ich. / Ein physischer dann. 12 die] d i e 13 in so weit] i n s o w e i t 24 Veränderungen] Veränderung 25 Vorstellung] Vorstellung 33 parcequ’il1 … objet,] p a r c e q u ’ i l y a i m m é d i a t i o n e n t r e l ’ e n t e n d e m e n t e t s o n o b j e t ; 40 33–34 parcequ’il2 … le prédicat.] p a r c e q u ’ i l y a i m m é d i a t i o n e n t r e l e s u j e t et le prédicat.

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was Leben | ist, haben wir gewiß das innigste Bewustseyn; aber wer kann sich vom Leben eine Vorstellung machen? Er. Das ist wahr. | Ich. Und nichts anders ist unsere Seele, als eine gewisse bestimmte Form des Lebens. Ich weiß nichts verkehrteres, als das Leben zu einer Beschaffenheit der Dinge zu machen, da im Gegentheil die Dinge nur Beschaffenheiten des Lebens, nur verschiedene Ausdrücke desselben sind; d e n n d a s M a n n i c h f a l t i g e kann im Lebendigen allein sich durchdringen und Eins werden. Wo aber E i nheit, reale Individualität aufhört, da hört alles Daseyn auf, und wenn wir uns etwas, das kein Individuum ist, als ein Individuum vorstellen, so legen wir einem Aggregat unsere eigene Ein|heit unter. Nicht das Concretum, sondern nur die Data dazu sind, in einem solchen Falle, würklich ausser uns vorhanden. Er. Das heißt, Sie stimmen mit Leibnitz auch darinn vollkommen überein, daß es keine andre wahrhaft würkliche Dinge in der Natur giebt noch geben kann, als organische Wesen; und behaupten, daß jede erschaffene oder end|liche Substanz nothwendig aus Leib und Seele zusammengesetzt seyn muß, indem Leib und Seele gegenseitig sich dergestalt auf einander beziehen, daß keins ohne das andre natürlicher Weise bestehen kann. Ich. Auch das letztere m i t L e i b n i t z . Die eigentliche Materie, welche er materiam secundam, oder die Massa nennt, ist, nach ihm, die M i s c h u n g der Würkungen des Unendlichen1. In die|ser Materie befinden sich die wahrhaft würklichen Dinge, | die alle, aus Leib und Seele Zusammengesetzte, das ist, Organische Wesen sind. Aber nicht jede Portion d i e s e r M a t e r i e ist ein organisches Wesen.

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1 Le mélange des effets de l’infini. Nouv. Essais, p. 12. La matiere n’est qu’un amas d’un nombre infini d’êtres. Je donne de la perception à tous ces êtres infi- 30 nis, dont chacun est comme un animal, doué d’ame (ou de quelque principe analogique qui en fait la vraie unité) avec ce qu’il faut à cet | être pour être passif & doué d’un corps organique. Or ces êtres ont reçu leur nature tant active que passive (c’est-à-dire ce qu’ils ont d’immatériel & de materiel) d’une cause géné35 rale & supreme &c. (Ibid. p. 407.)

21 natürlicher] natürlicher 24 die M i s c h u n g … Unendlichen] d i e M is c h ung d e r W i rk ung e n d e s U n en dl i c h en 27 Portion d i e s e r M a t erie] P o r t i o n dieser Materie 30 perception] so Dv; D1D2: conception

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Er. Es ist unmöglich, von der Herrlichkeit und Größe dieses Systems nicht ergriffen zu werden. Ich. Wie ich den angebohrnen Ideen zugethan seyn kann, wird nun keiner weitläufigen Erklärung mehr bedürfen; ich brauche Sie nur an das, was wir vorhin von den schlechterdings allgemeinen Begriffen abgehandelt haben, zu erinnern, und Ihnen zu sagen, daß eben diese Begriffe meine angebohrnen Begriffe sind. Jene Entwickelung muß Ihnen nun doppelt einleuchten, da meine Heischesätze zu Grundsätzen auf die rechtmäßigste Weise seitdem empor gestiegen sind. | Ich fasse zusammen und wiederhole. Jedes erschaffene einzelne Wesen bezieht sich auf eine unendliche Menge anderer einzel|ner Wesen, die sich alle hinwider auf dieses einzelne Wesen beziehen; und der gegenwärtige Zustand eines jeden dieser einzelnen Wesen wird durch seinen Zusammenhang mit allen übrigen in jedem Augenblick auf das genaueste bestimmt. Alle wahrhaft würkliche Dinge sind Individua oder einzelne Dinge, und als solche, lebendige Wesen, principia perceptiva & activa, und ausser einander. Folglich, wie ein Individuum gesetzt wird, so müssen nothwendig zugleich in ihm die Begriffe von Einheit und Vielheit, von Thun und Leiden, von Ausdehnung und Succeßion gesetzt werden; das heißt, es sind diese Begriffe jedem Individuo angebohrne oder anerschaffene Begriffe. Diese Begriffe unterscheiden sich von allen übrigen Begriffen dadurch, daß ihre Gegenstände unmittelbar und in allen Dingen vollkommen und auf gleiche Weise gegeben sind. Es sind uns also die Gegenstände dieser Begriffe nie b l o s in der Vor|stellung, sondern | immer auch w ü r k l i c h gegenwärtig, und können durch keine Verrückung, wie sie Namen haben möge, je nur einen Augenblick der unmittelbaren Wahrnehmung, und der n o t hwendigen Vereinigung im Begriff entzogen werden. Auch ist der ärgste Wahnsinn nicht vermögend, diese W u r z e l des Verstandes auzurotten. Er. Auf diese Weise habe ich gegen Ihre angebohrnen Ideen nichts einzuwenden. Es ist klar, daß wir zu dem Bewustseyn unse13 hinwider] wieder 28 vollkommen und auf gleiche Weise] vollkommen und auf g l e i c h e W e i s e 34 ärgste] vollkommenste

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res Bewustseyns, dem Gefühl von uns selbst nicht gelangen können, als indem wir uns von etwas ausser uns unterscheiden. Dieses Etwas ist ein Mannichfaltiges Unendliches, in dem wir selbst mit begriffen sind. Die Begriffe von Einem, von Vielem und von Allem, nebst ihren Grundeigenschaften und Verhältnissen, müssen also in jedem, auch dem schwächsten Bewustseyn, schon gegeben seyn, und, dem Wesentlichen nach, unter allen möglichen Verwandlungen des Individui dieselbigen bleiben. | Ihre Deutlichkeit aber hängt von der Deutlichkeit des Bewustseyns ab, das ist, von dem Grade in dem wir | uns, intensiv und extensiv, von den Dingen ausser uns unterscheiden. Ich. Sollten wir nicht auch nach diesem Grade den Grad der Vernunft und des Lebens, den eine Gattung von Geschöpfen vor der andern voraus hat, überall mit Sicherheit bestimmen können? Er. Ich glaube, wir können es. Leben und Bewustseyn sind Eins. Der höhere Grad des Bewustseyns hängt von der größeren Anzahl der im Bewustseyn v e r e inigten Wahrnehmungen ab. Jede Wahrnehmung drückt zugleich etwas äusserliches und etwas innerliches, und beydes im Verhältniß zu einander aus. Jede Wahrnehmung ist folglich an sich schon ein Begriff. Wie die Action, so die Reaction. Ist die Fähigkeit, Eindrücke anzunehmen, so vollkommen, daß diejenige Beschaffenheit der Imagination und | des Gedächtnisses daraus erwächst, mit welcher die Personalität verknüpft ist, so entwickelt sich was wir Vernunft nennen1. | Das vernünftige Wesen ist also von dem unvernünftigen durch einen höheren Grad des Bewustseyns, folglich des Lebens unterschieden, und dieser Grad muß in demselbigen Verhältniß steigen, wie das Vermögen steigt, sich von andern Dingen extensiv und

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1 s. S. 150 u. 151 die Anmerkung. Das Ich und das Du wird gleich bey der 30 ersten Wahrnehmung unterschieden. Aber in demselben Maaße wie das D u deutlicher wird, wird auch das I c h deutlicher. – Es entsteht Begriff, Wort, Person.

1 nicht] nicht anders 10–11 Dingen ausser uns] außer uns daseyenden Dingen 17 Anzahl] Anzahl und der Beschaffenheit 22 vollkommen] mannich- 35 faltig und vollkommen 22–25 diejenige Beschaffenheit … Vernunft] ein articulirtes Echo im Bewußtseyn laut wird, so erhebt sich über die Empfindung das Wort; es erscheinet, was wir Vernunft, es erscheinet, was wir Person 27 Lebens] Lebens, 30–33 s. S. 150 … Person.] Leibnitz, Principes de la nature 40 et de la grace, §. IV. VI.

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intensiv zu unterscheiden. – Gott unterscheidet sich von allen Dingen auf das vollkommenste, und muß die höchste Personalität, und allein eine ganz reine Vernunft besitzen. Ich. Es ist also nicht wohl möglich, wenn man | nicht sich selbst und sein eigenes Leben haßt, die Vernunft gering zu schätzen. Aber wie werden wir es am besten angreifen, um ihr je mehr und mehr in uns aufzuhelfen? – Werden wir nicht am weisesten handeln, | wenn wir suchen, ihr ganz unmittelbar beyzukommen, um geradezu ihre Kräfte nach der Reihe zu stärken und zu vergrößern. – Kurz, wenn wir uns in einem fort nur bemühen, die Vernunft recht vernünftig zu machen. – Was meynen Sie? Er. Ich meyne, daß es der Erbschade, der uralte Krebs der Menschheit ist, den Kern über der Schaale, die Sache über dem Schein, die Materie über der Form zu vergessen. Ueberall ist Religion in Cärimonien und Aberglauben; bürgerliche Vereinigung in politische Maschinerie; Philosophie in Geschwätz; Kunst in Gewerb ausgeartet: warum sollte nicht auch einmal der Gebrauch der Vernunft in einen bloßen Gebrauch ihrer Art und Weise ausarten können? | Ich. Die verschiedenen Namen, die jetzt von ihr im Gange sind, bezeugen, daß man sie auf allerhand Art und Weise zu gebrauchen wenigstens der Meynung ist; denn alle diese Namen sind von diesem oder jenem Gebrauch der von ihr gemacht wird hergenommen. Mir deucht, ich höre sie am häufigsten und lautesten eine Fackel nennen, wozu sie, ohngefähr seit zwanzig Jahren, aus einem schwachen Lichte soll geworden seyn. Und von dieser Fackel heißt es denn auch, daß sie überall hingetragen wird, welches mit der Vernunft, so lange sie nur ein Licht war, auch nicht geschah. – Ich 3 ganz reine Vernunft] g a n z r e i n e V e r n u n f t

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besitzen.] besitzen. Fußnote:

30 Deus, s u f f i c i e n s s i b i , causa est materiae et aliorum omnium: itaque non est

anima mundi (wie unser Ich des organischen Körpers); sed autor. Naturale vero est creaturis materiam habere, n e q u e a l i t e r p o s s i b i l e s s u n t , n i s i D e u s p e r m i r a c u l u m s u p p l e a t m a t e r i a e m u n u s … Etsi ergo Deus per potentiam possit substantiam privare materia secunda, non tamen potest eam 35 privare materia prima, nam faceret inde totum parum, qualis ipse est solus. Opp. T. II. P. I. p. 275 et 276. S. auch ibid. p. 44. 8 suchen,] suchen 9–10 vergrößern.] vergrößern? 11 machen.] machen? 14 die Materie] das Wesen 20 Gange] Schwange 23 Gebrauch der … wird] Gebrauch, der … 2662 wird, 25 ohngefähr seit zwanzig Jahren] all|mählig 40 20 Gange] so Dv; D1: Ganze

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muß bekennen, daß ich selbst die Vernunft, die eine Fackel geworden ist, noch nicht gesehen habe. M e i n e Vernunft ist ein A u g e und keine Fackel. Und wenn ich mich nicht sehr betrüge, so hat man immer, da man noch blos ein Licht an der Vernunft hatte, mit dem Worte Licht die Sehkraft selbst gemeynt. – Alles Verdachtes gegen die Fackel kann ich mich nicht erwehren. Oft wird eine wohin getragen, damit ein einzelner | Gegenstand recht helle gesehen, und vornemlich darum so helle gesehen werde, damit es um ihn herum desto finsterer sey1. Er. Das Räthsel mit der Fackel kann ich Ihnen | vollends auflösen. Ganz leere Pralerey ist es nicht damit. Es ist dieselbige Fakkel, welche ehmals die Erfahrung zur Vernunft trug, wo die Wahrheit sie aus ihrer Hand empfieng. Man sagte: die Fackel g e h ö r e der Erfahrung nicht. Und die sie ihr von hinten zu aus der Hand rissen, schrien nun aus vollem Halse: i h n e n g e h ö r e d i e F a c k e l ! und an jedem Ort, wohin sie die Fackel trügen, da sey die Vernunft und die Wahrheit; und an | jedem andern Ort, die Lüge. – Aber es ist ein Gemurmel, als wolle die Fackel nicht in Brand bleiben, wie sehr man sie auch zerstampfe und im Winde herumschwinge. Ich. O, daß sie wieder in die Hände der Erfahrung käme, und es begönne von neuem der alte Zug mit ihr zur Vernunft und zur Wahrheit! – Es kann ja dem scharfen und tiefen Beobachter unmöglich doch entgehen, daß alle unsere Erkenntniß auf dem Positiven beruht, und daß wir in dem Augenblick da wir es verlassen, in Träume und die leersten Einbildungen gerathen müssen. Positiv und unmittelbar genommen von dem Würklichen das sich uns darstellt, sind, wie wir | gesehen haben, selbst diejenigen Begriffe und Sätze, die wir a priori nennen. Positiv und unmittelbar genommen von dem Würklichen das sich uns darstellt, sind, auffallender noch, unsere comparativ allgemeinen Begriffe und Sätze. 1

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Der selige Leßing pflegte den Geist des Jahrhunderts durch eine Vergleichung mit den Krebsen, die man zuweilen mit Einer ungeheuer g r o ß e n Scheere, und einer e l e n d k l e i n e n daneben findet, zu characterisieren. Er sagte von sich, daß er lieber ein mittelmäßiger Krebs mit zwey gleichen Schee- 35 ren seyn möchte.

11 dieselbige] dieselbe 16 sie] sie 25 Augenblick] Augenblick, 26 gerathen müssen] gerathen 27 Würklichen] Wirklichen, 30 Würklichen] Wirklichen,

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Jene beruhen auf einer verworrenen Vorstellung von A l l e m , und ihr Gegenstand ist uns immer und in jedem auch dem kleinsten | Theile der Schöpfung gegenwärtig; diese, auf einer verworrenen Vorstellung nur von Einigem, und ihre Gegenstände sind uns nicht immer, und auch nur in diesem und jenem Besondern gegenwärtig. Also können so wenig die absolut allgemeinen Begriffe, als die nur comparativ allgemeinen uns über das was wir in uns und ausser uns würklich empfinden oder empfunden haben hinausführen. D i e v o l l k o m m n e r e Perception, und der höhere Grad des Bewußtseyns der damit verknüpft ist, darinn besteht das Wesentliche desjenigen Vorzugs unserer Natur, den wir V e r n u n f t heissen. Alle ihre Verrichtungen entwickeln sich daraus von selbst. Sobald ein Mannichfaltiges von Vorstellungen, in E i n e m Bewußtseyn vereinigt, einmal gesetzt ist, so ist damit zugleich gesetzt, daß auch diese Vorstellungen, theils | als einander ähnlich, theils als von einander verschieden, das Bewußtseyn afficieren müssen. Das Bewußtseyn wäre ja sonst ein todter Spiegel und kein Bewustseyn; kein in sich concentrierendes Leben. Wir haben also ausser der ursprüngli|chen Handlung der Perception, keine besondere Handlungen des Unterscheidens und Vergleichens nöthig, bey denen sich auch gar nichts denken läßt. So erkläre ich mir auch das Nachsinnen, das Ueberlegen, und ihre Würkungen, aus der immer fortgesetzten Bewegung (wenn ich mich so ausdrücken darf) des activen Principii in uns gegen (nicht w i d e r) das paßive, nach Maaßgabe der empfangenen Eindrücke und ihrer Verhältnisse. Bey jeder Wiederholung ihres Consensus in Absicht eines nemlichen Gegenstandes muß die Vorstellung neue Bestimmungen erhalten, und bald mehr subjectiv, bald mehr o b j e c t i v vergrößert werden. Die Entdeckung wichtiger Wahrheiten, und die Entstehung lächerlicher Irrthümer, wird auf diese Weise gleich begreiflich. Wenn wir von der Seite der Spontaneität allein – ohne zu erwägen, daß diese sich nur reagierend äussert – die Vernunft betrachten: so sehen wir der Vernunft nicht auf den Grund, und wissen nie recht | was wir an ihr haben. Characterisieren wir sie als das Vermögen | Verhältnisse einzusehen, so ist die Fähigkeit vollkommnere Eindrücke von den Gegenständen zu empfangen schon vor7–8 das … haben] das, … haben, 9 Perception] Wahrnehmung 19 Perception] Wahrnehmung 24 Principii] Princips 28 subjectiv,] s u b j e ctiv

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ausgesetzt. Von dieser weggesehen, kann das leere Vermögen Verhältnisse aufzufassen, unsere Erkenntniß nicht einmal mit der Entdeckung eines noch nicht wahrgenommenen idem oder non idem bereichern. Scharf und viel fassender, anhaltend strebender, tief eindringender Sinn (das Wort Sinn in dem ganzen Umfange seiner Bedeutung genommen,) das ist die edle Gabe, die uns zu vernünftigen Geschöpfen macht, und deren Maaß den Vorzug eines Geistes vor dem andern bestimmt. Die reinste und reichste Empfindung hat die reinste und reichste Vernunft zur Folge. Jeden sich selbst beobachtenden Forscher muß die eigene Erfahrung gelehrt haben, daß er bey seinem Forschen keine Kraft des Unterscheidens, des Vergleichens, des Urtheilens und Schließens, sondern einzig und allein die Kraft seines S i n n e s anstrengt, um seine Vorstellungen so deutlich zu machen als sie werden können. Mit aller | Gewalt hält er die Anschauung fest, s i n n t | und s i n n t , und zieht sie sinnend immer dichter an das Auge seines Geistes. Und wie ein lichter Punkt hervorspringt, ruht die Seele einen Augenblick, um ihn leidend aufzunehmen. Leidend empfängt sie jedes Urtheil das in ihr entsteht. Bey dem willkührlichen Anschauen allein ist sie thätig. Er. Aber so könnte man ja wohl gewissermaaßen sagen, die ganze Vernunft käme von aussen in den Menschen herein. Ich. Was kann man nicht gewissermaaßen sagen? Wenn aber die Vernunft ein lebendiges Principium in sich voraussetzt, das eine Welt in einem untheilbaren Punkte zusammenfassen, und aus diesem Punkte zurückwürken kann auf das Unendliche, so sehe ich nicht, wie man auch nur gewissermaaßen wollte sagen können, die Vernunft komme dem Menschen von aussen. Das Geschäfft der Sinne ist, Eindrücke anzunehmen und zu überbringen. – | W e m zu überbringen? – Wo geschieht die Anhäufung der Eindrücke? Und was wäre mit einer solchen bloßen Anhäufung gethan? – Vielheit, Verhältniß, sind l e b e n d i g e | B e g r i f f e , die ein lebendiges Wesen, welches in seine Einheit das Mannichfaltige t h ä t i g aufnehmen kann, voraussetzen. Die dunkelste Empfindung aber drückt schon ein Verhältniß aus. Und so muß man nicht allein von 6–7 (das … genommen,)] – das … genommen, – 6 Sinn2] S i n n Bedeutung] Bedeutung (als Wahrnehmungsvermögen überhaupt) 20 Bey dem willkührlichen Anschauen] In willkührlicher Anschauung, Betrachtung 23 gewissermaaßen] gewissermaaßen 24 Principium in sich] Princip

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den Erkenntnissen, die a priori heissen, sondern überhaupt von aller Erkenntniß sagen, daß sie nicht durch die Sinne gegeben, sondern allein durch das lebendige und thätige Vermögen der Seele bewürkt werden könne. Sinnlichkeit, wenn etwas anders als ein Mittel zugleich der Trennung und der Vereinigung, wobey das zu scheidende und zu verbindende Substanzielle schon vorausgesetzt wird, verstanden werden soll, ist nur ein leeres Wort. Als ein solches Mittel aber ist sie das Werkzeug der allmächtigen Liebe, oder (Sie dulden einen kühnen Ausdruck) der g e h e i m e H a n d g r i f f des Schöpfers. Allein durch dieses Mittel konnte die Wohlthat des Lebens; die Wohlthat des | sich unterscheidenden, und dadurch sich selbst genießenden Daseyns einer unendlichen Schaar von Wesen verliehen, und eine Welt aus dem Nichts hervorgerufen werden. – Ein Schauer ergreift mich, so oft ich dieses denke; mir ist jedesmal, als empfienge ich in dem Augenblick | unmittelbar aus der Hand des Schöpfers meine Seele. Er. Sie erinnern mich an das ehrwürdige alte Buch, wo es heißt: »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« – D a s Gefäß, der Leib, mußte zuerst gebildet werden, und wurde, um Gefäß zu seyn, a l l e i n gebildet. Ich. Die Vorstellungsarten der Menschen sind verschieden, und nicht ein jeder sieht dasselbe in den Dingen. Nach meiner Vorstellungsart ist in dem aus Leib und Seele überall zusammengesetzten Wesen, in dem auf diese Weise | durch Trennen und Binden bis ins Unendliche vervielfältigten Leben, die freye Hand eines allgenugsamen Gebers, ich möchte sagen bis zum Ergreifen, sichtbar. Was wir Materie nennen, grenzt ans Nichts durch seine unwesenhafte Theilbarkeit bis ins Unendliche. – Was ist Cörper? Was ist organischer Cörper? – Alles Nichts, alles Unding, und ohne eine Spur von wesenhaftem Be|stande, wenn nicht Form durch S u bstanz, ein Reich der Geister zuerst gedacht; wenn nicht von der schlechterdings einfachen Natur des Lebens ausgegangen wird. –

35 4 wenn] wenn darunter

4–5 ein Mittel … der Vereinigung,] – e i n M i t t e l zugleich der Trennung und Vereinigung – 18 heißt:] heißt; 32 durch] durch 8 allmächtigen] so DvD2; D1: allmächtige

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Also jedes, auch das kleinste System, deren Millionen in einer Made enthalten seyn können, erfordert einen Geist der es einigt, bewegt und zusammenhält – einen H e r r n u n d K ö n i g d e s Lebens. – Und das System aller Systeme, das All der Wesen, würde bewegt und zusammengehalten – von N i c h t s ? – Es wäre nicht geeinigt? – Denn wenn es geeinigt ist, so muß es durch E twas geeinigt seyn, und nichts ist wahrhaft E t w a s , als der G e i s t . Derjenige Geist aber, der das All | zu Einem macht, den Haufen der Wesen bindet zu einem G a n z e n , ist unmöglich ein Geist der nur eine Seele wäre. Die Quelle des Lebens bedarf keines Gefäßes. Sie ist nicht wie der Tropfe, der es bedarf, daß ein Gefäß ihn sondernd fasse und bewahre. SCHOEPFER ist dieser Geist; und das ist seine Schöpfung, daß er Seelen eingesetzt, endliches Leben gestiftet, und Unsterblichkeit bereitet hat. Er. Mir ist das nicht weniger auffallend wie Ihnen, | daß ein eingeschränktes Leben, wie wir überall – bewürkt durch eine unendliche Mannichfaltigkeit von Formen – wahrnehmen, auf ein uneingeschränktes absolutes Leben, und einen freyen Urheber des Mannichfaltigen durch sonderndes Bilden gerade hinweist. Es erklärt zugleich, warum wir von diesem Wesen aller Wesen nichts begreifen, und seine Natur, wenn wir sie erforschen wollen, nach unserer Vorstellungsart sogar unmöglich finden müssen. Denn wir mußten abhängig werden bis ins innerste Mark unseres Da|seyns, und deswegen unfähig seyn, schlechterdings unfähig seyn und bleiben, von einer ganz unabhängigen Natur, einer durch und durch reinen Thätigkeit, uns die entfernteste Vorstellung zu machen. Wie nach der ältesten Urkunde, so auch nach der tiefsten Philosophie, mußte unser endliches Daseyn mit dem Leibe; folglich unsere Vernunft mit der sinnlichen Empfindung anfangen, und beständig darauf gestützt bleiben. Unsere natürliche Erkenntniß konnte nie über das Resultat in einander flie-

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20–93,4 Es erklärt … Geschöpfe sind.] Dieses überschwengliche Wesen aber begreifen, seine Natur einsehen, ergründen wollen, würde heißen einen Gott suchen, der uns den Gott w e r d e n lasse. Wie thöricht! Wir wundern uns, erschrecken wohl gar darüber, daß ein a l l e i n i n s i c h seyendes, durchaus 35 vollkommenes Wesen, uns endlichen, und darum nothwendig in unserem Daseyn und Wirken eingeschränkten und bedingten, w e s e n t l i c h u n v o l lkommenen Wesen, als ein unmögliches Wesen erscheint. Welch ein Schöpfer, der dem Geschöpf nicht also erscheinen m ü ß t e ?

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ßender Verhältnisse des Endlichen zum Endlichen, vorwärts und rückwärts unabsehbar, sich erheben. Wie thöricht also sich zu wundern, oder gar darüber zu erschrecken, daß wir – nur Geschöpfe sind! Ich. Die Anmassungen und Begierden der Menschen sind sonderbar genug. Sie möchten gern mit den bloßen Augen sehen können, ohne Licht; und noch lieber gar auch ohne Augen. So, meynen Sie, würde man erst recht eigentlich, wahrhaft und natürlich sehen. | Nach dergleichen Vorstellungsarten das Un-| natürlichste als das Natürlichste, und das Natürlichste als das Unnatürlichste zu betrachten, das heißt dann Philosophie. Ich erinnere mich, daß ich in einer vermischten Gesellschaft einmal die Frage aufwerfen hörte: wie das menschliche Geschlecht wohl möchte fortgepflanzt worden seyn, wenn der Sündenfall nicht eingetreten wäre? Ein geistvoller Mann antwortete schnell: o h n e Z w e i f e l d u r c h e i n e n v e r n ü n f t i g e n Diskurs! Er. Köstlich! Aber was meynen Sie wohl, daß aus unseren vernünftigen Diskursen geworden wäre, wenn wir, so wie wir sind, in einer Welt uns befänden, die an Unregelmäßigkeit dem Mährchen vom Schlaraffenlande gliche. Ich. Diese Frage kann Ihnen die Geschichte großentheils beantworten. Sie finden dort eine Menge ver|schiedener Welterscheinungen, und zugleich, daß die Vernunfterscheinungen den Welterscheinungen allemal genau entspro|chen haben. Am Denken, am Sinnen und am Sagen haben es, z. B., die Constantinopolitanischen Gelehrten nicht ermangeln lassen, und das ein Jahrhundert auf das andre. Wie vernünftig sie aber gewesen sind, ist bekannt. Er. Also würden wir annehmen müssen, daß es der Lauf der Welt sey, der die jedesmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft bestimmt; und daß die jedesmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft nie durch die Vernunft a n s i c h bestimmt werde. In jeder Periode und an jedem Ort, wären die Menschen

6–7 sehen können] sehen

15 Ein geistvoller Mann] G ö t h e

16 Diskurs!]

35 Discurs! Fußnote: Dieser Blitzstrahl des Geistes wurde später zu folgendem

sinnreichen Spruch: / Fortzupflanzen die Welt sind alle vernünft’gen Discurse / Unvermögend; durch sie kommt auch kein Kunstwerk hervor. / Göthes Werke Th. I. S. 403. 24–94,6 haben. Am Denken, … gefällt!] haben.

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also gerade nur so einsehend und vernünftig, als sie Gott an diesem Ort und in dieser Zeit will seyn lassen, wenn sie gleich die Meynung von sich haben, daß sie allemal und überall so einsehend oder so vernünftig seyn können, als es ihnen gefällt1. | Ich. Und so unvernünftig seyn können, als | es ihnen gefällt! Könnten wir in der Natur nur einiger Maaßen den Meister spielen, oder auf das Ganze der Gesellschaft würken, wie es in unseren Häusern, und in einzelnen Staaten geschieht, die unsinnige Welt von der Sie eben sprachen, und ihr Correlatum wären lange da. Aber so hält eine unwandelbare objective Vernunft, die subjective mit Gewalt noch immer so weit im Gleise, daß sie nicht vollends umwerfen kann. Hie und da hat es zuweilen ausgesehen, als wollte man versuchen, Gewalt gegen Gewalt zu gebrauchen, und es wäre daran, daß die Menschen selbst aus d i e s e m Gleise kämen. Er. Wäre dieses unser eigener Fall, so machte es mit dem philosophischen Evangelio, daß wir auf dem besten Wege sind, von unserer Vernunft a l l e i n regiert zu werden, und das goldene Zeitalter anzutreten, einen sonderbaren Contrast. | 1

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Die Vernunft ist d u r c h d i e Z e i t f o l g e gebildet: alles was das menschliche Geschlecht erzogen, gelehrt, fortgebracht hat, bildete auch sie. Ein Kind entwickelt seine Vernunft | nur durch Erziehung: alles also, was das menschliche Geschlecht e r z o g e n hat, dem ist die Vernunft, was sie geworden ist, schuldig, und es wäre Spiel wenn wir eins vom andern absondern, und Vernunft als ein selbstständiges Abstractum betrachten wollten, wo sie nichts ist … So wenig Menschengeschlecht ohne Schöpfung werden konnte: so wenig konnt’s ohne göttliche Beyhülfe fortdauern, und ohne göttliche Erziehung wissen was es weiß. Herder. Sollte diese Stelle noch nicht hinreichen, den Sinn obiger Aeusserungen zu bestimmen, so sey es mir erlaubt auf meine Schrift über Spinoza S. 183–190. zu verweisen. – Man kann sehr viel Mathematik, Physik – eine Unermeßlichkeit von äusserlicher Kunde – und doch sehr wenig eigentliche Vernunft besitzen. Die eigentliche Vernunft bezieht sich auf die Seele selbst, in so fern sie, durch Selbstbestimmung, für sich selbst ein Gegenstand der Lust oder Unlust wird. Eine reine Selbstbestimmung ist aber geschaffenen | Wesen unmöglich. Ein veranlassendes Objectives muß dazu g e g e b e n werden.

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8 Häusern,] Häusern 9 Correlatum] Correlatum die unsinnige Vernunft, 10–11 subjective] wankende und schwankende subjective 17 Evangelio, daß … anzutreten,] Evangelio, – daß … anzutreten, – sind] seyen 20–37 40 Die Vernunft … g e g e b e n werden. fehlt

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Ich. Ich wüßte nicht. Wenigstens scheint eine gewisse Gleichung nicht ganz unmöglich. Lassen Sie uns kurz die Sache überlegen. Das Auge der menschlichen Seele, oder die menschliche Vernunft, ist nicht wie das cörperliche Auge, blos e i n T h e i l , der abgesondert werden kann; denn die Seele hat keine aussereinander seyende Theile. Also ist das Auge der menschlichen Seele, oder die menschliche Vernunft, d i e m e n s c h l i c h e S e e l e s e l b s t , i n s o f e r n e s i e d e u t l i c h e B e g r i f f e h a t . Was im Menschen das Ich deutlich ausspricht, das h e i ß t er seine Vernunft, und das ist seine Vernunft. Stimmt nun das Ich in seinen Handlungen mit sich selbst überein, so stimmt es mit seiner Vernunft überein. – Also

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1–96,21 Wenigstens … Gläubigen machen.] Verständigen wir uns über | die 2782 Sache; Sie werden finden, daß sie dennoch sich gewissermaaßen denken und annehmen läßt. / Ist die menschliche Vernunft etwas anderes, als die menschliche Seele selbst, in so fern sie über ihre einzelnen Empfindungen und Wahrnehmungen in Begriffen sich erhebt, und nach Vorstellungen von Gesetzen in ihrem Thun und Lassen sich bestimmt? Die menschliche Seele selbst aber ist das, was, von dem D u (dem Nicht-Ich) das I c h unterscheidend, deutlich in uns ausspricht – das I c h . Da nun eben dieses auch die Vernunft ist, so stimmt jedes Ich, das in seinen Begriffen, Urtheilen und Willensbestimmungen mit sich selbst übereinstimmt, nothwendig auch mit seiner Vernunft überein, und wir müssen sagen, daß es dann a l l e i n durch seine Vernunft, oder, was einerley ist, allein durch sich selbst regiert werde. Die Möglichkeit eines solchen Zustandes der Alleinherrschaft der Vernunft hängt von den Einschränkungen ab, zu welchen sich das I c h , um zu diesem Zustande zu gelangen, wohl bequemen will. Diese Einschränkungen, die freylich Verstümmelungen zu vergleichen sind, können so beschaffen seyn, daß nun das Ich zu seinen allein vorbehaltenen übrigen Zwecken | dadurch, d a ß e s s i c h i m m e r n u r s i c h s e l b s t ü b e r - 2792 legt, das ist allein durch seine also eingeschränkte Vernunft, ohne hinzu kommende andre Erleuchtung und Kraft, den rechten Weg zu finden und bey seinem Ziele anzulangen sich im Stande sieht. Das goldene Zeitalter jener Verkünder dürfte also wohl noch erscheinen, und neue, bisher nie gewesene, Verfassungen mit sich bringen; vollkommene, unveränderliche, feste, wie jene – der Ameisen und Bienen. Einigermaaßen ein Vorbild dazu haben wir bereits an China; und es ist als solches von Europäischen Philosophen auch schon mehrmals angepriesen worden. / Er. / Sie haben mich trefflich verständigt, und ich begreife nun vollkommen. Alles muß der Erde gleich gemacht werden; was sich auf ihr über sie erhebt, das ist vom Uebel. / Ich. / Tempel und Altäre – nicht nur die sichtbaren sondern auch die unsichtbaren – müssen allmählig einsinken, zuletzt aber ganz verschwinden. Dann erst ist das goldene Zeitalter wirklich eingetreten, wenn | von Gott und göttlichen Dingen gar 2802 nicht mehr die Rede seyn kann. Damit wieder auch nur die R e d e davon käme, müßten wenigstens neue wunderthätige Propheten auftreten, und ein allgemeines Staunen erregen. / Er. / Sie würden unsere G o l d e n e n doch eher in Wahnsinnige als in Gläubige verwandeln.

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wenn das Ich übereinstimmend, aber blos nach seinen eigenen Trieben, und den Gesetzen ihrer möglichen Uebereinstimmung handelt, so regiert es sich selbst, oder wird einzig und allein von seiner Vernunft regiert. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Selbstregierung, hängt | von den Gegenständen ab, welche die Seele anstrebt. Ihre Bestrebungen könnten so eingeschränkt seyn, daß sie mittelst ihrer Vernunft allein, d. i., durch sich selbst in so fern sie deutliche Begriffe hat, zu allen ihren Zwecken zu gelangen im Stande wäre. Und wenn ein solcher Zustand der Einschränkung das goldene Zeitalter ist, so mag es wohl errungen werden. Er. Würde es aber nicht eine Hauptbedingung für das sich selbst regierende Auge seyn, daß es von göttlichen Dingen und einer zukünftigen Welt sich ganz weg regierte? Ich. Allerdings! Und das giebt sich auch von selbst. Denn das sich selbst regierende Auge, je mehr und je länger es sich anstrengt, um Gott und eine andere Welt zu ersehen, sieht nur deutlicher am Ende, daß es nichts sieht, und hört auf, sich nach einem leeren Orte hin zu richten. Wunderwerke, neue positive Offenbarungen müßten da zum wenigsten ins Mittel treten. | Er. Und würden solche Menschen doch eher zu Narren, als zu Gläubigen machen. Solche Menschen, die in ihrer engen Sphäre gemeiniglich sehr hell denken, und leicht sehr hell denken k ö nnen, pflegen auf die hartnäckigste Weise die Grenzen ihrer Imagination für die Grenzen der Möglichkeit; die Beschaffenheit ihrer Imagination für das w a h r e L i c h t d e r N a t u r ; und die G esetze ihrer Imagination f ü r d i e a b s o l u t e n G e s e t z e d e r Vernunft zu halten. Ihrer Erfahrung muß alles widersprechende Raisonnement; und ihrem Raisonnement alle widersprechende Erfahrung auf der Stelle weichen. Was ihrer eingeschränkten Vorstellungsart nicht gemäß ist, das ist nicht, das kann nicht seyn, das ist über|haupt nicht denkbar. Sie würden eher ihre Sinne als ihre Imagination verläugnen; und würden in der That, wenn sie diese verläugneten, d e n Verstand den sie h a b e n , aufgeben müssen.

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21 Solche Menschen,] Solche Menschen – ich meyne die Vorläufer der wirklich und durch und durch Goldenen, wie uns dergleichen denn häufig genug 35 begegnen – solche Menschen, 24–25 Möglichkeit; die … d e r N a t u r ;] Möglichkeit, 26–27 Vernunft] N a t u r u n d V e r n u n f t 27 Erfahrung] Erfahrung – dem, was sie so nennen, – 28–29 Erfahrung] Erfahrung – die sie alsdann läugnen – 32 Imagination] vorgefaßten Meynungen 33 Verstand] Verstand, 40

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Ich. Gestern besuchte mich ** aus ***, noch | immer ganz untröstlich über den Verlust seines in der That unschätzbaren Weibes. Sie wissen, er ist ein entschiedener Gottesläugner, und vollkommen überzeugt, daß mit dem Tode für den Menschen alles aus ist. Er sagte bey dieser Gelegenheit wieder, was ich mehrmals von ihm gehört hatte, daß Zeugnisse von Thatsachen für das Gegentheil, oder auch eigene Erfahrungen dieser Art, ihn eher zum Narren machen, als ihm eine andre Ueberzeugung geben würden. Hierauf legte ich ihm die Frage ans Gewissen: wenn bey vollkommenem Wachen seine verstorbene Frau in ihrer eigenen deutlich ausgedrückten Gestalt so vor ihm erschiene, daß er vor der Erscheinung sich nicht entsetzte; und sie sagte mit der Stimme die er kennte zu ihm: »Sey ruhig, ich lebe glücklicher als hier auf Erden, und wir sehen uns | wieder« – Ich fragte ihn, ob er denn nicht an ein Leben nach dem Tode glauben würde? Er. Zuverläßig hat er betheuert, daß er dennoch nicht glauben würde, und Ihnen auf al|lerhand Weise gezeigt, mit welcher überwiegenden Wahrscheinlichkeit man die Erscheinung, die er gehabt, aus der Einbildung, der gegenwärtigen Gemüthsfassung u. s. w. würde erklären können. Ich. So war es. Letzteres gab ich in Absicht auf alle andere Menschen, ohne mich auszunehmen, zu; nur in Absicht auf ihn selbst gab ich es nicht zu. Ich versicherte ihn, wenn er vollkommen wach gewesen, und bey der lieben Erscheinung unerschrocken, und sich vollkommen gegenwärtig geblieben wäre: so würde ihm kein Mensch einreden, er hätte diese Erscheinung nur geträumt: und er würde auch von der Stunde an von seiner Fortdauer nach dem Tode gewiß geworden seyn. Er. Ob es bis ans Ende seines Lebens geholfen hätte, wäre unterdessen noch die Frage. Aber der Fall, den Sie annehmen, da gewiß ein jeder der | sich ihn denkt, die Wahrheit der Behauptung, die Sie darauf gründeten, empfin|den muß, zeigt wieder auffallend das Uebergewicht der sinnlichen Evidenz über alle Schlüsse die nicht Satz vor Satz, und in ihrer durchgängigen Verknüpfung sinnlich evident gemacht werden können. – Da aber die Verstorbenen 9 Gewissen:] Gewissen; 33 sinnlichen Evidenz] unmittelbaren Anschauung 33–35 Schlüsse die … können.] Schlüsse, die ja nie entdecken können, daß irgend etwas i s t , mithin überall ein schon vorhandenes B e w u ß t s e y n d e r Wahrheit voraussetzen, auf das sie durchaus sich berufen.

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nicht zu erscheinen pflegen, und Gott sich nicht empfinden läßt, würden wir nicht mit unserer Philosophie am Ende auf den Schluß gerathen, daß diejenigen, die keine positive Offenbarung annehmen, sobald sie zur gehörigen Besinnung kommen, den Glauben an Gott, und an ein Leben nach dem Tode aufgeben müssen? denn aller Glaube muß sich zuletzt auf Thatsache, auf eigene oder fremde Erfahrung stützen. Jede Erfahrung ist aber nur aus Empfindungen zusammengesetzt. Ich. Wenn Gott sich nicht empfinden läßt, so haben Sie recht. Denn unsere ganze Erkenntniß besteht ausser den Empfindungen und Vorstellungen nur aus Begriffen, Urtheilen und Schlüssen; und wir haben gesehen, daß die Begriffe, Urtheile und Schlüsse, das ganze Ge|webe unseres Denkens, auf die v o l l | k o m m n e r e E m pfindung und ihren Fortgang1, oder die Progreßion des Bewustseyns nicht allein zurückgeführt werden k a n n , sondern wenn wir an unserer eigenen Vernunft nicht irre werden wollen, darauf zurückgeführt werden m u ß . Also, was wir i n d i e s e m V e rstande von Gott nicht empfinden können, das können wir auf keine andere Weise von ihm erfahren oder gewahr werden. Denn noch einmal, wir erfahren und werden gewahr nur mit dem Verstande und mit der Vernunft, nie aber durch den Verstand und durch die Vernunft, a l s w ä r e n s i e b e s o n d e r e Kräfte. Verstand und Vernunft für sich allein, nach dem bloßen Vermögen Verhältnisse wahrzunehmen, betrachtet, sind Gedankenwesen, und ihr Geschäfte wie ihr Inhalt, nichts. In der Würklichkeit | sind sie die vollkommnere Empfindung selbst, das edlere Leben, das höchste Daseyn das wir kennen. Die Vollkommenheit der Empfindung bestimmt die Vollkommenheit des Bewustseyns m i t allen seinen Modificationen. Wie die Receptivität, so die

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Daß sich ein leidendes Vermögen nicht für sich allein, sondern nur als die 30 Modification eines thätigen Princips gedenken läßt, erinnere ich noch einmal zum Ueberfluß. Substantia incompleta, monstrum in vera philosophia. Leibn. Opp. II. P. I. p. 276.

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9 empfinden] empfinden, wenn er sich auf keine Art erfahren 22–27 Kräfte. Verstand … kennen.] aus sich offenbarende K r äf t e . Abgesondert von dem 35 offenbarenden Vermögen, dem Sinne, als dem V e r m ö g e n d e r W a h r n e hmung überhaupt, sind sie ohne Inhalt und Geschäft, bloße Gedankendinge, Wesen der Einbildung. Nicht also in der Wirklichkeit und Wahrheit, wo sie die vollkommnere Empfindung selbst sind, das edlere Leben, die höchste Aeuße40 rung der | Kraft des Daseyns, die wir kennen.

Ein Gespräch

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Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand. Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und extensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Personalität, das ist, u n s e r e r Geisteshöhe. Mit dieser köstlichsten Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottesahndung; Ahndung dessen, DER DA IST: eines Wesens, d a s s e i n L e b e n i n i h m s e l b s t h a t . – Von da her weht F r e y h e i t die Seele an, und die Gefilde der Unsterblichkeit thun sich auf. Er. Ein Meer von Empfindungen und Gedanken hat mit Ihren letzten Worten sich in mir geregt. Freund … | Ich. Es ist spät geworden; lassen Sie uns abbrechen. Aber damit unser Gespräch nicht zu feyerlich und nicht zu gemein sich endige, so hören Sie noch ein Paar Stellen aus einem Buche an, das ich gestern zum Zeitvertreibe in die Hand nahm, und das mir an ei|nem kranken Tage so wohl gemacht hat, als ich es an nicht vielen der gesundesten gewesen bin. Er. Lassen Sie sehen eh’ ich höre! – L i e n h a r d u n d G e rtrud? – Davon schwebt mir etwas im Sinne. Ich. Es ist seltsam, daß wir beyde nicht genug davon erfuhren, um es längst gelesen zu haben. Was dem Verfasser fehlen möchte, und was darum sein Buch theils h a t und theils n i c h t hat, warum es mir nicht ganz gefällt: das hat wahrlich keine Schuld daran. – Kommen Sie, daß wir über dem Buche nicht das Buch vergessen1. | »Thaten lehren den Menschen, und Thaten trösten ihn – fort mit den Worten!« »Alles was man immer dem Menschen beybringen kann, macht ihn nur in so weit brauchbar, oder zu einem Mann auf den oder auf dessen Kunst man bauen kann, in so fern sein Wissen und seine Kunst auf den Schweiß seiner Lehrzeit gebaut ist; und wo dieser fehlt, sind die Künste und Wissenschaften der Menschen wie ein Schaum im Meer, der oft von weitem wie ein Fels scheint der aus dem Abgrund | empor steigt, aber verschwindet so bald Wind und Wellen ihn anstossen.« 1

Die folgenden Stellen finden sich zerstreut im dritten Theile, S. 78, 292, 306, 408.

10 geregt. Freund …] geregt Freund … genden … 408. fehlt

17 sehen] sehen,

35–36 Die fol-

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»Es hilft nichts zum Sehen, die Nacht zu beschreiben, und die schwarze Farbe ihrer Schatten zu mahlen: nur wenn du das Licht anzündest, kannst du zeigen was die Nacht war, und nur wenn du den Staaren stichst, was die Blindheit gewesen.« »So wahr ist es, daß man die Menschen vom Irrthum abzuführen nicht die Worte | der Thoren widerlegen, sondern den G e i s t ihrer Thorheit in ihnen auslöschen muß.« »Wir verheeren unser Inneres, wenn wir dem Schatten entweichen wollen, den Gott um uns gelegt hat.« »Gott hat die Nacht gemacht wie den Tag; warum willst du nicht ruhen in Gottes Nacht, bis er seine Sonne dir zeiget, die ewig kein Träumen hinter den Wolken, hinter denen Gott sie verborgen, hervorrufen wird?« »Gott ist für den Menschen nur durch die Menschen der Gott der Menschen.« »Der Mensch kennet Gott nur, in so fern er den Menschen, das ist sich selber kennet. – Und ehret Gott nur, in so fern er sich selber ehrt, das | ist, in so fern er an sich selber, und an seinen Nebenmenschen nach den reinsten und besten Trieben, die in ihm liegen, handelt.« »Daher soll auch ein Mensch den andern nicht durch Bilder und Worte, sondern durch sein Thun z u r R e l i g i o n s l e h r e e m p o rheben.« | »Denn es ist umsonst, daß du dem Armen sagest, es ist ein Gott, und dem Wayslein, du hast einen Vater im Himmel; mit Bildern und Worten lehrt kein Mensch den andern Gott kennen.« »Aber wenn Du dem Armen hilfst, daß er wie ein Mensch leben kann, so zeigst du ihm Gott; und wenn du das Wayslein erziehst, das ist, wie wenn es einen Vater hätte, so lehrst du ihn den Vater im Himmel kennen, der dein Herz also gebildet, daß du es erziehen mußtest.« Er. Herrlich! Herrlich! – Aber ich weiß nicht wie mir gerade ein Aufsatz von A s m u s in Gedanken kommt, worinn von »schweren podagrischen Füßen,« die Rede ist; und von andern, »d i e d e r M a n t e l v e r b i r g t . « Die letzten Worte, die einen gewaltigen Eindruck auf mich gemacht haben, sind: Fusssalbe, M a n n v o n S i n o p e !

5 man] man,

34 Füßen,] F ü ß e n

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BEYLAGE.

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Der Transscendentale oder kritische Idealismus, auf welchen die Kantische Critik der reinen Vernunft gebaut ist, wird wie mir deucht von einigen Beförderern der Kantischen Philosophie nicht sorgfältig genug behandelt – oder, um lieber gerade heraus zu sagen was ich denke: sie scheinen den Vorwurf des Idealismus überhaupt, so sehr zu fürchten, daß sie lieber einigen Mißverstand veranlassen, als diesem Vorwurf, der abschrecken könnte, sich blos stellen wollen. Dieses hätte nun wohl an sich nichts sträfliches, da man gewöhnlich die Vorurtheile der Menschen erst zahm machen muß, ehe man sie fesseln kann, und es überhaupt so schwer ist der Aufmerksamkeit beyzukommen, daß wir, wenn uns eine allge2 Der] Die folgende Abhandlung verweiset durchaus auf die damals noch allein vorhandene e r s t e Ausgabe der Kr. d. reinen Vernunft. Einige Monate später als diese Abhandlung, erschien die zweyte Ausgabe des Kantischen Werks, vermehrt mit jener Widerlegung des Idealismus, von welcher ich, in der diesem zweyten Bande meiner Schriften vorgesetzten Einleitung, ausführlich geredet habe. In der Vorrede zu dieser zweyten Ausgabe (S. XXXVII. u. ff.) unterrichtet Kant seine Leser von den Verbesserungen in der Darstellung, die er in der neuen Ausgabe versucht habe, nicht verschweigend, daß mit dieser Verbesserung auch einiger Verlust für den Leser verbunden sey, indem, u m e i n e r f a ßlicheren Darstellung Platz zu machen, manches hätte weggelassen oder abgekürzt vorgetragen werden müssen. – Ich halte diesen Verlust für höchst bedeutend, und wünsche sehr durch dieses mein Urtheil Leser, denen es um Philosophie und ihre Geschichte ein Ernst ist, zu einer Vergleichung der ersten Ausgabe d. Kr. der reinen Vernunft, mit der verbesserten zweyten zu bewegen. Die folgenden Ausgaben sind der zweyten von Zeile zu Zeile blos nachgedruckt. Zu ganz besonderer Erwägung empfehle ich den Abschnitt in der ersten Ausgabe S. 103 ff.: V o n d e r S y n t h e s i s d e r R e c o g n i t i o n i m Begriffe. Da sich die erste Ausgabe schon sehr selten gemacht hat, so sorge man doch wenigstens in öffentlichen und auch größeren privat Büchersammlungen, daß die wenigen davon noch erhaltenen Exemplare nicht zuletzt ganz verschwinden. Ueberhaupt wird es nicht genug erkannt, welchen Vortheil es gewährt, die Systeme großer Denker in den frühesten Dar|stellungen derselben 2922 zu studiren. So erzählte mir Hamann von dem scharfsinnigen Christian Jacob Kraus, daß dieser nie hatte aufhören können ihm dafür zu danken, daß er ihn mit Hume’s erstem philosophischen Werke: Treatise of Human nature 1739, bekannt gemacht, weil ihm hier erst das wahre Licht über die späteren Essays aufgegangen wäre. / Der 7 überhaupt,] überhaupt

40 13–39 Die folgende … aufgegangen wäre. Petit

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meine vorgefaßte Meynung im Wege steht, beynah die Hoffnung dazu aufgeben müssen. Aber in dem gegenwärtigen Falle ist die Sache so beschaffen, daß der geringste Mißverstand | den ganzen Unterricht verdirbt, so daß man gar | nicht mehr verstehen kann, was einem zugemuthet wird. Auf die Critik der reinen Vernunft selbst ist kaum ein Tadel dieser Art zu bringen; sie erklärt sich entscheidend genug, und man braucht nur, nach den wenigen Blättern der Transscendentalen Aesthetik, die Critik des vierten Paralogismus der Transscendentalen Seelenlehre (S. 367–380.) zu lesen, um sich in Absicht des Transscendentalen Idealismus überall aushelfen zu können. »Der Transscendentale Idealist,« sagt Kant in dem zuletzt angeführten Abschnitte (S. 370.) »kann ein empirischer Realist, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist seyn, d. i., die Existenz der Materie einräumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewustseyn hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum, anzunehmen. Denn weil er diese Materie und sogar deren innere Möglichkeit blos für Erscheinung gelten läßt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, n i c h t s ist: so ist | sie bey ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauungen,) welche äusserlich heissen, n i c h t , a l s o b s i e s i c h auf a n s i c h s e l b s t ä u s s e r e Gegenstände bezögen, sondern weil | sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles aussereinander, e r s e l b s t , d e r R a u m , a b e r i n u n s i s t . – Für diesen Transscendentalen Idealism haben wir uns nun schon im Anfange erklärt … Wenn man äussere Erscheinungen als Vorstellungen ansieht, die von ihren Gegenständen, als an sich ausser uns befindlichen Dingen in uns gewürkt werden, so ist nicht abzusehen, wie man dieser ihr Daseyn anders, als durch den Schluß von der Würkung auf die Ursache erkennen könne, bey welchem es immer zweifelhaft bleiben muß, ob die letztere in uns, oder ausser uns sey. Nun kann man zwar einräumen: daß von unseren äusseren Anschauungen etwas, was im Transscendentalen Verstande ausser uns seyn mag, die Ursache sey, aber dieses ist nicht der Gegenstand, den wir unter den Vorstel|lungen der Materie und cörperlicher Dinge verstehen; 17 cogito,] cogito 21–22 auf a n s i c h … bezögen,] a u f a n s i c h s e l b s t äußere Gegenstände bezögen, 28 Dingen] Dingen, 32–33 Nun … einräumen:] N u n k a n n m a n z w a r e i n r ä u m e n : 34 mag,] m a g ,

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denn diese sind lediglich Erscheinungen, d. i., bloße Vorstellungsarten, die sich jederzeit nur in uns befinden, und deren Würklichkeit auf dem unmittelbaren Bewustseyn eben so, wie das Bewustseyn meiner eigenen Gedanken beruht. Der Transscendentale Gegenstand ist, so|wohl in Ansehung der inneren als äusseren Anschauung, gleich unbekannt. Von ihm aber ist auch nicht die Rede, sondern von dem Empirischen, welcher alsdann ein äusserer heißt, wenn er im Raume, und ein innerer Gegenstand, wenn er lediglich im Zeitverhältnisse vorgestellet wird; Raum aber und Zeit sind beyde nur in uns anzutreffen. Weil indessen der Ausdruck: ausser uns, eine nicht zu vermeidende Zweydeutigkeit bey sich führt, indem er bald etwas bedeutet, was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existiert, bald was blos zur äusseren Erscheinung gehört, so wollen wir um diesen Begriff in der letztern Bedeutung, als in welcher eigentlich die psychologische Frage, | wegen der Realität unserer äusseren Anschauung genommen wird, ausser Unsicherheit zu setzen, empirisch äusserliche Gegenstände dadurch von denen, die so im Transscendentalen Sinne heissen m ö c h t e n , unterscheiden, daß wir sie« – (die nur empirisch äusserlichen Gegenstände) – »gerade zu Dinge nennen, die im Raume anzutreffen sind. … « »Aber im Raume ist nichts, als was in ihm vorgestellt wird. Denn der Raum ist selbst nichts | anders, als Vorstellung, folglich was in ihm ist, muß in der Vorstellung enthalten seyn, u n d i m Raume ist gar nichts, ausser, so fern es in ihm würklich vorgestellt wird. Ein Satz, der allerdings befremdlich klingen muß: daß eine Sache nur in der Vorstellung von ihr existieren könne, der aber hier das Anstößige verliert, weil die Sachen mit denen wir es zu thun haben, nicht Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen, d. i., Vorstellungen sind.« »Wenn wir uns nicht in unseren gemeinsten | Behauptungen verwickeln wollen, müssen wir alle Wahrnehmungen, sie mögen nun innere oder äussere heissen, blos als ein Bewustseyn dessen was unserer Sinnlichkeit anhängt, und die äusseren Gegenstände derselben nicht für Dinge an sich selbst, sondern nur für Vorstellungen ansehen, deren wir uns, wie jeder andern Vorstellung, unmittelbar bewust werden können, die aber darum äussere h e i s s e n , weil sie demjenigen Sinne anhängen, den wir den äusseren Sinn nennen, 10 nur in uns] n u r i n u n s

14 wir] wir,

16 Frage,] Frage

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dessen Anschauung der Raum ist, der aber doch selbst nichts anders, | als eine innere Vorstellungsart ist, in welcher sich gewisse Wahrnehmungen verknüpfen. Das Transscendentale Object, welches den äusseren Erscheinungen, imgleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt, ist weder Materie, noch ein denkendes Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweyten Art an die Hand geben.« Aus der transscendentalen Aesthetik, auf | die ich zuvörderst verwiesen habe, will ich nur folgende Stelle über die transscendentale Idealität der Zeit anführen. »Wider diese Theorie, welche der Zeit empirische Realität zugesteht, aber die absolute und transscendentale abspricht, habe ich von einsehenden Männern einen Einwurf so einstimmig vernommen, daß ich daraus abnehme, er müsse sich natürlicher Weise bey jedem Leser, dem diese Betrachtungen ungewohnt sind, vorfinden. Er lautet so: Veränderungen sind würklich (dieses beweiset der Wechsel unserer eigenen Vorstellungen, wenn man gleich alle äussere Erscheinungen, samt deren Verände|rungen leugnen wollte). Nun sind Veränderungen nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas würkliches. Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas würkliches, nemlich d i e w ü r k l i c h e Form der inneren Anschauung. Sie hat also subjective Realität in Ansehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe würklich die V o rstellung von der Zeit, und | meinen Bestimmungen in ihr. Sie ist also würklich nicht als Object, sondern als die Vorstellungsart meiner Selbst als Objects anzusehen. Wenn aber ich selbst, oder ein ander Wesen mich, ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit anschauen könnte, so würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vorstellen, eine Erkenntniß geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, m i t h i n a u c h d e r V e r ä nd e r u n g , g a r n i c h t v o r k ä m e … Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander; aber das heißt nur, wir sind uns ihrer, als in einer Zeitfolge, d. i. nach der Form des inneren Sinnes bewußt, u.s.w.« (Crit. d. r. Vernunft. S. 36 u. 37.) | Also was wir Realisten würkliche Gegenstände, von unseren Vorstellungen unabhängige Dinge nennen, das sind dem transscendentalen Idealisten nur innerliche Wesen, d i e g a r n i c h t s von 38 gar nichts] g a r n i c h t s

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de m D i n g e , d a s e t w a a u s s e r u n s s e y n , o d e r w o r a u f | d i e Erscheinung sich beziehen mag, darstellen, sondern von allem würklich objectiven ganz leere blos subjective Bestimmungen des Gemüths. – »Vorstellungen« – nichts als Vorstellungen – »sind diese Gegenstände1, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder R e i h e n v o n V e r ä nderungen, ausser unsern Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben« (S. 491.). »Sie« – diese Gegenstände die nur Erscheinungen sind, welche nichts, schlechterdings nichts, würklich objectives, sondern überall nur sich selbst darstellen – »sind das bloße Spiel unserer Vorstellungen, die am | Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen (S. 101.).« | Folglich, »Auch die Ordnung und Regelmäßigkeit in den Erscheinungen, die wir N a t u r nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüths ursprünglich hineingelegt. (S. 125.) … Ob wir gleich durch Erfahrung viel Gesetze lernen, so sind diese doch nur besondere Bestimmungen noch höherer Gesetze, unter denen die Höchsten (u n t e r w e l c h e n a l l e a n d e r e s t ehen) a priori aus dem Verstande selbst herkommen, u n d n i c h t v o n d e r E r f a h r u n g e n t l e h n t s i n d , sondern vielmehr den Erscheinungen ihre Gesetzmäßigkeit verschaffen, und eben dadurch Erfahrung möglich machen müssen. Es ist also der Verstand nicht blos ein Vermögen durch Vergleichung sich Regeln zu machen: e r i s t s e l b s t d i e G e s e t z g e b u n g f ü r d i e N a t u r , d. i., ohne Verstand würde es überall nicht Natur, das ist Synthetische Einheit des Mannigfaltigen nach Regeln geben: denn Er-| scheinungen können als solche nicht ausser uns statt fin|den, sondern existieren nur in unserer Sinnlichkeit.«2 | 1

Herr Kant heißt deswegen die Realisten, die nicht blos empirische Realisten sind, träumende Idealisten; denn sie halten die Gegenstände, die bloße Vorstellungen sind, für Dinge an sich. 2 Man muß sich sorgfältig hüten, diese Kantische Behauptung nicht mit der4–5 nichts als Vorstellungen] n i c h t s a l s V o r s t e l l u n g e n

22–23 sondern …

35 verschaffen,] s o n d e r n v i e l m e h r d e n E r s c h e i n u n g e n i h r e G e s e t z m ä-

ßigkeit verschaffen, 31 Herr Kant] Kant empirische 32 Gegenstände,] Gegenstände, 2 darstellen]so D2; D1: darstellt laufen (S. 101.).

blos empirische] b l o s

12 auslaufen (S. 101.).«] so D2; D1: aus-

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Ich glaube, dies wenige ist hinreichend zum Beweise, daß der Kantische Philosoph den Geist seines Systems ganz verläßt, wenn er von den Gegenständen sagt, daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen e r r e g e n , und auf diese Weise Vorstellungen z u w e g e b r i n g e n : denn nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, | der immer nur Erscheinung ist, nicht ausser uns vorhanden, und noch etwas anders als eine Vorstellung seyn: von dem transscendentalen Gegenstande aber wissen wir nach diesem Lehrbegriffe nicht das geringste; und es ist auch nie von ihm die Rede, wenn Gegenstände in Betrachtung kommen; sein Begriff ist höchstens ein problematischer Begriff, welcher auf der g a n z s u b j e c t i v e n , u n s erer eigenthümlichen Sinnlichkeit allein zugehörigen Form unseres Denkens beruht; die Erfahrung giebt ihn nicht, und kann ihn auf keine Weise geben, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, nie ein Gegenstand der Erfahrung seyn kann; die Erscheinung aber, und | daß diese oder jene Affection der Sinnlichkeit in mir ist, gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellungen auf irgend ein Object ausmacht. Der Verstand ist es, welcher das Object zu der Erscheinung hinzuthut, indem er ihr Mannigfaltiges in Einem Bewustseyn verknüpft. A l s d e n n s a g e n wir, wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewürkt h a b e n ; u n d d e r B e g r i f f d i e s e r | E i n h e i t i s t d i e Vorstellung vom Gegenstande = X. Dieses = X ist aber nicht der transscendentale Gegenstand; denn vom transscendentalen

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jenigen zu verwechseln, die von Leibnitz so vielfältig ausgeführt, und in Mendelssohns Phädon so schön und faßlich vorgetragen ist, nemlich, daß Ordnung, Harmonie, jede Zusammenstimmung eines Mannigfaltigen, als solche, nicht in den Dingen, sondern allein im denkenden Wesen, welches das Mannigfaltige 30 zusammen nimmt, und in Eine Vorstellung vereinigt, können angetroffen werden. Denn nach letzterer Behauptung ist die Ordnung, die Zusammenstimmung die ich wahrnehme, nichts weniger als blos subjectiv; sondern die Bedingungen derselben liegen ausser mir im Gegenstande, und ich werde durch die Beschaffenheit des Gegenstandes genöthigt, seine Theile so und nicht 35 anders zu verknüpfen. Also ist hier der Gegenstand auch Gesetzgeber für den Verstand, in Absicht des Begriffes, den er nach ihm bildet; der Begriff wird nach allen seinen Theilen und Verhältnissen durch den Gegenstand gegeben, und nur das B e g r e i f e n s e l b s t liegt allein in mir. s. S. 169 u. 170. des vorstehenden 40 Gesprächs. 29 als solche,] a l s s o l c h e ,

39–40 mir. s. … Gesprächs.] mir.

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Gegenstande wissen wir nicht einmal soviel, und er wird als intelligibele Ursache der Erscheinung überhaupt nur angenommen, blos damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Receptivität correspondiere1. Indessen wie sehr es auch dem Geiste der Kantischen Philosophie zuwider seyn mag, von | den Gegenständen zu sagen, daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen, so läßt sich doch nicht wohl ersehen, wie ohne diese Voraussetzung, auch die Kantische Philosophie zu sich selbst den Eingang finden, und zu irgend einem Vortrage ihres Lehrbegriffs gelangen könne. Denn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und Realem, ein würkliches Mittel v o n Etwas z u Etwas darunter verstanden werden, und in seinem Begriffe, die Begriffe von aussereinan|der und verknüpft seyn, von Thun und Leiden, von Causalität und Dependenz, a l s r e a l e r u n d o b j e c t iver Bestimmungen schon enthalten seyn sollen; und zwar dergestalt enthalten, daß die absolute Allgemeinheit und Nothwendigkeit dieser Begriffe als frühere Voraussetzung zugleich mit gegeben sey. Ich muß gestehen, daß dieser Anstand mich bey dem Studio der Kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik | der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich o h n e jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und m i t jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte. Mit dieser Voraussetzung darinn zu bleiben, ist platterdings unmöglich, weil die Ueberzeugung von der objectiven Gültigkeit unserer Wahrnehmung von Gegenständen ausser uns als Dingen an sich, und nicht als blos subjectiver Erscheinungen, dieser Voraussetzung zum Grunde liegt, und eben so die Ueberzeugung von der objectiven Gültigkeit unserer Vorstellungen v o n d e n n o t h w e ndigen Beziehungen dieser Gegenstände auf einander und ihrer | wesentlichen Verhältnisse, a l s o b j e c t i v r e a l e r B e s t i mm u n g e n . Behauptungen, welche sich auf keine Art und Weise mit der Kantischen Philosophie vereinigen lassen, da diese durch1

Critik der reinen Vernunft. S. 246. 253. 254. 115. 494.

16–17 r e a l e r u n d o b j e c t i v e r] r e a l e n u n d o b j e c t i v e n

30 blos] b l o s

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aus damit umgeht zu beweisen: daß sowohl die Gegenstände als ihre Verhältnisse, blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres eigenen Selbstes, | und ganz und gar nicht ausser uns vorhanden sind. Denn wenn nach ihr auch eingeräumt werden kann, daß diesen blos subjectiven Wesen, die nur Bestimmungen unseres eigenen Wesens sind, ein transscendentales Etwas als Ursache entsprechen m a g : so bleibt doch in der tiefsten Dunkelheit verborgen, wo diese Ursache, und von was Art ihre Beziehung auf die Würkung sey. Uebrigens haben wir schon gesehen, daß wir zu keiner Erfahrung von diesem transscendentalen Etwas weder von nahem noch von ferne gelangen, und auf keine Weise das geringste von ihm gewahr werden können, sondern daß alle Gegenstände der Erfahrung bloße Erscheinungen sind, deren Materie und realer Inhalt durch und durch nichts anders, als unsere eigene Empfindung ist. In Absicht der besonderen Bestimmungen dieser Empfin|dung, ich meyne ihrer Quelle, oder, um die Sprache der Kantischen Philosophie zu reden, d e r A r t u n d W e i s e w i e wir von Gegenständen afficiert werden, befinden wir uns in der totalsten Unwissenheit. Und was die in|nerliche Bearbeitung oder Digestion dieser Materie betrifft, wodurch sie ihre F o r m erhält, und die Empfindungen in uns zu Gegenständen für uns werden: so beruht diese auf einer Spontaneität unseres Wesens, deren Principium uns abermals ganz und gar unbekannt ist, und wovon wir nur wissen, daß ihre erste Aeusserung die Aeusserung eines blinden vorwärts und rückwärts verknüpfenden Vermögens ist, das wir Einbildungskraft nennen. Da aber die Begriffe, die auf diese Weise entstehen, und die Urtheile und Sätze die aus ihnen erwachsen, keine Gültigkeit als nur in Beziehung auf unsere Empfindungen haben, so ist unsere ganze Erkenntniß nichts als ein Bewußtseyn verknüpfter Bestimmungen unseres eigenen Selbstes, woraus auf gar nichts anderes geschlossen werden kann. Unsere allgemeinen Vorstellungen, Begriffe und Grundsätze drücken nur die wesentliche Form aus, in welche jede besondere Vorstellung und jedes besondere Urtheil, zu|folge der Beschaffenheit unserer Natur sich fügen muß, um in Einem allgemeinen oder transscendentalen Be|wustseyn aufgenommen und verknüpft werden zu können, und dergestalt relative Wahrheit, oder relativ objective Gültigkeit zu 2 Verhältnisse,] Verhältnisse 4 sind] seyen 8 wo] wo ders 23 Principium] Princip 34 Natur] Natur,

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erhalten. Aber diese Gesetze unseres Anschauens und Denkens sind, wenn man von der menschlichen Form abstrahiert, ohne alle Bedeutung und Gültigkeit, und geben über die Gesetze der Natur an sich nicht die entfernteste Weisung. Weder der Satz des zureichenden Grundes, noch selbst der Satz, daß aus Nichts Nichts werden kann, geht die Dinge an sich an. Kurz unsere ganze Erkenntniß enthält nichts, platterdings nichts, was irgend eine w a h r h a f t objective Bedeutung hätte. Ich frage: wie ist es möglich die Voraussetzung von Gegenständen, welche Eindrücke auf unsere Sinne machen, und auf diese Weise Vorstellungen erregen, mit einem Lehrbegriffe zu vereinigen, der alle Gründe, worauf diese Voraussetzung sich stützt, zu nichte machen will? Man erwäge, was gleich zu Anfang dieses Aufsatzes ist gezeigt worden: daß der Raum und alle Dinge im Raum nach dem Kantischen System in uns, und sonst nirgendwo | vorhanden sind; daß | alle Veränderungen, und sogar die Veränderungen unseres eigenen innerlichen Zustandes, wovon wir doch durch die Folge unserer Gedanken unmittelbar gewiß zu seyn glauben, nur Vorstellungsarten sind, und keine objectiv würkliche Veränderung, kein solches Aufeinanderfolgen weder in uns noch ausser uns beweisen; man erwäge, daß alle Grundsätze des Verstandes nur subjective Bedingungen ausdrücken, welche Gesetze unseres Denkens, aber keinesweges der Natur an sich, sondern ohne allen wahrhaft objectiven Inhalt und Gebrauch sind: man erwäge diese Punkte gehörig, und besinne sich, ob man neben ihnen wohl die Voraussetzung von Gegenständen, welche Eindrücke auf unsere Sinne machen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen, könne gelten lassen. Man wird es unmöglich können, wenn man nicht jedem Worte eine fremde Bedeutung, und ihrer Zusammenfügung einen ganz mystischen Sinn beylegt. Denn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch müßte mit dem Gegenstand ein Ding gemeynt seyn, d a s i m t r a n s s c e n d e n t a | l e n V e r s t a n d e a u s s e r u n s v o r h a n d e n w ä r e : und wie kämen wir in der Kantischen Philosophie zu einem solchen Dinge? Etwa dadurch, daß wir uns | bey den Vorstellungen die wir Erscheinungen nennen, paßiv fühlen? Aber sich paßiv fühlen oder leiden, ist nur die Hälfte eines Zustandes, d e r a l l e i n n a c h d i e s e r H ä l f t e n i c h t d e n k b a r ist. Auch würde hier ausdrücklich gefordert, daß er allein nach 9 möglich] möglich,

35 Vorstellungen] Vorstellungen,

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dieser Hälfte nicht denkbar sey. Also empfänden wir Ursache und Würkung im transscendentalen Verstande, und könnten, vermöge dieser Empfindungen, auf Dinge ausser uns und ihre nothwendigen Beziehungen auf einander im transscendentalen Verstande schließen. Da aber der ganze transscendentale Idealismus hiemit zu Grunde gienge, und alle Anwendung und Absicht verlöre, so muß sein Bekenner schlechterdings jene Voraussetzung fahren lassen, und es nicht einmal wahrscheinlich finden wollen, daß Dinge, die im transscendentalen Verstande ausser uns wären, vorhanden sind, und Beziehungen auf uns haben, d i e w i r a u f i r g e n d e i n e | W e i s e w a h r z u n e h m e n i m S t a n d e s e y n k ö n n t e n . Sobald er es nur wahrscheinlich finden, es nur von ferne g l a u b e n will, muß er aus dem transscendentalen Idealismus herausgehen, und mit sich selbst in wahrhaft unaussprechliche Widersprüche ge|rathen. Der transscendentale Idealist muß also den Muth haben, den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten, und selbst vor dem Vorwurfe des spekulativen Egoismus sich nicht zu fürchten, weil er sich unmöglich in seinem System behaupten kann, wenn er auch nur diesen letzten Vorwurf von sich abtreiben will. Wollte die Kantische Philosophie von der transscendentalen Unwissenheit, welche der transscendentale Idealismus lehrt, sich nur um ein Haarbreit durch Vermuthung oder Glauben entfernen, so verlöre sie nicht allein in demselben Augenblick alle Haltung, sondern sie müßte auch, was sie als ihren Hauptvorzug angiebt, nemlich die Vernunft in Ruhe zu setzen, ganz und gar fahren lassen; denn diese Anmassung hat keinen andern Grund als | die durchgängige absolute Unwissenheit, welche der transscendentale Idealismus behauptet; diese durchgängige absolute Unwissenheit würde aber alle Kraft verlieren, wenn irgend eine Vermuthung sich über sie erheben, und auch nur den kleinsten Vortheil ihr abgewinnen könnte.

_ Nafe, kai mimnaß çpistein: çrvra tauta twn frenwn.

Epicharm. Fragm. Troch.

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BERICHTIGUNG EINER REZENSION (1788)

Berichtigung Eines philologischen; Eines historischen; und Eines pragmatischen Punktes in der Recension des Gespräches über Idealismus und Realismus (Allg. Lit. Zeitung No. 92.); nebst einer Erklärung Lavatern betreffend. 5

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Nicht Antikritik; denn alle eigentliche Beurtheilung soll hier unangefochten bleiben. Erörterungen lassen sich nicht so in die Kürze bringen, wie Urtheile, und ich möchte eben so ungern meinen Raum mir selbst verengern, als das Bedürfniß eines größeren, ohne Bestimmung der Leser, befriedigen. Aber gewiß werde ich den von einem Manne, vor welchem es eine Ehre ist zu reden, mir gegebenen erwünschten Anlaß, mich über verschiedenes noch deutlicher zu erklären, an einem andern Orte, und ich hoffe bald, benutzen. Sowohl diesem scharfsinnigen Ungenannten, als Herrn Hofrath Feder (S. die philosophische Bibliothek von Feder und Meiners, I Band) glaube ich nicht besser beweisen zu können, wie hoch ich die Ehre schätze, daß zwey so vortrefliche Männer meine Schrift nicht unwerth fanden, sich ernsthafter damit zu beschäftigen; als wenn ich ihre Haupteinwürfe mit noch größerem Ernste in Betrachtung ziehe. Hiezu erwarte ich nur einige gesunde und geschäftlose Tage und den Ruf meiner philosophischen Muse. Ich gehe nun zu dem Vortrage der drey angezeigten Punkte über. Der Philologische war der erste. Mein Recensent sagt, S. 106: »Ausserdem aber passet das Beyspiel des Hume hier schon deswegen nicht, weil im Englischen belief den Nebenbegriff nicht hat, den das deutsche G l a u b e durch den theologischen Gebrauch erhalten, und der allen jenen Mißverstand veranlaßt hat. Für diesen Glauben ist F a i t h das entsprechende Englische Wort, und Hume würde gewiß nie gesagt haben: F a i t h is the true and proper name of this feeling (der sinnlichen Evidenz), wenn er gleich einmahl den Ausdruck gebraucht: faith repose in the senses.« Ich antworte: In Johnson’s Englischem Wörterbuche finden sich bey dem Worte belief sechs Bedeutungen. Die erste: Credit given to something which we know not of ourselves. Die zweyte: The theological virtue of faith; firm confidence of the truths of religion. Die dritte: Religion; the body of tenets held. – – – Die sechste: Creed: a form containing the articles of faith. Herr Adelung hat in seinem aus Johnson gezogenen Wörterbuche der Englischen Spra|che für

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die Deutschen, diese Bedeutungen auf folgende Weise, nicht ganz wörtlich, gegeben: Belief. 1) Der Glaube, das ist, der Beyfall um des Zeugnisses eines andern willen, 2) Besonders der Glaube im theologischen Verstande; wie faith. 3) Die Religion, die sämmtlichen Lehren derselben. – – 6) Das Glaubensbekenntniß, wie Creed. – Alle diese Bedeutungen sind mit Beyspielen aus den ansehnlichsten Schriftstellern belegt. Wer hieran nicht genug hat, mag den Ainsworth, den großen und kleinen Boyer, den Lewis Chambaud und Robinet, überhaupt jedes Wörterbuch nachschlagen, und er wird überall dasselbige finden. Hume würde freylich nie gesagt haben: Faith is the true and proper name of this feeling; aber dieses würde ich auch nie gesagt haben, obgleich ich kein gebohrner Engländer bin. Ich möchte wissen, wie mein Recensent Unbeliever mit dem Worte Faith geben wollte; denn das adjectivum f a i t h l e ß kann nicht als ein Substantivum gebraucht werden, und enthält auch keinesweges für sich allein die Bestimmung des theologischen Verstandes. Wenn ich ausser allem Zusammenhange sage: a faithleß Jew; so wird nicht leicht jemand auf die Gedanken gerathen, daß ich einen u ngläubigen Juden dadurch bezeichnen wolle. Diese ganze Frage thut aber wenig oder nichts zur Sache, wie ich anderswo zeigen werde. Ich wünschte nur daß meine Leser unterdessen die von mir übersetzte Stelle des Hume (S. 38–48. des Gesprächs über Idealismus und Realismus) noch einmahl aufmerksam durchlesen wollten. Sie beträgt (da das Englische darunter steht) nur eilf h a l b e Seiten, klein Format, und ziemlich weitläuftig gedruckt. Mühe und Zeitverlust dabey wären also nicht beträchtlich. Ich gehe zum zweyten Punkte, dem historischen, über. Unmittelbar vor der eben angeführten Stelle heißt es: »Ferner schreibt Hr. J. in seinen Briefen über den Spinoza die erste Ausbildung des menschlichen Geschlechts nicht der natürlichen Entwikkelung ihrer Vernunft und ihres Verstandes durch Erfahrung, sondern dem unmittelbaren Einflusse eines höheren Wesens zu, (welches nicht einmahl durch Belehrung, sondern durch Befehl gewirkt,) – und in den Resultaten der Mendelsohnschen und Jacobischen Philosophie, welche Hr. J. für die vollkommenste Darstellung seines eigenen Systems anerkennt, wird der Glaube an 27 und] nnd

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diese Tradition aus den frühesten Zeiten des Menschengeschlechts als der einzige Grund der Religion für einen jeden angegeben, der sich nicht unmittelbarer Einwirkungen der Gottheit bewußt ist.« | Die Erörterung des ersten Theils dieser Periode bleibt verschoben; und in Absicht des zweyten will ich nur die Frage thun: ob es sich nur als möglich denken lasse, daß ich zu der vollkommensten Darstellung meiner Meynung auch alle diejenigen Sätze in Wizenmanns Resultaten gerechnet habe, die der Verfasser ausdrücklich als seine eigene, besondere, und verschiedene Meynung vortrug, nachdem er der meinigen mehrere Gründe, nicht ohne Lebhaftigkeit, entgegen gesetzt hatte? Ich weiß wohl, daß man es durchgängig bequem, folglich auch gut und schicklich, gefunden hat, die Resultate zu beurtheilen, als wären sie mein Werk, und zwar viel eigentlicher mein Werk, als die Briefe über die Lehre des Spinoza. Man hat das Lob, das ich meinem jungen Freunde in der Vorrede zu meiner Rechtfertigung ertheilte, aus keinem andern Antriebe, als aus einer Eitelkeit zu erklären gewußt, die um so viel lächerlicher erscheinen mußte, als sie unbegreiflich unbesonnen gewesen wäre. Gegen die Klugheit habe ich immer gefehlt; aber ich WUSSTE, daß ich dagegen fehlte. … Uebrigens kann ich es in jeder Beziehung wohl ertragen, mit diesem Jünglinge von hohem Geiste identificirt – so wie mit gewissen verwirrten Köpfen, einem Lavater, Herder, Hamann, Hiob und König Salomo, mitgefangen und mitgehangen zu werden. Im allgemeinen aber kann ich ein solches summarisches Verfahren doch nicht billigen; und dieses wäre mein dritter und letzter Punkt, der pragmatische. Der Grundsatz: Salus populi suprema lex esto, ist bey dem bürgerlichen Regimente schon sehr alt, und jeder weiß, wie sich die Welt dabey befunden hat. Als ein kritischer Grundsatz ist er meines Wissens nie ausdrücklich angenommen worden. Wie tief er aber unsern Gesalbten der gelehrten Republik im Herzen sitze, offenbart sich – ohne Zweifel zu unserm Besten – von Tage zu Tage mehr. Jeder kritischen Gesellschaft (vielleicht eine einzige ausgenommen) sehen wir deutlich ein gewisses Nützliches vor Augen schweben, welches sie glaubt, aus allen Kräften befördern; und ein gewisses Schädliches, dem sie glaubt, aus allen Kräften entgegen 6 des] der

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arbeiten zu müssen. Diesen höhern Zwecken werden gemeine Gerechtigkeit und Wahrheit ohne Bedenken untergeordnet. Beyde dürfen nicht mehr gelten, als das a l l g e m e i n e B e s t e es gestattet. Ich bin, wie bekannt, im Bürgerlichen Regimente nicht für den Grundsatz des allgemeinen Besten, der von je her das pou stw gewesen ist, wo der Despotismus seinen Archimedischen Hebel angesetzt hat, um Freyheit von der Stelle zu bringen, und persönlicher Würde das Genick zu brechen; sondern für den einzigen Grundsatz unwandelbarer Gerechtigkeit, die es sich nicht herausnimmt, wie jener heilige Schuhflicker, das Leder zu stehlen, um damit zu lappen um Gotteswillen; oder wie jener christliche Enthusiast unter einem abgöttischen Volke Kinder zu stehlen, sie zu taufen, und nachher zu morden, damit ihre ewige Seligkeit versichert wäre. Wie vom bürgerlichen Regiment, wünschte ich diesen Grundsatz unwandelbarer Gerechtigkeit auch vom gelehrten Regiment als den einzigen angenommen und befolgt zu sehen. Ich wünschte, daß man von jedem Buche gerade auf eine solche Weise Rechenschaft gäbe, als wenn | es ein unmittelbares Produkt der Natur wäre. Vielleicht gelangten wir auf diesem Wege dazu, die verschiedenen Sinnesarten, Gedankenverknüpfungen und Systeme der Menschen nicht mehr nach einer Theodizee zu beurtheilen, in der wir selbst den Gott vorstellen, und lernten Stolz, Unwillen, Ekel und Verachtung, die so oft die Folgen eines bloßen optischen Betruges sind, der nur Kinder hintergehen sollte, in demselbigen Maaße einschränken, als sich unser Gesichtskreis erweiterte. – Ich rede mit Wärme von einer Sache, über die ich vor zwanzig Jahren eben so gedacht habe, wie ich heute darüber denke, und die sich mir immer näher ans Herz drängt. Ich habe das Zutrauen zu meinem Rezensenten, daß er Freymüthigkeit überall gut heißen, und es mir auf keine Weise übel nehmen wird, wenn ich ihn selbst einiger Anwendung jener Politik, und Annehmung jenes Optimismus, die ich eben tadelte, beschuldige. Unmöglich kann ein Mann wie dieser, für sich selbst die Meinung haben, es liege in dem von mir gemachten Gebrauche des Wortes Glauben würklich einige Zweydeutigkeit, und » e i n v e rzeihlicher Irrthum sey die Quelle der mir deswegen zugefügten Beschimpfungen.« Er selbst hat am Schlusse seiner Recension eine bessere Quelle angegeben, und auch gleich am Anfange schon angedeutet. Würklich ist das einzige wahre Factum

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gegen mich, daß ich mich, nach dem Ausdrucke des Recensenten »zu so verwirrten Köpfen, wie Lavater und einige andere, die ich mit Wohlgefallen anführe, g e s e l l t habe.« Aber ist g e s e l l t hier wohl das rechte Wort? Und wer sind die andern verwirrten Köpfe? Doch ich bleibe bey Lavater Lavater ist also am eigentlichsten characterisirt und unter seine Categorie gebracht, wenn man ihn einen verwirrten Kopf nennt? Sollte dieses des geist- und geschmackvollen Verfassers der Beurtheilung meines Gesprächs f ü r s i c h s e l b s t gefälltes philosophisches Urteil seyn? Sollte er, wenn es Lavaters Fähigkeiten und Kräften auch noch so sehr an Ebenmaaß, Gleichgewicht, und richtigem Verhältnisse mangelte, diese ausserordentlichen Fähigkeiten und Kräfte selbst darum für nichts achten? Wenn er von den Schriften des Mannes auch blos die Physiognomik gelesen, und zum Theil durchblättert hat; so ist es unmöglich, daß ihm dieser Mann nicht in hundert Rücksichten sollte als ein lichtvoller Geist erschienen seyn, und ihm Hochachtung und Bewunderung abgezwungen haben. Ich selbst bin mit Lavaters Schriften nur zum Theil bekannt, und manches in dem, was ich kenne, widersteht mir in einem hohen Grade. Vieles darinn scheint mir hingegen den Mann von wahrhaftem Genie zu characterisiren, und kann auch von dem abstractesten und tiefsinnigsten Philosophen, und vielleicht von diesem am mehrsten, trefflich benutzt werden. Alles zusammengenommen ist mir Lavater eine wichtige höchst interessante Erscheinung; eine Schöpfung, wofür ich der Natur, die sie mir zur Betrachtung, und zum Mittel anderer Betrachtungen und Erkenntnisse hinstellte, echt vielen Dank schuldig zu seyn glaube. Wenn es nicht gut ist, daß er so ist, wie er ist; so mag es die Natur verantworten, die ihn so gemacht hat. Diejenigen, welche ihn für einen schädli|chen, einen so ausserordentlich schädlichen und gefährlichen Mann halten, thun wohl, daß sie ihm entgegen arbeiten; aber verfolgen sollten sie ihn nicht; nicht ihm die guten rühmlichen Eigenschaften abstreiten, die er würklich besitzt, und ihn um alle öffentliche Achtung, die nicht selten mehr als Feuer und Wasser ist, zu bringen suchen; oder sie müssen für recht erkennen, daß auf gleiche Weise gegen sie selbst, sobald man sie für schädlich hält, von denen, welche diese Meinung haben, verfahren werde. Dann sehe ich aber nicht, wie man die Stirne haben kann, gegen Intoleranz und Inquisition mehr ein Wort zu reden. Was mich angeht, so glaube ich an keine Philosophie, die nicht das Prinzip

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enthält, welches alle dergleichen Aengstlichkeiten und Anmaßungen vertilgt. Genug für dieses Mahl! Pempelfort bey Düsseldorf, den 28ten May 1788. F. H. Jacobi.

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EPISTEL ÜBER DIE KANTISCHE PHILOSOPHIE (1791)

Es ist sehr grosmüthig …1

Pempelfort den 2ten Nov. 1791.

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Es ist sehr grosmüthig von Dir, lieber Freund und Kumpan, daß Du bey Gelegenheit der Oberreitiana kein Wort über das Ausbleiben meines Briefes über die Kantische Philosophie hast fallen lassen, den ich Dir nun so nahe ein rundes Jahr schuldig bin. Ich bin nicht aus Vergessenheit, Lüderlichkeit oder dergleichen, rückständig geworden, sondern Schwindels wegen. So oft ich mich hinsetzte, oder hin und her gieng, oder mich morgens früh im Bette auf ein Ohr legte, um es auszufinden, wie ich mich bey der Sache zu nehmen hätte, so lief bald alles mit mir rund, und ich mußte nur machen, daß ich das Ding geschwinde wieder aus dem Kopfe kriegte. Dennoch kann ich es nicht auf dem Herzen behalten, mich gar nicht mit Dir abgefunden zu haben, und so will ich mich denn ohne weiteres Bedenken, da eben mein Kopf durch eine heftige Migraine, die mich vorgestern Nachmittag überfiel und bis heute Mittag angehalten hat, hinlänglich gereinigt worden ist, herzhaft daran geben, und ohne mich um Anfang, Mittel und Ende zu bekümmern, Dir hinter einander von der Sache erzählen, was und wie es mir einfällt. Das Eigenthümliche der Kantischen Philosophie beruht auf der Ausdehnung und Ausführung, die ihr Verfertiger zwey längst erkannten Wahrheiten gegeben hat. Die 1ste dieser Wahrheiten heißt: Die Gegenstände können nicht die Ursache der Vorstellungen als solcher seyn, sondern es muß ein Vorstellungsvermögen vorausgesetzt werden, welches von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Vorstellungen einzelner Gegenstände abgesondert, sich als ein reines Vorstellungsvermögen darstellt. 1

handschriftlicher Zusatz Jacobis auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels: Zu mehrerer Erläuterung können in Allwills Briefsammlung die Briefe N XV. und XVI dienen. Die Stellen aus einem ungedruckten Aufsatze im XVten Briefe, sind von Hamann.

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Die 2te: Wir gelangen nur mittelbar zu der Anschauung und Er|kenntniß wirklicher Gegenstände: und dies so wohl der innern als der äussern: folglich haben wir nur Vorstellungen von Erscheinungen, in denen nichts, was die Dinge selbst angeht oder ihnen nur von weitem gliche, enthalten seyn kann. Giebt man den ersten Abschnitt des zweyten Satzes u nbedingt zu, wie es alle Rationalisten, wenn sie den Berkeley gehörig studirt haben und aufrichtig seyn wollen, thun müßen, so hat Kant gewonnen Spiel; denn die Art, wie er die Argumente der bisherigen Idealisten in Absicht auf die äussere Welt, auf die innere anwendet, ist so bündig, daß die Einwendungen der Gegner nur Unwillen und Eckel erregen können. Indem Kant den ersten Hauptsatz darthut, zergliedert oder vielmehr deducirt er ihn dergestalt, daß man deutlich sieht, das reine Vorstellungsvermögen müsse ein Vermögen seyn, einen Gegenstand überhaupt, d. i. a priori zu denken. Die Sinne tragen Haufen und wieder Haufen von Empfindungen zusammen, aber sie geben keine Begriffe. Begreiffen kann allein der Geist; er allein kann das Mannigfaltige der Empfindung in Gegenstände verwandeln; die Gegenstände sind also ihrer Form nach allein in uns, wie sie der Materie nach, a l s E m p f i n d u n g e n , auch nur allein in uns seyn können. Das Mittel, dessen sich der Verstand bedient, um Gegenstände hervorzubringen, ist die Imagination, nemlich ein vorwärts und rückwärts verknüpfendes blindes Vermögen, welches dem reinen Vorstellungsvermögen angehört, weil es eine schlechterdings nothwendige Bedingung zur Möglichkeit überhaupt einer Vorstellung ist, die ohne ein Mannigfaltiges, das in ihr verknüpft werden muß, nicht gedacht werden kann; ja das zeitliche Bewußtseyn für sich allein betrachtet kann ihrer schon nicht entbehren. | Nun gehe an dein Clavier und laufe eine Octave durch; dann faße einen Kupferstich oder ein Gemählde ins Auge. Nun hast Du zweyerley verschiedene Dinge im Gemüthe gegenwärtig; dem einen giebt die Identität der Töne, in so fern C so gut als G Ton ist, und sie zusammen E i n Ton-Quantum ausmachen, Einheit; dem andern die Identität des Sichtbaren. Auf diese Weise bringt Dein sinnliches Bewußtseyn, mit Hülfe der Imagination, eine Verschiedenheit von Gegenständen zu wege, deren jeder ein continuirliches Mannigfaltiges enthalten muß, weil sonst kein Stoff zu einem zu verknüpfenden Gegenstande da wäre. So wie nun die verschie-

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denen Töne der Octave nur in einem gemeinsamen C o n t i n u o des Schalls verknüpft werden konnten, um eine Octave zu seyn; so muß das Hören der Octave und das Sehen des Bildes wieder in einem, beyden gemeinsamen, Continuo verknüpft werden, um zusammen eine Erfahrung, eine Begebenheit auszumachen. Dieses Gemeinsame ist nun für alle Erfahrungen, von der Wiege an bis zum Grabe, d a s r e i n e B e w u ß t s e y n . So wie das empirische Bewußtseyn Dir die Octave zur Octave macht, so macht das reine Bewußtseyn, daß du – von der Octave und dem Bilde nachher u.s.w. etwas weißt; und diese Serie bringt die Erscheinung zu wege, die sich Matthias Claudius nennt. Hüte Dich aber ja und so lieb Dir die Vernunft ist, daraus zu schliessen, daß gedachter – im eigentlichsten Verstande nur gedachter Matthias Claudius wirklich etwas sey; denn nimm nur einmal alles empirische Bewußtseyn aus Deinem transcendentalen Bewußtseyn heraus und sieh zu, was Dir von Dir übrig bleiben wird.1 Hast Du bis hiehin verstanden, so wird es Dir ein Leichtes seyn, auch das Geheimniß der Kategorien zu durchschauen, welche Hamann die Kan|tischen M u s e n nannte. Damit Du aber desto gewisser zu dieser Seeligkeit gelangest, will ich dem Gesagten noch ein Scholium anhängen.

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1 Beym Wiederlesen dieser allzuflüchtig hingeworfenen ersten Seiten fällt mir zum Glück ein trefflich abgefaßter Paragraph aus Schmids Kritik der reinen Vernunft im Grundrisse ein, den ich hier einrücken will, damit er mich verbessere. Es ist der 74te Paragraph. | Durch die Sinne empfängt die Seele nur Modificationen ihres Anschauungs- 4 vermögens, Eindrücke, die an sich einzeln und zerstreut sind, n o c h k e i n e Zusammensetzung un d Bilder. Synopsis des Mannigfaltigen. Die Einbildungskraft läuft diese mannigfaltigen und in einer Zeitfolge einzeln entstandenen Vorstellungen durch und nimmt sie zusammen. Synthesis der Apprehension. Ohne diese würde keine Vorstellung des Mannigfaltigen aus der Succession des Einzelnen entspringen. Ferner reproducirt sie die vorhergegangenen Eindrücke. Synthesis der Reproduction. Daraus würde dennoch keine Reihe, kein verbundenes Ganzes entstehen, wenn nicht das Bewußtseyn hinzukäme, daß wir die reproducirten Vorstellungen schon gedacht hätten. Synthesis der Recognition. Hiedurch wird nun das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und Reproducirte in eine Einheit des Bewußtseyns (Apperception) vereinigt und die Reproduction (NB) a l s n o t h w e n d i g bestimmt. Begriff vom Gegenstande. Eines, worinnen das Mannigfaltige der Anschauung als nothwendig verbunden gedacht wird, ist ein Gegenstand.

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Scholium Schytaneum.

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Ohne Augen sieht man nicht; ohne Ohren hört man nicht; ohne Zunge schmeckt man nicht. Der gute Geschmack des Weins ist nicht im Weine, sondern in der Zunge. Habe ich Säure im Magen, so kommt mir der süsseste, mildeste Champanier Wein herbe und, als wenn Essig darunter wäre, vor. Dasselbe gilt von den übrigen Sinnen und dem ganzen Empfindungsvermögen. Auf das Zeugniß meiner Hände nenne ich lau, was ich auf das Zeugniß meiner Füsse brennend heiß nennen muß. Ich sehe einen feurigen Ring, und es ist nur eine schnell im Kreise geschwungene Kohle. Kurz wir nehmen überall nichts anders, als Modificationen unsers eigenen Selbstes war, und das R e a l e in dem, was wir Gegenstände nennen, ist lauter Empfindung. Empfindung ist die einzige M a t e r i e von allem ohne Ausnahme; und Wahrnehmung ist nichts anders, als Empfin|dung mit Bewußtseyn, oder überhaupt empirisches, modificirtes, sinnliches Bewußtseyn. Daß wir nun dennoch Dinge ausser uns anschauen, das thut d e r Raum; der wirft sie hinaus. Aber weder die Dinge noch der Raum selbst sind draussen, sondern allein i n uns. Der Raum, in so fern er als draussen und zu den Dingen gehörig angesehen wird, ist nichts; und die Dinge im Raume sind, in so fern, auch nichts. Etwas ist der Raum allein als Gemüthsbeschaffenheit, vermöge welcher wir gewisse Empfindungen, d. i. Modificationen des Gemüths, als ausser uns und ausser einander uns vorstellen. Eben so wie die Dinge nicht wirklich ausser uns und ausser einander sind; so sind sie wirklich auch nicht nach einander – auch nicht einmal zugleich: denn z u g l e i c h ist nichts, als in Beziehung auf nach einander. Daß wir nun die Dinge, innerliche und äusserliche, als nach einander und zugleich vorhanden anschauen, das kommt von einer andern Gemüthsbeschaffenheit her, welche Zeit heißt und der innere S i n n i s t . Raum ist der äussere Sinn. Beyde heissen reine Formen der Anschauungen; reine Sinnlichkeit, Receptivität a priori. Vielleicht ist Dir bey dem Artikel vom Raum eingefallen, was auch mir, da ich zum ersten mal davon las, gleich einfiel; nemlich: Wie man von Dingen als ausser uns reden könne, wenn wir von gar keinen andern Dingen als solchen als ausser uns wissen. Ich

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drehte das Ding nach allen Ecken und Enden; und je mehr ich drehte, je schwieriger wurde es. Bey der Zeit fand ich ähnliche und noch viele andere Schwierigkeiten. Von den v i e l a n d e r n Schwierigkeiten werde ich wohl nachher noch etwas berichten | müßen. Kann ich aber vorbey kommen, so thue ichs; denn metakritisch zu werden liefe wider meinen Beruf in Absicht Deiner. Und da ich es Dir an der Nase ansehe, daß mein kritischer Vortrag noch nicht recht an Dir haften will, so muß ich mein Scholium mit einer neuen Gabe Schytanum verstärken, und die Lehre von dem R e i n e n mit Gewalt an Dich zu bringen suchen. Du bist ein Musikus; ich will Dich also bey den Ohren fassen. Nun gieb Acht! Wenn nicht in diesen Deinen Ohren ein Vermögen überhaupt zu hören wäre; so würdest Du weder von Waldhorn noch von Orgel etwas nachzusagen haben. Dein Vermögen zu hören macht den Ton des Waldhorns zu dem, was er ist; mit der Orgel desgleichen, u.s.w. Ohne Ohren gäbe es gar keine Musik. Denn die Musik ist eben so wenig in der so oder anders bewegten Luft, als die Eigenschaften des Schönen und Häßlichen, des Rührenden oder Erhabenen, welche wir der Musik zuschreiben, in der bewegten Luft sind. Wer das Vermögen zu hören ganz kennte, der könnte alles Wesentliche von der Musik voraussagen, ohne die Erfahrung von wirklichen Tönen und Instrumenten dazu nöthig zu haben; denn in diesem Vermögen hätte er nicht allein die ganze reine Materie, sondern auch die ganze r e i n e Form aller Musik, d. i. alle und jede Musik a priori. Wie es nun ein solches reines Vermögen zu hören, vor allem wirklichen Hören giebt, und dieses durch jenes erst möglich werden kann; wie in diesem Hören a priori die Materie und Form nothwendig gegeben ist, welche alle Gegenstände des Gehörs annehmen müssen, um Gegenstände des Gehörs zu seyn und als solche ein zufälliges Daseyn zu erhalten: so giebt es ein ähnliches reines Vermögen und Anticipiren der Wahrnehmungen, nicht allein für jeden besondern Sinn, sondern für die Sinnlichkeit und das Anschauungsvermögen überhaupt; und wer einigermaassen an transcendentales Nachdenken gewohnt ist, begreifft sogleich, daß es nicht anders seyn kann. |

5 berichten] beichten

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Da stellt denn nun das reine Anschauungs-Vorstellungs-Empfindungs-Vermögen (denn diese drey sind eins) überhaupt dar: 1) Für die körperliche Materie überhaupt: R a u m . (das Extensive) 2) Für die wirkliche Bewegung überhaupt: Z e i t . (das Successive) 3) Für die Empfindung überhaupt: G r a d . (das Intensive)

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Ende des Scholium.

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Ehe ich Dir das volle Licht der Kategorien anzünde, will ich Dir die Augen noch etwas mit einer Anmerkung aus meiner Kladde auszuwaschen suchen. Ich schrieb diese Anmerkung im Winter 1785, wo ich Kants Kr. d. r. Vnft zuerst durchgelesen habe; obgleich mein Freund Reinhold a priori besser wissen muß, daß ich sie vorher, aber nur nicht genug studirt habe. V o r h e r , weil mir sonst meine Briefe über Spinoza wohl nicht eingefallen wären; nicht genug, weil ich von Kant abwich, und noch so viel Wesens von Spinoza machen konnte. Hier die Stelle aus meiner Kladde. »Nach Kant sind unsere Vorstellungen, Vorstellungen von Erscheinungen, n i c h t v o n D i n g e n , keine B i l d e r von Etwas. Sie stellen gar nichts dar von den Dingen selbst, sondern s i c h selbst einzig und allein. Sie enthalten nichts objectiv Reales und bezeichnen nicht einmal etwas objectiv Reales. Sogar stellen sie nicht einmal ein Verhältniß zwischen w i r k l i c h e m O bjecte und wirklichem Subjecte dar. Die Summe aller Realität für uns ist Empfindung d. i. Modification unseres Selbstes.« »Es giebt aber zweyerley Gattungen von Empfindung: Eine, die wir der äussern Dinge, und eine andere, die wir der inneren Dinge nennen. Die Empfindung der äussern Dinge bezieht sich eben so wenig auf etwas wirklich äusserliches, als die Empfindung der inneren Dinge sich auf etwas eigentlich innerliches bezieht; sondern sie beziehen sich nur gegenseitig auf einander. Was wir ihre Gegenstände nennen, sind nur Gespenster, die vermöge der Doppelform unsers androgynen Gemüths, | herauf und herunter fahren. Eigenschaften, Verhältnisse der Dinge, sind nur so viele Aufwallungen 26 Selbstes.«] Selbstes.

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der Liebe und Gegenliebe, Affectionen und Functionen, dieses wunderbaren Doppelwesens.« »Kein Wunder ists, daß wir über Mögliches und Unmögliches a priori entscheiden und der Erfahrung feste Gränzen setzen können. Die Gesetze des Universum, sind die Gesetze selbst unsers Vorstellungsvermögens und es ist unmöglich, daß irgend etwas, das nicht aus uns genommen wäre, zu uns komme. – Der Unsinn jener Scholastiker, welche die einzelnen Dinge aus ihren Allgemeinheiten entspringen liessen, bekommt in diesem System einen richtigen Verstand. Da nemlich alle Wahrnehmung und Erkenntniß im Grunde durch und durch subjectiv ist, und das Objective nur daher seinen N a h m e n hat, weil das allgemein Subjective den Schein des Objectiven nie verliert, und zum Unterschiede von dem Zufälligen, dem nicht allgemeinen, veränderlichen Subjectiven doch einen Nahmen haben mußte – da, sage ich, alles auf diese Weise nur subjectives Formenspiel ist: so können die Vorstellungen und Begriffe nicht von den einzelnen Gegenständen –, sondern die einzelnen Gegenstände müssen aus den Vorstellungen und Begriffen kommen. Es liegt also nothwendig im Gemüthe ein Vermögen, nach blos innerlichen Gesetzen, Bilder zu entwerfen für die Sinnlichkeit. Dieses Vermögen und seine Anwendung heißt bey Kant: der Schematismus der reinen Vernunft.« Nun endlich zu den Kategorieen. Kategorien sind schlechterdings allgemeine Begriffe, Stammbegriffe, ursprüngliche Begriffe, Grundbegriffe, Begriffe a priori. Comparativ allgemein sind alle Begriffe in irgend einer Beziehung, sonst könnten wir nicht mit ihnen u rtheilen; denn Urtheile sind nur durch Begriffe möglich. Wie, wo und wann Dein kleiner F r i t z dich erblickt, ruft er V a t e r , welches er wohl lassen müßte, wenn er nicht eine Vorstellung | überhaupt, einen allgemeinen Entwurf, Schema, Typus von Dir hätte, worunter er Deine verschiedenen Erscheinungen subsumirte. H a n s kennt alle Kuchen und weiß ihre mancherley Erscheinungen – je mehr je lieber – unter die Kategorien der Quantität und Qualität zu subsumiren und durch sämtliche Analogieen der Erfahrung durchzuführen, mit einer Sicherheit und Fertigkeit, um welche ihn der Philosoph beneiden mögte. Sollte es nun gerathen, daß Hans einmal über seine Methode bey diesem Kunststück reflectirte und das F o r 3 ists über gestr. ichs

22 Vernunft.«] Vernunft.

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melle seiner Operation dergestallt herausbrächte, daß er sich sein Schema vorschematisiren könnte; so wäre Hans ein transcendentaler Philosoph, und könnte andere unterrichten, wie sie sich in Ansehung der Kuchen, u m d a v o n z u w i s s e n , nothwendig zu verhalten haben, folglich, i n s o f e r n s i e d a v o n w i s s e n , auch wirklich allemal verhalten. Dir, als einem Philosophen, ist es längst bekannt, daß die Begriffe, a l s P r ä d i c a t e m ö g l i c h e r U r t h e i l e , vom gemeinsamen zu mehr gemeinsamem, und so immer höher hinaufsteigen, wo sie denn im Hinaufsteigen so viel an der Menge der Gegenstände, worauf man sie beziehen kann, gewinnen, als sie am prädicamentarischem Inhalt, der zum Unterscheiden gebraucht wird (denn Zusammenfassen unter höhere Begriffe wird nur durch Weglassung oder Au fhebung der Unterschiede möglich) verlieren. Diese Geschäftigkeit nennen wir D e n k e n , und ihre ganze Absicht ist, den Vorstellungen der Sinnlichkeit Zusammenhang –, mit diesem Zusammenhange, Einheit (im Bewußtseyn) zu verschaffen. Das Vermögen dazu nennen wir Verstand; und so ist der Verstand ein Vermögen der Begriffe (der Vorstellung von Vorstellungen), der Urtheile, endlich des Erkenntnisses, durch Beziehung des Begriffs, als Prädicat, auf Erscheinungen, wodurch sie zu Gegenständen bestimmt werden. Da nun die Begriffe, als solche, ihr Daseyn der Geschäftigkeit des Verstandes (Spontaneität des Gemüths) allein zu danken haben, und diese Begriffe Vorstellungen von Vorstellungen sind: so ist der | Verstand auch ein Vermögen, Vorstellungen selbst d. i. alleinthätig hervorzubringen. Hieraus erhellt, daß Anschauungen, Erscheinungen, ohne Begriffe b l i n d (nur Modificationen des Subjects ohne Bewußtseyn, Vorstellungen ohne Wahrnehmung) – und im Gegentheil, Begriffe ohne Anschauungen, l e e r und ohne Bedeutung (eine blosse Handlung des Verknüpfens) seyn müssen. Darum suchen wir bey jeder neuen Erscheinung nach einem Begriffe, der uns sage und erfahren lasse, ob die Erscheinung Etwas, und was sie sey; wir prüfen ihre Beharrlichkeit, Impenetrabilität, Beweglichkeit u.s.w. bis wir sie nach Begriffen bestimmen und, a potiori, nennen können. Eben so wenn ein Gedanke in uns aufsteigt, so sucht dieser Gedanke, wie von selbst, nach einem Gegenstande, an dem er sich realisiren, w a h r machen könne. Findet sich keine correspondirende Anschauung für ihn, auf welche sich sein Begriff als Prädicat beziehen, keine Anschauung, welcher dieser Begriff zum

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Erkenntnißgrunde dienen und von der er hinwieder seinen Beweisgrund nehmen könne: so wird ein solcher Gedanke als ein leeres Hirngespinnst verworfen. Jenes Geschäfte: zu einer Anschauung den Begriff, unter welchen sie subsumirt werden kann, zu suchen, gehört der reflectirenden Urtheilskraft. Das andere: dem Begriffe die Anschauung beyzufügen, diese unter jene zu subsumiren, der bestimmenden Urtheilskraft. Man könnte sagen: hier würde zum gegebenen Worte die S a c h e ; dort zur gegebenen Sache das W o r t gesucht. Nun fragt sich: giebt es ursprünglich bestimmende Begriffe, die nicht erst gesucht werden müssen; schlechterdings allgemeine Begriffe, die ihre Auctorität nicht von der Erfahrung, aus welcher sich nur comparativ allgemeine Begriffe schöpfen lassen, sondern unmittelbar von dem Erkenntnißvermögen selbst haben und seine Anwendung auf Erfahrung erst möglich machen? Begriffe also vermöge welcher die Urtheilskraft im voraus bestimmte, was erfahren und was nicht erfahren werden könne; | welche Erkenntnisse möglich und welche nicht möglich seyen: folglich für alle Erfahrung im voraus gesetzgebende Begriffe – Begriffe a priori – reine Verstandes Begriffe? Wenn es solche a b s o l u t allgemeine Begriffe giebt, so muß es auch solche absolut allgemeine Urtheile geben; denn ein Begriff, als Prädicat möglicher Urtheile, besteht nur durch die Möglichkeit seiner Anwendung, und kann ausser dieser Beziehung nicht gedacht werden. Absolut allgemeine d. i. objectiv unbedingte Urtheile heissen Grundsätze. Also: wenn es Begriffe a priori giebt, so giebt es auch Grundsätze a priori. Und umgekehrt: wenn es Grundsätze (Erste – un d absolut allgemeine Urtheile) giebt, so muß es auch solche Begriffe geben. Das Daseyn E r s t e r und absolut allgemeiner Grundsätze liegt in dem immerwährenden Gebrauch, den wir von ihnen, als so vielen Gesetzen, machen, woran wir unsere Erfahrungen prüfen, zu Tage. Daß aus Nichts Nichts werden könne und alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse, wissen wir nicht aus der Erfahrung; denn aus der Erfahrung läßt sich keine Nothwendigkeit, kein absolut allgemeiner ursprünglich gewisser Satz abstrahiren. Wir sagen von dem, was den Grundsätzen widerspricht, daß es u nmöglich, schlechterdings unmöglich; nicht blos, daß es wider alle Erfahrung sey. Keinem vernünftigen kann es in die Gedanken

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kommen, daß je eine Erfahrung die Gewißheit der ersten Grundsätze in Gefahr bringen werde. Sie stehen fest wie Natur und eigenes Bewußtseyn. Von dieser Thatsache ist Kant bey dem Vortrage seiner Lehre ausgegangen, deren Schema aus folgenden Sätzen entsprungen zu seyn scheint. G r u n d s ä t z e a p r i o r i s e t z e n B e g r i f f e a p r i o r i ; B e g r i f f e a p r i o r i setzen Anschauungen a priori zum voraus. Du siehst nun die Wichtigkeit der Lehre von Raum und Zeit ein, mit der ich Dich vorhin bekannt gemacht habe; denn wenn es sich mit Raum und Zeit anders verhielte, so hätte das ganze System der reinen Vernunft | keinen Boden und nicht einmal Haltung genug, um in der Luft zu schweben. Da es sich aber mit Raum und Zeit nun so verhält, so wirst Du ohne Mühe begreiffen, woher die mathematischen Wissenschaften die vollkommene Gewißheit haben, die von allen Menschen ohne Widerrede anerkannt wird. Diese Gewißheit und Evidenz kommt daher, daß r e i n e A n s c h a u u n g e n , A n s c h a u u n g e n a p r i o r i ihren g a n z e n m a t e r i a l e n Inhalt ausmachen, folglich die Sache mit dem Begriffe zugleich entsteht und es nie geschehen kann, daß dieser jene oder jene diesen erst zu suchen hätte. Daher gelten die mathematischen Grundsätze constitutiv, das heißt, sie bestimmen wirklich, was in jeder Erscheinung ihrer Form des Anschauens gemäß anzutreffen seyn muß (extensive oder intensive Grössen und Verhältnisse, Arten des Raums oder der Zeit); die andern Grundsätze aber nur regulativ, weil sie weder Quantität noch Qualität einer Erscheinung a priori bestimmen, sondern nur Verhältnisse unbestimmter Erscheinungen zu einander ausdrücken, also zufällige Empfindung und Erfahrung hinzukommen müssen. Dieses alles wird sich in das hellste Licht von selbst stellen, während wir handeln werden

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von den Kategorieen. Alle unsere Vorstellungen sind entweder nothwendige Vorstellungen d. h. solche, ohne welche gar keine Vorstellungen denkbar wären; oder zufällige d. h. solche, die im Gedanken aufgehoben werden können, ohne daß das Vorstellen dadurch undenkbar würde. Die ersteren heissen Vorstellungen a priori, weil sie von allen Dingen, welche sollen vorgestellt werden, schon zum voraus

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vorgestellt werden können; letztere hingegen werden Vorstellungen a posteriori genannt, weil ihre Vorstellung von zufälligen Umständen abhängt. (Jacobs Grundr. d. allg. Logik §. 86). Die Vorstellungen a priori sind also ohne allen zufälligen Inhalt und können nur einen Gegenstand überhaupt darstellen. Da sie aber nothwendige Vorstel|lungen sind; so kommt bey den Vorstellungen a posteriori nur ein zufälliger Inhalt hinzu, welchem die Vorstellung a priori jederzeit die wesentliche objective Form ertheilen muß. Da nun alle unsere Wahrnehmungen nur Wahrnehmungen von Vorstellungen (Modificationen unseres Subjects) sind und seyn können: so folgt unmittelbar, daß die Lehre von den nothwendigen Bedingungen d. i. von den Gesetzen der Vorstellungen, zugleich die Lehre von den nothwendigen Bedingungen d. i. der Möglichkeit der Gegenstände selbst (nemlich was von uns so genannt wird, d e r E r s c h e i n u n g e n) an die Hand geben muß. Die Wissenschaft von den Gesetzen des objectiven Vorstellungsvermögens (das b l o s subjective Vorstellungsvermögen hat es allein mit Empfindungen, als der zufälligen M a t e r i e der Vorstellungen zu thun) wird die Logik genannt. Sie abstrahirt von allem besonderen Inhalt der Erkenntniß und lehrt blos die Regeln, nach welchen der Verstand zu Werke geht, um Einheit des Bewußtseyns in das Mannigfaltige der Anschauungen zu bringen: also Regeln des Denkens, Regeln der F o r m der vernünftigen Erkenntniß. Das Denken besteht darin, daß wir 1, Begriffe bilden 2, daß wir die gebildeten Begriffe vergleichen, d. h. urtheilen, 3, daß wir die verglichenen Begriffe (Urtheile, Sätze) vergleichen, d. h. Schlüsse machen. Was die Logik von Begriffen, Urtheilen und Verknüpfungen der Urtheile lehrt, gilt schlechterdings allgemein, ohne Unterschied der Gegenstände. Da nun, bewiesener Maassen, Begriffe eine nothwendig unmittelbare Beziehung auf Urtheile und zu Beurtheilendes d. i. auf Gegenstände haben: so muß die Vorstellung der reinen Form eines Begriffes d . i . d e r H a n d l u n g d e s V e r s t a n d e s , d i e i h n z u W e g e b r i n g t un d bildet, auf die Form eines Urtheils; die Form eines Urtheils auf die Form eines Inhalts Anweisung geben. Wenn man nun von dieser Anweisung Gebrauch macht, so findet sich, | daß die subjectiven Formen (Bedingungen, Prädicate) der Urtheile, nach ihren Haupt- und Unter-abtheilungen, sich auf

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so viele objective Formen (Bedingungen, allgemeine Prädicate) der Gegenstände beziehen, folgender Maassen. 1. Der Quantität nach fordern Einzelne Urtheile Einheit der Gegenstände Particuläre Vielheit d. G. (comparativ allgemeine) Allgemeine Allheit d. G. 2. Der Qualität nach fordern Bejahende Urtheile Realität der Gegenstände Verneinende Negation d. G. Unendliche Limitation d. G. 3. Der Relation nach fordern Kategorische Urtheile Substantialität der Gegenstände Hypothetische Causalität d. G. Disjunctive Gemeinschaft d. G. 4. Der Modalität nach fordern Problematische Urtheile Möglichkeit der Gegenstände Assertorische Wirklichkeit d. G. Apodictische Nothwendigkeit d. G.

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Ich will dieser Tafel der Kategorieen, die aus Jacobs Grundr. d. allg. Logik genommen ist, eine nur im Aeussern etwas verschiedene aus Schmids | Grundriß beyfügen. »Die Momente des Denkens in Urtheilen, sagt Schmid (§. 62.), worauf sich die Kategorien gründen, lassen sich unter folgenden vier Rubriken systematisch vorstellen. Die drey ersten betreffen den Inhalt, die vierte blos den logischen Werth der Urtheile.

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1. Quantität, Umfang der Urtheile. Allgemeine, Besondere, judicia plurativa in Beziehung auf die einzelnen, particularia in Bezug auf die allgemeinen Urtheile. Einzelne. 2. Qualität der Urtheile. Bejahende, Verneinende, Unendliche oder limitirende, z. B. die Seele ist nichtsterblich. 3. Relation der Urtheile. Kategorische. Verhältniß des Prädicats zum Subject. Hypothetische. Verhältniß des Grundes zur Folge. Disjunctive. Verhältniß des Ganzen einer eingetheilten Erkenntniß zu den Gliedern ihrer Theilung. 4. Modalität der Urtheile. Problematische. Logische Möglichkeit Assertorische. Logische Wahrheit. Apodictische. Logische Nothwendigkeit der Urtheile. Jedes denkbare Urtheil muß eine von den drey bestimmten Formen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität haben, weil durch sie das Vermögen des Verstandes zu urtheilen erschöpft wird; nach diesen Rubriken läßt sich jedes unbestimmte Urtheil seiner Form nach vollständig bestimmen. Werden diese logischen Functionen auf das Mannigfaltige der Anschauung bezogen, um dieses in einem Bewußtseyn zu verknüpfen, und | es dann, als in einem Gegenstande verbunden, zu denken, so sind es reine Begriffe a priori und so fern sie ursprünglich sind, Kategorieen.

Tafel der Kategorieen. 1. Quantität. Fortschritt von der Einheit zur Allheit. Einheit (das Maaß). Vielheit (die Größe). Allheit (das Ganze). 2. Qualität. Fortschritt von Etwas zu Nichts.

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Realität. Negation. Limitation. 3. Relation. Substanz mit ihrem Correlat dem Accidens. Ursache nebst der Wirkung ihrem Correlat. Gemeinschaft oder Wechselwirkung. 4. Modalität. Möglichkeit, Daseyn, Nothwendigkeit, mit ihren Gegensätzen: Unmöglichkeit, Nichtseyn, Zufälligkeit.«

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Und hiemit willkommen, Vetter, diesseits des Rubicon! Nun wollen wir, da die Sonne untergegangen ist, uns eine Lust machen mit dem schönen geistreichen Spiele: Stirbt der Fuchs, s o g i l t d e r Balg! Du hast gesehen, wie die apriorische f o r m a l e Philosophie (reine Vernunftlehre, Logik) die apriorische materiale Philosophie (reine Naturwissenschaft, Metaphysik) an das Licht bringt, und wie diese eigentlich nur eine tiefere Ergründung von jener, eine transcendentale Logik ist. Nun wird es Dich auch nicht mehr stören können, wenn Du Einmal subjectiv genannt findest, was Ein ander mal objectiv heißt, und vice | versa; denn Du weißt nun ein für alle mal, daß in der menschlichen Erkenntniß alles durch und durch subjectiv ist, aber o b j e c t i v genannt werden muß, in so fern es sich auf Anschauungen bezieht; wobey denn freylich eine Menge Dinge zu beobachten sind, wenn man sich wohl präsent bleiben und nicht in die Wirre gerathen will. Präge Dir nur das recht fest ein, daß die r e i n e Materie von allem ohne Ausnahme Dein eigenes reines Bewußtseyn (transcendentale Apperception); und die u n r e i n e (sinnliche) Materie von Allem Dein eigenes unreines (sinnliches, zufälliges, modificirtes, empirisches) Bewußtseyn ist. Ferner daß die Grundform von Allem, das Formende der Formen, die verknüpfende Geschäftigkeit eben dieses Deines eigenen Bewußtseyns und schlechterdings nichts ausser diesem ist. Diese verknüpfende Geschäftigkeit wird Synthesis genannt, und ist die einfache gemeinschaftliche Seele der Vernunft und der Natur (was wir Natur h e i s s e n : Inbegriff der Erscheinungen). Ihre Handlung ist: begreiffen, urtheilen, schliessen, denken; ihr

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Werk: Raum, Zeit, Gegenstände – Himmel und Erde – vornehmlich ein tief eingesehenes Nichts dahinter. Ehe ich aber diesen wichtigen Schlüssel Deiner eigenen Hand anvertraue und übergebe, will ich zuvor die Probe damit an einigen Hauptschlössern der Kantischen Philosophie vor Deinen Augen machen, damit wenn Du ihn etwa nachher verdrehest, Du nicht sagest, es sey die Schuld des Schlüssels. |

Den 10 December 1791.

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Wir schreiten also jetzt zu der Anwendung von den Kategorieen, d. h. wir schreiten eigentlicher dazu; denn in der Vorbereitung selbst auf die Kategorieen ist auch schon auf ihre Anwendung vorbereitet und der reinen Erkenntniß ein Vorschmack davon gegeben worden. Hier nun ist es eine Hauptsache auf den mächtigen Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen wohl Acht zu geben. Analytisch ist jedes Urtheil, welches in seinem Subject bleibt und allein den Satz des Widerspruchs anzuwenden hat z B. E i n e Kugel ist rund. Synthetische Urtheile aber gehen aus ihrem Subject heraus und langen daher mit dem Satze des Widerspruchs nicht zu z. B. D i e K u g e l i s t s c h w e r , oder: alle Körper fallen nach dem Mittelpunct der Erde. Wie d u r c h E r f a h r u n g synthetische Urtheile entstehen und möglich sind, weiß, taliter qualiter, ein jeder; hiedurch aber werden nur Erkenntnisse a posteriori zuwegegebracht; keine a p r i o r i , welche gleichwohl nicht allein vorhanden sind, wie die schlechterdings allgemeinen Grundsätze beweisen, sondern auch nothwendig aller Erfahrung vorher gehen und diese erst möglich machen müssen. Da fragt sich nun, wie sind synthetische Urtheile a priori d. h. wie sind Grundsätze im eigentlichen Verstande möglich; wie kann der reine Verstand sie hervorbringen; wie können sie auf das ganz ungleichartige der Empfindungen, d. i. sinnlicher Vorstellungen oder Erscheinungen sich dergestalt beziehen, daß sie als die einzigen Erkenntnißgründe derselben da stehen und hinwieder von den Erscheinungen allein ihre erweisliche Gültigkeit empfangen?

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Einen Wink hierüber gab ich schon vorher, da ich Dich mit der Nase auf die Wichtigkeit und Unumgänglichkeit der Anschauungen a priori stieß. Wir haben aber nicht einmal nöthig beyde Receptivitäten a priori zu bemühen, da es sich von selbst versteht, daß der äussere Sinn durch den | innern gehen muß, wenn er überhaupt ein Sinn seyn soll und die gleichartige Mannigfaltigkeit des Raums wohl unbegriffen bleiben sollte, wenn nicht die Zeit sie collectirte, revidirte u.s.w.1 Also sey dem Himmel für die Zeit gedankt, weil ohne sie kein Verstand verständig würde und das reine Bewußtseyn selbst wohl den Geist aufgeben müßte. Wann Du Dir nun die Hauptlehre von dem reinen Bewußtseyn und seiner verknüpfenden Geschäftigkeit (Synthesis a priori, auch transcendentale oder productive Einbildungskraft) so tief eingeprägt hast, als Du solltest, und Du nimmst nun die Z e i t , als Anschauung a priori, dazu, so müssen Dir die Gesetze der Anwendung der Kategorieen wie so viele gebratene Tauben von selbst ins Maul fliegen. Da ich aber irgendwo von tückischen Menschen gelesen habe, die das Maul zu machten, wenn ihnen etwas hineinfliegen wollte, die gebratenen Tauben ausdrücklich mit einbegriffen, und Du leicht einer von denen seyn könntest, so will ich vorsichtiglich das tückische Maul dir auf|sperren, damit ich, wenn die gebratenen Tauben kommen, es nicht erst aufzubrechen nöthig habe. Also nur geduldig hergehalten! Nun höre! Offenbar hätte die transcendentale Einbildungskraft nichts, was sie sich einbilden, folglich die productive nichts, was sie produciren, und die ganze verknüpfende Geschäftigkeit des reinen Bewußtseyns nichts, was sie in sich verknüpfen und woran sie

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1 »Das reine Bild aller Grössen (quantorum) vor dem äussern Sinne ist der Raum; aller G e g e n s t ä n d e d e r S i n n e a b e r überhaupt, die Zeit. Das reine S c h e m a d e r G r ö s s e aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist die die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anders, als die 35 Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen-einer-gleichartigen-Anschauungüberhaupt, dadurch daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.« Kritik d. r. V. 1ste Ausg. S. 142. 2te Ausg. S. 182. Du wirst Dich an dies Erzeugen der Zeit nicht stossen; erzeugen wir doch unsers Gleichen, und können nur erzeugt werden von unsers Gleichen. Du wirst auch nachher fin- 40 den, daß hier nur von Erzeugen des Gewahrwerdens der Zeit die Rede ist.

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geschäftig seyn könnten – a priori versteht sich! – wenn nicht die liebe Zeit als Anschauung a priori vorhanden wäre. Da aber die Zeit, als die Form aller Formen, i n s o f e r n s i e erscheinen a priori vorhanden (und wenn man sich so ausdrücken dürfte, die Empfindung a priori) ist; so ist die transcendentale Synthesis als die Form aller Formen, i n s o f e r n s i e gedacht werden, unverlegen, und bringt, unterdessen die empirischen Erscheinungen sich herbey machen, ihre transcendentale Formen, d. i. die verschiedenen Zeitbestimmungen, als so viele Schemate, nach welchen die Kategorieen versinnlicht d. i. auf Gegenstände bezogen oder realisirt werden können, ins reine. Die folgende Tafel der Schemate wird die Sache selbst für sich reden lassen.

Tafel der Schemate1 15

1. Quantität: Zeitreihe, Synthesis der Zeit, Z a h l . | 2. Qualität: Zeitinhalt, Synthesis der Empfindung. A. Realität: Seyn, Empfindung in der Zeit, e r f ü l l t e Zeit. 2 1

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Die Schemate verhalten sich zu den Bildern, wie die Ursachen zu ihren

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Im Schema wird allein die Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriffe sein Bild zu verschaffen, gegeben. Darum kann ein Schema nie anderswo, als in Gedanken existiren z B. das Schema eines Triangels. Wenn ich dem Schema gemäß irgend ein besonderes Bild entwerfe, um einen Begriff sinnlich zu machen, so kann ich dieses wohl auch ein Schema, nemlich ein sinnliches, heissen, aber es nimmt denn doch, als solches, seine Bedeutung und seinen Gebrauch allein von der Regel im Verstande, d. i. von einem allgemeinen Begriffe, welchem gemäß die Anschauung bestimmt und gegeben wird. Der Begriff also geht nothwendig immer vor | dem Bilde her und 21 macht dieses erst möglich, wenn nemlich das Bild wirkliches Bild und nicht blosse Modification des Subjects ohne Wahrnehmung seyn soll. Die reinen Verstandes Begriffe wie Substanz, Realität, lassen sich nicht abbilden, wohl aber durch die Beziehung auf die Form des innern Sinnes, die reine apriorische Vorstellung der Zeit und ihrer Bestimmungen schematisiren, wie oben, welches der einzige Weg ist, zum sinnlichen Begriffe von einem Gegenstande überhaupt zu gelangen, ohne welchen Begriff jede Vorstellung einzelner, besonderer, zufälliger Gegenstände unmöglich wäre. 2 Du magst Dich wohl daran stossen, daß hier von einer Erfüllung der Zeit und zwar durch Empfindung die Rede ist, da doch alles, was die Zeit erfüllen könnte, als empirisch, ausgeschlossen wurde; aber dieser Anstoß, der allerdings etwas verdrießliches an sich hat, soll sogleich durch einen besondern Abschnitt

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B. Negation: Nichtseyn, Nichtempfindung in der Zeit, leere Zeit. C. Limitation: Uebergang der Empfindung durch ihre Grade zum Verschwinden derselben, oder umgekehrt. 3. Relation: Zeitordnung, Verhältniß der Empfindungen zu einander in der Zeit. A. Substanz: das Reale, s o f e r n es in und mit der Zeit beharrt, das Substratum alles Wechsels. Accidens: das Reale, s o f e r n es wechselt.1 B. Causalität: regelmässige Folge mannigfaltiger Empfindungen in der Zeit. | C. Gemeinschaft: regelmässiges Zugleichseyn der Empfindungen. 3. Modalität: Zeitbegriff. Arten, wie ein Gegenstand zu der Zeit gehört. A. Möglichkeit: Vorstellung eines Dinges, gemäß den Bedingungen irgend einer Zeit überhaupt. B. Wirklichkeit: Vorstellung eines Dinges in einer bestimmten Zeit. C. Nothwendigkeit: Vorstellung eines Dinges zu aller Zeit. »Man sieht nun aus allem diesen, daß das Schema einer jeden Kategorie, als das der G r ös s e , die Erzeugung (Synthesis) der Zeit selbst, in der successiven Apprehension eines Gegenstandes; das der Qualität, die Synthesis der Empfindung (Wahrnehmung) mit der Vorstellung der Zeit oder die Erfüllung der Zeit; das der R e l a -

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von den Ant i c i pa t i on e n de r W ah rn e hm u ng aus dem Wege kommen. Einige Vorkehrung ist darüber schon von mir geschehen, da ich nach dem Extensiven und Successiven auch des Intensiven, nemlich des G r a d e s , als der 30 Empfindung a priori zugehörig erwähnte. 1 Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit d. i. der Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibet, indem alles andere wechselt. (Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Daseyn des Wandelbaren.) 35 Der Zeit also, die selbst unwandelbar und bleibend ist, correspondirt in der Erscheinung das Unwandelbare im Daseyn d. i. die Substanz; und blos an ihr kann die Folge und das Zugleichseyn der Erscheinungen der Zeit nach bestimmt werden. Kritik d. r. V. 1ste Ausg. S. 144. 15 3. Modalität:] lies 4. Modalität:

37 Substanz] Substand

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tion, das Verhältniß der Wahrnehmungen unter einander zu aller Zeit (d. i. nach einer Regel der Zeitbestimmung); endlich das der Modalität und ihrer Kategorieen, die Zeit selbst, als das Correlatum der Bestimmung eines Gegenstandes, ob und wie er zur Zeit gehöre, enthalte und vorstellig mache. Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorieen, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.« »Hieraus erhellt nun, daß der Schematismus des Verstandes durch die transcendentale Synthesis der Einbildungskraft auf nichts anders, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in dem innern Sinne, und so indirect auf die Einheit der Apperception, als Function, welche dem innern Sinne (einer Receptivität) correspondirt, hinauslaufe. Also sind die Schemate der r e i n e n V e rstandesbegriffe die wahre und einzige Bedingung, diesen eine Beziehung auf Objecte, mithin Bedeutung zu verschaffen, und die Kategorieen sind daher am Ende von keinem andern, als einem möglichen empirischen Gebrauche, indem sie blos dazu dienen, durch Gründe einer a priori nothwendigen Einheit (wegen der nothwendigen Vereinigung des Bewußtseyns in einer ursprünglichen Apperception), Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen und sie dadurch zur durchgängigen Verknüpfung in einer Erfahrung | schicklich zu machen.« »In dem Ganzen aller möglichen Erfahrungen liegen aber alle unsere Erkenntniße und in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe besteht die transcendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht und sie möglich macht.« »Es fällt aber doch auch in die Augen, daß obgleich die Schemate der Sinnlichkeit, die Kategorieen allererst realisiren, sie doch selbige gleichwohl auch restringiren d. i. auf Bedingungen einschränken, die ausser dem Verstande liegen (nemlich in der Sinnlichkeit). Daher ist das Schema eigentlich nur das Phänomenon oder der sinnliche Begriff eines Gegenstandes, in Uebereinstimmung mit der Kategorie. Wenn wir nun eine restringirende Bedingung weglassen; so amplificiren wir, wie es scheint, den vorher eingeschränkten Begriff; so sollten die Kategorieen in ihrer reinen Bedeutung, ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit, von Dingen 24 machen.«] machen.

28 macht.«] macht.

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überhaupt gelten, w i e s i e s i n d , anstatt daß ihre Schemate sie nur vorstellen, w i e s i e e r s c h e i n e n , jene also eine von allen Schematen unabhängige und viel weiter erstreckte Bedeutung haben. In der That bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings, auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingung, eine, aber nur logische, Bedeutung der blossen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Object abgeben könnte. So würde z. B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit wegliesse, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als Subject (ohne ein Prädicat von etwas anderm zu seyn) gedacht werden kann. Aus dieser Vorstellung kann ich nun nichts machen, indem sie mir gar nicht anzeigt, welche Bestimmung das Ding hat, welches als ein solches erstes Subject gelten soll. Also sind die Kategorien ohne Schemate, nur Functionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisirt, indem sie ihn zugleich restringirt.« Kritik d. r. Vnft. 1ste Ausg. S. 145–7. 2te Ausg. S. 184–7. Ich begreiffe, daß Du hier noch diese und jene kleine Dunkelheit | finden kannst: z. E. es könnte Dir vorkommen, als wenn die eigentliche wahre Zeit, in der sich alles verläuft, die selbst aber nicht verläuft, wieder nur das reine Bewußtseyn wäre; desgleichen die Substanz: also schon dreyerley, das nur Einerley wäre: welches Dich, wenn Du so fortführest, ganz aus dem Concept bringen würde, so daß Du nicht mehr wüßtest, wo Du die Zeit und wo Du das reine Bewußtseyn; wo die Synthesis, und wo das Successive mit dem Zugleichseyn hättest. Da käme dann, ehe wirs uns versähen, eine doppelte Zeit, oder ein zwiefaches Successives zum Vorschein: das eine subjectiv, in Dir, welches jedermann die Zeit heißt, und das andere objectiv, ausser Dir, welches jedermann den Wechsel der Dinge nennt, womit das ganze System über den Haufen fiele und alle meine Mühe mit Dir verloren wäre. Also halte nur fest an Dich, damit Du bey Sinnen und Verstande bleibest, und merke wohl auf, wie ich Dir das System der Grundsätze vortragen werde; ich will es so kurz fassen, wie möglich und Du sollst Dich verwundern, was Dir hier erst für ein Licht aufgehen wird.

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Montag den 12ten

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Es ist die höchste Zeit, daß ich einlenke und nicht mehr blos durch Form und Winke, sondern im vollem Ernste metakritisch werde. Wir sind nemlich bey der Stelle, vor der ich mich, da ich diese Epistel über die Kantische Philosophie anfieng, am mehrsten gefürchtet habe; und gestern, da ich ihren Vortrag in Ueberlegung nehmen mußte, bin ich fast unklug geworden über der Art und Weise, ihn ins Werk zu richten, die ich nicht finden konnte. Ich hatte mich so vergiftig überlegt und gedacht, daß ich weder essen noch schlafen konnte. Aus jedem Schlummer weckte mich bald d e r G r u n d s a t z d e r Z e i t f o l g e n a c h d e m G e s e t z e d e r C a usalität, und stand vor meinem Bette wie ein Gespennst, das mich nicht wollte ruhen lassen. Laß nun sehen, wie wir es mit dem Undinge anfangen, daß wir es vom Halse kriegen. Wir müssen zurück zu den Kategorieen. | Die erste Kategorie ist die Kategorie der Quantität, und begreifft unter sich: Einheit, Vielheit, Allheit. Nun weißt Du schon, daß das reine Bewußtseyn die E i n h e i t giebt; die Continuität dieses Bewußtseyns, durch seine Beziehung auf das Continuum der Zeit, als Anschauung a priori, die V i e lheit; die besondere Bestimmung aber des Continui die jedesmalige Allheit oder Totalität dieser Bestimmung. Du kannst hier das Beyspiel von der Octave auf dem Claviere wieder brauchen, wo Du Einheit der Töne, Vielheit der Töne, und Allheit der Töne einer Octave hattest. – Hier ist zu bemerken, daß der Begriff der Allheit der Erfahrung schon vorgreifft; denn a priori könnte doch nur Fortgang der Synthesis ohne Ende seyn; und nicht einmal, denn das Quantum der Anschauung a priori könnte niemals quantitativ werden. Ueber das Princip, welches die Kategorie der Quantität erzeugt, s. den hiebey kommenden Grundriß S. 60. Die zweyte Kategorie ist die Kategorie der Qualität, und begreifft unter sich: Realität, Negation und Limitation. Hier weißt Du nun auch schon, daß die Qualität wieder nichts anders als das so oder anders afficirte reine Bewußtseyn, nemlich 13 das] daß

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die Empfindung ist. Also wäre der Urbegriff der Qualität r e i n e Empfindung. Da aber Empfindung eine Passivität und ganz material ist, so kann sie als solche unter den rein activen blos formalen Vermögen nicht Platz finden: sie erhält ihn daher unter denselben blos in so fern jede Empfindung einen G r a d haben muß, welcher synthetisch; folglich active, durch eine reine Verstandeshandlung (Kategorie) erkannt wird. Siehe hierüber und wie diese Kategorie d a s P r i n c i p d e r Anticipationen der Wahrnehmung erzeugt, in dem hiebeykommenden Grundriß S. 62. NB. Da die Erzeugung dieses Princips eins der Hauptkunststücke der Kantischen Philosophie ist, so wäre es wohl der Mühe werth, daß Du es den Meister selbst machen sähest. S. also Kritik d. r. Vnft 2te Ausg. S. 207–18. | Den Zusammenhang der Ausgliederungen in R e a l i t ä t , N egation und Limitation hast Du zugleich mit dem Gebrauch dieser Glieder in der Tafel der Schemate. Die dritte Kategorie ist die Kategorie der R e l a t i o n und begreifft unter sich: Substanz mit ihrem Correlat dem Accidens; Ursache mit ihrem Correlat Wirkung; Gemeinschaft oder Gegenwirkung. Was Substanz und Accidens angeht, so ist Dir ebenfalls schon bekannt, daß Substanz das objectivirte r e i n e ; Accidens das objectivirte empirische Bewußtseyn ist; und es wäre kaum nöthig, daß Du Schmids Grundriß S. 66. darüber nachsähest, wenn es nicht des folgenden Gliedes der Relation, der Ursache und Wirkung wegen wäre. Da wirds happern; denn da weißt Du noch nicht. Zwar weißt Du schon von der Zeit, und daß sie eine continuirliche Grösse ist; von den continuirlichen Grössen ist Dir auch, als Mathematiker, schon bekannt, daß kein Theil von ihnen der kleinstmögliche seyn kann, sondern daß bis ins unendliche hinaus jeder Theil des Raums und der Zeit, Raum und Zeit d. i. ein Continuum, ein Mannigfaltiges, eine Quantität, ein A g g r e g a t bleibt.1 Nun erfolgt alles, was erfolgt, in der Zeit, die ein Continuum ist, und muß sich, um zu erscheinen, mit ihr identificiren; also muß auch alles, was erfolgt, unzertrennlich, d. i. nothwendig zusammenhangen und ein Theil von etwas v o r ihm und von etwas n a c h ihm seyn. 1 D. h. jeder Theil bleibt immer noch theilbar, folglich meßbar, ein Quantum von bestimmbarer Quantität, kann also als ein Aggregat, und muß, sobald es eine Zahlgröße erhält, als Aggregat betrachtet werden.

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Ich will Dirs noch auf eine andere ganz allgemeine Weise sagen. So wie in einem bestimmten Raume oder in einer bestimmten Zeit, jeder Theil den andern bedingt und so fern sie zusammen ein continuirliches Aggregat ausmachen, jeder Punct ein Theil eines andern Punctes ist und ihn hervorbringt, folglich jeder Punct zugleich Ursach und Wirkung ist: | so hängt überhaupt in dem, was wir Welt nennen, alles zusammen und bedingt sich gegenseitig, als nothwendig und allein g e g e b e n in Raum und Zeit; und wird nach Maaßgabe von Raum und Zeit allein e r k a n n t . Dies begreiffst Du. Wenn ich Dir aber nun entdecke, daß eben dies das Princip des Satzes vom zureichenden Grunde ist, und daß, wenn Du sagst, alles was geschehe müße eine Ursache haben, Du nichts anders als dies einzige, nemlich ein Zeitverhältniß, im Grunde dabey denkst; so wirst Du Dich vielleicht sträuben und es nicht zugeben wollen. Du könntest fragen: wenn ich einen Menschen durch einen starken Geruch aus dem Schlaf wecke, und indem er die Augen öffnet, den Geruch von ihm entferne: wird dieser Mensch nun Tageslicht für die Folge eines Geruchs, und das Geruchgebende für die Ursache von Tageslicht halten; wird er glauben, Sehen komme von dem Riechen? Und ich könnte antworten: Allerdings, wenn Du nemlich einen solchen ganz reinen Menschen nimmst, wie Condillac und Bonnet imaginirt haben, der jetzt zum allerersten mal empfindet. Die Empfindung überhaupt ist das gemeinschaftliche E i n e , worunter dieser Mensch oder diese jetzt zum Leben gelangte Natur beydes, Geruch und Licht, successive subsumirt, und die Verknüpfung im Bewußtseyn ist die Handlung, wodurch das Folgen des einen auf das andere bewirkt wird. Wenn nun dieses zuerst und allein von Geruch afficirte Wesen l a u t e r G e r u c h ist, und nun in Licht übergeht, so kann es sich diese Handlung nicht anders als eine Handlung des Geruchs vorstellen und muß das Sehen aus dem Riechen herleiten. Diese Antwort ist der siegendsten Ausführung fähig, da unsere sämmtlichen dynamischen Causalitäts-Verknüpfungen keinen andern Grund haben, so daß ich selbst dem äusserlich viel crasseren David Hume hierüber, in dem Gespräche über Idealismus und Realismus, in so weit Recht lassen konnte. Kant aber hat noch viel andere Schwierigkeiten zu überwin-

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den, | welche aus der doppelten Succession, die ihm hier in die Quere kommt, entspringen. Das Successive, wie Du weißt, hat keine objective Realität, sondern wir selbst bringen es hervor, durch die Synthesis der Apprehension, welche die Zeit, in so fern sie wahrgenommen wird, erzeugt, dahingegen aber diese Synthesis selbst durch die Zeit, als Anschauung a priori oder Form des inneren Sinnes, erst möglich wird, wie das denn durch aus im Kantischen Systeme so die Weise ist, daß das Hinterste zuvorderst kommen muß, von Rechts wegen.1 Nun scheint eine doppelte Zeit etwas eben so unmögliches zu seyn, als ein doppelter Raum, und doch scheint unser Gemüth uns so etwas zumuthen zu wollen, da es das Successive in der Apprehension so klar und deutlich von dem objectiv Successiven unterscheidet; wie z. B. wenn Dir die Mütze vom Kopfe auf die Erde fällt, und Du sie nachher auf die Hand setzest und rund um betrachtest. Wenn Du so rund um die Mütze, die Du steif auf der Hand hältst, betrachtest, so läuft nicht die Mütze, sondern Deine Betrachtung rund; läßt Du aber die Mütze nun auf Deinem Finger rund laufen, so ist es die Mütze, was rund läuft und nicht Deine Betrachtung. Du bist sonst ein schlauer Kopf, aber so schlau bist Du nicht, daß Du räthst, wie das zugeht. Ich hoffe Du begreiffst wenigstens die Schwierigkeit und hast nicht schon vergessen, daß wir nur Vorstellungen von Erscheinungen haben, von Erscheinungen nemlich, in denen nichts erscheint – kurz daß nur unser Subject | modificirt wird – und nicht einmal wird; denn alles wird und alles war kommt ja blos von der Zeit, die eine subjective Gemüthsbeschaffenheit ist; N a c h e i n a n d e r und Zugleich ist ja blos ihr Werk, wie das Ausser und Neben ein1

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Kant in der Vorrede zur zweyten Ausgabe der Kritik d. r. Vnft S. XVI., vergleicht sich mit dem Copernicus, dem es besser als seinen Vorgängern gelang, die Himmelsbewegungen zu erklären, weil er den Zuschauer sich um das Sternenheer und nicht mehr das Sternenheer sich um den Zuschauer bewegen ließ. So habe er den Versuch gemacht, ob man nicht mit den Aufgaben der 35 Metaphysik besser fortkommen würde, wenn man annähme, die Gegenstände müßten sich nach unserer Erkenntniß richten, als wenn man, wie bisher geschehen sey, mit der Voraussetzung anfienge: die Anschauungen und Begriffe rich29 teten sich nach den Gegenständen. Dies sey nun so treflich | gelungen, daß was erst nur Hypothese gewesen, jetzt als auf das strengste erwiesene Wahrheit da 40 liege.

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ander blos das Werk des Raums und ausserdem nichts, objective (wahrhaft objective) platterdings nichts ist? Wenn Du es nicht vergessen hast, so mußt Du begreiffen, daß billiger Weise eins von beyden seyn müßte. Entweder müßten, wenn ich zum Fenster hinaus von Rechts nach Links und wieder von Links nach Rechts sehe, die Dinge (verstehe Vorstellungen) sich so zu bewegen scheinen; oder sie müßten überhaupt nicht so thun, als wenn sie sich ausser mir bewegen könnten; müßten mich nicht durch den Schein einer objectiven Succession, als wenn sie Vorstellungen ohne mich seyn könnten, aus dem Concept bringen wollen. Da Du das nun gewiß nicht erräthst, wie das Gemüth hierüber zu entschuldigen ist, wenn ich Dir auch das Sperrhölzchen, welches Du, der gebratenen Tauben wegen, zwischen den Zähnen hast, herausnehmen wollte; so will ich es Dir sagen und vielleicht sperrst Du das Maul dann so weit auf, daß das Sperrhölzchen von selbst heraus fällt. Gieb nur wohl Acht! Der W e c h s e l d e r B e s t i m m u n g e n im Vorstellungsvermögen ist zweyerley. Entweder ergiebt er sich auf eine solche Weise, daß er sich auch anders ergeben könnte; oder er ergiebt sich so, daß er sich n i c h t anders ergeben könnte. Zum Exempel: wenn Du Deinen Kirchthurm in Augenschein nimmst, so kannst Du eben so gut oben beym Hahn anfangen, als unten bey der Thüre. Du kannst auch bey den Schalllöchern anfangen; überhaupt die Anschauung und den Begriff des Thurms collectiren wie Du willst. Wenn aber die Hamburger Deinem Hause vorbey nach dem Schlosse zu jagen, so hängt es nicht von Dir ab, sie vom | Schloße nach Hamburg jagen zu sehen; es ist da etwas in der Erscheinung, was Deine Einbildungskraft nöthigt, bey der Entwerfung des Bildes so und nicht anders zu verfahren; und das nun, was Dich in der gegebenen Anschauung auf diese Weise nöthigt, bringt die Vorstellung einer objectiven Succession zu Wege, i s t a b e r d a r u m k e i n e , sondern nur Etwas in der Erscheinung, was die Progression der Einbildungskraft bey der Entwerfung des Bildes bestimmt d. i. ihr ein Gesetz des Verfahrens giebt. Du trägst hier die Succession Deiner Vorstellungen nur darum a u f s O b j e c t ü b e r , weil Dir hier die Art und Weise der Succession d u r c h die Anschauung gegeben wird. »Dasjenige, was da macht, daß das Mannigfaltige nur auf diese Weise apprehendirt werden kann, (die Regel,) gilt für den Gegenstand.« So oft nun eine solche Regel (bestimmte Zeitfolge

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der Erscheinungen) zur Anwendung kommt, erblicken wir, was wir eine Begebenheit nennen; wir sagen, es geschehe etwas; Etwas werde von Etwas gethan. Dieses nun, das Handelnde, ist die Ursache; die Handlung selbst, die Wirkung. Siehe nun auch, wie Schmid in seinem Grundriße S. 69–78 die Sache vorträgt. Wie Kant sich überall der Wahrheit fast bis zur Berührung nähert, so thut er es auch hier bey der Deduction des Grundsatzes der Erzeugung. Er führt den Begriff der Erzeugung auf den Begriff ursprünglicher Handlung zurück, wo er allerdings liegt. Bey ihm aber ist dies ein Hysteron Proteron; denn Handlung ist in seinem System ein abgeleiteter Begriff, welcher der Kantischen Theorie der Causalität gemäß erklärt und in seiner Anwendung eben so bestimmt werden muß. Aus dem Begriff der Handlung leitet er den Begriff der K r a f t her. Und das alles geschieht, weil sein kritisches System durchaus keine ursprüngliche Wahrnehmung, keine Wahrnehmung von etwas wirklich objectiven verträgt. In dem Begriff der Handlung, in dem Begriff einer Begebenheit überhaupt, die wir T h a t-Sache, Factum, nennen, ist die Vorstellung der Folge allerdings nothwendig, n i c h t a b e r u m g e k e h r t . Kraft, Handlung, Ursache und Wirkung, sind freylich keine Dinge, die | wir ausser uns wahrnehmen können. Ihrer Natur nach können sie sich nur im eigenen lebendigen Bewußtseyn darstellen. Aus unserer inneren Erfahrung tragen wir sie in die äussere Erfahrung über, wir objectiviren sie. Aber Zeitfolge thut so wenig dazu, liegt so wenig der Vorstellung von Kraft, der Vorstellung des Thuns zum Grunde, daß wir bey Ergründung der Ursachen immer von der Zeit abstrahiren, und was in der Zeit auf einander folgte, als zugleich vorhanden, betrachten müssen.

Den 15 Dec. 1791.

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Du bist vielleicht durch meine Darstellung der Kantischen Causalitätslehre noch nicht ganz befriedigt, und hast noch hie und da zu fragen. Um nun Deinen Fragen hierüber zu begegnen, und Dir die Einsicht in den Zusammenhang der ganzen Kantischen Theorie

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von Sinnlichkeit und Verstand zu erleichtern, will ich die Materie von der Zeit hier noch einmal besonders vornehmen. Die ganze gelehrte Welt ist darüber einig, daß es keine leichte Sache ist, das Kantische System zu verstehen. Da nun der Begriff der Zeit die Cheville ouvriere dieses Systems ist, so folgt von selbst, daß es äusserst schwer seyn muß, diesen Begriff recht zu fassen. »Die Zeit, sagt Kant (Kritik d. r. Vnft S. 48), ist die Form des inneren Sinnes, d . i . , d e s A n s c h a u e n s u n s e r e r s e l b s t und unsers inneren Zustandes.« »Sie ist (S. 54) nicht als Object, sondern als die Vorstellung meiner selbst als Objects anzusehen.« Vorhin (S. 37.) wurde vom inneren Sinn gesagt: »der innere Sinn, vermittelst dessen1 das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, giebt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Object; | allein es (das, was er giebt) ist doch eine bestimmte Form2, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, in Verhältnißen der Zeit vorgestellt wird.« S. 220 der Kritik d. r. Vnft wird der innere Sinn, als »der Inbegriff aller Vorstellungen«, erklärt; und seine Form, als »das V e rhältniß des mannigfaltigen empirischen Bewußtseyns in der Zeit.« Hier haben wir also klar und baar Formen in und von Formen, Verhältniße in und von Verhältnißen, endlich eine Zeit in der Zeit; welches daher kommt, daß von lauter formellen Dingen die Rede ist, die in der Vorstellung des Bewußtseyns zusammenfließen. Kurz Zeit und Bewußtseyn sind hier Wechselbegriffe, und haben ihre Ursachen, es sich gegenseitig zu verbergen. Dieses wird erst recht auffallend durch die drey Modi, welche Kant der Zeit beymißt und wieder abspricht. »Die drey Modi der Zeit, heißt es Kritik d. r. Vnft S. 219, sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichseyn. Daher werden drey Regeln aller Zeitverhältnisse der Erscheinungen, wornach 1

Müßte nach S. 48 heissen: vermittelst dessen F o r m ; denn dort ist der

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Der innere Sinn also, der selbst eine F o r m ist, giebt vermittelst seiner Form eine F o r m , vermittelst welcher das Gemüth sich selbst anschaut, als Object, aber von sich keine Anschauung hat, als einem Object. 20 »das] das

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jeder (Erscheinung) ihr Daseyn in Ansehung der Einheit aller Zeit bestimmt werden kann (NB) v o r a l l e r E r f a h r u n g vorangehen.« S. 226. werden aber der Zeit zwey von diesen Modis wieder genommen, und ihr wird allein gelassen, was sie, meines Wissens, vor Kant nie hatte: die Beharrlichkeit. »Nur im Beharrlichen, heißt es da, sind Zeitverhältnisse möglich: das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst. Die Beharrlichkeit drückt überhaupt (Du mußt den Nachdruck auf das überhaupt legen) die Zeit, als das beständige Correlatum alles (NB) Daseyns der Erscheinungen, alles (NB) Wechsels und aller (NB) Begleitung aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit selbst (Du mußt den Nachdruck, einen | s t a r k e n N a c h d r u c k auf das selbst legen) nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit (sollte eigentlich heißen: trifft nur die reine Zeit i n der reinen Zeit) – so wie das Zugleichseyn nicht ein modus der Zeit selbst (denselben starken Nachdruck auf das Wort selbst!) ist – . Wollte man der Zeit (NB) selbst eine Folge nach einander beylegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre. Durch das Beharrliche allein bekommt das Daseyn in verschiedenen Theilen der Zeitreihe eine G r ö ß e , die man D a u e r nennt.« Wie sich jemand hier und an hundert ähnlichen Stellen heraus finden will, wenn er nicht darüber schon im Reinen ist, daß die Zeit das Bewußtseyn und das Bewußtseyn die Zeit ist, begreiffe ich nicht. Ist man aber darüber einmal im Reinen, so fällt aller Anstoß weg. Denn Beharrlichkeit ist allerdings der einzige modus des ursprünglichen Bewußtseyns s e l b s t . Die Application des reinen Bewußtseyns giebt den modum der Folge, und die Reflexion oder die Vereinigung des angewandten mit dem unangewandten Bewußtseyn, bringt den modum des Zugleichseyns hervor. Denke ich mir nun das ursprüngliche Bewußtseyn, ohne seine Spontaneität, nach seinem blossen Vermögen afficirt zu werden; so erhalte ich die beyden Kantischen Anschauungen a priori: den Raum, in so fern die Affection nicht von innen herrührt; die Zeit, in so fern jede Affection, selbstthätige oder n i c h t selbstthätige, eine Handlung und Veränderung involvirt, also eine Folge, und die Vorstellung der Zeit. Denke ich mir dagegen die Spontaneität des reinen Bewußtseyns, ohne seine Passivität oder Receptivität; so erhalte ich die

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reine Synthesis, welche, da sie ein actus des reinen Bewußtseyns ist, der in ihm selbst vorgeht, die Conjunction auch von selbst bewirkt, und eben so auch ihre Einheit des Begriffs findet. Beziehe ich nun die Spontaneität wieder auf die Receptivität, so verwandeln sich sogleich die reinen Anschauungen der gleichartigen Mannigfaltigkeiten des Raums und der Zeit in Begriffe von Raum und Zeit, und aus | der Vereinigung des Gleichartigen von beyden entspringt die Vorstellung einer Größe überhaupt. Nehme ich ferner in Absicht der Empfindung d. i. der Materie überhaupt der Vorstellungen an, daß sie, im Vermögen, dem Bewußtseyn ebenfalls zum voraus gegeben sey, so erhalte ich die Vorstellung und den Begriff des Intensiven, und bringe nun leicht die mathematischen Kategorieen sowohl der Quantität als Qualität zu Stande. Mit den Kategorieen der Relation geht es noch leichter; denn die Substanz habe ich im reinen Bewußtseyn; und das Accidens, in seinen Affectionen. Causalität, in der Spontaneität des Bewußtseyns; und Wirkung, in ihrem Gebrauch. Wechselwirkung, in den Verhältnißen des angewandten und reinen Bewußtseyns. Die Grundsätze (oberste Urtheile) finden sich von selbst, da alle und jede Urtheile nichts anders sind und seyn können, als diejenige Handlung des Verstandes (d. i. der transcendentalen Apperception) durch welche das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter eine Apperception gebracht wird. Die ursprünglichen Handlungen des Verstandes erzeugen also, gleichsam mechanisch, eben so viele Grundsätze als dieser Handlungen sind. Auf diese Weise sagt der berühmte Grundsatz der Causalität anders nichts, als daß alles, w a s f o l g t , i n einer Folge sich befinden müße. Das verknüpfende Bewußtseyn müßte aufhören verknüpfend und ein Bewußtseyn zu seyn, wenn es anders wäre. So viel, mein Lieber, von der Art und Weise, wie ich die Kantische Theorie von Sinnlichkeit und Verstand d. i. vom Vorstellungsvermögen überhaupt mir selbst verständlich gemacht habe. Was ich am wenigsten von einem Manne wie Kant begreiffe ist, daß er die quanta des Raums und der Zeit – G r ö ß e n ü b e r h a u p t mittelst der transcendentalen Einbildungskraft in Quantitäten, d. i. Zahlgrößen oder Aggregate zu verwandeln wagte, da er doch dieser Einbildungskraft kein Instrument, keine Einheit rechtmässiger Weise geben konnte, um ihr Geschäffte damit anzufangen. | Wie kann ich, ohne zum wenigsten eine solche Einheit zu haben,

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den Raum oder die Zeit als ein gleichartiges Mannigfaltiges anschauen? Dasselbe gilt vom transcendentalen oder ursprünglichen Bewußtseyn, das ebenfalls nur als ein Quantum da ist; von dem ich folglich keine Einheit, keine Zahl, die ich ihm selbst erst verschaffen muß, borgen kann, um das unbestimmte Quantum des Raums und der Zeit in eine Quantität a priori zu verwandeln und aus ihrer Continuität ein continuirliches Aggregat zu erzeugen. Die Beziehung dieses Bewußtseyns auf die Zeit, damit Vielheit und Einheit einen Vorwand des Daseyns a priori erhalte, ist eine so unverschämte, zugleich so platte Sophisterey, daß man der Philosophie selbst, weil sie solche Possen kann mit sich treiben lassen, einen Tritt vor den Hintern geben mögte. Zum Beschluß dieser Materie von Sinnen und Verstand noch ein Wort über das = X des transcendentalen Gegenstandes. Zuerst muß ich bemerken, daß alle Gegenstände überhaupt = X sind, weil unter Gegenstand nichts anders als die Einheit der Handlung in der Verknüpfung des Gleichartigen in dem Mannigfaltigen einer Erscheinung verstanden werden kann. Darum kann auch Ein und derselbe Gegenstand zehnerley Gegenstand seyn, nachdem der Begriff ist, unter welchen ich seine Erscheinung das Eine oder das andere mal zu subsumiren für gut finde. Das heißt, wie ich schon mehrmals in diesem Briefe gesagt habe: Die Gegenstände sammt und sonders sind nichts anders als das empirische oder transcendentale im Verknüpfen geschäftige Bewußtseyn. Das eigentliche = X aber ist der transcendentale Gegenstand, das D i n g a n s i c h , auf welches alle Erscheinungen sich beziehen sollen, obgleich von diesem Dinge an sich in den Erscheinungen gar nichts vorkommt, und Kant selbst gestehen muß, daß sein Begriff nur ein problematischer Begriff sey. Dennoch spricht er häufig von diesem D i n g e a n s i c h und bezieht sich | auch gleich beym Eingang seiner Kritik d. r. Vnft. darauf, als wenn es sich von selbst verstände und seine Lehre darüber erbaut wäre. Und das ist wohl zuverlässig auch sein Ernst gewesen und das D i n g a n s i c h war nicht mehr da und gar nicht mehr wieder zu haben, ohne daß ers gewahr wurde. Bis auf einen gewissen Punct ist es allen Idealisten so gegangen. Der Satz, daß wir nur m i t den Augen sehen, nur m i t den Ohren hören, führte sie allmählich zu dem Schluße, daß wir nichts a l s unsere eigenen Augen sehen, und unsere eigenen Ohren hören. Da

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diese Idealisten aber den Glauben an ihr eigenes Daseyn, als eines wirklich objectiven Wesens, und an die reinen Verstandesbegriffe, als wirkliche Formen der Dinge selbst behielten, so entgieng ihnen wenigstens der Grund der Erscheinung nicht; sie konnten mit Fug darauf Bezug nehmen. Kant hingegen hat gezeigt, wie alle Formen des Denkens, den Begriff des eigenen Daseyns nicht ausgeschlossen, nur so viele Formen der Erscheinungen und ausser dem ohne alle Beziehung, Sinn und Deutung sind. Damit ist nun alle mögliche Communication mit dem Dinge an sich rein abgeschnitten. Mehr hierüber findest Du in meiner Note über den transcendentalen Idealismus, auf welche ich Dich schon ehmals verwiesen habe. Ich werde auch wohl bey Gelegenheit der Freyheitslehre diese Materie noch einmal berühren müssen. |

Den 19 Dec. 1791. Du stehst in der Erwartung, nachdem ich Dir zu Sinnen und Verstand geholfen habe, daß ich Dich nun auch zur Vernunft bringen werde, und Du hast Recht dies Vertrauen in meine Freygebigkeit und Großmuth zu setzen. So viel also hast Du schon gelernt, daß Deine Urtheile, folglich auch Deine Erkenntnisse sammt und sonders auf activen und passiven allgemeinen Vorstellungen a priori beruhen, und die besondern von den allgemeinen gleichsam nur so viele Abbisse – Specificat i o n e n d e s t h ä t i g e n un d leidenden Bewußtseyns sind. Du hast aber nicht allein dies, nemlich daß wir das Besondere nur vermöge des Allgemeinen bestimmen d. h. d a s B e s o n d e r e n u r i m A l l g e m e i n e n e r k e n n e n k ö n n e n , gelernt, sondern ich habe Dir auch beygebracht, wie das zugeht, so und nicht anders nothwendig zugehen müsse. Denn! sagte und wiederholte ich Dir auf alle mögliche Weise: Ehe etwas i n ein Bewußtseyn kann aufgenommen werden, muß ein Bewußtseyn und zwar ein mit activem und passivem Vermögen des Aufnehmens begabtes Bewußtseyn vorhanden seyn. Das a c t i v e Vermögen bestand im Z ä h l e n – f o r tzählen, zurückzählen, z u s a m m e nzählen – E t w a s zählen, N i c h t s zählen, h e r a u s o d e r a u s e i n a n d e r zählen – a u f E t w a s aufzählen, v o n E t w a s a bzählen, d u r c h e i n a n d e r zählen – u.s.w.

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Das hiessen wir ursprünglich die Synthesis, und hatten eine Synthesis der Apprehension, der Reproduction und der Recognition – im Begriffe, welchen das reine Bewußtseyn stellt. Das reine Bewußtseyn stellt auch die Gru n d z a h l , ist E i n h e i t und Summa zugleich. Aber seine Einheit ist keine absolute Einheit (nicht Einfach), sondern eine Z a h l ; denn wie könnte das Bewußtseyn, als absolute Einheit, sich auf sich selbst besinnen? Besinnung fodert Rückerinnerung; Rückerinnerung fodert | Mannigfaltigkeit u.s.w. Plato mag daher so ganz unrecht nicht gehabt haben, indem er alle Erkenntniß auf Gedächtniß d. i. auf Besinnung zurückführte. Da sich nun das Bewußtseyn nicht anders, denn als ein c o n t inuirliches Aggregat darstellen kann, worin jeder Punct gleichsam das P r ä d i c a t des vorgehenden Punctes und gleichsam die Substanz des folgenden Punctes ist; gemäß seiner einheitlichen Natur oder Form aber unverrückt streben muß, sich g a n z b e ysammen zu haben, so kann es in der Sphäre b e d i n g t e r B e d i ngungen keine Ruhe haben, sondern treibt unwiderstehlich fort, von Bedingungen zu Bedingungen, nach einem E r s t e n – dem Unbedingten. Nun liegt in seiner Natur selbst der Grund und Beweis, daß und warum es dahin nicht gelangen kann; und weil das reine Bewußtseyn selbst der Verstand ist, so kann es dies auch wohl begreiffen. So sehr aber das Nichtkönnen in seiner Natur liegt, eben so sehr und in einem noch höheren Grade liegt das d a h i n s t r e b e n müssen in seiner Natur, so daß es bey allem Begreiffen der Unmöglichkeit, seine Absicht zu erreichen, eben so wenig darin nachlassen k a n n , als d a r f . Der Regressus von Bedingung zu Bedingung macht sein Daseyn aus, und es käme zu gar k e i n e m Daseyn mit ihm, wenn es nicht wenigstens in seinem empirischen Gebrauche zu Ende zählen könnte. Hier geben ihm die Erscheinungen, jede für sich, Anfang und Ende; also Vollständigkeit der Bedingungen, Totalität, A l l h e i t d e s G e g e n s t a n d e s . So wenig also das Bewußtseyn sein Vermögen da zu seyn aufgeben kann, so wenig kann es aufgeben, überall einen e r s t e n Anfang zu suchen; und muß, ob es gleich einsieht, daß dieser Anfang überall etwas unmögliches ist, ihm doch, unter dem Nahmen des U n b e d i n gten, ein idealisches Wesen einräumen.

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Das Vermögen nun, durch Erweiterung der Kategorien bis zum Unbedingten, E i n h e i t der Verstandesregeln hervorzubringen, heißt das Vermögen der absoluten Principien, auch das Vermögen der Ideen, und ist die eigentliche reine Vernunft. Es begreifft sich leicht, wie die Menschen von jeher geneigt seyn muß|ten, diese Ideen nicht für Lückenbüsser des Verstandes, sondern ganz im Gegentheil für das eigentlich Reale (ontwß onta) zu halten. Sie ehrten daher das Vermögen der Idee, als das Vermögen der transcendenten Wahrheit, zum unsäglichen Nachtheil des Verstandes, welchem das Unmögliche verheißen, aber nicht gegeben wurde, und der darüber den wirklichen Antheil, den er an der Wahrheit haben konnte, fahren ließ. Deswegen hat die Kantische Theorie der reinen Vernunft zur Hauptabsicht, den Verstand vor der reinen Vernunft, die ihm überall nur etwas weiß zu machen sucht, i n s o f e r n , öffentlich und heimlich zu warnen, und gegen ihre Verführungen ihn nach Möglichkeit sicher zu stellen, dadurch, daß er ihn, wie die Ideen ihn zum Besten haben, gleichsam mit Händen greiffen läßt. Wie dies geschieht, solltest Du billig in Kants Kr. d. r. V. selbst nachlesen, weil es recht sehr der Mühe werth ist. Wenn Du aber dazu nicht Zeit hast, so mußt Du wenigstens, was in Schmids Grundriß (S. 94–158) davon steht, Dir mit allem möglichen Bedacht zu Gemüthe führen. Ich fodre dies ausdrücklich von Dir, und weiß, es wird Dich die Mühe und der Eine Tag, den Du höchstens darauf zu verwenden hast, nicht gereuen. Da findest Du, daß es erstlich drey Hauptideen oder Lückenbüsser des Verstandes giebt: das Unbedingte der Inhärenz, der Dependenz und der Concurrenz. Diese Lückenbüsser wollen aber wieder verknüpft und geeinigt seyn. Zu diesem Behuf erweitert sich denn der dritte zu einem Lückenbüsser über alle Lückenbüsser, zu einem Ideal der reinen Vernunft. Dieses Ideal der reinen Vernunft heissen wir Gott. Wie im Angesichte der Kantischen Philosophie alle bisherigen Beweise der speculativen Philosophie für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele und einen vernünftigen Welturheber, aus einander gehen, einstürzen und zu Staub werden, davon kannst Du Dir ungefähr eine Vorstellung auch von Weitem machen. Aber Du mußt es durchaus auch von Nahem sehen, wenigstens durch das Ferngläschen von Schmid. |

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Wie Du da stehst, so stelle ich mir vor, daß Du den A n d r e s , wenn er bey der Hand ist; oder ist er nicht bey der Hand, mich, etwas verlegen fragen könntest: ob Du denn jetzt, da Du ein Kantischer Philosoph geworden bist, nur an einen Lückenbüsser über alle Lückenbüsser glauben dürfest. Bin i c h es, den Du so fragst, so ist meine erste Antwort eine Ohrfeige. Dann sage ich: Schafskopf! was rede ich mir die Seele aus, wenn Du nicht einmal begriffen hast, daß die Lückenbüsser so wenig da sind, um daran zu glauben, daß sie umgekehrt nur da sind und den Schafsköpfen unter die Nase gerieben werden, damit sie nicht daran glauben. Zumal der Lückenbüsser über alle Lückenbüsser, der die leereste aller Ideen – das Ideal der Leerheit ist. Ueberhaupt hat die theoretische Vernunft und kann nichts mit dem Glauben zu thun haben. Sie ist weder gläubig noch ungläubig. Mit der praktischen Vernunft verhält es sich eben so; doch mit dem Unterschiede, daß diese b e f e h l e n kann, zu glauben. Da Du nun vom Glauben ein so arger Liebhaber bist, so will ich Dich mit nächster Post bedienen, und Dir dergestalt genug zu glauben geben, daß Du mit allem Deinen Talent dabey zu kurz kommen sollst. Ende der Vernunft und Anfang der Freyheit.

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Da Du das Buch des erreurs und das Tableau naturel so wohl inne hast, so finde ich jetzt gebahnten Weg und mehr als das; denn wahrscheinlich wirst Du mich über den Punct der Freyheit besser verstehen, als ich mich selbst verstehe oder unsern Meister Kant verständlich werde machen | können. Dann wird das Blatt sich wenden und Du kommst m i r zu Hülfe. Wer weiß, was nicht schon in Absicht meiner bisherigen Vorträge sich bereitet? Denn, wohl überlegt, ist alles, was ich Dir geschrieben habe, nur eine pragmatische Ausführung des Satzes: »e x p l i q u e r l e s c h o s e s p a r l ’ h o m m e e t n o n l ’ h o m m e p a r l e s c h o s e s«; welches mir schon bey der Note, worin Copernicus vorkam, hätte einfallen sol1 den] dem

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len, und nur darum mir nicht eingefallen ist, weil ich sonst allen Muth zur Fortsetzung meiner Arbeit verloren hätte. Was mich heute einigermaassen ermuntert, Dir auch noch die Kantische Lehre von der Freyheit vorzutragen, ist der Gedanke an Deine Verwunderung, wenn Du sehen wirst, wie Kant so ganz und gar Martinist ist, und das Buch des erreurs nebst dem tableau naturel nur ausgeschrieben hat. Zur Sache. Freyheit ist das Vermögen unbedingter Selbstthätigkeit; das Vermögen absoluter Selbstbestimmung; folglich das Vermögen eine Handlung schlechterdings anzufangen. Freyheit ist also eine Idee, und zwar die uns schon bekannte Idee des Unbedingten der Dependenz, welche nur auf besondere Veranlassung hier noch einmal und unter einem andern Nahmen vorkommt. Diese besondere Veranlassung giebt die reine Vernunft selbst, in so fern sie praktisch ist. »Alle technisch-praktischen Regeln, d. h., die Regeln der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der K l u gheit, als einer Geschicklichkeit auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben, so fern ihre Principien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Corollarien zur theoretischen Philosophie (nicht zur praktischen) gezählt werden; denn sie betreffen nur die Möglichkeit der Dinge nach Natur-begriffen, wozu nicht allein die Mittel, die in der Natur dazu anzutreffen sind, sondern auch der Wille selbst als Begehrungs- mithin als Natur-Ver|mögen gehört, so fern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann.1 Doch heissen dergleichen praktische Regeln nicht Gesetze (etwa so wie physische), sondern nur V o rschriften, und zwar darum, weil der Wille nicht blos unter dem Naturbegriffe, sondern auch noch unter einem andern Begriffe steht, in Beziehung auf welchen die Principien desselben G e s e t z e 1

Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist eine von den mancherley Naturursachen in der Welt, nemlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt, und alles, 35 was durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch möglich (oder nothwendig), zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit (oder Nothwendigkeit) einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe, sondern wie bey der leblosen Materie, durch Mechanism, und bey den Thieren, durch Instinct zur Causalität bestimmt wird. Kritik der 40 Urth.kr. Einl. S. XII.

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heissen, und mit ihren Folgerungen den 2ten Theil der Philosophie, nemlich den praktischen allein ausmachen«. Kritik d. Urth.kr. Einl. S. XIII. Der Wille als Naturursache ist bedingt; er will nur, weil er etwas anders will (das Nützliche) und vermag nicht sich einen Zweck selbst vorzusetzen (das an sich Gute zu wollen). Der Wille, welcher n i c h t Naturursache, sondern die Wirksamkeit der reinen Vernunft selbst ist, will nur die Erfüllung seines eigenen Gesetzes (ohne Rücksicht auf alle materiale Beziehung der Handlung); ist also unbedingt und – frey. Die Idee eines solchen reinen Willens in der menschlichen Natur, ist Thatsache, und ihre Wirksamkeit so gros, daß wir die Forderungen des Gesetzes der Freyheit auf keine Weise abweisen können, ohne in Selbstverachtung zu fallen. Ein anderes, nicht weniger reelles, auch von der Vernunft anerkanntes Gesetz will die Beförderung unserer Glückseeligkeit d. i. die verhältnißmässige Befriedigung aller unserer Neigungen, so wohl der Ausdehnung und dem Grade, als der D a u e r nach. Aber wie gültig, unvertilgbar und dringend dieses andere Gesetz auch ist, so hat es dennoch keine Ansprüche auf irgend eine Ausnahme zu seinem Vortheile von dem Gesetze der uneigennützigen Gerechtigkeit, sondern steht ohne alle Bedin|gung unter dem kategorischen Imperativ der reinen Vernunft, welcher keine P e r s o n ansieht. Dieser Imperativ drückt mit seinem S o l l e n und Nichtsollen das widersprechende Interesse aus, welches in der menschlichen Natur zusammenkommt: den Antagonismus zwischen reinem Willen und eigennütziger Begierde; zwischen dem absoluten Interesse an Moralität, und dem bedingten an Glückseeligkeit. Ein solches widerstreitendes Interesse in einem und demselben vernünftigen Bewußtseyn, zwingt die Vernunft, welche Einheit der Zwecke apodictisch fordert, eine mögliche Aufhebung des Widerstreits vorauszusetzen uND die Bedingungen dazu als die Bedingungen der Realität des moralischen Gesetzes selbst anzusehen. Also eben so, wie die Vernunft, kraft des in ihr wohnenden apodictischen Sittengesetzes die Möglichkeit und Wirklichkeit der Freyheit postulirt; so postulirt sie auch, kraft des vorhandenen Widerstreits zwischen Wohlleben und Tugend, zwischen dem Gebot moralischer Vollkommenheit und der Unmöglichkeit, sie hier

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auf Erden zu erlangen, eine zukünftige Congruenz, mittelst der Begriffe von einem Gott und der Unsterblichkeit der Seele. Dasselbe läßt sich auf folgende Weise kürzer geben: So wie die Vernunft die Erfüllung des Sittengesetzes w i l l ; so w i l l sie auch, daß ein Gott und daß die Seele unsterblich sey.1 Diese Art und Weise, einen Gott und Unsterblichkeit der Seele anzunehmen, wird der Vernunftglaube genannt, und eine jede andere Weise, das eine oder das andere anzunehmen, ist der Vernunft eine Thorheit und der Moralität ein Aergerniß und Gräuel.2 Daß Freyheit nur eine I d e e sey, habe ich gleich zu Anfange erinnert, und es versteht sich von selbst, daß sich in unserer Kantischen Sinnen- und Verstandes-Welt von ihr nichts zeigen kann noch darf. Sie hier einmischen zu wollen, wäre | Unsinn. Da aber alle Ideen nur erweiterte Kategorieen sind und ausser dem auch nicht einmal ein nur idealisches Daseyn haben könnten, so muß auch die Idee der Freyheit mit der Kategorie der Causalität wenigstens in so weit verträglich zu machen seyn, daß beyde neben einander bestehen können. Bey dem blos Unbedingten der Cau salität wurde nur ein Anfang der Reihe, ein erstes unabhängiges Glied der Kette gesucht; bey der F r e y h e i t aber soll das Unbedingte in, mit und neben dem Bedingten zugleich vorhanden seyn und wirken, welches eine offenbare Ungereimtheit zu seyn scheint, folglich uns auch wohl entschuldigt, wenn wir (da die Idee der Freyheit ein unabtreibliches Postulat der reinen praktischen Vernunft, und zwar zu unserem großem Vergnügen – wegen seiner mannigfaltigen Nützlichkeit – ist), um es dennoch zusammen zu reimen, etwas ausserordentliches versuchen und uns erlauben müssen. Da nehmen wir denn schon ohne weiteres das D i n g a n s i c h zu Hülfe, und erzeugen den Begriff einer transcendentalen Ursache, der kein rundes Viereck ist, wie man glauben sollte, daß er nach der Kantischen Vorstellungsart durch aus seyn müßte. Verstehe! 1

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Dies sind Kants eigene Worte. Die speculative Theologie, sagt Kant (Kr. d. r. V. S. 842) kann auf ein allervollkommenstes und vernünftiges Urwesen nicht einmal hinweisen, geschweige daß sie davon überzeugen könnte. 2

37 könnte.] am unteren Rande, durch nachträgliches Schneiden der Seite ist nur noch die obere Hälfte des Wortes lesbar

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Wir sagen: den Erscheinungen correspondirt etwas, wovon sie zwar nicht das geringste darstellen, worauf sie sich aber doch b e ziehen, und was man folglich als ihren Grund betrachten und das reale Subject der Erscheinung nennen muß. Da nun das Reale oder das Ding an sich von der Erscheinung so ganz und gar verschieden ist, daß der Unterschied zwischen Körper und Schatten, nicht einmal der S c h a t t e n einer Vergleichung zu dieser Verschiedenheit ist; dennoch aber die Erscheinung sich auf das Ding an sich bezieht, und nur sein sinnlicher Ausdruck genannt werden muß: so kann mit allem Fug das Ding an sich nicht blos als der Grund der Erscheinungen, sondern es m u ß als ihre U r s a c h e angesehen werden. In Absicht des Dinges an sich fallen die Zeitverhältniße weg, es ist also das Unbedingte in Absicht der Reihe seiner Erscheinungen, und fängt, in Absicht ihrer und auch seiner selbst, seine Handlung selbst an. Aus demselben Grunde folgen die Erscheinungen aus ihm auch nicht nach einander, so daß es sie nur anfienge und hernach sich davon machte, sondern seine Causalität (die t r a nscendentale) ist eine beharrliche Causalität. | Hiemit haben wir nun schon das Unbedingte der Dependenz in ein Unbedingtes der I n h ä r e n z verwandelt und beyde zu Einem Dinge gemacht. Da diese Verwandlung eben so rechtmässig als unvermeidlich geschieht, s o h a b e n w i r a u c h n i c h t e i n m a l nöthig ihrer ausdrücklich zu erwähnen. Da aber das D i n g a n s i c h mehr als irgend sonst ein Ding nöthig hat, Etwas zu s e y n , um a l s Etwas zu erscheinen; so hat die transcendentale Ursache einen intelligiblen Charakter d. h. ein Gesetz ihrer Causalität. Die Bestimmungen dieses Charakters folgen, wie sich von selbst versteht, im Dinge an sich nicht auf einander, wohl aber in der, den Zeitbedingungen unterworfenen, Erscheinung. Und da nun, was einer gemeinschaftlichen Bedingung, Regel oder Gesetz gemäß beysammen und zugleich ist, in so fern nothwendig beysammen und zugleich ist; so muß auch eben dies beysammen- und zugleich-seyende, wenn es als in einer Folge gegeben erscheint, dieselbige Nothwendigkeit der Verknüpfung darstellen. Deswegen können wir die Handlungen der Menschen, wenn wir nur übrigens genug unterrichtet sind, aus ihrem empirischen Charakter, welcher nur der Ausdruck des intelligiblen Charakters ist, mit eben der Sicherheit vorausberechnen, wie wir den Lauf der Gestirne berechnen, ohne daß wir uns deswegen zu enthalten nöthig haben,

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eben diese Menschen nach dem Gesetze der Sittlichkeit, in Voraussetzung ihrer Freyheit zu richten; denn der empirische Charakter ist nur eine Folge des intelligiblen Charakters, und den intelligiblen Charakter giebt der Mensch sich selbst, vermöge seiner unbedingten Spontaneität (der kosmologischen Freyheit) als Ding an sich. Hier ereignet sich nun freylich noch eine Schwierigkeit, die ich Dir nicht verschweigen darf, auch wohl nicht zu verschweigen nöthig habe, weil Du mit Deinem Martinismus Dich leicht herausfinden und dann auch mir heraushelfen wirst. Ich finde nemlich hier eine zwiefache Freyheit; die eine bestimmt den intelligiblen Charakter, und die andere s o l l den moralischen Charakter bestimmen können. Diese letzte scheint mir auch die eigentliche Freyheit zu seyn, die gemeynt ist, und die man heraushaben will. So wäre die erste nur ein arbitrium brutum, also gar keine Freyheit. Wie geht es nun zu, daß die Vernunft, wenn sie die höchste Gewalt hat, d. h., wahrhaft frey ist, nicht überall allein das Gesetz giebt? Wäre sie irgend einmal allein da gewesen, so | hätte unter keiner Bedingung, die unserer Vernunft begreifflich wäre, ein ihr widersprechendes Gesetz entstehen, und ihr die Herrschaft mehr als streitig machen können. Diese Schwierigkeit ist unserm Meister Kant auch nicht entgangen, und er hat sie in seiner Kritik der pr. V. S. 179–85 ziemlich offenherzig gebeichtet; aber, leider, auch auf eine Weise aus dem Wege zu räumen gesucht, die s e i n Uebel nur noch ärger macht. Und dies sey das Ende.

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4 vermöge] vermögen

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UEBERFLÜSSIGES TASCHENBUCH FÜR DAS JAHR 1800 VORREDE (1799)

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Vorrede. Von F. H. Jacobi. Wird überschlagen! Seite 1 Es ist eine alte Klage, daß die Vorreden, zumal von Leserinnen, überschlagen werden. Die unsrige w i l l überschlagen seyn, weil sie überflüßig seyn will, und sonst n i c h t g u t wäre. Um in dieser Absicht gewiß zu gehen, ist sie so eingerichtet, daß wenn sich ja Leser zu ihr finden sollten, diese wenigstens keine Leser des Taschenbuchs seyn werden; so wie die | Leser des Taschenbuchs, keine Leser dieser Vorrede. Es war eine schwere Aufgabe, sie in solchem Maaße unpassend, und dadurch im höchsten Grade passend zu machen. Jezt mag sie gelesen oder nicht gelesen werden, sie ist und bleibt an ihrem Ort, als Vorrede, ein r e i n U e b e rflüßiges. Nachschreiben. Von demselben. Seite 25 Nachdenkende Leser und Leserinnen werden in diesem Nachschreiben, welches n i c h t überschlagen wird, einen Anachronismus bemerken, wegen des wir lieber hier um Verzeihung bitten, als das wahre Datum des Briefes verändern wollten. Der Herausgeber des Taschenbuchs ist dabey ganz ohne Schuld, da sich gedachter Anachronismus erst nach Ablieferung des Manuscripts an den Verleger, heimlich noch eingeschlichen hat. Wir zeigen bey diesem Anlaß für alle Fälle an, daß auch die im Taschenbuche befindlichen Beyträge von Jens Baggesen, weil sie zu spät eingelaufen, dem Herausgeber nicht vor dem Abdruck haben können vorgelegt werden: Auch diese also verantwortet allein der überflüßige Vorredner.

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Vorrede. Ein Brief an den Herausgeber.

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Der Verfasser des folgenden Briefes hält es für nöthig, über die Anwendung der neuesten Philosophie, welche darin beyläufig statt gefunden hat, folgende Erklärung – gewisser unjovialischer Leser wegen – von sich zu geben. Er versichert: 1. Daß dieser Brief nicht mit der Absicht jene Anwendung zu machen begonnen wurde. Sie hat sich unter der Hand eingefunden; hat sich der Laune gewissermaßen aufgedrungen – gerade so wie nachher die Anwendung der Oekonomistenlehre, deren Grundsätze die eigenen Grundsätze des Verfassers sind. Er bittet zu bemerken: 2. Daß wenn die neueste Philosophie durch die hier von ihr gemachte Anwendung ein etwas lächerliches Ansehen bekommt, man dieses allein seiner Kunst sie auf solche Weise zu gebrauchen, oder g e l t e n d zu machen, beyzumessen und zu verdanken habe. Nur hat Er nicht diese Kunst zuerst erfunden, sondern er stellt sie nur nachahmend dar. Wenn jene Originale, die ihm wahrscheinlich, bekannt und unbekannt, vorschwebten, durch seine Darstellung an sich selbst erinnert, und des Dienstes, den sie der Philosophie leisten, inne werden sollten, so hätte er sich einer guten Handlung, die vielleicht ersprießlich würde, zu erfreuen; aber keiner verdienstlichen: Denn, wahrlich! auch diese Absicht lag ihm nicht im Sinne während er schrieb; er folgte, wie schon ge|sagt, blos seiner Laune, und hatte nur sein Ziel, d i e R e ttung des Ueberflüßigen, im Auge. Seine aufrichtige Meynung in Absicht der Transscendental-Philosophie selbst ist: | 3. Daß nur derjenige, der unwissend und abgeschmackt genug wäre, um Geometrie und Arithmetik gering zu schätzen und zu

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1–2 Vorrede. Ein … Herausgeber.] V o r r e d e / zu einem / überflüssigen Taschenbuche für das Jahr 1800, / in / einem Schreiben und Nachschreiben an den / Herausgeber des Taschenbuches. 3 Der] A n m e r k u n g f ü r d a s P ublikum. / Der 7–8 Absicht jene Anwendung zu machen] Absicht, jene [972] 15 Kunst] Kunst, 15–16 gebrauchen,] 35 Anwendung zu machen, gebrauchen 24 Sinne] Sinne,

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verspotten; jene, weil sie keine Substanzen; diese, weil sie keine Zahlenbedeutung, nicht das Werthseyende hervorbringt; daß nur ein solcher auch Transscendental-Philosophie gering schätzen und verspotten dürfte. Dieses konnte um so weniger des Verfassers Fall seyn, da er nicht ohne Antheil an der Entstehung der neuesten Philosophie, und keinesweges diesen Ruhm aufzugeben gesonnen ist. Aus dieser Blutsfreundschaft erklärt sich die Vertraulichkeit, worin er mit ihr lebt. Er darf mit ihr scherzen, und den Scherz bis zum Muthwillen treiben, ohne Gefahr zu laufen, daß sie ihn je mißverstehen werde. Sie weiß, daß er sie nicht aufziehen kann, ohne sich selbst m i t zum Besten zu geben. – Und gehörte es nicht zum Triumph der Imperatoren, daß ihre Siegsgefährten sie mit Spottliedern begleiteten? Dies sey gesagt dem S t a r k e n ! Zugleich lasse er sich erinnern an jene Rede des alten S h a n d y , als diesem, anstatt des arabischen Hengstes, ein Maulesel gefohlt wurde. »Siehe, sprach er zu O b a d i a h , w a s d u g e m a c h t h a s t ! « »Ich habe es nicht gethan,« antwortete O b a d i a h . – »Wie kann ich das wissen?« erwiederte S h a n d y – Und nun war er versöhnt mit Obadiah – Aber nicht mit dem Maulesel.

15–16 »Siehe, … w a s] »Siehe,« …»was 16 hast!«] so D2; D1: hast!

17 gethan,«] so D2; D1: gethan

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Eutin 1799. Am heiligen 3 Königs Tage.

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Deine Sorge, du lieber alter Freund, um einen neuen Titel für dein Taschenbuch, dem neuen Verleger zu Liebe, der ihn wünscht, und der es, sagst du, gut mit dir meynt wie mit sich selbst: Eine natürliche Gemüthsverfassung der Verleger – n a c h geschlossenem Contract! – Euere gemeinschaftliche Sorge also, und daß ihr beyde (denn auch Freund Perthes ist schon bittend bey mir eingekommen) in dieser Verlegenheit zu mir Euere Zuflucht nehmt, hat mich sonderbar betroffen. Ich sollte freylich wohl Rath geben können, es ist mein Beruf; und keine Ausnahme gilt wenn ich meines ganzen Titels werth bin; wenn ich die höchste Stufe der Rathgebung, der unbestimmt und darum unbedingt allgemeinen (zumahl in verzweifelten Fällen) die man die g e h e i m e nennt, nicht als ein Unwürdiger erstiegen habe. Euch | ein solcher zu erscheinen gienge mir zu nah. Also | habe ich mich aufgemacht, und wie ehmals in den Tagen meiner Kraft, unmittelbar die Schwierigkeit selbst angesprochen. Wie ich sie scharf ins Auge faßte, so faßte sie mich wieder; säumte auch nicht mit der Antwort: Schreibe! sprach sie – Schreibe: Ueberflüßiges Taschenbuch. Ich glaubte, das Orakel hätte mich zum besten. Es verdroß mich; aber ich verbarg meine Empfindlichkeit, wiederholte mein Ansinnen, und stellte vor: Wie die ertheilte Antwort keinesweges belehrend sey; sie werfe uns nur unsere Unwissenheit vor, die wir selbst angäben um davon befreyt zu werden. Wir verlangten nämlich zu erfahren: Welches dringende Bedürfniß des Publikums die Erscheinung unseres Taschenbuches Nothwendig; also mit Nichten überflüßig mache. Hätten wir, fuhr ich fort (der Aerger, den ich bey der Wiederholung des Wortes überflüßig empfand, machte mich keck) – hätten wir Muße und Fähigkeit gehabt, in der neuesten Philosophie vollkommen zu werden bis zur Uebermeisterung des Mei-| sters, wie es schon einigen gelungen ist, so brauchten | wir keine gute Worte zu geben; wir könnten durch Anwendung der p e i n 4 meynt] meint, angäben,

10 gilt] gilt,

14 erscheinen] erscheinen,

26 angäben]

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lichen Frage, ich meyne der philosophischen Deduction, alles mit Gewalt erfahren. Es müßte in der That ein Leichtes seyn, die Beschaffenheit und den ausdrücklichen Nahmen jenes Bedürfnisses des Publikums, welches unserem Taschenbuche zum Grunde liegt, auf diesem absoluten Wege herbey zu führen, da wir von dem D a s e y n eines solchen Bedürfnisses überhaupt, die vollkommenste Gewißheit haben. Wir haben die vollkommenste Gewißheit von dem Daseyn jenes Bedürfnisses überhaupt, weil wir mit Gewißheit wissen, daß wir in Absicht auf dasselbe innerlich und äußerlich geschäftig sind; daß wir in Absicht auf dasselbe w i r k l i c h h a n d e l n; es ist der Gegenstand unseres Handelns, und wir werden in Handlung gesetzt durch diesen Gegenstand; er ist also v o r unserem Handeln, das heißt, wir sehen und werden gewahr und inne nur d u r c h ihn hindurch unser Handeln: Also ist seine Realität und Wirklichkeit zum wenigsten g l e i c h der Realität und Wirklichkeit unseres Handelns; und die Realität und | Wirklichkeit unseres Handelns ist wieder gleich, zum wenigsten! unserer eigenen Realität und Wirklichkeit – welches wir hinreichend finden zu unserer Beruhi|gung. Wir verlangen nicht gewisser zu seyn von jenem dringenden Bedürfnisse des Publikums, worauf die Unmöglichkeit der Nicht-Erscheinung unseres Taschenbuches beruht, als wir gewiß sind von dem Hervorbringen selbst dieses Taschenbuches, das ist, von unserem eigenen Daseyn und Wirken. Was die Lauterkeit unseres Bestrebens angeht, so kann sie unter Verständigen, nach dem Gesagten, wohl nicht mehr in Frage kommen. Sie noch besonders darthun zu wollen, hieße Licht ins Licht stellen um sich an einem eiteln Farbenspiele zu erfreuen. Wir verschmähen jeden Anstrich, selbst den Anstrich des Lichts. Wie sollte auch nur irgend etwas von dem eigennützigen Triebe, irgend etwas Absichtliches und dadurch unlauteres bey uns mit im Spiele seyn, da wir so offenbar eigentlich noch gar nicht wissen, was wir vorhaben; den N u t z e n , der gestiftet werden soll, auf keine Weise kennen: sondern darüber h i e r erst Belehrung suchen? – Und diese Belehrung (wieder im höchsten Grade uneigennützig!) | suchen wir Keinesweges für uns, sondern allein für das Publikum. Weder schnöde Neugier, noch ein ungeduldiges Verlangen den Dank, den wir verdienen werden, im voraus zu ge6 überhaupt,] überhaupt

28 stellen] stellen,

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nießen, ist der Grund unseres | ernstlichen Nachforschens. Wahrlich, in die e i g e n e Unwissenheit ergäben wir uns ruhig und mit Freuden, da sie, als ein untrüglicher Beweis der Lauterkeit unserer Gesinnungen, noch in diesem Augenblick unseren größten Stolz ausmacht. Gern also und mit Freuden beharrten wir in ihr; gern und mit Freuden ließen wir die r e c h t e Hand nicht wissen, was die linke thun wird: könnte nur unser Handeln, in dieser Reinheit fortgesetzt, auch zur Vollendung kommen und sein Z i e l wirklich erreichen. Leider ist dies unmöglich. Das Publikum muß nothwendig sein Bedürfniß erfahren, wenn es die Hülfe, die wir ihm bereiten, annehmen, sie begierig ergreifen und sich zu Nutze machen soll. Bliebe dieses aus, so würde unser Zweckbegriff aus Mangel an Erfüllung eitel; seine Realität, die wir, a priori, aus dem s e i n e n G e g e n s t a n d m i t G e w a l t v o r a u s s e t z e n d e n T r i e b e i n u nserem Inwendigen, geschöpft hatten; versiegte, a posteriori, in dem äußerlichen | Sande des nicht zum Vorschein kommenden Bedürfnisses. Ein solches Ausbleiben mit seinen Folgen zu verhindern, ist uns daher in unserem Zweckbegriffe schlechterdings mit aufgegeben; oder: So gewiß das dringende Bedürfniß unseres Taschenbuches für das Publikum vorhanden ist; so gewiß muß | auch das Gefühl dieses Bedürfnisses von uns im Publikum erregt werden. Es ließe sich auf eine unendlich mannichfaltige Weise darthun, wie uns mit der Handlung, wodurch wir ein dem Publikum unentbehrliches Taschenbuch nothwendig hervorbringen, die Pflicht zugleich entsteht, es nicht vergeblich hervorzubringen; zugleich mit dieser Pflicht aber auch der Glaube, den uns das Gewissen auferlegt, daß wir es nicht vergeblich hervorbringen w e r d e n . Das Erregungsmittel, das wir suchen, muß sich also finden lassen, weil es schlechterdings gefunden werden s o l l . Wir nennen es, d e n T i t e l d e s B u c h s , und bitten jetzt noch einmal, ernstlicher, um desselben Offenbarung. Noch tönte die letzte Silbe meines Vortrags, als schon dieselbe antwortende Stimme sich wieder | hören ließ. Schreibe, sprach sie, mit einem halb drohenden und halb verdrießlichen Tone – Schreibe: Ueberflüßiges Taschenbuch!

7 dieser] so D2; D1: die-/er

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Mich erschütterte die Wiederholung; mich empörte der Ton, womit sie ausgesprochen wurde. Abzulassen war dennoch unmöglich. Selbstbewußtseyn und Gewissen, die ganze theoretische und praktische Vernunft standen auf dem Spiel; ich war darum, wenn ich den Titel nicht herausbrachte; ich hatte | keine Religion, wenn ich abließ zu glauben und mit Gewalt vorauszusetzen, daß ich ihn gewiß herausbringen w ü r d e , gesetzt ich wüßte auch, daß er nicht herauszubringen wäre. Hievon wollte ich ausgehen, und a u c h mit Verdruß und Zorn mich hören lassen – als in dem Augenblicke, da ich nur den Mund zum Reden wieder öffnete, das unbegreifliche Gebot zum dritten Mal mir in die Ohren drang; diesmal mit einer Gewalt, die mich zu Boden schlug und, ich wußte nicht wie, mein Inneres bezwang. Was ist das? fragte ich mich selbst. – Verbirgt der Ausspruch, der dich kränkt, vielleicht einen geheimen großen Sinn, so daß, in diesem Sinne, ein überflüßiges Taschenbuch gegenwärtig in der That | das unentbehrlichste, gegenwärtig für Deutschland das dringendste Bedürfniß wäre, in so fern es Taschenbücher überhaupt bedarf? Ich verweilte bey diesem Gedanken, und es wurde heller vor meinen Augen: Was mir zuerst auffiel war, daß noch gar kein überflüßiges Taschenbuch vorhanden sey; nicht in Deutschland; vielleicht nicht auf Erden. Es f e h l t e also; fehlte nicht allein dem Vaterlande, sondern der Menschheit: und so lange es fehlte – fehlte mit ihm zugleich die Grenzbestimmung der Noth|durft; man schwebte im Chaos des Unbestimmten, man tappte im Dunkeln, arbeitete ins Wilde. Ein überflüßiges Taschenbuch wird demnach entbehrt, folglich gefodert – Nicht blos als zur Totalität der Taschenbücher gehörig und nothwendig mit enthalten in ihrem Begriff; sondern – Es wird entbehrt und gefodert, als ein E r s t e s! Es wird a priori entbehrt und gefodert! – Alle Taschenbücher vor dem Ueberflüßigen haben dasselbe voraussetzen müssen; und sind nur in H i n s i c h t auf dasselbe entstanden; sie liefen Alle nach diesem Ziele und Zeichen der V o l l e n d u n g – u m e s z u s e t z e n . Es | konnte aber in alle Ewigkeiten nicht gesetzt werden, und niemand hätte jemals nach

21 Augen:] Augen.

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ihm laufen können, u m es zu setzen; wäre es nicht schon gesetzt gewesen – i m V o r a u s , das ist, a priori. Diejenigen, denen dieses nicht gleich einleuchten möchte, brauche ich nur zu erinneren – nicht erst zu belehren1 – daß Ueberfluß und Mangel eine | gemeinschaftliche Grenze haben. Die Linie, die beyde von einander sondert, hat, wie die mathematische, keine Breite. Es ist daher unmöglich b l o s dem M a n g e l abzuhelfen; unmöglich das G e n u g auszumachen, es zu finden und zu verschaffen, ehe das Ueberflüßige vorhanden ist. Das Ueberflüßige a l s | s o l c h e s verachten wir insgesamt; wir wünschen nur g e n u g zu haben. M e h r als genug ist w e n i g e r als Nichts, denn es ist ein Unding, und seine angebliche Vorstellung ein baarer NichtGedanke. Also nur um eben genug und durchaus nicht mehr zu haben, streben wir nach dem Ueberflusse, der von dem U e b e rflüßigen nicht sorgfältig genug unterschieden werden kann. Unter Ueberfluß versteht der Weise blos den M o m e n t des Ueberfließens: d a s a b s o l u t e G e n u g – welches nie i s t , sondern nur w i r d ; und nur w i r d , um nicht mehr zu s e y n; | welches überhaupt nicht s e y n , sondern nur gedacht werden kann, als ein bloßes Denken des Moments der Handlung eines Ueberfließenden, das nicht überfließt. Hier stand meine Betrachtung plötzlich still, so daß ich ihr, da wir in gezogenem Galoppe waren, beynah über den Kopf stürzte. Ein Gedanke war ihr in die Zügel gefallen. Er fragte: Wo sie hin wollte? Sie sollte sich besinnen, sollte ihn anhören! Er sagte: »Ich bitte dich! – Wenn das Genug v o r dem Ueberflüßigen unmöglich, und auch n a c h ihm unmöglich; das Ueberflüßige selbst aber ein verächtliches | Unding und noch weniger als nichts ist: was soll aus dem Ueberflusse werden, der nur ein Ueberflie-

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1 Das Belehren ist überhaupt unmöglich, weil es unmöglich ist, daß jemand lerne, was er nicht i m G r u n d e schon weiß. Dürftig, unvollständig, hat dies schon Plato eingesehen; man lese den M e n o n . Thiere lernen nie reden. Warum? Weil sie nicht schon | a priori heimlich reden, d. i. Sprache erfinden 131 können, und nothwendig erfinden. Also beydes, Lehren und Lernen, ist an 35 sich überflüßig. Dennoch aber unentbehrlich, wie ich nachher zeigen werde – wenn ich Raum dazu behalte, und es nicht vergesse. – Also zugleich überflüßig und unentbehrlich, gerade wie unser Taschenbuch.

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7 unmöglich] unmöglich, 26 »Ich] D1D2: Ich

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ßen ist – und n i c h t ist; und den du doch willst a l l e i n für etwas gelten lassen? – W a s fließt denn, und w o h i n fließt es? Siehe, du behältst ja nur das Fließen eines Fließens! Und nicht einmal das behältst du, denn du hast nur einen mathematischen Augenblick, in dem nichts fließen kann. Und du hast ihn n i c h t , weil es unmöglich ist, daß ein solcher Augenblick je da sey, oder als vorhanden nur gedacht werde. Dies erwäge, und, noch einmal, besinne dich; oder antworte, wenn du es vermagst.« | Die Betrachtung wußte nichts zu antworten. Ich auch nicht. Wir kehrten beyde um und nahmen den ehrlichen Gedanken mit, damit er uns die Stelle zeigte, wo wir vom rechten Wege abgekommen waren. Er führte uns zurück bis zum Ueberflüßigen a l s s o l c h e m . Hier hatten wir uns verirrt, und machten nun große Augen – darüber, daß wir sie vorher nicht genug aufgethan hatten; daß wir so unverzeihlich, ja im eigentlichen Wortverstande so unendlich blind und – dumm gewesen. | Es ist in der That nicht auszusprechen wie beschämt wir da standen vor dem Ueberflüßigen als solchem, jetzt, da wir es in seiner unendlichen Realität erblickten; es erkannten als das einzige A nsich, es ergriffen im unmittelbaren Anschaun, überschwenglich! als dasjenige, was A l l e i n – N i c h t Nichts ist … Und wir hatten es, unverantwortlich unbesonnen, für w e n i g e r als Nichts gehalten! Aber süß war nach dem Schrecken die Erholung. Triumph! das Räthsel war gelöst, das Gesuchte entdeckt. Nicht mehr einzelne Sterne giengen dem Hinschauenden nach einander auf: Alle zugleich, so viele Sonnen, traten hervor, und verwandelten in Licht das ganze All. | In diesem Lichte schrieb ich wie mir geheißen war. Der empfangene Rath war mein eigener geworden; ich hatte keinen geheimen Sinn mehr zu erforschen: Alles war offenbar, und ließ sich offenbaren, Jedwedem. Mit der That will ich es beweisen. Wer nur drey zählen kann soll es fassen und inne werden: Wie das Ueberflüßige allein A l l e s ; das N i c h t -Ueber|flüßige hingegen ein Unding, ein leeres Hirngespinst, eine durch und durch grundlose Erdichtung sey.

7 einmal,] einmal 18 auszusprechen] auszusprechen, baren 33 kann] kann,

32 offenbaren,] offen-

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Zuerst spreche der Augenschein. Ich beschreibe einen Triangel – Hier steht er:

Es darf auch ein Cirkel seyn.

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| Oder welche Figur man will. Man beschreibe sie nur, lasse sie entstehen vor seinen Augen, beschaue sie, und frage sich dann: ob es möglich gewesen wäre sie zu entwerfen, wäre nicht vorhanden gewesen zuvor – ein Ueberflüßiges des Raums. Alle Figuren, man nehme sie so groß und so klein an als man will, haben zum Inhalt einen Theil dieses unendlichen Ueberflüßigen; und werden bestimmt, werden zu dem was sie sind, durch eben | dieses unendliche Ueberflüßige a u ß e r ihnen. Also beydes, Materie und Form, empfangen sie allein vom Ueberflüßigen; sie sind von demselben nur so viele verschiedene Gestalten: zufällige! – und können nicht gedacht werden, wenn nicht v o r ihnen gedacht wird jenes Ueberflüßige als für sich allein bestehend, ein Nothwendiges und absolut E r s t e s. Aus der Mathematik wollen wir hinübergehn zur Physik. Nimm den Ball, den ich dir reiche, und schleudere ihn nach jenem aufgerichteten Ziele. – Du hast es erreicht und getroffen. – Hättest du es erreichen und an dieser Stelle t r e f f e n können, wenn du nicht dem Ball eine Bewegung gegeben, die über das Ziel hinaus reichte? Gerade mit diesem Ueberflüßigen der Kraft hast du getroffen. | Ja du bedurftest eines doppelt Ueberflüßigen dazu. Einmal, eines Ueberflüßigen der Kraft in dir selbst, um dem Ball

25 6 wäre] wäre,

8 an] an,

10 dem] dem,

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überhaupt eine Bewegung zu geben; hernach eines bestimmten Ueberflüßigen im Ball, welches das Treffen bewirkte. – Wie in diesem Beyspiel, so in jedem Falle, ohne Ausnahme. Kein Ziel wird erreicht, keine Handlung kommt zu Stande, | kein Werk weder der Natur noch der Kunst gelangt zum Daseyn anders, als durch ein Ueberflüßiges der Kraft, und m i t demselben. Nun trete auch die Metaphysik auf. Wenn ich sage, daß sie nichts anders ist als das r e i n U e b e r f l üß i g e i m V e r s t a n d e , so rede ich nicht aus mir selbst. Der tiefdenkendste unter den Philosophen, wenigstens des gegenwärtigen Jahrhunderts (ich nenne ihn nicht den tiefsinnigsten; denn tiefsinnig sind nur die Gemüthskranken, sagt K a n t , in seiner Anthropologie – ich fürchte, mir zu Gehör! –) der Mann also, von beyspielloser Denkkraft nach meinem Urtheil, F i c h t e , hat bewiesen, daß man zur höheren und allein wahren Philosophie dadurch einzig gelange, daß man sich vom nothwendigen und zu jedem vernünftigen Denken sonst vollkommen hinreichenden Abstrahiren und Reflectiren – zum Ueberflüßigen durch absolute Freyheit | erhebe. Das absolut und durch und durch überflüßige Denken ist demnach ausschließlich ein philosophisches Denken, und was durch ein solches Denken entsteht, allein Wissenschaft und w a h r e Wahrheit. | Aber nicht blos die h ö h e r e Philosophie, sondern jede, auch die gemeinste Erkenntniß, hat im Ueberflüßigen allein ihr Wesen, weil sie – in Begriffen allein ihr Wesen hat; diese aber, ohne Ausnahme und nothwendig, aus einem Ueberflüßigen der Vorstellung müssen heraus gegriffen und heraus gerissen werden, ungefähr wie die Figuren aus dem Raume. Der alte Spruch: Determinatio est negatio, gilt unbedingt und ewig. Einen Gegenstand in der Vorstellung bestimmen, und seinen B e g r i f f hervorbringen, ist Eins. Wenn nun bestimmen verneinen ist, so versteht sich das Uebrige von selbst. Schluß auf Schluß überzeugt uns nun mit Gewalt, daß wir, nur zum Ueberflusse, was wir im Grunde schon wußten, auch noch hintennach erfahren; daß alle unsere Begriffe, Erkenntnisse und Wissenschaften, nur so viele A b s o nderungen sind von unserer Allwissenheit; welche Absonderungen wir vornehmen einzig und allein um uns unserer Allwissenheit in unserer Allwissenheit selbstanschauend zu | erfreuen. Wir brin6 Kraft,] Kraft

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gen demnach die Wissenschaften hervor keinesweges weil es uns an Wissen gebricht, sondern ganz im Gegentheil werden sie von uns her|vorgebracht, weil wir, ich möchte sagen, z u v i e l ; weil wir – überflüßig wissen. Jene Wissenschaften insgesamt, vorhandene und noch nicht vorhandene; alle unsere Erkenntnisse wie sie Nahmen haben mögen, sind – ein Ueberflüßiges aus einem Ueberflüßigen und in demselben. Um die Wahrheit, die ich vortrage, nun auch noch m i t H ä nden greifen zu lassen, will ich mit ihr mitten ins gemeine Leben mich versetzen. Die unter dem Nahmen der Oekonomisten hinlänglich bekannten Transscendentalphilosophen der Staatswirthschaft, die ihre Lehre ausschließend d i e W i s s e n s c h a f t nannten, und das mit vollem Recht, haben unwiderleglich dargethan, und es ist durch sie zur allgemeinen Erkenntniß gebracht worden: daß die erste und nothwendige Bedingung alles Verkehrs unter Menschen, das Ueberflüßige sey. Da zu jedem Tausch ein zweymal vorhandenes Ueberflüßiges schlechterdings erfordert wird; so folgt unmittelbar, daß das Ueberflüßige die einzige Materie des Handels und Gewerbes, daß es das Fundament der menschlichen Gesellschaft, ihr e r s t e s B e d ü r f n i ß sey. | Unerzeugt von Menschen war es da, und erzeugte alles andere. Die Erde brachte freywillig hervor; der Mensch sammelte davon ein Ueberflüßiges, das er säete, pflanzte, bearbeitete. Nun entstand ihm ein Ueberflüßiges in vollerem Maaße. Sein Geschlecht vermehrte sich; Künste, Gewerb und Handlung blühten auf. Es offenbarte sich ein Reichthum, ins unendliche vermehrbar aus der ersten Gabe. Nur aus ihr! Denn auch der Fleiß und die Kunst des Menschen sind ein Ueberflüßiges ursprünglich empfangener Kraft. Aber kein F l e i ß bereicherte, überfüllte jene Hand, die zuerst sich aufthat. Sie hat das Empfängliche erfunden, weil sie Ueberflüßiges unendlich darzureichen hatte. Diese Erfindung nennen wir den M a n g e l , und achten nicht darauf, daß er, auch in seiner niedrigsten Gestalt, immer noch eine Erscheinung ist n u r jenes Ueberflüßigen: eines nothwendig Ersten und Letzten! Hier schließe ich meinen Beweis, damit er mir nicht zu m ä c htig, und a n m i r s e l b s t e i n S c h a l k w e r d e .

5 Erkenntnisse] Erkenntnisse,

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Du bist überzeugt, ich darf es kühn voraussetzen, und mit dir ist es der Verleger. Mein Rath | wird Euch um so mehr gefallen, da ich ihn aus Eurem | eigenen Herzen erforscht habe. Ihr wolltet beyde gern für das Publikum ein U e b r i g e s thun, das sah ich klar, und waret nur zu bescheiden um Euch öffentlich Eurer Großmuth rühmen zu wollen. Diesen Stein der Bescheidenheit habe ich Euch vom Herzen genommen, indem ich Euch zeigte, daß Ihr keinesweges ein Uebriges thun werdet, sondern ein Unendliches auszufüllen habt, das Ihr nie ausfüllen könnt. Da mir die Wohlfahrt des Publikums am Herzen liegt, und ich mich gern als einen Patrioten der Literatur beweisen mag, so gestatte ich, daß dieses mein Schreiben an Euch dem ersten überflüßigen Taschenbuche zur V o r r e d e diene. Allgemeinen Jubel wird meine Entdeckung erregen. Hoch preisen werden mich zuerst die übrigen Herausgeber und Verleger jährlicher Taschenbücher, die nicht weniger großmüthig und schüchtern als Ihr, ängstlich ihrer Freygebigkeit eine bescheidnere Gestalt zu geben trachteten. »Das Publikum« – las man beständig in den vorläufigen Anzeigen – »entbehrte bisher – wünschte schon lange – sah entgegen – fühlte den Mangel – erwartete mit Recht – begehrte, forderte u.s.|w.« – und niemand, außer den Recensenten, und einzelnen Unpartheyischen, die zufällig ihre Stimme erhoben, wagte zu sagen: daß es – beschenkt | worden sey. Ja auch diese, angesteckt von der Bescheidenheit der Herausgeber und Verleger, unterließen nie hintennach zu bemerken, wie bedürftig eines solchen Geschenks das Publikum gewesen sey. Ich hoffe sie unterlassen das in Zukunft; erwägend, daß sie auf diese Weise das Geschenk zu einem A l m o s e n erniedrigen, das Publikum beleidigen, und den Autor in die größte Verlegenheit setzen. Die wesentliche Eigenschaft eines Geschenks unter Leuten von Ehre, sagt S w i f t , besteht darin, daß es keinen materiellen Werth habe, daß es ein Ueberflüßiges sey in jeder Betrachtung. Deswegen hat der großmüthige Deutsche das Wort v e r e h r e n eingeführt. So verehre ich gegenwärtig und hiemit allen Autoren und Verlegern von Taschenbüchern m e i n e E n t d e c k u n g . Vermöge dieser verehrlichen Schenkung treten sie mit Euch die neue Epoche an, in welcher von Bedürfnissen nicht mehr die Frage seyn darf, weil das Ueberflüßige schon angefangen hat. 5 bescheiden] bescheiden, hoffe,

20–21 Recensenten,] Recensenten

26 hoffe]

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Kein Zeitpunkt konnte schicklicher seyn um zwi|schen dem Nothdürftigen und Ueberflüßigen eine Grenze entstehen zu lassen, als das bevorstehende Jahr Achtzehnhundert. Es ist streitig geblieben, selbst nach Lichtenberg, ob es ein Bedürfniß für das zu Ende laufende Säkulum, oder ein demselben über|flüßiges Wesen sey. Diese zweydeutige Beschaffenheit giebt ihm gerade die Eigenschaft einer Linie ohne Breite, wie wir sie, um das Nothdürftige von dem Ueberflüßigen idealisch zu trennen, und ihnen eine gemeinschaftliche Grenze zu setzen, nöthig haben. Die Freude und den Dank des Publikums wenn es erfährt, daß ihm seine Bedürfnisse nicht mehr unwürdig zugezählt, sondern überflüßig gereicht werden sollen ohne Maaß und Ende, von der Erscheinung dieses Taschenbuchs an; diese Freude und diesen Dank mit ihren Folgen, verehre ich Euch beyden. Ich wünsche vergessen zu werden, um allein und desto lebhafter zu fühlen, was ich für ein G e b e r bin – und was für ein Mann – I c h ! Friedrich Heinrich Jacobi.

1 seyn] seyn,

10 Publikums] Publikums,

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Nachschreiben.

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Ich vergaß das Wesentlichste: die Verzierungen des überflüßigen Taschenbuchs. Einen Augenblick schien es mir der Mühe nicht zu lohnen, über diesen Punkt jetzt noch besonders nachzuschreiben, da Ihr nur meinem durch Eingebung und Schlüsse herausgebrachten Titel, in dem schon alles mitgegeben ist, ein wenig nach zu d e n k e n braucht, um Euch, unter so ganz veränderten Umständen, selbst hinlänglich rathen zu können. In der That, wenn man die Sache nur so obenhin betrachtet, scheint in der Welt nichts leichter zu seyn, als ein überflüßiges Taschenbuch auch noch überflüßig zu verzieren. Reiflicher erwägend findet man es anders; es zeiget sich alsdann, daß jener Schein des Leichten nur daher entstand, daß man sich noch nicht genug von dem Truge des alten Wortverstandes und Sprachgebrauchs losgemacht hatte. Erhebt man sich mit dem Begriffe des Ueberflüßigen auf den von mir angewiesenen Standpunkt, so erblickt man den Gedanken einer überflüßigen Verzierung eines Ueberflüßigen in einer solchen | Tiefe der Nachforschung, daß dem Geiste vor der | Unternehmung, aus dieser Tiefe die Vorstellung heraus zu holen, schwindelt und graust. Gleichwohl ist es mir gelungen. Ich will, mit Verschweigung meiner Anstrengung und Arbeit, nur erzählen was wir dabey d e m Zufall gemeinschaftlich zu verdanken haben. Mir fiel ein wie Phädrus mit Sokrates an einem schönen Tage in der lieblichsten Gegend von Athen unter dem berühmten Platanus sitzend, ihm vorwirft, daß er nie aus den Mauern der Stadt komme, und daß Sokrates hierauf antwortet: » F e l d e r u n d B ä u m e k ö nnen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.« Phädrus hatte den Sokrates herausgelockt durch einen Z a u b e r . Dieser Zauber war ein Büchlein unter dem Mantel des Jünglings, eine Rede L y s i a s , welche Sokrates zu hören begehrte. Die hier von Sokrates gegen die Schönheiten sprachloser Natur bewiesene Geringschätzung, erinnerte mich weiter an jenen »verständigen Savoyischen Landmann, der, Saussüren ins Angesicht, alle Liebhaber der Eisgebürge, ohne Bedenken für Narren | er8 Euch] E u c h

25 ein] ein,

35 Geringschätzung,] Geringschätzung

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klärte.« (Kritik der Urth.kraft S. 110.). Unser große Königsberger macht hiebey die Anmerkung – die Sokratische – daß der Landmann nicht so ganz | Unrecht gehabt hätte, w e n n die Reise nach den Eisgebürgen von Saussüre nur aus Liebhaberey, um diesen pathetischen Anblick zu genießen, und seinen Genuß durch Darstellung anderen mitzutheilen, wäre unternommen worden; wenn nicht seine Absicht gewesen wäre: Belehrung der Menschen. Nun hatte ichs auf Einmal! Ich besann mich, daß Schönheit, von dem Standpunkt der Wahrheit herab betrachtet, nichts anders sey, wenn man rein aus der Brust reden darf, als – eine Eselsbrücke für den Verstand, als ein Faullenzer, der ihm die Begriffe vormacht, ihn der Mühe überhebt selbst gegenwärtig zu seyn als V e r m ö g e n der Begriffe. – Also je mehr und je lebhafteren Verstand jemand hat, je stärker er an Geiste ist, desto mehr wird er Schönheit als etwas ihm ganz Ueberflüßiges betrachten müssen. Setzen wir nun, ein solcher große Kopf verschmähe das Ueberflüßige; so setzen wir zugleich, daß er auch alles Schöne im höchsten Grade verschmähen werde; daß er verachten werde jeden, der es liebt | und seiner bedarf. Außerordentlich kommt daher meine Rettung des Ueberflüßigen der Schönheit und ihren Anbetern zu statten. Sie können jetzt ruhig anhören, wenn man ihnen vorwirft, daß sie nur einem stummen Götzen dienen, und überhaupt | Schwächlinge sind. – Unwissende allein werden ihnen so begegnen nach meiner Entdeckung. Nachdem auf diese Weise die Identität des Ueberflüßigen und des Schönen ins Klare gesetzt ist, so haben wir nur noch aus dem überflüßigen Schönen das überflüßigste auszusuchen, und die schicklichste Verzierung für unser Taschenbuch ist gefunden. Wir laufen wenig Gefahr und gewinnen viel Zeit, wenn wir, ohne uns lange zu besinnen, dem Sokrates folgen, und die stummen Naturschönheiten für die überflüßigsten unter allen erklären. Also mit schönen Gegenden, mit Landschaften und L u s tgärten soll das überflüßige Taschenbuch verzieret werden. Bey der Wahl unter diesen leite uns derselbe Sokratische Spruch. Wir folgen dem Princip: J e m e h r v o r z ü g l i c h e M e ns c h e n e i n e G e g e n d | b e w o h n e n , d e s t o ü b e r f l ü ß i g e r ist ihre Schönheit.

12 überhebt] überhebt,

36 ist] ist

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Ich habe mich umgesehen, und trage kein Bedenken der P r ovinz Holstein diesen nicht verächtlichen Apfel der überflüßigen Schönheit zu reichen. H a m b u r g und L ü b e c k werden einbegriffen; denn ob sie gleich Kaiserliche freye Reichsstädte sind, so | vermögen sie darum doch nicht körperlich in der Luft zu schweben. Zu Lübeck gehört das B i s t h u m , folglich E u t i n ; wo ich gegenwärtig schreibe. – Und so schreibe ich: d a ß m i t d e n s c h ö n e n Gegenden um E u t i n d e r A n f a n g g e m a c h t w e r d e n s o l l . Bey dieser Entscheidung lege ich nicht zuerst m i c h s e l b s t zum Grunde, ob ich gleich mir selbst hier zuerst einzufallen scheine. Ich kann beweisen, daß kein Mensch sich selbst zuerst einfallen kann; es ist wider die Natur des I c h . Wohl aber kann uns zuerst einfallen – unser nächster Nachbar; mir also Stolberg, und einige Schritte weiter, V o ß . So ist es denn auch gewesen. Ich setze aber die Sache noch anders durch. | Wenn von schönen Gegenden, Landschaften und Lustgärten die Rede ist, so denkt man jedesmal zuvor die s c h ö n e J a h r s z e i t ; und wir E u t i n e r , wenn wir die schöne Jahrszeit denken, denken allemal zugleich unseren Bischoff, der dann aus Oldenburg auf sechs Monate zu uns kommt – Mit ihm H o l m e r , der trefliche … Ich meyne also den Fürstbischoff, denselben, den V o ß , der nie schmeichelt, vor seiner Uebersetzung des Virgilischen Gedichts vom Landbau, d e n F r e u n d d e s W a h r e n , G u t e n | u n d Schönen nennt. Nun hat zwar jüngst ein Reisender dagegen in der Geschwindigkeit bemerkt, und, man könnte sagen, i m v o raus wider mich eingewendet: der Bischoff, der ein paar Mal an ihm vorbey gieng, g e f i e l e w e n i g e r a l s d i e G e g e n d 1 . Aber das kümmert mich nicht; denn jeder muß begreifen, daß eine Einwendung, die das Princip läugnet, keine Einwendung ist, an die sich das Princip zu kehren hat. So ist offenbar der Fall mit meinem Reisenden in Absicht des Sokratischen Princip. Sein ganzes Buch, von Anfang bis zu Ende beweist, daß sich gegen ihn das Verhältniß umgekehrt und die Eutiner Gegend den kürzeren gezogen haben würden, in Vergleichung mit einem B i s c h o f f , d e n m a n t r i n k t , 1

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S. Fantasien auf einer Reise durch Gegenden des Friedens. Hannover 35 1799. S. 231.

1 Bedenken] Bedenken, 24–184,5 Nun … lassen. Zum] Zum S. Fantasien … S. 231. fehlt

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oder d u r c h denselben1 . Was die | Bemerkung selbst angeht, die hier kein Mensch begreifen wollte: »daß unser Herzog etwas ernstes, man möchte sagen finsteres im Gesicht habe, d a s m i t d e r Lieblichkeit der Gegend contrastiere;« so erkläre ich mir die Sache leicht auf folgende Weise. Ich setze voraus oder nehme an, unser Fürst-Bischoff ist k e i n sonderlicher Physiognomist. Nun begegnet ihm dieser Reisende, einmal, zweymal, dreymal, vielleicht noch öfter, schnell hintereinander im kleinen | Park. Dem Fürsten deucht, jener betrachte ihn mit einem laurenden, neugierig aufzeichnenden Blick, und er hält ihn unglücklicher Weise für einen von den empfindsamen Nasenrümpfern, mit denen man ungestraft kein Wort reden, denen man ungestraft nicht einmal s t u m m begegnen kann. In diesem Augenblicke mischten sich ungewohnte Züge des Verdrusses und Unwillens auf dem Angesicht des Edeln und Guten unter die so unveränderlich leutseligen und holden; diesen entstandenen Contrast fühlte der Reisende, und hielt ihn für einen Contrast mit der Lieblichkeit der Gegend. – So entschuldige ich den Mann, mache alles begreiflich, und weise diejenigen zurecht, die, unbarmherzig streng, seine Bemerkung mit der angehängten Exclamation über »das doppelte Verdienst des Fürsten, der – n i c h t a u s h e r z l i c h e r T h e i l n e h m u n g a n Menschenwohl – sondern b l o s aus Pflicht und Grundsätzen seine Unterthanen, wie unser Herzog, glücklich mache,« für eine der unerträglichsten Impertinenzen halten wollen, die jemals, kost1

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Man sehe unter andern S. 89, wo es heißt: »So ein Frühstück, mit einer gemäßigten, genau auf mich berechneten Porzion guten Weins, ist meinem Geiste und meinem Herzen wie eine gute Lorgnette oder englische Brille, wodurch man alles schärfer, richtiger und näher sehen kann. Ueberhaupt sollte man sich vorher in die gehörige Körper- und Seelenstimmung versetzen, ehe 30 man etwas | Merkwürdiges sehen will. Es kömmt nicht blos auf den Gegenstand 311 an, der gesehen wird, sondern auch auf das Auge, das sieht, ob uns etwas außerordentlich oder gemein, schön oder leidlich, interessant oder uninteressant vorkommt. Jeder sollte also die Wirkung der verschiedenen Speisen und Getränke auf seine innere Sehkraft, in den verschiedenen Jahrs- und Tageszeiten, durch 35 Versuche an sich beobachten, wie Spallanzani die Wirkung der verschiedenen Speisen auf seine Verdauungskräfte beobachtet hat. Das andere Geschlecht weiß freilich dessen wenig. Auf sie wirkt der Körper nur negatif. Er kann ihr inneres Auge verfinstern, ihre Sehkraft schwächen, ihren Blick gelbsüchtig machen; aber keine Art von Speisen oder Getränken kann ihre innere Sehkraft 40 stärken, ihren Sinn öfnen, ihr Herz erweitern.« – Ferner S. 20. 203. 204. 257. 25

25–40 Man sehe … 257. fehlt

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bar auf Velinpapier abgedruckt, vor das gaffende große Publikum gebracht worden. Genug hievon. Was ich durchsetzen wollte ist durchgesetzt, und wir dürfen jetzt nicht säumen, die Landschaften die das Taschenbuch verzieren sollen, | aufnehmen, zeichnen und stechen zu lassen. Zum Aufnehmen und Zeichnen habe ich einen überflüßigen Maler hier gleich bey der Hand. Ich nenne ihn einen überflüßigen, weil gewiß niemand, der hier unter dem Schwanz des kleinen Bären, in dem Städtchen Eutin, einen solchen treflichen Künstler suchen wird, wie S t r a c k . Wir Eutiner selbst wissen uns nicht darein zu finden; denn Strack mahlt keine Tapeten, streicht nicht an, macht sich auf keine Weise dem Lande nützlich; er kann nur vertheuern und kosten. Der Regierungs-Präsident schweigt dazu und sieht durch die Finger aus sehr begreiflichen Ursachen, da er selbst noch etwas viel schlimmeres als Strack, sogar ein | D i c h t e r ist1. Aus andern aber eben so begreiflichen Ursachen mache ich mit dem überflüßigen Maler | sogar gemeine Sache; ich bin schädlicher als er durchs vertheuern, koste aber weniger: denn wenn ich gleich zu unnützen Ausgaben reitze durch Bücher, wie er durch Gemälde, so kann ich doch von dieser Seite ein viel besseres Gewissen haben. Eins mag gegen das andre aufgehen, und so halten wir zusammen, und ich bin gewiß, er zeichnet uns die Landschaften. Noch einen Punkt habe ich abzuhandeln. Zu den Verzierungen eines Buches gehören Plan und Anordnung. Sie sind ein Ueberflüßiges, denn eine Menge Bücher bestehen ohne sie. Also gehören sie in die Region des Schönen, gemäß dem | vorhin ausgeführten Satze, daß Ueberflüßiges und Schönes Wechselbegriffe sind. Nun wollte ich mir den Kopf darüber sehr zerbrechen, wie die Idee einer überflüßigen Einrichtung für das erste überflüßige Taschenbuch am überschwenglichsten zu realisiren wäre, als ich mit Scham auf einmal mich erinnerte, daß was ich 1

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In dem Staatsrath eines großen Hofes kam vor ohngefähr sechs Jahren die Frage in Anregung, ob ein Schriftsteller zu Geschäften tauge? Die Mehrheit der Stimmen war verneinend. Man begreift nicht, wie der Minister, der bey dieser Gelegenheit am eifrigsten sprach, sogar auch F r i e d r i c h d e n Z w e y t e n ver- 35 gessen konnte – wie ihm unter den Neuern auch nicht einmal Richelieu, Grotius, Temple, Swift – unter den Alten Archytas, Mark Aurel, Cicero, Cäsar, die beyden Plinius einfielen.

15 andern] andern,

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suchen wollte, längst gefunden sey. Aber Freude überwog hier zum zweytenmal die Scham, und sie kam mir diesmal rein aus dem Herzen; denn du, mein lieber Aeltester, warst der Finder. Du hast gleich bey der Entstehung deines Taschenbuches seine Bestimmung, das erste überflüßige zu werden, geahndet, und es dazu präformirt; in|dem du die r e i n e Eintheilung des Inhalts nach den vier Jahreszeiten, und daß ein jeder Monath ein Beliebiges darreichen sollte, beschlossest. Du schriebst mir damals, es wäre a u f Anrathen des Publikums geschehen, und ich glaubte dir ehrlich, weil ich das allgemeine Wohlgefallen an dieser Einrichtung sah. Jedermann fand sie natürlich, und höchst gefällig, wegen der bequemen Ruhepunkte, die sie dem Leser anböte. Nur einmal hörte ich einen deiner Neider sagen: er möchte für solche m a r o d e | Leser, die solcherley Ruhepunkte bedürften, weder schreiben noch sammeln. Man weiß wie man dergleichen zu nehmen hat. Lasse du sie nicht fahren. Ich schlage nur die einzige Aenderung vor, daß in Zukunft nicht mehr j e d e r M o n a t h Beliebiges darreiche. Es ist eine kleine Mühe für den Leser, der die Monathe neben den Beyträgen sehr vermißt, sie hinzu zu setzen, und er nimmt dann, wo es in der einen oder anderen Jahrszeit sich ergiebt, daß Ein Monath zwey Beyträge darzureichen habe, das doppelte von demjenigen an, von dem er glaubt, daß er das mehrste Herz zu ihm habe. Die Leute im Franzosen-Lande genießen dabey zugleich den Vortheil, ihre eigenen Monathe beyschreiben zu können, und du entgehst der Gefahr, daß dein Taschenbuch dort we|gen der alten Monathsnamen verdächtig, wohl gar verboten werde durch ein eigenes Gesetz. Die Jahrszahl streicht man leicht aus und schreibt: Ueberflüßiges Taschenbuch überhaupt, oder – für das g e g e nwärtige Jahr. Dieser Einrichtung gemäß hast du von mir für das folgende Jahr, 1801, zu erwarten: Vier Sammlungen überflüßiger Gedanken – Aesthetische für den | Frühling; Skeptische und vielleicht transscendental-populäre für den Sommer; Politische für den Herbst, und Moralische für den Winter. Leztere hoffe ich nach der Idee einer Unglückseligkeitslehre zu bekommen, womit ich schwanger gehe. – Die Leser mögen dann jede Sammlung wieder vertheilen

6 präformirt;] präformirt, 15 weiß] weiß,

11 natürlich, … gefällig,] natürlich … gefällig

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nach Monathen. Ich verspreche wenigstens drey Gedanken für jede Jahrszeit. In der Folge können zur Abwechslung, anstatt der vier Jahrszeiten, die vier Welttheile genommen werden, oder die vier Climate. Letzteres wird den Vortheil haben, daß dadurch das Taschenbuch in zwey Theile zerfällt, und eine nördliche und südliche Hälfte bekommt. Jede Hälfte zerfällt dann wieder in drey Theile, welches die Mannichfaltigkeit vergrößert, die Ruhepunkte vermehrt, einen reicheren Plan giebt, und den Abgang der Monathe den Misvergnügten | gewissermaßen ersezt. Diese wirkliche Verbesserung kann füglich noch einige Jahre aufgeschoben bleiben, und ich bitte, daß du sie aufgeschoben seyn lassest, wenigstens bis zum An trois des überflüßigen Taschenbuchs. Für das An deux liefere ich ein für allemal nicht mehr denn v i e r Sammlungen von überflüßigen | Gedanken, und zwar i n B e z i e h u n g a u f d i e J a h r s z e i t e n . Daß eingetheilt sey, ist die Sache; Zahl und Name sind ziemlich gleichgültig; das sehen wir am Herodot, der seine Geschichtsbücher nach den Musen gezählt und benannt hat. Warum solltest du nicht Aehnliches dürfen? Willfährst du mir, und wirst nicht ungetreu den vier Jahrszeiten für die Welttheile oder die Climate, so halte ich an meiner Seite Wort, so gewiß ich heiße Friedrich Heinrich Jacobi.

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JACOBI AN FICHTE (1799)

Jacobi an Fichte.

Nous sommes trop élevés à l’égard de nous mêmes, et nous ne saurions nous comprendre. Fenelon nach Augustinus.

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Hamburg bei Friedrich Perthes. 1799. 5–7 Hamburg … 1799.] (Zuerst erschienen im Herbste 1799. Hamburg bei Friedrich Perthes.)

[I1] | [12]

[III1] | [22]

»Wodurch giebt sich der Genius kund?« – Wodurch sich der Schöpfer Kund giebt in der Natur, in dem unendlichen All! Klar ist der Aether, und doch von unergründlicher Tiefe; Offen dem Aug, dem Verstand bleibt er doch ewig geheim. Goethe.

6 Goethe] S c h i l l e r

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Vorbericht.

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Ich mache den folgenden Brief, so wie ich ihn, ohne auch nur den entferntesten Gedanken zu haben, daß er je öffentlich erscheinen sollte, unmittelbar und allein für den Mann, an welchen er gerichtet ist, um mit ihm mich philosophisch aus einander zu setzen, und zufrieden wenn nur E r mich faßte und nicht mißverstand, geschrieben habe, jezt, mit deßelben Bewilligung gemein, unter andern aus dem Grunde, weil ich für beßer halte, daß er in einer zuverläßigen Ausgabe, als in unzuverläßigen Gerüchten oder flüchtigen Abschriften herum gehe. Da Niemand durch die öffentliche Erscheinung dieses Briefes ihn zu lesen genöthiget wird; so erwarte ich von der Billigkeit freywilliger Leser, daß sie mit ihm, so wie er ist, vorlieb nehmen, und nicht verlangen werden: ich hätte ihn entweder mit | Absicht vornehmlich auf das Publikum gleich | zu Anfang entwerfen, oder wenigstens jezt, vor der Herausgabe, zu etwas beßerem umarbeiten sollen. – Durch eine solche Umarbeitung wäre ein neues ganz verschiedenes Werk entstanden, und das sollte nicht seyn. Es blieb mir daher nichts übrig, als durch Anmerkungen und Beylagen einiger Maßen nachzuhelfen, welches ich gethan habe. Was mich bey der Herausgabe dieser Schrift am mehrsten beunruhiget, sind die beyläufig in derselben vorkommenden, sorglos hingeworfenen, obgleich nicht unerwogenen Urtheile über unseren großen Königsberger – seine Moralphilosophie und Theologie. Die nähere Bestimmung dieser Urtheile, und ihre ausführliche Rechtfertigung, findet sich in einer anderen Schrift, die ich so bald wie möglich erscheinen zu laßen mich hiemit verbinde, und nun selbst gedrungen fühle. Es würde mir wehe thun, wenn man unterdeßen das hier befindliche, z. B. die Stelle, wo ich K a n t , in Absicht der Transscendental-Philosophie, n u r d e n V o r l ä u f e r von Fichte nenne, anders verstehen und auslegen wollte, als es ihre Stellung, Ton und Zusammenhang mit | sich bringen. In dem

10 flüchtigen Abschriften herum gehe] aus dem Gedächtniß gemachten Auszügen umlaufe 19–20 seyn. Es … habe.] seyn. 28 fühle.] fühle. Fußnote: 35 S. die Abhandlung über das Unternehmen des Kriticismus u. s. w.

[V1] | [32]

VI1 42

VII1

192 52

VIII1 62

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gegenwärtigen Fall, ist der | Vorläufer offenbar der Vornehmere. Fichte selbst hat sich hierüber, wie ein edler Mann, schön und nachdrücklich erklärt, und eher zu viel als zu wenig Bescheidenheit bewiesen.1 Mir aber stellt | sich diese Sache in noch einem anderen Lichte dar. Da ich nehmlich das Bewußtseyn des Nichtwißens für das H ö c h s t e im Menschen, und den Ort dieses Be|wustseyns für den der Wißenschaft unzugänglichen Ort des W a h r e n halte; so muß es mir an K a n t gefallen, daß er sich lieber am System als an der Majestät dieses Orts versündigen wollte. F i c h t e versündiget sich an ihr, nach meinem Urtheil, W e n n er in den Bezirk der Wißenschaft diesen Ort einschließen, und von dem Standpunkte der Speculation, als dem angeblich höchsten, als dem Standpunkt d e r W a h r h e i t s e l b s t , auf ihn will herab sehen laßen. – Aber Kant, wenn er nicht daßelbe thut, wird Fichte sagen, ist inconsequent und bleibt auf halbem Wege stehen. – Das gebe ich zu, und hatte diese Bemerkung schon vor zwölf Jahren gemacht. Ist aber nicht auch Fichte inconsequent? – Man hat seine Philosophie des Atheismus beschuldigt, mit Unrecht, weil Transscendentalphilosophie, als solche, so wenig atheistisch seyn kann, als es Geometrie und Arithmetik seyn können. Nur kann sie, aus demselben Grunde, auch schlechterdings nicht Thei|stisch seyn. Wollte sie Theistisch seyn, und zwar ausschließend, so würde sie athei-

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In der Vorrede zu der Schrift U e b e r d e n B e g r i f f d e r W i ß e n s c h a f t slehre S. V. wo er sagt: »der Verfaßer ist bis jezt innig überzeugt, daß kein menschlicher Verstand weiter, als bis zu der Grenze vordringen könne, an der 25 Kant, besonders in seiner Kritik der Urtheilskraft gestanden, die er uns aber nie bestimmt, und als die lezte Grenze des endlichen Wißens angegeben hat. Er weiß es, daß er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon K a n t unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler gedeutet habe. Er überläßt es den zukünftigen Zeitaltern das Genie des Mannes zu ergründen, der von dem Stand- 30 punkte aus, auf welchem er die philosophierende Urtheilskraft fand, oft wie durch höhere Eingebung geleitet, sie so gewaltig gegen ihr leztes Ziel hinriß. – Er ist eben so innig überzeugt, daß nach dem genialischen Geiste K a n t s der Philosophie kein höheres Geschenk gemacht werden konnte, als durch den systematischen Geist Reinholds. … Er hält es wahrhaftig nicht für persönliches Ver- 35 dienst, durch einen glücklichen Zufall nach vortrefflichen Arbeitern an die Arbeit gerufen zu werden; und er weiß, daß alles Verdienst, was etwa hierin statt finden könnte, nicht auf dem Glück des Findens, sondern auf der Redlichkeit des Suchens beruht, über welche jeder nur sich selbst richten und belohnen kann.« 5 Da] J: vor der hier beginnenden Zeile zwei kurze Striche 16 gemacht.] gemacht. 40 Fußnote: S. die Beilage zu dem Gespräch über Idealismus und Realismus. 20 und] u. 22 und] u. 30 Zeitaltern] Zeitaltern,

Vorbericht

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stisch, | oder gewönne wenigstens ein solches Ansehn, indem sie zeigte, wie auch G o t t auf der That des a n s i c h N i c h t D a s e y n s erhascht, dadurch allein philosophisch geltend, ja überhaupt zu einem R e a l e n werde. Warum dann machte Fichte ihr den Nahmen als w o l l t e sie und k ö n n t e ? Warum hütete er sich nicht sorgfältiger vor dem Anschein, als sollte durch Transscendentalphilosophie ein neuer e i n z i g e r Theismus eingeführt, und durch ihn jener alte der natürlichen Vernunft, als durchaus ungereimt vertrieben werden? Ganz ohne Noth hat er sich und seine Philosophie dadurch in ein übles Gerücht gebracht. Daß sie von Gott nichts wiße gereichte der Transscendentalphilosophie zu keinem Vorwurf, da es allgemein anerkannt ist: Gott könne nicht g ewußt, sondern nur g e g l a u b t werden. Ein Gott, der g e w u ß t werden könnte, wäre gar kein Gott. Ein n u r k ü n s t l i c h e r Glaube an Ihn ist aber auch ein unmö glicher Glaube; denn er hebt, in sofern er b l o s k ü n s t l i c h s e y n w i l l – oder bloß wißenschaftlich, | oder r e i n vernünftig – den natürlichen Glauben, und so mit, sich selbst, als G la u b e n ; folglich den ganzen Theismus auf. – Ich verweise auf Reinholds S e n d s c h r e i b e n a n F i c h t e . 1 Auf ihn, den R e i n - und H o l d e n , den um der Wahrheit willen sich selbst und alles muthig Verläugnenden, verweise ich auch hier schon im voraus, wenn ich wegen der folgenden Schrift auf die Eine oder die Andere Weise sollte angefochten werden. – Du mußt, lieber Freund und Bruder, dann vor den Riß treten, mußt auf Deinen Schultern den ä l t e r e n Gefährten aus dem Streitgewühl tragen, wie ehmals Sokrates den jüngeren. Hätte ich mich hervorgewagt diesmal ohne Deine Ermunterung, Dein wiederholtes Zureden? – »Ich sollte, ich müßte – Auf Deine Verantwortung und Gefahr!« – – So siehe nun zu wie Du es bestehest! – Von diesem Augenblick an ist diese Schrift nicht mehr meine Sache und Eigenthum, sondern Deines. F. H. Jacobi. |

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Siehe Sendschreiben an Lavater und Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg bey Perthes. 1799. 35 4 dann] denn

11 wiße] wisse, 15 Glaube] Glaube 17 vernünftig] speculativ 18 Theismus] Theismus, 19 an Fichte. mit Fußnote] an | L a v a t e r 82 und Fichte über den Glauben an Gott. (Hamburg bei Perthes 1799.) 26 ehmals Sokrates] Sokrates ehmals 29 zu] zu, 33–34 Siehe … 1799. fehlt; siehe Notiz zu 19

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Eutin den 3ten März 1799. Heute, mein verehrungswürdiger Freund, geht die sechste Woche an, seit ich auf einen heitern Tag in meinem Inneren, um an Sie zu schreiben, ungeduldig und vergeblich warte; und heute, da ich unfähiger dazu bin, als an keinem der vorhergegangenen, setze ich die Feder mit dem festen Vorsatz an, sie nicht eher niederzulegen, bis ich ausgeschrieben habe. Was ich mir vorsetze mit diesem Vorsatz, den ich aus Verzweiflung faße, weiß ich selbst nicht; er ist aber darum nur desto angemeßener meiner Unphilosophie, die ihr Wesen hat im N i c h t -Wißen; wie Ihre Philosophie, allein im W i ß e n ; weswegen diese auch, nach meiner innigsten Ueberzeugung, Philosophie im strengeren Verstande, allein genannt zu werden verdient. Ich sage es bey jeder Gelegenheit, und bin bereit | es öffentlich zu bekennen, daß ich Sie für den wahren Meßias der speculativen Vernunft, den echten | Sohn der Verheißung einer d u r c haus reinen, i n und d u r c h sich selbst bestehenden Philosophie halte. Unleugbar ist es Geist der speculativen Philosophie, und hat darum von Anbeginn ihr unabläßiges Bestreben seyn müßen, die dem natürlichen Menschen g l e i c h e Gewißheit dieser zwey Sätze: Ich bin, und es sind Dinge außer mir, u n g l e i c h zu machen. Sie mußte suchen den Einen dieser Sätze dem andern zu unterwerfen; jenen aus diesem oder diesen aus jenem – zulezt vollständig – herzuleiten, damit nur Ein Wesen und nur Eine Wahrheit werde unter ihrem Auge, dem Allsehenden! Gelang es der Speculation diese Einheit hervorzubringen, indem sie das Ungleichmachen so lange fortsezte, bis aus der Zerstörung jener natürlichen eine andere künstliche Gleichheit deßelben im gewißen Wißen einmal offenbar vorhandenen I c h und Nicht-Ich entsprang – e i n e g a n z n e u e C r e a t u r , die ihr durchaus angehörte! – Gelang ihr dieses: so konnte es ihr alsdann auch wohl gelingen, eine vollständige Wißenschaft des Wahren alleinthätig aus sich hervorzubringen. | Auf diese Weise haben die zwey Hauptwege: Materialismus und Idealismus; der Versuch, alles aus | einer sich selbst bestimmenden Materie allein, oder allein aus einer sich selbst bestimmenden Intelligenz zu erklären, daßelbe Ziel; ihre Richtung gegen einander ist keinesweges divergirend, sondern allmählig annäherend bis zur

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endlichen Berührung. Der speculative, seine Metaphysik ausarbeitende Materialismus, muß zulezt sich von selbst in Idealismus verklären; denn außer dem Dualismus ist nur Egoismus, als Anfang oder als Ende – für die Denkkraft, die ausdenkt. Wenig fehlte, so wäre eine solche Verklärung des Materialismus in Idealismus schon durch Spinoza zu Stande gekommen. Seine dem ausgedehnten wie dem denkenden Wesen auf gleiche Weise zum Grunde liegende, beyde unzertrennlich verbindende Substanz, ist nichts anders als die unanschaubare, nur durch Schlüße zu bewährende absolute Identität selbst des Objects und Subjects, auf welche das System der neuen Philosophie, d e r u n a b h ä n g i g e n Philosophie der Intelligenz, gegründet ist. Sonderbar, daß ihm nie der Gedanke entstand, seinen philosophischen Cubus einmal umzustellen; die oberste Seite, die Seite des D e n k e n s , | die Er die Objective – zu der untersten, | die er die subjective, F o rmelle nannte, zu machen, und dann zu untersuchen, ob sein Cubus auch noch Daßelbe, ihm die einzige wahre philosophische Gestalt der Sache bliebe. Unfehlbar hätte sich ihm bey diesem Versuch unter den Händen alles verwandelt; das Cubische, was ihm bisher Substanz gewesen: die E i n e Materie zweyer ganz verschiedener Wesen – wäre vor seinen Augen verschwunden; und aufgelodert wäre dafür eine reine, allein aus sich selbst brennende, keiner S t ä t t e , wie keines n ä h r e n d e n S t o f f s bedürfende Flamme: Transscendentaler Idealismus! Ich wählte dieses Bild, weil ich durch die Vorstellung eines umgekehrten Spinozismus meinen Eingang in die Wißenschaftslehre zuerst gefunden habe. Und noch immer ist ihre Darstellung in mir, die Darstellung eines Materialismus ohne Materie, oder einer Mathesis pura, worin das rein- und leere Bewußtseyn den mathematischen Raum vorstellt. Wie die reine Mathematik, das Ziehen einer geraden Linie (Bewegung also, mit allem was dieser Begriff voraussezt und mit sich führt) – und die Construction eines Cirkels (Maassgebung, Fläche, Figur – Qualität, | Quan|tität u.s.w.) – voraussetzend, mathematische C ö r p e r , dann eine ganze Welt aus Nichts zu erschaffen in Gedanken vermag, brauche ich nicht erst darzulegen. – Also nur derjenige, der unwißend und abgeschmackt genug wäre, Geometrie und Arithmetik zu ver1 Berührung] Berührung und Durchdringung 5–6 Materialismus in Idealismus] Materialismus 30 Mathematik,] Mathematik

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achten; jene, weil sie keine Substanzen; diese, weil sie keine Zahlenbedeutung, das Werth seyende nicht hervorbringt; nur ein solcher möchte auch Transscendentalphilosophie verachten. Ich verlange und erwarte von F i c h t e , daß er mich aus Winken verstehe; das n i c h t flüchtig Gedachte aus flüchtigen Worten, Zügen und hingeworfenen Bildern. Dürfte ich das nicht, was für ein Buch müßte ich schreiben? und nie in meinem Leben schriebe ich ein solches Buch! Und so fahre ich denn fort, und rufe zuerst, eifriger und lauter, Sie noch einmal unter den Juden der speculativen Vernunft für ihren König aus; drohe den Halsstarrigen es an, Sie dafür zu erkennen, den Königsberger Täufer aber nur als Ihren Vorläufer anzunehmen. Das Zeichen, welches Sie gegeben haben, ist die Vereinigung des Materialismus und Idealis|mus zu Einem | untheilbaren Wesen – ein Zeichen, nicht ganz unähnlich jenem des Propheten Jonas. Wie, vor Achtzehnhundert Jahren die Juden in Palästina den Meßias, nach welchem sie so lange sich gesehnt, bey seiner wirklichen Erscheinung verwarfen, weil er nicht mit sich brachte, woran sie ihn erkennen wollten; weil er lehrte: es gelte weder Beschneidung noch Vorhaut, sondern eine neue Creatur: so haben auch Sie ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Aergernißes denen werden müßen, die ich Juden der speculativen Vernunft heiße. Nur Einer bekannte sich öffentlich und aufrichtig zu Ihnen, ein Israelite in dem kein Falsch ist, Nathanael Reinhold. Wäre ich sein Freund nicht schon gewesen, ich wäre es damals geworden. Auch ist seitdem noch eine ganz andere Freundschaft, als bis dahin war, unter uns entstanden. Ich bin ein Nathanael nur unter den H e i d e n . Wie ich nicht zum alten Bunde gehörte, sondern in der Vorhaut blieb, so enthalte ich mich auch des neuen, aus derselben Unfähigkeit oder Verstokkung. Wirklich hat ein überschwenglicher Jünger Ihrer Lehre, und mein Seelsorger, den Nagel, wie man zu sagen pflegt, auf den Kopf getroffen, da er mir den Mangel des blos | logischen

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2 seyende] s e y e n d e , 17 Wie,] Wie 32–198,3 Wirklich … Alleinphilo- 35 sophie] Es soll mir, nach dem Urtheil eines Vornehmen unter Ihren Jüngern, diese Unfähigkeit oder Verstockung daher kommen, daß ich des b l o s l o g ischen En|thusiasmus entbehre, des Allein-Geistes der A l l e i n -Philosophie. Scharfsinnig genug! Entgangen aber ist dem Scharfsinnigen, welcherge40 stalt die A l l e i n -Philosophie

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En|thusiasmus vorwarf, w e l c h e r d e r A l l e i ngeist der Alleinphilosophie wäre, so wie er ehmals in S o k r a t e s das eigentlich Sokratische gewesen.1 Er hat vollkommen recht, | indem er sagt, es sey nur ein betrüglicher Schein, wenn ich zu den Alleinphilosophen zu gehören, und auch die Lehre vom categorischen Imperativ anzunehmen, in meinen Schriften hie und da das Ansehn hätte: ich wäre überall im Grunde u n r e i n . Ueberhaupt hat unser respective Jünger und Seelsorger meine Individualität von dieser Seite gut gefaßt, und mit Wahrheit behauptet, daß ich nur ein g e b o r n e r Philosoph und ein zufälliger Schriftsteller sey, unfähig irgendwo, geschweige ü b e r a l l , die Gestalt allein zur Sache zu machen, wie es seyn s o l l t e , weil dieses M a c h e n selbst alles in allem, und außer ihm N i c h t s sey.2 | 1

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Dieses Urtheil ist von Herrn N i c o l a i in seiner neuesten Schrift, worin er,

15 nothgedrungen, E i n m a h l – E n d l i c h , von Sich selbst reden und beynah sich

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loben muß, bestätigt, und dem Verfaßer der Briefe über die Lehre des Spinoza vorgeworfen worden (s. Meine [Herrn Nikolais] gelehrte Bildung S. 42.) »daß er keinen Sinn dafür zu haben scheine, Untersuchungen blos um des Untersuchens willen anzustellen:« Ein dem so rein und durch und durch gymnastischen, »in der Mitte zwischen pro und contra stark gewordenen Geiste Nikolais,« höchst anstößiges Gebrechen! Uneigennützig in Absicht der Wahrheit, verschmäht er ihre Beute, wenigstens die speculative, und ehret, r e i n philosophisch, nur die athletische Constitution, die man im Ringen ewig b l o s u m d i e W a h r h e i t h e r u m gewinnt. Aufrichtig unterschreibe ich das über mich gefällte Urtheil dieser zwey gleich vortreflichen, in Absicht der Wahrheit gleich uneigennützigen, gleich billigen und bescheidenen – E n t h u s i a s t e n d e s b l o s l o g i s c h e n E n t h u s i a smus, als gerecht. Mit meiner eigennützigen Gemüthsart in Absicht des Wahren geht es wohl noch weiter als sie dachten. Manches neue darüber entdeckt der Brief an Fichte. Ich will es aber, um mein Gewißen zu reinigen, künftig noch mehr an den Tag | bringen, mich noch ganz blos geben, im Angesicht der Welt, 81 mit meinem Mangel an philosophischer Virtuosität, vor jenen echten Virtuosen und weisen Meistern. 2 s. das Journal Deutschland, Einziger Jahrgang, und im 2ten und 8ten Stück deßelben, (wenn ich recht behalten habe) die Verurtheilungen der z u f ä lligen Ergießungen und des Woldemar. Da ich mich durch die öffentliche Bekanntmachung meines Briefes an Fichte gezwungen sehe, auf diese mich so sehr demüthigenden Strafreden, S e l b s t zu verweisen, so darf ich wenigstens nicht unterlaßen, den nachschlagenden Leser auf Gewißen und Ehre zu versichern, daß der Persönliche Stoff dieser kritischen Kunstwerke (das g e h e i m Historische darin) aus der productiven Einbildungskraft des | Verfassers allein 91 genommen ist. Auch bey den Citaten war sie durchgängig im Spiele. Diese U n 14–33 Dieses Urtheil … Meistern. fehlt Lucinde. fehlt

34–198,37 s. das Journal …

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Begriffen aber hat der Ueberschwengliche nicht, hat nicht von weitem nur zu ahnden vermocht, welcher Gestalt die Alleinphilosophie und meine Unphilosophie, durch den höchsten Grad der Antipathie mit einander in Berührung kommen, und im Moment der Berührung sich gewißermaßen durchdringen. Sie, mein Freund, haben dieses gefühlt, wie ich es gefühlt habe; Sie haben mich für den erkannt, der an der Thür Ihres Hörsaals, lange bevor er geöfnet wurde, Sie erwartend stand und Weißagungen redete. Jezt nehme ich in diesem Hörsaal, als ein privilegierter Ketzer, und im voraus von jedem Bannfluch ausgenommen, der mich in C a t egorien treffen könnte, einen ausgezeichneten Platz ein; ich darf, weil meine eigentliche wahre Meinung dem coge intrare der Wißenschaft offenbar mehr | Vorschub als Abbruch thut, von meinem Seßel sogar eigene Vorträge in Nebenstunden halten. Beyde nur im Geiste lebend, und redliche Forscher auf jede Gefahr, sind wir daneben, denke ich, auch noch über den Begriff der Wißenschaft einverstanden genug; daß sie nehmlich – die Wißenschaft als solche – in dem Selbsthervorbringen ihres Gegenstandes bestehe; nichts | anders sey, als dieses i n G e d a n k e n Hervorbringen selbst; daß also der Inhalt jeder Wißenschaft, a l s s o lcher, nur ein inneres Handeln sey, und die n o t h w e n d i g e A r t u n d W e i s e dieses i n s i c h f r e y e n Handelns, ihr ganzes Wesen ausmache. Jede Wißenschaft, sage ich, wie Sie, ist ein O b j e c t Subject, nach dem Urbilde des I c h , welches I c h allein Wißenschaft a n s i c h , und dadurch Princip und Auflösungsmittel aller Erkenntnißgegenstände, das Vermögen ihrer Destruction und Construction, i n b l o ß w i ß e n s c h a f t l i c h e r A b s i c h t , ist. In Allem und aus Allem sucht der Menschliche Geist nur sich selbst, Begriffe bildend, wieder hervor; strebend und widerstrebend; unaufhörlich vom augenblicklichen bedingten Daseyn, das ihn gleichsam verschlingen will, sich losreißend, um sein Selbst- und

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wahrheiten, wenn man es so nennen will, sind zufällig aus der poetisch philosophischen Methode: Erst den Schriftsteller aus dem M e n s c h e n ; a l s d a n n wieder den Menschen aus dem Schriftsteller herzuleiten, entsprungen; also keine vorsetzliche Verläumdungen und Lügen. Diese abgerechnet ist alles 35 andere vortreflich, und verkündigte schon damals in seinem Urheber, was heute erschienen ist: das Meisterwerk L u c i n d e .

3 Unphilosophie,] Unphilosophie über 19 bestehe;] bestehe, und

16 wir daneben] wir

auch noch über]

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in-sich-seyn zu retten, es alleinthätig und mit Freyheit | fortzusetzen. Diese Thätigkeit der Intelligenz ist in ihr eine nothwendige Thätigkeit; sie ist nicht, wo diese Thätigkeit nicht ist. – Es wäre also die größte Thorheit, bey dieser Einsicht, die Begierde nach Wißenschaft in sich oder anderen hemmen zu wollen; die größte Thorheit, zu glauben, man könne das Philosophieren auch wohl übertreiben. Das | Philosophieren übertreiben, hieße – die B esinnung übertreiben. Beyde wollen wir also, mit ähnlichem Ernst und Eifer, daß die Wißenschaft des Wißens – welche in allen Wißenschaften das Eine; die Welt-Seele in der Erkenntniß-Welt ist – vollkommen werde: nur mit dem Unterschiede: daß S i e es wollen, damit sich der Grund aller Wahrheit, als in der Wißenschaft des Wißens liegend zeige; i c h , damit offenbar werde, dieser Grund: das W a h r e selbst, sey nothwendig a u ß e r ihr vorhanden. Meine Absicht ist aber der Ihrigen auf keine Art im Wege, so wie Ihre nicht der meinen, weil ich zwischen Wahrheit und dem W a h r e n unterscheide. Sie – nehmen von dem, was ich mit dem Wahren meyne, keine Notiz, und d ü r f e n , als Wißenschaftslehrer, keine davon nehmen – auch nach m e i n e m Urtheil. |

Am 6ten März.

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27 Ihnen] den Entschluß, Ihnen 200,7 ist. Mein … Unwesen.] ist. Es sey drum!

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Wenn ich mir Wort halten, und den Vorsaz ausführen soll, Feder, Hand und Augen nicht eher geflißentlich zu etwas anderem zu gebrauchen, bis ich dieses | Schreiben zu Ende gebracht habe; so muß ich einen z w e y t e n verwegenen Entschluß faßen, diesen nehmlich: noch rhapsodischer, noch mehr im HeuschreckenGange meinen Weg fortzusetzen; Ihnen nichts als Stückwerk von Gedankenverbindungen vorzulegen, aus denen Sie meinen Verstand und Unverstand so gut herauslesen mögen, als es thunlich ist. Mein körperliches Befinden, meine ganze gegenwärtige Lage, laßen mir nur die Wahl, entweder das Schreiben an Sie auf Gott weiß wie lange zu verschieben, oder mir auf die gesagte Weise zu helfen. – Mich preis zu geben; mich Ihnen darzustellen, ganz so

35 20 Urtheil.] Urtheil. / Spiegelstrich

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wie ich bin, damit Sie von Grund aus wüßten, was Sie an mir hätten, war meine Absicht; aber ungern erscheine ich, da ich in meinem ganzen Vermögen so wenig bin, vor dem Manne von b e yspielloser Denkkraft, und mit jeder andern Geistesgabe in so hohem Grade ausgerüstet, – ungern erscheine ich vor diesem Gewaltigen | so ohnmächtig, von mir selbst nur ein Schatten. – Doch es sey darum! – Ich beginne mein Unwesen.

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Das Geheimniß der Identität und Verschiedenheit zwischen Fichte und mir, unserer philosophischen Sympathie und Antipathie, müßte, deucht mir, jedem offenbar werden, der nur die einzige Epistel an Erhard O., hinter Allwills Briefsammlung, recht zu lesen und sie durchaus zu verstehen sich bemühen wollte.

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Ich kann mich dergestalt auf Fichtens Standpunkt versetzen, und mich darauf intellectuell isoliren, daß ich mich fast schäme anderer Meynung zu seyn, und kaum meine Einwürfe wider sein System vor mir selbst aussprechen mag. Ich kann aber auch auf meinem ent|gegengesezten Standpunkt eine solche Schwerkraft, Festigkeit und Haltung fühlen, daß ich mich an ihm ärgere, und, fast zornig über sein künstliches Von-Sinnen-Kommen, wodurch ich, seinem Beyspiele folgend, von meinem natürlichen Wahn-Sinn mich befreyen soll, ihm aus Ungeduld – nicht den Sparren | zu viel, sondern das O d e r deßelben, den Sparren zu wenig, herzhaft an den Hals werfe. Ich beklage mich nicht, wenn Fichte mir dagegen den Sparren z u v i e l an den K o p f wirft.

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Eine r e i n e , das ist, durchaus immanente Philosophie; eine Philosophie aus E i n e m Stück; ein wahrhaftes Vernunft-System, 20 Von-Sinnen-Kommen] so DvD2; D1: von-Sinnen-Kommen

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ist auf die Fichtische Weise allein möglich. Offenbar muß alles in und durch Vernunft, im Ich als Ich, in der I c h h e i t allein gegeben und in ihr schon enthalten seyn, wenn reine Vernunft allein, aus sich allein, soll alles herleiten können.

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Von Vernunft ist die Wurzel, Vernehmen. – Reine Vernunft ist ein Vernehmen, das n u r sich selbst | vernimmt. Oder: die Reine Vernunft vernimmt nur sich. Das Philosophieren der reinen Vernunft muß also ein chemischer Proceß seyn, wodurch alles außer ihr in Nichts verwandelt wird, und sie allein übrig läßt – einen so reinen Geist, daß er, in dieser seiner Reinheit, | selbst nicht s e y n , sondern nur alles hervorbringen kann; dieses aber wieder in einer solchen Reinheit, daß es ebenfalls selbst nicht s e y n , sondern nur als im Hervorbringen des Geistes vorhanden, angeschaut werden kann: das Gesamte eine bloße That-That.

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Alle Menschen, in sofern sie überhaupt nach Erkenntniß streben, setzen sich, ohne es zu wißen, jene reine Philosophie zum lezten Ziele; denn der Mensch erkennt nur indem er begreift; und er begreift nur indem er – Sache in bloße Gestalt verwandelnd – Gestalt zur Sache, Sache zu Nichts macht. Deutlicher! Wir begreifen eine Sache nur in sofern wir sie construiren, in Gedanken vor uns entstehen, w e r d e n laßen können. In sofern wir sie nicht construiren, in | Gedanken nicht selbst hervorbringen können, begreifen wir sie nicht. (Br. über Spinoza S. 402–404. vornemlich die Note S. 419–420.)1 Wenn daher ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll, so müßen wir es | o b j e c t i v – als für sich bestehend – in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus 1

s. Beylage I.

25–26 nicht. (Br. … 420.) mit Fußnote] nicht.

30 s. Beylage I. fehlt

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subjectiv, unser eigenes Geschöpf – e i n b l o ß e s Schema – werden zu laßen. Es darf nichts in ihm bleiben und einen wesentlichen Theil seines Begriffs ausmachen, was nicht unsere Handlung, j e z t eine bloße Darstellung unserer productiven Einbildungskraft wäre. Der Menschliche Geist also, da sein philosophischer Verstand schlechterdings nicht über sein eigenes Hervorbringen hinausreicht, muß, um in das Reich der Wesen einzudringen, um es mit dem Gedanken zu erobern, Welt-Schöpfer, und – sein eigener Schöpfer werden. Nur in dem Maaße wie ihm das lezte gelingt, wird er in dem ersten Fortgang spüren. Aber auch sein eigener Schöpfer kann er nur unter der angegebenen allgemeinen Bedingung seyn: er muß sich dem W e s e n nach vernichten, um allein im Begriffe zu entstehen, sich zu haben: in dem Begriffe eines reinen absoluten Ausgehen und Eingehen, ursprünglich – | a u s Nichts, zu Nichts, f ü r Nichts, i n Nichts; oder dem Begriffe einer PendelBewegung, die als solche, weil sie Pendel-Bewegung ist, sich nothwendig selbst Schranken sezt i m A l l g e m e i n e n ; aber bestimmte | Schranken nur hat, als eine besondere, durch eine unbegreifliche Einschränkung.

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Eine Wißenschaft, die sich selbst, als Wißenschaft allein zum Gegenstande, und außer diesem keinen Inhalt hat, ist eine Wißenschaft an sich. Das Ich ist eine Wißenschaft an sich, und die Einzige: Sich Selbst weiß es, und es widerspricht seinem Begriffe, daß es außer sich selbst etwas wiße oder vernehme, u. s. w. u. s. w. … Das Ich ist also nothwendig Princip aller anderen Wißenschaften, und ein unfehlbares Menstruum, womit sie alle können aufgelöset und verflüchtiget werden in Ich, ohne irgend etwas von einem Caput mortuum – Nicht-Ich – zu hinterlaßen. – Es kann nicht

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6 philosophischer Verstand] philosophisches Verstehen 13 seyn:] seyn; 15 30 Ausgehen und Eingehen] Ausgehens und Eingehens 20 Einschränkung] Einschränkung, nach Analogie der ausdehnenden und zusammenziehenden Kraft der Materie 25 vernehme] so JDvD2; D1: vornehme

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fehlen: Wenn Ich allen Wißenschaften ihre Grundsätze giebt, daß alle Wißenschaften aus Ich müßen deduciert werden können: Können sie aus Ich allein alle deduciert werden; so müßen in und durch Ich allein auch alle construirt werden können, in sofern sie construirbar, d. i. i n s o f e r n s i e W i ß e n s c h a f t e n s i n d .

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| Aller Reflexion liegt Abstraction dergestalt zum Grunde, daß Reflexion nur durch Abstraction möglich wird. Umgekehrt verhält es sich eben so; Beyde sind unzertrennlich und im Grunde Eins, eine Handlung des Auflösens alles W e s e n s in W i ß e n ; progreßive Vernichtung (auf dem Wege der Wißenschaft) durch immer allgemeinere Begriffe. Was nun auf diese Weise i n v o l v irend vernichtet wurde, kann evolvirend auch wieder hergestellt werden: Vernichtend lernte ich erschaffen. Dadurch nehmlich, daß ich auflösend, zergliedernd, zum Nichts-Außer-Ich gelangte, zeigte sich mir, daß Alles Nichts war, außer meiner, nur auf eine gewiße Weise eingeschränkten, freyen Einbildungskraft. Aus dieser Einbildungskraft kann ich dann auch wieder hervorgehen laßen, alleinthätig, alle Wesen, wie sie waren, ehe ich sie, a l s f ü r sich bestehend, für N i c h t s erkannte.

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| In einem muthwilligen Augenblick vorigen Winter zu Hamburg, brachte ich das Resultat des Fichtischen Idealismus in ein Gleichniß. Ich wählte einen Strickstrumpf. | Um sich eine andere als die gewöhnliche empirische Vorstellung von dem Entstehen und Bestehen eines Strickstrumpfs zu machen, braucht man nur den Schluß des Gewebes aufzulösen, und es an dem Faden der Identität dieses Object-Subjects ablaufen zu laßen. Man sieht deutlich alsdenn, wie dieses Individuum, durch ein bloßes Hin- und herbewegen des Fadens, das ist, durch ein unaufhörliches Einschränken seiner Bewegung, und Verhindern,

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30 1–2 daß alle Wißenschaften aus Ich müßen] so müssen | aus Ich alle Wissen- 232

schaften

8 so;] so:

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daß er seinem S t r e b e n i n s U n e n d l i c h e h i n a u s folgte – ohne empirischen Einschlag, oder sonst eine Beymischung oder Zuthat, zur Wirklichkeit gelangte. Diesem meinem Strumpfe gebe ich Streifen, Blumen, Sonne, Mond und Sterne, alle mögliche Figuren, und erkenne: wie alles dieses nichts ist, als ein Product der, zwischen dem Ich des Fadens und dem Nicht-Ich der Dräthe schwebenden productiven Einbildungskraft der Finger. Alle diese Figuren mit dem Strumpfwesen zusammen, sind, aus dem S t a n d | p u n k t d e r W a h r h e i t betrachtet, der Alleinige nackte Faden. Es ist nichts in ihn gefloßen, weder aus den Dräthen, noch aus den Fingern; Er allein und rein ist jenes Alles, | und es ist in Allem jenen nichts außer ihm; Er ist es ganz und gar, nur – Mit s e i ne n B e w eg un ge n d e r R e fl e x i on a n den Dräthen, die er, fortsetzend, behalten hat, und dadurch zu diesem bestimmten Individuum geworden ist. Ich möchte hören, wie man diesem Strumpfwesen abstreiten wollte, daß es, mit allen seinen unendlichen Mannigfaltigkeiten doch gewiß und wahrhaft nur sein Faden; und dem Faden, daß er Allein diese unendliche Mannigfaltigkeit sey. Dieser, wie ich schon gesagt habe, braucht ja nur, die Reihe seiner Reflexionen darlegend, zu seiner Ursprünglichen Identität zurückzukehren, um es augenscheinlich zu machen, daß jene unendliche Mannigfaltigkeit, und mannigfaltige Unendlichkeit, nichts als ein leeres Weben seines Webens war, und das einzige Reale nur er selbst mit seinem H a n d e l n , a u s , i n u n d a u f s i c h s e l b s t . – Auch will er diese Rückkehr, nehmlich Befreyung von denen ihm anklebenden Banden des Nicht-|Ich; – und es ist Niemand, der es nicht wüßte und erfahren hätte, wie – Alle Strümpfe die Tendenz haben, ihre Schranken aufzuheben um die Unendlichkeit auszufüllen: | höchst unbesonnen! da sie wohl wissen können, daß es unmöglich ist, A l l e s , und zugleich E i n s u n d E t w a s zu seyn. Sollte dieses Gleichniß so unpaßend seyn, daß es in seinem Erfinder einen groben Mißverstand offenbar verriethe, so wüßte ich alsdann nicht, wie die neue Philosophie wirklich eine n e u e , und nicht blos ein veränderter Vortrag der alten i r g e n d e i n e n D u al i s m u s s o o d e r a n d e r s z u m G r u n d e l e g e n d e n Philosophie seyn wollte; sie wäre dann keine wahrhaft und aufrichtig i m m anente, keine Philosophie a u s E i n e m S t ü c k . Was in der alten 30 können] so DvD2; D1: Können

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Wahrnehmung geheißen, hieße nothwendiges Einbilden in der neuen, bedeutete im Grunde aber ganz daßelbe. Soll es a u f i r g e n d e i n e W e i s e n u r daßelbe bedeuten, so bleibt Empirie zulezt doch oben, sich zur Wißenschaft verhaltend, wie die lebendigen Glieder zu ihren künstlichen Werkzeugen. Im m e n s c hl i c h e n G e i s t e m u ß a l s d a n n e i n höherer O r t , a l s d e r O r t des wißen|schaftlichen Wißens angenommen werden, u n d e s w i r d v o n j e n e m a u f d i e s e n h e r a b g e s e h e n : »der höchste Stand|punkt der Speculation ist« d a n n n i c h t »der Standpunkt der Wahrheit.« Ich fürchte also jenen Vorwurf nicht. Viel eher kann ich mir denken, daß die neue Philosophie mein Gleichniß sich gefallen laße, und es zu ihrem Vortheil anwende. »Besinne dich, könnte sie zu mir sagen; Gehe in dich! – Was sind alle Strümpfe, und was ist alles Strümpfe tragen im Himmel und auf Erden gegen die Einsicht in ihre Entstehung; gegen die Betrachtung des Mechanismus, durch welchen sie überhaupt hervorgebracht werden; gegen das Nacherfinden im Allgemeinen und immer Allgemeineren ihrer Kunst: ein Nacherfinden, durch welches die Kunst selbst, als eigentliche K u n s t , zuerst erschaffen wird. – Spotte so viel du willst über diese reine Lust am reinen Wißen a l l e i n d e s r e i n e n W i ß e n s , die ein b l o s logischer Enthusiasmus nicht ganz unschicklich genannt worden ist: Wir läugnen nicht, daß wir in ihm selig sind, nichts mehr fragen nach Him|mel und Erde; und wenn uns auch Leib und Seele verschmachtet, es nicht achten aus jener hohen Liebe des Erkenntnißes – b l o s d e s E r k e n n e n s ; der Einsicht – b l o s d e s | E i n s ehens; des Thuns – b l o s d e s T h u n s . Spotte darüber kindisch unwißend, erbarmenswürdig, unterdeßen wir dir unwiderleglich darthun und nachweisen: – Allem Entstehen und Seyn, unten vom niedrigsten Thiere an, bis hinauf zum höchsten Heiligen und Beynah-Gott, liege nothwendig zum Grunde – ein blos logischer Enthusiasmus, das ist: Ein nur sich selbst vorhabendes und betrachtendes Handeln, blos des Handelns und Betrachtens wegen, ohne anderes Subject oder Object; ohne in, aus, für, oder zu.« Ich antworte hierauf, indem ich blos meinen Strumpf wieder vorzeige, und frage: Was es mit ihm wäre, ohne die Beziehung und 6 höherer] höherer ses] der Erkenntniß

14 könnte] dürfte 18 im] im 26–27 des Erkenntnis31–32 Beynah-Gott] B e i n a h - oder Ganz-Gott

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Absicht auf ein menschliches Bein, wodurch allein V e r s t a n d in sein Wesen kommt? Was es sey, unten vom Thiere an bis zum Heiligen hinauf, mit einem blossen Weben eines Webens? – Ich sage aus, daß meine Vernunft, mein ganzes Inwendiges auffährt, schaudert, | sich entsezt vor dieser Vorstellung; daß ich mich abwende von ihr, als von dem Gräßlichsten unter allen Gräßlichkeiten – Vernichtung anflehe, wie eine Gottheit, wider eine solche Danaiden- und Ixions-Seligkeit.

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| Unsere Wißenschaften, b l o s a l s s o l c h e , sind Spiele, welche der menschliche Geist, zeitvertreibend, sich ersinnt. Diese Spiele ersinnend, o r g a n i s i e r t e r n u r s e i n e U n w i ß e n h e i t , ohne einer Erkenntniß des Wahren, auch nur um ein Haar breit näher zu kommen. In einem gewißen Sinne entfernt er sich dadurch vielmehr von ihm, indem er bey diesem Geschäft sich über seine Unwißenheit blos zerstreut, ihren Druck nicht mehr fühlt, sogar sie lieb gewinnt, weil sie – unendlich ist; weil das Spiel, das sie mit ihm treibt, immer mannigfaltiger, ergötzender, größer, berauschender wird. Wäre das Spiel mit unserer Unwißenheit nicht unendlich, und nicht so beschaffen, daß aus jeder seiner Wendungen ein neues Spiel entstünde: so würde es uns mit der Wißenschaft, wie mit dem Nürrenberger, so genann|ten, Grillenspiel ergehen, das uns anekelt, so bald uns alle seine Gänge und mögliche Wendungen bekannt und geläufig sind. Das Spiel ist uns dadurch verdorben, daß wir es ganz verstehen, daß wir es wißen. Und so begreife ich denn nicht, wie man an wißenschaftlicher Erkenntniß genug haben, auf alle Wahrheit außer der Wißenschaftlichen Verzicht thun, und der | Einsicht, daß es keine andre

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12 Wahren,] W a h r e n 24 wißen.] wissen. Fußnote: Wegen dieser Stelle bin ich von jung und alt wiederholt und recht hart gescholten worden. Ich sollte die Wissenschaft dem Nürenberger Grillenspiel gleich gestellt haben, ungeach- 30 tet in Wahrheit das klare Gegentheil von mir geschehen war, wie jeder finden muß, der nur ein wenig zu lesen versteht. Meine wahre und wirkliche Meinung findet sich in der Schrift von den göttlichen Dingen weiter ausgeführt. Ich verweise dahin, und auf die bei der gegenwärtigen neuen Ausgabe derselben Schrift 35 hinzugefügte Anmerkung. 25–207,20 Und so … der Realität. fehlt

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Wahrheit gebe, sich erfreuen kann – w e n n man dieser Wahrheit, dem wißenschaftlichen Wißen, wie Fichte auf den Grund gekommen ist, und es eben so klar, zum wenigsten, wie ich, vor Augen hat: daß wir im rein wißenschaftlichen Wesen nur ein Spiel treiben mit leeren Zahlen – mit Zahl-Zahlen; neue Sätze ausrechnen, immer n u r z u m w e i t e r Rechnen, und es für abgeschmackt, lächerlich – erbärmlich halten müßen, nach einer Zahlen-Bedeutung, einem Zahlen-Inhalt nur zu fragen – Noch einmal, ich begreife ihn nicht, den Jubel über die Entdeckung, daß es nur Wahrheiten, aber nichts W a h r e s gebe; begreife nicht jene allerreinste Wahrheits-Liebe, die des W a h r e n s e l b s t nicht mehr bedarf – Göttlich Selbstgenugsam dadurch, daß sie, aus dem Betruge des Wahren, in die reine wesentliche W a h r h e i t d e s Betrugs übergegangen ist – Sie hat den Gott insgeheim vorsichtig beleuchtet – Er verschwand nicht; denn er w a r nicht. Psyche weiß nun das Geheimniß, das ihre Neugier so lange unerträglich folterte; sie weiß nun, die S e e l i g e ! Alles außer ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht einmal von | Etwas; sondern, e i n G e s p e n s t a n s i c h : ein reales Nichts; ein Nichts der Realität.

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Alle Wißenschaften sind zuerst als Mittel zu anderen Zwecken entstanden, und Philosophie im eigentlichen Verstande, M e t aphysik, ist davon nicht ausgenommen. Alle Philosophen giengen darauf aus, h i n t e r die Gestalt der Sache, das ist, zur Sache selbst; hinter die Wahrheit, das ist, zum W a h r e n zu kommen: sie wollten das Wahre w i ß e n – u n w i ß e n d , daß, wenn das Wahre menschlich g e w u ß t werden könnte, es aufhören müßte das Wahre zu | seyn, um ein bloßes Geschöpf menschlicher Erfindung, eines Ein- und Ausbildens wesenloser Einbildungen zu werden. Von dieser Unwißenheit und Anmaaßung haben uns die zwey großen Männer, K a n t und F i c h t e , befreyt; von Grund aus erst der lezte. Sie haben die h ö h e r e Mechanik des menschlichen Geistes entdeckt; im Intellectual-System d i e T h e o r i e d e r B e w egungen in widerstehenden Mitteln vollständig dargelegt,

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bildungen,

25 ist, zum W a h r e n] ist zum W a h r e n ,

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und in einer anderen Sphäre geleistet, was Huygens und Newton vormals in der ihrigen. Durch | diese neuesten Entdeckungen ist einer unnützen und verderblichen Verschwendung der menschlichen Kraft auf immer Einhalt geschehen; E i n Weg zu irren ganz abgeschnitten worden. Niemand kann von nun an mehr mit der Vernunft, verzeihlich, schwärmen; Niemand mehr hoffen, wohl endlich doch noch die w a h r e Cabbala zu finden, und mit Buchstaben und Ziffern, Wesen und lebendige Kräfte hervorzubringen. – Wahrlich eine große Wohlthat für unser Geschlecht; wenn es nicht, in die Wißenschaft seiner Unwißenheit jezt sich vergaffend, seelig seyn will, | darin allein, daß es mit beyden Augen emsig n u r n a c h d e r S p i t z e s e i n e r N a s e schielt.

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Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was v o r und a u ß e r dem Wißen ist; was dem Wißen, und dem V e r m ö g e n des Wißens, d e r V e r n u n f t , erst einen Werth giebt. Vernehmen sezt ein Vernehmbares; Vernunft das W a h r e zum voraus: sie ist das Vermögen der Voraussetzung des Wahren. Eine das Wahre nicht voraussetzende Vernunft ist ein Unding. | Mit seiner Vernunft ist dem Menschen nicht das Vermögen einer Wißenschaft des Wahren; sondern nur das Gefühl und Bewustseyn seiner Unwißenheit desselben: Ahndung des Wahren gegeben. Wo die Weisung auf das Wahre fehlt, da ist keine Vernunft. Diese Weisung; die Nöthigung, das ihr nur in Ahndung vorschwebende Wahre als ihren Gegenstand, als die lezte Absicht aller Begierde | nach Erkenntniß zu betrachten, macht das Wesen der Vernunft aus. Sie ist ausschließend auf das unter den Erscheinungen Verborgene, auf ihre Bedeutung gerichtet; auf das Seyn, welches einen Schein nur v o n s i c h g i e b t , und das wohl durchschein e n m u ß in den Erscheinungen, wenn diese nicht A n - s i c h Gespenster, Erscheinungen von Nichts seyn sollen.

5–6 der Vernunft] dem Verstande 11 will,] will 21–22 Wahren] Wahren, 23 Vernunft.] Vernunft. Fußnote: Sie fehlt den Thieren. – Die Weisung auf das Wahre ist zugleich die Weisung auf das Gute.

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Dem w a h r e n Wesen, auf welches die Vernunft ausschließend, als auf ihren l e z t e n Zweck gerichtet ist, sezt sie Wesen der Einbildungskraft contradictorisch entgegen. Sie unterscheidet nicht blos zwischen Einbildungen und Einbildungen: etwa nothwendigen und freyen – sondern a b s o l u t . Sie sezt entgegen w a h r e s Wesen dem Wesen der Einbildungskraft, wie sie das Wachen dem Träumen entgegensezt. Mit dieser | unmittelbaren, apodictischen Unterscheidung zwischen Wachen und Träumen: zwischen Einbildung und wahrem Wesen, steht oder fällt die Vernunft. Wenn der Mensch abgeschnitten wird von der, in der sinnlichen Welt, die ihn umgiebt, ausgedrückten, seine Einbildungskraft m i t G e w a l t ordnenden | Vernunft; wenn er v o n S i n n e n kommt i m T r a u m e , im F i e b e r , – Wahn-sinnig wird: so verhindert ihn nicht die ihm überall beywohnende eigene r e i n e Vernunft das ungereimteste zu denken, anzunehmen, für g e w i ß zu halten. Er kommt von Verstande und verliert seine menschliche Vernunft, so wie er v o n S i n n e n kommt; so wie das Wahr-Nehmen ihm unmöglich wird: denn seine eingeschränkte menschliche Vernunft ist lauter Wahr-Nehmung, innere oder äußere, mittelbare oder unmittelbare; aber, als vernünftige (eine schon durch den buchstäblichen Sinn des Worts gegebene Bestimmung:) – Wahrnehmung mit B e s i n n u n g und A b s i c h t ; ordnende, fortsetzende, thätige, freywillige – Ahndungsvolle. Eine nicht blos wahr-nehmende, sondern alle Wahrheit aus sich allein hervorbringende Vernunft; eine | Vernunft, welche d a s W e s e n s e l b s t d e r W a h r h e i t i s t , und in sich die V o l l k o mm e n h e i t d e s L e b e n s hat – eine solche selbstständige Vernunft, die Fülle d e s G u t e n u n d W a h r e n , muß allerdings vorhanden seyn, oder es wäre überall weder Gutes noch Wahres vorhanden; die Wurzel der Na|tur und aller Wesen wäre ein reines Nichts, und dieses große Geheimniß zu entdecken die lezte Absicht der Vernunft. So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschlichen Vernunft n i c h t die Vollkommenheit des Lebens, n i c h t die Fülle des Guten und des Wahren; und so gewiß ich dieses mit ihr n i c h t besitze, und es weiss; so gewiß weiss ich, es ist ein h öh e r e s Wesen, und ich habe in ihm meinen Ursprung. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: 21 Worts] Worts Wahrnehmung

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Ich; sondern, M e h r als Ich! B e ß e r als ich! – ein ganz A n d erer. Ich bin nicht, und ich m a g nicht seyn, wenn Er nicht ist! – Ich selbst, wahrlich! kann mein höchstes Wesen mir nicht seyn … So lehret mich meine Vernunft instinktmäßig: G o t t . Mit unwiderstehlicher Gewalt weiset das Höchste in mir auf ein Allerhöchstes über und außer mir; es zwingt mich das Unbegreifliche – | ja das im Begriff Unmögliche zu glauben, in mir und außer mir, aus Liebe, durch Liebe. | Weil die Vernunft i m Auge die Gottheit; Gott nothwendig vor Augen hat: deswegen allein halten wir sie höher als das Selbst im g e m e i n s i n n l i c h e n Verstande; und in sofern mag es denn auch Sinn haben und für Wahrheit gelten: »daß Vernunft Z w e c k ; Persönlichkeit nur M i t t e l sey.« »Gott ist,« sagt erhaben Timäus, »was überall das B e ß e r e hervorbringt.« – Der Ursprung und die Gewalt des G u t e n . Aber das Gute – Was ist es? – Ich habe keine Antwort, wenn kein Gott ist. Wie mir diese Welt der Erscheinungen, wenn sie in diesen Erscheinungen alle ihre Wahrheit, und keine tiefer liegende Bedeutung – wenn sie nichts außer ihr zu offenbaren hat, zu einem gräßlichen Gespenste wird, vor welchem ich das Bewußtseyn, worin dieser Gräuel mir entsteht, verfluche, und Vernichtung dawider, wie eine Gottheit anrufe: eben so wird mir auch alles, was ich Gut, schön und heilig nannte, zu einem meinen Geist nur zerrüttenden, das Herz mir aus dem Busen reißenden Undinge, so bald ich annehme, daß | es ohne Bezie|hung in mir auf ein höheres Wahrhaftes Wesen; nicht Gleichniß allein und Abbildung deßelben in mir ist: wenn ich überall in mir nur ein leeres Bewustseyn und Gedicht haben soll. Ich gestehe also, daß ich das a n s i c h Gute nicht kenne, sondern auch von ihm nur eine ferne A h n d u n g habe; erkläre, daß es mich empört, wenn man mir d e n W i l l e n d e r N i c h t s w i l l , diese hohle Nuß der Selbstständigkeit und Freyheit im absolut Unbestimmten, dafür aufdringen will, und mich, wenn ich ihn dafür 9 Liebe.] Liebe. Fußnote: Gott, d. i. Gottseyn, ist mir offenbar unmöglich, d. h. es stellt sich mir als etwas unmögliches dar. 14 sey.«] sey.« Fußnote: Worte Fichte’s. 22 gräßlichen] widrigen 31 Gute] G u t e , wie das a n s i c h Wahre, 31–32 sondern] daß ich

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anzunehmen widerstrebe, des Atheismus, der wahren und eigentlichen Gottlosigkeit beschuldigt. Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der, dem W i l l e n d e r Nichts will zuwider – lügen will, wie Desdemona sterbend log; lügen und betrügen will, wie der für Orest sich darstellende Pylades; morden will, wie Timoleon; Gesetz und Eid brechen wie Epaminondas, wie J o h a n n d e W i t ; Selbstmord beschließen wie Otho; Tempelraub begehen wie D a v i d – Ja, Aehren ausraufen a m S a b b a t h , auch nur darum, weil mich h u n g e r t , | und das Gesetz um des Menschen willen gemacht | ist, n i c h t d e r M e n s c h u m d e s G e s e t z e s w i l l e n . Ich bin dieser Gottlose, und spotte der Philosophie, die mich deswegen Gottlos nennt; spotte ihrer und ihres höchsten Wesens: denn mit der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich – daß das privilegium aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen; das Siegel seiner Würde, seiner Göttlichen Natur ist. | Lehret mich nicht was ich weiß, und, beßer als euch lieb seyn möchte, darzuthun verstehe: Nehmlich, daß jener W i l l e d e r

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8 begehen] unternehmen 17 Menschen;] Menschen, 18 ist.] ist. Fußnote: »Gewalt mag wirken auf das Leben, indem sie dem Menschen gewisse Uebel vorhält, ihn vom Unrecht abzuschrecken; aber das sittlich Böse selbst ist ein größeres Uebel, als diejenigen, welche die Gewalt aufzulegen vermag; und daher ist die Verpflichtung zu Redlichkeit und Menschlichkeit so vollkommen, als durch die Furcht vor einem Uebel oder die Rücksicht auf Glückseligkeit, irgend eine es werden kann. Wer über das Verhalten nachdenkt, das ihm in einem gewissen Falle geziemt, wird sich manchmal weniger stark angetrieben finden, einem Menschen das, was man sein Recht nennt, als einem Anderen Hülfe und Beistand angedeihen zu lassen. Ein Knabe lag fast nackt auf dem Grabe des Vaters, den er kürzlich verloren hatte; ihn sah ein Mann, der eben zu seinem Glaubiger gieng, eine verfallene Schuld, seiner Zusage gemäß, zu bezahlen; der Mann richtete den Knaben auf und verwandte zu desselben Besten das Geld, auf welches der Glaubiger schon wartete; | dieser war also getäuscht. Wer 392 wollte diese Handlung der Menschlichkeit mißbilligen, als hätte ihr eine strengere Verbindlichkeit widerstritten? Selbst vor den Gerichten begründet zuweilen die äußerste Noth eines Menschen die Nichtvollstreckung des Rechts eines Anderen. So wird dem, welcher in Gefahr ist zu verhungern, Antastung fremden Eigenthums zu seiner Erhaltung gestattet, und die Forderung der Menschlichkeit heiliger, als die eines unbedingten und ausschließenden Rechtes, geachtet.« Ferguson Principles of moral and political science P. II. ch. 5. sect. 1. 8 Otho;] so Dv; D1D2: Otho,

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nichts will, jene u n p e r s ö n l i c h e Persönlichkeit; jene bloße Ichheit des Ich ohne Selbst – daß, mit Einem Worte, lauter r e i n und baare Unwesenheiten nothwendig zum Grunde gelegt werden müssen, wenn – ein allgemeingültiges, streng wißenschaftliches System der Moral zu Stande kommen soll. Dem sicheren Gange der Wißenschaft zu Liebe m ü ß e t ihr – O, ihr könnt nicht anders! einem Lebendigtodten der Vernünftigkeit das Gewißen (den gewißeren Geist) unterwerfen, es blind-gesetzlich, taub, stumm und fühllos machen; müßet seine lebendige | Wurzel, die das H e r z d e s M e n | s c h e n ist, bis zur lezten Faser von ihm abreißen – Ja bey allen euern Himmeln, und so wahr Kategorien allein euch Apollo und die Musen sind, ihr müsst! Denn nur so werden unbedingt allgemeine Gesetze, Regeln o h n e A u s n a h m e , und starrer Gehorsam möglich – So allein weiß das Gewißen überall auch äußerlich gewiß, und weiset, eine hölzerne Hand, nach allen Heerstraßen unfehlbar recht – von dem Lehrstuhl aus. Aber will ich denn daß keine allgemeine, streng erwiesene Pflichtenlehre aufgestellt werde, welches nur i n und ü b e r einem reinen Vernunftsystem geschehen kann? Verkenne ich den Werth, läugne ich den Nutzen einer solchen Disciplin? Oder bestreite ich die Wahrheit und Erhabenheit des Grundsatzes, von dem die Sittenlehre der reinen Vernunft ausgeht? Keinesweges! Das Moral-Princip der Vernunft: Einstimmigkeit des M e n s c h e n m i t s i c h s e l b s t ; stete E i n h e i t – ist das Höchste im Begriffe; denn es ist diese Einheit die absolute, unveränderliche Bedingung des vernünftigen Daseyns überhaupt; folglich auch alles vernünftigen und freyen Handelns: | i n ihr und m i t ihr allein hat der | Mensch Wahrheit und höheres Leben. Aber diese Einheit selbst i s t nicht das W e s e n , i s t nicht das W a h r e . Sie selbst, in sich allein ist öde, wüst und leer. So kann ihr Gesetz auch nie das Herz des Menschen werden, und ihn über sich selbst wahrhaft erheben; und wahrhaft über sich selbst erhebt den Menschen denn doch nur sein Herz, welches das eigentliche Vermögen der Ideen – d e r n i c h t l e e r e n , ist. Dieses Herz soll Transcendentalphilosophie mir nicht aus der Brust reißen, und einen reinen Trieb a l l e i n der Ichheit an die Stelle setzen; ich laße mich nicht befreyen von 1 Persönlichkeit;] Persönlichkeit, denn,

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der Abhängigkeit der L i e b e , um allein durch H o c h m u t h selig zu werden. – Ist das höchste, worauf ich mich besinnen, was ich anschauen kann, mein leer und reines, nakt und bloßes Ich, mit seiner Selbstständigkeit und Freyheit: so ist besonnene Selbstanschauung, so ist Vernünftigkeit mir ein Fluch – Ich verwünsche mein Daseyn.

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| Hier mußte ich abbrechen, oder ein B u c h aus diesem Briefe machen wollen. Die wenigen Worte, die ich über Moralität hingeworfen habe, hätte ich | nicht gewagt, wenn ich nicht aus meinen Schriften, wenigstens nothdürftig, über sie zurecht weisen könnte. Ich erwarte also von Ihrer Freundschaft, daß Sie, um mich nicht auf eine Weise, die mich kränken würde, mißzuverstehen, in meinen Schriften nachschlagen und von neuem lesen wollen, auf meine Bitte, was ich hier anzeigen will. 1) Die Aphorismen über Nichtfreyheit und Freyheit, die ich der Vorrede zu der neuen Ausg. d. Br. über Sp. eingeschaltet habe. 2) Die Anmerkung S. XVII–XIX in der Vorrede zu A l l w i l l ; und in demselben Buche, die Seiten 295– 300. 3) Im Ersten Theile des Woldemar S. 138–141. Um dies alles zu lesen brauchen Sie kaum eine halbe Stunde; die müßen Sie mir aufopfern.1 | 1

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Da dieser Brief, wegen seiner besonderen Beziehung, wahrscheinlich manchen mit meinen Schriften unbekannten Leser finden wird, und Andere, denen wenigstens diese Schriften nicht bey der Hand sind, so habe ich, weil mir daran gelegen ist, daß man die angeführten Stellen vor sich habe, sie in einem 25 nur wenige Blätter einnehmenden A n h a n g e beygefügt. Man wird dort, als Zugabe, | auch noch einen Auszug aus einem Briefe über das Kantische Sitten- 371 gesetz finden, den ich Fichten ebenfalls beylegte, und durch deßen Bekanntmachung ich zu verhüten hoffe, daß dieser oder jener sich einbilde, ich widerspräche dem großen Königsberger auf eine Weise, wie ich ihm gar nicht 30 widerspreche; ich mißverstände ihn, oder dergl. 9–214,5 ich nicht … XXXIV.,)] nicht in meinen früheren Schriften nothdürftige Aufklärung darüber gegeben wäre. Ich erinnere Sie vornehmlich an die in die Vorrede zu der neuen Ausgabe der Briefe über die Lehre des Spinoza eingeschalteten Aphorismen über Nichtfreyheit und Freyheit. Nie habe ich begrif35 fen, wie man in Kants kategorischem Imperativ, der aus dem Triebe der mit sich selbst Uebereinstimmung so leicht zu deduciren ist, (ich verweise auf die oben angeführten Aphorismen) 21–30 Da dieser … oder dergl. fehlt 35 kategorischem] so Dv; D2: kategorischen

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Eben diese Stellen beweisen auch, daß mir das Kantische Sittengesez nie etwas anderes, als der nothwendige Trieb der Uebereinstimmung mit uns selbst, das G e s e z d e r I d e n t i t ä t gewesen ist. Ich habe nie begriffen, wie man in dem categorischen Imperativ, der so leicht zu deduciren ist (Br. ü. Sp. Vorr. S. XXXIII und XXXIV.,) etwas Geheimnißvolles und Unbegreifliches finden, und es unternehmen konnte, nachher, mit diesem Unbegreiflichen, die L ükkenbüßer der theoretischen Vernunft zu Bedingungen der R e alität der Gesetze der practischen zu machen. In keiner Philosophie habe ich für mich ein größeres Aergerniß als dieses angetroffen. Stellen Sie sich also meinen Jubel bey der Erscheinung Ihrer Schrift über die Bestimmung des Gelehrten vor, worin ich die vollkommenste Uebereinstimmung mit meinen Urtheilen über diesen Gegenstand gleich auf den ersten Blättern fand. | Aus eben diesem Grunde aber; wie nicht vorher: so habe ich auch nachher nicht diesen Identitäts-|Trieb zu meinem höchsten Wesen machen, und ihn allein lieben und anbeten können. Und so überhaupt und durchaus bin ich noch derselbe, der in den Briefen über Spinoza, von dem W u n d e r der Wahrnehmung und dem unerforschlichen Geheimniß der Freyheit ausgieng, und es wagte, auf diese Weise mit einem Salto mortale, nicht sowohl seine Philosophie zu begründen, als vielmehr seinen unphilosophischen Eigensinn, der Welt, tollkühn, vor Augen zu legen. Da ich außerhalb des Naturmechanismus nichts als Wunder, Geheimniße und Zeichen antreffe, und einen schrecklichen Abscheu vor dem Nichts, dem absolut Unbestimmten, dem d u r c h u n d d u r c h l e e r e n – (d i e s e d r e y s i n d Eins; das Platonische Unendliche!) – zumal als Gegenstand der Philosophie oder Absicht der Weisheit habe; im Ergründen des Mechanismus aber, sowohl der N a t u r d e s I c h s als des Nicht-Ichs, zu lauter Ansich-Nichts gelange, und davon dergestalt in meinem transcendentalen Wesen (persönlich, so zu sagen) angegangen, ergriffen, | und mitgenommen werde, daß ich sogar, um das Unendliche a u szu|leeren, es muß e r f ü l l e n wollen, als ein unendliches Nichts,

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16 diesen] den 27 Eins;] E i n s , 29 Absicht] H: Absicht 30–31 An- 35 sich-Nichts] H: An-sich-nichts 32 (persönlich, so zu sagen)] H: – persönlich, so zu sagen, 13 Uebereinstimmung] so DvD2; D1: Uebereinstimmung, Zeile mit Einfügungszeichen

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ein reines-ganz-und-gar-An-und-für-sich, wäre es nur nicht unmöglich!! – Da es, sage ich, so mit mir und der Wißenschaft des Wahren; oder richtiger, der w a h r e n Wißenschaft beschaffen ist: so sehe ich nicht ein, warum ich nicht, wäre es auch nur in fugam vacui, meine Philosophie des Nicht-Wißens, dem Philosophischen W i ß e n d e s N i c h t s , sollte aus Geschmack vorziehen dürfen. Ich habe ja nichts wider mich als das Nichts; und mit ihm können auch C h i m ä r e n sich wohl noch meßen. Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze – Mein Nicht-Wißen habe ich in allen meinen Schriften zur Schau getragen; ich habe mich gerühmt, unwißend zu seyn dergestalt mit Wißen, in so hohem Grade vollkommen und ausführlich, daß ich den bloßen Zweifler verachten dürfte.1 – Mit Ernst | und Inbrunst habe | ich von Kindesbeinen an nach Wahrheit gerungen wie Wenige; habe mein Unvermögen erfahren wie Wenige – und mein Herz ist milde davon geworden – O, sehr milde, mein lieber Fichte, – und meine Stimme so leise! Wie ich, als Mensch, ein tiefes Mitleiden habe mit mir selbst, so habe ichs mit Anderen. Ich bin duldsam ohne Mühe; aber daß ich es o h n e M ü h e w a h r h a f t bin, kostet mir viel. L e i c h t wird über mir die Erde seyn – in Kurzem. Mein Herz wird weich indem ich dieses schreibe. Ich möchte mich aufmachen und zu Ihnen eilen, um Auge in Auge, Brust an Brust Ihnen meine ganze Seele zu offenbaren. Dies war mein Gefühl, mein heißes Verlangen beym Lesen der von Ihrer Hand geschriebenen Zeilen unter dem gedruckten Briefe; sie bewegten mich tief. Noch tiefer bewegte, erschütterte mich die Anrede in 1

s. Allwills Br. S. 306 u. 307.

1 reines-ganz-und-gar-An-und-für-sich] H: reines ganz und gar an und Für sich – 2 unmöglich!!] H: Unmöglich! 10 wollen] H: will 12 NichtWißen] H: Nicht Wißen 19 Fichte,] H: Fichte 22–24 Kurzem. / Mein] H: Kurzem. – Mein 26 Brust] H: Brust, 27 beym] H: bey dem 28 Briefe; 30 s. Allwills … 307.] S. Th. I, S. 244. H: Fußnote fehlt 35 sie] H: Briefe. Sie 2 mit] in H folgt gestr: mit gestr. persönlich

6 aus Geschmack in H mit Einfügungszeichen über

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Ihrer Schrift. Die Hand, die Sie zutrauungsvoll faßen, antwortet Ihnen mit freundschaftlichem Druck. Und so würde es seyn wenn ich auch Ihre Lehre, gleich der Lehre des Spinoza, Atheistisch nennen müßte; ich würde Sie persönlich darum doch für keinen Atheisten, für keinen Gott|losen halten. Wer sich mit dem Geiste über die Natur, mit dem | Herzen über jede erniedrigende Begierde w i r k l i c h zu erheben weiß, der hat Gott von Angesicht gesehen, und es ist zu wenig von ihm gesagt, daß er nur an ihn glaube. Wäre nun auch die Philosophie eines Solchen, wären seine Meynungen, nach dem (ich glaube richtigen) Urtheil der natürlichen Vernunft, die einen nicht persönlichen Gott, die einen Gott der nicht ist, ein Unding nennt, Atheistisch; gäbe er auch selbst seinem System diesen Nahmen, so wäre seine Sünde doch nur ein Gedankending, eine Ungeschicklichkeit des Künstlers; des Künstlers i n B e g r i f f e n u n d W o r t e n ; ein Vergehen des Grüblers, nicht des Menschen. Nicht das W e s e n Gottes, sondern nur ein N a h m e würde von ihm geläugnet. So dachte ich von Spinoza, als ich folgende, in meiner Rechtfertigung wider Mendelssohn befindliche Stelle schrieb: »Eh proh dolor … Und sey du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus! wie du auch über die | Natur des höchsten Wesens philosophieren und in Worten dich verirren mochtest: Seine Wahrheit war in deiner Seele, und Seine Liebe war dein Leben.«1 |

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»Was ist Euer Gott, Ihr die Ihr öffentlich bekennt, es nicht genug zu wiederholen wißt: R e l i g i o n sey nur | M i t t e l ; Thoren und Schwärmer allein 25 könnten sie als Zweck betrachten? Was kann Er seyn, Euer Gott, anders als ein 1 Schrift.] H: Schrift. (– Wie ich die Lehre des Spinoza Atheistisch genannt habe, müßte ich, dazu gezwungen, auch die Ihrige so nennen. Ich wollte aber, deucht mir, öffentlich dieses sagen, und dabey Sie gleichwohl beßer vertheidigen, Ihre Verfolger unter den Theologen mehr in Verlegenheit setzen, als 30 es durch Sie selbst, den Vorwurf ablehnend, geschehen ist. Nur hätte ich in keiner Absicht die Bekanntmachung Ihres Aufsatzes im Journal, zumal in Verbindung mit dem Forbergischen, gut heißen; auf keine Weise billigen können, was mir so offenbar wider den Rath der Weisheit, im höheren (bricht ab) 7–8 hat Gott von Angesicht gesehen] siehet Gott von Angesicht 9 glaube.] glaube. 35 Fußnote: Man vergleiche im 2ten Bande dieser Sammlung S. 119. f. mit S. 60. 13 Nahmen,] Nahmen: 14–15 Künstlers; des Künstlers] Künstlers 19 befindliche] (S. 84.) befindliche 19–23 Und … Leben.«] U n d … Leben.« 24–218,37 »Was … 89.) fehlt 27 (– Wie] Klammer nachträglich mit Bleistift 29 aber, über der Zeile mit Einfü- 40 gungszeichen 37 Künstlers] so Dv; D2: Künstlers,

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Die große Uebereinstimmung zwischen der Religion des S p inoza (Seine Philosophie stellt sich durchaus als Religion, als Lehre von dem höchsten Wesen und | dem Verhältniße des Men-

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Werkzeug das Eurer Seele im Dienste des Leibes, d e r ü b e r a l l d i e g r o ß e 5 Sache ist, zu Hülfe kommen soll. Wahrlich, a m E n d e sind es nur die äußeren

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Bedürfniße, eine kluge Oekonomie der Lüste und Begierden, was die Summa Eurer Philosophie, Eurer so hoch gepriesenen Weisheit ausmacht. Dieser klugen Oekonomie wird dann Religion, wie billig, nur behülflich angehängt. Und sie mag froh seyn, daß wir sie noch in so weit brauchbar finden. Bringen wir es einst dahin, ohne den Nahmen Gottes unsere gesellschaftliche Verhältniße zu sichern und unsere Theorien auszufertigen – dann nur weg mit diesem leidigen Behelf unserer Unwißenheit und Ungeschicklichkeit; weg mit dem lästigen Hausrath, der nur Raum einnimmt und an sich zu gar nichts taugt. … »Sind im Gegentheil Religion und Tugend letzte Zwecke für den Menschen und sein höchstes Gut; sind sie als ursprüngliche, allgemeine und ewige Triebfedern im Reiche der Geister zu edel und erhaben um nur als Räderwerk in einer Maschiene zu vergänglichen Zwecken angebracht zu werden: so muß es vollends widersinnig scheinen, wenn man mit den leblosen, plumpen Gewichten solcher Maschienen, diese Triebfedern selbst in Bewegung setzen, ja wohl gar sie erregen, sie hervorbringen will. Wo man auf diese Art verkehrt geschäftig ist, muß die Religion den Staat, und der Staat die Religion verderben. Einen | Gott sich darum nur zu wünschen, daß er unsere Schätze hüte, 431 unser Haus in Ordnung halte, ein bequemes Leben uns verschaffe, ist die ungöttliche Art des Götzendieners. »Wahre Göttliche Religion hat nie der Erde f r öh n e n wollen; auch wollte sie die Erde nie beherrschen: dafür ist ein anderer Geist, und an ihn auch ein anderer Glaube. Von den Uebeln welche dieser angerichtet, zeugen alle Blätter der Geschichte. – »S i e h e d a , E u e r G o t t u n d E u r e s G o t t e s Dienst!« – ruft der Spötter der Religion. Und der thörichte Priester eifert und bemüht sich, die Schande abzuwaschen; G o t t will er retten, und er rettet nur den S a t a n , jenen Schwärzesten, der nach dem Himmel weiset auf seiner Bahn. »Wer kann läugnen, wenn er Geschichte, Erfahrung und Vernunft zusammen nimmt, daß Religion, als äußerliches Mittel gebraucht, unbegleitet von Aberglauben und Schwärmerey, ohne Wirkung ist; in dieser Begleitung aber, lauter Böses stiftet. So lange unsere Priester also eine andere als die reine, heilige, innerliche wahre Lehre predigen, und nicht Gott allein das übrige befehlen; so lange sie uns nach dem Himmel sehen heißen, nur d a r u m weil er uns die Erde düngt – den Geist erniedrigen zum Koth; so lange sie die Finsterniß nur schmücken wollen mit dem Lichte; und anstatt den Satan zu vertilgen, ihn zum gütlichen Vertrage überreden, ihn befreunden wollen mit der Gottheit: so lange haße ich sie mehr, als ich den Gottesläugner haße. | Dieser 441 zeigt mir wenigstens sein höchstes Gut da wo es liegt; er will mich nicht betrügen und betrügt mich nicht, er giebt mir seine Wahrheit rein, und ist vielleicht ein zehnmal frömmerer Mann als der ihm flucht. 18 vollends] vollens 26 beherrschen:] so Dv; D1: beherrschen, lige,] so Dv; D1: heilige

37 hei-

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schen zu demselben dar) – und der Religion des F e n e l o n ist schon mehrmals angeführt, aber noch keinmal auf eine alle Philosophien | umfaßende Weise ausgeführt worden. Eine solche Ausführung selbst zu unternehmen, ist eine lange Zeit hindurch mein Lieblingsgedanke gewesen. Hier will ich nur bemerken, daß der Vorwurf, entweder des Atheismus, oder des Mysticismus, überhaupt aber der Schwärmerey und des U n s i n n s , von dem großen Haufen derer, die sich Philosophen und Religions-Lehrer nennen, jeder Philosophie, welche Gestalt sie auch annehme, zu allen Zeiten bis an das Ende der Tage wird gemacht werden, die den Menschen einladet, sich mit dem Geiste über die Natur, und über sich selbst, i n s o f e r n e r N a t u r i s t , zu erheben. Dieser Vor|wurf ist nicht abzuwenden, weil sich der Mensch nicht über die Natur außer ihm und in ihm erheben kann, als | indem er sich zugleich über seine Vernunft, die zeitliche, bis zum Begriff der Freyheit mit dem Geiste erhebt. In Absicht dieses die Vernunft übersteigenden Begriffes der Freyheit, wie er zu bestimmen sey, was er in sich faße, voraussetze und nach sich ziehe, möchten wir uns schwerlich ganz vergleichen können.1 So würde sich einige Verschiedenheit der Meynung unter uns wohl auch bey dem Unterschiede zeigen, den wir beyde zwischen Religion und Götzendienst, übrigens ganz auf dieselbe Weise, machen. Ich habe mich in einer noch ungedruckten Schrift über diesen Gegenstand auf folgende Weise erklärt. »Um Gott und sein Wohlgefallen zu suchen, muß man ihn und was ihm wohlgefalle schon voraus im Herzen und im Geiste haben; denn was uns nicht auf irgend eine Weise schon bekannt ist, können wir nicht suchen, nicht erforschen. Wir wißen aber von Gott und seinem Willen, weil wir aus ihm gebohren, nach seinem Bilde geschaffen, seine Art und Geschlecht sind. Gott lebet in uns, und

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»Das hier von der Gottesfurcht gesagte, gilt auch von der Tugend. Wer nicht an sie selber glauben, ihre überirrdische Natur nicht faßen, nicht sie ehren kann in ihrer wesentlichen Unabhängigkeit: der soll läugnen, daß es eine giebt; 35 denn er muß es läugnen nach der Wahrheit.« (Wider Mendelssohns Beschuldigungen S. 84–89.) 1 S. Beylage II. 25–220,6 Ich habe … a l l e i n W a h r e ?« fehlt

38 S. Beylage II. fehlt

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unser Leben ist verborgen in Gott. | Wäre er uns nicht auf diese Weise gegenwärtig, unmittelbar gegenwärtig durch sein Bild in unserem innersten S e l b s t : was sollte ihn uns kund thun? – Bilder, Töne, Zeichen, die nur zu erkennen geben, was schon verstanden ist? – der Geist dem Geiste: was? »Nach seinem Bilde geschaffen; Gott in uns: das ist die Kunde die wir von ihm haben, und die einzig mögliche; damit offenbarte sich Gott dem Menschen lebendig, fortgehend, für alle Zeiten. Eine Offenbarung durch äußerliche Erscheinungen, sie mögen heißen wie sie wollen, kann sich höchstens zur innern u r s p r ü n glichen nur verhalten, wie sich Sprache zur Vernunft verhält. Ich sage, höchstens nur; und setze dem vorhergegangenen hinzu: So wenig ein f a l s c h e r Gott außer der menschlichen Seele für sich da seyn kann, so wenig kann der Wahre außer ihr erscheinen. Wie der Mensch sich selbst fühlt und bildet, so stellt er sich, nur mächtiger, die Gottheit vor. Darum ist zu allen Zeiten die Religion der Menschen wie ihre Tugend, wie ihr sittlicher Zustand beschaffen gewesen. Ein berühmter Heerführer unter der Regierung des französischen Königs J o h a n n , hatte den Wahlspruch und trug ihn in der Fahne: L’Ami de Dieu, et l’ennemi de tous les | hommes. Das hieß in seinem Herzen: F ü r m i c h u n d w i d e r A l l e . Nur durch sittliche Veredlung erheben wir uns zu einem würdigen Begriff des höchsten Wesens. Es giebt keinen andern Weg. Nicht jede Gottesfurcht schließt Bösartigkeit und Laster aus. Um einen Werth zu haben, muß sie selbst eine Tugend seyn; alsdann ist sie, die andern Tugenden alle voraussetzend, die edelste und schönste; gleichsam die B l u m e ihrer vereinigten Triebe, ihrer gesamten Kraft. Den Gott also haben wir, d e r i n u n s M e n s c h w u r d e , und einen anderen zu erkennen ist nicht möglich, auch nicht durch beßeren Unterricht; denn wie sollten wir diesen nur verstehen? Weißheit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, freye Liebe, sind keine B i l d e r sondern K r ä f t e , von denen man die Vorstellung nur im Gebrauch Selbsthandelnd erwirbt. Es muß also der Mensch Handlungen aus diesen Kräften schon verrichtet, Tugenden und ihre Begriffe erworben haben, ehe ein Unterricht von dem W a h r e n Gott zu ihm gelangen kann. Und so muß, ich wiederhole es, Gott im Menschen selbst geboren werden, wenn der Mensch einen lebendigen 12 sage,] so Dv; D1: sage 15–16 mächtiger,] so Dv; D1: mächtiger gesamten] so J; D1: sogenannten vgl. JWA3.42,26: gesammten

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Gott – nicht blos einen Götzen – haben soll; Er muß menschlich in ihm geboren werden, weil der Mensch | sonst keinen Sinn für ihn hätte. Der Vorwurf: Es würde auf diese Weise ein Gott nur erdichtet, wäre mehr als ungerecht. Und wie sollte dann der Nicht Erdichtete beschaffen, woran erkennbar seyn als der a l l e i n Wahre?« Ich behaupte demnach: der Mensch findet Gott, weil er sich selbst nur in Gott finden kann; und er ist sich selbst unergründlich, weil ihm das Wesen Gottes nothwendig unergründlich ist. Nothwendig! weil sonst im Menschen ein übergöttliches Vermögen wohnen, Gott von dem Menschen müßte erfunden werden können. Dann wäre Gott nur ein Gedanke des Endlichen, ein eingebildetes, und mit nichten das Höchste, a l l e i n i n s i c h bestehende Wesen, von allen anderen Wesen der freye | Urheber, der Anfang und das Ende. So verhält es sich nicht, und darum verliert der Mensch sich selbst, so bald er widerstrebt sich in Gott, als seinem Urheber, auf eine seiner Vernunft unbegreifliche Weise zu finden; so bald er sich i n s i c h a l l e i n begründen will. Alles löset sich ihm dann allmählich auf in sein eigenes Nichts. Eine solche Wahl aber hat der Mensch; diese Einzige: das N i c h t s oder einen G o t t . Das Nichts erwählend macht er s i c h zu | Gott; das heißt: er macht zu Gott ein Gespenst; denn es ist unmöglich, wenn kein Gott ist, daß nicht der Mensch und alles was ihn umgiebt blos G e s p e n s t sey. Ich wiederhole: Gott ist, und ist a u ß e r m i r , ein l e b e n d i g e s , f ü r s i c h b e s t e h e n d e s W e s e n , oder Ich bin Gott. Es giebt kein drittes. Finde ich Gott nicht – so, daß ich ihn setzen muß: Ein Selbstseyn – a u ß e r mir, v o r mir, ü b e r mir; so bin ich selbst, Kraft meiner Ichheit, g a n z u n d g a r was so genannt wird, und mein erstes und höchstes Gebot ist, d a ß i c h n i c h t h a b e n s o l l andere Götter ausser M i r , oder jener Ichheit. Ich weiß alsdenn und begreife vollkommen, | wie dem Menschen jene thörichte, abgeschmackte, i m G r u n d e Gottlose Abgötterey mit einem We-

7 behaupte demnach] behaupte 8 in] zugleich mit 17 seiner Vernunft] seinem Verstande 17 seinem] so DvD2; D1: seinen

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13 Höchste] höchste 35

18 finden;] so DvD2; D1: finden,

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sen a u ß e r i h m entsteht; diesen Wahn ergründend, deducirend und construirend, vernichte ich ihn auf immer. Indem ich ihn aber, mich über ihn verständigend, vernichte und jenen Götzendienst zu Schanden mache, muß ich auch alles was mit ihm zusammenhängt vertilgen; ich muß vertilgen aus meiner Seele die Reli|gion der Liebe, des Beyspiels; muß verspotten jede Anregung und Eingebung eines Höheren; verbannen aus meinem Herzen j e d e Andacht, j e d e Anbetung. Ferne sey von mir ein solches Heil! Entschieden, unverholen, ohne Zagen und Zweifeln gebe ich dem nur ä ußerlichen Götzendienste vor jener mir zu reinen Religion, die sich mir als Selbstgötterey darstellt, den Vorzug. Will man nun meine Schwachheit, Irreligion; will man die Wirkung dieser Schwachheit, oder meinen Aberglauben – Atheismus nennen; so zürne man nicht, wenn ich wider denjenigen, der mir ein solches hartes Du oder I c h des Atheismus vorhält, das D u behaupte. Mit Ihnen, mein Freund, bin ich nicht in diesem Falle, da Sie in Ih|rer Appellation (S. 61 und 62) ausdrücklich erklären, der Aberglaube schließe nicht unbedingt Moralität, folglich auch nicht w a h r e G o t t e sverehrung aus. Und so habe ich ebenfalls von meiner Seite schon vorhin zugegeben, daß jene unsinnliche Abgötterey, die einen Begriff, ein Gedankending, eine Allgemeinheit an die Stelle des lebendigen Gottes setzt (ich möchte sie die Abgötterey mit dem Adjectivo nennen,) Moralität und die mit ihr unzertrennlich verknüpfte wahre innere Religion nicht | ausschließe. Der lebendige Gott wird dann geläugnet – n u r m i t d e n L i p p e n . Ueberhaupt ist in Absicht des Aberglaubens und des Götzendienstes meine Meynung, daß es ganz einerley sey, ob ich mit Bildern aus Holz und Stein, ob ich mit Ceremonien, Wundergeschichten, Gebärden und Nahmen, oder ob ich mit philosophischen durch-und-durch-Begriffen, kahlen Buchstabenwesen, leeren Einbildungs-Formen Abgötterey treibe: ob ich auf diese oder jene Weise die Gestalt zur Sache mache, am M i t t e l abergläubig hängen bleibe, und mich um jeden wahrhaften Zweck betrüge. Oefter sagte ich zu gewißen Andächtigen: Ihr wollt nur nicht mit des | S a t a n s Hülfe Zauberey treiben, wohl aber mit der Hülfe Gottes; denn Eure Religion ist aus lauter Zaubermitteln, sichtbaren und unsichtbaren, zusammengesetzt, und im Grunde nur ein 13 Schwachheit,] Schwachheit

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beständiges dem Teufel entgegen und mit ihm i n d i e W e t t e hexen. Ich fand aber auch unter diesen, mich durch ihren ekelhaften Aberglauben, durch ihre Vernunftwidrige Meynungen empörenden, das empfindlichste Aergerniß mir gebenden Menschen mehrere, denen dieser Aberglaube, dieser Trotz der Unvernunft und ein damit verknüpfter Götzenfürchtiger | Eifer, doch ebenfalls nur auf den Lippen wohnte. Innerlich im Herzen und im Geiste meynten sie mit ihren verkehrten Redensarten und wunderlichen Einbildungen doch das Wahre. Aber unmöglich war es ihnen, a u frichtig unmöglich, und schien ihnen darum ungereimt, zugleich Gottlos, von jenen Worten und Bildern der Unvernunft, dieses Wahre zu trennen. Man hätte ihnen eben so gut zumuthen können überhaupt zu denken ohne W o r t e u n d B i l d e r , und von ihren Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen alles Individuelle und was Gestalt heißt abzusondern. Da nun letzteres auch der beste oder r e i n s t e Philosoph nicht vermag, wenn nicht | alles wirklich zunichte gedacht, alles nicht zu unmöglichen durch und durch Begriffen eines reinen Leeren, und leeren Reinen erhoben werden, und in dieser Erhebung allein die wahre ewige Seeligkeit bestehen soll: so dächte ich, die Beschuldigung der Abgötterey und des Aberglaubens sollte uns nicht so leicht aus dem Munde gehen. Man dürfte von der anderen Seite uns vorwerfen, wir erhöben uns schamlos mit einer größeren Sünde über die geringere des Nächsten, da unser Dichten, Trachten und Vermögen nur wäre, Oede zu machen den Ort des Wahren – j e n e n , den | nach seiner Weise mit Altären jedes Volk der Welt bezeichnet hatte – und S a l z a u f d i e S t e l l e z u s t r e u e n . Unendlich weiser wäre es nach meinem Urtheil, wenn wir uns selbst tief überzeugten, dann auch Andre zu überzeugen uns bemühten: »Nicht der G ö t z e mache den Götzen-Diener; nicht der w a h r e Gott den w a h r e n Anbeter. Denn machte der wahre Gott den wahren Anbeter, so wären wir es alle, und alle in demselben Maaße, da des w a h r e n Gottes Gegenwart nur E i n e A l l g e m e i n e ist.«1 | 1

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Aus der vorhin angeführten noch ungedruckten Schrift S. Beylage III.

11 Unvernunft,] Unvernunft 17–18 durch und durch Begriffen] durch- und 35 durch-Begriffen 34 vorhin … III.] Schrift von den göttlichen Dingen. 8 sie] so DvD2; D1: Sie D1: alle

25 Wahren] so DvD2; D1: wahren

32 alle,] so DvD2;

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Wohl dem Menschen, der beständig diese Gegenwart empfindet, dem jene alte Betheurung: B e y d e m l e b e n d i g e n G o t t ! in jedem Augenblick die höchste, Urbild der Wahrheit ist. Wer mit verderbender Hand die heilige und hohe Einfalt dieses Glaubens antastet, der ist ein Widersacher der Menschheit; denn keine Wißenschaft noch Kunst, noch irgend eine Gabe wie sie Nahmen haben möchte, vergölte was mit ihm genommen würde. Ein Wohlthäter der Menschheit ist dagegen, wer durchdrungen von der Hoheit, Heiligkeit und Wahr|heit jenes Glaubens, es nicht duldet daß man ihn verwüste. Seine Hand wird stark seyn indem er die gesunkenen Altäre des allein Lebendigen und Wahren h ö h e r wieder aufrichtet. Da er sie ausstreckte sank schon und verdorrete die Hand des Stürmers. So war es bisher; so wird es ferner seyn: E r veraltet nicht.1 Sie verlangen nicht, daß ich Sie wegen der Länge meines Briefes um Verzeihung bitte. Ich bin wenigstens der Meynung, mich eher entschuldigen zu müßen, daß ich, aus Ermüdung, hier schon ein Ende | mache, nachdem ich Ihnen meine Unwißenheitslehre, unvollständig und rhapsodisch, mehr nur e r z ä h l t , als philosophisch dargelegt habe. Doch versprach ich auch | nicht mehr, und fühle im Grunde nur meine Eigenliebe gekränkt, die mir sagt, es wäre diese Lehre einer mehr philosophischen Ausführung doch wohl fähig, und auch nicht unwerth. Einmal mit einem W u n d e r sind alle Philosophieen, ohne Ausnahme, behaftet. Jede hat einen besonderen Ort, ihre h e i l i g e S t e l l e , wo das ihre, als das allein Wahre, jedes andere überflüßig machende Wunder zum Vorschein kommt. Geschmack und Charakter bestimmen großen Theils die Richtung des Angesichts nach dem Einen oder dem Anderen dieser Orte. Trefflich haben Sie selbst dieses bemerkt, 1

… Opinionum enim commenta delet dies: naturae judicia confirmat. Cic. d. N.D.II.2. Quid est enim verius, quam neminem esse oportere tam stulte arrogantem, ut in se rationem et mentem putet inesse, in coelo mundoque non putet? aut ut ea, quae vix summa ingenii ratione comprehendat, nulla ratione moveri putet? 35 quem vero astrorum ordines, quem dierum noctiumque vicissitudines, quem mensium temperatio, quemque ea, quae gignuntur nobis ad fruendum, n o n gratum esse cogant; hunc hominem omnino numerare quî decet? C i c e r o d e L e g g . II.7. 30

12 ausstreckte] ausstreckte, 40 II.7. fehlt

26 Wahre] w a h r e

30–38 … Opinionum …

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S. 25. Ihrer neuen Darstellung, wo Sie sagen: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist: Denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.« – Sie wundern sich wohl, daß ich diese Stelle anführen und sie trefflich nennen mag, da was vorher geht und | folgt (S. 23–26.) mir, w e g e n meiner Denkungsart, Ihre Verachtung – wenigstens Ihre Nichtachtung, und, nur zurückgehaltenen, Spott, mit stechendem Witze ankündigt. Ich habe ihrer des|wegen nur desto lieber gedacht, um bey dieser Gelegenheit zu bemerken, daß ich unter dem Schreiben dieses Briefes eine wenigstens nicht v e rächtliche Stärke des Geistes bewiesen habe, da mir die unwidersprechlich mich mit treffenden harten und geschärfteren Befehle: G a r n i c h t m i t z u s p r e c h e n ü b e r d e r g l e i c h e n Gegenstände! theils in Gedanken vorschwebten, theils beym Nachschlagen unter der Arbeit häufig genug vor Augen kamen, und mich aus der Faßung bringen wollten. Was mich jedesmal wieder aufrichtete habe ich vorhin schon angeführt; nehmlich, daß ich mich ein für allemal als ausgenommen betrachten darf. Wirklich bin ich davon aufrichtig überzeugt, und weiß aus eigener Erfahrung, daß, wo wir auch nicht persönlich ausnehmen, sondern im Gegentheil, indem wir unseren Unwillen im allgemeinen ergießen, gerade d i e s e Person vor Augen haben, und durch ihre Vorstellung in Feuer gesetzt werden, dennoch sie selbst mit unserem Unwillen | nicht meynen, weil wir tief und lebhaft fühlen, es sey mit der Sache in Absicht ihrer – eine a n d e r e Sache. – Vergelten Sie mir Gleiches mit Gleichem, mein lieber Fichte, und entschuldigen Sie mich, wie ich Sie entschuldigte, wenn Sie etwa finden sollten, daß | ich mich an der einen oder andern Stelle dieses Briefes zu lebhaft ausgedrückt hätte. Ich habe mit Fleiß hart gezeichnet, und die grellsten Farben aufgetragen, damit gewiß abstäche, was abstechen sollte, und es so rein wie möglich heraus käme, was unter uns nur Mißverstand, und was wirklich entgegengesetzte Denkungsart ist. 10 Witze] Witze, ihrer] dieser Blätter 14 mit treffenden] mittreffenden 19 aufrichtete] aufrichtete, 21 weiß] weiß überdies 27 eine] dennoch eine 13 da mir] so DvD2; D1: da

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Es gehe Ihnen wohl! das wünsche ich von Herzen, wie ich gewiß von Herzen Ihr Freund und wahrer Verehrer bin. Den 21sten Merz 1799.

F. H. Jacobi.

BEYLAGEN.

1 Beylagen. die Beilagen und der Anhang fehlen

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»Das Prinzip aller Erkenntniß ist lebendiges Daseyn; und alles lebendige Daseyn geht aus sich selbst hervor, ist progreßiv und productiv. Das Regen eines Wurmes, seine dumpfe Lust und Unlust, könnten nicht entstehen, ohne eine nach den Gesetzen seines Lebensprinzips verknüpfende, die Vorstellung seines Zustandes erzeugende Einbildungskraft. Je mannichfaltiger nun das empfundene Daseyn ist, welches ein Wesen auf diese Weise erzeugt; desto lebendiger ist ein solches Wesen.« »Vollkomnere Wahrnehmung, mannichfaltigere Verknüpfung, erwecken, mit dem Bedürfniße, das Vermögen der Abstraction und Sprache. So entsteht eine Vernunftwelt, worin Zeichen und Worte die Stelle der Substanzen und Kräfte vertreten. Wir eignen uns das Universum zu, indem wir es zerreißen, und eine unseren Fähigkeiten angemeßene, der wirklichen ganz unähnliche B i l d e r Ideen- und W o r t -Welt erschaffen. Was wir auf diese Weise erschaffen, verstehen wir, in so weit es unsere Schöpfung ist, vollkommen; was sich auf diese Weise nicht erschaffen läßt, verstehen wir nicht; unser philosophischer Verstand reicht über sein eigenes | Hervorbringen nicht hinaus. Alles Verstehen geschiehet aber dadurch, daß wir Unterschiede s e t z e n und wieder Aufheben; und auch die aufs höchste ausgebildete menschliche Vernunft ist, explicite, keiner andern Operation, als dieser, worauf alle übrige sich zurückführen laßen, fähig. Wahrnehmen, Wiedererkennen und Begreifen, in steigenden Verhältnißen, macht die ganze Fülle unseres intellectuellen Vermögens aus …« »Wir begreifen aber einen Gegenstand, wenn wir uns seine Bedingungen der Reihe nach vorstellen, d. i. ihn aus seinen nächsten Ursachen im vollständigen Zusammenhange herleiten können. Was wir auf diese Weise eingesehen oder hergeleitet haben, stellt uns einen mechanischen Zusammenhang dar. So begreifen wir z. B. einen Cirkel, wenn wir uns den Mechanismus seiner Entstehung, oder seine Physik, deutlich vorzustellen wißen; die syllogistischen Formeln, wenn wir die Gesetze, welchen der mensch-

35 9 Wesen.«] D1: Wesen.

26 aus …«] D1: aus …

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liche Verstand in Urtheilen und Schließen unterworfen ist, seine Physik, seinen Mechanismus, wirklich erkannt haben; oder den Satz des zureichenden Grundes, wenn uns das Werden, die Construction e i n e s B e g r i f f e s ü b e r h a u p t , seine Physik, sein Mechanismus einleuchtet.1 Die Construction e i n e s | B e g r i f f e s überhaupt ist das a priori aller Constructionen; und die Einsicht in seine Construction giebt uns zugleich auf das gewißeste zu erkennen, daß wir unmöglich begreifen können, was wir zu construiren nicht im Stande sind. Darum haben wir von Qualitäten, als solchen, keine Begriffe; sondern nur Anschauungen. Selbst von unserem eigenen | Daseyn haben wir nur ein Gefühl; aber keinen Begriff. Eigentliche Begriffe haben wir nur von Größe, Lage, Bewegung, und den Formen des Denkens. Wenn wir sagen, daß wir eine Qualität erforscht haben, so sagen wir damit nichts anders, als wir haben sie auf Größe, Lage und Bewegung zurückgeführt und darin aufgelöst; also: wir haben die Qualität o bj e c t i v vernichtet. Hieraus läßt sich nun, ohne weiteres, leicht abnehmen, was

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Ich merke zum Ueberfluß an, daß hier, in der folgenden Beylage und dem Briefe an Fichte, wo die Worte, Mechanismus und mechanisch ohne andere Bestimmung vorkommen, darunter jede nothwendige Verkettung verstanden werden müße. In dieser weitläuftigen Bedeutung faßet also der Begriff des Mechanischen alles unter sich, | w a s n a c h d e m G e s e t z e d e r C a u s a l i t ä t i n d e r Z e i t n o t h w e n d i g e r f o l g t ; folglich auch die chemischen, organischen, und psychologischen Wirkungsarten; alles mit einem Worte, was nach dem Laufe der Natur allein zum Vorschein kommt, und allein ihren Kräften zugeschrieben wird. »Man kann, sagt Kant (Kr. d. pr. Vernunft S. 173) alle Nothwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Causalität, den M e c h anismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirkliche materielle Maschienen seyn müßten. Hier wird nur auf d i e N o t h w e n d i g k e i t d e r V e r k n ü p f u n g d e r B e g e b e n h e it e n i n e i n e r Z e i t r e i h e , s o w i e s i e s i c h n a c h d e m N a t u r g e s e t z e e n twickelt, gesehen, man mag nun das Subject, in welchem dieser Ablauf geschieht, Automaton materiale, da das Maschienenwesen durch Materie; oder, mit Leibnitzen, Automaton spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen; und wenn die Freyheit unseres Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und comparative, nicht transcendentale d. i. absolute zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts beßer, als die Freyheit eines Bratenwenders seyn, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.« Ich denke nicht daß jemand das, was oben der M e c h a n i s m u s d e r E n tstehung eines Cirkels genannt wird, gar für die mechanische Beschreibung der Figur des Cirkels mit dem Instrumente dieses Nahmens halten werde!

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Beylage I

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für einen Ausgang die Bemühungen der Vernunft, einen deutlichen Begriff von der Möglichkeit des Daseyns unserer Welt zu erzeugen, in jedem Falle gewinnen müßen.«

3 müßen.«] D1: müßen.

B e y l a g e II.

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»H a t d e r M e n s c h V e r n u n f t , o d e r h a t V e r n u n f t d e n Menschen?« Diese seltsam klingende Frage, die ich vor zehn Jahren in der siebenten Beylage zu den Briefen über die Lehre des Spinoza aufwarf, ist nachher von Anderen verschiedentlich gewendet, oder vielmehr, diese Wendung ist von ihnen auf verschiedene Weise gebraucht worden. Auch Kant hat sich derselben in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, S. 47, bedient, wo er sagt: »Die Tugend in ihrer ganzen Vollkommenheit wird also vorgestellt, n i c h t w i e d e r M e n s c h die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze.« Der in jener Frage angezeigte Unterschied, zwischen einer substantiven Vernunft oder dem Geiste selbst des Menschen; und einer adjectiven, die für sich kein Wesen, sondern nur Eigenschaft | und Beschaffenheit eines Wesens ist,1 | muß, nach

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»Versteht man unter Vernunft die Seele des Menschen, Nur i n s o f e r n sie deutliche Begriffe hat, mit diesen urtheilet, schließet, und wieder andere Begriffe und Ideen bildet; so ist die Vernunft eine Beschaffenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt; ein Werkzeug, das er gewißermaßen 20 sich e r s i n n t , deßen er sich bedient, und das ihm zugehört auf eine ähnliche Weise, wie die Sprache die er redet | ihm ein Werkzeug ist, ein ersonnenes, wie er sich ihrer bedienet und sie ihm zugehört.« »Versteht man hingegen unter Vernunft das Princip, den Urquell der Erkenntniß überhaupt (das unmittelbar sich selbst setzende, an und für sich 25 selbst Seyende:) so ist sie der G e i s t , woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist; durch sie be s t e h e t der Mensch; er ist eine Form die sie angenommen hat.« »Eine solche Theilung oder Trennung kann nur in Gedanken statt finden. Betrachtet man den wirklichen Menschen, so findet man sein vernünftiges 30 Bewustseyn auf der unzertrennlichen Vereinigung des Eigenen und Fremden; der Receptivität und Spontaneität, oder eines Innern und Aeußeren, des 1 Beylage II.] Titelblatt mit freier Rückseite: Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes d e r F r e y h e i t u n d V o r s e h u n g von dem Begriffe d e r V e r n u n f t . / (Zuerst gedruckt 1799.) 14 dem Geiste selbst des Menschen] d e m G e i s t e 35 selbst des Menschen 17–233,38 Versteht man … 432.)] S. Briefe über die Lehre des Spinoza, Beilage VII. 23 zugehört.«] D1: zugehört

28 hat.«] D1: hat.

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meinem Urtheil, der Lehre von der Freyheit zum Grunde gelegt werden, oder diese Lehre stellt nur ein eitel sophistisches Gewebe aus täuschenden Worten und Einbildungen dar, welches eine schärfere Untersuchung nicht aushält. Wirklich findet sich diese Unterscheidung auch in der Kantischen Philosophie; aber sie kommt nur augenblicklich darin vor; erscheinet nur, um sogleich wieder zu verschwinden; und dieses aus der sehr guten Ursache: weil der Geist keine wißenschaftliche Behandlung verträgt, w e i l e r n i c h t Buchstabe werden kann. Er, der Geist, muß also draußen bleiben | vor den Thoren seiner Wißenschaft; wo sie ist, darf E r S e l b s t nicht seyn. Darum buchstabieret, wer den Geist zu buchstabieren wähnt, zuverläßig immer etwas anderes, wißentlich oder unwißentlich. Mit anderen Worten: Wir vertilgen nothwendig den Geist, indem wir ihn in Buchstaben zu verwandeln streben, und der sich für den Geist ausgebende Buchstabe l ü g t . Er lügt, denn es ist nie d e r B u c h s t a b e d e s Geistes was sich diesen Nahmen beylegt; | es ist, von dieser Seite angesehen, lauter Betrug damit, denn der Wahrhafte Geist hat keinen Buchstaben. Wohl aber hat auch der Buchstabe einen Geist, und dieser Geist heißet Wißenschaft. Diese Betrachtung weiter auszuführen darf ich mir an diesem Orte nicht erlauben. Ich eile zur Bestimmung meines Begriffs von der Freyheit. Ich verstehe unter dem Worte Freyheit dasjenige Vermögen des Menschen, Kraft deßen er selbst ist und alleinthätig in sich und außer sich handelt, wirkt und hervorbringt. In sofern er sich als ein freyes Wesen ansieht, fühlt und betrachtet, schreibt er seine persönlichen Eigenschaften, seine Wißenschaft und Kunst, seinen intellectuellen und moralischen Character sich selbst allein zu; er sieht in sofern sich selbst als den Urheber, als den Schöpfer davon an; und nur in so weit er s i c h , den G e i s t , die Intelligenz, und

Selbstes und eines Anderen; des Nothwendigen und Zufälligen; des Unbedingten und Bedingten; des Zeitlichen und Außerzeitlichen; des Natürlichen und Uebernatürlichen gegründet: Eine Vereinigung, die sich in der Reflexion 35 zugleich als nothwendig und als unmöglich darstellt, und das Wunder und Geheimniß des Vernünftigen Daseyns selbst, oder des Selbstseyns endlicher Wesen – des Unerschaffenen und der Schöpfung; Gottes und der Creatur ist.« (Briefe über die Lehre des Spinoza. S. 422–432.)

8 Geist] G e i s t

9 Buchstabe] Buchstabe

17 Geistes] G e i s t e s ,

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nicht die Natur – aus der er nach einem Theile seines Wesens auf eine nothwendige Weise entsprungen ist, zu der er mit diesem Theile gehört und in ihren allgemeinen Mechanismus verflochten, in sie eingewebt ist – als den Urheber und Schöpfer davon ansieht, nennet er sich frey. Er nennet sich also frey nur in so|fern er | mit einem Theile seines Wesens n i c h t z u r N a t u r gehört, nicht aus ihr entsprungen ist und von ihr empfangen hat; nur in sofern er, sich von ihr unterscheidend, sich über sie erhebt, sie gebraucht und meistert, sich von ihr losreißt und mit seinem freyen Vermögen ihren Mechanismus bezwingt, und sich denselben dienstbar macht. Der Geist a l l e i n , nicht die Natur, erfindet und bringt mit Absicht hervor; Er allein d i c h t e t und t r a c h t e t . Das Hervorbringen der Natur allein, ist ein blindes, vernunftloses, nothwendiges, blos mechanisches1 Hervorbringen, ohne Vorsehung, Entwurf, freye Wahl und Absicht. Darum finden sich auch in unserem | Bewustseyn Vernunft und Freyheit unzertrennlich mit einander verknüpft, nur nicht dergestalt, daß von der Vernunft (dem A d j e ctivo) das freye Vermögen; sondern so, daß von dem freyen Vermögen (dem Substantivo) die Vernunft abgeleitet werden muß. Die Vereinigung von Naturnothwendigkeit und Freyheit in Einem und Demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreifliches Factum, ein der Schöpfung gleiches W u n d e r und G eheimniß. Wer die Schöpfung begriffe, würde dieses Factum begreifen; wer dieses Factum, die Schöpfung und Gott selbst. So wie nun von der Einen Seite die Vernunft, die im B e g r e i flichen allein ihr Wesen hat, die R e a l i t ä t dieses Geheimnißes, die W a h r h e i t dieses Wunders zu | läugnen strebt, und, als die Re1

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Siehe die Anmerkung zur Beylage I.

13 allein,] a l l e i n 25 Vernunft] adjective Vernunft J: philosophische, adjective 28 Siehe … Beylage I.] Ich habe schon früher erinnert, und erinnere von 30 neuem, daß wo die Worte, Mechanismus und mechanisch ohne andre Bestimmung in meinen Schriften vorkommen, darunter j e d e n o t h w e n d i g e Verkettung verstanden werden müsse. In dieser weitläufigen Bedeutung fasset also der Begriff des Mechanischen alles unter sich, w a s n a c h d e m G e s e t z e d e r C a u s a l i t ä t i n d e r Z e i t n o t h w e n d i g e r f o l g t ; folglich auch die che- 35 mischen, organischen, und psychologischen Wirkungsarten: alles mit einem Worte, was nach dem Laufe der Natur allein zum Vorschein kommt, und allein ihren Kräften zugeschrieben wird. – Man vergleiche Kant Kr. d. pr. Vernunft S. 173. – Vornehmlich: Bouterweks Lehrbuch d. phil. Wissenschaften Th. I. 40 S. 168–178.

Beylage II

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präsentantin einer Nothwendigkeit, die mit Gewalt alles schon bestimmt hat, und nichts geschehen läßt, was nicht s c h o n g eschehen ist, und im Grunde n i e g e s c h a h – emsig bemüht ist jenes Wunder und Geheimniß, als eine Täuschung zeitlicher Unwißenheit aus dem Wege zu räumen, | rückwärts Schritt vor Schritt Zeit und Begebenheit vertilgend: so behauptet die Realität und Wahrheit deßelben Geheimnißes und Wunders von der andern Seite der inwendige g e w i ß e G e i s t , und nöthiget uns seinem Zeugniße zu glauben mit einer Gewalt des Ansehns, dem kein Vernunftschluß gewachsen ist. Er bezeuget was er behauptet m i t d e r T h a t , da keine, auch nicht die geringste Handlung ohne den Einfluß des freyen Vermögens, ohne Z u t h u n d e s G e i s t e s geschehen kann. Was der Geist hinzuthut, ist das N i c h t -Mechanische, das Nicht nach einem allgemeinen Naturgesetz, sondern aus einer eigenthümlichen Kraft entspringende in den Handlungen, Werken und Characteren der Menschen. Wenn man diesen Einfluß, dieses Eingreiffen des Geistes in die Natur läugnet, so läugnet man überall den G e i s t , und setzet, statt seiner, nur N a t u r w es e n m i t Bewustseyn. Dieses Bewustseyn bringt dann nichts als Vorstellungen, und Vorstellungen von Vorstellungen; Begriffe, und Begriffe von Begriffen hervor, die allmählig entstehen, so wie die Substanz in Handlung gesetzt wird und handelt. Der B l i n d e gehet voran, weiset den | Weg, und der S e h e n d e folgt. Dann hat das Wüste Ordnung und Gestalt erfunden; das Sinnlose Sinne und Besinnung, Wahrnehmung und Ver|stand; das Unvernünftige Vernunft; Lebloses das Lebendige; ü b e r a l l – das Werk den Meister. Wer nun dieses annehmen kann, und, auf die Schlüße seiner zeitlichen Vernunft gestützt, sich nicht scheuet zu behaupten: Homer, Sophokles, Pindar; die Barden Oßian und Klopstock – Aristoteles, Leibnitz, Plato, Kant und Fichte – Alle Dichter und Philosophen wie sie Nahmen haben mögen; alle Gesetzgeber, Künstler und Helden – hätten ihre Werke und Thaten i m Grunde nur blindlings und gezwungen, der Reihe nach in dem nothwendigen Zusammenhange von Ursache und Wirkung, das ist, dem Naturmechanismus zu Folge hervorgebracht; und die I n -

31 Pindar;] Pindar,

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telligenz, als nur begleitendes Bewustseyn, hätte dabey überall b l o s u n d a l l e i n d a s Z u s e h e n gehabt – Wer, sage ich, dieses annehmen und zu seiner Wahrheit machen kann, mit dem ist weiter nicht zu streiten. Zu dem Geständniß kann man ihn auf der logischen Folter zwingen, daß er, die Freyheit läugnend, | das eben vorgetragene uneingeschränkt behaupte, und mit dem Worte Freyheit, wenn und wo er es gebrauche, allemal nur (welchen Gnostischen Abscheu er auch übrigens vor allem Körperlichen oder Sinnlichen beweisen, vorgeben, und, wo möglich, empfinden möge) das Materialistische Princip des Mechanismus, eine ursprünglich b l o s u nbestimmte Thätigkeit an sich, Actuosität oder Agilität, im Sinne habe. Hat er dies Geständniß abgelegt, so müßen wir ihn losgeben; die Philosophische Gerechtigkeit kann ihm nichts mehr | anhaben: denn was er läugnet, läßt sich streng philosophisch nicht beweisen; was er beweiset, streng philosophisch nicht widerlegen. Wir dagegen sagen aus: Es ist unmöglich, daß alles Natur und keine Freyheit sey, weil es unmöglich ist, daß, was allein den Menschen adelt und erhebt – das W a h r e , das G u t e und S c h ö n e , nur Täuschung, Betrug und Lüge sey. Das ist es, wenn Freyheit nicht ist. Unmöglich ist w a h r e Achtung, unmöglich w a h r e Bewundrung, w a h r e Dankbarkeit und Liebe, wenn es unmöglich ist, daß in Einem Wesen Freyheit und Natur zusammen | wohnen, und jene walte wo diese webt. Eine Maschiene, ein Automat (geistiges oder körperliches ist einerley) vermag kein Mensch zu achten, zu lieben, ihm zu danken, oder auch nur es zu b ewundern. Eine Maschine, ein Automat bewundernd, bewundern wir immer nur die in ihnen verborgene Kunst, den Geist, der mit Einsicht und Absicht sie hervorbrachte. Auf diesen allein beziehen sich jene Empfindungen; sie beziehen sich ausschließlich, allein und ganz auf ein N i c h t mechanisch wirkendes Vermögen; auf ein Vermögen, das auf keine begreiflich mögliche, sondern auf eine begreiflich (oder natürlich) unmögliche Weise wirkt, bestimmt und hervorbringt. 1 als nur begleitendes Bewustseyn] a l s n u r b e g l e i t e n d e s B e w u ß t s e y n 34 oder] J: d. i. D2: das ist 29 Geist,] JD2: Geist, den erfindenden 33 begreiflich] so 27 bewundern] so Dv(D2); D1D2: bewunderen DvD2; D1: begreifflich begreiflich] so DvD2; D1: begreifflich

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Foderst du mich spottend auf, in irgend einem einzelnen Werke, einer Handlung, einem menschlichen Character den Antheil der Natur von dem Antheil der Freyheit abzusondern, und wie das eine von dem andern unterschieden werden müße anzugeben; so fodere ich dagegen, o h n e Spott, dich von meiner Seite auf, in irgend einem Falle, wo du Bewundrung, | Achtung, Dankbarkeit oder Liebe empfindest, diese Unterscheidung nicht zu machen; dir neben der Wirksamkeit der Natur ein | freyes Vermögen nicht vorzustellen, und nicht auf dieses allein jene in dir erregten Empfindungen zu beziehen. Ich weiß, es ist dir unmöglich; du verlierst diese Empfindungen, so wie du das freye Vermögen weg denkst, seine Voraussetzung w i r k l i c h dir entbehrlich machst. Das gebe ich dir ohne Widerrede zu: daß das Gebiet der Freyheit das Gebiet der Unwißenheit sey. Ich setze nur noch hinzu: Einer dem Menschen unüberwindlichen; und unterscheide sie dadurch von jener, deren Reich und Herrschaft immer mehr einzuschränken die Vernunft den Beruf hat; auf deßen gänzliche Eroberung sie, um es Fuß vor Fuß der Wißenschaft zu unterwerfen, nothwendig ausgeht – aber weinen würde wie Alexander, wenn sie bey ihrem Ziele anzukommen jemals Gefahr sähe. Gründete sich der Glaube an Freyheit auf jene Unwißenheit, welche die Vernunft, Wißenschaft erzeugend, zu vertilgen bestimmt ist; so wäre die Vernunft dem Menschen nur so lange als sie in der Kindheit bliebe, u n d m i t W a h n u n d T ä u s c h u n g s i c h vertrüge, gut; heranwachsend, zur Vollkommenheit gedeyend, entwickelte sich aus ihr | lauter Tod. Dieser Tod hieße Wißenschaft und Wahrheit; Wißenschaft und Wahrheit hieße der Sieg über alles was des Menschen Herz beseligend erhebt, sein Angesicht verklärt, sein Auge in die Höhe richtet: der Sieg über alles Große, Erhabene und Schöne. | Soll es sich nicht so verhalten; soll nicht – Wahn das Göttliche im Menschen; Wahrheit und geläuterte Vernunft das Ungöttliche seyn: so muß die mit dem Glauben an Freyheit verknüpfte Unwißenheit, eine Unwißenheit ganz anderer Art: sie muß jener der Wißenschaft unzugängliche Ort des Wahren seyn. – »Z i e h e d i e S c h u h e a u s , d e n n h i e r i s t h e i l i g e s L a n d !« 7 nicht] n i c h t 8 nicht] n i c h t 9 nicht] n i c h t 9–10 Empfindungen] Gefühle 31 Wahn] W a h n Göttliche] Göttliche 32 Ungöttliche] Ungöttliche 35 Ort des Wahren] O r t d e s W a h r e n

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B e y l a g e III.

Ich finde für gut die im Text angeführte Stelle hier in dem Zusammenhange, den sie in der Handschrift hat, aus der ich sie genommen, mitzutheilen. »Wie der Mensch ist so liebt er, und wie er liebt so ist er. Die Elemente der Liebe sind – reines Wohlgefallen, Achtung, Bewundrung: sie ist das eigenthümliche Vermögen, womit das Gute und Schöne vom Menschen wahrgenommen wird, wodurch es sich ihm mittheilt, zu ihm eingeht, und ihn selbst gut und schön macht. Da also überall wo eigentliche Liebe entsteht nothwendig Gutes und Schönes angeschaut wird, und W a h r h e i t in die Seele kommt; da in dieser Anschauung – i n i h r a l l e i n – die Liebe wohnt: so kann sie durch das, was der Gegenstand, der sie vielleicht nur zufällig erweckte, unabhängig von ihrer Vorstellung für sich selbst seyn mag, so wenig an ihrer Tugend etwas gewinnen als verlieren. Die wahre schöne Liebe ist ganz in dem Menschen, von welchem sie Besitz genommen; der Irrthum in Absicht des Gegenstandes ist ganz a u ß e r ihm, und läßt seine Seele unbefleckt. Nicht der G ö t z e macht den Götzen-Diener; nicht der w a h r e Gott den w a h r e n A n b e t e r : denn des wahren Gottes Gegenwart ist nur E i n e A l l g e m e i n e . | Der so oft hohe Gedanken und tiefe Gefühle unter Scherz und Laune versteckende gute und bescheidene Botenmann zu Wandsbeck, läßt einmal seinen Asmus erzählen, wie er auf der Akademie, wo er nicht studiert aber doch gewesen, von einem Magister gehört hätte: die Philosophie allein könne lehren ob und was Gott sey, und ohne Philosophie könne man keinen Gedanken von Gott haben. »Dies nun« fährt der Bote fort, »sagte der Magister aber nur so. Mir kann kein Mensch mit Grund der Wahrheit nachsagen, daß ich ein Philosoph sey; aber ich gehe niemals durch den Wald, daß mir nicht einfiele, wer doch die Bäume wohl wachsen mache, und dann ahndet mich so von ferne und leise etwas von einem Unsichtbaren, u n d i c h w o l l t e w e t t e n d a ß i c h d a n n a n G o t t d e nk e , s o e h r e r b i e t i g u n d f r e u d i g s c h a u e r t m i c h d a b e y .« Ein andermal berichtet er von einem Europäer, »der war in Amerika und wollte den berühmten Waßerfall eines gewißen

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Stroms sehen. Zu dem Ende handelte er mit einem Wilden, daß er ihn hinführte. Als die beyden ihren Weg vollendet hatten, und an den Waßerfall hinkamen – machte der Europäer große Augen und untersuchte; und der Wilde legte sich, so lang er war, auf sein Angesicht nieder, und blieb so eine Zeitlang liegen. Ihn fragte sein Reisegefährte: Wozu und für wen er dies thue? Und der Wilde gab zur Antwort: Für den großen Geist.« Meine Meynung hiebey ist: der Bote im Walde habe wirklich an Gott gedacht; und der Wilde, der vor dem Waßerfall auf sein Angesicht niederfiel, den wahren Gott vor Augen | und im Herzen gehabt. So gar vor einem plumpen Heiligenbilde, behaupte ich, könne ein Andächtiger, wenn nur das Herz in seiner Brust sich recht erhebe, von den erhabensten Empfindungen und Gedanken, von wesentlicher Wahrheit ganz durchdrungen werden, und, selbst geheiligt, davon gehen. Es ist allerdings ein eckelhafter Anblick, das Knien vor einem solchen Bilde, wenn man nicht weiß was in dem Knienden vorgeht, oder davon abstrahiert, und nur auf das B i l d achtet. Ich stelle aber einen Philosophen daneben mit seinem bloßen reinen Begriff von Gott. Dieser wettet nicht auf seinen Begriff, denn er weiß, dieser Begriff ist überschwenglich, und auf einen solchen Begriff, d a ß i h m e i n G e g e n s t a n d e n t s p r eche, läßt sich philosophischer Weise nicht wetten. Also fällt er auch nicht vor diesem zweydeutigen Gegenstande, den er nur seyn läßt a u s U r s a c h e n , ohne ihm das Daseyn w i r k l i c h u n d i n vollem Ernste einzuräumen – er fällt nicht vor diesem seinen eigenen ungewissen Gedanken nieder auf sein Angesicht – Es wäre zu lächerlich! So beugt er auch nicht gefühlvoll vor ihm die Knie: die Empfindung und die Stellung verletzten seine Würde! Er bleibt bey kaltem Blute, wohlwißend womit er es zu thun hat. Hoch aufgerichtet stellt er seinem Gotte sich gegenüber, um vor seinem Angesichte, mit vollkommener Gegenwart des Geistes – Nur sich selbst zu achten. Und dieser Anblick: wie wollen wir es nennen was er uns empfinden läßt? – Ist hier nicht beydes widerstehender, der Götze und der Mensch? Und beydes ist hier ganz inwendig. | »Vetter!« – schreibt der Bote seinem Andres – und ich u n t e rschreibe – »Wenn dir ein Mensch vorkommt, der sich so viel dünkt, und so groß und breit da steht: wende dich um und habe 28 verletzten] so Dv; D1: verletzen

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Mitleiden mit ihm. Wir sind nicht groß, und unser Glück ist, daß wir an etwas größeres und beßeres glauben können … die nicht so denken, und sich mehr glauben als sie sind, die lügen in ihren eigenen Beutel, und davon wird er nicht voll.« Und noch einmal sagt er: »Mich dünkt, wer e t w a s r e c h t e s weiß, der muß … Säh’ ich nur einmal einen, ich wollt ihn wohl kennen. Mahlen wollt’ ich ihn auch wohl: mit dem hellen, heiteren, ruhigen Auge; mit dem stillen, großen Bewustseyn … breit muß sich ein solcher nicht machen können; am allerwenigsten aber andre verachten und fegen. O! Eigendünkel und Stolz ist eine feindselige Leidenschaft; Gras und Blumen können in der Nachbarschaft nicht gedeyen.««

12 gedeyen.««] D1: gedeyen.«

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ANHANG.

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1. Ueber die Freyheit des Menschen.

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Erste Abtheilung. Der Mensch hat keine Freyheit. I. Die Möglichkeit des Daseyns aller uns bekannten einzelnen Dinge, stüzt und bezieht sich auf das Mitdaseyn anderer einzelner Dinge, und wir sind nicht im Stande, uns von einem für sich allein bestehenden endlichen Wesen eine Vorstellung zu machen. II. Die Resultate der mannichfaltigen Beziehungen der Existenz auf Coexistenz drücken sich in lebendigen Naturen durch Empfindungen aus. III. Das innere mechanische Verhalten einer lebendigen Natur nach Maaßgabe ihrer Empfindungen heißen wir B e g i e r d e und Abscheu; – oder: das empfundene Verhältniß der innerlichen Bedingungen des Daseyns und Bestehens einer lebendigen Natur zu den äußerlichen Bedingungen eben dieses Daseyns, oder auch nur das empfundene Verhältniß der innerlichen Bedingungen untereinander ist mechanisch verknüpft mit einer Bewegung, die wir Begierde oder Abscheu nennen. | IV. Was allen verschiedenen Begierden einer lebendigen Natur zum Grunde liegt, nennen wir ihren ursprünglichen Trieb, und er macht das Wesen selbst dieses Dinges aus. Sein Geschäft ist, das Vermögen da zu seyn der besondern Natur, deren Trieb er ist, zu erhalten und zu vergrößern. V. Diesen ursprünglichen natürlichen Trieb könnte man die Begierde a priori, die a b s o l u t e Begierde des einzelnen Wesens nennen. Die Menge der einzelnen Begierden sind von dieser unveränderlichen allgemeinen nur so viele gelegentliche Anwendungen und Modificationen. VI. Schlechterdings a priori, oder unbedingt allgemein könnte man eine Begierde nennen, wenn sie jedem einzelnen Wesen ohne Unterschied der Gattung, der Art und des Geschlechts zukäme, in sofern alle auf gleiche Weise bemüht sind, sich überhaupt im Daseyn zu erhalten. 9 endlichen von J gestr.

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VII. Ein durchaus unbestimmtes Vermögen ist ein Unding. Jede Bestimmung aber setzt etwas schon bestimmtes zum voraus, und ist die Folge und Erfüllung eines Gesetzes. Die Begierde a priori, sowohl der ersten als der zweyten Gattung, setzt also auch Gesetze a priori zum voraus. VIII. Der ursprüngliche Trieb des vernünftigen Wesens besteht, wie der Trieb eines jeden andern Wesens in dem unabläßigen Bestreben, das Vermögen d a z u s e y n der besonderen Natur, die er ausdrückt, zu erhalten und zu vergrößern. IX. Das D a s e y n vernünftiger Naturen wird, zum Unterschiede von allen andern Naturen, e i n p e r s ö n l i c h e s D a s e y n genannt. Dieses besteht in dem Bewußtseyn, wel|ches das besondere Wesen von seiner Identität hat, und ist die Folge eines höheren Grades des Bewußtseyns überhaupt. X. Der natürliche Trieb des vernünftigen Wesens, oder die vernünftige Begierde, geht also nothwendig auf die Erhöhung des Grades der Personalität; das ist, des lebendigen Daseyns selbst. XI. Die vernünftige Begierde überhaupt, oder d e n T r i e b d e s vernünftigen Wesens, als eines solchen, nennen wir d e n W i llen. XII. Das Daseyn eines jeden endlichen Wesens ist ein succeßives Daseyn; seine Personalität beruht auf Gedächtniß und Reflexion; seine eingeschränkte aber deutliche Erkenntniß auf Begriffen, folglich auf Abstraction, und Wort- Schrift- oder andern Zeichen. XIII. Das Gesetz des Willens ist, nach Begriffen der Uebereinstimmung und des Zusammenhanges, das ist n a c h G r u n d s ä t z e n , zu handeln: er ist das Vermögen practischer Prinzipien. XIV. So oft das vernünftige Wesen nicht in Uebereinstimmung mit seinen Grundsätzen handelt, so handelt es nicht nach seinem Willen, nicht gemäß einer vernünftigen, sondern einer unvernünftigen Begierde. XV. Durch die Befriedigung einer jeden unvernünftigen Begierde, wird die Identität des vernünftigen Daseyns unterbrochen; folglich die Personalität, welche allein im vernünftigen Daseyn gegründet ist, verletzt: mithin die Quantität des lebendigen Daseyns um so viel vermindert. | XVI. Derjenige Grad des lebendigen Daseyns, welcher die Person hervorbringt, ist nur eine Art und Weise des lebendigen Da21–24 XII. Das Daseyn … Zeichen. von J gestr.

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Anhang 1 · Über die Freiheit des Menschen

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seyns überhaupt, und nicht ein eigenes besonderes Daseyn oder Wesen. Deswegen rechnet sich die Person nicht allein diejenigen Handlungen, welche nach Grundsätzen in ihr erfolgen, sondern auch diejenigen zu, welche die Wirkungen unvernünftiger Begierden und blinder Neigungen sind. XVII. Wenn der Mensch, durch eine unvernünftige Begierde verblendet, seine Grundsätze übertreten hat, so pflegt er nachher, wenn er die übeln Folgen seiner Handlung empfindet, zu sagen: Mir geschieht recht. Da er sich der Identität seines Wesens bewußt ist, so muß er sich selbst als den Urheber des unangenehmen Zustandes anschauen, in dem er sich befindet, und in seinem Innern die peinlichste Zwietracht erfahren. XVIII. Auf diese Erfahrung gründet sich das ganze System der practischen Vernunft, i n s o f e r n e s n u r ü b e r E i n e m G r u n dtriebe erbaut ist. XIX. Hätte der Mensch nur E i n e Begierde, so würde er gar keinen Begriff von Recht und Unrecht haben. Er hat aber mehrere Begierden, die er nicht alle in gleichem Maaße befriedigen kann; sondern die Möglichkeit der Befriedigung der Einen, hebt die Möglichkeit der Befriedigung der Andern in tausend Fällen auf. Sind nun alle diese verschiedenen Begierden nur Modificationen einer einzigen ursprünglichen Begierde, so giebt diese das Prinzip an die Hand, nach welchem die verschiedenen Begierden sich gegen einander abwiegen laßen, und wodurch das Verhältniß bestimmbar wird, nach | welchem sie, ohne daß die Person mit sich selbst in Widerspruch und Feindschaft gerathe, befriedigt werden können. XX. Ein solches innerliches Recht bildet sich unvollkommen in jedem Menschen auf eine mechanische Weise, vermöge der Identität seines Bewußtseyns. Das äußerliche Recht, welches Menschen, wenn sie in eine bürgerliche Vereinigung treten, untereinander frey verabreden, und ungezwungen festsetzen, ist immer nur die Abbildung des unter den einzelnen Gliedern zu Stande gekommenen innerlichen Rechts. Ich verweise auf die Geschichte aller Völker, von welchen wir etwas ausführliche Nachrichten haben. XXI. Die größere Vollkommenheit, zu welcher, nach Umständen, das innerliche Recht gelangt, erfolgt nur als eine Fortsetzung und Ausarbeitung eben des Mechanismus, welcher das minder 7 verblendet] J: hingerissen

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vollkommene hervorbrachte. Alle Grundsätze ruhen auf Begierde und Erfahrung, und setzen, in sofern sie wirklich befolgt werden, eine anderswoher schon bestimmte Thätigkeit zum voraus; sie können nie der Anfang oder die e r s t e Ursache einer Handlung seyn. Die Fähigkeit und Fertigkeit wirksame Grundsätze auszubilden oder practisch anzunehmen, ist wie die Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen; wie das Vermögen diese Vorstellungen in Begriffe zu verwandeln; wie die Lebhaftigkeit und Energie des Gedankens; wie der Grad des vernünftigen Daseyns. XXII. Das Prinzip (oder das a priori) der Grundsätze überhaupt, ist die ursprüngliche Begierde des vernünftigen Wesens, sein eigenes besonderes Daseyn, d a s i s t , s e i n e | P e r s o n zu erhalten, u n d w a s i h r e I d e n t i t ä t v e r l e t z e n w i l l , s i c h z u u n t e r w e rfen. XXIII. Aus eben diesem Triebe fließt eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit zur Gerechtigkeit gegen andre. D a s v e r n ü n ft i g e W e s e n k a n n s i c h a l s v e r n ü n f t i g e s W e s e n (in der Abstraction) v o n e i n e m a n d e r n v e r n ü n f t i g e n W e s e n n i c h t unterscheiden. Ich und Mensch ist Eins; E r und M e n s c h ist Eins: a l s o s i n d e r u n d i c h E i n s . Die Liebe der P e r s o n schränkt also die Liebe des Individui ein, und nöthigt seiner nicht zu achten. Damit aber letzteres in der Theorie nicht bis zur möglichen Vertilgung des Individui ausgedehnt, u n d e i n b l o ß e s N i c h t s i n P e r s o n ü b r i g g e l a ß e n w e r d e , sind genauere Bestimmungen erforderlich, welche im vorhergegangenen schon angedeutet sind, und deren weitere Erörterung hier zu unserem Zwecke nicht gehört. Uns genügt auf diesem Wege zur deutlichen Einsicht gelangt zu seyn, wie jene moralischen Gesetze, welche apodictische Gesetze der practischen Vernunft genannt werden, zu Stande kommen, und nun entscheiden zu können, daß der einfache, mit Vernunft verknüpfte Grundtrieb, bis zu seiner höchsten Entwickelung hinauf, lauter Mechanismus und keine Freyheit zeige, obgleich ein S c h e i n von Freyheit d u r c h d a s o f t e n t g egengesetzte Intereße des Individui u n d d e r Person, und das abwechselnde Glück einer Herrschaft, worauf die Person allein mit deutlichem Bewußtseyn verknüpfte Ansprüche hat, zuwege gebracht wird. |

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Zweyte Abtheilung. Der Mensch hat Freyheit.

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XXIV. Daß sich das Daseyn aller endlichen Dinge auf Mitdaseyn stütze, und wir nicht im Stande sind, uns von einem schlechterdings für sich bestehenden Wesen eine Vorstellung zu machen, ist unläugbar; aber eben so unläugbar, daß wir noch weniger im Stande sind, uns eine Vorstellung von einem durchaus abhängigen Wesen zu machen. Ein solches Wesen müßte ganz paßiv seyn, und könnte doch nicht paßiv seyn; denn was nicht schon etwas ist, kann nicht zu etwas blos b e s t i m m t werden; was an sich keine Eigenschaft hat, in dem können durch Verhältnisse keine erzeugt werden, ja es ist nicht einmal ein Verhältniß in Absicht seiner möglich. XXV. Wenn nun ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenkbar, sondern ein Unding ist, so muß eine blos vermittelte, das ist ganz mechanische Handlung ebenfalls ein Unding seyn: folglich ist Mechanismus a n s i c h nur etwas zufälliges, und es muß eine r e i n e Selbstthätigkeit ihm nothwendig überall zum Grunde liegen. XXVI. Indem wir erkennen, daß jedes endliche Wesen sich in seinem Daseyn, folglich auch in seinem Thun und Leiden auf andre endliche Wesen nothwendig stützt und bezieht, erkennen wir zugleich die Unterwerfung aller und jeder einzelner Wesen unter mechanische Gesetze: denn in sofern ihr Seyn und Wirken v e rmittelt ist, in sofern muß es schlech|terdings auf Gesetzen des Mechanismus beruhen: jedes Handlung ist zum Theil die Handlung eines anderen. XXVII. Die Erkenntniß deßen, was das Daseyn der Dinge v e rmittelt, heißt eine deutliche Erkenntniß; und was keine Vermittelung zuläßt, kann von uns nicht deutlich erkannt werden. XXVIII. Absolute Selbstthätigkeit schließt Vermittelung aus, und es ist unmöglich, daß wir das Innere derselben auf irgend eine Art deutlich erkennen. XXIX. Es kann also die Mö glichkeit absoluter Selbstthätigkeit nicht erkannt werden; wohl aber ihre Wirklichkeit, welche sich unmittelbar im Bewußtseyn darstellt, und durch die That beweist. XXX. Sie wird F r e y h e i t genannt, in sofern sie sich dem Mechanismus, welcher das sinnliche Daseyn des einzelnen Wesens ausmacht, entgegen setzen und ihn überwiegen kann.

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XXXI. Wir kennen unter den lebendigen Wesen nur den Menschen, als mit demjenigen Grade des Bewußtseyns seiner Selbstthätigkeit begabt, welcher den Beruf und Antrieb zu freyen Handlungen mit sich führt. XXXII. Es bestehet also die Freyheit nicht in einem ungereimten Vermögen, sich ohne Gründe zu entscheiden; eben so wenig in der Wahl des Beßern unter dem Nützlichen, o d e r d e r v e r n ü n f t igen Begierde: denn eine solche Wahl, wenn sie auch nach den abgezogensten Begriffen geschieht, erfolgt doch immer nur mechanisch; – sondern es besteht diese Freyheit, dem Wesen nach, i n der Unabhängigkeit des Willens v o n d e r Begierde. | XXXIII. Wille ist reine Selbstthätigkeit, erhoben zu dem Grade des Bewußtseyns, welchen wir Vernunft nennen. XXXIV. Die Unabhängigkeit und innerliche Allmacht des Willens, oder die mögliche Herrschaft des intellectuellen Wesens über das sinnliche Wesen wird de facto von allen Menschen zugegeben. XXXV. Von den Weisen des Alterthums, am mehrsten von den Stoikern ist es bekannt, daß sie zwischen Dingen der Begierde, und Dingen der Ehre keine Vergleichung zuließen. Die Gegenstände der Begierde, sagten sie, könnten nach der Empfindung des Angenehmen, und den Begriffen des Zuträglichen untereinander verglichen, und eine Begierde der andern aufgeopfert werden; das Prinzip der Begierde aber liege außer allem Verhältniße mit dem P r i n z i p d e r E h r e , welches nur E i n e n Gegenstand habe: die Vollkommenheit der menschlichen Natur a n s i c h , S e l b s t t h ät i g k e i t , Freyheit. Daher waren alle Vergehungen bey ihnen gleich, und immer nur die Frage, aus welchem von den beyden unvergleichbaren Prinzipien, die unmöglich je miteinander in eine wirkliche Collision kommen konnten, die Handlung geschehen war. Denjenigen wollten sie mit Recht allein einen freyen Mann genannt wißen, der nur das Leben seiner Seele lebte, sich nach den Gesetzen seiner eigenen Natur bestimmte, also n u r sich gehorchte und immer s e l b s t handelte. Lauter Knechte sahen sie im Gegentheil in denen, welche, durch Dinge der Begierde bestimmt, den Gesetzen dieser Dinge nachlebten, und sich ihnen unterwarfen, damit sie von denselben auf eine ihren Begierden gemäße Weise | unaufhörlich verändert und in Handlung gesetzt werden möchten. XXXVI. Wie weit nun auch unser aufgeklärtes Zeitalter über – die S c h w ä r m e r e y e n – oder den Mysticismus eines Epictets

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oder Antonins erhaben seyn mag, so sind wir doch in der D e u tlichkeit und Gründlichkeit noch nicht so weit gekommen, daß wir von allem Gefühl der Ehre los wären. So lange aber noch ein Funken dieses Gefühls im Menschen wohnt, so lange ist ein unwidersprechliches Zeugniß der Freyheit, ein unbezwinglicher Glaube an die innerliche Allmacht des Willens in ihm. Mit dem Munde kann er diesen Glauben verläugnen, aber er bleibt im Gewißen, und bricht einmal unversehens hervor, wie im Mahomet des Dichters, wo dieser in sich gekehrt und b etroffen die schauderhaften Worte ausspricht: Il est donc des remords!

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XXXVII. Allein nicht einmal mit dem Munde kann er ganz verläugnet werden, dieser Glaube. Denn wer will den Namen haben, daß er nicht allen Versuchungen zu einer schändlichen Handlung jederzeit widerstehen werde; wer nur, daß er hier zu überlegen, Vortheile oder Nachtheile in Betrachtung zu ziehen, an G r a d oder Größe (oder auch an einen categorischen Imperativ, an ein Gesetz) z u d e n k e n n ö t h i g h a b e ? – Und auf dieselbe Weise urtheilen wir auch in Absicht anderer Menschen. Sehen wir jemand das Angenehme dem Nützlichen vorziehen; zu seinen Zwecken verkehrte Mittel wählen; sich selbst in seinen Wünschen und Bestrebungen widersprechen: wir finden nur, daß er unver-| nünftig, thöricht handelt. Ist er nachläßig in der Erfüllung seiner Pflichten, befleckt er sich sogar mit Lastern; ist er ungerecht und übt Gewaltthätigkeiten aus: wir können ihn haßen, verabscheuen; – aber ihn ganz wegwerfen können wir noch nicht. Verläugnet er aber auf irgend eine entschiedene Weise das Gefühl der Ehre; zeigt er, daß er i n n e r e Schande tragen, oder Selbstverachtung nicht mehr f ü h l e n kann; dann werfen wir ihn ohne Gnade weg, er ist Koth unter unseren Füßen. XXXVIII. Woher diese unbedingten Urtheile; woher solche ungemeßene Anmaßungen und Forderungen, die sich nicht einmal auf Grundsätze und ihre Befolgung einschränken, sondern das Gefühl in Anspruch nehmen, und sein Daseyn apodiktisch fordern? XXXIX. Sollte sich das Recht dieser Anmaßungen und Forderungen wohl auf eine Formel, etwa auf die Einsicht in die richtige Verknüpfung, auf die gewiße Wahrheit des Resultats folgender Sätze gründen: Wenn A ist wie B, und C ist wie A, so ist B wie C? – S p inoza erwies auf diese Art, der Mensch, in sofern er ein vernünfti-

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ges Wesen sey, opfre eher sein Leben auf, wenn er auch keine Unsterblichkeit der Seele glaube, als daß er durch eine Lüge sich vom Tode rettete;1 und in abstracto hat Spinoza recht. Es ist eben so unmöglich, daß der Mensch der r e i n e n V e r n u n f t lüge oder betrüge, als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn. Aber wird das wirkliche mit Ver|nunft begabte Wesen sich von dem abstracto seiner Vernunft wohl so in die Enge treiben, von einem Gedankendinge durch ein Wortspiel so ganz sich gefangen nehmen laßen? –– Nimmermehr! – Wenn auf Ehre Verlaß ist, und der Mensch W o r t h a l t e n kann, so muß noch ein andrer Geist, als der bloße Geist des Syllogismus in ihm wohnen. XL. Ich halte diesen andern Geist für den Othem Gottes in dem Gebilde von Erde. XLI. Es beweist dieser Geist zuerst sein Daseyn im Verstande, der wirklich ohne ihn jener wunderbare Mechanismus seyn würde, welcher nicht allein die Leitung eines Sehenden durch einen Blinden möglich, sondern auch die Nothwendigkeit einer solchen Einrichtung durch Vernunftschlüße erweislich machte. Wer bändigt hier den Syllogismus, indem er seine Vordersätze schlägt? A l l e i n dieser Geist, durch seine Gegenwart in Thaten der Freyheit, und einem unvertilgbaren Bewußtseyn. XLII. Wie dieses Bewußtseyn die Ueberzeugung selbst ist: Intelligenz für sich allein sey wirksam; sey die höchste, ja die einzige uns wahrhaft bekannte Kraft: so lehrt es auch unmittelbar den Glauben an eine Erste allerhöchste Intelligenz; an einen verständigen Urheber und Gesetzgeber der Natur, an e i n e n G o t t , der ein Geist ist. XLIII. Aber dieser Glaube erhält erst seine volle Kraft und wird Religion, wenn im Herzen des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt. | XLIV. Reine Liebe? – Giebt es eine solche? – – Wie beweist sie sich, und wo findet man ihren Gegenstand? XLV. Wenn ich antworte, das Prinzip der Liebe sey daßelbe, von deßen Daseyn als Prinzip der Ehre wir uns schon versicherten: so wird man nur ein größeres Recht zu haben glauben, in Absicht des Gegenstandes, den ich darstellen soll, dringend zu werden. 1

Eth. P. IV. Pr. LXXII.

6 Wesen] J: Wesen, die Seele,

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XLVI. Ich antworte also: der Gegenstand der reinen Liebe ist derjenige, den ein S o kr a t e s vor Augen hatte. Er ist das veion im Menschen; und die Ehrfurcht vor diesem Gö ttlichen, ist was aller Tugend, allem Ehrgefühl zum Grunde liegt. XLVII. Construiren kann ich weder diesen Trieb noch seinen Gegenstand. Ich müßte, um es zu können, wißen, wie Substanzen erschaffen werden, und ein nothwendiges Wesen m ö g l i c h ist. Aber meine Ueberzeugung von ihrem Daseyn wird folgendes vielleicht noch etwas mehr erläutern. XLVIII. Wenn das Weltall kein Gott, sondern eine Schöpfung; wenn es die Wirkung einer freyen Intelligenz ist: so muß die ursprüngliche Richtung eines jeden Wesens, Ausdruck eines Göttlichen Willens seyn. Dieser Ausdruck in der Creatur ist ihr ursprüngliches Gesetz, in welchem die Kraft es zu erfüllen nothwendig mit gegeben seyn muß. Dieses Gesetz, welches d i e B ed i n g u n g d e s D a s e y n s d e s W e s e n s s e l b s t , sein u r s p r ü n glicher Trieb, sein eigener Wille ist, kann mit den Naturgesetzen, welche nur Resultate von Verhältnißen sind, und durchaus auf Vermittelung beruhen, nicht verglichen werden. Nun | gehört aber jedes einzelne Wesen zur Natur; ist also auch den Naturgesetzen unterworfen, und hat eine d o p p e l t e Richtung. XLIX. Die Richtung auf das Endliche ist der sinnliche Trieb oder das Prinzip der Begierde; die Richtung auf das Ewige ist der intellectuelle Trieb, das Prinzip reiner Liebe. L. Wollte man mich über diese doppelte Richtung selbst zur Rede stellen; nach der Möglichkeit eines solchen Verhältnißes und der Theorie seiner Einrichtung fragen: so würde ich mit Recht eine solche Frage abweisen, weil sie die Möglichkeit und Theorie der Schöpfung, Bedingungen des Unbedingten zum Gegenstande hat. Es ist genug, wenn das Daseyn dieser doppelten Richtung und ihr Verhältniß durch die That bewiesen und von der Vernunft erkannt ist. Wie sich alle Menschen Freyheit zuschreiben, u n d a l l e i n i n d e n B e s i t z d e r s e l b e n ihre Ehre setzen; so schreiben sich auch alle ein Vermögen reiner Liebe, und ein Gefühl der überwiegenden Energie deßelben zu, worauf die Möglichkeit der Freyheit beruht. Alle wollen Liebhaber der Tugend selbst, nicht der mit ihr verknüpften Vortheile seyn; alle wollen von einem S c h ö n e n wißen, welches nicht blos d a s A n g e n e h m e ; von einer Freude, die nicht bloßer Kitzel sey.

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LI. Handlungen, welche aus diesem Vermögen wirklich hervorgehen, nennen wir gö ttliche Handlungen; und ihre Quelle, die Gesinnungen selbst, göttliche Gesinnungen. Auch begleitet sie eine Freude, die mit keiner andern Freude ver|glichen werden kann: e s ist die Freude, die Gott selbst an seinem Daseyn hat. LII. Freude ist jeder Genuß des Daseyns; so wie alles, was das Daseyn anficht, Schmerz und Traurigkeit zuwege bringt. Ihre Quelle ist die Quelle des Lebens und aller Thätigkeit. Bezieht aber ihr Affect sich nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich: S e e l e d e s T h i e r s . Ist sein Gegenstand das Unvergängliche und Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst, und seine Beute Unsterblichkeit.

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2. Aus Allwills Briefsammlung Vorrede. Seite XVI. die Anmerkung.

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Ich nenne I n s t i n k t diejenige Energie, welche ursprünglich, ohne Hinsicht auf noch nicht erfahrene Lust und Unlust, die Art und Weise der Selbstthätigkeit bestimmt, womit jede Gattung lebendiger Naturen, als die Handlung ihres eigenthümlichen Daseyns selbst anfangend und alleinthätig fortsetzend gedacht werden muß. Der Instinkt sinnlich vernünftiger (d. i. Sprache erzeugender) Naturen hat, i n s o f e r n d i e s e N a t u r e n b l o s i n i h r e r vernünftigen Eigenschaft betrachtet werden, | die Erhaltung und Erhöhung des persönlichen Daseyns (des S e l b s tbewußtseyns; der Einheit des reflectierten Bewußtseyns mittelst continuirlicher durchgängiger Verknüpfung: – Zusammenhang –) zum Gegenstande; und ist folglich auf alles, was dieses befördert, unaussetzlich gerichtet. In der h ö c h s t e n Abstraction, wenn man die vernünftige Eigenschaft r e i n absondert; sie nicht mehr als Eigenschaft, sondern ganz für sich allein betrachtet: geht der Instinkt einer solchen bloßen Vernunft allein auf Personalität, mit Ausschließung der Person u n d d e s Daseyns, weil P e r s o n und D a s e y n Individualität verlangen, welche hier nothwendig wegfällt.

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Die reine Wirksamkeit dieses lezten Instinkts, könnte r e i n e r Wille heißen. Spinoza gab ihr den Namen: A f f e c t der Vernunft. Man könnte sie auch das H e r z der bloßen Vernunft nennen. Ich glaube, daß wenn man dieser Indication philosophisch nachgeht, mehrere schwer zu erklärende Erscheinungen, auch die eines unstreitig vorhandenen categorischen Imperativs der Sittlichkeit, seines Vermögens und Unvermögens, sich vollkommen begreiflich werden finden laßen. Man muß aber zugleich auf die F u n c t i o n d e r S p r a c h e b e y u n s e r e n U r t h e i l e n u n d Schlüßen wohl Acht haben, damit man durch Instanzen, welche auf nur etwas schwer zu enträthselnden Wortspielen beruhen, nicht irre oder muthlos gemacht werde.

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| 3. Aus derselben Schrift S. 295. So wenig der unendliche Raum die besondere Natur irgend eines Körpers bestimmen kann; so wenig kann r e i n e Vernunft des Menschen mit ihrem überall eben guten Willen, da sie in allen Menschen E i n e u n d d i e s e l b e ist, die Grundlage eines besondern, verschiedenen Lebens ausmachen, und der w i r k l ichen Person ihren eigenthümlichen individuellen Werth ertheilen. Was die e i g e n e Sinnesart, den e i g e n e n festen Geschmack hervorbringt, jene wunderbare innerliche Bildungskraft, jene unerforschliche E n e r g i e , die, alleinthätig, ihren Gegenstand sich bestimmt, ihn ergreift, festhält – e i n e P e r s o n a n n i m m t – und das Geheimniß der Sklaverey und Freyheit eines jeden insbesondere ausmacht: das entscheidet. Es entscheidet und stehet da im Vermögen – nicht des Syllogismus (welches man mit dem Vermögen der Einen Hälfte einer Scheere oder Zange vergleichen könnte) – sondern der Gesinnungen; im Vermögen eines unveränderlichen, über alle Leidenschaften siegenden A f f e c t s . Wenn ich auf das Wort eines Namentlichen Mannes fuße, so bringe ich dabey seine reine | Vernunft nicht mehr, als die Bewegung seiner Lippen und den Schall aus seinem Munde in Anschlag. Ich traue dem Worte um des Mannes, und dem Manne um s e i n

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selbst willen. Was in ihm mich gewiß macht, ist seine Sinnesart, sein Geschmack, sein Gemüth und Charakter. Ich gründe meinen Bund mit ihm auf den Bund, den er mit sich selbst hat, wodurch er ist der er seyn wird. Ich glaube dem in seinem H e r z e n tief verborgenen unsichtbaren Worte, das er geben will und k a n n . Ich verlaße mich auf eine geheime Kraft in ihm, welche stärker ist als der Tod. Uebrigens, da dem Menschen j e d e M e y n u n g lieber als sein Leben werden kann, so liegt die Gewalt überhaupt der Begriffe, die überwiegende Energie der vernünftigen Natur (nicht des Gedankendinges Vernunft) damit so klar zu Tage, daß nur ein Thor sie läugnen kann. Und wie sollte ihre Gewalt nicht die höchste, der B e g r i f f nicht im allgemeinen mächtiger als die Empfindung seyn, da unser zeitliches, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetztes Bewußtseyn, im B e g r i f f e allein sein Daseyn haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß sein zeitliches Leben erst erzeugen, innerlich alleinthätig, durch V e rknüpfung. Also ist die F o r m des Lebens, und der T r i e b zum Leben, und das L e b e n s e l b s t , im W i r k l i c h e n nur Eins. Der Gegenstand des unbedingten Triebes, welchen wir den G r u n dtrieb nennen, ist unmittelbar die F o r m des Wesens, deßen Trieb oder wirksames Vermögen er ist. Diese Form im Daseyn zu erhalten, sich in ihr auszudrücken, ist sein unbedingter Zweck und das | Prinzip aller Selbstbestimmung in der Kreatur; so daß kein Wesen vermag sich einen Zweck vorzusetzen, als Kraft seines Triebes und ihm gemäß. Ueberhaupt beziehen sich die Triebe auf B e d ü r fniß. Alles Lebendige in der Natur bewegt sich mit A b s i c h t , das ist, nach Verhältnißen der Bedürfniße. Der erste Grund und die Art der Entstehung dieser Verhältniße ist unerforschlich, und wir können daher eben so wenig den Trieb aus dem Bedürfniße, als das Bedürfniß aus dem Triebe erklären; können eben so wenig sagen, dieser bestimme jenes, als jenes diesen. Der erste Anfang von beyden ist außer ihnen, und ist ein gemeinschaftlicher Anfang. Nur das Geschäft des Triebes: einen gewißen Zusammenhang zu erhalten, fortzusetzen, zu erweitern, erkennen wir, und zwar, nothwendig; weil ein unverknüpftes, und nicht sich selbst (innerlich und äußerlich) verknüpfendes endliches Wesen, ein Unding ist. TOTUM PARTE PRIUS ESSE, NECESSE EST. Aber kann auch das N i c h t s eine Form haben oder annehmen, und dadurch Etwas seyn oder werden? Läßt sich eine Form, die

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Anhang 4 · Aus Woldemar

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lauter Form wäre, denken; eine Wirksamkeit, deren alleinige Absicht r e i n e , das ist l e e r e Absicht wäre, ohne v o n und ohne z u ? Kein Trieb, wie sehr man ihn in sich allein betrachte, will nur seine eigene freye Wirksamkeit. Sein Wesen ist Verhältniß: er will Befriedigung. Der Trieb der vernünftigen Natur zum an sich Wahren und Guten ist auf ein Daseyn an sich, auf ein vollkommenes Leben, ein L e b e n i n s i c h s e l b s t gerichtet; er fodert | Unabhängigkeit; Selbstgenügsamkeit; Freyheit! – Aber in wie d u n k l e r , d u n k l e r Ahndung nur! Denn wo ist Daseyn und Leben in sich, wo ist Freyheit? Wahrlich nur j e n s e i t s der Natur! Denn innerhalb der Natur ist alles offenbar unendlich mehr im a n d e r n , als in s i c h , und Freyheit nur im Tode! Dennoch wißen wir, daß etwas i s t , und w a r , und s e y n w i r d – ein Urheber jener natürlich unerzeugten Thätigkeit in uns; des K e r n s unseres Daseyns, wunderbar umgeben mit Vergänglichkeit – in sie versenkt, ein Saame der aufgehen wird. Ewiges Leben ist das Wesen der Seele, und darum ihr unbedingter Trieb. Und woher käme ihr der Tod? Nicht von dem Vater des Lebens und alles Guten, der in dem innersten unseres Herzens und Willens sein eigenes Herz und seinen eigenen Willen abdrückte, und nichts anderes darin abdrücken konnte.

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| 4. Aus Woldemar Th. I. S. 138. Jezt erzählte Woldemar noch seinen Freunden, wie er einmal bis zur Schwermuth tiefsinnig über die Frage geworden: Was der menschliche Geist, bey dem Streben nach Tugend, eigentlich a nstrebe? Was er, indem er wahrhaft und allein auf diesen Gegenstand gerichtet sey, wahrhaft und allein im Auge habe? Zu verschiedenen Zeiten wurden so verschiedene, oft entgegengesezte Dinge, für die wahren und einzigen Gegenstände dieses Triebes angenommen; und wie die Meynungen der Menschen hierüber von einander abwichen, eben so wichen auch ihre Meynungen über Glückseligkeit von einander ab.

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Lauter Schatten! – Fließende, verwirrende Gestalten! … B i lder? – Wo das U r b i l d ? War das Urbild unerforschlich, wie konnte je die Einsicht des Guten zuverläßig werden? Wie konnte der Wille des Guten nur sich selbst erkennen, sich selbst verstehen, bey sich bleiben, und ein unveränderlicher Wille werden? Oder war vielleicht dieser Wille nur die unmittelbare Folge des a n a l l g e m e i n e B e g r i f f e u n d B i l d e r g e | k n ü p f t e n p e r s ö nlichen Bewußtseyns; nur der allen Naturen wesentliche T r i e b der Selbsterhaltung in rein vernünftiger Gestalt? – Dann hatte er keinen Gegenstand, als seine eigene Thätigkeit; und aller Tugenden Urbild und Quelle war die bloße rein- und leere Form des D a s e y n s i m G e d a n k e n : P e r s ö n l i c h k e i t o h n e P e r s o n und Personen-Unterschied. Also lag der ganze Zauber nur in einer T ä u s c h u n g d u r c h B e g r i f f u n d W o r t ; und so wie diese Täuschung aufgehoben wurde, kam das trostlose Geheimniß eines bloßen Zusammenspinnens von Daseyn und Daseyn, e i n z i g u n d a l l e i n u m d a z u seyn, zum Vorschein. Mir graute, sagte Woldemar, vor der Finsterniß und Leere, die in mir und um mich entstand. Aengstlich streckte ich beyde Arme aus, ob ich nicht Etwas noch ergreifen könnte, das mir ein Gefühl von Wirklichkeit und W e s e n wiedergäbe. Und mir geschah, wie in Büffons schöner Dichtung dem Ersten Menschen, da er, vom Schlummer überwältigt, gefürchtet hatte, nur ein zufälliges vorübergehendes Bewußtseyn, kein e i g e n e s L e b e n zu besitzen – dann, beym Erwachen, doppelt sich wiederfand – staunend ausrief: Ich! – Entzückter ausrief: M e h r als ich! – B e ß e r als ich! … Dahin ströme alle mein Leben! Eine Heldenschaar im Feyerkleide der Unsterblichkeit – A g i s und K l e o m e n e s – und in ewiger Schönheit die erhabenen Begleiter und Begleiterinnen ihres Lebens und ihres edleren Todes – Sie erschienen mir: Und wie ver|wandelt erwachte ich aus meinem schweren Traum. Mir war, als erführe ich dies alles jezt zum erstenmal; als hätte nicht Erinnerung meine Hand zu diesem Theile des P l u t a r c h geleitet. Ich hatte nie dabey empfunden, was ich jezt im auffallendsten Contrast empfand: daher wurde mir alles so neu. Ich fühlte, daß die Betäubung, aus der ich erwacht war, wenn sie mich auch wieder überfallen sollte, niemals wieder als ein Todesschlummer mich erschrecken würde: »I c h h a t t e z u i n n i g

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Anhang 5 · Aus einem Brief über Kants Sittengesetz

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j e z t e m p f u n d e n , d a ß i c h w a r , u m n o c h e i n m a l z u f ü r c ht e n , d a ß i c h a u f h ö r e n k ö n n t e z u s e y n .«

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| 5. Auszug aus einem Briefe an einen Freund über Kants Sittengesetz. Ich begreife nicht, wie Kant auf die Weise mißverstanden werden kann, wie ich ihn in der mir von Ihnen zugesandten Note mißverstanden sehe. Denn welches Werk man auch, um seine praktische Philosophie zu beurtheilen zum Grunde lege, so findet man, daß er mit dem Beweise anfängt: Es sey unmöglich ein Sittengesetz vom O b j e k t , als zu erwartender W i r k u n g d e r H a n d l u n g , herzuleiten; sondern es müße das Sittengesetz nothwendig aus dem Subjekt, als Ursache und Prinzip, a l l e r Z w e c k e ü b e r h a u p t , folglich auch aller besondern Handlungen, hergeleitet werden. – Wie wäre es also möglich, daß er eine Formel aufgestellt hätte, welche auf die Wirkung der Handlungen, als Bestimmungsgrunde derselben, Bezug nähme? Die in der Note erwähnte Formel heißt bey Kant: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich w o l l e n kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Oder: »Handle so als ob die Maxime deiner Handlungen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« Diese Formel | ist nichts weiter, und wird von Kant für nichts weiter ausgegeben, als für eine F o r m e l d. i. für ein M i t t e l der Beurtheilung der subjektiven Maximen, ob sie dem Gesetze, deßen erstes Merkmahl Allgemeinheit ist, nicht widersprechen. Eine Maxime, die in die Form der Allgemeinheit gebracht, sich selbst widerspricht, kann nicht zum Moralsystem gehören. – Die Quelle oder das Princip s e l b s t der Sittlichkeit ist V e rnünftigkeit. Die Vernünftigkeit aber besteht in demjenigen Vermögen eines Wesens, wodurch es sich von allen andern Dingen, ja 11 Grunde] D1: Grunde,

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von sich selbst, s o f e r n e s d u r c h G e g e n s t ä n d e a f f i c i r t w i r d , unterscheidet, oder in dem Vermögen, s i c h s e l b s t z u a f f i c i eren. So wie nun das Vernünftige Wesen, die S e e l e , das Ich, unmöglich als P r ä d i c a t v o n e t w a s A n d e r e m g e d a c h t werden kann, sondern nothwendig durch seine Natur Selbstseyend, Objekt und Subjekt zugleich ist; so kann es unmöglich auch in seinen Wirkungen anders als ursprünglich, durch sich selbst bestimmt, und sich selbst unmittelbar bestimmend gedacht werden, das heißt: Es ist seiner Natur nach Zweck, Z w e c k a n s i c h . Wenn ich nun mehrere vernünftige Wesen beysammen denke, so schränken sich diese, da j e d e s Zweck an sich ist, nothwendig gegenseitig in sofern ein, daß keines von dem andern bl o s a l s Mittel gebraucht werden darf. Das vernünftige Wesen giebt dieses Gesetz nothwendig sich selbst; oder: der vernünftige Wille bestimmt sich nothwendig durch sich selbst und ohne irgend eine andere Absicht, zur Gerechtigkeit. | Für den mit Sinnlichkeit afficierten Willen des Menschen verwandelt sich dieses W o l l e n der Intelligenz nun in folgendes S o llen, Gebot, oder Imperativ: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals blos als Mittel brauchest.« Auf diese Weise offenbart sich eine aufgegebene systematische Verbindung aller vernünftigen Wesen d u r c h e i n g e m e i nschaftliches Gesetz, oder die Idee eines R e i c h e s d e r Z w e kke. Es ist also diese Idee nicht das Prinzip des Gesetzes, sondern umgekehrt, es entwickelt sich aus der Vorstellung des Gesetzes, als auf gleiche Weise alle vernünftige Wesen verbindend, jene Idee. Der erste und lezte Grund aller Moralität ist Selbstachtung. Die Selbstachtung schränkt die Selbstliebe ein, gebietet ihr, unterwirft die P e r s o n , als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen P e rsönlichkeit. Diese Selbstachtung ist eine sichtbare Richtung unseres Gemüths durch das Bewußtseyn unserer Persönlichkeit, Selbstständigkeit und Freyheit, und dieses Bewußtseyn und Gefühl entsteht jedesmal, wenn der Wille sich in derjenigen Eigenschaft äußert, wodurch er sich selbst ein Gesetz ist, und damit zugleich auch allen andern vernünftigen Wesen ein Gesetz giebt.

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UEBER DAS UNTERNEHMEN DES KRITICISMUS, DIE VERNUNFT ZU VERSTANDE ZU BRINGEN, UND DER PHILOSOPHIE ÜBERHAUPT EINE NEUE ABSICHT ZU GEBEN (1802)

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Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben.

[11] [592]

Von Friedr. Heinr. Jacobi. Vorbericht.

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Die ersten Blätter des folgenden Aufsatzes sind aus einer vor mehreren Jahren angefangenen Schrift des Verfassers genommen, und er selbst war dort unter den Eingangs Angeredeten mit begriffen. Unter was für Umständen, auf welche Veranlassung und aus welchen Gründen, guten oder nur scheinbaren, er als mit den Kriticisten gemeine Sache machend angesehen, und mit ihnen zu einer gleichen Verantwortung gezogen werden konnte, braucht hier | nicht erzählt zu werden. Genug er kam in die Mitte zu stehen zwischen einem Enthusiasten des blos logischen Enthusiasmus und einem lebhaften Verfechter überhaupt des Positiven, und an ihm sollten die von den beyden Gegnern auf einander gerichteten heftigen Stöße sich brechen. So viel mußte hier gesagt werden, um die plötz|liche Anrede und den Ton im Fortgange zu erklären und zugleich zu entschuldigen. Nun die Geschichte, wie aus jener Rede die gegenwärtige Schrift geworden ist. Da mein Freund Reinhold mich in den Osterferien des vorigen Jahrs besuchte, las ich ihm, durch unsere Unterredungen darauf geführt, aus der erwähnten, noch nicht ganz ausgearbeiteten Schrift einige Stellen, und darunter auch diese Rede vor. Ich sagte ihm, daß ich sie umzuarbeiten und abzukürzen gedächte, damit sie

30 4–5 der Philosophie … g e b e n .] der Philosophie … geben. / (Zuerst

erschienen in Reinholds Beiträgen u. s. w. 3tes Heft 1801.) | Friedr. Heinr. Jacobi. fehlt 13 er] er in jener Schrift 31 3tes] D2: 3ter

6–7 Von

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Über das Unternehmen des Kritizismus · 1802

mehr Verhältniß zu dem übrigen bekäme. Er bat mich hierauf, sie ihm in ihrer gegenwärtigen Gestalt für seine Beyträge, deren Entwurf ihn gerade damals beschäftigte, zu überlassen: es bliebe mir dadurch ja unbenommen, sie an ihrer eigenen Stelle, abgekürzt oder unabgekürzt, von neuem erscheinen zu lassen. Ich willigte in das Begehren meines Freundes, und ging auch gleich nach seiner Abreise daran, dieses Stück aus meiner Handschrift auszuziehen. Unter dem Abschreiben entstanden mir vielerley Bedenken. Ich mußte nothwendig in einem Vorbericht mich über dies Fragment erklären; mußte ange|ben, wo und wie es entstanden, und warum es in die|sem Tone rede. Ferner waren ausdrückliche Belege und einige erörternde Anmerkungen nothwendig, da so wenige, so ä u ß e r s t wenige Leser der Kantischen Schriften sie genug gelesen, und die entscheidenden Sätze derselben alle auf die erforderliche g l e i c h e W e i s e genug behalten haben, um eine gedrängte Darstellung des zusammenhangenden Inhalts derselben, des im eigentlichsten Verstande g a n z e n Systems, zu fassen, und sie für eine gründliche, durchaus wahrhafte zu erkennen; wäre eine solche Darstellung auch so beschaffen, daß sich jeder einzelne Satz derselben zehnfach belegen, und die Richtigkeit der Zusammenstellung nach allen möglichen Beziehungen auf das unwiderleglichste, genaueste und pünctlichste erweisen ließe. Nach diesen und noch anderen Betrachtungen wurde mir mein gethanes Versprechen mehr als leid. Gern hätte ichs zurückgenommen, wäre nicht die Furcht vor dem Verdacht gewesen, daß ich eine ungegründete Aengstlichkeit blos vorschützte, weil ich überhaupt nicht Lust hätte, es zu halten. Ich überlegte daher, wie mir in meiner Noth zu rathen wäre, und fand diese Auskunft. Ich wollte an einem sich mir dazu anbietenden schicklichen Orte gegen das Ende der Rede ausbeugen, sie hier | etwas erweitern, Belege und Erörterungen einfließen lassen, und dem Ganzen dann noch mit Citaten und einigen kurzen Anmerkungen nachhelfen. Die Ungeduld, diese Arbeit, die mich drückte und von einer anderen mich sehr anziehenden abhielt, auf | die Seite zu bringen, ließ mich allzurasch ans Werk gehen. Ich vertraute meiner Eile. Sie und meine Ungeduld betrogen mich; und bald wurde nun, wie dies so oft der Fall ist, der Betrogene von seiner Seite wieder zum Betrüger. Unter der mir im Beginnen so widerwärtigen Beschäfti9–10 Fragment] so DvD2; D1: Fragmant

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gung entstand mir unvermerkt eine Lust, die mich verführte. Mit jedem Tage mehr wurde das neue Interesse dem älteren und meiner so bestimmten ersten Absicht Meister. Aber es dauerte noch lange, eh’ ich mir es selbst gestand, wirklich meine erste Absicht aufgab, und entschlossen zu mir sagte: dort ist nun dein entfernteres Ziel! Es hilft dir nichts, daß du dir die Zahl der Schritte bis dahin verbergen willst; das Seitwärtssehen aber nach dem ersten näheren, wenn du damit fortfährst, wird nur Krümmen in deinen Gang bringen, und dir den Weg verlängern! – Ich hatte nicht diese Herzhaftigkeit. Eine durch Zufälle erzwungene gänzliche Entfer|nung von meiner Arbeit auf viele Wochen mußte sie mir erst verschaffen. Jetzt, nach diesem Zeitraume, da ich mit erfrischtem Auge und ruhiger Ueberlegung das schon Ausgearbeitete und meine Vorbereitungen wieder ansah, stand ich keinen Augenblick mehr an, mir die Wahrheit zu bekennen, und einen besseren Entschluß zu fassen. Bedachtsam prüfte ich nun den mir wider meinen Willen entstandenen größeren Entwurf, ordnete seine Vollendung an, maß sorgfältig den Weg, den ich noch bis zu meinem Ziele hin zu machen hatte, bestimmte und zählte die Tagereisen, und versorgte | mich überflüßig mit allem Nöthigen, um nur ja nach wieder angetretener Reise keinen Aufenthalt mehr zu erfahren. So vorbereitet, ausgerüstet und versorgt, ging ich an die Fortsetzung meines Werks, und es förderte damit, wie es mußte. Schon war das Härteste überstanden, keine von den eigentlich gefährlichen Stellen mehr vor mir; noch eine kleine etwas unwegsame, doch schon mehr als halbgebahnte Strecke, und es führte mich nun ein bequemer Weg, durch anziehende, auch fruchtbare, Gegenden, nach dem ange-| strebten Ziele: da zwang mich ein trauriges Ereigniß, plötzlich inne zu halten. Ganze drey Monate lang machten Schwindel und eine damit zusammenhängende Augenschwäche mir fast alles Lesen und Schreiben so gut als unmöglich. Mehrmals während dieser Zeit hatten mich Veränderungen meines Zustandes, anstatt einer gehofften Besserung, nur Verschlimmerung erfahren lassen. Müde dieser Kränkungen, entsagte ich der Hoffnung ganz. Und jetzt kam mir der Gedanke, meinem Freunde Köppen, der mich öfter mit Besuchen von Lübeck aus erfreuete, bittend vorzuschlagen: ob er nicht aus meiner Vorbereitungs-Kladde und ihren Beylagen, die 2 dem] des

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ich noch vermehren könnte, den durch meine Krankheit unterbrochenen Aufsatz, meinem Entwurfe gemäß, vollenden wolle. Aus wahrer herzlicher Freundschaft verstand er sich dazu. Er hoffte, ich würde leichter genesen, wenn er mir diese Sache, da sie eine für mich so unglückliche Epoche bezeichnete, aus dem Gemüth schaffte, und der Erfolg hat bewiesen, daß er | sich wenigstens nicht ganz hierin betrog. Gelingen mußte das Unternehmen dem Verfasser der Abhandlung über die Systeme, im zweyten Hefte dieser Beyträge, und einer | späteren, im sechsten Hefte des diesjährigen Genius der Zeit; und ich konnte, da ich ihn versicherte: durch seine Willfährigkeit würde aus meiner Noth für mein Werk eine Tugend werden, der Bestätigung meines Wortes durch den Erfolg gewiß seyn. Die Stelle in dem folgenden Aufsatze, wo die Ausarbeitung meines Freundes anhebt, habe ich dort in einer Note angezeigt. Folgendes, den Inhalt und die Absicht meiner Schrift Betreffende, finde ich hier noch vorauszuschicken nothwendig. Die Kantische Kritik hat die Auflösung des Problems zum Gegenstande, wie Erkenntnisse a priori, das heißt, wie Begriffe, Urtheile, Vorstellungen von Gegenständen, theils schlechterdings und durchaus unabhängig von der Erfahrung; theils ihr wenigstens vorgreifend, sie anticipirend; überall aber ohne irgend eine Beymischung aus derselben – m ö g l i c h sind. Zum Beweise, daß es dergleichen reine Begriffe, Urtheile und Vorstellungen von Gegenständen, die schlechterdings nicht aus der Erfahrung, sondern aus dem Erkenntnißvermögen a l l e i n entspringen, wirklich gebe; werden reine Mathematik und reine Na-| turlehre, nebst denen auch dem gemeinsten Verstande offenbaren Grundsätzen der Erfahrung, welche, da sie der Erfahrung das Gesetz geben, nicht aus der | Erfahrung erst entsprungen seyn können; dann auch noch besonders jene Erkenntnisse angeführt, die in gar keiner Erfahrung anzutreffen sind, und mit denen eine eigene Wissenschaft, Metaphysik, deren Gegenstände G o t t , F r e y h e i t und Unsterblichkeit sind, sich beschäftigt.

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13 Stelle in dem folgenden Aufsatze] Stelle 14–15 habe ich … angezeigt] 35 wird man angezeigt finden 17 finde ich] ist 19 Gegenstande,] Gegenstande: 27 gebe;] so DvD2; D1: gebe,

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Die Frage von den sämtlichen Erkenntnissen a priori läßt sich, nach Kant, auf die eine Frage: wie sind synthetische Urtheile überhaupt a priori möglich? zurückführen. Die Möglichkeit analytischer Urtheile a priori soll sich aus dem Facto der Logik, (die a m A n f a n g e i s t , obgleich Synthesis der Analysis nothwendig überall vorgeht;) so wie die Möglichkeit synthetischer Urtheile a posteriori aus dem Facto der gemeinen Erfahrung, von selbst verstehen. Aber warum denn nicht eben so die Möglichkeit apriorischer synthetischer Urtheile, da sie sich nicht minder durch die That beweisen? Einmal, weil, wie gesagt, die Logik am An|fange und hier etwas schon ganz ausgemachtes ist, eben so wie die wirkliche Erfahrung beydes am Ende und zugleich am Anfange. Hernach, weil eine neue gründlichere Untersuchung der reinen synthetischen Principien, wegen der vielfältig von ihnen gemachten unzulässigen, dem Fortgange der wahren Wissenschaft nachtheiligen Anwendungen, dann auch wegen anderer sie betreffender Ereignisse, nothwendig geworden. Ihre Realität und Gültigkeit war mehrmals angefochten worden, und noch ganz kürzlich hatte einer der scharfsin|nigsten und tiefdenkendsten Philosophen, David Hume, nicht nur erhebliche, sondern auch sehr lehrreiche und die Wissenschaft befördernde Zweifel dawider erregt, indem er die Unmöglichkeit der Anwendung der Principien a priori außerhalb den Grenzen der Erfahrung in das helleste Licht stellte. Um nun zugleich das Irrige in den Humischen Behauptungen zu widerlegen, und das Wahre in denselben zu bestätigen, wählt Kant einen ganz eigenen Weg. Er räumt dem Gegner ein, der Verstand könne einer wirklichen Erfahrung, (einer Erfahrung von Gegenständen, die wirklich außer u n s e r m Subject vorhanden, nicht bloße Erschei|nungen wären,) allerdings nicht vorgreifen; einer Erfahrung b l o s in d e r E i n b i l d u n g hingegen (einer

5 am] am 6–7 Möglichkeit synthetischer] Möglichkeit synthetischer 9–10 apriorischer synthetischer] apriorischer synthetischer 24 den] 28 ein,] ein: 32 in] i n 35 der 8 Erfahrung,] so DvD2; D1: Erfahrung 9–10 apriorischer synthetischer] 19–20 angefochten worden] so so Dv; D1D2: apriorischer synthetischer DvD2; D1: angefochten

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durchaus subjectiven) m ü s s e er nothwendig vorgreifen, indem das Einbilden allein durch ein solches Vorgreifen nach Gesetzen blos des Einbildens (Kategorien) möglich werde. Schon auf dem natürlichen Wege logischer Maximen, bemerkt Kant, werden wir dahin geführt, »die verschiedenen Kräfte unseres Gemüths, als da sind Empfindung, Bewußtseyn, Einbildung, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, Lust, Begierde u.s.w., so viel als möglich dadurch zu verringern, daß wir, durch Vergleichung, die versteckte Identität entdecken, und nachsehen: Ob nicht Einbildung mit Bewußtseyn verbunden Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, v i e l l e i c h t | g a r V e r s t a n d u n d Vernunft sey.«1 – Eine nützliche Weisung! Indem wir sie befolgen, gelangen wir wenigstens schon dahin, daß wir es als eine I d e e annehmen, die Einbildungskraft sey die e i n e Grundkraft des Gemüths, und alle übrigen angeblich | verschiedenen Kräfte desselben nur Modificationen von ihr; sind aber dann noch toto caelo davon entfernt, »die Möglichkeit einer Selbstgebärung des Verstandes samt der Vernunft, o h n e v o n d e r E r f a h r u n g g e s c h w ä n g e r t z u s e y n , und die Vermehrung der Begriffe aus sich selbst (die Epigenesis des Verstandes samt der Vernunft) einzusehen und zu begreifen2«; sind noch toto caelo davon entfernt, jene Selbstgebärung nun an uns selbst verüben und das menschliche Erkenntnißvermögen als ein Object-Subject a u s der Einbildungskraft allein, und allein d u r c h sie, construiren zu können, so daß sie, in ihrer producirenden Eigenschaft, als die ratio essendi, causa prima et efficiens aller Vorstellungen, als solcher; in ihrer reproducirenden aber, als die ratio cognoscendi, causa secunda, media et finalis derselben, überall aber zugleich als causa et effectus sui, und als das, was Alles in Allem ist, sich uns klar vor Augen stellte, und wir zu einer wahren und vollkommenen E i n s i c h t der Sache gelangten. Weil David Hume | sich zu dieser Einsicht nicht erhob, | und »die Möglichkeit jener Selbstgebärung geradezu für eine U n m ö glichkeit hielt; weil er gar nicht darauf verfiel, daß vielleicht der 1 2

Kr. d. r. Vernunft. S. 677. Kr. d. r. Vernunft. 793.

5 verschiedenen] Verschiedenheit der 8 verringern] reduciren aber] ihr. Wohl aber sind wir 35 793.] S. 793. 26 solcher;] so DvD2; D1: solcher,

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Verstand durch seine apriorischen Begriffe selbst Urheber der Erfahrung, worin seine Gegenstände angetroffen werden, seyn könne: nur darum drang ihn die Noth, die Principien der Erfahrung von der Erfahrung selbst abzuleiten, nämlich von einer durch öftere Association in der Erfahrung entsprungenen subjectiven Nothwendigkeit, welche zuletzt fälschlich für o b j e c t i v gehalten werde – folglich das ganze apriorische System für ein System von Täuschungen zu erklären1.« Also, wenn David Hume widerlegt und das apriorische System gegen die mit ihm Einverstandenen gerettet werden sollte, so mußte die Möglichkeit dessen, was er für unmöglich gehalten hatte, dargethan werden; und sie war dargethan, wenn gezeigt wurde, man hätte sich bisher allgemein geirrt, indem man allgemein angenommen, unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten, da in der Wahr|heit sich doch umgekehrt die Gegenstände nach unserer Erkenntniß richten müßten2. Dieses Zeigen aber, wenn es philosophisch geschehen sollte, war nur durch eine Deduction des Objects allein aus dem Subject, das ist, durch eine Construction zugleich des Objects und Subjects, so daß beyde sich, als sich ge|genseitig voraussetzend und zugleich identisch, darstellten, möglich; denn wie hätte sonst mit der Wirklichkeit apriorischer Erkenntnisse zugleich ihre Möglichkeit, mit ihrer Möglichkeit zugleich ihre Nothwendigkeit erhellen wollen? Es galt einen Versuch; wenn er gelang, so wurde die Hypothese zum Dogma; das nach ihr gemachte Experiment demonstrirte. Der Versuch gelang nach Wunsch, und sogar ü b e r die Erwartung. Denn das Object ergab sich dergestalt nothwendig aus dem Subject allein, daß jenem, als für sich bestehend, kaum noch eine sehr zweydeutige Existenz, aus dem Gerüchte der Empfindung, ganz außerhalb der Gränzen des Erkenntnißvermögens gelassen werden durfte. Hier im Leeren mochte es denn, »als an sich wirklich, | aber als von uns unerkannt und unerkennbar, beseitiget,«3 ein otium cum dignitate genießen, und seine problematische Wichtigkeit ungestört behaupten. 1

Kr. d. r. Vernunft. S. 793. 127. Kr. d. r. Vernunft, Vorrede. S. XVI. 3 Kr. d. r. Vernunft, Vorrede. S. XX. 2

26 Wunsch] so DvD2; D1: Wunsche

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Da aber zufolge dieser zwischen dem Object und Subject vorgenommenen philosophischen Theilung das zu Erkennende dem Erkennenden ganz entrückt und auf ewig von ihm getrennt wird: so scheint es fast, auch das Subject müßte sich, als Erkenntnißvermögen, nun ebenfalls zur Ruhe begeben. Ist doch das Wahre außer dem Erkenntnißvermögen; kann doch das letztre, ohne Widerspruch seines eignen Wesens, nicht herausgehen aus sich selbst; muß es doch dies | Wahre, ein für allemal, als ein von ihm nie zu Erkennendes l i e g e n und blos auf sich beruhen lassen! Wozu also eine unfruchtbare Geschäftigkeit in Absicht eines Gegenstandes, der, als Erkenntnißgegenstand, ewig für u n s ein offenbares Nichts, für s i c h nur ein problematisches Etwas bleibt? Leider ist das Glück eines otii cum dignitate für das Subject unerreichbar! Es kann nicht aufhören, sich in Beziehung auf das Object, dem es nicht beykom|men und das ihm wiederum nichts anhaben kann, zu beschäftigen, ohne daß es selbst aufhöre zu seyn. Soll es nun, nachdem es über die Nichtigkeit jeglicher Absicht auf das Object zur Erkenntniß gekommen ist, seine eigne Vernichtung, und so – ein vollkommnes Ende aller Dinge sich zur letzten Absicht setzen? – Vielleicht! 1|

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Schon vor mehr als vierzehn Jahren äußerte ich mich hierüber auf folgende Weise: (Idealismus und Realismus S. 121.). »Wenn unsre Sinne uns gar nichts von den Beschaffenheiten der Dinge lehren; nichts von ihren gegenseitigen Verhältnissen und Beziehungen; ja nicht einmal, daß sie außer uns wirklich vorhanden sind; und wenn unser Verstand sich blos auf eine solche g a r n i c h t s v o n d e n D i n g e n s e l b s t darstellende, objectiv platterdings leere Sinnlichkeit bezieht, um durchaus subjectiven Anschauungen, nach d u r c h a u s subjectiven Regeln, durchaus subjective Formen zu verschaffen: so weiß ich nicht, was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Verstande habe, als daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe. Ich bin alles, und außer mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein l e e r e s | B l e n d w e r k von Etwas; die F o r m e i n e r F o r m ; grade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen, die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze. – – Ein solches System vertilgt alle Ansprüche an Erkenntniß der Wahrheit bis auf den Grund, läßt nur einen solchen bl i n d e n , ganz und gar erkenntnißleeren Glauben übrig, wie man den Menschen bisher noch keinen zugemuthet hat. Der Ruhm, aller Zweifeley auf diese Art ein Ende zu machen, ist wie der Ruhm des Todes in Beziehung auf das mit dem Leben verknüpfte Ungemach.« 21–40 Schon … Ungemach.« fehlt 18 Vernichtung] so DvD2; D1: Venichtung

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Dieses bedenkliche Vielleicht; die Nothwendigkeit, dem Erkenntnißvermögen, welches alle wahre Absicht, allen wahren Grund und Werth durch die gänzliche Beseitigung des Objects verlor, doch wenigstens in einer nichtigen Beziehung auf dasselbe, einem nach ihm hingerichteten Bestreben, Vorwand seines Daseyns und Namens zu lassen; hat wohl hauptsächlich den Urheber der Kritik bewogen, das Object, als für sich bestehendes Ding, und eine mystische Verbindung oder Kryptogamie desselben mit dem Subject, gewaltsam beyzubehalten und unveränderlich zu behaupten. Obgleich er daher die Möglichkeit und Nothwendigkeit der Erkenntnisse a priori nur aus der Unmöglichkeit und gänzlichen Nichtigkeit der Erkenntnisse a posteriori; oder die apriorische Möglichkeit des Erfahrens nur aus der | apriorischen Unmöglichkeit, irgend etwas w a h r h a f t zu erfahren, darzuthun und zu erklären wußte: so läßt er dennoch neben der herausgebrachten idealen Unmöglichkeit die vorausgesetzte reale Wirklichkeit stehen, und beyde sollen sich gegenseitig nicht beeinträchtigen. | Durch diese Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst, gleich in der Grundlage, mußte die Ausführung desselben so dädalisch werden, daß es eben so schwer ist, seine wirklichen Widersprüche zu zeigen, als den blos scheinbaren das widersprechende Ansehn zu benehmen; eben so schwer, das Richtige des Systems zu vertheidigen, als das Unrichtige zu widerlegen. Grade einer solchen Amalgamation von künstlicher Zweydeutigkeit hat es größtentheils seine Gunst und die zahlreiche Schaar fortwährend standhafter Freunde zu danken. Sein Grundgebrechen, seine Chamäleonsfarbe, daß es halb a priori, halb empirisch seyn, zwischen Idealismus und Empirismus in der Mitte schweben soll, kömmt ihm bey dem größeren Publicum sehr zu statten. Etwas im Menschen widersetzt sich einer absoluten Subjectivitätslehre, dem vollkommnen Idealismus; man ergiebt sich aber | leicht, wenn auch nur der Name des Objectiven bleibt. Das Schaugerüst von Objectivität im Kantischen System übte den Scharfsinn seiner Bekenner, man erhielt Gelegenheit, aus widersprechenden Stellen der Kritik zu beweisen, daß Kant sich n i c h t widerspreche; den Idealismus durch Empirismus, den Empirismus durch Idealismus wieder gut zu machen; die Vortrefflichkeit des Systems eben in dieser Zweyendigkeit zu finden,

5 einem] in einem

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und sich überhaupt nach beliebigem Geschmack in demselben einzurichten. Hier nur ein Beyspiel statt aller. – Raum und Zeit sind nach den ausdrücklichen Behauptungen der Vernunftkritik bloße Formen der äußern sinnlichen An|schauung, liefern aber als solche ein mögliches Mannichfaltiges a priori zu einem möglichen Erkenntniß.1 Sie können vermöge dieser Formnatur nie Gegenstände werden,2 lassen sich eben darum nicht anschauen, noch wahrnehmen,3 sind bloße entia imaginaria und ohne ein Reales keine Objecte.4 Wenn das L i c h t nicht den Sinnen ge|geben worden, so kann man sich auch keine Finsterniß, und wenn nicht ausgedehnte Wesen wahrgenommen worden, keinen Raum vorstellen.5 Und dennoch sind diese nämlichen nicht objectiven Formen der Anschauung, Raum und Zeit, nach andern Aeußerungen auch Gegenstände, 6 nicht bloße Formen der Anschauung, sondern Anschauungen selbst, und sind, als solche, sogar einzelne Vorstellungen.7 Es muß demnach doch wohl möglich seyn, die Finsterniß, (die r e i n e Erkenntniß,) ohne das Licht, (die empirische Erkenntniß;) und weil alles Reine nach Kant das Empirische erst möglich macht, das Licht nur durch die Finsterniß zu sehen.8 In einem wahrhaft kunstvollen politischen Gleichgewicht bedingt die Vorstellung | des v o l l e n Raumes die Vorstellung des l e e r e n , und diese bedingt wieder umgekehrt die erstre; so daß sich in dem nämlichen Systeme die Wahrheit einmal garantiren läßt durch ein vorausgesetztes Reales, und zweytens, auch durch gänzliche Abstraction | von demselben, vermöge blos reiner a priori entworfner Gesetze der menschlichen Einbildungskraft. Hält man Raum und Zeit für Gegenstände, so ist es ein Irrthum; hält man sie für bloße Formen der Anschauung, so ist es wieder ein Irrthum; hält man sie für beydes zusammen genommen, so ist es ein Wider-

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Kr. d. r. V. S. 33. fg. und S. 137. Krit. d. r. V. S. 347. 3 Kr. d. r. V. S. 207. 4 Kr. d. r. V. S. 349. 5 Kr. d. r. V. S. 349. 6 Kr. d. r. V. S. 160. 7 Kr. d. r. V. S. 136. 8 S. die vorhin angeführte Stelle. Kr. d. r. V. S. 349. 2

5 äußern] äußern und innern ben

19 alles] das

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23–24 dem nämlichen] demsel40

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spruch; es bleibt also kein andrer Ausweg übrig, als sie für N i c h t s zu halten, wogegen aber die nämliche Kantische Philosophie auf das Feyerlichste protestirt. Fichte, dem es unbegreiflich schien, wie das Ich seine Realität und Substanzialität von der Materie borge,1 wollte alles von außenher Gegebne, als materiale Bedingung der objectiven Realität, aus dem Kantischen Systeme und der eigentlichen Meynung des Urhebers verbannen.2 Wie wenig aber dieses möglich ist, erhellt schon aus der ersten am Eingange der | Kritik hingestellten Frage. Sollte nämlich eine Synthesis a priori erklärt werden, so hätte man zugleich eine reine Antithesis e r k l ä r e n müssen. Doch es findet sich auch nicht die leiseste Ahndung dieses Bedürfnisses. Vielmehr spricht Kant von einer Synthesis | des Gleichartigen ohne vorhergegangne Antithesis, als wäre ihre Möglichkeit nicht dem geringsten Zweifel unterworfen. Das Mannichfaltige für die Synthesis ward von ihm empirisch vorausgesetzt, und sollte dennoch bleiben, wenn man von allem Empirischen abstrahirte; eine solche sich selbst betrügende Voraussetzung betrog den Schöpfer des Systems samt seinem Systeme, und zeigte sich durch alle einzelnen Zweige desselben unter den verschiedensten Gestalten. Dieses philosophische Vergehen erörtert der folgende Aufsatz. Seine Absicht ist, zu beweisen, daß der Kriticismus die Aufgabe, welche er lösen wollte, wie Urtheile a priori möglich sind, nicht gelöst hat; daß sie überhaupt nicht gelöst werden kann, weil ein ursprüngliches Synthesiren ein ursprüngliches Bestimmen, und ein ursprüngliches Bestimmen ein Erschaffen aus Nichts seyn würde. 1

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Kr. d. r. V. S. 277. fg. Fichte g l a u b t e und behauptete, »daß sein System kein Anderes sey als das Kantische« – daß also auch das Kantische im Grunde kein anderes Princip als die 30 absolute Subjectivität erkenne. Er nahm hierüber J a c o b i n zum Zeugen, der in der Beylage zu seinem D a v i d H u m e allerdings gezeigt hat, daß man mit D i ng e n a n s i c h und m a t e r i a l e n B e d i n g u n g e n »im Kantischen transscendentalen Idealismus n i c h t b l e i b e n k ö n n e . « – Aber J a | c o b i hat daselbst auch 171 nicht vergessen zu zeigen, daß man o h n e jene Dinge u.s.w. i n das System 35 nicht hineinkommen könne. Die Erfindung des unbedingten und zugleich sich selbst be d i n g e n d e n I c h s war unstreitig der kürzeste Weg, die materialen Bedingungen entbehrlich zu machen. A n m e r k u n g d e s H e r a u sgebers. 2

2 die nämliche] dieselbe 40 35 Die] D1: »Die

28–38 Fichte … Herausgebers. fehlt

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Der historische Beweis | mußte aus Kants Schriften auf das Klarste dargethan, jede Behauptung über seine Lehre durch Hinweisungen auf seine eignen Worte begleitet werden. Darum findet der Leser eine Menge von Citaten, die sich noch ansehnlich vermehren ließen, wenn nicht eben dieser Reichthum einen sparsamen Gebrauch desselben noth|wendig machte. Sollte man indessen hier und dort noch eine Beweisstelle vermissen, so findet man sie später bey einer ausführlicheren Erörterung des nämlichen Gegenstandes, und das Werk darf sich gewiß diese Einrichtung zum Gewinn rechnen, da es sonst unter Citaten und Anmerkungen erliegen und sich selbst in der allmählichen Entwickelung vorgreifen müßte. Zum Schluße noch ein Wort über den Titel. Er stützt sich auf das von dem Kriticismus herausgebrachte Verhältniß des Verstandes und der Vernunft. Sie befinden sich nach seiner Angabe in einem sonderbaren Kriege. Die Vernunft verlangt mit Recht in den Dingen an sich das Unbedingte, kann aber zu diesem Rechte nicht kommen, weil der Verstand auf seiner Seite mit dem w a hren und wirklichen Recht die Gewährung der ganzen Forderung versagt.1 Wegen dieser besser legalisirten Forderung sind die Ansprüche der Vernunft beym Lichte besehen dialektisch; sie macht aber nothwendig diese Forderungen, ist also dialektisch mit Recht, und ist mit Recht im Unrecht. Verstän|digt muß sie hierüber werden, denn sie kann | nicht ablassen vom Verstande, bezieht sich auf ihn allein mit Recht, und ist, obgleich er das Unbedingte nur als Widerspruch denkt, dennoch bloß vermittelst s e iner von empirischem Gebrauch.2 Darum giebt es nach dem Kantischen Friedensinstrument folgenden Vergleich zwischen beyden. Die Vernunft hat dem Verstande das Verneinen zu verbieten, der Verstand hingegen der Vernunft das B e j a h e n ; die Vernunft hat den Verstand zu respectiren und wird p o s i t i v durch ihn eingeschränkt, der Verstand hingegen erhält von der Vernunft nur eine scheinbare Begränzung, eine n e g a t i v e Einschränkung, und bedient sich ihrer Ideen, ohne seine Verständigkeit aufzugeben, zur äußersten Erweiterung seines Gebiets. Die Vernunft sitzt im Oberhause, der Verstand im Unterhause; letztrer repräsentirt die Sinn1 2

Kr. d. r. Vern. Vorrede. S. XX. Kr. d. r. V. S. 383, 671.

8 des nämlichen] desselben

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Vorbericht

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lichkeit, die eigentliche Souverainetät, ohne deren Ratification nichts Gültigkeit haben kann. Dies w i s s e n , ist eine neue Philosophie, sie heilt die Vernunft von ihrem Naturfehler und lehrt sie verständig seyn und genügsam.1 Die Kantische | Theorie der reinen Vernunft hat zur Absicht, den Verstand vor der Vernunft als einer Betrügerin zu warnen, | und gegen ihre Verführungen dadurch möglichst sicher zu stellen, daß sie ihn, wie die Ideen ihn zum Besten haben, gleichsam mit Händen greifen läßt. Und damit ist denn auch i h r e n e u e A bsicht vollendet und d i e V e r n u n f t z u V e r s t a n d e g e b r a c h t . Eutin, d. 30ten Juli 1801. F. H. Jacobi. 1

Kr. d. r. V. S. 490. fg. und S. 670. fg.

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Über das Unternehmen des Kritizismus · 1802

Ihr saget laut, lehret ausdrücklich: Gotteserkenntniß, Moral, und R e l i g i o n als Verbindung beyder sind die höchsten Zwecke der Vernunft und des menschlichen Daseyns. Alles, womit die Philosophie sich sonst beschäftige, diene blos als Mittel, um zu jenen Ideen: Gott, Freyheit und Unsterblichkeit zu gelangen, und ihre R e a l i t ä t z u b e w ä h r e n . Ihr behauptet, die Vernunft würde ihre erste und letzte Absicht, den eigentlichsten Gebrauch ihrer Kraft verlieren, und durch ihre Wirksamkeit den Menschen in ihm selbst nur zerstören und aufreiben, wenn sie nicht jenen Glauben an Gott, an Freyheit und Unsterblichkeit hervorzubringen, wahr zu machen, zu begründen, vermöchte; gerade diese Richtung sey das, was die Vernunft zur Vernunft mache. Dieses lehret und behauptet ihr unwidersprechlich, geflissentlich wiederholt mit den klarsten Worten.1 | 1

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Man sehe alle Kantischen Kritiken. Das oben Gesagte fin|det sich aber schon hinlänglich belegt allein in der Kr. d. r. Vernunft. S. 394. unten, und in der dazu gehörigen Note S. 395.; ferner S. 491, 825, und an noch vielen anderen Stellen desselben Werks. Ich merke hiebey noch an, aus den metaph. Anfangsgr. d. Naturwissenschaft, Vorrede. S. XXIII. daß allgemeine Metaphysik Transscendentalwissenschaft, und | Transscendentalwissenschaft allg. Metaphysik ist. Dort heißt es S. XXI und XXII: »Wenn es erlaubt ist, die Grenzen einer Wissenschaft nicht blos nach der Beschaffenheit des Objects und der specifischen Erkenntnißart desselben, sondern auch nach dem Z w e c k e , den man mit der Wissenschaft selbst zum anderweitigen Gebrauche vor Augen hat, zu zeichnen, und findet, daß Metaphysik so viel Köpfe bisher nicht darum beschäftigt hat, und sie ferner beschäftigen wird, um Naturkenntnisse dadurch zu erweitern, (welches viel leichter und sicherer durch Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinung geschieht,) s o n d e r n um zur Erkenntniß dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von G o t t , Freyheit und Unsterblichkeit zu gelangen: so gewinnt man in Beförderung dieser Absicht, wenn man sie von einem zwar aus ihrer Wurzel sprossenden, aber doch ihrem regelmäßigen Wuchse nur hinderlichen, Sprößlinge befreyet, diesen besonders pflanzt, ohne dennoch dessen Abstammung aus jener zu verkennen und sein völliges Gewächs aus dem System der allgemeinen Metaphysik wegzulassen. Dieses thut der Vollständigkeit der letzteren keinen Abbruch, und erleichtert doch den gleichförmigen Gang der Wissenschaft zu ihrem Zwecke. … Es ist auch in der That sehr merkwürdig, (kann aber hier nicht ausführlich vor Augen gelegt werden,) daß die allgemeine Metaphysik in allen Fällen, wo sie Bey|spiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Ver-

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2 beyder] beyder,

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1–2 Moral, und R e l i g i o n als Verbindung beyde] so Dv; D1: Moral, und R e l igion, als Verbindung beyder, D2: Moral, und R e l i g i o n als Verbindung beyder, 4 beschäftige] so D1Dv(D2); D2: beschäftigte

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Was aber saget euere Philosophie selbst dazu? Sie sagt, sie könne unmöglich, wie gern sie auch | möchte1, jene idealen Gegenstände euch im eigent|lichen Verstande wahr machen, nämlich nicht auf dem theoretischen, dem eigentlichen und g e r a d e n Wege des Erkenntnisses2; denn mit euerer Vernunft sey es in theoretischer Absicht so beschaffen – und mit dieser Entdeckung w e r d e erst Philosophie! – daß sie ganz und gar nicht zum Erkennen eingerichtet und | tauglich sey, sondern, was dieses angehe, einzig und allein auf den Verstand verweisen müsse3, der denn von seiner Seite wieder auf die Sinnlichkeit, diese, mit ihm, wieder auf die Einbildungskraft, die Einbildungskraft endlich auf ein = X des Subjects und ein = X des Objects zu verweisen habe, die denn i m Erkenntnißvermögen das letzte sind; aber noch nicht das Erkenntnißvermögen selbst, so wenig subjectiv als objectiv, b egründen können. Zwar beweisen sich, nach euerer Lehre, beyde standesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Principien der äußeren Anschauung hernehmen müsse, und, wenn diese nicht vollendet darliegen, u n t e r l a u t e r S i n n l e e r e n B e g r i f f e n u n s t ä t u n d s c h w a n k e n d h e r u mtappe.« 1 S. Kr. d. r. Vernunft. S. 490-493. Den Leser der Kantischen Schriften wird diese Stelle, wenn er sie nachschlägt, an mehrere ähnliche, wohl noch passendere, erinnern. 2 Von dem Um- und Nebenwege, der noch ein anderer, im Grunde besserer, Erkenntnißweg seyn soll, nachher an seinem Orte. Wir schlagen mit Kant zuerst den vernünftigen Verstandesweg ein, auf welchem von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit nichts erkannt wird, als daß nichts davon erkannt werde; auf dem man also b l i n d ankommt, und nur d i e s erfahren soll. Dann kehren wir mit ihm um, und bereisen, mit ihm, auch den unverständigen Vernunftweg, auf welchem man zu nichts darstellenden Erkenntnissen; zu gültigen und wahrhaften Ideen, von ungültigen und nicht wahrhaften, sondern nur problematischen Gegenständen gelangt; »dann alle weitere Ansprüche aufgiebt, und nun ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne seinen Anfang nehmen läßt.« (Kr. d. r. V. S. 493.) 3 Kr. d. r. Vernunft. S. 382. 383. 671. 692.

6–7 es in … erst Philosophie! –] es – und mit dieser Entdeckung w e r d e erst Philosophie! – in theoretischer Absicht so beschaffen, 13 sind;] sind, 14–15 selbst, so wenig subjectiv als objectiv, begründen können] selbst begründen können, so wenig subjectiv als objectiv 31 wahrhaften, sondern] wahrhaften, 40 – von 13 sind;] so Dv; D1D2: sind, 19–20 herumtappe.«] so DvD2; D1: herumtappe. 22–23 passendere,] so DvD2; D1: passendere 32 gelangt] so DvD2; D1: anlangt

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X X dadurch, daß sie sich einander auf | gleiche Weise voraussetzen, eines an dem anderen ohne weiteres hinlänglich und vollkommen; aber doch nur dergestalt hinlänglich und vollkommen, daß aus dieser gegenseitigen Voraussetzung allein erhellet: keines von beyden dürfe sich rühmen, etwas vor dem anderen darin voraus zu haben, daß es etwa in s i c h s e l b s t und f ü r s i c h allein betrachtet, minder problematisch wäre.1 Beyde sind es, respective, | in demselben Maße, und müssen es in demselben Maße bleiben, oder die Philosophie artet entweder in dogmatischen Idealismus, oder in dogmatischen Materialismus aus.2 Da nun beyde X X zusammen ein | bloßes | Ding des Verhältnisses, das ist,

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Ein problematischer Gegenstand ist ein Gegenstand, von dem es unausgemacht ist, ob er E t w a s oder N i c h t s sey. Kr. d. r. Vernunft. S. 346. – Problematische Urtheile sind solche, wo man das Bejahen und Verneinen als blos möglich (beliebig) annimmt. ibid. S. 100. – Es sind solche, wo man nicht weiß, ob | man über Etwas oder Nichts urtheilt. Kr. d. Urtheilskraft. S. 328. – Ein problematischer S a t z ist derjenige, der n u r logische Möglichkeit (die nicht objectiv ist) ausdrückt, d. i. eine freye Wahl, einen solchen Satz gelten zu lassen; eine blos willkührliche Aufnahme desselben in den Verstand. Kr. d. r. Vernunft. S. 101. – Ein problematischer B e g r i f f ist die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen können, daß es möglich, noch daß es unmöglich sey. Kr. d. r. Vernunft. S. 343. – Er enthält keinen Widerspruch; seine R e a l i t ä t aber kann auf keine Weise erkannt werden, wenn er auch, als Begrenzung gegebener Begriffe, mit anderen Erkenntnissen zusammen hängt, ibid. S. 310. Dergleichen Begriffe, wenn sie der transscendentalen Möglichkeit der Dinge untergeschoben werden, sind Blendwerke. Kr. d. r. Vernunft, S. 302. 2 S. die Kantische Widerlegung des Idealismus, Kr. | d. r. Vernunft, S. 274. ff. Sie ist einzig und allein darauf gegründet, daß Object und Subject, als Dinge an sich selbst, gleich problematisch sind, d. h., auf Hyperidealismus. Man sehe zurück auf die tr. Aesthetik, wo, S. 55., »die Wirklichkeit äußerer Gegenstände keines strengen Beweises fähig ist,« und vergleiche dann mit der nachherigen Widerlegung den Abschnitt über den tr. Idealismus als Schlüssel, S. 518-525., hierauf das Hauptstück über die Unterscheidung der Gegenstände in Phänomena und Noumena S. 294. ff., nebst dem Anhange S. 316, von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, und der dazu gehörigen Anmer|kung. Hier heißt es S. 344. »der Verstand begrenzt demnach die Sinnlichkeit, ohne sein eigenes Feld zu erweitern, und, indem e r jene [die Sinnlichkeit] warnt, daß sie sich nicht anmaße, auf Dinge an sich selbst zu gehen, sondern lediglich auf Erscheinungen, so d e n k t er sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transscendentales Object, das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung), und weder als Größe, noch als Substanz, noch als Realität gedacht werden kann – w o v o n a l s o v ö l l i g u n b e k a n n t i s t , o b e s i n u n s , o d e r a u c h a u ß e r u n s a n z u t r e f f e n s e y , o b e s m i t d e r S i n n l i c h k e i t z ugleich aufgehoben werden, oder, wenn wir jene wegnehmen, noch übrig bleiben werde.«

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gegenseitiger Bestimmung ohne Bestimmendes und z u Bestimmendes, welches heißet, gegenseitiger Begrenzung ohne Begrenzendes und z u Begrenzendes zusammen ausmachen, und durch sie gar nichts schlechthin gesetzt, sondern nur eine totale Grundlosigkeit eröffnet wird:1 so verweisen einmüthig beyde X X noch einmal weiter auf ein ihnen gemeinschaftliches + X, welches, obgleich nun doppelt problematisch, dennoch alle wahre Rea|lität, die Summa des allein wahrhaften Wahren enthält, und darum auf nichts weiter zu verweisen hat. Wäre nicht in diesem | letzten X das r e a l e Reale und wahrhafte Wahre wirklich vorhanden, so wäre es überall nicht vorhanden: Also s i n d sie in ihm vorhanden, und zwar eben so nothwendig und offenbar, als dem Erkenntnißvermögen schlechterdings und in alle Ewigkeit unerreichbar und verborgen2. Wollte das Erkenntnißvermögen sich hierüber beschweren, so darf man es nur erinnern, in sich zu gehen, und sich die Frage vorzulegen: wie es denn wohl das r e a l e Reale und das wahrhafte Wahre habe zu erreichen meynen können; oder nur zu sagen, w a s es damit meyne, und w o r i n eigentlich sein Vorhaben bestehe.3 Man solle ihm dies nur recht zu Gemüth führen, sagt ihr, und es werde sich sogleich bescheiden, auf das r e a l e Reale und wahrhafte Wahre, als ein zu E r k e nnendes, ein für allemal Verzicht zu thun, sich verständig in sich selbst zurückzuziehen, und das Erkennen des Erkennens, | blos als Erkennens, sich zum einzigen Geschäft zu machen. Wenn es auf diese Weise seine Praktik, blos als Praktik, ergründet, und sich darin ergeben habe, nur immanent theoretisch seyn zu können: so | möge es wohl noch gelingen, verheißet ihr ihm, daß es, als blos praktisch, nun, auf eine andere Weise, auch noch zu e m a n i -

1 S. die Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Kr. d. r. Vernunft. S. 324. ff. 30 2 Nach der allerneuesten »alleinigen Philosophie« des Herrn Schelling, im 2ten Hefte des 2ten Bandes der Z e i t s c h r i f t f ü r s p e c u l a t i v e P h y s i k – ist jenes X nun nicht weiter mehr X, sondern »die totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven«, und als solche »die absolute Vernunft« selber. Aber auch dieses nur seit der Erscheinung jenes Heftes nicht mehr e s o t e r i35 sche System, in welchem »sich der Idealismus und Materialismus wirklich gegenseitig durchdringen,« hat J a c o b i in seinem S e n d s c h r e i b e n a n F i c h t e bereits vorher verkündiget. Anmerkung des Herausgebers. 3 Kr. d. r. V. S. 233, 234.

40 24 Erkennens] eines Erkennens

31–38 Nach … Herausgebers. fehlt

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ren, und, durch eine n e u e P r a k t i k , hinten nach und ganz unerwartet, r e i n theoretisch zu werden, vel quasi sich geeignet finde; nämlich als ein ohne allen Verstand, auch ohne alle theoretische Vernunft, allein durch einen reinen Willen erkennendes, das ist, reale Möglichkeit und Daseyn gebietendes = X.1 Zur Sache denn! An der Spitze eueres sich bescheidenden Erkenntnißvermögens stehet der Verstand, und er selbst ist das eigentliche Vermögen der Erkenntnisse, weil durch ihn in dem unbestimmten Objectiven sich bestimmte Objecte, und in dem unbestimmten Subjectiven ein bestimmtes | Subject, mit den Begriffen, erst hervorthun. Ob nun gleich dieser an der Spitze stehende Verstand, euerer | Lehre zufolge, die Geschäftigkeit der Einbildungskraft mit den B e d i ngungen ihrer Geschäftigkeit, d. i. die Einbildungskraft als das vollständige Vermögen der Anschauungen a priori2, voraussetzt, und diese Einbildungskraft als seine M u t t e r anzusehen hat: so kann er doch auch betrachtet werden, als wenn die Einbildungskraft i h n voraussetzte und ihn als ihren V a t e r anzusehen hätte. Man denkt sich ihn alsdenn durch den G e d a n k e n einer bloßen H a n d l u n g des Verbindens und Insichfassens ohne weiteres3: als ein Verbinden – noch v o n Nichts, noch i n Nichts, noch d u r c h Nichts. – So betrachtet ist aber der Verstand nicht allein v o r der Einbildungskraft, sondern auch vor sich selbst und seiner Möglichkeit, und muß daher vor allen Dingen sich erst m ö g l i c h m a c h e n . 4 | Möglich macht er sich durch ein ursprüngliches reines, oder bloßes Selbst- oder an sich-Bewußtseyn, welches, außer einer q u alitativen Einheit, die es h a t , auch noch eine quantitative; zu und vor dieser aber Mannichfaltigkeit; folglich Verschiedenheit; überall Thätigkeit, H a n d l u n g – mithin Z i e l und H e m 1

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Mit anderen Worten: Die Vernunft, nachdem sie, als kritische, die Augen, 30 mit welchen sie zu sehen n u r w ä h n t e , sich selbst herzhaft ausgestochen hat, gebietet nun, noch viel herzhafter, sich selbst, der offenbaren Finsterniß, die in ihr ist, in rein praktischer Absicht, zu trotzen, durch einen blinden, d. i. ganz Erkenntnißleeren Glauben. Man sehe hierüber vorläufig in der Kr. d. Urtheilskraft. S. 448. den merkwürdigen Abschnitt: V o n d e r A r t d e s F ü r w a h r h a l- 35 tens durch einen praktischen Glauben. 2 S. Kr. d. Urtheilskraft. Einl. S. XLII., hernach S. 73. Kr. d. r. Vernunft. S. 206. dann S. 201. 3 Kr. d. r. V. S. 135. 4 S. Kr. d. r. Vernunft, S. 150, den Abschnitt: von der Anw. d. Kateg. auf 40 Gegenstände überhaupt. Zu vergl. mit §. 17. S. 136-139.

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mung (interstitiones): ein continuirliches | Entgegen- und Z usammen-setzen – im d u r c h a u s L e e r e n ; ein unendliches Anfangen und Enden, wo nichts anzufangen und nichts zu enden ist – sich selbst, und noch einmal sich selbst, das ist, sich selbst und den reinen Verstand, in, mit und durch sich selbst, unbegreiflich h e rvorbringt und zugleich voraussetzt. 1 In dieser seiner Ursprünglichkeit, Unabhängigkeit und Alleinthätigkeit ist aber der Verstand (gestehet ihr) ganz leer, und weiß, ungeachtet des Selbst- und a n s i c h -Bewußtseyns, im G r u n d e nichts von sich und seinen Geschäften der reinen Geschäftigkeit, noch weniger von einem S e l b s t und a n s i c h . | Gleichwohl ist er gerade nur in d i e s e m Zustande recht eigentlich der Verstand selbst, der Verstand allein und an sich, der ursprüngliche; und bringt, als solcher, schon die Elementarlogik, die schlechterdings allgemeine, die g a n z reine rein aus sich hervor2. | 1

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S. Kr. d. r. Vernunft, die transsc. Deduction der reinen Verstandesbegriffe. S. 129. ff. 2 »Der Verstand sondert sich nicht nur von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Er ist also eine für sich selbst beständige, sich selbst genugsame und durch keine äußerliche hinzukommende Zusätze zu vermehrende Einheit.« Kr. d. r. V. S. 89: Von der reinen Logik s. daselbst S. 77– 79. – Die Metaphysik dieser Logik, welche aus diesem unabhängigen und selbstständigen Verstande, unabhängig und selbstständig, und schlechterdings allgemein und rein hervorgeht, findet sich in der Kantischen Kritik nicht besonders abgehandelt, ergiebt sich aber daselbst, gleich den andern Metaphysiken, aus der Grundeigenschaft des Gemüths, nehmlich | aus der productiven und reproduc- 301 tiven transscendentalen Einbildungskraft, aus welcher, wie wir in der Folge sehen werden, Alles sich zuletzt ergiebt. Sie allein ist das ursprüngliche Vermögen sowohl absoluter Antithesis als Synthesis, und dadurch die Schöpferin sowohl der quantitativen Einheit, die das Instrument der Synthesis ist, als der Wiederholung dieser Einheit, welche die Vielheit erzeugt. Sie erzeuget folglich auch die A l l h e i t , und zwar zuerst, denn die quantitative Einheit ist nothwendig schon A l l h e i t . Dergestalt entbehret die transscendentale Einbildungskraft nur der qualitativen Einheit; der Verstand selbst aber ohne sie, wäre nur diese qualitative Einheit ohne Spontaneität, also noch kein Verstand. Sie also macht den Verstand, aus dem eine reine Logik entspringen kann, | erst m ö g- 952 lich, so wie sie auch den Raum, aus dem eine reine Mathematik entspringen kann, erst möglich machen muß. Wie es aber mit diesen Möglichkeiten nach der Wahrheit beschaffen ist, wird sich bey einer näheren Erörterung zeigen. Ich merke hier nur an, daß der Kantische reine Verstand mit seiner reinen Spontaneität und ihren gemeinschaftlichen Producten mir eine auffallende Aehnlich15 reine] reine,

34 aber] aber,

21 Einheit.«] so D2; D1: Einheit.

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Erst in Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit wird er sich gewahr, und erfährt sich als ein V e r m ö g e n | und nothwendiges B e d ü r fniß derselben. Durch ein unablässig fortgesetztes Einbegreifen gestaltet er ihr Mannichfaltiges zu einem W e s e n , und es kommt mit ihr und ihm zur S a c h e . Die Einbildungskraft beginnt das Werk. Sie | beginnt es als ein blindes Treiben 1 , als eine Urgeschäftigkeit aus und zu Nichts, und wird von selbst zum Verstande, indem sie (gleichviel auf welche Weise – Gott mag es wissen!) Anfang und Ende antrifft, und so Begriffe überhaupt von Gegenständen überhaupt im Gemüthe absetzt, krystallisirt durch Krystallisirung, d. h. sie e n tstehen läßt – m ö g l i c h e r W e i s e ! Was dieser möglichen Weise, Gegenstände a priori zu bestimmen (bestimmte Räume und Zeiten, Kr. d. r. Vnft. S. 202, 203, 204.), zum Grunde liegt, ist das wunderbarste und unbegreiflichste aller unbegreiflichen Geheimnisse und Wunder, heißet aber ausdrücklich: Transscendentale Urtheilskraft und S ch e m a ti smu s d e s r ei ne n V e r st an d es . 2 – Verknüpft nun die Einbildungskraft diese ihr entstandenen Begriffe wieder a l s B e g r i f f e : so sagt man alsbald von einer s o lchen Verknüpfung, daß sie – im Verstande geschehe. Das Selbstbewußtseyn ist nunmehr vollkommen da, und der Verstand erweitert | sich, die Erkenntniß | wächst, indem unaufhörlich neue Unterschiede entstehen und vergehen, gesetzt und wieder aufgehoben werden. Bildlich könnte man die Einbildungskraft, diese alma mater, als eine Weberin darstellen. Das ursprüngliche reine Bewußtseyn wäre die Kette oder der Aufzug am Gewebe, die sinnlichen Empfindungen der Einschlag. Mit den Füßen brächte die Wirkerin Handlung

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keit mit der ihre Gefäße sich selbst bildenden lebendigen Flüssigkeit des berühmten Engländers John Hunter zu haben scheint. Dieser bewies aus dem 30 bebrüteten Hühnerey, daß sich das Blut v o r den Gefäßen bilde; daß Gefäße erst nach der Gerinnung des Bluts erscheinen u. s. w. Es war ihm nicht deutlich, ob Blut ohne den Körper oder der Körper ohne Blut geschwinder stirbt. – Die Theile des Körpers, wovon jeder eine Portion der Materia vitae diffusa besitzt, haben eine Recollection von vorigen Eindrücken, wenn sie neue erhalten; nur 35 nicht über dies noch spontaneous memory, wie das H i r n , weil das Hirn ein für sich bestehendes G a n z e s ist, (Materia vitae coacervata) d e s s e n A c t i o n e n i n sich selbst vollständig sind. S. Gött. Anz. 1795. St. 190. NB. John Hunter hatte die Arterien (die synthesirenden Schlagadern) des schwangeren Uterus bis 40 zu ihrer Endigung im Mutterkuchen tracirt. ibid. 1 Kr. d. r. V. S. 103. 2 S. Kr. d. r. V. S. 171–187.

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in die Kette (»intellectuelle, ganz unfigürliche Synthesis«); mit den Händen triebe sie den Einschlag durch (»figürliche productive Synthesis«).1 Da nun der Verstand blos als ein Vermögen der Individuation des Sinnlichen2 Realität, | Ab|sicht und eigentliche Bedeutung hat; da er für sich allein weder bestehen, noch als so bestehend gedacht werden kann: so ist es klar, daß er sein Interesse im Bestehen und Beschaffenseyn des sinnlichen Wesens, dessen Individuationsmittel er ist, allein finden muß. Ganz auf dieselbe Weise verhält es sich mit der Vernunft, die nichts anders als eine Erweiterung | des Verstandes auf dem bloßen blanken Boden der Einbildungskraft ist.3 | 1

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S. Kr. d. r. V. S. 150–152. Die Sinnlichkeit ist das blos Bestimmbare, der Verstand durch die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft, das Bestimmende. (Kr. d. r. V. S. 151. 152.) – Etwas blos Bestimmbares, Unbestimmtes, ist das Gegentheil des Individuellen. Was ein Unbestimmtes bestimmt, individuirt, und dies Vermögen heißt bey Kant Schematismus des Verstandes. (Kr. d. r. V. S. 176. fg.). Das Schema bildet den Uebergang vom reinen Verstandesbegriffe zu den Erscheinungen, und ist ein von dem Verstande rein hervorgebrachtes Bild, das aber, weil es kein empirisches, sondern ein allgemeines unbildli|ches Bild (!) seyn soll, den Namen nicht tragen darf. Der Verstand kann aber 982 nur in Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit ein solches individuirendes Schema hervorbringen. Getrennt von der Sinnlichkeit thut er das Gegentheil, er verallgemeinert, enteinzelt, identifizirt. Es steht also der Mensch durch die Vereinigung der Sinnlichkeit und des Verstandes mit sich selbst im Widerspruche. Die Sinnlichkeit dringt auf ein Maximum des Inhalts, | des Bestimmten, der Ver- 331 stand verlangt das Maximum des Umfangs, des Allgemeinen, und die Vernunft, in ähnlichem Widerspruche mit sich selbst, nimmt an beydem Interesse. (Kr. d. r. V. S. 682.) Sie idealisirt sogar diesen Widerspruch, und läßt daraus Moral und Religion entstehen. Es postulirt die Vernunft, nach der Kantischen Religionslehre, das Daseyn eines unendlichen Wesens; was aber D a s e y n haben soll, muß sinnlich, endlich werden; diese ursprüngliche Begränzung und Bestimmung geschieht durch den Schematismus des Verstandes, er ist es also, der anthropomorphisirt, (Rel. inn. der Gr. d. bl. Vern. S. 82.) verkörpert; weil aber diese Verkörperung dem Postulate eines unendlichen Wesens widerspricht: so bleiben die Möglichkeit und das Daseyn desselben problematisch. (Kr. d. r. V. S. 309 und 343.) 3 »Die Vernunft bezieht sich nur auf den Verstandesgebrauch, (Kr. d. r. V. S. 383.) niemals gradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand, und vermittelst desselben auf ihren eignen empirischen Gebrauch. 2

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14 Bestimmbare, der Verstand] Bestimmbare; der Verstand, 17 individuirt,] individuirt; 18 Vermögen] Vermögen des Individuirens 18–19 (…).] (…)

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Die Einbildungskraft, wissen wir schon, ist ein reines leeres Dichten hin und her, ohne hier und dort, ohne Einsicht und Absicht, ein D i c h t e n a n s i c h , eine r e i n e Actuosität im r e i n e n Bewußtseyn. Mit der reinen Sinnlichkeit vereinigt, als das Vermögen ihrer Anschauungen a priori,1 erzeugte sie, durch Absetzen und Ansetzen, durch Ansetzen und | Absetzen (zwey im continuirlichen Handeln sich gegenseitig voraussetzende unzertrennliche Verrichtungen) – den Verstand, und mit dem Verstande das sinnliche Wesen, welches – n u r d i e f o r t g e s e t z t e H a n d l u n g selbst seiner Erzeugung ist. So e n t -stehet demnach, ohne je zu b e -stehen, das Individuum unaufhörlich, und sein B e -stehen, wo es gedacht wird, ist eine Täuschung. Da es aber nur, kraft eines solchen Betruges, das ist – vermöge einer Einbildung des S i c h Einbildens (in Sich Begreifens) einbilden und entstehen kann: so wird es gezwungen, das Bestehen sogar v o r dem E n t -stehen sich einzubilden, das ist, es geschehen zu lassen. So wird die Idee vom Unb edingten, vom Absoluten hervorgebracht und | eingesetzt: eine durch und durch leere Vorstellung, aber nichts desto weniger das P r i n c i p der Vernunft, die Gebärmutter aller ihrer Begriffe. Daß die Idee des Unbedingten durch und durch leer und nichts als ein Nothbehelf der Einbildungskraft sey, erhellt sogleich, wenn man den Versuch macht, anstatt sie blos vorauszusetzen, wirklich von ihr auszugehen. Der Lückenbüßer zeigt sich | alsdann in

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(Ebendas. S. 671.) Der Verstand macht für die Vernunft eben so einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit für den Verstand. (Ebend. S. 692.) Also ist die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit. (Eb. S. 693.) – D a s S c h e m a i s t a n s i c h s e l b s t j e d e r z e i t n u r e i n P r o d u c t d e r E i n b i l- 30 dungskraft. (S. 179.). Die transscendentalen Zeitbestimmungen sind das Schema der Verstandesbegriffe.« (S. 378.) Das | Schema der Vernunftbegriffe ist »durchgängige absolute Totalität,« Aufhebung aller Zeit- und Raumbestimmungen, das Ende der Endlichkeit, »sie sucht das Unbedingte.« (Kr. d. r. V. 35 S. 445.) (!!!) 1 Kr. d. Urtheilskr. Einl. S. XLII, S. 73. Kr. d. r. V. S. 201. 202. 206. 152. 179. 15–16 das ist – … (…)] – das ist, … (…) – 17–18 Be-stehen] Be-/stehen 20 Absoluten] Absoluten, 25 blos] b l o s 31 (…).] (…) 31 (S. 179.)] so D2; D1: S. 179.)

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seiner Blöße. Man hat nur alle Bedingungen weggedacht, und was übrig bleibt, ist – N i c h t s , eine offenbare Erdichtung. 1 Da aber diese Erdichtung, wie wir gesehen haben, keine willkührliche, ungefähre und zufällige, sondern eine unvermeidliche und nothwendige ist: so schreiben wir, in dieser Rücksicht, ihr mit Grunde – Gründlichkeit, Zulässigkeit, subjective Realität zu. Wir erheben sogar das Vermögen, diese Wurzelidee aller Ideen hervorzubringen, über die Verstandesgabe – von Rechts wegen! – weil wir uns damit über den Verstand hinaussetzen; und nennen es – Vernunft. Thun wir dieses, ohne zu wissen, was und in welchem Sinne wir es thun, so gerathen wir in die größte aller Gefahren, in die Gefahr, durch die Vernunft um den Verstand zu kommen. Das Gemüth wird dann eine Wüsteney von lauter Hirnge|spinnsten. Thun wir es hingegen wohlwissend, was wir thun, und lassen uns die Vernunft allein des Verstandes wegen gefallen, den sie nur ein|fassen und ihm eine gewisse Haltung geben soll: so hat es keine Gefahr, daß wir durch ihre Vorstellungen betrogen werden, und ihnen eine objective Wahrheit beymessen, die allein demjenigen zukommt, was sich sinnlich darstellen, in einer möglichen Erfahrung allgemein anschaulich machen läßt. Gott, Freyheit und Unsterblichkeit sind keine Verstandesbegriffe, keine Gegenstände einer möglichen Anschauung d u r c h die Sinne, sondern bloße Vernunftbegriffe: I d e e n . – Das ist offenbar und bewiesen! Also! … Ich frage jeden Redlichen auf sein Gewissen, ob er wohl, nachdem er einmal deutlich eingesehen hat, z u f o l g e d i e s e r s e i n e r Philosophie, daß er jene Vernunftbegriffe, jene Ideen, nämlich: Gott, Freyheit und Unsterblichkeit, als objective Realitäten auf die angezeigte Weise s i c h n u r w e i ß macht, oder von der Vernunft sich weiß machen l ä ß t , einzig und allein dem Verstande zu gefallen, damit dessen Begriffe, die nur distributive Einheit bewirken, auch einer collectiven fähig werden:2 ob er zu | jenen, nun ein für allemal ausgemacht o b j e c t i v grundlosen, ein für allemal 1 2

S. Kr. d. r. V. S. 355. bis ans Ende. Kr. d. r. V. S. 671.

11–12 ohne … thun,] o h n e z u w i s s e n , w a s u n d i n w e l c h e m S i n n e w i r e s t h u n , 15 hingegen] hingegen, wohlwissend, was wir thun,] w o h lwissend, was wir thun,

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ausgemacht o b j e c t i v durch und durch leeren Vorstellungen, je aus irgend einer | Ursache als zu o bj e c t i v w a h r e n und r e a l e n Vorstellungen werde zurückkehren, und ein aufrichtiges, herzliches Vertrauen in sie setzen können? Ich sage, es ist unmöglich! Er ist einmal zu gut unterrichtet von ihrem Herkommen, von ihrer Beschaffenheit, von ihrem inneren Wesen, und kann es nun keinen Augenblick mehr vergessen, daß jene Ideen nur »hevristische Fictionen, foci imaginarii,«1 nothdürftige nicht einschließende E i nfassungen der Verstandesbegriffe (Gränz- und Erweiterungsbegriffe zugleich und vice versa), so viel trügliche Horizonte sind, die zuletzt unter einem allgemeinen Horizont derselben Art beschlossen werden; so wenig aber in sich und für sich subsistirende Dinge, daß sie, als solche, auch nicht einmal zu den möglich denkbaren gezählt werden dürfen. Nicht zu den denkbaren? höre ich euch ausrufen und mich triumphirend der Verläumdung be|schuldigen, da es ja in euerer Urkunde so klar geschrieben stehe: es lasse sich zwar von den Ideen nicht ausmachen, daß sie Vorstellungen von mö glichen Gegenständen; aber auch nicht, daß sie Vorstellungen von u n m ö g l ichen seyen; und was nur – b l o s N i c h t U n m ö g l i c h s e y , das sey schon möglich d e n k b a r , obgleich nicht als ein Mögliches. Vortrefflich! Es steht aber in derselben Urkunde | ja auch folgendes: »Wo nicht etwa Einbildungskraft schwärmen, sondern unter der strengen Aufsicht der Vernunft d i c h t e n soll, da muß immer vorher etwas völlig gewiß und nicht erdichtet, oder bloße Meynung seyn, und das ist – d i e M ö g l i c h k e i t des Gegenstandes selbst!«2 Ihr unterschreibet also beydes; unterschreibet und bezeuget, dem letzteren Ausspruche zufolge, mit euerem Buche, daß die Ideen, von d i e s e r Seite betrachtet, dem Erkenntnißvermögen nur »leere Hirngespinste, statt der Begriffe von Sachen unterlegen.« »Wie gesagt (heißt es in dem Buche auf der fol|genden Seite) sind die Vernunftbegriffe bloße I d e e n , und haben freylich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung; aber bezeichnen darum 1 2

Kr. d. r. V. S. 672. Kr. d. r. V. S. 798. und S. 642. 671.

8 nicht] nichts

31 Sachen] Sachen,

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doch nicht gedichtete und (NB!) z u g l e i c h f ü r m ö g l i c h 1 a n g enommene Gegenstände. Sie sind blos problematisch gedacht, um, in Beziehung auf sie (als hevristische Fictionen) regulative Principien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen. Geht man davon ab, so sind es bloße G edankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist, und die daher auch nicht der Erklä|rung wirklicher Erscheinungen durch eine Hypothese zum Grunde gelegt werden können.«2 Bestimmter und deutlicher kann man sich wohl nicht erklären. Aus zwanzig ähnlichen, eben so klaren und wohl noch stärker ausgedrückten, Stellen will ich nur folgende noch auswählen und euch zu Gemüthe führen. »Die V e r n u n f t bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den | Verstand, und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, s c h a f f t also keine Begriffe (von Objecten), sondern o r d n e t sie nur, und giebt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer größten Ausbreitung haben können, d. i. in Beziehung auf die Totalität der Reihen, als auf welche der Verstand gar nicht sieht, sondern nur auf diejenige Verknüpfung, wodurch allerwärts Reihen der Bedingungen zu Stande kommen. Die V e r n u n f t h a t a l s o e i g e n t l i c h nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande, und wie dieser das Mannichfaltige im Object durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannichfaltige der Begriffe durch I d e e n , indem sie eine gewisse c o l l e ctive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind.«3 | Es ist unmöglich, euch mißzuverstehen, und in euerer Lehre aus dem Zusammenhange zu kommen, wenn man nur dies Eine recht ins Auge faßt, und dann auch nie wieder aus dem Auge verliert, daß es überall | nichts w a h r h a f t Objectives für den Menschen g i e b t noch geben k a n n ; daß er rein abgeschnitten ist von allem Wahren, in sich Subsistirenden, durch seine eigenthümliche, zufällige, durch und durch sub jective (-sinnliche) Sinnlichkeit, außer 1

S. Kr. d. r. V. S. 271. wie der Begriff der Möglichkeit mit einer Vorstellung verknüpft wird. 2 Kr. d. r. V. S. 799. 3 Kr. d. r. V. S. 392. 671. und Kr. d. Urtheilskr. 449. 450. 5 bloße] b l o s e

21 Die] Die

38 449. 450.] S. 449. 450.

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der ihm nichts, und mit der ihm n u r diese Sinnlichkeit selbst, nämlich: ein passiver – aber doch nothwendig anschauender, und, man weiß nicht wie, veränderlicher – Gemüthstheil, einzig und allein zur Gemüthsveränderung, gegeben ist. Er stellet sich allerley damit vor, siehet aber alles, was er sich damit vorstellt, nur blindlings an. Der andere Gemüthstheil – dies muß man sich eben so tief einprägen – das ganze so genannte o b e r e , aus Verstand, Urtheilskraft und Vernunft bestehende, durch den Zwitter Einbildungskraft ursprünglich hervorgebrachte, dann sich selbst einrichtende – der Sinnlichkeit, man weiß nicht wie, angehängte – Erkenntnißvermögen giebt dem Menschen nichts zu erkennen: so wenig i n dem Gemüthe den Ursprung und die nothwendigen Gründe seiner Einrichtung und Beschaffenheit, als a u ß e r demselben irgend etwas w i r k l i c h | außer ihm Vorhandenes.1 Dieser Ge|müthstheil begreift nur mit Begriffen, was der andere n i c h t s i e h t ; er ist mit s e h e n d e n Augen blind, wie der andere mit b l i n d e n Augen sehend. Auch hat sein Begreifen, und die ganze Thätigkeit der Mutter Einbildungskraft, mit ihren ohne den Willen eines Mannes erzeugten Kindern, keine andre Absicht, als nur – eine E i n h e i t hervorzubringen; die Einheit nämlich e i n e s , durch ein Mannichfaltiges = X der Anschauung wunderbar genug zerstreuten, = X des Bewußtseyns: Erst eines empirischen über dem Verschiedenen der Empfindung; hernach eines r e i n e n , über dem N i c h t Verschiedenen a l l e r m ö g l i c h e n Empfindung. Diese letzte reinere Einheit soll aber z u g l e i c h eine noch reinere als reine, eine Allererste, nicht hervorgebrachte, ursprüngliche, selbstständige, von aller Sinnlichkeit unabhängige, qualitative Einheit seyn – ein intellectuelles Etwas, nur zum Begreifen des Begreifens vor allem zu Begreifenden.2 | 1

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Kr. d. r. V. S. 107. 145. 146. 283. 308. 309. 641. und 642. In dieser Stufenleiter erhebt sich das Kantische System vom Niedrigen zum Höheren, von den Untergöttern zu den Obergöttern, bis es zuletzt zum Jupiter gelangt, der unter dem Namen der synthetischen Einheit | der Apperception die doppelte Kette der Logik und Transscendentalphilosophie hält, 35 ohne selbst ein Ring in dieser Kette zu seyn. Voll Mißtrauen gegen diese trans2

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27 Allererste] A l l e r erste 33–35 Höheren, von … Apperception] Höheren, bis es zuletzt zur synthetischen Einheit | der Apperception gelangt, welche 31 107.] so DvD2; D1: 107. NB.

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So eigentlich, wie ich hier erzähle, entstehet das, was man B egriffe nennt. Alle Begriffe aber ohne | Ausnahme (man kann sich dieses nicht zu oft, um es sich recht einzuschärfen, wiederholen),

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scendentale subject=objective Einheit mit Jupitersgewalt fragen wir: ist sie 5 eine Vorstellung oder keine Vorstellung, hat sie Inhalt und Object oder weder

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Inhalt noch Object, ist sie ein Begriff, eine Idee oder gar ein Gefühl? Die Antwort lautet: »ich bin mir in der synthetischen transscendentalen Einheit der Apperception meiner selbst be|wußt, n i c h t wie ich mir erscheine, noch wie 421 ich an mir selbst bin, sondern nur d a ß i c h b i n . Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.« (Krit. d. r. V. S. 157.) Also hätten wir die Vorstellung eines I c h b i n , hervorgebracht durch b l o ß e s Denken, ohne alles Anschauen. Ich will nicht fragen, wie dieses mit der Grundbehauptung besteht, daß »alles Denken, gradezu (directe) oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, sich zuletzt auf Anschauungen, mithin auf S i n nlichkeit beziehen müsse, weil uns auf andre Weise kein Gegenstand gegeben werden könne;« (Kr. d. r. V. S. 33.) sondern nur: Wie gelangen wir zur reinen Synthesis entfernt von aller Anschauung, da doch jede Synthesis nur durch Anschauung, nur über einem G r u n d e der Synthesis, möglich ist? (Kants Proleg. S. 26-30. Kr. d. r. V. S. 499.). Wie könnte auch der Jupiter des Systems, ungeachtet seiner ätherischen Natur, gleich jenem heydnischen, entbehren einer Verbindung mit den Töchtern der Erde? Vergebens ruft man das Unding eines Mannichfaltigen sinnlicher Anschauungen vor aller sinnlichen Anschauung, eine blos g e d a c h t e (!) sinnliche Anschauung (Kr. d. r. V. S. 140) zu Hülfe, sie ist nur der Leichenstein jener wirklichen Anschauung, die vom Blitze des Donnergottes erschlagen wurde. Wir wollen lieber diese nichts helfende Hülfe verschmähen, und bey der deutlichen Angabe stehen bleiben, »daß die Einheit der Apperception nur in der von ihr unterschiednen Anschauung gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtseyn gedacht werden kann;« | (Kr. d. r. V. S. 135.) daß also die reine 1102 Verbindung in einer unreinen, die unreine in einer reinen, und alle Verbindung überhaupt nur in einer Verbindung gegeben wird. Unser Widerspruch begründet sich alsdann einfacher und verständlicher. Das Ich in der transscendentalen Apperception ist keine Abstraction, aber wir gelangen nur durch Abstraction zu seiner Vorstellung. Es ist die Einheit, in welcher alle Verknüpfungen | vorgenommen werden, nicht die Handlung der 431 Verknüpfung selbst. Abstrahiren wir daher von aller empirischen Synthesis, so bleibt nicht eine reine Synthesis als Handlung übrig, wie das Kantische System angiebt, sondern nur die Einheit, w o r i n synthesirt wird; nicht eine durch Synthesis gewordene, sondern f ü r die Synthesis bestehende Einheit. Alle Ver-

40 4 Einheit mit Jupitersgewalt] Einheit

5 Object] Object, 6 Idee] Idee, 10– 11 hätten wir … hervorgebracht durch] wäre die Vorstellung eines I c h b i n , ein 18–19 (…).] (…) 19–21 Wie könnte … der Erde? Vergebens] Vergebens 23–25 Hülfe, sie … erschlagen wurde.] Hülfe.

7 »ich] D1: ich D2: »Ich 16 Kr.] so D2; D1: Kr: 27 »daß] so DvD2; D1: 38 synthesirt] so D1Dv(D2); D2: synthefirt 39 gewordene] so auch D2; D1: gewor-/dene

45 daß

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die Begriffe der Vernunft sowohl als die Begriffe des Verstandes, beziehen sich auf die allein anschauende, und darum allein O bjecte verleihende, Sinnlichkeit. Von ihr, ausschließlich, von ihr einzig und allein erhalten jene Begriffe insgesamt – I n h a l t , B edeutung, objective Realität und A b s i c h t . 1 | Inhalt also, Bedeutung also, o b j e c t i v e R e a l i t ä t u n d Absicht! Auf welche mögliche Weise? Da alles, angeheftet a n nichts, vereiniget d u r c h nichts, gerichtet a u f nichts, nur ein und derselbe leere Schlauch und Schlauches-Schlauch eines leeren Raumes der D i v e r s i t ä t a u ß e r , und eines desgleichen der Identität in uns ist; dieser letzte versehen einzig und allein mit einem motu peri|staltico, einer transscendental wurmförmigen Bewegung, welche in ihm ist, man weiß nicht wie. – Die Sinnlichkeit, den Verstand h i n t e r sich habend, hat nichts v o r sich – beym Lichte besehen – als s i c h s e l b s t . In einem zwiefachen Hexenrauche, Raum und Zeit genannt, spüken Dinge, Erscheinungen! in denen nichts erscheint: und das ist die g a n z e Offenbarung, welche uns geschieht; so allein e m p f ä n g t unsere nie wahrhaft etwas empfangende Empfänglichkeit; so schauet jenes, a posteriori wie a priori, nur sein Schauen Schauendes, AN. Wie die Sinnlichkeit, den Verstand hinter sich habend, nichts vor sich hat: so hat der Verstand, die Sinnlichkeit v o r sich habend und ihr angehörig, nichts h i n t e r sich; auch nichts i n sich, ausgenom|men jenen motum peristalticum, jene transscendental wurmförmige Bewegung, womit er ursprünglich und unaufhörlich z u s i c h s e l b s t kommt, zugleich die Sinnlichkeit bekriecht, und seine Bewegungen (so viele Einheiten) verknüpfend, Zahl und Maß gebiert. So hängt das Ganze zusammen, oder vielmehr, so schwebet, ohne irgend eine Haltung, im menschlichen Erkenntnißvermögen a l l e s blos zwischen einem problematischen = X des Objects, und einem eben so problematischen = X des Subjects, wel-

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knüpfung setzt ein zu Verknüpfendes voraus, jede Handlung des Verbindens, das ist, des Vereinigens, setzt Veruneinigtes zum voraus. Das Kantische Vorgeben eines reinen Bodensatzes der Synthesis ohne alles Empirische ist daher eben so sonderbar, als das Uebrigbleiben des Dinges an sich nach der 35 Abstraction von jeder wirklichen Empfindung. (Kr. d. r. V. S. 339.) 1 Kr. d. r. V. S. 148 … 298, 299, 308, 343, 345. und was insbesondre die Vernunftbegriffe angeht, S. 382. 383.

20 AN] an

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che beyde – herkommen, man weiß nicht w o h e r ; h i n w o llen, man weiß nicht w o h i n ; sich zusammensetzen, durch Z usammensetzung, man weiß nicht wie; endlich sich gegenseitig an einander w a h r machen und bewähren, man weiß nicht wo|mit, nicht wodurch, nicht wozu: genug sie weben und schweben ihr Schweben und Weben, und daß dies k e i n E n d e h a b e , ist das E n d e und die S a c h e . Ich habe nun achtzehn Jahre lang zu begreifen gesucht, und es ist mir mit jedem Jahre nur unbegreiflicher geworden, wie ihr ein Mannichfaltiges, zu welchem die Einheit; und eine Einheit, zu welcher das Mannichfaltige – nur hinzukommt, euch vor|zustellen, oder diese r e i n e B e g e b e n h e i t auf irgend eine Weise zu denken vermögt. Vermögt ihr aber dieses nicht, sondern setzen beyde, Mannichfaltigkeit und Einheit, sich gegenseitig dergestalt voraus, bedingen sie sich gegenseitig dergestalt, daß sie nur in einander und zugleich gedacht werden können, als forma substantialis alles Denkens und Seyns: was wird dann aus euerer ganzen apriorischen Weberey?

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Meine Aufgabe an euch ist nicht, einen Knoten zu l ö s e n , sondern einen hier vor unsern Augen zu schlingen; den ersten synthetischen nämlich in irgend einem R e i n e n , sey es des B e w u ß tseyns, sey es des R a u m s , oder der Z e i t . Der Raum sey E i n e s , die Zeit sey E i n e s , das Bewußtseyn sey Eines, gerade so, wie ihr es verlangt. Saget nur an, wie sich Euch eines von diesen drey Einen in ihm selbst r e i n vermannichfaltiget, das ist, wie ihr zu r e i n e r Einheit und r e i | n e r Vielheit, den Bedingungen r e i n e r Synthesis, gelangt? Keines von diesen drey Einen ist ja nur in und für sich selbst eine Einheit, sondern jedes der|selben ist nur, so zu sagen, E i n e s u n d k e i n A n d e r e s ; eine Ein-Fach-Heit; eine Einer-Ley-Heit; eine Der-Die-Das-SelbigKeit! ohne D e r h e i t , D i e h e i t , D a s h e i t ; denn diese schlummern, mit dem D e r , D i e , D a s , noch im unendlichen = 0 des Unbestimmten, woraus alles und jedes Bestimmte auch erst hervorgehen soll! Was bringt nun, frage ich euch ernstlich, in jene drey Unendlichkeiten, in die Zwey der Receptivität und die Eine der Spontaneität, Endlichkeit; was befruchtet Raum und Zeit a priori mit Zahl und Maß, und verwandelt sie in ein r e i n e s

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Mannichfaltiges; was bringt die reine Spontaneität zur Oscillation, das Bewußtseyn a priori zum Bewußtseyn? Wie kommt sein reiner Vocal zum Mitlauter, oder vielmehr, wie setzt sich sein lautloses ununterbrochenes B l a s e n , sich selbst unterbrechend, ab, um wenigstens eine A r t von Selbstlaut, einen A c c e n t zu gewinnen? Dieses müsset ihr angeben, müsset die Möglichkeit einer reinen Synthesis, mit oder ohne eine r e i n e ganz inwendige Discrimination, darthun können, oder euer ganzes System hat nicht einmal den Bestand einer Seifenblase. | Es hat wirklich diesen nicht, und keinen andern; ist ganz und gar und durchaus nur über und mit dem zwiefachen, in Wechselwirkung gesetzten Betrug von einer Mannichfaltigkeit und einer Einheit erbaut, | die da, wo sie – jedes für sich und von dem anderen unabhängig als ein Ursprüngliches und Erstes – sich befinden sollen, weder so zu finden oder anzutreffen sind, noch auf irgend eine Weise wahrhaft auch nur so phantasirt, geschweige denn gedacht werden können. Ihr Daseyn ist eine künstliche Vorspiegelung durch ein täuschendes Schatten in Schatten werfendes Doppelglas. Das vollendete, ausgeführte Spiel mit diesen Schattenwesen stellet in einem neuen Bilde jenen alten Regressus dar – von der Welt auf einen sie tragenden Elephanten, und vom Elephanten auf eine ihn tragende Schildkröte; mit dem Unterschiede nur, daß Ihr eine Figur mehr und die Schildkröte zweymal gebraucht. Die Vernunft nämlich, wie ich schon anfangs bemerkt habe, ruhet bey euch auf dem Verstande; der Verstand auf der Einbildungskraft; die Einbildungskraft auf der Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit dann wieder auf der Einbildungskraft a l s e i n e m V e r m ö g e n | d e r A n s c h a u u ng e n a p r i o r i ; diese Einbildungskraft endlich – W o r a u f ? Offenbar auf Nichts! Sie ist die wahrhafte Schildkröte, der absolute Grund, das Wesende in allen Wesen. Aus sich rein a priori produciret sie sich selbst; und, als die Möglichkeit selbst von allem Möglichen (das Producirende des Producirens, welches in der Erscheinung als ein Ergreifen, Apprehendiren sich äußert) nicht nur was m ö g l i c h , sondern auch was – vielleicht! – unmöglich ist. Genug, v o r ihr kann | nichts seyn; und was n a c h ihr ist, das ist nur d u r c h sie, nur i n ihr und v o n ihr. 10 diesen] diesen

33 Ergreifen] Eingreifen

35 seyn;] seyn:

7–8 Synthesis, … Discrimination,] so DvD2; D1: Synthesis … Discrimination 10 diesen nicht,] so Dv; D1: diesen nicht D2: diesen nicht,

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Nun aber wär’ es unmöglich, daß durch diese Einbildungskraft Etwas producirt würde, wenn im Produciren der Augenblick des Entstehens auch der Augenblick des Vergehens wäre; ein solches Schaffen brächte nichts hervor. Also muß erhalten, d. i. b ehalten, und das continuirlich Producirte eben so continuirlich reproducirt werden; das Producirende muß, producirend, zugleich hinterlassen. – Es ist sonnenklar: die transscendentale Einbildungskraft könnte als producirende gar nicht anfangen und im Gange bleiben; ja sie könnte überall weder G a n g | noch F o r t g a n g haben, wenn sie nicht, so wie sie ansetzte zum Produciren, bey diesem A nsetzen auch das A bsetzen schon im Sinne hätte für ein rein apriorisches Gedächtniß. Das Absetzen hat nicht mehr Schwierigkeit als das Ansetzen, und wer eine dabey findet, dem kann es nur Eine und Dieselbe Schwierigkeit seyn. Wer keine dabey findet, der ist so gut als im Besitz der ganzen Wissenschaft, er hat alles gewonnen; denn diesem Einen K n o t e n folgt das ganze Netz, so daß nun ein Kind es stricken kann; ein Netz, worin das gesammte Universum gefangen und mit leichter Mühe von unten herauf und von oben herab gezogen wird auf unsere Schildkrötenschale. Er hat alles gewonnen, der hier nicht Zuckende und Zagende, sagte und wiederhole ich; er hat alles gewonnen mit diesem ihm einleuchtenden sich gegenseitig bedingenden Produciren und Reproduciren d e s Produ|cirens einer transscendentalen Einbildungskraft. Jenes gebiert ihm das Objective; dieses, das Subjective: Vorbild und Nachbild; Gegenstände und Vorstellungen von Gegenständen. So wie ihm diese gebohren sind, hat er auch E r k e n n tniß, und vermag kraft der ihm beywohnenden real-idealen und ideal-realen Synthesis | und Analysis (der reproducirend producirenden Einbildungskraft) diese Erkenntniß auch ins Unendliche zu erweitern und zu erläutern. – Sie entstand ihm aber nothwendig, weil er das Producirte im Reproducirten (da dieses nur ein Nachund Wieder-holen mit dem Bewußtseyn, d a ß es nur ein Nachund Wieder-holen von jenem, ein continuirliches Zurückblicken auf dasselbe ist) nothwendig wiedererkennen, gleichwohl aber und eben so nothwendig das eine von dem anderen als Vorbild und Nachbild unterscheiden mußte. So wie dieses nun geschehen

20–21 Zagende, sagte und wiederhole ich] Zagende tive

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ist, constituirt sich die transscendentale Einbildungskraft augenblicklich und ohne weiteres – als Verstand. Sie constituirt sich als Verstand, und zwar – als einen Verstand zugleich m i t und o h n e Einbildungskraft, um, n a c h W o h l g efallen, sowohl rein intellectuell, als auch figürlich 1 synthesiren zu können. Hiebey kann man nicht die mindeste Schwierigkeit finden, wenn man wohl Acht gege|ben hat, wie die blindgebohrne Einbildungskraft in eine sehende durch sich selbst nothwendig verwandelt | wird, d. h. (denn eigentliche Verwandlung ist es nicht) wie in ihr die Blindheit das Sehen organisch hervorbringt, wie sie seine Gebärmutter ist, dergestalt, daß hier ein Sehen ohne eine ursprüngliche Blindheit, in der es entstünde, der es sich organisch ansetzte, und von der es organisch angesetzt w ü r d e ; daß ein solches n i c h t epigenetisch hervorgebrachtes, n i c h t in einer ursprünglichen Blindheit gegründetes, n i c h t mit ihr a priori verknüpftes, zusammengewachsenes, und mit der Blindheit in ewiger Vereinigung b eharrendes Sehen, ein Unding wäre. Hat man wohl Acht gegeben, und den ganzen Vorgang ernstlich beobachtet, so erkennet man nun auch auf das deutlichste, wie diese Erzeugung des Sehens aus der Blindheit, des Lichtes aus der Mutter Nacht, die Erzeugung des Verstandes selbst nach einem ursprünglichen, nothwendigen und absoluten Gesetze des Gehens v o r dem Sehen; und nach einem eben so ursprünglichen und nothwendigen, aber doch abhängigen, Gesetz des Sehens n a c h dem Gehen ist, (eine Erkenntniß, die, im Vorbeygehen gesagt, den Idealisten auch zu Boden schlagen soll)!2 Man ver|stehet dann auch ferner, wie ein blos f o r m a l e r Verstand, das ist, ein Vermögen, die alleinige G estalt der Sache des Begreifens, o h n e d i e S a c h e , und ausdrücklich v o r ihr – wie ein solcher b l o s f o r m a l e r Verstand, | als ein selbstständiges, s i c h s e l b s t g e n u g s a m e s W e s e n im Gemüthe, nicht blos vorhanden seyn k ö n n e ; sondern, auch schlechterdings vor allem andern darin vorhanden seyn m ü s s e , um den r e a l e n Verstand, als ein n i c h t selbstständiges, n i c h t sich selbst genug1 2

Kr. d. r. V. S. 150–152. Kr. d. r. V. S. 274. fg.

20 Nacht,] Nacht, – 24–26 ist, (eine … soll)!] – ist. Eine schlagen soll! des Begreifens] zu begreifen 31 sondern,] sondern 11 sie] so D2; D1: es

26 soll)] D1: soll

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sames, sondern z w i e f a c h abhängiges Wesen, erst zu b e g r ü n den. 1 Er begreift es vollkommen, weil er wohl begreifen m u ß , daß jeder Erzeugung das Erzeugen selbst, hier die bl o ß e H a n dlung des Erzeugens, vorhergehen müsse. Der b l o s f o r m a l e Verstand nämlich ist diese blos die Handlung des Erzeugens erzeugende Handlung; er gestaltet, ohne Gestaltung, nur das Gestalten. Der reale, transscendentale, oder formal-materiale Verstand gestaltet m i t Gestaltung und der Gestaltung w e g e n . J e n e r erschafft das Urtheilen, durch rein productive, d. i. | rein s y n t h etische Vorstellungs-Kraft; d i e s e r das Begreifen, durch rein reproductive, d. i. rein analytische Erkenntniß-Kraft. Der eine ist ein reines Denken vor allem Begreifen, ein Denken ohne etwas zu denken außer dem bloßen Denken, ein Denken noch ohne Gedanken; der andere ist ein Denken m i t B e g r e i f e n , ein Denken schon m i t G e d a n k e n , ein e t w a s d e n k e n d e s D e nken. 2 | Ihr sehet, daß ich, jenen Knoten ausgenommen, den ich nur vorwies als den ersten, aus dem das ganze Gewebe folgte, übrigens eure Sache gut genug gefaßt habe. Auch i h r weiset blos diesen Knoten vor, gebt euch aber dabey das Ansehen, als machtet ihr ihn vor unseren Augen, und lehrtet uns ihn machen: dieses nenne ich euren Betrug. Ich werfe euch nicht vor, daß ihr wissentlich betrügt, sondern bin im Gegentheil fest überzeugt, ihr habt euch ehrlich überredet, dieser erste Knoten machte sich von selbst, sobald nur reine Sinnlichkeit und reiner Verstand, jene als ein Bestimmbares, dieser als ein Bestimmendes zusammen kämen, und in einem und demselben Wesen sich vereinigten; nichts in der Welt, glaubt ihr aufrichtig, sey leichter zu begreifen; | es sey das erste, was ein vernünftiger Mensch begreifen müsse. 1

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Kr. d. r. V. S. 89 und 153. Die hier beschriebenen Functionen des das Produciren pro|ducirenden 521 Producirens muß die Kantische Philosophie, so ferne dieselbe auch nur den Schein der Consequenz behalten will, als die von ihr stillschweigend vorausge35 setzten Principien ihrer Theorie des Erkenntnißvermögens anerkennen. Die Fichtische hingegen stellt die besagten Functionen ausdrücklich und zwar mit einem Anschauen, Denken und Wollen aller derselben auf. A n m e r k u n g d e s Herausgebers. 2

32–38 Die hier … Herausgebers. fehlt

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Und dies möchte wahr seyn, wenn sich nur ein isolirter reiner menschlicher Verstand als ursprünglich bestimmend denken ließe, oder wenn euere reinen Anschauungen ein Mannichfaltiges a priori wirklich darstellten. Allein das eine Vorgeben ist so ungegründet als das an|dere. Ihr veranstaltet aber euren Selbstbetrug auf folgende Weise.

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Ihr gehet aus von drey qualitativen unendlichen Einheiten und numerischen Identitäten, davon wenigstens zwey, als u n m i t t e lbare Anschauungen, einzelne Wesen seyn müssen.1 Sie heißen: Raum, Zeit, ursprüngliches ganz reines Bewußtseyn. Diese drey Einheiten sind eure Theses, eure Principien.2 In der dritten Thesis, der transscendentalen Apperception, soll die Synthesis schon enthalten seyn, aber – ohne Antithesis! In den zwey vordersten hingegen soll Antithesis ohne Synthesis sich finden | lassen. Werden nun diese drey Thesen in Vereinigung gedacht, so ist alles beysammen, was zur Bildung eines Begriffes erfordert wird. C borget von A und B | ein Vieles und Mannichfaltiges zum V e r binden; und A mit B borgen von C Einheit zum – E n t -binden! nämlich ihres Vielen und Mannichfaltigen, so daß sie fortan sich als Aggregate darstellen und verhalten mögen, ohne darum ihre Continuität (ihre qualitative Einfachheit und Einheit), die sie zu einzelnen, eben so incomponibeln als indecomponibeln Wesen, zu thetischen reinen Jungfrauen aus unbefleckter Empfängniß machte, einzubüßen. Nur indem man sich die Sache auf diese Weise gleich beym Eingange verdeutlicht, gewinnt man die, auch gleich beym Eingange, so unentbehrliche Erkenntniß: welcher Gestalt, warum und wie es 1

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Kr. d. r. V, S. 136. die Note, und S. 160. Fichte geht von einer, angeblich, E i n z i g e n E i n h e i t , der absoluten S u b j e c t i v i t ä t – i n dem absoluten, in sich zurückgehenden, T h u n , und 30 durch dasselbe – aus. Aus der in d i e s e m Thun vorausgesetzten Vereinigung der Thesis, Antithesis und Synthesis entwickelt Er dann auch die Einheit des Bewußtseyns, des Raumes und der Zeit. In jener Vereinigung findet Er keinen Widerspruch, sondern nur denjenigen Widerstreit, der darum auch zur a b s o l u t e n E i n h e i t gehört, weil ohne ihn die Einheit nicht Einheit wäre. 35 Anmerkung des Herausgebers. 2

28 V,] V.

29–36 Fichte … Herausgebers. fehlt

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wahr seyn m ü s s e , daß der reine Verstand urtheile, folglich a priori zu urtheilen auch vermöge v o r a l l e m B e g r e i f e n , und dies ungeachtet der e b e n s o g e w i s s e n W a h r h e i t und ihr unbeschadet, daß er n i c h t urtheile und nicht zu urtheilen v e r m ö g e , auch nicht a priori, als nur m i t B e g r i f f e n , und daß nothwendig in jedem Urtheile ein Begriff schon enthal|ten seyn müsse. Der Widerspruch verschwindet, wenn man weiß, daß man sich die Synthesis (d a s U r t h e i l e n ) z u e r s t , v o r dem Hinzukommen der Antithesis; und erst dann – auch n a c h dem Hinzukommen derselben denken müsse. J e n e Synthesis ist ein unmittelbares Urtheilen; d i e s e ein nur mittelbares. Das unmittelbare Urtheilen ist die uranfängliche sich selbst erzeugende Handlung der Synthesis allein; das mittelbare Urtheilen ist die mit ihren Erzeugungen fortzeugende, | n i c h t m e h r a l l e i n i g e , Handlung der Synthesis. Nothwendig geschieht das unmittelbare Urtheilen o h n e B e g r i ffe, weil diese zuvor synthetisch erzeugt werden mußten: dieses Urtheilen ist ein Setzen noch ohne S ä t z e . Und nothwendig geschieht das mittelbare m i t Begriffen, weil diese einzig und allein erzeugt wurden, u m damit zu urtheilen: Dieses Urtheilen ist ein Setzen in, von und mit S ä t z e n . Es wurden aber die Begriffe einzig und allein um damit zu urtheilen erzeugt, weil der Verstand, der mit allen seinen Synthesen doch am Ende weiter nichts als ein Vermögen der Begriffe seyn kann, von seinen Begriffen keinen andern Gebrauch zu machen hat noch weiß, als daß er damit urtheile. Ueberhaupt han|delt er ja nur, um sich zu gebrauchen, und gebraucht sich wieder nur, um zu handeln; denn aus sich selbst will er eben so wenig herausgehen, als er aus sich selbst heraus zu gehen v e r m a g . So beruhet demnach alles auf dem ursprünglichen Urtheilen, auf jener reinen Synthesis, die, a l s e i n e S y n t h e s i s a n s i c h , von euch zu allererst entdeckt worden ist. Ihr nennet diese Synthesis an sich eine b los intellectuelle; und wir erfahren, indem ihr sie unter diesem Namen erörtert, d a ß sie, als solche, unabhängig von der Einbildungskraft und aller Anschauung, ganz für sich allein bestehen soll. Eine wichtige Entdeckung! Denn nun wird es klar, daß die r e i n e , von Antithesis und Thesis unabhängige S y n t h esis, daß die S y n t h e s i s a n s i c h , nichts anders ist, als die C o p u l a a n | s i c h ; ein von Subject und Prädicat unabhängiges Verbinden ohne zu Verbindendes; ein I s t , I s t , I s t , ohne Anfang und Ende und ohne W a s , W e r oder W e l c h e . Dieses ins unendliche fort-

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gehende Wiederholen der Wiederholung ist die alleinige Geschäftigkeit, Function und Production der allerreinsten Synthesis; sie selbst ist das bloße, reine, absolute Wiederho|len selbst. Der Actus dieser Wiederholung ist denn auch der reine Actus des Selbstbewußtseyns; und der reine Actus des Selbstbewußtseyns ist der reine und alleine Actus jener Wiederholung a l s bloßer Wiederholung. Und hier erscheint denn z u m z w e y t e n M a l der Knoten, der wunderbare! über den ich euch in einem fort zur Rede stelle. Die blindgeborne, noch unverklärte Einbildungskraft machte ihn zuerst, indem sie mit einem schlechterdings undenkbaren Ansetzen zum Absetzen, und Absetzen zum wieder Ansetzen den Weg zu ihrer Selbstverklärung antrat. Jetzt, am Ende der Bahn, reproducirt sie denselben in verklärter Gestalt, wirft die dunkele Hülle vollends ab, und entäußert sich, als Einbildungskraft, von sich selbst, um als blos intellectuelle Synthesis, als der r e i n e Verstand selbst, als lauter Intelligenz sich darzustellen.1 |

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Die Lehre von den Kantischen Functionen der Einheit und Einheiten der Synthesis, die in unserm Vaterlande so viele Köpfe zerbrach, hätte selbst dem mittelmäßigsten Kopfe ohne die geringste Mühe verständlich gemacht werden können. | Von seinen fünf Sinnen weiß ein Jeder. Ich frage den ersten und | besten, der weiß, was Riechen ist, ob er irgend etwas Besondres, eine Rose oder eine Nelke, würde riechen können, wenn ihm nicht ein Vermögen überhaupt zu riechen beywohnte. Glaubt er etwa, daß ihm das Riechen durch die Rose oder die Nelke erst entstehe? Nein, das Riechen ist vor aller Anwendung desselben in ihm, alle verschiedenen einzelnen Gerüche sind alle in dem einen absolut ihm a priori beywohnenden Riechen gegründet. Der Gegenstand dieses Riechens ist ein Unendliches des Riechbaren, welches nicht aus einzelnen Gerüchen zusammengesetzt ist, sondern in welchem alle Gerüche sich zusammen und aus einander setzen. Wenn ich vor dem riechenden Vermögen alle besondern Gerüche vertilge, so bleibt noch das übrig, was alle diese Gerüche gemein hatten, das Subject des Riechbaren, das noch unbestimmte Riechbare als solches. Dieses Unvertilgbare ist keine Wahrnehmung, noch weniger ein Begriff; es ist also eine Anschauung a priori. Eine jede Nase hat also eine Anschauung a priori, in welcher ihr das Mannichfaltige der Gerüche sich ordnet. Zugleich wohnt ihr eine Einheit bey, eine qualitative, ohne welche zwar eine Anschauung f ü r sie, aber kein Anschauen v o n ihr wäre. Die Nase ist diese qualitative Einheit selbst, die numerische wiederholte Einheit eines und desselben Riechens. –

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21 können] können auf folgende Weise 22 ersten und besten] ersten | 40 besten 27 sind alle] sind 31 setzen] setzen, das absolut Riechbare 33 solches] solches, ein unendliches, ein ewiges 36 ihr] ihr

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Redet selbst, damit wir gründlich und entscheidend aus der Sache kommen – denn vielleicht entstell’ ich euch euere Lehre aus Mißverstand oder bösem Willen – Was wollt ihr ein für allemal unter Synthesis, in der allgemeinsten und in jeder besonderen Bedeutung, verstanden wissen? Sprechet es deutlich und bestimmt aus, erkläret es ausführlich. | Ihr seyd dazu bereit, und antwortet mir unverlegen: »Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung ist die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu ein|ander hinzuzuthun, und ihre Mannichfaltigkeit in einer Erkenntniß zu begreifen.«1 Wohl! Also ist Synthesis eine aus zwey ganz verschiedenen Handlungen bestehende Handlung; aus einer Handlung des » S a mmelns« und aus einer Handlung des »Vereinigens«; sie sichelt und fasset auch in Garben; das Ausdreschen und Läutern des Korns mögen denn wohl die Handlungen noch anderer Handlungen seyn. – Aber weiter! was ist r e i n e Synthesis? »Die r e i n e Synthesis ist von der Synthesis überhaupt nur dadurch unterschieden, daß das Mannichfaltige, welches sie s a mmelt und vereinigt« (ergreift und b egreift) »nicht empirisch, sondern, wie das Mannichfaltige im Raum und in der Zeit, a priori gegeben ist.«2 Raum und Zeit also, ganz für sich allein betrach|tet, enthalten schon ein Mannichfaltiges, folglich ein Verschiedenes, welches die Synthesis nur zu sammeln und zu vereinigen hat? – Ich fasse dieses nicht, schlechterdings nicht – Aber weiter! Jenem Vermögen, welches bald auf eine reine, bald auf eine unreine Weise geschäftig, und in beyden Fällen dasselbe ist: leget ihr ihm, als Ursache, noch einen anderen eigenthümlichen unterscheidenden Namen bey oder nicht? | »Die Synthesis üb erhaupt ist die bloße Wirkung …« Dies V e r m ö g e n ist eine W i r k u n g ? »– Die b l o ß e Wirkung der Einbildungskraft, einer bl i n d e n obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall 1

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2 kommen] kommen, entstell’] Dv(D2): entstelle Willen – Was] Willen, – was 3 Willen] so Dv; D1: Willen. D2: Willen,

euch euere] euere

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keine Erkenntniß haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein diese Synthesis auf B e g r i f f e zu bringen, das ist eine Function, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntniß in eigentlicher Bedeutung verschafft. Die reine Synthesis allgemein vorgestellt giebt nun den reinen Verstandesbegriff. Wir verstehen aber unter d i e s e r | Synthesis diejenige, welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht: so ist unser Zählen (vornehmlich ist es in größeren Zahlen merklicher) eine Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht. (z. B. der Dekadik.) U n t e r diesem Begriffe wird also die Einheit der Synthesis des Mannichfaltigen nothwendig.« 1 Recht so! Eben dieses wünschte ich zu hören. – Ob ihr euch selbst ganz verstehet, weiß ich nicht; das aber weiß ich mit der vollkommensten Gewißheit, daß ihr, um euere Synthesis zu Stande zu bringen, zweyer einander entgegengesetzter Einheiten bedürfet und ihren Gebrauch auch wirklich lehret: einer unbestimmten ma|terialen, und einer bestimmenden instrumentalen; einer passiven Einheit, worin; und einer a c t i v e n – m i t und n a c h der ihr verknüpfet. Durch die Handlung der wesentlich b e s t i mmenden, activen Einheit, auf die blos bestimmbare, passive Einheit, entstehet euch das Mannichfaltige, d a s i n d e r b l o s p a ssiven Einheit, für sich | allein betrachtet, unmöglich schon gegeben seyn konnte. So zeiget und erkläret uns denn, wie ihr a priori zu der instrumentalen oder kategorischen Einheit kommt, mit der ihr in die passive Einheit einbrechet, um sie in ein Mannichfaltiges und Gleichartiges zu verwandeln, oder vielmehr, um über ihrem unveränderlichen Grunde ein gleichartiges Mannichfaltiges entstehen zu lassen. Es ergehe, was ihr wollet, über mich, wenn ihr euch über jenes Ding der Einheit zu rechtfertigen, wenn ihr es wahr zu machen, wenn ihr in irgend einem Reinen r e i n v o n d e r S t e l l e z u k o m m e n im Stande seyd. Dies zu thun aber m ü ß t e t ihr im Stande seyn; denn wenn gleich euere reinen Anschauungen und Begriffe den empirischen nicht der Zeit nach vorher gehen und eine von der Erfahrung unabhängige Bedeutung haben sollen, so 1

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19 worin;] w o r i n ,

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müssen sie doch, von allem Empirischen abgesondert, für sich allein vorgestellt und gedacht werden können, gerade als wenn sie jenen a u c h d e r Z e i t nach vorher gingen. Wäre dieses nicht, so dürfte von den reinen Vorstellungen nicht gesagt werden, daß sie die empirischen erst m ög l i c h machen, diese durch jene bedingt sind. Ihr | lehret ja ausdrücklich, die Entwickelung der Erfahrung, worin diese Vorstellungen und Begriffe angetroffen werden, illustrire diese blos; aus ihr d e d u c i r t aber könnten sie nicht werden, »weil der Verstand, durch diese Begriffe, selbst Urheber der Erfahrung, worin seine Gegenstände angetroffen werden, sey.«1 Ich fahre fort. Keine von eueren primitiven Einheiten, die ich vorhin euere T h e s e s genannt habe, ist weder ein solches Ding der Einheit, wie ihr eines als Instrument der Synthesis braucht und einführet, noch kann ein solches aus ihnen hergenommen werden. Jene primitiven und fundamentalen Einheiten sind blos q u a l i t ative Einheiten, unendliche, und als solche wesentlich eben so unbestimmbar als unbestimmend; eben so unfähig, verendlicht zu werden, als etwas anderes zu verendlichen; eben so unerzeugbar, als unerzeugend. Die Qualität, welche sie zu Einheiten macht, ist in allen dreyen dieselbe, und heißet – Continuität. Umsonst versuchet ihr daher einen Unterschied zwischen ihnen einzuführen, indem ihr der dritten ausschließend den Namen einer synthetischen | beylegt, gleichsam als käme dieser insbesondere noch ein eigenes wunderbares Vermögen des Dividirens und wieder Summirens zu, wovon sie, zuerst für sich selbst, dann auch für die beyden andern Einheiten Gebrauch machte, und sie zusammen, einzeln und | durch einander, überhaupt alles Unendliche – schrotete zu einigermaßen gleichartigen Erkenntnißstücken, die dann wieder gemahlen, gebeutelt, gemischt, entmischt, eingesackt und eingeschachtelt würden, zu allerhand Brod und Kuchen für die emsigen Gemüther. – Ich sage, von eueren drey Einheiten vermag die e i n e so wenig etwas dergleichen als die andere; die eine so wenig als die andere vermag sich selbst oder 1

S. Kr. d. r. V. S. 126. 127. 185. 206. 317. 320. 323. 324. 793.

35 S. Kr.] Kr. 1 Empirischen] so DvD2; D1: empirischen

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eine ihrer Genossinnen in einen unendlichen N e n n e r v o r allem Zähler zu verwandeln, oder einen solchen, die qualitative Einheit anbrechenden und zerbrechenden, Z ä h l e r , zum Anbrechen, Fortbrechen und Zählen, in sich selbst oder einer der beyden anderen hervor zu bringen. Demnach müssen, entweder a l l e d r e y , und eine wie die andere, synthetische Einheiten genannt werden dürfen, oder es darf k e i n e so genannt werden. Sie d ü r f e n so genannt werden, in so fern sie durch ihre Continuität oder S t e t i gk e i t – G r ü n d e d e r | E i n h e i t sind f ü r eine Synthesis. Diese Synthesis aber geschiehet schlechterdings nicht d u r c h sie, sondern sie geschieht, oder vielmehr sie e r g i e b t sich nur, e r f o l g e t nur, in ihnen, als nothwendigen und alleinigen G r ü n d e n der Einheit; sie sind Einheiten d e r Synthesis, nicht synthesirende Einheiten. Sollte die Synthesis d u r c h sie geschehen, so müßte sie, da Synthesis Antithesis nothwendig voraussetzt, auch den Grund von d i e s e r in sich haben, und Entgegengesetztes (das ist Mannichfaltiges, es sey so gleichartig als es wolle) ursprünglich hervorbringen; sie müßten vor dem S a m m e l n und Ver|einigen, ein Zerstreuen; vor der Conjunction eine Disjunction bewirken. Hoc opus, hic labor! – Wo und wie wollen wir einer unentbehrlichen Antithesis a priori einen zulässigen, nur einigermaßen denkbaren, Ursprung finden? Der leere Raum des Denkens und Empfindens, den ich als reines Bewußtseyn i n m i r habe, ist eben so einfach und unendlich als sein Zwillingsbruder, der leere Raum der Gegenstände v o r und a u ß e r mir; und als die Zwillings-Schwes t e r i n i h r e r M i t t e , die leere liebe lange Zeit und Weile. Es ist offenbar unmöglich, daß | eines von ihnen das andere berühre und mit ihm eine gemeinschaftliche Nachkommenschaft erzeuge. Zwar weiß ich von einem Anschlage, nach welchem die zwey Brüder der Schwester beywohnen sollten, zum Erzielen einer gemeinschaftlichen Succession; es konnte aber nicht gelingen, aus Ursachen, die ich bald anführen werde. – Soll nun gleichwohl etwas dergleichen vorgehen; ich meyne: soll es durchaus so seyn und a priori möglich werden, daß in unsere drey gleich r e i n e n , gleich einfachen und unendlichen Einheits-Wesen – Endlichkeit, und zwar (NB!) als ein anderes e b e n s o r e i n e s Wesen, dringe, damit ein r e i n e s Mannichfaltiges, dessen wir so ganz und gar entbehren, und das wir doch z u a l l e r e r s t bedürfen, vor uns entstehe: so wird etwas ganz unerwartetes ins Mittel treten müssen.

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Im eigentlichsten Verstande t r i t t es ins Mittel, dieses Unerwartete. Siehe! es erscheint wunderbarlich ein schreitendes Wesen, transscenden|tale Einbildungskraft genannt, und begiebt sich mitten in die reinen Vorstellungen, um sie zu durchlaufen. Es tritt zugleich in den Grund der Einheit a u ß e r uns, den R a u m ; und in den Grund | der Einheit i n uns, das r e i n e B e w u ß t s e y n ; und da es schon mit schreitender Bewegung hinein trat, so brachte es auch auf seinen, zugleich productiven und reproductiven, zugleich antithetischen und synthetischen – zwey Füßen, nicht allein f ü r ü b e r a l l A n f a n g und E n d e , sondern auch einen stetigen Fortgang (!), eine successive Zeit mit sich, welche denn, als ein den beyden entgegengesetzten Gründen der Einheit, dem äußeren und inneren, gemeinsames, keinesweges aber, weder dem einen noch dem anderen, eigenthümliches Mittel einer ursprünglichen Antithesis und Synthesis, sie in Verbindung setzt, und im menschlichen Gemüthe eine Dreyeinigkeit veranstaltet und offenbart, in deren Namen sich Grundsätze beschwören lassen. Ich hoffe nicht, daß ihr mir darüber einen Vorwurf machen werdet, daß ich von der transscendentalen Einbildungskraft sage, nicht wie ihr: sie schreite in den Raum und in die Z e i t ; sondern: sie schreite in den Raum und in das ursprüngliche Bewußtseyn. Denn indem ihr euch so ausdrückt, könnt ihr doch unmöglich unter dem Worte Zeit die s c h o n s u c c e s s i v e verstehen. Diese entsteht ja erst, wird ja | erst e r z e u g t d u r c h d a s S c h r e i t e n der Einbildungskraft; sie bringt sie m i t s i c h , kann sie aber unmöglich s c h o n f i n d e n . Unter dem Worte | Zeit könnt ihr also hier nur eine Zeit v o r aller Zeit verstehen; und, möglicher Weise, unter einer solchen Z e i t n o c h v o r a l l e r Z e i t wieder nichts anderes, als das noch ununterbrochene, durch das Hineinschreiten der transscendentalen Einbildungskraft allein unterbrechbare – r e i n e B e w u ß t s e y n s e l b s t . Daß jene Zeit, die ihr die Z e i t selbst nennt, ich meyne euere r e i n e n i c h t s u c c e s s i v e , aller Erfahrung vorhergehende Zeit; jene Zeit, welche die E i n h e i t aller Zeit und ihr Substratum ist; daß diese Zeit, die noch keinen andern modum als den m o d u m der Beharrlichkeit darstellt;1 daß diese, s e l b s t n i c h t v e r f l i e ß e n d e , sondern innerlich s t i l l e 1

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stehende Zeit – wie sie von euerem Meister selbst einmal genannt wird (Kr. d. r. Vnft. Vorrede S. XLI am Ende der Note) – i n der aber alles verfließt; wenn sie noch etwas anderes im Gemüth als das alles umfassende reine Bewußt|seyn seyn soll, etwas eben so unanschaubares als undenkbares sey: müßte, deucht mir, von jedem Aufrichtigen unter euch erkannt und eingestanden werden. Es ist aber ganz gleichgültig in Absicht dessen, was ich wider euch behaupte, ob ihr es einräumet oder läugnet. Denn wenn jene Zeit, in der, nach eueren Lehrsätzen, kein Wechsel, keine Veränderung ist, und in die, für sich allein betrachtet, auch nie ein Wech|sel, nie eine Veränderung kommen kann, gleichwohl, w e i l sie ein Mannichfaltiges a priori durchaus s e y n s o l l , mit dem reinen Bewußtseyn durchaus n i c h t e i n e r l e y s e y n s o l l : so bleibet euch nichts übrig, als sie für jenes unendliche stille Meer einer unbeweglichen Ewigkeit auszugeben, wovon wir ein Bild a priori in uns hätten. So saget denn, wie es zugeht, daß in diesem unbeweglichen unendlichen Meere sich Wellen der Zeit erheben und bilden? Wie nur überhaupt Wellen in ihm möglich seyn sollen, will ich nicht einmal fragen. Ich bemerke blos, daß diese Wellen, als etwas der unbeweglichen Natur jenes Meeres Entgegengesetztes, nicht als zugleich m i t ihm gegeben denkbar sind. Ihr müsset uns also bedeuten: da es dem Wesen die|ses unendlichen stillen Oceans widerspricht, jene Wellen s e l b s t und v o n s e l b s t zu schlagen; welcher Gestalt sie in ihm vorhanden seyn können; woher der W i n d , und woher der Widerstand, die beyde nothwendig sind, wenn jener Ocean sich kräuseln soll? Euere allgemeine Antwort hierauf ist bekannt genug. Die Spontaneität der Einbildungskraft, sprechet ihr vornehm, bringet eben so, durch successive Synthesis, Zeiten in die Zeit, wie sie Räume in den Raum bringt; dort erreget und bildet sie Wellen, hier entwirft sie Gestalten. Doch vielleicht könntet ihr mir auch bedeuten wollen: es sey hier nicht von so oder anders bewegten W e l l e n , sondern von einem continuirlichen ewigen Strömen, unbegreiflich von Osten nach Westen, die | Rede; die Zeit sey auf diese Weise zugleich blei-

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bend und gehend, stehend und fließend, ein Ver-fließendes, das aber nicht e i g e n t l i c h v e r -fließe. Diese Vorstellung, w ä r e s i e a u c h m ö g l i c h u n d d e n k b a r , hülfe dennoch eben so wenig aus, und wir behielten allemal dieselbe Schwierigkeit. Ja wenn wir es noch dazu versuchten, damit nichts unversucht bliebe, die unendliche leere Zeit durch den un|endlichen leeren Raum strömen zu lassen: so kämen uns auch dadurch schlechterdings noch keine Z e i t e n i n d i e Z e i t ; noch keine Zeit-bestimmungen; noch kein Mannichfaltiges der Zeit; mit einem Wort, noch gar nichts von allem dem, was ihr m i t der Zeit und d u r c h sie a priori zu besitzen vorgebt. Da meine Schwierigkeit in Absicht euerer drey fließenden Gründe der Einheit oder euerer drey verschiedenen Continuitäten dieselbe ist; nämlich: die U n t e r b r e c h u n g d e r s e l b e n a p r i o r i ; ihr Uebergang zur Mannichfaltigkeit durch bestimmende Verendlichung; ihre Verwandlung aus einem wesentlich Einfachen in ein wesentlich Zusammen-gesetztes: des reinen Raumes in reine Räume; der reinen Zeit in reine Zeiten; des reinen Bewußtseyns in reine V o r - und N a c h -Urtheile oder Begriffe; alles rein a priori: so will ich hier den Raum gleich mit eintreten und ihn durch die Zeit selbst herbeyführen lassen; ich denke, es wird mir auf diese Weise am ersten gelingen, überhaupt faßlich und durchaus deutlich zu werden. Jene nämlich, die Z e i t , da sie, außer dem, was sie für sich ist, auch noch ein allgemeines Verbin|dungs|mittel, und wie eine durch die zwey entgegengesetzten Pole menschlicher Erkenntniß hinlaufende Axe anzusehen ist, um welche und mit welcher sich ein Z o d i a k u s d e r S c h e m a t e , und nach diesem wieder so viele andere Kreise der apriorischen Armillarsphäre drehen und wenden;1 oder deutlicher – da es sich also mit der Zeit verhält, daß sie im menschlichen Gemüthe die eigentliche Gem einsache ist, und durch sie allein das ursprünglich entzweyte Erkenntnißvermögen sich zu einem Gemeinwesen erst zusammenfügen und gestalten kann: so ist es äußerst schwer, sie außer diesen Verhältnissen, wo sie alles in allem ist, blos für sich allein als eine dem Raum gleichartige Anschauung zu betrachten. 1

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Bey dem Raume fällt dies alles weg. Er ist nur für sich, und mischet sich in nichts fremdes; er ist unbeweglich und unbewegend, ein einzelnes unendliches W e s e n d e r Vorstellung, und selbst eine Vorstellung; aber, als bloße reine Anschauung, noch keine Vorstellung eines Gegenstandes; auch kann | er für sich allein auf keine Weise als eine Q u e l l e von Vorstellungen betrachtet werden. Er kann es, so für sich allein, auf keine Art und Weise, weil die reine Einbildungskraft aus dem reinen Bewußtseyn erst zu ihm herabkommen, ihn durchschreiten, dann durch den inneren Sinn, auf den | Zeitsproßen, die sie aus dem Raume mitbringt und nun dem inneren Sinne einsetzt, zu dem reinen Bewußtseyn, wie auf jener Traumleiter Jacobs, wieder hinauf steigen, und schon ganz wieder oben seyn muß, ehe sich der Raum als mit Gestalten, d. i. mit sich gegenseitig begränzenden mannichfaltigen Räumen versehen, idealisch darstellen kann, ohne eigenes Wissen noch Wollen. Daß der Raum in sich betrachtet so ganz und gar u n f r u c h tbar, und einzig und allein als passiver Grund der Einheit für die extensiven Größen, im Erkenntnißvermögen von Belang; die andere reine Anschauung, die Z e i t , im Gegentheil so fruchtbar, von so g r o ß e m Belang und einem so allgemeinen Gebrauch ist, daß sie nicht allein als eine der drey Quellen aller reinen Vorstellungen, sondern auch als das reine Bild a l l e r G e g e n s t ä n d e | überhaupt sich darstellen und behaupten mag:1 dieser Unterschied rühret einzig und allein daher, daß die Zeit, ihrer Unendlichkeit unbeschadet, als Form des inneren Sinnes, nothwendig zwey Enden – aber ohne Ende! – haben muß, wovon das Eine durch den ä u ß e r e n S i n n , das andere durch das r e i n e B e w u ß tseyn sich erstreckt, und in beyden auf gleiche Weise haftet. Auf diese Weise wird das Ungleichartige verbunden, und jene Leiter möglich, auf welcher Kategorien z u g l e i c h hinab und hinauf steigen können – oder, an|schaulicher und besser: So wird durch die Zeit jene unentbehrliche Brücke geschlagen, auf der allein V e rstand sich niederlassen, und einen Thurm der Vereinigung zwischen dem Intellectuellen und Materiellen, dem Idealen und Realen anlegen kann, der bis i n die Wolken reicht, aber nicht darüber, welches er nicht soll. – Also, die Zeit, da sie, obgleich 1

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unendlich, doch nur die F o r m unseres inneren Sinnes, außerdem aber nichts ist, muß nothwendig überall zweyendig und irgendwo in einer M i t t e seyn. Das Merkmal eines Sin|nes überhaupt ist ja gerade dieses Zweyendige und In-der-Mitte-Stehen zwischen Object und Subject. Der Begriff eines Sinnes, von dem man das Zweyendige und sein damit In-der-Mitte-Stehen absondern wollte, würde aufhören ein Begriff zu seyn, und ein baarer Ungedanke werden. Nun ist die Zeit, als Form des inneren Sinnes, zugleich die Form der Sinnlichkeit überhaupt, zum wenigsten im Menschen; folglich ist sie der Grund der Möglichkeit und des a priori alles Zweyendig-in-die-Mitte-Tretenden ü b e rhaupt, so daß ohne sie auch Anfang, Mittel und Ende unmöglich seyn würden. Ihr also haben wir alles zu verdanken, was allein durch Anfang, Mittel und Ende zu uns gelangen kann; ihr allein – nächst der productiven Einbildungskraft! – Denn d i e s e muß freylich die Zeit, insofern Anfang, Mittel und Ende durch sie gegeben werden sollen, synthetisch erst erzeugen, und zwar i m Raume; wiewohl durchaus nicht m i t ihm und d u r c h ihn. Nicht mit ihm und durch ihn; denn sie muß, | um das Ey r e i n e r Zeitbestimmungen effectiv zu legen, den Raum durchaus wieder verlassen, v o n i h m g a n z a b s t r a h i r e n , und allein | auf das reine Bewußtseyn reflectiren. Hierauf, so wie sie gelegt hat, leget sie nun fort i n d a s r e i n e B e w u ß t s e y n , ohne in den Raum zurückzukehren, noch weiter an ihn zu denken. Nur wenn sie bedeuten soll, wie groß oder wie klein eines ihrer Eyer vor dem andern, wird sie genöthigt, auf den Raum zurück zu sehen, und an ihm sich darüber auszudrücken. – Auf diese Weise erhellet, (!) wie und welcher Gestalt die Zeit, ausschließlich vom Raume, und in Gemeinschaft allein mit der productiven Einbildungskraft und der transscendentalen Apperception, eine Quelle von Vorstellungen ist. Sie ist nämlich die alleinige Quelle aller Vorstellungen von Anfang, Mittel und Ende. Sie kann aber diese drey, natürlich, überall nur dreyeinig schaffen, jedes Dreyeinige aber so groß und so klein, als man es bedarf. Da nun alle Vorstellungen von Gegenständen, um nur Vorstellungen von Gegenständen zu s e y n , nothwendig Anfang, Mittel und Ende haben müssen, ja, als r e i n e Vorstellungen von Gegenständen, nicht einmal weiter etwas an sich haben können, als eben diese Dreyeinigkeit: so wird die Zeit mit dem größten Recht d a s r e i | n e B i l d a l l e r G e g e n s t ä n d e ü b e rhaupt genannt.

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Nun wird sie aber, wie ihr alle wisset und ich so eben noch erinnert habe, insofern Anfang, Mittel und Ende (jedesmal nothwendig als ein dreyeiniges Wesen) in ihr und durch sie gegeben werden; sie wird, | sage ich, also bestimmend und bestimmt, durch die productive Einbildungskraft erst hervorgebracht; diese aber muß zuvor sich in den Raum begeben, und sich i n ihm (durchaus nicht mit ihm; s i c h s e l b s t , durchaus nicht und auf keine Weise i h m !) eine hinlängliche B e w e g u n g machen. Wir müssen also, um der Sache auf den Grund zu kommen, die productive Einbildungskraft in den Raum begleiten, oder vielmehr zuvor uns selbst in den absoluten, rein immateriellen, wesentlich E i n i g - und A l l e i n i g e n Raum versetzen, und hier die productive Einbildungskraft erwarten. Um mich in den absoluten, wesentlich E i n i g - und A l l e i n igen Raum zu versetzen, muß ich, euerer ausdrücklichen Vorschrift zufolge, aus der mir vorschwebenden unendlich mannichfaltigen Natur alles Körperliche, es sey gedacht oder empfunden, sorgfäl|tig wegdenken. Ich muß fortfahren mit diesem Wegdenken so lange, bis mit dem letzten Wegzudenkenden und r e i n Weggedachten, auch das Denken selbst, insoferne es ein E t w a s denken ist, rein weg ist. Dann bleibet übrig – Zweyerley. Hier, anstatt der körperlichen Natur, der bloße Raum: eine r e i n e A n s c h a uung. Dort, anstatt des E t w a s denkenden Denkens, ein n i c h t s denkendes Denken: reine Spontaneität. Ich muß also, um die Vorstellung des Raumes vollkommen rein und a l l e i n zu erhalten, und mich w a h r h a f t in sie zu versetzen, für so lange r e i n zu vergessen suchen, daß ich je irgend etwas sah, hörte, rührte und berührte, mich selbst ausdrücklich nicht | ausgenommen. R e i n , r e i n , r e i n vergessen muß ich zumal alle Bewegung, und mir gerade d i e s Vergessen, weil es das schwerste ist, am angelegensten seyn lassen. Alles überhaupt muß ich, so wie ich es weggedacht habe, auch ganz und vollkommen weg g eschafft seyn lassen, und gar nichts übrig behalten, als die m i t G ewalt stehen gebliebene Anschauung allein des unendlichen u nveränderlichen Raums. Ich darf mich daher auch | nicht selbst, als etwas von ihm unterschiedenes und gleichwohl mit ihm Verbundenes, w i e d e r i n i h n h i n e i n d e n k e n ; ich darf mich nicht von ihm b l o s u m g e b e n u n d d u r c h d r i n g e n lassen; sondern 17 Körperliche] so DvD2; D1: körperliche

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ich muß ganz übergehen in ihn, Eins mit ihm werden, m i c h i n ihn verwandeln; ich muß von mir selbst nichts übrig lassen als diese meine Anschauung selbst, um sie als eine wahrhaft s e l b s tständige, unabhängige, Einig- und Alleinige Vorstellung zu betrachten.1 Aber wie? Indem ich dieses auf das gewissenhafteste ausführe und vollbringe: Wie gehet es zu, daß mir gerade das Gegentheil von dem wiederfährt, was, euerer Versicherung gemäß, mir wiederfahren sollte? Anstatt ein Vieles und Mannichfaltiges – nur ohne Einheit zu seyn, finde ich, daß ich, d e r R a u m , oder die vollkommen reine Rauman|schauung, nur ein absolutes Eines – o h n e a l l e M a n n i c h f a l t i g k e i t u n d V i e l h e i t b i n ; ja, ich selbst bin die Unmöglichkeit selbst, ich bin die Vertilgung und Vernichtung alles Man|nichfaltigen und Vielen. Nachdem ich ehrlich weggedacht habe, was ich, um diese w a h r h a f t u n a bhängige, selbstständige, einig- und alleinige Raumanschauung zu werden, weg zu denken hatte, und mich nun wirklich mit mir selbst allein befinde, kann ich aus meinem reinen, schlechterdings einfachen, unveränderlichen Wesen auch nicht das mindeste von jenem wieder herstellen, oder in mich hinein g espenstern, etwa durch eine, unkörperliche Gespenster des Körperlichen schaffende, Phantasie. So offenbaret sich durch meine Offenbarung mir selbst, unwidersprechlich, alles A u ß e r - und Nebeneinander Seyn, alle auf diesem A u ß e r - und N e b e neinander Seyn allein beruhende Mannichfaltigkeit und Vielheit, als ein r e i n U n m ö g l i c h e s . Aus meinem (des apriorischen, unbedingten Raumes) Seyn und v o r ihm seyn erhellet sein (des außer- und nebeneinander Seyenden) nothwendiges, absolutes Nichtseyn; aus meiner wesentlichen Wahrheit, seine wesentliche Unwahrheit. Müßte es nicht, um zu seyn, i n mir, und d u r c h mich seyn; o h n e mich ein rein Unmögliches? Nun ist aber sein angebliches Wesen meinem wahren Wesen dergestalt | entgegengesetzt, daß wir nicht zugleich, geschweige denn i n einander bestehen, und uns gegenseitig darstellen können. Meine absolute Un-theilbarkeit, | die man sehr ungeschickt eine Theilbarkeit ins Unendliche genannt hat, beweiset augenscheinlich (denn 1

Kr. d. r. V. S. 46. fg. Die ganze transscendentale Aesthetik.

30 Unwahrheit] so D2; D1: Unwarheit

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sie läßt sich auf mehr als eine Weise augenscheinlich machen) die absolute Unmöglichkeit alles Außer und Nebeneinanderseyns in mir, und macht sein Daseyn überhaupt zu einer abgeschmackten Lüge. Wie sollte nun, wenn es in der That sich so verhält, die Spontaneität einer leer- und reinen Einbildungskraft hier etwas verändern und das Unmögliche möglich machen können? Sie wird auf keine Weise es vermögen, so lange ich, als reine Raumvorstellung, nicht von dem vorhin beschriebenen vollkommenen Vergessen ablasse. Wie wollte sie in mein Gediegenes Eins eindringen, und in meinem unendlichen Wesen auch nur einen distincten, sich unterscheidenden Punct entstehen lassen? In mir selbst ohne M a ß und Abmessungen, bin ich ein unendlicher unkörperlicher Körper. Und weil ich unkörperlich, weil ich wesentlich immateriell bin, bin ich das a l l e i n Gediegene, bin ich d i e G e d i e g e n | h e i t selbst, und es ist n i c h t s Gediegenes außer mir. Ich bin ins Unendliche theilbar, heißt, wie schon vorhin angemerkt wurde: ich bin absolut u ntheilbar; es heißt: ich kann eben so wenig a u s g edehnt als zusammengezogen, eben so wenig eingeschränkt als erweitert werden; oder: ich bin ein unendlich gediegenes, unwandelbares, alle Endlichkeit schlechterdings ausschließendes Eins. In alle Ewigkeit wird also eine rein- und leere Einbildungskraft nicht, wenn s i e a l l e i n | mit m i r a l l e i n gelassen wird, in mir auch nur einen Punct erzeugen können. Und hätte sie ihn erzeugt, wie brächte sie ihn von der Stelle, um mit ihm eine L i n i e ; mit dieser Linie, eine Z e i t anzufangen? Ich will vergessen, daß Bewegung eine empirische, in der Region des Reinen unerzeugbare Vorstellung ist, und euch mehr als E i n Unmögliches erlauben; mehr als Eines, um nur der Mühe überhoben zu seyn, euch wegen euerer transscendentalphilosophischen, hintennach ersonnenen, n i c h t s b e w e g e n d e n B e w egung, die, als bloße Handlung eines S u bj e c t s ohne Bestimmung eines Objects, gleichwohl einen be s t i m m t e n R a u m a priori soll erzeugen | können1, noch besonders zur Rede zu stellen. Ihr sollt in meinem absolut gediegenen, absolut untheilbaren Wesen einen 1

Kr. d. r. V. S. 154. 155.

17 theilbar,] so DvD2; D1: theilbar

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Punct unbegreiflich in Gedanken absondern; in meinem unendlichen Wesen einen Ort dazu unbegreiflich bestimmen können; es soll dieser Punct (obgleich kein physischer) auch von der Stelle zu bringen, eine Richtung ihm zu geben und mit ihm eine Linie zu ziehen möglich seyn: nur sollet ihr zuvor angeben – W i e g r o ß die Linie; sollet ihr ein E n d e im v o r a u s bestimmen; sagen: Welcher Maßen sie zu einem ersten Ganzen, so groß oder so klein es euch beliebet, zu einem w i e d e r h o l b a r e n D i n g e d e r E i n h e i t , als Multiplicator | oder D i v i s o r , sich vollenden soll: Nur dieses! Alles sollt ihr gewonnen haben, wenn ihr nur dieses S o l l e n könnt; Alles, wenn ihr mir die Möglichkeit irgend e i n e r u rsprünglichen Bestimmung, in welcher von eueren drey Regionen des Reinen ihr wollet, zu bedeuten im Stande seyd. Aber, wie wolltet ihr es können? Ist es doch eben so unmöglich, daß ein quantum continuum | sich an einem anderen breche und durch dasselbe quantitativ werde, als daß es in sich selbst sich auseinander gebe, seine Continuität verliere, und als ein A g g r e g a t sich darstelle. Und müßte nicht, wenn ein solches einfaches, durch und durch unendliches Wesen, auseinander gehen, sich v e r u neinigen, aus Einem V i e l e s , aus Vielem wieder E i n e s werden sollte; müßte dann nicht zuvor ein Anderes aber ihm Gleichartiges; ein ihm Gleichartiges aber Anderes, d. i. ein ihm zugleich N i c h t gleiches und D o c h -gleiches, ein von ihm verschiedenes und von ihm doch n i c h t verschiedenes Wesen da seyn, worin dies alles sich zutrüge; ein Wesen, in welchem sowohl die Zerstreuung als die S a m m l u n g erst m ö g l i c h würde? So beweiset ihr ja den Raum als eine Vorstellung, welche n othwendig der Vorstellung des Körperlichen vorhergehen und sie erst m ög l i c h machen müsse. Woher nehmet ihr nun einen Raum für den Raum; einen Raum, worin der Raum sich a u seinander setzen, ins Unendliche verendlichen, und sich in ein Mannichfaltiges gestalten könne? Unmöglich könnet ihr doch den Raum, | nachdem ihr ihn auf das sorgfältigste von allem Ma|teriellen gereinigt habt, mit irgend etwas Materiellem wieder verunreinigen wollen, wäre es auch nur mit Dintenstoff zum Punctiren und Linienziehen! Eben so wenig könnet ihr, nachdem ihr seine immaterielle, absolute Gediegenheit, als die nothwendige Bedingung seiner Vorstellung 1 absondern] ab- oder einsondern schiedenes

6 sollet ihr] sollt

24 verschiedenes] v e r-

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als einer E i n e n und A l l e i n i g e n , bewiesen habt, ihm hintennach oder d a n e b e n wieder eine nur unvollkommene Dichtigkeit beymessen wollen, die dem Eindruck etwa eines Stiftes nachgäbe; oder, in der irgend etwas s u b t i l e r e s s i c h b e w e g e n möchte! – Ihr könnet es unmöglich. Alle dergleichen empirische Einfälle bleiben von selbst aus, und können gar nicht entstehen, wenn man das rein- und w a h r e Bild des Raumes, als eines unendlichen immateriellen Körpers; als eines absolut gediegenen, alle Endlichkeit, Verschiedenheit und Mehrheit wesentlich ausschließenden, ihnen contradictorisch entgegengesetzten – E i n e n und Alleinen, unverrückt vor Augen behält. Also noch einmal: Woher nehmet ihr den n o c h r e i n e r e n Raum, dessen ihr nicht entrathen könnt, wenn die noch nicht zu Verstande gekommene bloße Spontaneität, d. i. die r e i n b l i n d e Einbildungskraft – s i e a l l e i n mit dem | Raum a l l e i n , diesen soll verendlichen, d. i. vermannichfaltigen können? – Den Raum i n i h m s e l b s t zu verendlichen, zu disjungiren und wieder zu aggregiren ist ja doch offenbar unmöglich! Mitbringen in den Raum darf die reine Einbildungskraft, außer sich selbst, nichts. Und | was sollte sie auch mitbringen? Was sie mitbrächte, könnte ja nicht angeschaut, sondern nur empfunden werden;1 denn außer dem Raume selbst ist ja nichts anschaulich, als nur noch die Zeit, und zwar, w e l c h e s w o h l z u m e r k e n ist! nur jene noch unbestimmte, noch s t i llestehende Zeit, die blos reine p a s s i v e C o p u l a der Zeiten, die hier keinen Eintrag thun kann. Da es nun keine reinen E m pfindungen giebt, sondern nur reine Anschauungen und G edanken; alles Unreine oder Empirische aber nur d u r c h das Reine möglich wird: so muß alles empirische, materielle, körperliche Außer-und-neben-einanderseyn einzig und allein möglich werden, durch ein reines, | immaterielles, unkörperliches Außer-und-nebeneinanderseyn. 2 So lehret ihr ausdrücklich, und müsset ausdrücklich überall so lehren. Der Raum, lehret ihr, 1

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Die bloße Anschauung an allen Erscheinungen ist entweder der Raum oder die Zeit, Kr. d. r. V. S. 203. 208.; die Empfindung aber eine Perception, die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes 35 bezieht. Kr. d. r. V. S. 376. 2 Kr. d. r. V. S. 206.

15 Raum] Raum

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werde, wie die Zeit, völlig a priori vorgestellt;1 beyde, saget ihr, sind Anschauungen, mithin e i n z e l n e Vorstellungen;2 sie sind nicht bloße F o r m e n der | Anschauung, sondern Vorstellungen, an denen wir eine F o r m h a b e n , das ist, f o r m e l l e A nschauungen; 3 und eben darum, setzet ihr hinzu, können sie, sowohl in Ansehung der Gestalt als Größe, durch die transscendentale Einbildungskraft rein bestimmt, das heißt, rein v e r e n dlicht, und durch diese reine Verendlichung rein vermannichfaltigt werden.4 Es ist also klar, daß ihr, um den Raum als ein Aggregat, als ein Verendlichtes, und durch Verendlichung Zusammengesetztes, anzuschauen und zu betrachten, gar nichts von dem, was nur nach | ihm, und nur d u r c h ihn als i n ihm zufällig, sich darstellen konnte, keiner sündlichen Erinnerung aus der Erfahrung bedürfen wollet. Es wäre eine zu auffallende Inconsequenz, w e n n ihr es wolltet! Wollet ihr aber zu demselben Ende (nämlich um das unendliche Continuum des Raumes als ein Aggregat, als ein durch Verendlichung Zusammengesetztes anzuschauen) auch V o r ihm nichts bedürfen? – O ja! V o r ihm etwas bedürfen wollet ihr allerdings; nur sey es keine Anschauung; nichts, wodurch der Raum seine Ursprünglichkeit und ästhetische Selbstständigkeit, als ein Alleiniges in sich z u g l e i c h Mannichfaltiges und Eines; nichts, wodurch er seine Unab|hängigkeit als eine vor allem Denken gegebene V o r s t e l l u n g a n s i c h eben dieses unzertrennlichen Mannichfaltigen und Einen verliere.5 Es sey, folglich, – Nur auch kein B e g r i f f ; sondern – Es sey etwas, das über beydes, über die reine Anschauung wie über den reinen Begriff, über den reinen Begriff wie über die reine Anschauung, auf g l e i c h e W e i s e erhaben, sich zu diesen, als u n t e r ihm, eben so verhalte, wie sich die reinen Anschauungen und Begriffe | selbst zu den empirischen Anschauungen und Begriffen, als unter ihnen, verhalten.6 Es falle demnach, weder unter eine Anschauung, noch unter einen Begriff; es schaue selbst nicht an, und begreife selbst keine Begriffe: son1

Kr. d. r. V. S. 195. Kr. d. r. V. S. 136. 3 Kr. d. r. V. S. 160. 4 Kr. d. r. V. S. 752. 5 Kr. d. r. V. S. 132. 6 Kr. d. r. V. S. 140. 2

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dern es sey ein Allerhöchstes, welches beydes, das Anschauen wie das Begreifen, in einer ungetheilten Handlung – t h u e – als ein bloßes T h u n . – Und da sich das Anschauen und Begreifen nicht zugleich thun läßt, ohne etwas zu thun, das zugleich das T h u n eines Thuns, und das T h u n e i n e s L e i d e n s sey: so sey dieses allerhöchste Eine und Alleine auch ein gleiches allerreinstes Thun von beyden, und heiße, als solches – Synthetische Einheit der transscendentalen Apperception. | 1 Dies letztre bedarf vielleicht noch einiger Erläuterungen. | Das reine Mannichfaltige ist, nach der Anlage des Kantischen Systems, der ursprüngliche Träger desselben. Um es entstehen zu lassen, erfand man die Methode, bald hinter dem einen, bald hinter dem andern Vermögen des Gemüths es zu suchen, und am Ende sich einzubilden, es sey in der That gefunden. Weil aber scharfe Bestimmungen und Gränzscheidungen jedes einzelnen Vermögens diese Täuschung aufgehoben hätten, wechselte man oft die Bedeutung, ließ alles unter einander sich verkleiden, sich selbst gleich und ungleich seyn. Die Anschauung geht unmittelbar auf den Gegenstand, sie allein, keine andre Vorstellung,2 und doch enthält die Vorstellung eines Körpers in der Anschauung g a r n i c h t s , was einem Gegenstande an sich selbst zukommen könnte, sondern bloß die Erscheinung von etwas, d i e A r t , wie wir dadurch afficirt werden. Die Anschauung giebt ferner das Mannichfaltige der Vorstellungen, welches erst durch den Verstand Einheit erhält, und doch enthält sie schon Einheit der Vorstellung vor allem Begriffe.3 | Die Einheit der Apperception ist unabhängig von a l l e n sinnlichen | Bedingungen,4 und doch kann sie nur in der von ihr unterschiednen Anschauung gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtseyn gedacht werden.5 Anschauung und Einheit der Apperception unterscheiden sich also nicht stringent von einander; Vielheit und Einheit geben keine Kriterien, denn sie sind ihnen

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Hier beginnt die Ausarbeitung meines Freundes Köppen. Kr. d. r. V. S. 93. 3 Kr. d. r. V. S. 160. Die Note. 4 Kr. d. r. V. S. 137. 5 Kr. d. r. V. S. 135. 2

9 Dies letztre bedarf vielleicht noch einiger Erläuterungen.] Was noch zu sagen wäre, stellt sich vielleicht am besten auf folgende Weise zusammen. 32 Hier beginnt … Köppen. in D2 mit Leerzeilen in den Grundtext eingeschaltet

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beyden eigenthümlich; nicht Receptivität und Spontaneität, denn auch diese gehören für beyde. Schwebend zwischen den Elementen der Erkenntniß, leben sie als wahre Amphibien, bald in dem einen, bald in dem andern, und entfliehen wie es kömmt dem Blicke des Forschers, aus dem Wasser auf das feste Land und vom festen Lande wieder in das Wasser. So wenig wie das reine Mannichfaltige aus den reinen Gemüthsvermögen des Verstandes und der Anschauung hervorgerechnet werden kann, läßt sich auch die reine Synthesis aus denselben herleiten. Dies begreift sich schon zum Theil aus dem Mangel des Mannichfaltigen; denn wo nichts Verschiednes ist, kann | auch nichts verbunden werden. Aber gesetzt, es gäbe ein reines Mannichfaltiges, wodurch würde alsdann die Verbindung möglich? Offenbar dadurch, daß sie in einem dritten statt fände. Gesetzt, wir haben ein Verschiednes im Raume: so besteht seine Verbindung eben darin, daß es sich im Raume befindet. | Gesetzt, wir haben ein Verschiednes im Bewußtseyn: so besteht die Verbindung darin, daß es im Bewußtseyn vorhanden ist. Was verbindet nun die beyden räumlichen Gegenstände? Der Raum. Was verbindet die Mannichfaltigkeiten des Bewußtseyns? Das Bewußtseyn. Diese ganze Synthesis entdeckt uns nichts weiter als eine Identität. Insofern zwey Gegenstände sich im Raume befinden, sind sie sich, als rä umlich, vollkommen gleich; insofern sie sich im Bewußtseyn befinden, sind sie, a l s i m B e w u ß t s e y n v o r h a n d e n , vollkommen dieselben. Wozu bedarf es hier noch einer besondren Handlung des Verbindens? Ist durch den Raum und das Bewußtseyn, als passive Receptivitäten, nicht schon die ganze Synthesis vollständig? Das Vermögen, dieselbe zu fixiren, als vorhanden anzugeben, nennen wir d e n V e r s t a n d . Der Verstand thut also nichts als Gleichsetzen, und damit | dies möglich sey, wird Gleichfinden und Ungleichfinden vorausgesetzt. Identität ist Zerstörung des Besondren, Aufhebung des Verschiedenen; und nachdem alle Einzelnheiten der Gegenstände hinweggeschafft sind, bleibt ihnen bloß die Allgemeinheit, welche sich selbst gleich ist. Jedes Urtheil ist Ausdruck einer solchen gefundnen Identität. Sobald die Einbildungskraft alles Unterscheidende entfernte und ihr Ende in diesem Geschäfte fand, 5 Land] Land,

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1 eigenthümlich;] so DvD2; D1: eigenthümlich,

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wird dieses nicht mehr zu Unterscheidende durch den Verstand im Urtheile angegeben. Was sonst noch in einem Urtheile angetroffen werden mag, gehört zum Materialen desselben und nimmt daher im Verstan|de nicht seinen Ursprung. Und dieses Geschäft des Verstandes, dieses Aufmerken, Begreifen einer vorhandenen Identität, hieße Synthesis? Es wird ja vielmehr alle Synthesis dadurch aufgehoben! Mit Recht nennt deswegen Kant die Synthesis überhaupt die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntniß haben würden.1 Aber er bleibt sich selbst sehr wenig getreu, wenn | er in der Folge von aller Verbindung überhaupt, folglich auch von der blinden Synthesis der b l o ß e n Einbildungskraft, behauptet, sie sey lediglich eine Verstandeshandlung.2 Spontaneität kann nur mit Wahrheit der Einbildungskraft zugeschrieben werden, s i e hat, nach der Voraussetzung, das Instrument, womit eingeschränkt, getrennt, das Continuirliche idealisch discontinuirt wird. Der Verstand merkt auf die Einheit, worin dies geschieht, verbindet also nicht thätig, sondern identificirt das Getrennte. Würde diese Identification je vollständig zu Stande kommen, so fiele die ganze Welt in ein Nichts des reinen ununterbrochenen Raums, des leeren identischen Bewußtseyns, zusammen. Wie wenig auch irgend ein B e g r i f f in dieser absoluten Einheit möglich wäre, leuchtet von selbst in die Augen. Zum Begreifen wird eine Gränze | vorausgesetzt, wodurch sich ein Begriff vom andern unterscheidet. Diese Unterscheidung, wird sie etwa durch den Verstand g e g e b e n ? Im Gegentheil, sie besteht nur so lange, als der Verstand ihre Verschiedenheiten | nicht aufhebt. Alles B esondre würde durch den Verstand verallgemeinert werden, wenn es sich nur verallgemeinern ließe. Das Ziel des Verstandes wäre eine vollkommne Unmöglichkeit der Begriffe, da alles, was wir begreifen können, zusammengesetzt und endlich seyn muß. Ungeachtet daher nach Kant die Vernunft ein Vermögen ist, das Besondre aus dem Allgemeinen abzuleiten,3 und die philosophische 1

Kr. d. r. V. S. 103. Kr. d. r. V. S. 130. 3 Kr. d. r. V. S. 674. 2

11 sehr wenig] nicht

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Erkenntniß das Besondre nur im Allgemeinen betrachtet:1 so räumt er doch selbst ein, daß jedes Allgemeine nur problematisch genommen werde, und bloße Idee sey, wenn es nicht durch das Besondre, als das Gewisse sich bewähren ließe.2 Er erinnert sogar überall, wir wüßten nicht, ob wir mit einem Begriff e t w a s oder n i c h t s denken, wenn es keine ihm correspondirende Anschauung, als Beleg desselben gäbe. Diese Aeußerung ist vollkommen richtig, denn sobald die Allgemeinheit bis zum höchsten Puncte der Abstraction von a l l e m Besondren hinaufsteigt, bleibt nichts in derselben übrig, und sie kann nur wieder deutlich wer|den | durch irgend ein Bild, ein Beyspiel, ein Individuum, welches die Einbildungskraft für die Anschauung entwirft. Und dieses B i l d , wäre es etwa ein Allgemeines, ein Schema, kein Besondres? Hat es nicht seine eigenthümliche Gestalt, seinen bestimmten, von allen übrigen Bildern unterschiedenen Charakter? Die Vorstellung des Allgemeinen entspringt nur vermittelst dieser mehreren einzeln vorgehaltenen Bilder, durch Auffassung dessen, was ihnen allen g emein ist.3 Die mathematische Erkenntniß, auf welche man sich gewöhnlich in Rücksicht der Allgemeinheit, als Vorbild des Besondren, zu berufen pflegt, bestätigt die eben gemachte Behauptung vollkommen. Die Einbildungskraft kann unmöglich im leeren Raume Gestalten, und noch dazu allgemeine Gestalten entwerfen. Um mathematische Figuren zu construiren, wird Bewegung, etwas, das sich bewegt, und etwas, worin die Bewegung geschieht, z. B. eine Fläche, wor|auf ich Gestalten beschreibe, vorausgesetzt, und zugleich muß ein Grund des Anfangens und des Endigens der Bewegung gegeben seyn. Habe ich dies alles, dann entsteht e i n e Figur, ein Individuum. | Was ist nun mathematisch an demselben? Die Art und Weise der Bewegung, wodurch die Figur entstanden ist, z. B. ein Zirkel, und die Gewißheit, daß alle Zirkel auf die nämliche Art und Weise entstehen müssen, wie der bestimmte 1

Kr. d. r. V. S. 742. Kr. d. r. V. S. 355. fg. 3 »Die Vernunft ist ein Vermögen, das Besondre aus dem Allgemeinen abzu35 leiten.« (Kr. d. r. V. S. 674.) »Das Besondre ist nur dadurch ein Besondres, daß es mehr enthält, als das Allgemeine.« (Eb. S. 337.) Also ist die Vernunft ein Vermögen, das Mehr aus dem Weniger, das plus aus dem minus herzuleiten. 2

4 Gewisse] G e w i s s e ,

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vor mir liegende. Woher nehme ich die Gewißheit dieses allen Zirkeln gemeinschaftlichen Charakters? Aus mir selbst, weil ich im Stande bin, mich selbst zu bewegen, und also die Figur ohne Weiteres hervorzubringen. Ist es nun das Schema, die Allgemeinheit des Bildes, wodurch ich etwas Mathematisches demonstrire? Keinesweges, meine Demonstration bezieht sich vielmehr auf die Construction des Einzelnen, und ich kann beliebig mehrere Einzelne auf die nämliche Weise construiren. Gesetzt, es fehlte mir Bewegung, Anfang und Ende derselben, wie käme es dann je zur Figur, und zum mathematischen Beweise an derselben? Nur hierdurch wird die mathematische Erkenntniß möglich, »als Betrachtung des Allgemeinen (allen Gemeinen) im Be|sondren, ja gar im Einzelnen,«1 nur durch Construction erhält sie apodiktische Gewißheit der Construction. Die philosophische Erkenntniß wird sich nie zur mathematischen Gewißheit erheben, weil es uns unmöglich ist, D i n g e hervorzubringen, wie wir F i g u r e n hervorbringen. Wären wir Weltschöpfer, wir hätten auch von der Welt die vollkommenste Ein-| sicht. Den daraus entspringenden Unterschied in unsrer Erkenntniß bezeichnet Kant selbst in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft S. XIII: »die Vernunft sieht nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt.« In der Mathematik läßt sich das Gedankenindividuum sogleich darstellen; in allem außer ihr ist diese Darstellung unmöglich, wir müssen statt dessen ein bloßes Wort, ein nichts abbildendes Zeichen, zu Hülfe nehmen. Was ist alsdann unter mehreren einzelnen Vorstellungen allen g e m e i n ? Das bloße willkührlich gewählte Zeichen, welches uns über die Natur des Gegenstandes nichts offenbart. Daher der Unterschied in der Evidenz, wir | glauben, es falle in der Mathematik das Einzelne mit dem Allgemeinen zusammen, weil wir das Einzelne beliebig construiren können; wo aber diese beliebige Construction aufhört, zeigt sich die Verschiedenheit beyder in dem deutlichsten Lichte. Jede Construction des Besondren aus dem Allgemeinen muß deswegen, ihrer Natur nach, mislingen; da umgekehrt jedes Allgemeine nur durch die Vorstellung des Besondren möglich wird. Um jenes zu begreifen, fühlt man sich beständig zum letztren wieder 1

Kr. d. r. V. S. 742.

8 die nämliche] dieselbe

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hingetrieben. Dies ist sogar dem Verfasser der Vernunftkritik, eben weil es unvermeidlich ist, wider seinen Willen begegnet. Die Zeit entsteht in seinem Systeme schlechterdings a priori, wird die Form des innren Sinnes genannt, und doch nimmt er die Bewegung zu Hülfe, um sich Succession in der Zeit zu erklären. »Bewegung als Handlung des | Subjects, nicht als Bestimmung des O b j e c t s , heißt es, bringt sogar den Begriff der Succession zuerst hervor.«1 Was war denn wohl die Zeit ohne diesen Begriff der Succession? Nun wird freylich | auch behauptet, der Verstand afficire ganz rein den innern Sinn und construire die Bewegung; allein bey genauerer Aufmerksamkeit läßt sich ein empirischer Ursprung derselben nicht verläugnen. Was von einer nichts bewegenden Bewegung, als bloßer Beschreibung eines Raumes, (Kr. d. r. V. S. 155) gesagt wird, ist eine hintennach ersonnene Ausflucht, und kann, selbst nach Kants eignen Erklärungen, nicht bestehen. Denn es heißt, unbeschadet der reinen Abkunft der Bewegung, sie setze etwas E mpirisches, die Wahrnehmung von etwas Beweglichem, voraus und gehöre nicht zu den apriorischen Elementen; das Bewegliche sey als empirisches Datum durch Erfahrung gegeben;2 der Vorstellung der Bewegung liege die Vorstellung der Materie und überhaupt die Sinnlichkeit zum Grunde.3 Nur durch eine ganz wunderbare prästabilirte Harmonie muß es dem Kantischen Systeme möglich seyn, den reinen und den empirischen Ursprung der Bewegung ohne Widerspruch mit gleicher Gewißheit zu behaup|ten und | in seiner Unschuld nicht einmal roth darüber zu werden. Wer indessen mit pedantischer Logik die gute Gesellschaft der Widersprüche nicht liebt, und unbefangen keine Reinheit vorspiegelt, wo er sie nicht findet, trägt kein Bedenken, die Bewegung ohne ein Bewegliches, das Gehen ohne Füße, für unmöglich zu erklären. Ihm scheint sie in der reinen Zeit und im reinen Raume völlig undenkbar. Bewegung hat Anfang, hat Fortgang; die reine 1

Kr. d. r. V. S. 154. und 155. Kr. d. r. V. S. 58. 3 Metaphys. d. Nat. S. 6. »Ein beweglicher Punct ist ein physischer 35 Punct.« 2

25 Unschuld] Unbefangenheit 26–27 die gute Gesellschaft der Widersprüche] Widersprüche 27 unbefangen] sich 20 der1] so DvD2; D1: die

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Zeit hingegen, ohne von irgend etwas erfüllt zu seyn, ist ein unendliches Continuum, hat keinen Anfang, und ohne diesen, weil man alles Fortfahren nur durch ein Anfangen denken kann, auch keinen Fortgang. Wie treffen also Bewegung und Zeit, ohne die Mitgabe der Empirie, zusammen? Bewegung soll, als B e s c h r e ibung eines Raumes, »ein reiner Actus der successiven Synthesis des Mannichfaltigen in der äußern Anschauung überhaupt durch productive Einbildungskraft seyn;«1 allein wie kann der Raum beschrieben werden, wenn er nicht durch ein Vermächtniß der Erfahrung zuvor umschrie|ben und begränzt ist? Im reinen Raume giebt es schlechterdings keinen Ort, der sich ja als Ort von andern unterscheiden, durch sie beschränkt seyn müßte; also auch keine Ortsveränderung. Der reine Raum ist unendlich, nur ein einziger: woher nähme man nun in | ihm die Endlichkeit der Räume, durch welche die Bewegung sich bewegt? Schon Zeno bemerkte ganz richtig, durch eine Unendlichkeit könne sich nichts bewegen.2 Zur Vorstellung der Bewegung wird Anfang, Mittel und Ende, folglich Endlichkeit vorausgesetzt. Giebt es verschiedne Materien im Raume, die sich als Materie von einander unterscheiden, so giebt es Gränze, Maß und Ort; der erfüllte Raum des einen Körpers ist nicht gleich dem erfüllten Raume des andern; eine Bewegung zwischen diesen Körpern wird v o r s t e l lbar, weil die Körper selbst mit ihren empirischen Räumen endlich sind; empirische Kraft kann wirken, empirischer einzelner Körper seinen Platz verändern; in der Erfahrung und mit der Erfahrung kann das unendliche Continuum des Raums a l s v e r e i n z e l t gegeben, sich | unterbrechen, Bewegtes und Bewegung möglich werden. Raum und Zeit sind Thatsachen, weil Bewegung eine Thatsache ist. Ein Mensch, der sich nie bewegt hätte, könnte sich keinen Raum vorstellen; wer sich nie verändert hätte, kennte keinen Begriff der Zeit. Die Bewegung wird daher von Kant mit Recht »das Vereinigende des Raums und der Zeit genannt.«3 Aber a priori

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Kr. d. r. V. S. 155. die Note. Bayle Dict. hist. et crit. Art. Zenon. 3 Kr. d. r. V. S. 58. 2

33 Zeit genannt.«] Zeit« genannt.

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möchten wir so wenig zu derselben gelangen, wie wir zur reinen Mannichfaltigkeit, zur verbindenden Verbindung, zur producirenden Spontaneität des | Verstandes gelangten. Ohnmächtig muß jede Philosophie a priori seyn, wenn sie nicht lehrt, ursprünglich zu b estimmen, eine begränzte Welt aus dem unbestimmten Chaos durch einen sich selbst gebärenden, vom Verstande bewegten Mechanismus, hervorgehen zu lassen; die nicht, Alles und Eines umfassend, eine Schöpfung werden hieße aus Nichts. Seyd ihr wirklich diese Schöpfer, kritische Baumeister des Universums? Woher nehmt ihr die Resistenzen, um eure Maschine | in Gang zu bringen, als aus dem Traume der reinen Mannichfaltigkeit, aus einer unsinnlichen Hypostasirung der Sinnlichkeit? Ihr schwebet in einem Limbus der reinen Einbildungskraft, welche euch, trotz ihres unsystematischen Charakters, das Geheimniß offenbart, Himmel und Erde, mit allem, was darin und darüber ist, systematisch aus den Fingern zu saugen: nur schade, daß ihr aus übergroßer Begierde die Finger selbst wegsaugt! Kantische Philosophie ist das Ideal des Empirismus. Die beyden chemischen Bindungsmittel, Form und Stoff, werden f a c t i s c h gegeben, f a c t i s c h genommen und f a c t i s c h im Schmelztiegel verarbeitet. Die Sinnlichkeit gelangt zu ihren reinen Formen, wie mancher zu seinem Amtskleide, ohne zu wissen w i e , und wird in ihrer Gutmüthigkeit von den tückischen D i n g e n a n s i c h fortwährend geneckt und lächerlich gemacht. Die Dinge an sich sind ächte Humoristen, sie kommen uns unter den Händen weg, und wir ehrbaren Schulsystematiker behaupten fortdaurend, sie wären noch immer da, weil sie nicht hätten wegkommen | können, denn wo wären sie hingekommen? Der Verstand legt uns ernsthaft in der Kategorientafel sein | Investiturdocument vor; aber wenn wir ihn über die Sonderbarkeit desselben, und über die Art und Weise, wie er grade durch diese Theses-Zahl die Einheit seiner Apperception der Sinnlichkeit verleihe, befragen, ist er unvermögend, sein eignes Privilegium zu erklären.1 Wir müssen also wohl die Sinnlichkeit in 1

Kr. d. r. V. S. 145 und 146.

35 21–22 Formen, wie mancher zu seinem Amtskleide,] Formen,

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ihrer reinen Formwürde, die Dinge an sich in ihrer Zwitternatur zwischen Gespenst und Körper, und den Verstand mit seinem Belehnungsrecht anerkennen; weil sie uns in der That so vor die Augen treten. Aber wie in aller Welt hätten wir, ohne beyspiellose Divinationsgabe, diese merkwürdige Gesellschaft nur im Traume im Voraus vermuthen sollen? Ihre empirische Erscheinung kann uns allerdings erfreuen, nur muß man nicht verlangen, daß wir darin das einzig Belehrende finden sollen; da es ja sonst noch manchen abwesenden Formträger, witzigen Kopf und Lehnsherren geben mag, deren Verbindung und Umgang uns eben so viel zu denken giebt, und wovon wir a priori eben so wenig einen Begriff hatten. Ist eine Philosophie in ihren | Fundamenten Empirismus, so ist zugleich aller apriorische Heiligenschein Nihilismus, und die Kanonisationsacte wird nur in einem Lande gelten, wo man, laut Bericht der dort erschienenen Druckschriften, an einen | erwählten sichtbaren Statthalter der unsichtbaren philosophischen Kirche glaubt.

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Der ganze Zweck der kritischen Philosophie enthält eine Unmöglichkeit. Sie will, ohne es anzukündigen, Unendlichkeit durch Unendlichkeit bestimmen; ausgehen vom Unbegränzten, und durch dasselbe zugleich die Gränze entstehen lassen. Der Verstand soll dies Geschäft vornehmen, soll, als productive Einbildungskraft, das Einzelne und Viele im Unendlichen hervorbringen, soll das Individuum ursprünglich erzeugen, und gelangt mit seinem Bemühen nicht ans Ziel, weil er nach seinem Wesen nicht begränzen und erzeugen kann. Daß dies dennoch angenommen wird, ist der Anfang alles Vergehens wider die Wahrheit in dieser Philosophie, ihr eigentlicher Weg der Unwahrheit.

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5 diese merkwürdige Gesellschaft nur im Traume] solche sonderbare Gestaltungen und Verbindungen 6–11 Ihre empirische Erscheinung … viel zu denken 30 giebt,] Ihr empirisches Gewahrwerden berechtigt nicht zu der Foderung, daß wir ein für allemal dadurch belehrt seyn müssen, weil es ja außerdem noch Formen, Dinge und Verstandeseinheiten andrer Art geben könnte, die, sobald wir sie durch Erfahrung kennen lernen würden, uns eben so viel zu denken 35 gäben, 14 Kanonisationsacte] Kanonisationsurkunde 3 Belehnungsrecht] so DvD2; D1: Belehrungsrecht

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Die Philosophie muß mit Plato anfangen von | M a ß , Z a h l , überhaupt vom Bestimmten. 1 Nur das Bestimmte kann bestimmend werden für ein Unbestimmtes; die Sinnlichkeit bestimmt nicht, auch nicht der Verstand, das Princip des Individuirens liegt außer ihnen. In diesem Princip ist gegeben das Geheimniß des Mannichfaltigen und Einen in unzertrennlicher Verbindung, das Seyn, die Realität, die Substanz. Unsre Begriffe darüber sind lauter | Wechselbegriffe; Einheit setzt Allheit, Allheit Vielheit, Vielheit Einheit zum Voraus; Einheit ist daher Anfang und Ende dieses ewigen Zirkels, und heißt – Individualität, Organismus, Object-Subjectivität. Als Individua leben, denken und fühlen wir; uns selbst nicht verständlich und begreiflich, weil wir dann aufhören würden Individuen zu seyn, begreifend nur in und mit dieser Individuation. In ihr liegt das tiefe Geheimniß des unauflöslichen Zusammenhanges der Einheit und der Mannichfaltigkeit, der Gestalt und der Sache. Alles unser Philosophiren ist ein Bestreben, hinter die Gestalt der | Sache, d. i. zur Sache selbst zu kommen; aber wie könnten wir dies, da wir alsdann hinter uns selbst, ja hinter die gesammte Natur der Dinge, hinter ihren Ursprung kommen müßten? Ein Philosoph, der sich selbst als mechanisches Kunstwerk geschaffen hätte, könnte wie ein mechanischer Künstler hinter seinem Kunstwerk sitzen, es fugenweise aus einander nehmen und vor seinen Augen wieder entstehen lassen. Bis aber ein solcher Philosoph unsre Erdenwelt betritt, werden die Urheber genau zergliedernder Systeme den Menschen todt seciren, um ihn aus diesen todten Gliederbruchstücken lebend wieder auferstehen zu lassen. Der Mensch hat das Vermögen der Antithesis, Synthesis und Analysis, weil er ein Individuum ist von Gottes Gnaden. Darum giebt es weder eine ursprüngliche Antithesis, Synthesis noch Analysis, sondern alles mit einander. Wird diese Urgemeinschaft | aufgehoben und auf der logischen Folter isolirt: so ist alles Leben, aller Bestand, alles Seyn verschwunden. Als Zeugen dieser wunderbaren Verbindung treten unser reines und empirisches Bewußtseyn hervor, s e l b s t in inniger Freundschaft, s e l b s t Einheit und Vielheit; aber nicht erklärend ein Geheimniß der Schöpfung, | durch welches sie selbst ihr Daseyn erhielten. Fragt ihr dennoch nach dem Schlüssel dieses Geheimnisses? Löset zuvor das Räthsel, wie 1

Siehe den Philebus.

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sich Geist und Körper binde, wie ihr keine Wesenheit habt ohne die Seele, keine Menschennatur ohne den Leib, wie ihr durch ein Wunder der Geburt l e b e t im Höheren Unsichtbaren, b e s t e h t im Tieferen Sichtbaren, wie ihr philosophirt durch den Gedanken und e r k e n n e t durch Sinnlichkeit, wie ihr seyd, die ihr seyd, wirkend im Mechanismus, h a n d e l n d in Freyheit; durch und durch eine Unendlichkeit mit der Endlichkeit, ein Wunder aus Wunder! – Nur Allmacht konnte dies Wunder hervorbringen. Was sie zusammenfügte, kann der Mensch nicht scheiden, er müßte es denn selbst erschaffen. Und vollbrachte, kritisch sondernd, eine philosophirende Vernunft diese Schöpfung? Verschwand nicht vielmehr vor ihrer zertheilenden Hand alles Seyn und alles Bestehen, weil ihr die Macht fehlte, ein Erstes, ein Ursprüngliches, aus Nichts hervorgehen zu lassen? Ist es nicht ein System bloßer Erscheinungen, unbestimmter, fließender Ungestalten, welches die speculirende Vernunft, als die Morgengabe ihres Gebrauchs und das Fundament der | Weisheit, darbringt? Wird es nicht dem Verstande | kritisch unmöglich gemacht, die Sinnlichkeit zu individuiren, und gleicht nicht vielmehr sein ganzes Bestreben einem Versuche, die Menschheit zu entseelen, und diese Entseelung zu verewigen im unendlichen Meere des Nichtwissens? – Vielleicht gelingt der praktischen Vernunft, was der t h e o r etischen mißlang. Wenigstens verweist uns die Vernunftkritik auf den Reichthum der erstern, wenn sie die Armuth der letztern eingesteht. Wir treten unter kritischer Führung auf ein erhabneres Gebiet, vernehmen die Zusage, das Daseyn Gottes, Freyheit und Unsterblichkeit vor der Vernunft gerechtfertiget zu finden; wir sollen unsre Hoffnung auf das Unsichtbare und Ewige mit Zuversicht ausdehnen, unsern Glauben wider spottenden Zweifel sichern können, und freuen uns im Voraus dieser Verheißungen. Aber wie wurden sie erfüllt? Dies lehrt, mit hinreichender Deutlichkeit, selbst ein kurzer Ueberblick. Zwey Grundsätze dürfen uns ohne Zweifel, mit Einwilligung der kritischen Philosophen, auf ihr praktisches Feld begleiten. Erstens halten wir die Vernunft, vermöge welcher wir philosophiren, für eine und die|selbe, obgleich sie, durch die Verschiedenheit ihres Gebrauchs bald praktisch, bald theoretisch genannt wird, und verlangen, daß sie in ihrem Gebrauche sich selbst nicht widerspreche. Zweytens muß der Religion und Freyheit R e a l i t ä t zuge-

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schrieben werden können, sonst gehörten sie ins Reich der subjectiven Ideen und Dichtungen, und verdienten keinen Platz in einem Systeme des Wahren. Mit diesen Grundsätzen gerathen wir | aber bey der kritischen praktischen Philosophie stets in Verlegenheit. Alle Realität, als existirend, ist nach ihrem Ausspruch an eine mögliche Erfahrung gebunden, und die Vernunftideen von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit beziehen sich auf keine mögliche Erfahrung. Der Verstand, welcher in seinen Kategorien die Bedingung aller Erfahrung enthält, kann dieselben schlechterdings nicht auf diese praktischen Gegenstände anwenden, und die Vernunft spielt die sonderbare Rolle, daß sie »als nothwendig voraussetzt, was der Verstand unmöglich heißt.«1 Da die Vernunft nun in ihrem objectiven Gebrauche durchaus an die reinen Verstandesbegriffe gebunden ist, also auch ohne sie ihren prakti|schen Ideen keine objective Möglichkeit zuschreiben kann: so wird dieser Widerspruch dahin ausgeglichen, daß die praktische Vernunft etwas theoretisch Unerweisliches nothwendig postulirt. Wozu bedarf es denn dieses Postulats? Etwa zur Subjectivität? Sie brauchte man ja nicht zu postuliren, sobald man von den praktischen Ideen nur spräche! Also ist es die Objectivität, welche postulirt wird, die nämliche Objectivität, welche durch jeden objectiven Vernunftgebrauch aufgehoben wurde, und der Widerspruch fällt nicht weg, sondern erhält durch den Namen eines Postulats systematische Sanction. Weit consequenter wäre es daher, wenn wir bey allen Vorstellungen von Gott | und Unsterblichkeit an gar keine Objectivität dächten, und mit dem Verfasser der Vernunftkritik sagten: »alles, was Religion und Freyheit betrifft, ist bloße Vernunftidee, bloße heuristische Fiction, und abgesehen von seiner Brauchbarkeit als leitendes Princip des Verstandes, ein bloßes Gedankending von unerweislicher Möglichkeit.«2 Nun wird es gewiß keinem Denker im Traume einfallen, einem Gedankendinge von unerweis|licher Möglichkeit selbst nur durch die kühnste Vermuthung Realität zuzuschreiben, denn »die Möglichkeit muß selbst zur Befugniß der gewagtesten Hypothese g e w i ß seyn.«3 Müssen wir nicht nach 1

Kr. d. Urth. S. 338. Kr. d. r. V. S. 799. 3 Kr. d. r. V. S. 798. und Kr. d. Urtheilskr. S. 447. erste Ausgabe, nach der in 2

1–2 gehörten … verdienten] gehören … verdienen selbe

20 die nämliche] die-

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diesen Erklärungen, um nicht die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch zu setzen, scheiden von jedem Gedanken der Objectivität unsrer praktischen Ideen; giebt es eine objective Regeneration derselben durch ein lückenbüßendes Postulat? Die Ideen von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit haben ja nicht einmal Anspruch auf den Rang einer bloßen Hypothese! – Und dennoch fordert das Kantische System einen Vernunftglauben an sie, dennoch soll der Mensch handeln auf dieser Welt, als gäbe es eine Zukunft, als gäbe es einen Gott, der das Gute belohnt! Wird der Mensch es k ö n n e n , sobald | er nur im Geringsten zur philosophischen Selbsterkenntniß gelangt ist, und alle diese Voraussetzungen als bloße subjective Fictionen betrachten lernt, denen jede objective Realität mangelt? Nur Aberglaube macht einen Traum zur Wahrheit, die Vernunft liebt keine | Täuschung, und wenn Religion und Freyheit zum Reiche der Dichtungen herabgewürdigt werden: so wäre, durch die Einsicht in die Art und Weise ihrer Entstehung, noch entschiedner jeder sogenannte vernünftige Glaube an sie schlechterdings unmöglich.1 So gewiß die Vernunft vernünftig ist, kann sie nichts U n d e n kbares denken lernen. Die Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit auf, gewissen Ideen objective Existenz zu verleihen, sobald die Subjectivität derselben außer allen Zweifel gesetzt ward. Welches schaffende Vermögen könnte in der Vernunft wohnen, wider ihre eignen Gesetze, Gott, Freyheit, und Unsterblichkeit zur mehr als idealen Wirklichkeit zu erheben, wenn sie auch noch so dringend diese Wirklichkeit postulirt? Der Mensch steht nach Kantischer | An|gabe, durch seine Vernunft, in einem ewigen Widerspruch zwischen seinen praktischen Postulaten und seinem Vernunftgebrauche; er kann nicht gelangen zum E r k e n n e n jener großen Aufgabe alles Philosophirens, einer Religion und Freyheit, nicht zum G l a u b e n derselben; sondern besitzt an ihnen ein bloß problematisches, für etwanigen Gebrauch nützliches Ideenmaga-

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diesem Aufsatze überall citirt worden ist, so wie die Kr. d. rein. Vern. nach der zweyten Ausgabe. 1 »Da das Ideal der reinen Vernunft nicht einmal als denkbarer Gegen- 35 stand gegeben ist, so ist es auch nicht als ein solcher unerforschlich; vielmehr muß er, als bloße Idee, in der Natur der Vernunft seinen Sitz und seine Auflösung finden, und also erforscht werden können; denn eben darin besteht Vernunft, daß wir von allen unseren Begriffen, Meynungen und Behauptungen, es sey aus objectiven, oder, wenn sie ein bl o ß e r S c h e i n sind, aus subjectiven 40 Gründen, Rechenschaft geben können.« Kr. d. r. V. S. 642.

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zin. – Und dies wäre das ganze verheißne Resultat? Gewährt die Philosophie nichts anders, als die Einsicht in diesen Zustand, enthüllt sie das Ringen nach einer nothwendig geforderten, aber niemals gerechtfertigten Wahrheit, besitzt sie die zerstörende Kraft, alle Truggebäude niederzureißen, und entbehrt die Gewalt, etwas Festes wieder zu erbauen: so ist sie die ärgste Feindesgabe, ein Fegfeuer des denkenden Geistes und eine Hölle der empfindenden Menschheit! – Gesteht es nur, ihr mit eurer Vernunft wider Vernunft postulirenden Philosophen, das ganze Gerüste eurer praktischen Lehre ist Nihilismus; eine Luftsäule in Luft angesetzt und in Luft aufgelöst; eine unmögliche Hypothese; ein undenkbares, chimärisches, lediglich subjectives Object; ein Gift, das den Unverständigen berauscht, den Verständigen zum Hasser der Wahrheit | macht; das unheilbar wirkt, weil es unter dem Scheine der Arzney gegeben wird; das dem Menschen in das Tiefste und Beste seiner geistigen Natur Tod und Verwesung bringt; das ihn ausdörrt zu einer kalten Mumie ohne Lust und Leben! – Kant bauet seine ganze praktische Philosophie auf die Moralität, und wählte sich durch dieses Wort einen | Grund, dem jeder beßre Mensch aus vollem Herzen Beyfall geben muß. Aber es geht ihm damit, wie mit allem Realen, für sich Bestehenden überhaupt, es ist verschwunden, sobald man es genauer ins Auge faßt. Moralität ohne F r e y h e i t ist undenkbar, nur in freyen Wesen kann Tugend gedeihen, der Mechanismus macht sie zum Gespenste, nothwendige unwiderrufliche Schicksalsbestimmung zur Lüge. Wenn daher die Erscheinungen in der Welt nach dem Gesetze der Causalität bedingt sind und aus einander sich entwickeln: muß die Freyheit sich dadurch auszeichnen, daß sie absolut eine Reihe der Erscheinungen anfängt, ohne diesen Anfang in einem früheren Anfange zu finden. Sie heißt bey Kant die transscendentale Freyheit, aber zugleich »ein Problem, dessen Möglichkeit nicht einmal bewiesen | werden kann.«1 Beginnt denn unsre ganze praktische Philosophie mit einer unerweisbaren Möglichkeit? Zerstört sich nicht die Freyheit durch ihre eigne problematische Natur, durch einen unvertilgbaren Widerspruch in ihrer eignen Definition? Und dennoch soll sie ohne diese aus dem theoretischen Felde auf sie übertragne An1

Kr. d. r. V. S. 831.

25 unwiderrufliche] so DvD2; D1: unwiederrufliche

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sicht nicht zu retten seyn;1 dennoch sollen Tugend, Zurechnungsfähigkeit, Daseyn eines Schöpfers und eines künftigen Himmels der Gerechten auf sie gegründet werden! | Um das System aus dem Grabe zu wecken, muß indessen von der Freyheit, ungeachtet ihrer theoretisch unerweisbaren Möglichkeit, fortwährend gesprochen werden. Die praktische Vernunft entwirft, unabhängig von aller Sinnlichkeit und Begierde, ein moralisches Gesetz, und unsre Freyheit besteht: »in der Unabhängigkeit der Willkühr von der Bestimmung durch alle andren Triebfedern außer dem moralischen Gesetz, welches sich schlechthin als die höchste Triebfeder verkündigt.«2 Wollten wir nun in unsrer Freude glauben, diese Abhän|gigkeit der Willkühr vom sittlichen Gebote mache ihre Freyheit aus, und der moralische Mensch sey ein redendes Beyspiel dieser Freyheit: so würden wir dennoch ihre wahre Natur verkennen. Denn die Freyheit der Willkühr ist »von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch k e i n e Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur so fern sie der Mensch in seine Maxime aufgenommen hat.3 Hätte er sie also nicht in seine Maxime aufgenommen: so wäre die Willkühr, nach der ersten Aussage, nicht frey; und handelte doch, nach der zweyten Aussage, ihrer eignen freyen Natur gemäß. »Wenn nun das Gesetz jemandes Willkühr, in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung, d o c h n i c h t b e s t i m m t : so m u ß eine ihm entgegengesetzte Triebfe|der auf die Willkühr desselben Einfluß haben.«4 Wäre diese entgegengesetzte Triebfeder nicht vorhanden: so würde das Sittengesetz nothwendig, das ist, m echanisch befolgt; denn welcher Grund sollte sich denken lassen, | warum die Willkühr von dem sich als die höchste Triebfeder verkündenden Sittengesetze abwiche? Die Despotie des moralischen Gebots kann nur durch die Rebellion andrer widerstrebenden Neigungen und Triebe eingeschränkt werden; der Mensch wäre ihr erkaufter Sclav, wenn sich seine Willkühr nicht vermittelst der

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Kr. d. r. V. S. 564. Kr. d. prakt. V. S. 179. fg. Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. S. 16. die Note. 3 Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. S. 11. 4 Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. S. 12. 2

11–12 in unsrer Freude glauben] glauben 25 haben.«] so D1; D2: haben.

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Gegenparthie zuweilen loskaufte. Sie thut es leider oft genug, und legt, durch »eine für den Gebrauch ihrer Freyheit selbst gemachte Regel, den Grund zum Bösen.«1 Sie verfährt dabey so eigenmächtig, »daß man im Menschen gar nicht nach dem subjectiven Grunde dieser Annahme fragen kann; weil alsdann der Gebrauch der Freyheit gänzlich auf Bestimmung durch Natursachen zurückgeführt würde, welches ihr widerspricht.«2 W i l l k ü h r ist also die allgenugsame Herrscherin, denn sie entscheidet sich ohne Gründe; unter ihr steht die Vernunft, die an schlechthingebietende Gesetze gebunden ist; »welche sich nicht aus ihr selbst herausklügeln lassen;«3 die Willkühr erhebt, unter kei|nem höhe|ren Willen stehend, entweder das Böse oder das Gute zur Maxime ihrer Reichsverwaltung, und nur allein durch s i e ist der Mensch wahrhaft frey und einer moralischen Zurechnung fähig. Arme seltsame Geschöpfe, wir Sterblichen! Grundlos ist unser Thun, und es wird dennoch eine Zurechnung dieses grundlosen Thuns statt finden! Hätten wir W a h l , daß wir nach Einsicht dem Beßren folgten und zwischen verschiednen Dingen, die uns zur Handlung antrieben, eine Vereinigung stiften könnten, wie sie ein stiller geheimer Zug uns wünschen ließ: dann möchten wir uns noch unsers Schicksals trösten! Aber nun giebt es zwey widersprechende Triebfedern, das Gute und das Böse, von denen die eine dienen und die andre herrschen muß; unsre Willkühr hat keinen Grund, um sich für das eine oder für das andre zu entscheiden; sondern ihr b l i n d e r Entschluß bewirkt alles und verleiht uns entweder Verdienst oder Schuld. Hätte doch eine schöpferische Hand uns ohne Zuthun unsrer selbst athmen und weben lassen im reinen Sittengesetz; wir wären freylich gebunden gewesen in unserm Wirken, vernünftige Maschinen, bewegliche Automaten; aber doch | unbeherrscht von einer blinden Willkühr, die erst durch den Zutritt des radicalen Bösen ihre Gewalt erhielt, und sobald man sie ihr rauben wollte, sich nachdrücklich mit demselben vertheidigen würde. Das Gute wird im Kantischen Systeme auf das Böse geimpft; das Verdienst der Tugend und die Größe der Sittlichkeit auf die Unterjochung schlimmer Maximen; die | Gerechtigkeit der Kinder Gottes auf eine Enterbung des Teufels. 1

Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. S. 7. Ebendas. S. 7. 3 Ebendas. S. 16. die Note. 2

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Schlimm genug für unser menschliches Geschlecht, daß dieser Urfeind desselben mit seinen Heerschaaren stärker ist als das kategorische Gebot des Sittengesetzes. Die Moralität besteht aus lauter Verneinungen und Entsagungen; die Unsittlichkeit aus lauter Verheißungen: jene lehrt den Menschen Uneigennützigkeit, Aufopferung des Glücks; diese, Befriedigung seiner Eigenliebe und Glückseligkeit. Der Mensch hängt durch Natur an dem letzteren und treibt sich nur durch Kunst zum erstern hinauf, ohne jedoch einzusehen, was für einen Ersatz ihm diese widernatürliche Anstrengung verschafft. Um nun irgend ein Gleichgewicht wieder herzustellen, wird die Existenz eines weisen göttlichen Regierers vorausgesetzt, der | den Tugendhaften in einer künftigen Welt gerade mit demjenigen belohnt, was er hier verachten und fliehen mußte, der Glückseligkeit, und ihm desto mehr davon mittheilt, je mehr er sie vernachläßigte. »Die Vernunft sieht sich genöthigt, eine solche Welt anzunehmen o d e r d i e m o r a l i s c h e n G e s e t z e a l s l e e r e Hirngespinnste anzusehen.«1 Ist also keine solche Welt, so verwandelt sich das Sittengesetz in ein Hirngespinnst; und ist kein Sittengesetz, so ist keine zukünftige Welt. Hienieden würde das Streben nach Wohlseyn, die Liebe seines eignen Selbstes den | Menschen erniedrigen, aber in einer künftigen beßren Welt wird die vollständigste Befriedigung derselben seinen Lohn ausmachen; er hat seine Neigungen und Begierden vor dem Grabe nur unterdrückt, um sie nach demselben desto lebhafter wieder zu erwekken. Eine sinnliche Lust, die in diesem endlichen Erdenleben seine Würde raubte, wird ihn in jener unendlichen Zukunft schmücken; die Reizungen der Sünde, welche ihn auf unserm Planeten bestechen, werden im unsterblichen Wandel verklärte | Gefährtinnen der Tugend seyn. Das Kantische Moralsystem nimmt sich in seinem eignen Ende gefangen, die sittliche Triebfeder wirkt ursprünglich ohne alle Materie, ist gänzlich rein, bezieht sich auf keine Individualität; und dennoch ist der Lohn der Tugend eben diese sinnliche Materie, angenehme Empfindung, nur freylich nicht in unsrer sinnlichen Welt, sondern in einer zukünftigen unsinnlichen. Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit sind zum Gebrauche der irdischen Moralität eine verbotne Frucht; aber 1

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wer hienieden die Augen recht herzhaft schließt, wird im Himmel, nach der Aufhebung des Verbots, am meisten davon kosten. Dahin muß es kommen mit den großen Gegenständen der Sittenlehre und Religion, wenn man sie aus bloßen Begriffen, aus einer verständigen Zusammensetzung für die philosophirende Vernunft, in ihrer Wahrheit begründen will. Freyheit wird zum Gespenste, göttliche Vorsehung zum Probleme. Aber im Geiste des lebendigen Menschen sind sie kein Ge|spenst und kein Problem, sondern das Wahrhafteste und Ursprünglichste alles Gedankens und aller Empfindung. Der Mensch fühlt sich über die Natur erha|ben, losgerissen von den Banden der Endlichkeit, sieht unter sich sein eignes Wesen, sofern es zur Natur gehört, und dies unbegreifliche und wunderbare Vermögen nennt er Freyheit. Ihn zieht ein geheimer Trieb zum Guten, zum Schönen und Edlen; die Urbilder desselben erwecken ihm eine Lust, wie sie die Welt nicht giebt; und er erblickt in ihnen eine Offenbarung des göttlichen Wesens, weil sie selbst göttlich sind. Moralität ist Abdruck dieses Göttlichen im Leben, nicht Wirkung einer kalten, leeren Maxime; Fülle des Geistes erschafft die Tugend in ihrer Größe, und die Vernunft faßt sie mit nachfolgendem Bemühen in die Schranken eines Gesetzes. Wolltest du aus dem Gesetze deine Sittlichkeit erkennen, aus verkleinernder Copie das herrliche Urbild? Thörichter Sterblicher, wenn Tugend und Freyheit nicht früher schon in dir sich verklärten, ehe man sie mit dem vernünftigen Netze der Moral umstrickte: nimmer lernst du dann einen hohen Sinn, und lügst nur nachahmend im ausgebrannten Vulkane lebendigen Wachsthum! Wie kämest du zu irgend einem herrlichen Entschluß, spräche nicht augenblicklich dein höherer Instinkt, und überwältigte alles Zählen und Messen, | im Sturme dich fortreissend ans erhabne Ziel der über alles Irdische emporsteigenden Freyheit? Wahrheit, Schönheit und Tugend! Mit ihnen treten wir ins Reich des Göttlichen, des Unvergänglichen; ohne sie, ins Reich des Niedrigen, | Verschwindenden, Gemeinen. So gewiß es etwas Wahres, Schönes und Gutes giebt; so gewiß giebt es einen Gott. Zu ihm führt alles, was über die Natur erhebt; der Geist des Gefühls; der Geist des Gedankens; unser inwendigstes Bewußtseyn. Sein Daseyn beruht uns nicht auf einem Wunsch; es ist das Sicherste und Gewisseste, aus dem unser eignes Daseyn hervorging: Unsterblichkeit beruht nicht auf einem müssigen Postulat; wir fühlen sie in unserm freyen Handeln und Wirken. Wir brau-

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Über das Unternehmen des Kritizismus · 1802

chen sie nicht zu erringen durch das Gute, weil sie uns mit demselben eigenthümlich angehört; wir können sie nur verlieren durch das Böse, und sie mit Kunst und List aus unsrer Erinnerung vertilgen. Freyes, unsterbliches Wesen, Mensch, Bruder, voll hoher Andacht, Hingebung, Liebe; wie kann der Buchstabe deiner philosophirenden Vernunft dich stärker lehren, was du im Allerheiligsten deiner Seele lebendiger glaubst, hof|fest und weißt: W a l t e n des Unendlichen über dir, T u g e n d a u s F r e y h e i t , und e w iges Leben! – Glückseligkeit ist nur der Rauch des nie versiegenden Feuers, welches unsre Brust durchglüht; moralisches Gesetz nur die für sich selbst leere Schale der Frucht; Religionsphilosophie nur ein Zeugniß der im Menschen gefundnen Religion; der gottgeschaffne Geist des Menschen zündet jenes Feuer, wirket die Frucht, und schauet mit angebornem Auge den Schöpfer!

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DREI BRIEFE AN FRIEDRICH KÖPPEN (1803)

Briefe von Friedr. Heinr. Jacobi.

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An Friedrich Köppen. Erster Brief.1

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Eutin d. 10. August 1802.

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Nein, mein Freund, ich habe nicht durchgeschlafen, sondern mit meinen beyden wachen Ohren das mir von den Herren Schelling und Hegel gebrachte akademische pereat! wohl vernommen.2 Nur das mir dabey gesungene Lied konnte ich nicht ganz verstehen, | wegen der zu starken Begleitung des Scharriwarri Orchesters, unter dem Stampfen, Zischen, Wetzen, und Schreyen; unter dem Heulen und Praßeln der Steine, die, fehlgezielt nach meinen Fenstern, am Gemäuer abprallten, von dem Pflaster wieder aufsprangen und hie und da die Köpfe der Schleuderer beschädigten. Was ich verstand schien mir äußerst passend für den Anlaß, und den Umständen vollkommen angemessen. Nichts, gar nichts hat mich befremdet; nicht einmahl – »daß ich ein Schreyer, ja ein Zeterschreyer bin, ein ungebärdiger – aber nur ein leerer« (denn wer verdächte mir sonst das Schreyen, selbst das ungebärdigste? Gewiß nicht jene wackern Männer!) – Nicht, daß ich ein Zänker bin, ein »gedankenleerer Polterer und Pocher;« Nicht, »daß ich schmähe, galimathisire, ja sogar falsch citire einmahl über das andere; daß ich ein bißiges, gehässiges, und durch Verdrehungen bis zum Hämischen fortgehendes Wesen treibe.« Nicht im mindesten auch – »daß meine Abhandlung über eine Weissagung Lichtenbergs eine tüchtige, endlos zankende und apostrophierende Capucinade ist, in welcher das Gepoltere und Gezänke des Aufsat1

Die Anmerkungen unter diesem und den folgenden Briefen sind erst jetzt, da ihre öffentliche Bekanntmachung beschlossen worden, hinzugekommen. Es darf nicht vergessen werden, daß diese Briefe vor dem Köppenschen Werke geschrieben sind. Jetzt aber stützen sie sich auf dasselbe, und wollen durchaus 30 nur hinter ihm, als eine bloße Zugabe zu demselben, gelesen seyn. 2 s. Glauben und Wissen, oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Kritisches Journ. d. Philosophie, herausgegeben von Schelling und Hegel, zweyten Bandes erstes Stück. 35 8 Scharriwarri] D: Scharrivorri Dv: Scharrivaorri

Journ.] Journ

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zes der Beyträge auch für die Dilettanten zubereitet, und zum Behuf der Bitterkeit mit Empfindsamkeiten angerichtet worden: ein bißiges Edict, voll einer untiefen, bittern, launi|schen Laune und zu keinem Unterricht dienender, verschreiender Verunglimpfungen des Kriticismus, nur um das unphilosophische Volk mit gräulichem Entsetzen und Abscheu vor einem solchen Gespenst, wie die Kantische (!!!) Philosophie ist, zu erfüllen; daß in beyden Aufsätzen an einer Schnur von Unsinnigkeiten und Galimathias fortgeschwatzt wird, mit einem endlosen, in Unsinnigkeiten sich hineinarbeitenden, im Galimathisiren und in der Bereitung von Unsinnigkeiten sich gefallenden Gepolter, und ganz ungebärdig thuendem Gepoche und Gezänke.« – Auch das nicht, im geringsten nicht, obgleich es beynah sollte, »daß ich eine verabscheuungswürdige Religion, und eine eben so verabscheuungswürdige Moral in meinen Schriften predige und darstelle; daß beyde aus der Hölle sind, da ich lehre, nicht Gott, nicht die Menschheit zu verehren, sondern nur den Menschen, und, wenn die Vernunft (durch Spinoza, Schelling und Hegel) der Gottheit einen Tempel erbaut, dem Teufel seine Kapelle will daneben gelassen wissen. Habe ich nicht in einem Briefe an Mendelssohn, was das lebendigste ist, Vaterland, Volk und Gesetze, D i n g e genannt? Dinge, an die Spertias und Bulis, zwey Spartaner, die ich dort aufführte – g e w ö h n t seyen, wie man an Dinge gewöhnt ist? Ich begreife sie nicht als h e i l i g e Dinge, sondern als gemeine; | denn (!), gegen heilige Dinge ist nicht ein Verhältniß des Gewöhntseyns und der Abhängigkeit u.s.w. – Man kann sich aber, da ich für sittliche Schönheit dem Begrif und der Objektivität zuwider bin, darüber allein an Gestalten halten, in denen ich meine Idee der sittlichen Schönheit klar machen wollte; und da findet sich denn allgemein, daß ich an die Stelle sittlicher Freyheit (?!) höchste Peinlichkeit, sehnsüchtigen Egoismus und sittliche Siechheit – die höchste Subjektivität und innern Götzendienst setze, und sie zugleich rechtfertige; die Verdammniß der Hölle findet sich in meinen Hauptpersonen ausgesprochen; Langeweile, Kraftlosigkeit des Seyns und Unzucht mit sich selbst ist der Grund der Katastrophe der unromanhaften Begebenheiten der Helden Woldemar und Allwill, und auch die unkatastrophirende Tugend der ganzen Umgebung von Characteren 3 launi|schen] D: auni|schen Dv: statt aunigten lies: launigten auch Hegel; D: Siegheit 36 Allwill] so Dv; D: Allivill

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ist wesentlich mit einem mehr oder weniger jener Hölle tingirt u.s.w. u.s.w. u.s.w.1 Dieselben Vorwürfe werden in dem Aufsatze über Glauben und Wissen unzählige Male wiederholt; ohne Zweifel zur Erweckung, Stärkung und Erhaltung der | Glaubenskräfte der Leser, wohl auch der Schreiber, während sie noch schrieben. Man glaubt bekanntlich am Ende selbst was man andern oft wiederholt und immer heftiger betheuert; und für diese andern bedeuten hier die Wiederholungen so viele Zeugen, deren Menge ja wohl den Mangel der Begebenheit, der Sache, der verächtlichen Wirklichkeit und empirischen Wahrheit wird ersetzen können. Was wäre hier Befremdendes? Sie und fast alle meine übrigen Freunde und Bekannten wissen, wie oft ich es gesagt habe, daß wenn die Männer dieser Schule nur einmal die kleine Schaam, in Absicht meiner zu recantiren, überwänden, sie alsdenn auf mich grimmiger und zügelloser als noch auf keinen andern schimpfen würden. In der That fanden sie auch jetzt, da doch erst angefangen wird, der fertigen Schimpfworte schon nicht genug bey der Hand, sondern sie mußten in der Noth und Eile mich auch noch mit P e rsonen schelten: mit Locke und Hume (als »Ur- und Grundempirikern« S. 117, und schon vorher S. 16 und 66;) mit Mendelssohn (S. 66. Ich bin aber viel schlimmer, und komme S. 117. unermeßlich tief unter ihn zu stehen;) mit Herder, aus dem ich (S. 93 und 94) weitläufig parodiert werde; mit Jean Paul (S. 111.); Ja sogar mit Großvater Kant, der | doch hier an mir gerächt werden sollte; und mit V a t e r Fichte.2) Gleichviel! Hartherzigkeit gegen die Väter war von jeher in der Riesen Art. Nur mit R e i n h o l d werde ich diesmal noch nicht gescholten; und gewiß erfahre ich diese Schonung nicht deswegen, weil ich dazu doch noch zu gut war; sondern weil Reinhold auch nicht einmal dazu taugen sollte: sein Nahme ist ausgelöscht, man kennet ihn nicht mehr. Und treffen mich nicht ohne dem der Flüche schon genug für meine Sünden? – Genug? Ja, wenn sich diese zählen und messen ließen, wenn sie 1

s. S. 18, 92, 93, 95, 96, 99, 100, 101, 103, 105, 107, 108, 111, 113, 114, 117,

35 120, 121, 128, 129, 130, 134. 2

S. 16. 117, und durchgängig. Dagegen werden eben so durchgängig Kant und Fichte auch wieder mit mir gescholten; werden es, gleich mir, hier und anderwärts auch mit Locke und Hume; wir sind zusammen in gleicher Verdammniß; der eine besteht vor dem Angesichte der Wahrheit nicht besser als 40 der andere.

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nicht ein unendlicher Abgrund und dynamischer Inbegrif aller Sünden, die mit Kopf und Feder bey einem schlechten Herzen nur begangen werden können, wenn sie nicht ein wahres S ü n d e nuniversum wären! Zu arg, allerdings! wenn es nicht nothwendig gewesen, die Umstände nicht durchaus es so gefordert hätten. Man versetze sich unpartheiisch in die Lage dieser Männer. Sie fühlten sich empfindlich gekränkt von einem Manne, den sie lange hoch erhoben, viel|fältig angeprießen, mit Lobsprüchen überhäuft hatten. Dieser Mann hatte wirklich jetzt nichts Neues angerichtet oder auf die Bahn gebracht; nichts angefochten in seinen jüngsten Schriften, was er nicht von je her angefochten; nichts behauptet und vertheidigt, was er nicht von Anfang an behauptet und vertheidigt hatte: er war nur noch mehr Mann geworden mit den Jahren, und die Zeit vertrug es gegenwärtig auch, daß er sich deutlicher, bestimmter, zumahl umfassender und unverholener ausdrückte; es war zugleich, nach seiner Ueberzeugung, Erforderniß der Zeit. Aber gerade in dieser Ueberzeugung lag sein Unrecht. Jene Männer hatten eine ganz verschiedene, und ihre ausgesprochenen Gedanken möchten, in einer an ihn gerichteten Strafrede vor der verdienten Strafe, wahrscheinlich also lauten. »Du irrest, alter F a s e l e r , mit deinem blöden Kopf und blöden Augen!1 gieb dich in Ruhe. Was ehmals verdienstlich an dir war, das wird heute, wenn du fortfährst, sträflich; das Bedürfnis der Zeit ist, daß du schweigest. Vor achtzehn Jahren, da du auf|tratest, waren W i r noch nicht. Du sprichst vielleicht, du habest uns den Weg bereitet, wir hätten mancherley und viel von dir gelernet; wir hätten emsig und eifrig alles, was du geschrieben, gelesen und benutzt; nicht nur deine Gedanken, sondern auch deine Worte, Wendungen und Gleichnisse uns unvertilgbar eingeprägt; sie kämen uns, wenn wir schrieben, unwillkührlich (obgleich göttlich bewußtlos) in die Feder, vor allen unserem Schelling.2 – Es mag 1

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Man sehe in der Abhandlung über Glauben und Wissen S. 107. die witzige und humane Anmerkung über das, was dort das Bülletin meiner Gesundheit genannt wird. 35 2 Hätte ich den obigen Brief zu der Zeit, da er geschrieben wurde, öffentlich bekannt gemacht, so würde ich geglaubt haben, Herrn Hegel an dieser Stelle ausdrücklich ausnehmen zu müssen. Jetzt, da ich den dritten Abschnitt von Glauben und Wissen: Fichtesche Philosophie, aufmerksamer wieder gelesen habe, darf ich es nicht mehr. Fichte, und auch Kant, werden in diesem 40

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seyn; auf keinen Fall sind wir gegen dich undankbar | gewesen: wir nennen dich noch bis auf diese Stunde geistreich, und wiederholen es mit sonderbarem Wohlgefallen; Wir haben sonst für dich gezeugt öffentlich und ins Geheim, in unseren Schriften, auf unseren Lehrstühlen, in unserm vertraulichsten Umgange und Briefwechsel; alles ohne Wandel und Unterlaß so lange – wir, Erst dir folgten; hernach dich begleiteten, neben und mit dir gingen: Aber nun sind W i r voraus, wissen mehr, besser, und g a n z a n d e r s , als du je gewußt hast, du Armseliger! Lerne von uns, bekenne dich zu uns! Weigerst du dich des, so müssen wir aus Gewissen, und so lieb uns die durch uns allein sich aussprechende Wahrheit und Gottseligkeit ist, dich verläugnen, und von dir sagen und schwören: wir haben diesen Menschen nie gekannt! Nie haben wir dann auch von dir i n d e r T h a t etwas gelernt. Was von dir zu lernen war – ist Nichts: Also war es auch Nichts. Siehe, wie diese Hand sich umwendet, bist du nicht mehr; alles ist vertilgt und ausgelöscht, womit du wähnen möchtest, dich vor uns zu rühmen. Füge dich, schicke dich in die Zeit! Wo nicht … Auf denn, Genossen; der Vermeßne widerstrebt! Auf wider den | Verführer, den Lästerer und Lügner, den eben so feigen als boshaften Widersacher des allein wahren Wahren, des allein schönen Schönen, des allein göttlich Göttlichen, des allein heilig Heiligen! Hinaus mit dem Verräther, daß wir ihn steinigen!« Ich frage jeden Vernünftigen und Billigen, der sich mit hinlänglicher Unpartheilichkeit in eine fremde Lage zu versetzen weiß, ob die vorgestellte Beschaffenheit der Sache, die Totalität und der Universalzusammenhang der Umstände, es wohl zuließen, daß der zu Bestrafende auf dem gemeinen stillen Wege Rechtens zur ver-

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Abschnitte mit den Gebeinen meiner eben gesteinigten zwey jüngsten Aufsätze, 30 und des etwas älteren Briefes an Fichte, erschlagen, wie die Philister ehmals von

Simson mit einem glücklich ihm in die Hände gerathenen frischen Eselskinnbacken. Man weiß, es steckte ein Backenzahn in diesem, der heimlich eine Quelle war, und den Helden tränkte. Uebrigens muß man Herrn Hegel die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß er sich vor Jacobischer Art und Kunst zu 35 hüten weiß; und eben so wenig würde er, wenn man das Renomieren und Schimpfen ausnimmt, a u s seinem V o r t r a g e als ein Schüler Schellings zu erkennen seyn. Man kann | daher mit Zuversicht annehmen, daß Herr Hegel 217 bey Abfassung der Abhandlung über Glauben und Wissen die Feder geführt hat. 40 10 Gewissen] so Dv; D: gewissen

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dienten Strafe gelangte. Ein außerordentlicher Rechtsgang mußte hier nothwendig eintreten. Und auch dieser ist ja üblich genug; er ist der den hohen Häuptern und Gewalthabern a l l e r A r t von jeher eigenthümliche und allein gefällige gewesen. Nie mochten diese ihr Recht und seine Vollziehung auf dem langsamen, sclavischen und mechanischen Wege der Instruktion suchen und vielleicht nicht finden; sondern herzhafter konstruirten sie es jedesmal sich selbst unmittelbar aus freyer Faust, durch Krieg – oder Steinigung. Die Proceßordnung des außerordentlichen Rechtsgangs heißet T a c t i c . Ihre Kenntniß und genaue Beobachtung ist von der größten Wichtigkeit. So muß nach derselben bey einer | rechtmäßigen Steinigung, wie die eben vorgestellte, die Procedur ihren Anfang nehmen mit bösem Gerücht; mit einem undeutlichen verworrenen Gemurmel von Vergehungen, geheimen Sünden, verborgenen Lastern und gefährlichen Absichten des bis dahin in so gutem Ruf gestandenen Mannes; es muß verlauten hie und da, er solle vorgeladen, ins Verhör gezogen werden; einzelne Puncte der vermuthlichen Anklage müssen erscheinen, und in Umlauf gebracht werden mit bedenklichen Zweifeln, wie der auf einmal so verdächtig gewordene Mann sich über diesen und jenen Vorwurf wohl verantworten werde. Hierauf, über dies alles nur noch mehr wüstes und verworrenes Gemurmel, und es ist genug. – Denn nun, plötzlich, bedarf es schon keiner Untersuchung mehr. Mit einem wilden Geschrey: d a ß a l l e i n g r o ß s e y d i e D i a n a d e r E p h e s e r ! entbrennt Aufruhr wider den Aufrührer. Woher der Aufruhr, wenn nicht von ihm? Was da tobet und wüthet und schmähet und Zeterschreyet; es ist sein Toben und Wüthen und Schmähen und Zeterschreyen. Stille und Friede und Freundschaft herrschten überall, wenn nur E r nicht wäre: hinweg mit dem Zerstörer! Das Begreifen seines Schicksals ist ein treffliches Mittel der Ergebung in dasselbe, und ich habe | mir, wie Sie sehen, das meine vollkommen deutlich zu machen gewußt. Darum kann es mir auch nicht in den Sinn kommen, weder es zu lästern noch mich ihm zu widersetzen. Sogar, mein lieber Köppen – unter uns gesagt! – mir ist nach meiner Steinigung viel leichter um das Herz. Es drückte mich nehmlich jedesmal, und peinigte mich, wenn ich mich in Beziehung auf die Lehren der Schule des allein wahren Wahren öffentlich zu äußern und als ihren Gegner darzustellen genöthigt sah. Fortdaurend hatte diese Schule mir Achtung und Zuneigung

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bewiesen; eine Zuneigung, die mir um so schmeichelhafter seyn mußte, da sie wegen der mit ihr verknüpften Duldung meiner den Grundlehren der Schule geradezu widersprechenden Behauptungen, einzig in ihrer Art war. Eine Ehre ist allemal der andern werth. Es kommt aber noch mehr in Betrachtung, was ernsthafter und entscheidender ist. Wer möchte den Muth haben, oder, wenn auch starke Gründe dafür reden, ihn gern in sich erwecken, Beweise der Achtung, des Wohlwollens und Vertrauens durch Kränkungen zu erwiedern, die der Gekränkte nun, wegen jener Beweise, die er laut und öffentlich gegeben, verhindert würde, nach dem ganzen Umfange seines Gefühls und so schnell und stark als sein Bedürfniß es verlangte, zu vergelten? Jedem wohldenkenden Manne muß es unerträglich seyn, sich | selbst in einem Vortheil, den Gegner in einem Nachtheil dieser Art zu wissen; sein Verhältniß muß ihn drücken, überall ihn hemmen; er muß wünschen dieser Bande los zu seyn. Eine solche Erlösung ist mir nun geworden; und was meine Zufriedenheit vollkommen macht: Kant und Fichte sind zugleich mit mir ausgestoßen und in den Bann gethan. Wir sind in einer und derselben Missethat verbrüdert, ganz gleiche Sünder und des Todes schuldig. Eine Verschiedenheit in der Hinrichtung ergiebt sich nur zufällig aus Nebenursachen. Köstlich ist es zu lesen, wenn man die, freylich etwas sauere, Mühe des Verstehens, und den Verdruß überwunden hat, aller Geduld und angewandten Mühe ungeachtet, dennoch anfangs mehrere Seiten hintereinander und auch hernach hie und da nichts verstehen zu können – köstlich ist es dann zu lesen, wie die drey Sünder in der Einleitung vorläufig abgehört, summarisch konfrontirt, und indifferenzirt werden. Sie integriren und differenziren wie die drey Dimensionen des Körpers. Die Kantische ist »die objektive Dimension;« die Jacobische »die subjektive;« und die Fichtesche »die Synthesis beyder.«1. Durch uns und in uns sind die bis|her zerstreuten Sünden des philosophischen Universums in einander gegangen und zu Einer Substanz geworden; sie 1

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s. S. 14. und 17. diese Dimensionen heißen auch Seiten: Seiten des Eudämonismus, des Realismus | der Endlichkeit, des unächten Idealismus, der fal- 222 schen Philosophie.

14 einem] einen

36 Realismus] vielleicht zu lesen: Realismus,

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haben mit einander und zusammen durch uns und in uns »ihre Vollkommenheit, ihren vollendeten Ausdruck gewonnen.« Beym Lichte besehen ist die dreyeinige Kantisch-Jacobisch-Fichtesche Philosophie »nichts als vervollständigte und idealisirte empirische Psychologie, Lockeanismus, Eudämonismus, Aufklärerey in ihrer Blöße.« Es bilden aber die drey Personen in jener Dreyeinigkeit, als so viele verschiedene Functionen, unter sich »die Totalität der für das P r i n c i p möglichen Formen.« (S. 14. besser noch, S. 186.) Das Princip ist – die Unvollkommenheit selbst. Unvollkommenheit an der objektiven Seite in der ersten Person; Unvollkommenheit an der subjektiven in der zweyten; und consequente Unvollkommenheit der Synthesis beyder in der dritten. Diese drey Unvollkommenheiten zusammen machen eine Vollkommenheit der Unvollkommenheit aus; mit ihnen ist die ganze Sphäre der Unphilosophie beschrieben und geschlossen. Das gemeinschaftliche Unvollkommenheits-Princip, das sich in jedem der obigen Brüche g a n z dar|stellt; das Grundprincip aller Un- und- Afterphilosophie überhaupt, besteht (S. 12. 14. 16.) »in dem Setzen des absoluten Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit, Realität und Idealität, Sinnlichem und Uebersinnlichen, und – des Jenseitsseyns des wahrhaft Reellen und Absoluten.« Dieses Setzen des Jenseitsseyns ist von der dreyeinigen Philosophie zuerst mit klarem Bewustseyn geschehen, und dafür der Name Glaube von ihr angenommen worden. Mit diesem Glauben hat sie ausdrücklich und offenbar (S. 4.) »das Nichtseyn der Vernunft anerkannt, und ein b e s s e r e s als sie ist, als ein Jenseits außer und ü b e r sie gesetzt.« Es bleibt ihr daher (S. 16. auch S. 4.) »eine nur in Endlichkeit versenkte und der Anschauung und Erkenntniß des Ewigen sich entschlagende Vernunft.« Den unendlichen leeren Raum des Wissens, der ihr durch das für das Erkennen leer gelassene Ewige entsteht, weiß und vermag sie mit nichts, als mit der Subjektivität des Sehnens und Ahndens zu erfüllen, da sie in ihrem perennirenden Unvermögen, in ihrer Beschränktheit (S. 18.) »nicht weiß, sich über die Schranke in das sich selbst klare und sehnsuchtslose Gebiet der Vernunft zu erheben.« Auf diese Weise wird in dieser ungöttlichen Philosophie – welche, dreyeinig, (S. 18.) »nicht auf die Erkenntniß Gottes sondern nur des Menschen ausgeht, und die | Endlichkeit h e i l i g t , da doch die wahre Heiligung eben diese Endlichkeit vernichtet – was sonst für den T o d der Philosophie galt: daß die Vernunft auf ihr Seyn im

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Absoluten Verzicht thun sollte, sich schlechthin daraus ausschlösse und nur negativ dagegen verhielte; nunmehr der höchste Punkt der Philosophie, und das Nichtseyn der Aufklärung, durch das Bewußtseyn über dasselbe, zum System.« Daß eine Philosophie, welche der T o d der Philosophie ist, von der Philosophie zu Tode gebracht und noch eben zur rechten Zeit vernichtet werde, ist im strengsten Sinne philosophisch gerecht. Die dreyeinigen Erfinder selbst jenes Todes werden nichts dawider haben können. Sie werden vielmehr, man darf es ihnen zutrauen, eines so rühmlichen und verdienstvollen Unterganges sich erfreuen. Kann nicht jetzt, da sie die Totalität des Irrthums in sich beschlossen haben, die Welt mit einem Mal davon befreyt werden?1 Sie sterben als Erlöser der Menschheit. | Ihr Gesamttod ist der rühmlichste der sich gedenken läßt. | 1

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Dieses wird in dem Aufsatz über Glauben und Wissen ausdrücklich verheißen, S. 186. Die Stelle ist zu merkwürdig, um hier nicht wörtlich noch einmal zu erscheinen. Der Leser wolle nur nicht gleich ungeduldig werden, da schon auf der vorigen Seite (185.) angefangen werden muß: Herr Hegel ist überall so zusam|menhängend, daß es unmöglich ist etwas einzeln aus ihm herauszuhe- 225 ben. Hier also die ganze Stelle: »Nachdem auf diese Weise durch die Totalität der betrachteten Philosophieen, der Dogmatismus des Seyns, in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen, und also der alte Dogmatismus und Reflexionsmetaphysik, durch die ganze Revolution der Philosophie zunächst nur die Farbe des innern, oder der neuen und modischen Cultur angezogen, die Seele als Ding, in Ich als praktische Vernunft, in Absolutheit der Persönlichkeit und der Einzelheit des Subjekts – die Welt aber als Ding, in das System von Erscheinungen, oder von Affektionen des Subjekts, und geglaubten Wirklichkeiten, das Absolute aber als ein Gegenstand und absolutes Objekt der Vernunft, in ein absolutes J e n s e i t s des vernünftigen Erkennens sich umgewandelt; und diese Metaphysik der Subjektivität, während andere Gestalten derselben auch selbst in dieser Sphäre nicht zählen – d e n vollständigen Cyclus ihrer Formen in der Kantischen, Jacobischen und Fichtischen Philosophie durchlaufen, und also dasjenige, was zur Seite der Bildung zu rechnen ist, nehmlich das absolut Setzen der einzelnen Dimensionen der Totalität, und das Ausarbeiten einer jeden derselben zum System, vollständig dargestellt u n d d a m i t d a s B i l d e n b e e n d i g t h a t , so ist hierin unmittelbar die äußere Möglichkeit gesetzt, daß die wahre Philosophie, aus dieser Bildung erstehend, und die Absolutheit der Endlichkeiten derselben vernichtend, mit ihrem ganzen, der Totalität unterworfenen Reichthum sich als vollendete Erscheinung zugleich darstellt, denn, wie die Vollendung der schönen Kunst, durch die Vollendung der mechanischen Geschicklichkeit, so ist auch die reiche Erscheinung der Philosophie durch die | 3 Nichtseyn] so Dv; D: nicht Seyn

22 den] so auch Hegel; D: dem

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Aber auch dieser Stolz sollte uns nicht bleiben. Nachdem wir sattsam mit und durch einander dividirt, multiplicirt, von einander substrahirt, und in einander wieder summirt worden, finden wir uns am Ende, mit Hülfe eines Gleichnisses, plötzlich – nur in »Fledermäuse« verwandelt, »die (wie bekannt) weder dem Vogelgeschlecht, noch dem Thiergeschlecht, weder der Erde, noch dem Himmel angehören.« Und nicht einmal genießen die unglücklichen Fledermäuse eines freyen Fluges, zwischen Tag und Dunkel jede ihres Weges, sondern sie erscheinen auf einander gespießt mit »dem Pfahl des absoluten Gegensatzes, den sie unbeweglich in sich eingeschlagen tragen müssen.« So zusammengespießt hält sie der wahre Vogel, der zugleich ein wahres Thier ist (und sich dies, als das Interessanteste nicht nehmen läßt) in seinen ge|waltigen Klauen: ein doppelter Adler, mit Nahmen, Identität des Endlichen und Unendlichen, des Zeitlichen und Ewigen, des Seyns und Nichtseyns. Er schwebt »i n d e r a b s o l u t e n M i t t e ;« faßt mit dem einen seiner goldenen Schnäbel das O b j e k t , mit dem andern das S u b j e k t ; indifferenzirt im Herunterschlingen beyde, und verdauet sie in dem alle Endlichkeit verzehrenden, das Bedingte absolut unbedingenden Unendlichen seiner Eingeweide zum absolut Absoluten. Doch im Grunde und nach der w a h r e n Wahrheit nimmt er eben so wenig etwas zu sich, als er etwas von sich giebt; er bleibet ewig nüchtern und ewig gesättigt; absolut Eins in ihm ist, was da frisset, und was da gefressen wird. Erzeugend ist er. Er erzeuget aber nur seine Doppelheit; und weil er nothwendig doppelt ist, so erzeuget er sie in der That auch nicht. Weder aufwärts noch niederwärts, weder diesseits noch jenseits schauen seine zwey gleichgekrönten Häupter, sondern, ihren absolut entgegengesetzten Richtungen zufolge, ewig nur gerade vor sich hin, zwiefach und einfach zugleich von der absoluten Mitte aus. Es

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Vo l l s t ändi g k ei t d er B il d u n g b e din g t , und diese Vollständigkeit ist durchlaufen.« Hierauf folgt noch am Schlusse S. 188, daß wir unter uns dreyen (vornehmlich aber doch Kant und Fichte, die deswegen mit der wahren Philosophie, »unmittelbarer zusammenhangen«) den spekulativen Charfreytag, der 35 sonst historisch war, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wieder hergestellt haben, »aus welcher Härte allein, weil das Heitre, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophieen, so wie der Naturreligionen verschwinden muß, d i e h ö c h s t e T o t a l i t ä t i n i h r e m g a n z e n E r n s t u n d a u s i h r e m t i e f s t e n G r u n d e , z u g l e i c h a l l u m f a s s e n d , u n d i n d i e 40 heiterste Freyheit ihrer Gestalt auferstehen kann, und muß.

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strecket aber, bald das eine, bald das andere Haupt sich etwas vorwärts: Dadurch werden alle Dinge, die alle sind Dinge des Undings, der Endlichkeit, die gesammte Schöpfung. Der Fraß entstehet so dem Fressenden, das Fressende dem Fraß. | Und zu sich selbst spricht das unendliche Doppelwesen, das da n i c h t ist ein doppeltes: Ich bin der ich N i c h t bin, und werde seyn der ich n i e seyn werde. Zu den Verwandelten aber, indem das Wesen aller Wesen, der alleinige Doppelaar, sie aus seinen Klauen in den Abgrund sinken läßt, erschallet eine Stimme. Die Stimme spricht: Ihr habet euch stinkend gemacht vor dem Ewigen durch eure mit Sinnlichkeit afficirte Vernunft, die nur Verstand ist, und darum ein besseres als sie ist, als ein Jenseits in einem Glauben außer und über sich zu setzen, das verächtliche Bedürfniß fühlt. Blindlings stürztet ihr in die Grube, die der Verstand allen Menschen gräbt, indem er sie, erst zum Eudämonismus, dann zum Götzendienst versucht. Ihr hättet ihm widerstehen, ihn vernichten sollen; dieses ist der erste Schritt zur Weisheit.1 Denn der Verstand stellt alles auf den | Kopf, das ist seine Natur: einen Gott oben und die Vernunft unten. Umgekehrt, und es wird der Himmel und der allein w a h r e Gott daraus: e i n s e l i g e r G e n u ß d e r e w i g e n A n s c h a u u n g , d i e h ö c h s t e S eligkeit als Idee konstruirt. Wegen jener bösen Natur des Ver1

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Die Schellingische Annihilation des Verstandes ist eine vollkommne. Eben dadurch erhebt sie sich über »die Unvollkommenheit der Kantischen Annihilation des Verstandes,« (Gl. und Wissen S. 70.) und über jede unvollkommne Philosophie. Denn »das E r s t e der Philosophie ist, das absolute Nichts zu erkennen, wozu es die Fichtische Philosophie so wenig bringt, so sehr die Jacobische sie darum verabscheut.« (Ebend. S. 159.) Zur Stra|fe sind dafür beyde »in dem der Philosophie entgegengesetzten Nichts.« 229 (Ebend.) Die Schellingische Philosophie erhält nun ein entschiednes Uebergewicht. Durch die vollkommne Annihilation des Verstandes verliert der Satz des Widerspruchs seine gesetzgebende Kraft. Jeder nach dem Gesetze des Widerspruchs verlorne Prozeß wird bey der Appellation an die Vernunft gewonnen. Die wahre Philosophie vertilgt schlechthin »das E n t w e d e r , O d e r , was ein Prinzip aller formalen Logik und des der Vernunft entsagenden Verstandes ist, in der absoluten Mitte.« (Ebend. S. 160.) Spricht nun der Verstand: E n t w e d e r gereimt o d e r ungereimt, Eins oder nicht Eins, es giebt kein Drittes; so antwortet die Vernunft: Nein, es giebt ein Drittes und keinen absoluten Widerspruch. Die wahren Philosophen sind überall keine Logiker, denn mit der Annihilation des Verstandes muß angefangen werden; so lange noch ein Atom von ihm übrig bleibt, so bleibt ein | Diesseits und Jenseits, ein unaufgelöster Widerspruch zwi- 230 schen dem Endlichen und Unendlichen, dem Zeitlichen und Ewigen; es bleibt Dualismus, eine N a t u r , und das dumme Ding jenseits der Natur, G o t t.

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standes wird argen Menschen das Galimathisiren des Vernünftigen so leicht; denn das Reinvernünftige, im Verstande abgespiegelt, stellt sich immer als ein lächerliches, oft als ein abscheuliches Zerrbild dar. Zertrümmern muß man ihn, den gotteslästerlichen Spiegel auf der Schwelle des | Heiligthums.1 Ihr habt es nun erfahren: ein unerkennbarer Gott jenseits der Grenzpfähle der Vernunft, ist ein Grund-Irrthum und eine Grund-Albernheit; dieser Gott ist nicht. Umsonst verweiset ihr sehnsuchts- und wehmuthsvoll auf ihn in einem Glauben, der, a n s i c h v e r n u n f t l o s , vernünftig darum von euch genannt wurde, weil in ihm euere auf absolute Entgegensetzung des Endlichen und, Unendlichen sich einschränkende Vernunft ein Höheres über sich erkannte, aus dem sie sich ausschloß, und, mit diesem Ausschließen ihre eigene Leerheit und eine fixe Unbegreiflichkeit setzte. Mit der oberflächlichen Farbe eines solchen Uebersinnlichen geschmückt, oder vielmehr eure absolute Sinnlichkeit damit an einer oder anderer Stelle nur antünchend, standet ihr, mit eu|rem Verweisen im Glauben auf ein Höheres armselig da, wie gemalte Heiligenbilder, der Gemeinheit Thränen auf den Wangen eurer gemeinen Gesichter, die dummen Augen gen Himmel gerichtet und ein wehmüthiges Ach Gott! im Munde – unvermögend und zu feig euch zu der über Sehnsucht und Wehmuth erhabenen Göttlichkeit selbst zu erheben, und die allein w a h r e W a h r h e i t , das E i n s d e s E n d l i c h e n u n d U nendlichen, die a b s o l u t e M i t t e zu euerem Eigenthum und ewigen Erbe zu machen. Was die Endlichkeit nicht aufzuzehren vermag, ist nicht das Wahre. Die Privation des Wahren und allein Wesenhaften sahet ihr für das Wahre und Wesenhafte selbst an, und klagtet, daß ihr einer Privation privirt werden solltet. Habt ihr dabey nach Schönheit, Sittlichkeit, Verstand und Glückseligkeit gestrebt: es war eitele Mühe! Da solche Schönheit nie ohne H ä ßlichkeit, solche Sittlichkeit nie ohne S c h w ä c h e und N i e d e rträchtigkeit, solcher Verstand, d e r d a b e y v o r k o m m t , nicht ohne Plattheit, das Glück und Unglück, das dabey mitspielt, jenes nicht ohne Gemeinheit, dieses nicht ohne Verächtlich1

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»Eine Idee ist, insofern sie von ihrer negativen Seite gegen die Einbildung 35 oder die Reflexion betrachtet wird, d a r u m Idee, weil sie von der Einbildung oder der Reflexion in eine Ungereimtheit verwandelt werden kann.« (Gl. und Wissen S. 80.) Dieser Verwandlungsprozeß geschieht durch »das Auffassen des Vernünftigen mit Reflexion, und die Verwandlung desselben in Verständiges, 40 wodurch es an und für sich selbst eine Ungereimtheit wird.« (Eb. S. 101.)

Erster Brief

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keit seyn kann – Hinab darum mit euch d r e y m a l Häßlichen, dreymal Niederträchtigen, d r e y m a l Platten, Gemeinen und Verächtlichen; euer nächtliches Wesen ist dem nun anbrechenden ewigen Tage ver|haßt; seine Feindschaft gegen euch ist gleich der euren gegen ihn.1 | 1

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Ich habe für unnöthig gehalten, in der Rede an die Verwandelten, jedem Ausspruch die Seitenzahl, wo er sich befindet, beyzusetzen, da man sie alle in der kurzen, nicht volle neunzehn Seiten betragenden Einleitung, leicht zusammen finden wird. Besser ich lege einen Theil des genuinen Hegelschen Zusammenhanges selbst dem Leser in folgender Stelle, die einen großen Theil der oben zusammengezogenen Aussprüche enthält und zugleich ein hervorstechendes Beyspiel von den ästhetischen Kräften des Verfassers giebt, vor Augen. Ihren Vortrag erheitern die Kunst, ein Künstler, und ein Kunstwerk mit seinem Betrachter, in drey Gleichnissen, und zwar aus einer solchen Fülle der Fantasie, daß das mittlere Gleichniß, sich selbst nicht genügend, in sich selbst noch ein zweytes, das vortreffliche von den Fledermäusen, hervorbringt. Einige auch hier sich einstellende Beschwerlichkeiten der Wort- und Gedankenfügung, hat der oben im voraus ertheilte Begriffsinhalt, so gut als weggeräumt, und ich denke, man wird nun alles mit Vergnügen lesen können. »Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixirt haben, eine mit Sinnlichkeit afficirte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht, Gott zu erkennen, sondern, was man heißt, den Menschen; dieser Mensch und die Menschheit sind ihr absoluter Standpunkt; nehmlich als eine fixe unüberwindliche Endlichkeit der Vernunft; nicht als Abglanz der ewigen Schönheit, als geistiger Focus des Universums, sondern als eine absolute Sinnlichkeit, welche aber das Vermögen des Glaubens hat, sich noch mit einem ihr fremden über|sinnlichen an einer und 233 anderer Stelle anzutünchen. Wie wenn die Kunst aufs Portraitiren eingeschränkt, ihr idealisches darin hätte, daß sie ins Auge eines gemeinen Gesichts noch eine Sehnsucht, in seinen Mund noch ein wehmüthiges Lächeln brächte; aber ihr die über Sehnsucht und Wehmuth erhabene Götter schlechthin untersagt wäre darzustellen, als ob die Darstellung ewiger Bilder nur auf Kosten der Menschlichkeit möglich wäre, so soll die Philosophie nicht die Idee des Menschen, sondern das Abstraktum der mit Beschränktheit vermischten empirischen Menschheit darstellen, und den Pfahl des absoluten Gegensatzes unbeweglich in sich eingeschlagen tragen, und, indem sie sich ihre Eingeschränktheit auf das Sinnliche deutlich macht, sie mag dies ihr Abstraktum analisiren, oder auf die Schöngeisterische und rührende Weise ganz lassen, sich zugleich mit der oberflächlichen Farbe eines Uebersinnlichen schmücken, indem sie im Glauben auf ein Höheres verweist. Aber die Wahrheit kann durch ein solches Heiligen der Endlichkeit, die bestehen bleibt, nicht hintergangen werden, denn die wahre Heiligung müßte dasselbe vernichten; wenn der Künstler, der nicht der Wirklichkeit, dadurch, daß er die ätherische Beleuchtung auf sie fallen läßt, und sie ganz darein aufnimmt, die wahre Wahrheit zu geben, sondern nur die Wirklichkeit an und für sich, wie sie gewöhniglich Realität und Wahrheit heißt, ohne weder das eine noch das andere zu seyn, darzustellen vermag, zu dem rüh9 genuinen] so Dv; D: gemeinen

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Es bleibt aber nicht dabey. Wir werden wieder herauf geholt, und vom Pfahl gezogen, um aus|führlicher noch einmal gegen einander gehalten, und auch mit dem Pfahl, an den wir uns selbst auf einan|der gespießt haben sollen, verglichen zu werden. Doch ist die Hauptsache in Absicht des Pfahls, nicht sowohl seine Vergleichung mit uns als mit dem wahren Vogel, der sich nicht in ihn spießen, sondern ihn auffressen und vor unsern Augen verdauen wird.

renden Mittel gegen die Wirklichkeit, dem Mittel der Sehnsucht und Sentimentalität flieht, und allenthalben der Gemeinheit Thränen auf die Wangen mahlt, und ein ach Gott! in den Mund giebt, wodurch seine Gestalten freylich gegen den Himmel über das Wirkliche hinaus sich richten, aber wie die Fledermäuse, weder dem Vögelgeschlecht, noch dem Thiergeschlecht, weder der Erde, noch dem Himmel angehören, und solche Schönheit nicht ohne Häßlich234 keit, solche Sittlichkeit nicht ohne Schwäche und | Niederträchtigkeit, solcher Verstand, der dabey vorkommt, nicht ohne Plattheit, das Glück und Unglück, das dabey mitspielt, jenes nicht ohne Gemeinheit, dieses nicht ohne Angst und Feigheit, beydes nicht ohne Verächtlichkeit seyn kann; eben so wenig kann die Philosophie das Endliche und die Subjektivität, wenn sie sie als absolute Wahrheit nach ihrer Weise in Begrifsform aufnimmt, dadurch reinigen, daß sie dieselbe mit Unendlichem in Beziehung bringt; denn dieses Unendliche ist selbst nicht das Wahre, weil es die Endlichkeit nicht aufzuzehren vermag. Wenn aber in ihr die Wirklichkeit und das Zeitliche als solches verschwindet, so gilt dies für grausames Seciren, das den Menschen nicht ganz läßt, und für ein gewaltthätiges Abstrahiren, das keine Wahrheit, besonders nicht praktische Wahrheit hat, und eine solche Abstraktion wird begriffen, als schmerzerregendes Wegschneiden eines wesentlichen Stückes von der Vollständigkeit des Ganzen; als wesentliches Stück aber wird erkannt, und als ein absolutes An-sich, das Zeitliche und Empirische, und die Privation; es ist, als ob derjenige, der nur die Füße eines Kunstwerks sieht, wenn das ganze Werk seinen Augen enthüllet wird, darüber klagte, daß er der Privation privirt, die Unvollständigkeit verunvollständigt worden sey. Das endliche Erkennen ist ein solches Erkennen eines Theils und eines Einzelnen; wenn das Absolute zusammengesetzt wäre aus Endlichem und Unendlichem, so würde die Abstraktion vom Endlichen allerdings ein Verlust seyn; aber in der Idee ist Endliches und Unendliches Eins, und deswegen die Endlichkeit als solche verschwunden, in so fern sie an und für sich Wahrheit und Realität haben sollte; es ist aber nur das, was an ihr Negation ist, negirt worden, und also die wahre Affirmation gesetzt. Das höchste Abstraktum jener absolutgemachten Negation, ist die Egoität, wie sonst das Ding die höchste Abstraktion der Posi235 tion; eins wie das andere ist selbst nur eine | Negation des anderen; reines Seyn, wie reines Denken, – ein absolutes Ding und absolute Egoität sind gleicherweise die Endlichkeit zu einem Absoluten gemacht, und auf dieser einen und selben Stufe stehen, um von den andern Erscheinungen nicht zu sprechen, Eudämonismus und Aufklärerey, so wie Kantische, Jacobische und Fichtische Philosophie zu deren ausgeführterer Gegeneinanderstellung wir jetzt uns wenden.« 21 bringt] so auch Hegel; D: bringen

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Ueber diesen zweyten Auftritt, in welchem ich, wenn auch nicht als die Hauptperson erscheine (denn keiner von uns dreyen ist es, wir sind gleich) doch vornehmlich gemeint bin und weit die längste Rolle habe, so daß ich, nachdem ich aufgetreten bin, gar nicht wieder zum Abtreten gelange, von Pagina 63 an bis Pagina 188, behalten Sie noch einige Anmerkungen zu gut. Ich habe mich in diesem Briefe schon über einen Posttag hinweggeschrieben; ich wag es nicht über den zweyten, in die vierzehn Tage hinein. Sehen Sie unterdessen nach, wenn Sie es nicht schon gethan haben, und zwar auf das genaueste und pünktlichste, wie die in dem Aufsatze über Glauben und Wissen gegebenen Beyspiele meines und Ihres falschen Citirens beschaffen sind. Die|ser Vorwurf allein darf nicht unbeantwortet bleiben. Wenn keine Druckfehler eingeschlichen sind, so weiß ich, daß er unverantwortlich ist, und in jedem besonderen Falle die vorsätzliche Schikane muß augenscheinlich gemacht werden können.1 Verdrüßlich ist die Arbeit, | die ich Ihnen zumuthe, aber nicht schwer, da alle meine Belege klar und entscheidend sind, und ich nichts, als Kantische Lehre, vorgetragen habe, was ich nicht durch solche ganz vollkommene Belege doppelt und dreyfach zu rechtfertigen im Stande war. Eine ganz eigene Verkettung von Umständen hat es mir möglich gemacht, und konnte allein es mir möglich machen, die wenigen Bogen meines Aufsatzes so auszurüsten, wie sie ausgerüstet sind. Ohngefähr zehn 1

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Bey der vorgeblich falschen Citation, welche Hr. Hegel (Glauben und Wissen S. 121.) als hauptsächliches Beyspiel anführt, »bis zu welchen hämischen Verdrehungen der blinde Haß gegen das Vernichten der Zeitlichkeit und der heilige Eifer für die gute Sache der wirklichen Dinge treibt,« hat Köppen in seiner Widerlegung die Schelling-Hegelsche Selbstwiderlegung vernachlässigt. Es gilt die Behauptung, d a ß d i e V e r n u n f t i d e e n i m K a n t i s c h e n Systeme keine Realität haben. Hr. Hegel schlug bey Kant nach, und fand, daß wir hämisch verdreht hatten. Wir schlagen bey Hr. Hegel nach, und finden bey ihm folgende Aussagen. »Nach Kant hat die höchste Idee nicht zugleich Realität.« (S. 4.) »Die Kantische Philosophie geräth beyläufig auf Ideen, welche sie bald genug als bloße leere Gedanken fallen läßt,« (S. 22.) »Die leere Einheit als praktische Vernunft soll wieder konstitutiv werden, aus sich selbst gebähren und sich einen Inhalt geben; die Idee der Vernunft wird am letzten Ende wieder rein aufgestellt, aber wieder vernichtet, und als ein absolutes Jenseits in der Vernunftlosigkeit des Glaubens, als ein leeres für die Erkenntniß gesetzt.« (S. 42.) »Daß die Vernunft als reine Einheit ohne Anschauung leer ist, erkennt Kant durchaus und allenthalben.« (S. 42.) »Die Kantische Auflösung der dynamischen Antinomien ist eine | vollkommene Zertretung der Vernunft, über welche der 237 Verstand seinen Jubel hat, indem er sich als das Absolute dekretirte.« (S. 47.) u.s.w.

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Jahre lang stand ich da, der einzige Antikantianer meiner Art; denn, verglichen mit den andern Gegnern dieser Schule, war ich selbst Kantianer. Meine Einwürfe wider den transscendentalen Idealismus in dem Gespräche David Hume, und die besondere Erörterung desselben in der Beylage, die zehn Jahre später so oft angeführt und so nachdrücklich gelobt worden ist, machten, zu der Zeit ihrer Erscheinung, keinen merklichen Eindruck. Eben so ging es den in demselben Geist verfaßten Abhandlungen und Zusätzen in der neuen Ausgabe der Briefe über die Lehre des Spinoza. Die Kantische Philosophie gewann immer mehr Anhänger, und erhob sich zu einer fast unumschränkten Herrschaft. Unter solchen Umständen blieb mir wider das Zagen des Mistrauens ge|gen mich selbst keine andere Hülfe, als mir eine über alle Zweifel erhabene Gewißheit zu verschaffen, daß ich, nicht allein das System, sondern auch die Ueberzeugung des Erfinders und seiner Jünger von der Wahrheit und Unwiderleglichkeit desselben ganz durchschaue. Durch- und aus-gerechnet im strengsten Sinne habe ich in dieser Absicht die Kantischen Hauptwerke mehr als einmal, bis ich durch vollendete Gleichungen mich in einen solchen zuverlässigen Besitz der alle Produkte producirenden Hauptfactoren des gesamten Inhalts gesetzt hatte, daß ich nun ohne Mühe, auf die verschiedenste Weise und so oft ich wollte, aus diesem jene, und aus jenen diesen heraus und wieder hinein rechnen konnte. Einen Auszug dieser vieljährigen Arbeit giebt der Aufsatz in den Reinholdischen Beyträgen; und nichts in der Welt kann lächerlicher seyn, als das Schreyen, Schmähen, Poltern und Pochen, u.s.w. u.s.w. das die Herren Schelling und Hegel darin gelesen haben wollen. W i r klich zu lesen ist da nichts als der heitere Muth und Ton eines Mannes, dem seine Materie geläufig ist, dem sie, unter der Behandlung, zum Spiel wird, daß er mit Leichtigkeit mannichfaltig sie wendet, ausführt und darstellt. Aber eben diese Mannichfaltigkeit der Wendungen, diese wiederholte Entblößung und zergliedernde Darstellung eines Grundirrthums, den das Schellingische System | mit dem Kantischen gemein hat, ist das Bittere und Böse, das Schreyende und Zeterschreyende, was der heillose Aufsatz in den Beyträgen thut, und die Kapucinade im Taschenbuch, böslicher Weise, nur noch mehr unter die Leute zu bringen wahrscheinlich gesonnen ist. Hätten jene Vorwürfe auch nur einigen Grund, so wäre damit allein schon alles wider mich entschieden; ich brauchte nicht erst gerichtet zu werden, ich wäre schon gerichtet durch mich selbst.

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Denn wo Wahrheit ist, da ist Ruhe; wo keine Ruhe ist, sondern lauter Ungestüm, da ist zuverlässig keine Wahrheit. Freudig mag ich dies bekräftigen. Mit dem ersten mir im Bewußtseyn gebliebenen Gedanken habe ich die Wahrheit gesucht, und später ihr nachgetrachtet mit allen meinen Gedanken; aber wie damals nicht, so auch zu keiner folgenden Zeit aus einer nur eitelen Begierde mich mit ihr, als mit etwas von mir entdecktem, oder das aus mir selbst zuerst hervorgegangen wäre, blos zu schmücken. Ich bedurfte einer Wahrheit, die nicht mein Geschöpf, sondern deren Geschöpf ich wäre. Fülle sollte sie geben meiner Leerheit, Licht bringen in die mich umgebende Nacht, es tagen lassen vor mir und in mir, wie ich es in meinem Inneren mir verheißen fand. Ich ging aus von diesen Verheißungen, und war nicht gleichgültig in Absicht dessen, was zu meiner Erkenntniß kommen möchte, wenn es nur überall | Erkenntniß wäre. Jenes r e i n e n V o r w i t z e s darf ich mich daher nicht rühmen, der, nach den Urtheilen der großen Männer dieser Zeit, der allein wahre Geist der Philosophie, so wie seine jedesmal nur täuschende, ins Unendliche hinaus sich verschiebende Befriedigung, ihre ganze Absicht ist; sondern des allein, daß ich mich gegen meine eigenen Vorurtheile mistrauischer als gegen keine andere, und im Prüfen überall unbefangener als die blos vorwitzigen Philosophen bewiesen habe. Es ist von diesen auch zu viel gefodert, wenn man sie unbefangen haben will. Ganz uninteressirt in Absicht des O b j e k t s : muß nicht das S u b j e k t ihnen alles, und, wie die Unpartheilichkeit an jener Seite vollkommen, so die Partheilichkeit an dieser unendlich werden? – Vielleicht aber bringt die n e u e s t e Entdeckung hier einen Unterschied zu Wege, da, nach ihr, der reine Vorwitz nicht mehr auf eine höchst unvollkommene, blos zeitliche und vorübergehende, wirklich ihm ganz unadäquate, unreine Weise, wie bisher; sondern auf eine vollkommene, absolut ewige, auch ihm durchaus adäquate und ganz reine Weise befriedigt wird, und, so zu sagen, eine wirkliche Stillung desselben endlich zu Stande gekommen ist. Wird nicht jetzt die Unpartheilichkeit von Seiten des Objekts die Partheilichkeit an der Seite des Subjekts eben so verzehren und vernichten können, wie es | die absolute Unendlichkeit mit der absoluten Endlichkeit schon gethan hat? Es heißt in der That so; und daß man die neueste Entdeckung nur auf die rechte Weise anzuwenden habe, um, zwischen den zwei Stühlen des Objekts und Subjekts, in der absoluten Mitte

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einer absoluten Indifferenz von beyden, den rechten Sitz zu finden; einen Sitz, auf welchem man sogleich den Furcht- und Hoffnungs-losen Göttern ähnlich werde, und das ganze Geheimniß ihrer Allgenugsamkeit, Gleichgültigkeit, Bedürfnißlosigkeit, unaussprechlicher Seeligkeit, Erhabenheit und Majestät erfahre. Ich wünschte, mir erschiene von allem diesen, fürs erste, nur einmal die Erhabenheit und Majestät allein! – Wie der bloße, reine Vorwitz, mit einer aus sich selbst erzeugten reinen Sättigung (müßte man auch noch so sehr die Kunst bewundern!) je Erhabenheit und Majestät gewinnen könne, ist mir unbegreiflich. – Immer fällt mir die Fabel vom Frosche ein, und wie es noch viel weniger gelingen müsse, daß ein Mensch zum Gott sich blähe. Leben Sie wohl! In der nächsten Woche hoffe ich eine zweyte schriftliche Lustreise zu Ihnen anzutreten. den 16ten August.

10 Majestät] so Dv; D: Mejestät

Jacobi.

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An Denselben. Zweyter Brief.

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Eutin den 21. August 1802.

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Ich weiß nicht, mein liebster Köppen, ob Sie sich einer n i c h t empfindsamen Anekdote von einem Bienenvater aus Jean Pauls Hesperus erinneren, dem das Geheimniß der Dreyfaltigkeit so lange viel zu schaffen machte, bis er zu Nürnberg einen Dreyfaltigkeitsring mit der Inschrift antraf: Hier dieser Ring der weist, wie drey in einem heißt, Gott Vater, Sohn und Geist. Auf einmahl war ihm nun geholfen, und er sagte ohne Scheu, d a ß e i n e r e i n V i e h s e y n m ü ß t e , w e n n e r e s j e t z t n i c h t b e g r i f f e. Ein ähnliches aber noch viel größeres Glück ist Schellingen durch Auffindung der Linie: + A=B

+ A=B A=A

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| Abgekürzt:

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A

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widerfahren, die ihm zwar Anfangs auch nur als ein Bild erschien, unter dem man sich vorstellen, und an dem man begreifen könne; die aber gleich darauf das Bildliche von sich that, und als die Sache selbst, eine entschleierte Isis ohne jene bekannte und jetzt nicht mehr e r h a b e n zu nennende Inschrift, sich darstellte. Beugt man diese Linie von der absoluten Mitte C aus vorsichtig zum Ringe, so werden die zwey entgegengesetzten schon magnetisch identischen Pole auch absolut identisch, und man besitzt alsdann an dieser auf solche Weise zum Ringe gefügten Linie einen Talisman, der alles, was je von dem Salomonischen gerühmt worden ist, unendlich übertrift. Man stecke ihn nur an den w a h r e n Finger, und man wird sehen das ganze Universum sich sogleich in Nichts verwandeln. Darum aber wird es doch keinesweges zu Nichts, sondern alles ist nun im Ringe, und wird in ihm erst wahres Universum, das ist, selbständige Natur. Der wahre Finger aber ist allein der große mittlere. Kant, dessen Princip der synthetischen Einheit nichts anders, als eben dieser von ihm aber nur implicite

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erfundene Ring ist, steckte ihn an den kleinen Finger, | und es konnte ihm nichts helfen.1 Fichte steckte ihn gar an den Daumen, und schlug diesen ein, das war vollends verkehrt.2 Alle Erfinder apriorischer Systeme, wenn diese Systeme wirklich ganz a priori, Philosophieen wahrhaft aus einem Stück, seyn sollten, haben das Wort gesucht, durch welches von Ewigkeit her alle Dinge gemacht sind. Sie suchten es, um es in ihren eigenen Mund zu nehmen, mit ihrer Zunge seine Buchstaben von einander zu sondern, und es sich und andern vorzubuchstabiren, gerade so wie jedes andere buchstäbliche Wort. Vor Schelling aber standen sie mit einander (den einzigen Spinoza vielleicht ausgenommen) in dem Wahn, es müsse dieses Wort schlechterdings ein einsylbiges, ja die Einsylbigkeit selbst, und alles Zweysylbige, obgleich durch das Einsylbige bedingt, diesem absolut entgegengesetzt seyn. Sie bestanden hartnäckig darauf, und obgleich es sich bey ihrer Zungenarbeit immer zeigte, daß sie mehr Buchstaben im Munde hatten, als sich einsylbig aussprechen ließen; so wurde ihnen ihr Vorurtheil dadurch doch nicht verdächtig, sondern sie versuchten nur auf allerley Weise das Zuviel der | Buchstaben künstlich zu verschlukken. Die wahre Methode dieses Verschluckens, meynten sie, wenn man sie entdeckte, würde die Entdeckung des wahren Wortes selbst, (der unbedingten alles bedingenden reinen Einheit und absoluten Allgemeinheit) einer jenseits aller Aposteriorität bestehenden unabhängigen Apriorität, also auch des einen und alleinen Grundes aller Dinge seyn. Schelling, obgleich er frühe genug mit Spinoza bekannt wurde, verfiel doch auch in diese Versuche, und behauptete streng, die nothwendige Einsylbigkeit des ursprünglichen Wortes. Desto heller ist aber jetzt seine Einsicht in die nothwendige Zweysylbigkeit, in das 1=2, und 2=1 desselben geworden. Wer nur Augen hat zu sehen, dem kann er nunmehr weisen und beweisen, daß eine ursprüngliche, producirende, ein Vieles und Mannichfaltiges begründende Einheit, unmöglich eine r e i n e Einheit seyn kann; denn das einfache Eins bleibt ewig nur einfaches Eins. Ist also Zwey, so ist dieses Zwey nothwendig auch ein ur1 2

s. Glauben und Wissen, Abschnitt A, Kantische Phil. S. 22–62. ibid. nebst dem Abschnitt C, Fichtesche Philosophie, S. 138–188.

37 ibid. nebst dem] ibid. ibid. nebst dem dem

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sprüngliches Zwey. Nun kann aber Z w e y nicht ursprünglich seyn, als Eins und noch einmal Eins: es gäbe alsdenn weder ein absolutes Eins, noch ein nothwendiges Zwey; überall kein Unbedingtes, folglich auch kein Bedingtes; überall nichts. Wenn | also beydes seyn soll, so muß in der Einheit ursprünglich D u p l i c ität, Eins muß äqual Zwey, Zwey äqual Eins, und überall keine andere E i n h e i t seyn als diese Aequalität, die eine absolute Identität, das allein Ursprüngliche und Ewige, das Seyn und Wesen an sich, mit einem Worte Alles in Allem – Selbstständige Natur ist. Ich weiß nicht, ob der geistreiche Mann nur seine Zuhörer und Leser, oder wirklich auch sich selbst zum Besten hat, wenn er, als ob nur von einer S c h a r a d e die Rede wäre, das große Räthsel damit gelöst haben will, daß er uns sagt: das W o r t des Räthsels ist: Selbstständigkeit der Natur: die e r s t e Sylbe heißt W e s e n , oder S u b j e k t , oder Unendlichkeit; die letzte, Form, oder Objekt, oder Endlichkeit; die mittlere, Aequalität, Identität, gegenseitige Indifferenz von beyden, Subjekt-Objektivität; dreysylbige Einsylbigkeit das Ganze. Doch man beweiset uns ja auch, daß jenes Räthsel nur eine Scharade seyn k o n n t e ; daß es durchaus sich auflösen lassen mußte in ein bloßes W o r t . Ist nicht unser Vermögen der Einsicht von unserem Vermögen selbst hervorzubringen durchaus abhängig; ist nicht jene diesem überall vollkommen gleich, und können wir | wohl irgend etwas anderes im eigentlichen Sinne selbst hervorbringen, als Worte, (Begriffe) Zeichen, (Bilder oder Gleichnisse) Gebärden, (Bewegung überhaupt)? Es ist also unwidersprechlich, wenn das Räthsel von dem Ursprunge und Bestehen der Dinge, deren Inbegriff wir Welt, Natur oder Universum nennen, menschlich gelöst werden sollte, so mußte dieses Räthsel ein blos wörtliches oder figürliches seyn; alle Dinge mußten von Ewigkeit her wirklich hervorgebracht seyn durch ein Wort im eigentlichen Verstande, das sich schreiben und aussprechen, nachsprechen und nachschreiben ließe, mit immer gleichem Effekt. Das Räthsel mußte aber menschlich durchaus zu lösen seyn, wenn Philosophie, d. i. menschliche Vernunft sich behaupten sollte. Denn ist mensch15 Selbstständigkeit] Selstständigkeit 16 letzte,] D: letzte Dv: statt die letzte l[ies] die letzte, 30 so mußte] D: mußte Dv: statt muste l[ies] so muste

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liche Vernunft nicht gleich der absoluten Vernunft, und ist absolute Vernunft nicht höchstes und alleiniges Princip, so daß alles aus ihr, und sie allein in Wahrheit alles ist: was könnte dann unter Vernunft überhaupt und was unter einer besonderen blos menschlichen verstanden werden? So gewiß also Vernunft ist, und so gewiß, wenn nichts ü b e r ihr ist, auch nichts a u ß e r ihr, und wenn nichts außer ihr, auch nichts unter oder neben ihr seyn kann: so gewiß sind Materie und Intelligenz, Objekt und Subjekt, Producirendes und Producirtes, Identität und Diversität Eines und Dasselbe, und die | a b s o l u t e Vernunft ist nichts anders, als die absolute Indifferenz und Aufhebung jener Entgegengesetzten. Die Linie A

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ist fertig; in ihr, mit ihr, und durch sie, ist die sich selbst und alles erschaffende Natur erschaffen. Jeder kann den Versuch selbst machen. Man stelle sich auf den Indifferenzpunkt C und wende sich nach A, so wird man im A zugleich das B (A=A) erblicken; man wende sich nach B, eben so im B zugleich das A, (abermals A=A) also zu beyden Seiten Duplicität in der Identität, und Identität in der Duplicität. Es giebt daher offenbar weder ein A als A, noch ein B als B, sondern nur lauter A=B, welches ist lauter A=A in C. Dieses C aber ist weder A noch B, weder A=B, noch A=A, sondern das alleinige von Objekt und Subjekt unabhängige bloße I s t , welches bloße I s t von einem ursprünglichen oder absoluten S e y n wohl unterschieden werden muß; denn dieses darf überall nicht als etwas das Realität und Wahrheit hätte, gesetzt, also noch weniger darf von demselben ausgegangen werden, es ist ein Unding; wohl aber muß ausgegangen werden von einem absoluten I s t , dem entgegengesetzten des Undinges S e y n , und zwar nothwendig. Alles Was ist, ist endlich, unwesen|haft, vergänglich; es ist nicht, in so fern Es ist, und ist nur, i n s o f e r n es ist, bloß das I s t . Das bloße von allem Subjekt und Objekt ganz unabhängige und darum allein ganze, totale, absolute Ist, welches selbst ebenfalls und eben so wesentlich n i c h t ist, sondern nur gedacht werden muß als das selbstständige, eben so wenig aus sich heraus als in sich hinein tretende schlechterdings unbestimmte und unbestimmende I s t , ist 7 ihr2] so Dv; D: ist

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das schlechthin Unendliche und Ewige, das allein Selbstständige und Reale, das Wesen aller Wesen, Eines und Alles; absolute Identität, absolute Totalität: Universum. Wie die selbstständige Natur, die nur ein Werden eines Werdens, aber deswegen in Wahrheit auch k e i n Werden; nur ein Thun eines Thuns, aber darum in Wahrheit auch nichts weniger als ein Thun ist, sich von Ewigkeit zu Ewigkeit in ein Werden setze, dem der Philosoph nachzusetzen hat; und in einem Thun verharre, welches der Philosoph nach zu thun wissen muß; findet sich in Schellings erstem Entwurf zu einer Philosophie der Natur, und der darauf gefolgten Einleitung zu demselben ausführlicher und deutlicher schon dargelegt und entwickelt. Ich habe diese Schriften in diesen Tagen zum erstenmal gelesen, und bin von der Wahrheit der Schellingischen Aussage in dem Vorbe|richt zu seiner Identitätslehre, (in dem zweyten Bande des zweyten Hefts der Zeitschrift für spekulative Physik) die ich ebenfalls erst jetzt, aber vor den beyden andern gelesen, vollkommen überzeugt worden, daß ihm zu der Zeit, da er sein System des transscendentalen Idealismus, und seinen Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, als zwey verschiedene von einander unabhängige Wissenschaften vor das Publikum brachte, die Totalität seiner Lehre, nehmlich das System der absoluten Identität, schon beywohnte. Es läßt sich die Wahrheit jener Aussage sogar demonstriren. Denn nach Schellings ausdrücklicher Behauptung in der Einleitung, geht die spekulative Physik auf das, was an dem Objekte nicht objektiv, so wie der transcendentale Idealismus auf das, was an dem Subjekte nicht subjektiv ist. Wenn also beyde da ankommen, wo sie ankommen wollen, so fallen sie, sich einander begegnend, in einander, und es bleibt nicht einmal eine Identität b e y d e r , (denn so läge immer noch Verschiedenheit im Hinterhalt) sondern nur absolute Identität, Indifferenz an sich übrig = Vernunft = Universum. In den älteren Philosophieen war die Frage von dem E t w a s , worin es bestehe und woher es komme, von der Realität und ihrem Grunde. In der Schel|lingischen Philosophie findet sich hierüber alles schon am Eingange ausgemacht; alle Realität mit ihrem Grunde, das Gesamte mit der Gesamtheit ist da, und die einzige augenblickliche Verlegenheit entsteht über dem Nichts, woher dieses komme und wodurch es bestehe. Im voraus erwiesen ist, daß alles W a s ist, nichts ist, und daß von dem Seyn schlechterdings nicht ausgegangen werden darf. Woher also das Seyn = Nichts,

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welches die Natur zur Hälfte ausmacht, und wie der Leib ihrer Seele angesehen werden muß. Offenbar hat das Nichts aus der Realität hervorgehen müssen, denn aus dem Nichts kann auch selbst das Nichts nicht einmal hervorgehen. Aber auch aus der Realität hat es nicht hervorgehen können, weil aus der Realität unmöglich ihre Negation, weder als ein Zeitliches noch als ein Ewiges, je hat entspringen können. Es kann überhaupt nichts heraus treten aus dem Unendlichen, da kein Außer demselben vorhanden ist. Auch ist es wider die Natur des Nichts, daß es aus irgend etwas heraus trete und bestimmt hervor gehe. Es muß deswegen angenommen werden, was einige Kabbalisten schon geahndet und auf ihre Weise darzuthun gesucht haben, nehmlich, daß die unendliche Realität, das reine, durchaus homogene, ungetrübte Licht, sich zusammen gezogen, und dadurch in sich einen leeren Raum, die Finsterniß, erzeugt habe. In | diese Finsterniß ergoß sich nun das Licht; es entstand ein Mittleres, das, in ewiger Bewegung, Organisationen allerley Art, die mannichfaltigsten Verhältnisse von, wechselsweise, bald überwiegendem Licht, bald überwiegender Finsterniß, aus sich selbst entwickelte, und in sich selbst (sich selbst in sich selbst nur aus und einathmend) beschloß. Bey Schelling geht die Sache freylich etwas anders zu, aber dies gemeinschaftliche bleibt: daß alles was ist, 1–1+1= 1/2, ein Mittleres der Natur zwischen ihr selbst und dem Nichts ist. Das Räthsel von dem Daseyn einer Welt wird durch diese Formel gelöst. Die Welt wird der Inbegriff desjenigen genannt, was die Natur aus sich hervor bringt; jene, sagen wir, ist das P r o d u k t , diese das P r o d u c irende. Da die Welt ein Produkt der Natur ist, so muß das Wesen der Natur Produktivität seyn. Nun kann aber diese, da sie das absolut Unendliche ist, sich nicht selbst verdoppeln, oder auch nur im mindesten vermehren; sie muß also, weil sie eben so nothwendig producirend, das ist geschäftig, als nothwendig unendlich, das ist geschäftlos ist, damit doch etwas gethan werde, sich in sich selbst theilen; ihrer Produktivität eine Antiproduktivität, ihrer Positivität eine Negativität, ihrem schaffenden Vermögen ein vernichtendes entgegensetzen, kurz den Widerspruch als einen Ursprung erzeugen, damit | aus ihm Unendliches auf eine unendliche Weise sich immanent entwickele. Man erschrecke nicht und fürchte sich nicht, sondern erwäge nur, daß, wenn nicht das Positive aus dem Negativen entsprungen seyn soll, welches ein offenbar ungereimter Gedanke wäre,

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nothwendig das Negative aus dem Positiven, das negative Schaffen aus dem positiven Vernichten hat entspringen müssen. Dieses Vernichten ist aber in Ansehung der Natur in Wahrheit kein Vernichten, sondern nur ein Zerfallen des ursprünglichen Eins in einen Bruch von gleicher Quantität des Nenners und Zählers. Vermöge dieses Bruches stellt sie sich der intellektuellen Anschauung dar, als die Identität der Identität und Nicht-Identität, des Halben und Ganzen, der Bewegung und Ruhe, des Unbestimmten und Bestimmten, des Unendlichen und Endlichen, des Producirenden und Producirten, des Schaffenden und des Vernichtenden, mit einem Worte, aller Gegensätze wie sie Namen haben mögen. Käme sie je aus dem Gleichgewicht ihrer Selbstentzweyung, so daß entweder die Produktivität über das Produkt, oder das Produkt über die Produktivität die Oberhand gewönne, so würde es mit der Natur alsbald ein Ende nehmen. Damit dieses nicht geschehe, müssen Schöpfer und Geschöpf, wie zwey | Mächte von gleichem Range, sich einander die Wage und gegenseitig in gebührenden Schranken halten. Das einseitige Interesse des Geschöpfs oder des Produkts ist, daß es zu Ende geschaffen oder vollendet werde: sollte aber dieses geschehen, so müßte die Produktivität ganz übergehen in das Produkt, der Schöpfer vom Geschöpfe sich verschlingen lassen. Das kann der Schöpfer nicht wollen; er widersetzt sich also und begegnet dem einseitigen Interesse des Produkts mit seinem (der Produktivität) eben so einseitigen Interesse, welches – obgleich keineswegs antiproduk-tiv, doch ganz und gar – anti-produktisch ist. Das Interesse der Produktivität heißt mit seinem eigenthümlichen Namen Gestaltlosigkeit, Unform; das Interesse des Produkts Gestalt, Form. In dem Widerstreit dieser zwey real entgegengesetzten Tendenzen besteht die Natur; und da sie nothwendig ihn erregt, und nothwendig ihn im Gleichgewicht erhält, so offenbart sich das Werk ihrer Allmacht als ein ebenmäßiges W o l l e n u n d n i c h t K ö n n e n von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sie mußte, um zu k ö n n e n , in sich ein Nichtkönnen erregen, ihrer Produktivität eine H e m m u n g einverleiben. Ihr Wesen ist daher Identität und Indifferenz des Könnens und Nichtkönnens: reine, durchaus gleichgültige Geschäftigkeit. Sie will weder Gestalt noch Ungestalt, son|dern absolut ein W e d e r d a s E i n e n o c h d a s A n d r e ; sie will absolut das, was nie werden kann, 24 welches] so Dv; D: welche

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damit ein ewiges Werden und n u r dieses sey. Ein hermaphroditischer ewiger Beyschlaf ohne Erzeugung ist ihr wahrhaftes Leben und Weben. Sie dualisirt sich, in so fern sie sich dualisirt, einzig und allein, um diesen Zustand eines simulirenden Erzeugens hervorzubringen. Sie ist durch und durch lauter Z u s t a n d . Ginge ihre Thätigkeit auf irgend etwas andres als auf die bloße Thätigkeit, als solche, so wäre sie eingeschränkt durch ihre Absicht, der Schöpfer wäre im Dienst des Geschöpfs; seine Wirksamkeit eine eingeschränkte, bestimmte, endliche, keine absolute, durchaus freye. Die Thätigkeit der Natur hat daher keine andre Absicht als sich selbst: S u b j e k t - O b j e k t i v i t ä t a l s s o l c h e u n d o h n e W e i t eres. Mit dieser Subjekt-Objektivität erhält das W e s e n der Natur seine F o r m , und diese Form ist Entzweyung, Duplicität, Dualität, eine gleiche Antipathie des Wesens gegen die Form, und der Form gegen das Wesen. Einzig und allein vermöge dieser Antipathie kann die Natur wirksam seyn, das heißt, sich mit sich selbst zu schaffen machen. Antipathie mit Sympathie, und Sympathie mit Antipathie ist demnach das Grundgesetz der Schöpfung; die Schöpfung selbst aber nichts weniger und nichts mehr als eben dieses Gesetz in seiner | Erfüllung. Der erhabene G e i s t desselben ist, daß eben so wenig irgend etwas entstehe, als irgend etwas vergehe. Alle sogenannten Produkte der Natur sind daher nur Scheinprodukte, lauter mißlungene Versuche eines unzulässigen Sprunges aus dem Flüssigen der Produktivität in das Feste des Produkts; eines Sprunges, der nothwendig immer zu kurz gerathen und daher zurück gethan werden muß. Die Natur selbst springt weder vorwärts noch rückwärts, sondern bleibt in der absoluten Mitte des Vorwärts und Rückwärts ewig gleichsam auf dem Sprunge stehen. Entstünde je in Wahrheit etwas, so verginge in Wahrheit alles, denn auf das ewige Nicht-Seyn ist alles gegründet. Aufgedeckt ist hiermit das Gesamte der Natur, und alles wird mit einemmale eingesehen durch die Einsicht in die Nothwendigkeit des Widerspruchs als eines absolut Ersten, als des alles bedingenden schlechthin Unbedingten. Die frühere Entdeckung dieser großen Wahrheit, mit der eine Philosophie aus Einem Stück, eine wahrhaft apriorische, zugleich gefunden ist, hat der V e r s t a n d allein bisher verhindert, indem er den Widerspruch eben so sehr haßt, als die 6 andres] so Dv; D: anders 17 Sympathie,] so Dv; D: Sympathie sche] so Dv; D: a priorische

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Vernunft ihn lieben, ihn zum Freunde haben, ja mit ihm ein Herz und eine Seele werden muß. Sie muß ihn aber also lieben und sich zum Freunde machen, weil sie eine Philosophie aus einem Stück schlechter|dings fordert; die Philosophie aus einem Stück aber eben so schlechterdings die absolute Identität des Identischen und Nicht-Identischen, des Apriorischen und Aposteriorischen, der Antithesis und Synthesis, oder der Antipathie und Sympathie – mit einem Worte, die absolute Identität von allem, was sich in den mit Verstand behafteten Philosophieen, als absolut entgegengesetzt fälschlich darstellt. Damit die Vernunft aufgehe, muß der Verstand untergehen. Sobald dieser untergegangen ist, wird man gewahr, daß mit ihm das Nichtwissen verschwunden, und ein Alleswissen der Vernunft allein aus sich selbst an die Stelle getreten ist. Weiß man doch alles, wenn man den einen und alleinigen Grund von Allem weiß; und man weiß den einen und alleinigen Grund von allem, wenn man aus der Nothwendigkeit der identischen Voraussetzung einer selbstständigen Natur und allwissenden Menschenvernunft weiß, daß ein sich selbst widerstrebendes Streben, eine Expansion die eine Kontraktion, eine Kontraktion die eine Expansion ist, Alles u n d Alles, und außer dieser das Alles u n d Alles schlechterdings allein ausmachenden antiproduktiven Produktivität und produktiven Antiproduktivität, nichts ist. Auch soll das Versinken in dieser Alleinsicht von einer solchen allgenugsamen Anschauungs- und Betrachtungsseligkeit begleitet seyn, daß der diesen Zustand Kostende sich | tief in die Erde hinein schämen würde, über ihn hinaus noch irgend einen anderen Wunsch zu hegen. Da Schelling den hier treulich ausgezogenen ersten Entwurf zu einem System der Naturphilosophie mit der dazu gehörigen Einleitung schrieb – wie sollte er nicht schon damals den vorher erwähnten Ring aller Wahrheit und Weisheit am Finger, und zwar am rechten, getragen haben; da sogar Kant, wie es sich nun entdeckt hat, ihn schon an seiner kritischen Hand getragen, und nur unbesonnen an den unrechten, den kleineren Finger gesteckt hatte. Dieser, zu dünne für den Ring, und dabey so kurz, ließ ihn oft herabgleiten, und so oft er herabglitt, entstand eine Inkonsequenz, ergab sich ein Irrthum.1 Ganz unstreitig sind Objekt und Subjekt, nach Kants Lehre, in Beziehung auf Realität, d. i. vor der Vernunft, 1

s. Glauben und Wissen, Abschn. A. Kantische Philosophie S. 22–62.

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Eines und Dasselbe, und werden blos im Verstande, d. h. im Gebiete der Erscheinung von einander unterschieden. Von rechtswegen müßte sich also vor der Vernunft auch der absolute Gegensatz von beyden aufgehoben finden; das Objekt müßte sich als ununterscheidbar vom Subjekt, das Subjekt als ununterscheidbar vom Objekt | überall darstellen, so daß beyde, im Nicht-Empirischen gänzlich verschwindend, nichts übrig ließen, als die Ununterscheidbarkeit als solche, Aequalität als solche; absolute Indifferenz, absolute Identität, die Kopula an sich, als selbstständige Vernunft und selbstständige Natur in einem und demselben unendlichen Wesen des ursprünglichen Konstruirens, welches ist ein ursprüngliches Urtheilen, welches ist die Identität des Wesens und der Form, und wieder und immer wieder die selbstständige von Subjekt und Objekt unabhängige Kopula an sich, als ein Wesen aller Wesen. Gerade dieses habe ich in meiner Abhandlung über das Unternehmen des Kriticismus in das helleste Licht zu stellen mich bemüht, folglich aus der Kantischen Kritik die Schellingische Philosophie, ohne zu wissen daß es die Schellingische war, ja ohne daß diese, wenigstens öffentlich oder explicite noch von sich selbst wußte, hervorgezogen. Lange zuvor, in der Beylage zu dem Gespräche über Idealismus und Realismus, hatte ich gezeigt, daß Kanten das wahrhaft Objektive, welches er voraussetze und seinem System zum Grunde lege, unter den Händen verschwinde; und zuletzt im System wider den anfänglichen Willen des Systems heraus komme: daß es für die menschliche Erkenntniß gar nichts wahrhaft Objektives gebe | noch geben könne. Fichte, einige Jahre später, bestätigte meine Bemerkungen; behauptete aber zugleich, daß mit dem Kantischen Objektiven nichts verloren gehe; man reiche vollkommen aus mit dem absolut Subjektiven, es bedürfe das System der Wahrheit keines anderen Bodens. Mir wollte das nicht einleuchten. W i e es mir nicht einleuchte, erklärte ich bey Gelegenheit öffentlich in einem Schreiben an diesen von mir aufrichtig bewunderten Tiefdenker und bideren Forscher. Vollständiger habe ich mich darüber jetzt in der Abhandlung über das Unternehmen des Kriticismus geäußert, und gleich im Vorberichte angemerkt, daß von rechtswegen im Kriticismus mit dem O b j e k t auch das Subjekt verschwinden, und die Kopula allein als wahres an sich, 34 bideren] D: biederen Dv: statt bieder l[ies] bider

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als selbstständige Realität übrig bleiben müsse. Etwas zuvor hatte Schelling, der bis dahin mit Fichte wie Hand in Hand gegangen war, in seinem Entwurf zu einer Philosophie der Natur einen ihm eigenen verschiedenen Weg angetreten. Es konnte aber damals noch scheinen, als wollte er, indem er dem transcendentalen Idealismus einen transscendentalen Realismus dergestalt gegen über stellte, daß es gleichgültig wurde, ob man von diesem oder jenem ausginge, um beydes zusammen und die ganze Wahrheit zu erhalten, nur dem idealistischen Papiergelde, um seinen Kredit zu erhöhen, in der Natur ei|nen Fond anweisen, der es verbürgte, und durch den es sich unmittelbar und ohne den mindesten Verlust realisiren ließe. Daß beydes transscendental seyn mußte, die Waare so wie das Geld, verstand sich von selbst. Es kam also nur darauf an, den Werth in zwiefacher Gestalt zu haben, und dieses war leicht, wenn beydes, Geld und Waare, nur in Beziehung auf einander Realität, jedes aber für sich allein, außer dieser Beziehung, gar keine haben durfte. Der Eine absolute, seinem Wesen nach schlechterdings einfache Werth, brauchte sich dann nur formal zu entzweyen in blos relatives Geld und blos relative Waare, einzig und allein zum Behuf eines inwendigen Gewerbes. Dies geschah im System, und man lernet in demselben deutlich einsehen, daß die auf solche Weise entstehende Duplicität des absoluten Werthes mit nichten eine Duplikation desselben ist. Das transscendentale Geld wird erklärt aus der transscendentalen Waare; die transscendentale Waare dagegen unterworfen dem transscendentalen Gelde. (Einl. S. 3.) Sie bewahrheiten und realisiren sich gegenseitig an einander: das Geld, das zugleich Waare ist, an der Waare; die Waare, die zugleich Geld ist, am Gelde; beydes von der absoluten Mitte des Einen und Alleinen absoluten Werthes aus, der, wie wir gesehen haben, zwar unbegreiflich, aber n o t hwendig, und darum | vernünftig, sich in sich selbst entzweyen muß, damit W a a r e und G e l d , ein Ideelles und Reelles, mit einer Unendlichkeit von bald so bald anders überwiegendem blos relativen plus und minus möglich werde. In der weder zu vermehrenden noch zu vermindernden Totalität des absoluten Werthes aber, heben sich alle diese plus und minus gegenseitig auf, und es bleibt nichts übrig, weder Geld noch Waare, noch Gewerbe, es ist dies alles blos »Gespenst,« nur blankes Papier, die offenbare Absolut15 nur] so Dv; D: uns

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heit des al pari. Man sieht, wie Schelling auf diesem Wege, hätte er auch anfangs nur eine Verwandlung der Papierscheine in Aßignate, nur zu dem Papiergelde auch eine Papierwaare gewollt, nothwendig zu seinem Identitätssystem emporsteigen, und indem er es als Wissenschaft aufstellte, sich eben so entschieden wider Fichte erklären mußte, als er wider Kant sich von Anfang an erklärt hatte. Es mußte gezeigt werden, wie es nicht genug sey, blos das Objekt, und nicht mit ihm zugleich auch das Subjekt aufzuheben; wie das eine entweder nicht schlechter, oder nicht besser seyn konnte, als das andre: wie durchaus beyde zugleich wegzuräumen, und dagegen einzusetzen sey die absolute Indifferenz und Identität beyder, als eine von beyden gleich unabhängige absolute Thätigkeit minus Thätigkeit, als ein bloßes Konstruiren von G r u n d aus, d. h. | wahrhaft aus einem wahrhaften Nichts des Handelns so wohl als des Behandelten – wenn nicht die Philosophie den Verstandespfahl des Dualismus oder des absoluten Gegensatzes des Endlichen und Unendlichen, den Seyns und des Nichtseyns, oder des Denkens, des Besondren und Allgemeinen, der Nothwendigkeit und Freyheit; vornehmlich aber eines Diesseits und Jenseits der Natur, eines Vernünftigen und über die Erkenntniß der menschlichen Vernunft Erhabenen, in ihrem Fleische tragen, und wie von einem Satansengel besessen, ewig sich selbst mit Fäusten schlagen sollte. Und Schelling hat offenbar Recht, er zuerst und allein, sobald die absolute Nothwendigkeit einer Philosophie aus einem Stück vorausgesetzt wird. Muß auch die Vernunft darüber selbst in Stükken gehen, wer kann helfen, und was kann es schaden? Sie fügt sich in dem E i n e n der Philosophie, der absoluten Identität, vollkommener, d. i. verstandeslos, wieder zusammen, und wird so erst wahrhaft sui juris. Ihnen mein Freund, brauche ich nicht erst zu versichern, daß ich hier nichts anders als meine aufrichtige Ueberzeugung schreibe; ja ich brauche es niemanden zu versichern, der nur mein Schreiben an Fichte gele|sen hat; da sich in demselben das Identitätssystem, als eine nothwendige Folge des Transscendentalismus vorläufig schon erwiesen findet.1 Es fehlte mir also, um in unsers 1

Die Herren Schelling und Hegel gönnen mir natürlich diese Ehre nicht, und versuchen Umwege, sie mir streitig zu machen, oder wenigstens doch zu verdunkeln. Sie sagen: (Glauben und Wissen S. 156–158.) ich hätte das Fichte23 sobald] sobalb

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Schellings Augen vollkommen zu seyn, wohl nichts, als nur die Annahme des Postulats: absolute Unterwürfigkeit der Vernunft unter die absolute Nothwendigkeit einer Philosophie aus einem Stück. Die Argumentation argumentirt für dieses Postulat eben so bündig, wie die römische Kirche für ihre Ein|heit, Unfehlbarkeit und unbedingte Autorität. Katholiken haben mich einen positiven Antichristen gescholten, weil ich ihnen die Bündigkeit ihrer Schlüsse nach der Voraussetzung einer absolut positiven und durch absolute Positivität allein seligmachenden Religion zugab, und doch nicht katholisch wurde. Eben so schelten mich Schelling und Hegel einen positiven Antiphilosophen und Vernunftwidersacher, weil ich die Bündigkeit der Schlüsse für das Identitätssystem, nach vorausgesetzter Nothwendigkeit einer durchaus apriorischen Philosophie, einräume, es spekulativ sogar anticipirt habe, und gleichwohl dasselbe nicht als die allein wahre Wahrheit anerkennen will. Sie können sich diesen Widerspruch nicht anders als psychologisch und moralisch aus einer Gemüthsfeigheit erklären, die mich vor dem Verlust meines endlichen Wesens bange seyn und niederträchtiger Weise ausschlagen läßt, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit, aus einem Zustande der Unwissenheit in einen Zustand der Allwissenheit überzugehen, und als das höchste Wesen selbst, (wenigstens pro rata) nichts mehr weder außer noch über mir zu haben. Ich könnte, meynen sie, recht gut vernünftig seyn, und beweise dieses oft genug;1 aber ich will nicht, weil mir, wie gesagt, vor dem Gedanken, mei|ne Endlichkeit und Zeitlichkeit einzubüßen, schaudert. Dieses, da es nur verächtlich ist, möchte noch hingehen; jenes aber, das wiederholte Beweisen des Könnens ist unausstehlich, und darf neben der Ausstellung des Nichtwollens nicht geduldet werden, weil es in schwachen Gemüthern wider die

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system, angesehen, da es in Wahrheit doch nicht aus dem Prinzip des allgemeinen Menschenverstandes heraus trete, sondern bleibend sich aufhalte in dem, was die wahre Philosophie am allerhöchsten (!) verschmähe. Zwar breche sie durch bis zur Unendlichkeit und zum Nichts, aber nicht durch dasselbe hin35 durch bis zur positiven vernünftigen Erkenntniß. Desto besser für mich, wenn es sich so verhält. Habe ich zwey Jahre vor der Bekanntwerdung des Schellingischen Systemes das Fichtesche dafür angesehen, so bin ich ja der Erfinder desselben. Mein Irrthum an Fichte war das Vorgeschäfte der Wahrheit, er entsprang mir aus ihrer Fülle; ehe denn Schelling war, 40 erblickte ihn mein begeistertes Auge. 1 Ueb. Glaub. und Wissen S. 89. 94. 112. 160. 161.

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unwiderstehliche Gewalt der Wahrheit Verdacht erregen kann. Es muß daher aus der Vollkommenheit des Nichtwollens auf eine Unvollkommenheit des Könnens zurückgeschlossen, und dann jene mit Flüchen, diese mit Schmach überhäuft werden. Es siehet in der That ein wenig nach Bosheit aus, was mir doch auf die unschuldigste Weise von der Welt begegnet ist, daß ich nehmlich in meiner Abhandlung über das Unternehmen des Kriticismus das Schellingische System, ohne es zu nennen, aus der Kantischen Lehre als den Grundirrthum derselben hervorholte. Daß dies mein wahres, im Grunde mein einziges Verbrechen sey, muß jedem in die Augen springen, der die Schelling-Hegelsche Schrift über Glauben und Wissen, auch nur flüchtig mit meiner Abhandlung in den Reinholdischen Beyträgen vergleichet; und kennte man nicht die große Lebhaftigkeit dieser Herren, so müßte man sich wundern, daß sie nicht etwas vorsichtiger zu Werk gingen. Der Gipfel des Bau|mes schien jetzt zum erstenmal zu fühlen, daß er nur die Fortsetzung der von mir entblößten Pfahlwurzel war, und er schrie voll Zorn und Wehmuth: halte dich, guter, alter, würdiger Vater; wir sinken mit einander! Doch lästerte er auch zugleich den Vater, und sprach; du bist nicht besser als er, der frech die Hand an dich legend, mich in Gefahr brachte; wäre mein Saame reif, du möchtest immer verdorren …

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Sonnabend den 28. Diesen Augenblick erhalte ich Ihre köstliche Antwort auf meine lange Epistel. Viel Glück zu Ihrem Unternehmen einer Darstellung des Ganzen der Philosophie des absoluten Nichts. Eine solche Geduldsübung hat in Ihrem Alter und bey Ihrem Ueberfluß an Munterkeit und Kräften, auch von andern Zwecken weggesehen, ihren guten Nutzen. Aber ausgehalten muß seyn, ausgehalten bis ans Ende mit immer gleicher Geduld und Anstrengung; und was das heiße, werden Sie erfahren. Vollständigkeit und Pünktlichkeit müssen Sie sich zum Gesetz machen, wohl eingedenk, daß wenn unsre Philosophie den unvertilgbaren Geist aller Zeiten für sich hat, die Schellingische dagegen von dem Geist der gegenwärtigen 2 Vollkommenheit] Vollkommhenheit Ihrem1] ihrem

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auf das Kräftigste unterstützt wird. Fast die ganze aufgeklärte deutsche Welt ist dar|in mit Schelling eins, daß sie in Wahrheit nicht begreift, wie man in unsern Tagen noch dem albernen Dualismus anhangen möge, der ein i n der Natur und ein ü b e r ihr, eine menschliche Vernunft und Freyheit, und eine übermenschliche oder göttliche annimmt. Ist nun einmal jener alte Dualismus, der auch T h e i s m u s genannt wird, schlechthin verworfen, und geht die Philosophie von der Nothwendigkeit seiner Abschaffung aus, so versteht sich mit der Selbstständigkeit und Alleinheit der Natur ihre nothwendige Doppelwesenheit von selbst, und eben so von selbst, daß ihre Doppelwesenheit ihrer absoluten Einheit nicht schaden könne. Die nothwendige Voraussetzung thut nun im philosophischen System, was nach einer gewissen Orthodoxie, in den positiven Religionen die W u n d e r thun müssen; sie schlichtet alles. A kann nicht ungereimt seyn, weil B nothwendig ist, und vice versa; so geht es durch das ganze System, und es ist unmöglich, daß irgend woher ein Anstoß komme. Der Widerspruch selbst ist aufgehoben und ein für allemal dadurch vernichtet, daß er absolut gesetzt ist, als das Erste, Nothwendige, schlechthin Unbedingte. Er ist, in so fern durch ihn alles ist; er ist n i c h t , in so fern in ihm, da e r a l l e i n i s t, alles N i c h t s , oder nur E i n e s ist. Dieses offenbaret die intellektuelle oder Vernunft-Anschauung unmittelbar. Mit ihr hat man | die vollkommene Einsicht in die Nothwendigkeit des Ungereimten, oder des nach Verstandesgesetzen schlechthin Entgegengesetzten und Unmöglichen; woraus denn unmittelbar die absolute Identität des Ungereimten und Gereimten folgt. Die wahre alleinige Vernunft siehet absolut hin auf das Nothwendige, und absolut weg von dem Ungereimten, welches sich nolens volens unter die Nothwendigkeit fügen und sich in ihr zusammenreimen muß. Ein ähnliches Verfahren wird freylich auch in allen früheren apriorischen Philosophieen angetroffen; so bald es heißt, die Vernunft habe gesprochen, soll der Verstand nicht mehr zum Worte kommen dürfen. Reime dich, sagt das P r i n c i p , und sagt das W u n d e r , oder ich fresse dich. Und das wird gelten, so lange die menschliche Natur dieselbe bleibt. Wenn etwas, das uns so wahr ist wie das eigene Daseyn, aufhören müßte wahr zu seyn, wenn nicht ein anderes mit ihm unzertrennlich Verknüpftes eben so wahr wäre; so werden uns beyde gleich wahr, und zwar noth7 wird,] so Dv; D: wird

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wendig, ohne weiteres, denn sie sind für uns aus Einem Stück. Trefflich erläutert dies Naturgesetz den bekannten Ciceronianischen Spruch, daß nichts so Ungereimtes zu ersinnen sey, das Philosophen nicht behauptet hätten; ja es findet sich nichts in der ganzen Geschichte der Menschheit, das uns, wenn wir dies Gesetz vor Augen behalten, noch in Verwunderung setzen | könnte. Schellingen aber bleibt der Ruhm, daß er die Vollkommenheit der Anwendung desselben gefunden hat. Nur im Falle der Noth, praktisch und empirisch war der Verstand bisher in unvollkommenen Philosophien abgewiesen worden. Schelling, freylich ebenfals aus Noth, vertilgt ihn lieber mit einemmale ganz, indem er zeigt, wie allein durch Vernunft minus Verstand eine wahrhaft vollkommene Philosophie möglich sey. Mit Verlangen sehe ich den Früchten Ihres neuen Fleißes entgegen. Leben Sie recht wohl. Jacobi.

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Sie werden durch unsern Freund Villers von meiner kleinen Reise und ihrer Veranlassung gehört, und sich daraus mein Nichtantworten auf Ihr Schreiben vom 10ten erklärt haben. Das Fördern Ihrer Arbeit, und daß Sie im October mich besuchen, und was bis dahin von Ihrem Werk ins Reine kommt, mitbringen wollen; macht mich sehr froh. Dann können wir auch am besten mit einander überlegen, ob es gerathen sey meine zwey Briefe an Sie Ihrer Schellingslehre vorzudrucken oder anzuhängen. Nur das ist entschieden unmöglich, daß ich Ihnen zu diesen zwey Briefen jetzt noch einen dritten schreibe. Es ist wahr, die in meinem ersten Briefe versprochenen Anmerkungen, hat mein zweyter nicht so eigentlich geliefert; aber gerade deswegen könnte ein dritter es noch viel we|niger. Ich habe Wort halten wollen; da ich aber zu diesem Ende das Schelling-Hegelsche Heft wieder zur Hand nahm, und darinn zu blättern anfieng, ergriff mich ein solcher Eckel vor dem Mischmasch, daß ich ablassen mußte. Es ist in der That unglaublich, wie dieses Geschreibe das, was es vor sich nimmt, in einem fort nur auseinander, von einander, zu einander, durch einander zerrt und zieht, nirgendwo ganz aufrichtig zu Werk geht, und überall auch nicht ein ächt wahres Wort hinschreiben will und kann. Der Angrif auf mich beginnt schon auf der zweiten Seite der Gesamteinleitung mit einer mir beygemeßnen Erklärung der Vernunft, wovon eine Phrase aus den Briefen an Mendelssohn, eine andre aus dem Briefe an Fichte, eine dritte aus der Schrift über Lichtenbergs Weissagung, und eine vierte aus dem eignen Gedankenschatze der Herren Schelling und Hegel, als Verbindungsmittel, gezogen ist. Diese letzte sagt gradezu das Ding das nicht ist, nehmlich, d a ß m i r d i e V e r n u n f t e t w a s a l l g e m e i n S u b j e k t i v e s sey. Meine Aussagen, durch dergleichen Zusätze ergänzt, und meine Worte, erläutert durch Uebersetzungen dieser Art in Schel-

7 Arbeit] D: Anbeit Dv: statt Aebeit l[ies] Arbeit 8 Ihrem] ihrem 28–29 Gedankenschatze] so Dv; D: Gedankensatze 35 den

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lingische Schulsprache, müssen freylich zu einem sonderbaren Ganzen gedeihen. In keiner meiner philosophischen | Schriften findet sich die mit meiner Vorstellungsart unverträgliche Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Vernunft, wohl aber eine, wenn man will, ähnliche zwischen adjektiver und substantiver; zwischen einer Vernunft, w e l c h e d e m Menschen, und einer, w e l c h e r d e r Mensch angehört. Sollte also in der Schelling-Hegelschen Angebung nur irgend etwas Wahres seyn, so müste ich wenigstens die Vernunft irgendwo für ein allgemein Adjektives erklärt, ihre Substantivität aber geläugnet und für eine bloße Täuschung ausgegeben haben. Grade das Gegentheil findet sich nicht allein in allen meinen Schriften, sondern es macht wirklich ihren ganzen, ich möchte sagen, ihren einzigen Inhalt aus. Wer möchte wider Leute, die so angreifen, sich vertheidigen? Ein abgeschmackter Vorwurf hat immer einen noch abgeschmackteren zur Folge, er multiplicirt und potenzirt sich in unendlicher Unwahrheit unendlich in sich selbst; ein Ende könnte da nicht werden. Ganz unerwartet ist mir in diesen Tagen eine Aufforderung andrer Art geworden. Ich hatte gleich nach der Erscheinung der Schelling Hegelschen Hirtenrede über Glauben und Wissen in einem Briefe an Reinhold die Frage hingeworfen: | W a s s a g s t d u zu der Darstellung meiner Philosophie im jüngsten Heft des kritischen Journals? – Reinhold hat diese Frage ernsthaft genommen, und beantwortet sie mir jetzt in einer Folge von Briefen, wovon ich Ihnen dreye, die mir, seit ich Ihnen zuletzt schrieb, hinter einander eingelaufen sind, beylege. Ein vierter soll unverzüglich folgen. Wahrscheinlich wünscht Reinhold diese Briefe seinen Beyträgen einzuverleiben, wenn ich nichts dawider habe. Ich werde ihm, wenn er diesen Wunsch gegen mich äußert, versichern, daß ich weit entfernt, etwas dawider zu haben, eine so gute Veranlassung gern benutzen werde, meine Ueberzeugungen mit ihren Gründen noch einmal bey mir selbst zu untersuchen, und was sich mir nach der schärfsten Prüfung von neuem bewährt, ihm und dem Publikum kurz und vollständig noch einmal darzulegen. Zu dieser Arbeit verstehe ich mich gern, da ich es zunächst und am unmittelbarsten mit einem Manne zu thun habe, den ich von ganzem Herzen achte und liebe, mit einem ächten Wahrheitsfreunde und durch und durch edlen Menschen. So gern ich erörtere, so ganz und gar ist das eigentliche Disputiren mir verhaßt, und ich bin

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noch immer der schon in der ersten Ausgabe meiner Briefe über Spinoza geäu|ßerten Meynung, daß durch Krieg wenig für die Wahrheit zu gewinnen ist.1 Doch ist er zuweilen nöthig, damit sie nicht verliere; der Angrif muß der Vertheidigung wegen beschlossen werden. Und so wünsche ich Ihnen zu Ihrem bevorstehenden Feldzuge das beste Glück. Nach meinem Urtheile ist Schelling schon durch Reinholds meisterhafte Recension des Systems des transscendentalen Idealismus in der Allg. Lit Zeit. (August 1800 N. 231. 232.) und durch seine vortrefliche Zergliederung und gründliche Widerlegung des ganzen neuen Schellingischen Systems in No. 4. des dritten, und No. 3, 4. und 5. des vierten Hefts seiner Bey|träge vollkommen geschlagen. Aber es schwiegen davon die öffentlichen Blätter, und so das Gerücht auch. Und ich sage und denke: Was ist von einem Publikum zu hoffen, das auf Ausarbeitungen von solchem Werthe und Verdienst nicht achtet, sie nicht liest, weil man ihm unaufhörlich in die Ohren schreyt: Dieser Reinhold wechselte schon zweymahl sein System. Diese Schreyer selbst wechselten doch auch. Was aber Reinholden noch mehr schadet: sein eignes System ist ein Identitätssystem, das B a rdilische. Nur aus diesem heraus, als dem wahren, disputirt er in das Schellingische, als ein irriges, hinein. Dies verschafft seinen Gegnern den Vortheil, daß sie weniger sich selbst zu vertheidigen als nur ihn in seinem System wieder anzugreifen brauchen. In dem dritten der hiebeykommenden Briefe sagt Reinhold ausdrücklich, »daß der Schellingische Absolutismus zunächst an den rationalen Realismus, als an die wahre Philosophie, gränze. Es sey zwischen diesen beyden Systemen (dem wahren System der r e i n e n , und dem irrigen der b l o ß e n Identität) kein drittes möglich, und der rationale Realismus lasse sich nicht wohl anders misverstehen, als daß man ihn für einen inkonsequenten Absolutismus ansehe.« Das1

»Wie es unmöglich ist, daß einem Blinden, so lange er blind ist, durch irgend eine Kunst Gegenstände sichtbar werden; so ist es ebenfalls unmöglich, daß ein Sehender beym Lichte sie nicht wahrnehme, und von selbst unterscheide. Aber wir fordern vom Irrthume, als wenn er die Wahrheit wäre, daß er 35 sich selbst sehe, sich selbst erkenne; und wir fürchten uns, als ob er auch stark wäre, wie die Wahrheit. Kann wohl Finsterniß in das Licht dringen, und ihm seine Strahlen löschen? In die Finsterniß hingegen dringt das Licht, und macht sie offenbar, indem es sie zum Theil erleuchtet.« (Briefe über Spinoza, Zweyte Ausg. S. 235.) 40 5 Ihrem] ihrem

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24 hiebeykommenden] hiebeykommendrn

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selbe wird noch einmal in | eben diesem Briefe mit andern Worten ausführlicher wiederholt.1 Einen Vortheil andrer Art haben die Männer aus Jena in Absicht meiner und Ihrer. Wenn wir ihnen die Glieder geschickt und kunstmäßig einrichten, so schreyen sie wie die Besessenen, wir verdrehten sie ihnen. Nun ist wirklich ihre wahre Gestalt so unbegreiflich seltsam, daß es unmöglich scheint, es könne irgend ein vernünftiges Wesen natürlicher Weise und von selbst so aussehen. Was ist also leichter, als bey Unkundigen und Halbkundigen den Verdacht wider uns zu erregen, wir hätten ihnen ihre graden und gesunden Glieder, unter dem Vorwande einer Einrichtung, deren sie doch keineswegs bedurft, auf das Jämmerlichste nur verdreht und verrenkt. Eben so, wenn wir ihren doppelten drey und vierfachen Galimathias in einen einfachen verwandeln. Auch der einfache bleibt noch in einem so hohen Grade Galimathias, daß jene Unkundigen und Halbkundigen wieder nicht begreifen, wie so etwas habe verdoppelt, und | noch einmal verdoppelt seyn können. Dawider ist nichts zu thun, da wir doch ein für allemal nur bey der Wahrheit bleiben, und jedes Schicksal mit ihr theilen wollen. In einer ähnlichen Lage, wenn ich nicht irre, schrieb Voltaire an D’Alembert: soyez tranquille, la raison finira par avoir raison. Leben Sie wohl, und kommen Sie recht bald nach Eutin.

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Man sehe im Vten Hefte der Reinh. Beytr. wo die obenerwähnten, an wahrhaft philosophischem Inhalt gewiß sehr reichen Briefe, nun abgedruckt 25 sind. S. 91. 97.

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la raison] so Dv; D: laraison

EINLEITUNG IN DES VERFASSERS SÄMMTLICHE PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN (1815)

Vorrede, zugleich Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften. 5

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E d’ paroimía dokeî Écein, tó, dìß kaì trìß t< ge kal®ß Écon êpanapoleîn t© lmma); s. u. a. Descartes: Meditationes III, 4 (AT VII.36,11–12); Spinoza: Ethica V, prop. 23, schol., Opera posthuma, 252 (Gb II.296,6); Leibniz: Nouveaux Essais IV,2, § 1, Œuvres philosophiques, 326 (Gr V.342 f.) – S. auch LS, JWA 1.30,5, sowie DH, oben 90,17, 95,4; JF, oben 210,10, VE, oben 377,34 sowie GD, JWA 3.19,34: der Verstand hat nur Hände, keine A u g e n . 88,16–17 an jedem Ort … Wahrheit;] Vgl. J.: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, bes. 176 f. 88,28 wie wir gesehen haben,] S. oben 60,10–23. 88,32–36 Der selige Leßing … möchte.] Gotthold Ephraim Lessing (*1729) war am 15. Februar 1781 in Braunschweig gestorben. – Der ihm zugeschriebene Ausspruch konnte nicht nachgewiesen werden. 89,1–6 Jene beruhen … gegenwärtig.] Vgl. Leibniz: Nouveaux Essais, Avant-Propos, Œuvres philosophiques, 8 f. (Gr V.46 f.): D’ailleurs il y a mille marques, qui font juger qu’il y a à tout moment une infinité de perceptions en nous, mais sans Apperception & sans Reflexion, c’est à dire des changements dans l’Ame même, dont nous ne nous appercevons pas, parce que ces impressions sont où trop petites & en trop grand nom|bre, où trop unies, en sorte qu’elles n’ont rien d’assez distinguant à part, mais jointes à d’autres, elles ne laissent pas de faire leur effèt, & de se faire sentir dans l’assemblage, au moins confusément. 89,9–12 Die vollkommnere Perception … von selbst.] Vgl. Leibniz: Principia Philosophiæ (Monadologie), § 29, Opera omnia II,1.24: Enimvero cognitio veritatum necessarium, & æternarum est id, quod nos ab animantibus simplicibus distinguit, & rationis, ac scientiarum compotes reddit, dum nos ad cognitionem nostri, atque Dei elevat. Atque hoc est illud, quod in nobis a n i m a r a t i o n a l i s , sive s p i r i t u s appellatur. – Ib. § 30: Et inde etiam est, quod nosmetipsos cogitantes de ente, de substantia cum simplici, tum composita, de immateriali, & ipso Deo cogitemus, dum concipimus, quod in nobis limitatum est, in ipso sine limitibus existere. Atque hi actus reflexi præcipua largiuntur objecta ratiociniorum nostrorum. – Ib. 22, § 18: Nomen Entelechiarum imponi posset omni-

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bus substantiis simplicibus, seu monadibus creatis. Habent enim in se certam quandam perfectionem (Écousi tó êntelèß) datur quædam in iis sufficientia, (aÿtùrkeia) vi cujus sunt actionum suarum internarum fontes quasi automata incorporea. (Vgl. Gr VI.610–612.) – S. ferner Leibniz: Nouveaux Essais, Avant-Propos, Œuvres philosophiques, 7 (Gr V.45): la Reflexion n’est autre chose, qu’une attention à ce, qui est en nous, & les sens ne nous donnent point ce que nous portons deja avec nous. 89,16–18 Das Bewußtseyn … Leben.] Zur Beziehung von Bewußtsein und Leben s. DH, oben 65,1–7, sowie Leibniz: Principia Philosophiæ (Monadologie), § 14, Opera omnia II,1.21 (Gr VI.608): Status transiens, qui involvit, ac repræsentat multitudinem in unitate, seu substantia simplici, non est nisi istud, quod perceptionem appellamus, quam probe distinguere debemus ab apperceptione, seu conscientia, quemadmodum in sequentibus patebit. – Zur Funktion des Seelischen bzw. des Bewußtseins als Spiegel des Lebens vgl. Leibniz’ Rückführung der perceptio auf ihre Elemente, die petites perceptions; s. Nouveaux Essais, Avant-Propos, Œuvres philosophiques, 10 (Gr V.48): Ces petites perceptions sont donc de plus grande efficace qu’on ne pense. Ce sont elles, qui forment ce je ne say quoy, ces gouts, ces images de qualités de sens, claires dans l’assemblage, mais confuses dans les parties; ces impressions que les corps, qui nous environnent, font sur nous & qui enveloppent l’infini; cette liaison que chaque être a avec tout le rest de l’univers. On peut même dire qu’en consequence de ces petites perceptions le presént est plein de l’avenir & chargé du passé, que tout est conspirant (sfimpnoia pùnta comme disoit Hippocrate), & que dans la moindre des substances, des yeux aussi perçans, que ceux de Dieu, pourroient lire toute la suite des choses de l’univers / Q u a e s i n t , q u a e f u e r i n t , q u a e m o x f u t u r a t r a h a n t u r . / Ces perceptions insensibles marquent encore & constituent le même individu, qui est caracterisé, par les traces, qu’elles conservent des états précedens de cet individu, en faisant la connexion avec son état présent; […]. – Zur Darstellung der Einzelmonade als Spiegel oder repraesentatio mundi s. Leibniz: Principes de la Nature & de la Grace, § 3, Opera omnia II,1.33 (Gr VI.599) (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 82,23–27): Et comme à cause de la plenitude du Monde tout est lié, & chaque corps agit sur chaque autre corps, plus ou moins, selon la distance, & en est affecté par réaction; il s’ensuit que chaque Monade est un miroir vivant, ou doué d’action interne, représentatif de l’Univers, suivant son point de vüe, & aussi réglé que l’Univers même. Et les perceptions dans la M o n a d e naissent les unes des autres par les loix des appétits, ou des c a u s e s f i n a l e s du B i e n & du M a l , qui consistent dans les perceptions remarquables, réglées, ou déréglées; comme les changemens des corps, & les phénomènes au déhors, naissent les uns des autres par les loix des causes efficientes, c’est-à-dire, des mouvemens. Ainsi il y a une h a r m o n i e parfaite entre les perceptions de la M o n a d e , & les mouvemens des corps, préétablie d’abord entre le systême des causes efficientes, & celui des causes finales. Et c’est en cela que consiste l’accord & l’union physique de l’ame & du c o r p s , sans que l’un puisse changer les

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loix de l’autre. – Vgl. Leibniz: Principia Philosophiæ, §§ 58, 59, 63 (Monadologie, §§ 56, 57, 61), Opera omnia II,1. 27 f. (Gr VI.616 f.). 89,22–25 aus der … Verhältnisse.] Zur Unterscheidung der Bewegungen des aktiven und des passiven Prinzips s. Leibniz: Principia Philosophiæ (Monadologie), § 17, Opera omnia II,1.22 (Gr VI.609): Imo etiam præter istud in substantia simplici non reperietur aliud, hoc est, præter perceptiones, earumque mutationes in ea nil datur. Atque in hoc solo consistere debent omnes a c t i o n e s internæ substantiarum simplicium. – Ib. § 15: Actio principii interni, qua fit mutatio, seu transitus ab una perceptione ad alteram, appetitus appellari potest. Verum equidem est, quod appetitus non semper prorsus pervenire possit ad omnem perceptionem, ad quam tendit; semper tamen aliquid ejus obtinet, atque ad novas perceptiones pervenit. – Zu dieser Richtung des appetitus auf das Mögliche vgl. die Darstellung der Entelechie als aus einer ursprünglichen Kraft (conatus) wirkendes Sein, in Essais de Théodicee I, § 87. – Zur Ausrichtung der Tätigkeit der Monade auf ihr Verhältnis zur Welt s. Principia Philosophiæ, § 51, (Monadologie, § 49), Opera omnia II,1.26 (Gr VI. 615): Creatura dicitur a g e r e extra se, quatenus habet perfectionem, & p a t i ab alia, quatenus est imperfecta. Ita monadi actionem tribuimus, quatenus habet perceptiones distinctas, & passiones, quatenus confusas habet. – Ib. § 54 (Monadologie, § 52): Atque ideo actiones, & passiones creaturarum mutuæ sunt. […] & consequenter id quod activum est, quatenus certo respectu passivum secundum alium consideranti modum; activum nempe, quatenus id, quod distincte in eo cognoscitur, inservit rationi reddendæ de eo, quod in alia contingit, & passivum, quatenus ratio de eo, quod in ipsa contingit, reperitur in eo, quod distincte cognosci ut in altera. – Zur Verflochtenheit von perceptio und appetitus in der Bildung der Einheit der substantiellen Form und im Akt der repraesentatio mundi s. Principia Philosophiæ (Monadologie), § 16, Opera omnia II,1.22 (Gr VI.609): Ipsimet experimur multitudinem in substantia simplici, quandoquidem deprehendimus, minimam cogitationem, cujus nobis conscii sumus, involere varietatem in objecto. Omnes itaque, qui agnoscunt, animam esse substantiam simplicem, hanc multitudinem in monade admittere debent, […]. – Ib. 28, § 66 (Monadologie, § 63) (Gr VI.617 f.): Etenim cum quælibet monas sit speculum universi suo modo, & universum perfecto ordine gaudeat, ordo etiam esse debet in repræsentante, hoc est in perceptionibus animæ, & per consequens in corporibus, secundum quæ universum in eis repræsentatur. – Vgl. K. zu 89, 16–18. 90,34–35 Die dunkelste … Verhältniß aus.] Vgl. die Erläuterung der petites perceptions in Leibniz: Nouveaux Essais, Avant-Propos, Œuvres philosophiques, 10 (Gr V.48), zitiert im K. zu 89,16–18. 91,8 Werkzeug der allmächtigen Liebe,] J.spielt an auf Leibniz’ Begriff des amor purus ac verus; vgl. Principes de la Nature & de la Grace, § 16, Opera omnia II,1.38 (Gr VI.605): Dieu étant aussi la plus parfaite & la plus heureuse, & par conséquent la plus aimable des substances, & l’amour pur véritable consistant dans l’état qui fait goûter du plaisir dans les

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perfections & dans la félicité de ce qu’on aime; cet amour doit nous donner le plus grand plaisir dont on puisse être capable, quand Dieu en est l’objet. – Vgl. ib. 38 f., § 18, und ib. 31, Principia Philosophiæ, § 93, (Monadologie, § 90) (Gr VI.622 f.), sowie JWA 1.117,17 ff. 91,11–12 des sich … genießenden Daseyns] Vgl. DH, oben 83,17– 84,2 und K. zu 83,21–24. 91,18–20 »Und … Seele.«] Gen 2,7. 91,29–30 Was wir … ins Unendliche.] S. DH, oben 75,4–6 mit FN. 92,3–4 H e r r n u n d K ö n i g d e s L e b e n s .] Vgl. Ps 47,3; 93,1. 92,9–10 ein Geist … Seele wäre.] Zum Gedanken der Weltseele als Prinzip des Lebens und Bewegerin des alles Körperliche in sich vereinigenden Weltorganismus s. Plato: Timaeus 346 f, Philebus 28b ff., bes. 30a. – S. J.s Kritik dieses Gedankens im Gespräch mit Lessing, LS, JWA 1.31,19–33,7, sowie LS, JWA 1.33,37–43 und 32,38–33,43, in Auseinandersetzung mit Herder: Gott. Einige Gespräche. Gotha 1787, 174–177. – Vgl. J.s Exzerpt aus Giordano Bruno: De la causa. Venetiis [vielmehr London] 1584, in Beylage I zu LS, JWA 1.189,6–191,9. 92,20–22 warum wir … müssen.] J. übernimmt diesen Satz in LS2, JWA 1.156,4–6. – In dieser Negation der Demonstrierbarkeit des Unbedingten weiß J. sich einig mit Kant; vgl. etwa KrV A 571–583, A 828–831. – S. ferner J. an Hamann, 14. November 1786, ZH VII.61,25 f.: Auch ist das natürliche Bedürfniß der Vernunft, nicht einen Gott zu finden, sondern ihn entbehren zu können. – Vgl. GD, JWA 3.96,3–8.24–27, und Vorbericht zu WW IV, JWA 1.343,18 f. 92,23–24 Denn wir … Daseyns,] Auf die Abhängigkeit der endlichen Existenz verwies J. bes. in den Ergänzungsgesprächen zu Woldemar: Aus dem zweiten Buche von Woldemar: Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit, in Deutsches Museum (April und Mai 1779), 307–348, 393– 427 und Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch, in J.: Vermischte Schriften, 9–142. – S. J. an Hamann, 16. Juni 1783, JBW I,3.164,1–9: wir mögen uns anstellen wie wir wollen, wir bleiben paßive Wesen, die sich selbst nichts geben können. Es sey immerhin daß wir unsere Ideen, als Ideen, aus eigenen Kräften ganz hervorbringen, so können wir doch keine Ideen haben, die nicht Vorstellungen wären, folglich ein Leiden involvierten. | Mithin tragen wir alles, so gar unser eigenes Bewußtseyn nur zur Lehn. Mein Wesen, meine Substanz kann ich nicht anders machen als sie ist; u alle ihre zufälligen Beschaffenheiten kommen von außen. Das W i e der Vorstellungen hängt am Ende immer von dem W a s derselben ab; oder, das v o l l s t ä n d i g e W a s derselben, involviert das W i e . – S. ferner J. an Gallitzin, 14. März 1782, JBW I,3.13,12–28: nur zu oft fallen mir die nachdrücklichen Worte des Machiavell ein, wenn er die Quelle der Verachtung, nicht in der Unsittlichkeit des Characters, sondern allein in der Armuth u dem Unvermögen sieht. [Vgl. Niklas Machiavell: Unterhaltungen über die erste Dekade der römischen Geschichte des T. Livius. Aus dem Italienischen übersetzt. 3 Bde. Danzig 1776, KJB 1576.] […] Ach, das ist das ärgste, daß wir alle und immer, so gar alles nur zur Lehn tragen; jede

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Empfindung u jede Farbe der Empfindung; Vorstellung u Besinnung; daß wir immer nur denken können was wir thun, und ein umgekehrtes Verhältniß desto unmöglicher finden müßen, je länger u je tiefer wirs erwägen. Wer vermag von einem freyen Thun oder Denken sich nur die dunkelste Vorstellung zu machen; von einem Begriff, den nicht ein Gegenstand bestimmte; von einem Begriff der vor ihm wäre; von einem Begriffe vor dem Begriffe – von einem willkürlichen Denken, Handeln u Seyn. – Unser Bewustseyn entwickelt sich aus Etwas das noch kein Bewustseyn hatte; unser Denken aus Etwas das noch nicht dachte; unsere Uberlegung aus etwas das noch nicht überlegte; unser Wille aus Etwas das noch nicht wollte – Unsere vernünftige Seele aus Etwas das noch keine vernünftige Seele war. 92,27–30 Wie nach … gestützt bleiben.] S. die Entfaltung dieses Gedankens durch Wizenmann: An den Herrn Professor Kant, 154–156: Vernunft, heißt Ihnen [sc. Kant]: Die Form und Regel des Denkens. Ich nenne sie, vielleicht mit wenig Unterschied in der Sache, lieber: Das Vermögen, Verhältnisse sowohl zwischen Dingen, als zwischen Begriffen wahrzunehmen und in Verbindung zu bringen. / Ein B e g r i f , der in der Vernunft allein angetroffen wird, wäre also: ein Begrif, der, ohne alle Ver|knüpfung mit Erscheinungen oder dem Materiale betrachtet, blos in der Form des Denkens existirte. / Ein solcher Begrif aber ist unmöglich; darum, weil es unmöglich ist, daß in irgend einer Form, in irgend einer Kraft eine Veränderung vorgehe oder ein Urtheil sich bilde, wenn die Form in keinem Verhältnisse mit ihrer Materie, die Kraft nicht in Verbindung mit Kraft gedacht wird. / Diese Folge, welche aus der Realdefinition der Vernunft umittelbar herfließet, ist so klar, daß ich nicht begreife, wie man fast allgemein von der Vernunft, so fern sie in Wirksamkeit ist, als von einem von aller Erscheinung unabhängigen Vermögen oder Dinge reden, und dadurch immer die Begriffe so zweideutig erhalten kann. / Die Vernunft, so fern sie urtheilt oder wirksam ist, muß also nothwendig mit Erscheinungen, der Materie des Urtheils, verknüpft sein, und es giebt keinen Begrif, der von der Vernunft allein ausgienge. / Wohl aber giebt es, in einem andern Verstande oder nach einer losern Definition der Vernunft, solche Begriffe. / Von der Art sind dann alle allgemeinen und nothwendigen Begriffe, und selbst alle Begriffe, als solche. Denn wo soll ein Begrif anders entstehen, wo soll er anders ausgehen, wo anders angetroffen werden, als in der Vernunft? Wie soll ein Begrif, als allgemein oder nothwendig, anders erkant werden, als durch die Vernunft? Nicht, als wenn die Vernunft Begriffe haben und Urtheile bilden könte, unabhängig von allen Erscheinungen, sondern weil die Vernunft allein das Vermögen ist, Erscheinungen in Begriffe zu verwandlen, und ihre allgemeinen und nothwendigen Verhältnisse zu einander auszuspüren. – Darum und so fern kan ich sagen, daß Begriffe, allein in der Vernunft angetroffen werden. / Im höchsten Grade lässet sich dieses von den nothwendigen, oder welches meiner Meinung nach einerlei ist, | von den blos logischen oder identischen Begriffen, sagen. Diese, obgleich ihre Materie immer empirisch sein

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muß, (denn es giebt keinen B e g r i f ohne Voraussetzung eines D i n g s , es läßt sich kein Prädikat denken, ohne in Verbindung mit einem Subjekt) diese nothwendigen Begriffe, sage ich, gehen gleichwohl über alle Erscheinungen hinaus, ihre innere Wahrheit hängt nicht von den Erscheinungen, sondern von dem Nothwendigen, dem Identischen in dem Verhältnisse des Prädikats zum Subjekt ab, sie sind die Geseze des Denkens selbst, folglich nur in der Vernunft anzutreffen. 92,34 den Gott w e r d e n lasse.] S. J.s Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift in VE, oben 414,11–418,5. 93,6–7 mit den … ohne Augen.] Vgl. LS, JWA 1.130,16 f. – Diese Anspielung auf Platons Höhlengleichnis (Respublica VII 514a–517a) zielt wohl auch auf die rationalistisch-spinozistische Färbung des Leibnizschen Systems; s. Beylage VI zu LS, JWA 1.232 ff., sowie VE, oben 387,17–27. 93,19–20 Mährchen vom Schlaraffenlande] Das Bild vom Schlaraffenland gebraucht Mendelssohn: Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten? In Berlinische Monatsschrift 5 (Februar 1785), 133–135. – Vgl. J.s Bezug darauf in Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, 175 FN. 93,25–26 die Constantinopolitanischen Gelehrten] Zu J.s kritischer Sicht dieser Gelehrten s. seine Briefe über die Recherches Philosophiques sur les Egyptiens et les Chinoìs, par Msr. de P***, in Der Teutsche Merkur Bd 4, 2. St. (November 1773), 188 (WW VI.280), Bd 6, 1. St. (April 1774), 70 (WW VI.319 f.) und Bd 7, 2. St. (August 1774), 248 (WW VI.342). – Diese kritische Sicht dürfte noch verstärkt worden sein durch Gibbons ausführliche und sehr kritische Schilderung des byzantinischen Reiches einschließlich der theologischen Streitigkeiten und des Schismas zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche; s. Edward Gibbon: The History of the decline and fall of the Roman Empire. A new edition. [Nur] Vol. 1–6. London 1783 (KJB 1802). Im Brief an Hamann vom 1., 3. und 4. Februar 1785, JBW I,4.38,35–39,2, berichtet J., eine Rezension von Gibbons Werk in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen habe ihn begierig auf das Buch gemacht, u ich habe es den vergangenen Sommer gelesen. 93,36–37 Fortzupflanzen … hervor.] Musen-Almanach für das Jahr 1797. Hg. von Schiller. Tübingen o. J. Tabulae Votivae, 176: Vergebliches Geschwätz. – [J. W. v. Goethe:] Epigramme. Vier Jahreszeiten. Herbst. Nr 56, in Goethe’s Werke. 12 Bde. Tübingen 1806–1808 (KJB 3000), Bd 1 (1806), 403 (WA I,1.353, Nr 55). – Auch Schelling spielt auf dieses Epigramm an in Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit, 508 (SW 7.413): Denn so hoch wir auch die Vernunft stellen, glauben wir doch z. B. nicht, daß jemand aus reiner Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein großer Mensch sey; ja nicht einmal, nach der bekannten Rede, daß das Menschengeschlecht durch sie fortgepflanzt werde. 94,20–28 Die Vernunft … weiß.] [J. G. Herder:] Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neu eröfneten Morgenländischen Quelle. Riga 1775 (KJB 281), Buch 1, Kap. III: In Jesu ist das Menschengeschlecht

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erwählet. Anmerkungen, 35 (Suphan VII.369). Der Beginn des Zitats lautet: Auch diese Vernunft, ist sie nur du r c h d i e Z e i t f o l g e g e b i l d e t : so sieht man, alles, – Der von J. ausgelassene Satz lautet: Wohlan! so ists auch Spiel, die Vernunft der Offenbarung entgegen zu setzen, und gegen sie als etwas Selbstständiges zu handeln. – Vgl. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit […]. T. 2. Riga / Leipzig 1785, bes. Buch IX, 211 f. (Suphan XIII.345): Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen unsrer Seele; eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die, nach gegebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet. / Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine Geschichte gäbe. […] / Es giebt also eine Erziehung des Menschengeschlechts; eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebet. – Ib. 214 (Suphan XIII.347): so giebt es eine Erziehung des Menschengeschlechts und eine Philosophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr es eine Menschheit d. i. eine Zusammenwirkung der Individuen giebt, die uns allein zu Menschen macht. 94,31 Schrift über Spinoza S. 183–190.] LS, JWA 1.132,8–135,3, 18–34. – Vgl. J. an Forster, 26. Januar 1783, JBW I,3.118,19–28: Alle Begriffe der Menschen beziehen sich zuletzt auf eigene Erfahrung, das ist – wenn ich streng philosophisch reden darf – auf eigene Handlungen. Wir gehen von der sinnlichen Empfindung über zu der Handlung; von Handlungen zu Grundsätzen; von der Anschauung zur Erkenntniß; so daß beyde letztere vereinigt, allein Genuß der Wahrheit und Weisheit geben. Also was die Erfahrungen und die Handlungen der Menschen am mehrsten einschränkt, das verkümmert auch am mehrsten ihre Einsicht, und wir sehen Geist, Charakter, Denkungsart im Ganzen überall sich nach der äußerlichen Lage der Gesellschaft bilden, mit ihren Gegenständen sich erheben oder sinken. – S. auch K. zu 92,23–24 und die Entwicklung dieses Gedankens durch [Wizenmann:] Die Resultate, 217 ff., 253 ff., sowie K. zu 116,30–117,4. 94,34–36 Die eigentliche Vernunft … unmöglich.] Vgl. Spinozas Ausführungen über das Streben der Seele, in ihrem Sein zu beharren, Ethica III, prop. 9 cum schol. und prop. 11, Opera posthuma, 103 f. (GB II.147 f.), sowie seinen Gedanken, daß die Seele ein Teil des göttlichen Verstandes sei, Ethica V, prop. 40 cum schol., Opera posthuma, 262 (Gb II.306). 95,4–5 Das Auge … Vernunft,] S. K. zu 88,2. 95,18–20 Die menschliche Seele … das I c h .] Zu dem ursprünglich von J. gegen den transzendentalen Idealismus Kants gewendeten Satz vom Finden des Ich im Du s. LS1, JWA 1.116,12–16; vgl. DH, oben 86,30–32, sowie VE, oben 393,11 mit FN. – J. spielt hier wohl bes. an auf Fichtes und Schellings transzendental-idealistische Darstellung des Ich; s. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in Philosophisches Journal V,4 (1797), 354– 361 (GA I,4.228–234), der sich auf J.s Beurteilung der Kantischen Philosophie in der Beilage zu DH beruft, und Grundlage der gesammten Wissenschafts-

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lehre, 13, 30 (GA I,2.261,2 f., 272,2 f.); Schelling: System des transscendentalen Idealismus, Allgemeine Anmerkung zur dritten Epoche, 315–321 (SW I,3.527–531). – Vgl. DH, oben 112,15–20, sowie GD, JWA 3.77,22– 30. 95,27–32 Diese Einschränkungen … im Stande sieht.] Vgl. etwa Fichte: Grundlage des Naturrechts, Beginn der Einleitung (unpag.) (GA I,3.313,4–13): Der Charakter der Vernünftigkeit besteht darin, daß das Handelnde, und das Behandelte Eins sey, und eben dasselbe; und durch diese Beschreibung ist der Umkreis der Vernunft, als solcher erschöpft. – Der Sprachgebrauch hat diesen erhabnen Begriff für diejenigen, die desselben fähig sind, d. h. für diejenigen, die der Abstraktion, von i h r e m eignen Ich fähig sind, in dem Worte: I c h , niedergelegt; darum ist die Vernunft überhaupt durch die Ichheit charakterisirt worden. Was f ü r ein vernünftiges Wesen da ist, ist i n ihm da; aber es ist nichts in ihm, ausser zu Folge eines Handelns auf sich selbst: was es anschaut, schaut es in sich selbst an; aber es ist in ihm nichts anzuschauen als sein Handeln: und das Ich selbst ist nichts | anders, als ein Handeln auf sich selbst. 95,32–35 Das goldene Zeitalter … Bienen.] Vgl. Kladde VII, 581 (Schneider: Denkbücher, 241): Wenn ich mir, nach Fichte u Schelling, dieses bestimmte Weltsistem nothwendig vorstelle, wenn seine Vorstellung aus dem Wesen eines Geistes sich a priori herleiten läßt, so ist lauter Mechanismus u keine Freyheit. – Möglicherweise ist die Analogie zwischen dem Tierreich und geschichts- und staatsphilosophischen Argumenten eine Reminiszenz nicht allein an [Bernhard de Mandeville:] La fable des abeilles, ou les fripons devenus honnêtes gens. Avec le commentaire, où l’on prouve que les vices des particuliers tendant à l’avantage du public. Trad. de l’anglois sur la 6. éd. [par Jean Bertrand]. 4 T. Londres 1750 (KJB 1582), sondern auch an Lessings Diskussion freimaurerischer Gesellschaftstheorien von der Gestaltung des Lebens aus einem übergeordneten Bewußtsein und der Ordnung des Staates nach der Gesetzmäßigkeit des Universums; s. [Lessing:] Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer. [1.–3. Gespräch.] Wolfenbüttel 1778 (KJB 917; angebunden: Fortsetzung [4.–5. Gespräch]. o. O. 1780, KJB 918), bes. Zweytes Gespräch, LM 13.351,12–28: Ernst. / Das Leben und Weben auf und in und um diesen Ameisenhauffen. Welche Geschäftigkeit, und doch welche Ordnung! Alles trägt und schleppt und schiebt; und keines ist dem andern hinderlich. Sieh nur! Sie helffen einander sogar. / Falk. / Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen. / Ernst. / Und in einer noch wunderbarern Gesellschaft als die Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammen hält und regieret. / Falk. / Ordnung muß also doch auch ohne Regierung bestehen können. / Ernst. / Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß: warum nicht? / Falk. / Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommen wird? 95,35–37 ein Vorbild … angepriesen worden.] Vgl. J.: Briefe über die Recherches Philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois par Msr. de P*** [Cornelius de Pauw], in Der Teutsche Merkur Bd 4, 2. St. (November 1773), 175–192; Bd 5, 3. St. (März 1774), 259–286; Bd 6, 1. St. (April

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1774), 57–75; Bd 7, 2. St. (August 1774), 228–251 (WW VI.[265]– 344). – S. Zweyter Brief, 281–286 (WW VI.303–307), über die Frage, ob China eine Monarchie oder ein despotischer Staat sei. 95,42–43 wenn von Gott … seyn kann.] J. spielt auf seine Kontroverse mit Schelling an; s. GD, JWA 3.97,10–15. 95,45 unsere G o l d e n e n] Diese Bezeichnung ist vielleicht inspiriert durch die Abhandlung von J.s Freund Friedrich Bouterwek: Die goldenen Jahrhunderte. Ein Fragment zur Philosophie der Weltgeschichte. In Neues Museum der Philosophie und Litteratur. Hg. von Bouterwek. Bd 1, H. 2. Leipzig 1803, [71]–103. 97,1–3 Gestern … Weibes.] Diese Aussage konnte in den Briefen des fraglichen Zeitraums nicht belegt werden; möglicher Weise handelt es sich um eine literarische Fiktion. 98,17–19 was wir … gewahr werden.] Diesen Gedanken nimmt A. W. Rehberg auf in seiner Rezension des DH in ALZ 92 (16. April 1788), 111 f. (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 118,39–40): Die Empfindung von göttlichen Dingen läßt sich freylich, wie H. J. behauptet, durch kein Räsonnement mittheilen, sie entsteht nur aus dem eignen Ge|fühle der inwohnenden göttlichen Kraft, (das ist, sittlicher Vollkommenheit,) wird also nur durch Verbesserung des innern Sinnes gebildet. Damit aber dieser vortrefliche Gedanke, welcher den letzten Endzweck mehrerer Schriften des Verf. ausmacht, nicht zu einem schwärmerischen Hypostasiren eigner Empfindungen Anlaß gebe, wäre eine genaue Bezeichnung seines Umfanges und Inhalts sehr nothwendig. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 64,38.) J. nimmt darauf Bezug in LS2, JWA 1.157,2–11, und im Brief an Rehberg, 2. Mai 1788, ABW I.468 f. 98,20–21 nur mit … der Vernunft.] Zum Verständnis der Vernunft als Sinnliches und Übersinnliches wahrnehmendes Vermögen s. VE, oben 377,31– 33, und JF, oben 208,13–18, 209,33–35; vgl. LS, JWA 1.130,11–13 und Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, 162. – Zu der in DH1 noch nicht getroffenen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft s. oben 63,40–64,44 und VE, oben 377,4–13. 98,32 Substantia … philosophia.] Leibniz an Des-Bosses, 16. Oktober 1706, Opera omnia II,1.276 (Gr II.324 f.): Neque enim materia prima in mole, seu impenetrabilitate, & extensione consistit: materia verò secunda, qualis corpus organicum constituit, resultatum est ex innumeris substantiis completis, quarum quævis suam habet Entelechiam, & suam materiam primam, sed harum substantiarum nulla nostræ perpetuò affixa est. Materia itaque prima cujuslibet substantiæ alterius in corpore ejus organico existentis, alterius substantiæ materiam primam involvit, non ut partem essentialem, sed ut requisitum immediatum, at pro tempore tantùm, cùm unum alteri succedat. Etsi ergò Deus per potentiam absolutam possit substantiam privare materiâ secundâ, non tamen potest eam privare materiâ primâ; nam faceret inde totum purum, qualis ipse est solus. An verò necesse sit Angelum esse formam informantem, seu animam corporis organici quæ ei personaliter unita est, alia quæstio est, & certo sensu in præce-

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dente Epistola exposito negari potest. Vides hinc etiam tolli substantias incompletas, monstrum in vera Philosophia. 99,1 wie der … Verstand.] S. K. zu 67,3–4. 99,5 DER DA IST:] Vgl. Ex 3,14. 99,25–100,31 »Thaten … mußtest.«] [Johann Heinrich Pestalozzi:] Lienhard und Gertrud. Ein Buch für’s Volk. 4 Bde. Berlin / Frankfurt / Leipzig 1781–1787 (KJB 1256: 2., umgearbeitete Aufl., 1790–92). – Diese Zitation ist angeregt durch den Briefwechsel mit Hamann; s. Hamann an J., 1. März und am 15. März 1786, ZH VI.294,18–19 bzw. 319,1–4: Seit den philosoph. Vorlesungen [sc. J. K. Pfenningers; vgl. JWA 1.143,22–33] habe ich kein schöneres beßers u kräftigers Buch gelesen als den dritten Theil des Lienhard u Gertrud, so abscheulich auch Pestalozzi mein Held die Sprache zum Volkston verstimmt hat. J. antwortet am 7. April 1786, ZH VI.345,17–19: Den 3ten Theil v Lienhard u Gertrude habe ich v einem Freunde geborgt, u große Freude daran gehabt. Ich werde mir das Buch anschaffen. – J. hat sich auch eine weitere Schrift Johann Heinrich Pestalozzis angeschafft: Ueber Gesezgebung und Kindermord Wahrheiten und Träume, Nachforschungen und Bilder. Vom Verfasser Lienhardts und Gertrud. Geschrieben 1780. Herausgegeben 1783. Frankfurt / Leipzig (KJB 1425). – S. aber J.s ausführliche Kritik von Lienhard und Gertrud als zu materialistisch im Br. an Pestalozzi, 24. März 1794, Zoeppritz I.175–178. 99,25–26 »Thaten … Worten!«] [Johann Heinrich Pestalozzi:] Lienhard und Gertrud. Ein Buch für’s Volk. T. 3. Frankfurt / Leipzig 1785, 78 f. 99,27–34 »Alles … anstossen.«] Ib. 292. Das Zitat wird eingeleitet durch den Satz: Er [der Schulmeister Glyphi] hielt selbst so viel auf den Schweiß der Tagesarbeit, und dem Müde werden, daß er behauptete, […]. 100,1–4 »Es hilft … gewesen.«] Ib. 306 (nach dem folgenden Zitat). 100,5–7 »So wahr … auslöschen muß.«] Ib. 306 (vor dem vorhergehenden Zitat). 100,8–31 »Wir verheeren .. erziehen mußtest.«] Ib. 408 f. 100,33 ein Aufsatz von A s m u s] Matthias Claudius: Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. T. 1– 2. Hamburg und Wandsbeck 1775, 82–84: Diogenes von Sinope. Leipzig, bey Weidemanns Erben und Reich ec. / Mann im zerrissenen Mantel, mit der ruhigen Mine! ich stehe eifersüchtig an deiner Tonne, und, wenn die verwünschte Kluft zwischen Ideen und Empfindungen nicht wäre, so schiene Morgen die Sonne, wenn sie aus dem Meer steigt, in zwo Tonnen. / | Ich bin sehr aufrichtig, wie du siehst, Diogenes! Die andern zeigen dir bloß ihre brillanten Theile, das mulier formosa Superne, eine volle Brust, einen schönen süßschwatzenden Mund, ein freundliches Complimentirgesicht ec. und ich, meine p a r t e s p u d e n d a e , das desinit in atrum piscem, meine schweren podagrischen Füsse, die ich nachschleppen muß und die meinen Entschlüssen den Hals brechen. Dein Ausleger, so richtig und beredt sein Mund spricht, (seine Füsse sind unterm Mantel verborgen)

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predigt in den Wind. Es ist wohl kein Mensch in Athen, der nicht in gewissen Stunden das Schaale der erkünstelten eingebildeten Bedürfnisse, und die Dornen im Labyrinth der Leidenschaften fühlen, und oft darüber ein sauer Gesicht machen, und an deine Tonne denken sollte; aber was hilft der blosse Ge|danke des Kopfs? Fußsalbe, Mann von Sinope! – Zur Anspielung auf Diogenes von Sinope vgl. Diogenes Laertius: Vitæ philosophorum, VI.2,39 (übers. von Otto Apelt. Hamburg 31990, 314): Als er [sc. ein schuftiger Eunuch] seine Füße mit wohlduftendem Öl salbte, sagte er [sc. Diogenes von Sinope]: »Vom Kopf zieht sich der Wohlgeruch des Öls in die Luft, von den Füßen aber in die Geruchsorgane. 101,1 Beylage.] Zur Datierung s. J. an Hamann, 30. April 1787, ZH VII.184,7 f.: Die Beylage war vor der Erscheinung v Kants Aufsatz über das Orientieren schon entworfen, also vor Oktober 1786. 103,2 Der Transscendentale oder kritische Idealismus,] J.s Formulierung spielt auf Kants Umbenennung des transscendentalen in critischen Idealismus an; s. Kant: Prolegomena, A 70 f., 208 (AA IV.294,1, 375,15. 24). 103,6–9 sie scheinen … stellen wollen.] Vgl. J. an Hamann, 14. November 1786, ZH VII.61,15–21: Mich ärgert an seinen [sc. Kants] Auslegern das geflißentliche Verstecken des Idealismus, der doch die Seele des Systems ist. Erhielten wir mit den Affectionen der Sinnlichkeit, Vorstellungen von Etwas als einem Realen, so hätten wir zugleich damit Vorstellungen von Ursache u Würkung, Erklärung von Raum u von Zeit, u das ganze Gerüst v objectivisierten Subjectivitäten, bliebe ohne Anwendung weil das Bedürfnis hinweg fiel. Sage mir doch, ob Dir das nicht auch handgreiflich scheint. – Von den Beförderern der Kantischen Philosophie waren J. damals bekannt: Carl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. In Der Teutsche Merkur, ab August 1786 in monatlicher Folge; Johann Schultz: Erläuterungen über des Herrn Prof. Kant Critik der reinen Vernunft. Königsberg 1784 (KJB 1112) und Ludwig Heinrich Jakob: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes in Vorlesungen […]. Leipzig 1786. Zu Jakob vgl. Hamann an J., 4.–8. November 1786, ZH VII.44,21 f.: nichts als ein abermaliger Brey der Kritik mit Kants und Schultz Worten wie er selbst sagt; und Hamann an J., 11. November 1786, ZH VII.54,29 ff.: die Schrift sei interessant, insofern Du an der Kantischen ffie und ihren Mißverständnissen Antheil nimmst. Jakob reagiert auf die Kritik J.s am Kantianismus mit dem Schreiben An den Hrn. Prof. Cäsar. (datiert: Halle, d. 15. Aug. 1787), in Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt. Hg. von Cäsar. Bd 5. Leipzig 1787, 226–243, zu DH: 230–241; s. K. zu DH 106,37–38 und 111,9–13. Im Brief an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 228, bezeichnet J. Jakob als Repräsentant […] der Kantischen Philosophie; s. K. zu 111,30. – Vgl. die Darstellung der Kantischen Lehre durch Schütz in ALZ 162, 164, 178, 179 (1785), sowie in Nrr 162 u. 164 Schütz’ Rezension der o. g. Schrift von Schultz. – In EKP bezieht J. sich vor allem auf Carl Christian Erhard Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen

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nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Jena 1786 (KJB 1106: 3. verb. und verm. Aufl. Jena 1794. J. hat für EKP wahrscheinlich die Auflage Jena 21788 benutzt, die den Hg. nicht zugänglich war; die von J. mehrfach angegebenen Seitenzahlen differieren von denen der Auflage 1786 jeweils um ca. 2 Seiten). Schmid (1761–1812) gestaltete noch vor Reinhold die philosophische Fakultät in Jena zu einem Zentrum der Kantischen Philosophie. – J.s Kritik an den Exegeten der Kantischen Philosophie wird bekräftigt durch Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.364 ff. (GA I,4.236 ff.); vgl. K. zu 112,15–16. 103,10–104,2 die Vorurtheile … aufgeben müssen.] Dieser Hinweis spielt vielleicht an auf Spinozas Darstellung seiner Methode der Bewußtmachung und Überwindung der die Freiheit des Philosophierens unterdrückenden Vorurteile; s. Spinoza: Ethica I, Appendix, Opera posthuma, 33 f. (Gb II.77,28– 78,12), und bes. Tractatus theologico-politicus, bes. cap. VII, 84 ff. (Gb III.98 ff.) sowie in der Praefatio (unpag.) (Gb III.12) den Hinweis Spinozas auf jene den Tractatus beschäftigenden Vorurteile, die gegen jede Kritik immun und daher im Prinzip unwiderleglich sind. Hieran knüpft J. an in seiner Lehre von der Macht der Meinung; s. den 2. Brief der Zufälligen Ergießungen, in Die Horen Bd 3, St. 8 (1795), 1–34, und Allwills Briefsammlung (1792), Zugabe an Erhard O**, 297 (WW I.237 f.); vgl. K. zu 254,8–12; ferner WMB, JWA 1.327,20 f. und J.: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug. 103,14–15 Einige Monate … Kantischen Werks,] DH1 erschien im April 1787; s. den Editorischen Bericht. Die Critik der reinen Vernunft / von Immanuel Kant / Professor in Königsberg, / der Königl. Academie der Wissenschaften in Berlin / Mitglied. / Zweyte hin und wieder verbesserte Auflage. Riga 1787 (KJB 852) erschien im Juni 1787. 103,16 Widerlegung des Idealismus,] KrV B 274–279. 103,17 ausführlich geredet] S. VE, oben 392–395. 103,18–23 In der Vorrede … m ü s s e n .] KrV B XXXVII–XLII. 103,23–24 Ich halte … bedeutend,] Vgl. J. an Kleuker, 23. Oktober 1787, Ratjen, 93: Sonnabend habe ich die neue Ausgabe von Kants Critik vorgenommen und werde sie ganz durchgehen. Man verliert viel, wenn man die erste Ausgabe nicht dabey hat. Beyde zusammengenommen machen die Widersprüche des Systems recht auffallend. – J.s Handexemplar der zweiten Auflage (KJB 852) enthält zahlreiche Unterstreichungen und Marginalien; auf 3 von 4 vor dem hinteren Buchdeckel eingehefteten Blättern finden sich Kommentierungen und zusammenfassende Notizen von J.s Hand. 103,27–28 Die folgenden … nachgedruckt.] Außer der 2. Ausgabe der KrV (KJB 852) verzeichnet der Katalog von J.s Bibliothek noch zwei Exemplare der 4. Auflage, Riga 1794 (KJB 853/854), die ebenfalls z. T. ausradierte Notizen tragen. 103,29–30 V o n d e r S y n t h e s i s … i m B e g r i f f e .] KrV A 103–110. 103,35–39 So erzählte … aufgegangen wäre.] Hamann an J., 22. April 1787, ZH VII.154,10–19: Er kann den Hume beynahe auswendig, und dankte mir den Abend noch ihn sein e r s t e s Werk über die menschliche

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Natur kennen gelehrt zu haben, welches in 3 Theilen ausgekommen und wenig Eindruck gemacht hat. – 27. April 1787, ZH VII.167,12–16: Kennst Du des Hume Treatise on human Nature. Vol. I. vom Verstande Vol II. von den Leidenschaften III. von der Sittenlehre die 739 ausgekommen sind, sein erstes Werk? Crispin dankt mir immer dafür, wenn er daran denkt, daß er das Buch durch mich hat zuerst kennen lernen. Da erscheint Hume in so roher Natur, ihrer Blöße u Stärke. 104,6–7 sie erklärt sich entscheidend genug,] KrV A 19–49, A 366– 380. 104,12–26 »Der Transscendentale … erklärt …] KrV A 370. 104,27–105,21 Wenn man … anzutreffen sind. …«] KrV A 372 f. – Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363 f. (GA I,4. 235,7–28), wertet diese Ausführungen J.s als Beleg dafür, daß bereits Kant von einem vom Ich verschiedenen Etwas nichts wisse und die Annahme a n s i c h a u ß e r u n s b e f i n d l i c h e r D i n g e verwerfe. 105,22–30 »Aber im Raume … s i n d .«] KrV A 375 FN. 105,31–106,3 »Wenn wir … verknüpfen.] KrV A 378. 106,3–8 Das Transscendentale … geben.«] KrV A 379. 106,11–32 »Wider diese … n i c h t v o r k ä m e …] KrV A 36 f. – Kant bezieht sich hier auf Einwendungen gegen die in seiner Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. […] Regiomonti 1770, sect. III: De principiis formae mundi sensibilis, § 14 De tempore, entwickelte Auffassung der Zeit; sie wurden u. a. vorgetragen in der Rezension der Schrift durch Johann Schultz in Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen, 22. und 25. November 1771. 106,35 bewußt, u. s. w.«] KrV A 37 FN: bewußt. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst, auch keine den Dingen objectiv anhängende Bestimmung. 106,36 wir Realisten] S. etwa August Wilhelm Rehberg, der einen kritisch an Leibniz anknüpfenden transzendentalen Realismus als Gegenposition zum transzendentalen Idealismus entwirft; vgl. oben 115–120: Berichtigung. Ferner stimmen z. T. mit J.s Einwänden gegen den transzendentalen Idealismus überein: Ernst Platner: Philosophische Aphorismen, 2 T. Leipzig 1784, bes. T. 1.294–312, 305 FN, 341 (zur Kritik an Platners Rückführung der Kantischen Theorie von Raum und Zeit auf Leibniz s. die im K. zu 103,6–9 genannte Schrift von L. H. Jakob, bes. 323–334) und Adam Weishaupt: Ueber Materialismus und Idealismus, der jedoch gegenüber Kants transzendentalem Idealismus die Position Lockes teilt. – Auch Johann Georg Heinrich Feder: Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787 (KJB 674), XIII, bekräftigt seine Absicht, zu Gunsten einer empirischen Philosophie wo möglich, d e n Glauben vollends zu vernichten, wovon der kleinste Ueberrest, wie Kants Beyspiel beweiset, noch so schädlich werden kann, den Glauben an Begriffe, die nicht empirischen Ursprungs sind. 106,37–38 das sind … innerliche Wesen,] Hierzu bemerkt Jakob: An den Hrn. Prof. Cäsar, in Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt

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5 (1787), 231–233: Es scheinen bloß die Ausdrücke innerlich und äußerlich den Herrn G. R. Jacobi zu jenem Mißverstande verleitet zu haben. Denn der Ausdruck i n u n s heißt 1) öfters so viel, als, zu unserm innern Sinn gehörig, so wie a u ß e r u n s dasjenige, was zu unserm äußern Sinne gehört, und was im Raume bestimmt ist; hingegen heißt auch 2) i n uns oft dasjenige, was zu unserm Daseyn und der Möglichkeit unsrer Erkenntnißart überhaupt gerechnet wird, und a u ß e r u n s das, was nicht zu demselben gehört. In der zweyten Bedeutung nimmt es Kant, wenn er sagt, der Raum und die Materie seyn Vorstellungen i n u n s . Hiermit will er keinesweges sagen, wie die Idealisten, daß sie bloße Gedanken, Vorstellungen des innern Sinnes wären, […] sondern die Meinung ist, daß ihm das, was den Körpern und selbst dem Raume zum Grunde liegen möge, gänzlich unbekannt sey, daß er nur so viel gewiß wisse, daß sie als Vorstellungen seines äußern Sinnes, der zu der Möglichkeit seiner Erkenntnißart nothwendig gehört, mithin i n i h m , oder, (um das subjective davon zu entfernen,) mit und in der Erkenntnißart, als wirklich gegeben sind, der Raum als Form, die Körper als Materie. Sie sehen, daß der Ausdruck »in uns« wirklich etwas verführerisches mit sich führt, und vielleicht wäre die Präposition m i t von sichererm Gebrauche, denn der Satz würde alsdann so lauten: Der Raum ist als Form des äußern Sinnes mit uns nothwendig verbunden. Die Sprache scheint uns hier zu verlassen; denn da die Ausdrücke i n und a u ß e r selbst entweder nur comparativ sind, oder nur auf den innern und äußern Sinn gehen, so scheinen sie nicht ohne Schwierigkeit auf das transscendentale Object | anwendbar zu seyn, bey welchem überdem jedesmahl unsre Worte schon ihre Kraft verliehren. – Vgl. die Erläuterung der Kantischen Unterscheidung von Innerem und Äußerem durch Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, 83–85, §§ 198–200. 107,4–8 »Vorstellungen« … haben«] KrV A 490 f. 107,14–30 »Auch … Sinnlichkeit.«] KrV A 125–127. 107,31–32 Realisten, … träumende Idealisten;] Kant: Prolegomena, A 71, § 13 Anm. III (AA IV.293,36); vgl. KrV A 375 FN. 108,3–5 Eindrücke … z u w e g e b r i n g e n :] S. K. zu 110,6–9. 108,7–8 nicht ausser uns … seyn:] KrV A 369–371, A 374 f. – Vgl. EKP, oben 128,19–26. 108,11–14 ein problematischer Begriff … b e r u h t ;] S. die Definition des problematischen Begriffs, KrV A 254 f.; vgl. A 287 sowie EKP, oben 152,25–29. 108,19–21 Der Verstand … verknüpft.] S. bes. KrV A 122–128: Von dem Verhältniße des Verstandes zu Gegenständen überhaupt und der Möglichkeit diese a priori zu erkennen. 108,22–25 wir erkennen … = X.] KrV A 250 f. 108,29–32 jede Zusammenstimmung … angetroffen werden.] S. etwa Leibniz: Nouveaux Essais I,1, § 21, Œuvres philosophiques, 41 (Gr V.70): La nature des choses, & la nature de l’esprit y concourent. Et puisque vous opposés la consideration de la chose à l’apperception de ce qui est

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gravé dans l’esprit; cette objection même fait voir, Monsieur, que ceux dont vous prenés le parti n’entendent par les v e r i t é s i n n é e s , que ce qu’on approuveroit naturellement comme p a r i n s t i n c t & même sans le connoitre que confusément. Il y en a de cette nature & nous aurons sujêt d’en parler; mais ce qu’on appelle la l u m i e r e n a t u r e l l e suppose une connoissance distincte, & bien souvent la consideration de la nature de choses n’est autre chose que la connoissance de la nature de nôtre esprit & de ces idées innées, qu’on n’a point besoin de chercher au dehors. – Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen. (11767), Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin / Stettin 1769 (KJB 969), bes. 117 f. (JubA 3,1.92): Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, überhaupt alle Verhältnisse, die ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten des Mannigfaltigen erfodern, sind Wir|kungen des Denkungsvermögens. Ohne Hinzuthun des denkenden Wesens, ohne Vergleichung und Gegeneinanderhaltung der mannigfaltigen Theile ist das regelmäßigste Gebäude ein bloßer Sandhaufen, und die Stimme der Nachtigall nicht harmonischer, als das Aechzen der Nachteule. 108,39–40 S. 169 … Gesprächs.] S. DH, oben 80 f. 109,12–20 wenn nicht … gegeben sey.] Mit diesen Einwürfen gegen Kants transzendentale Gegenstandskonstitution hat J. beigetragen zu einer erneuten Rezeption Leibnizens als eines – im Sinne Kants – kritischen Denkers und zugleich als Gegenposition zu Kant – eine Einschätzung, die die weitere Diskussion um den transzendentalen Idealismus mit bestimmte. S. die Kant-Kritik Johann August Eberhards in dem von ihm eigens dafür gegründeten Philosophischen Magazin, 4 Bde, 16 Stücke. Halle 1788–1792, bes. I,2.150–174: Ueber die logische Wahrheit oder die transscendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntniß. – Kant antwortet auf diese Angriffe mit der Abhandlung Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. Königsberg 1790, 21791, bes. A 121 ff. (KJB 844 bzw. 845, AA VIII.185–252). – S. ferner den Streit zwischen Eberhard und dem Kantianer Johann Schultz über den Zusammenhang von Noumena und Erscheinungen, in dessen Verlauf Schultz in der Schrift Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft. 2 T. Königsberg 1789–92 (KJB 1113), T. 2.99, zugesteht: Daß der objective Grund der Erscheinungen in Etwas liege, das Ding an sich ist, und diese daher, wie Hr. Eberhard mehrmals erinnert, Phænomena bene fundata sind, ist allerdings richtig. – Zur weiteren Diskussion um Leibniz’ Philosophie s. u. a. die Preisschriften über die Frage: Welche Fortschritte hat die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht, von Joh. Christoph Schwab, Carl L. Reinhold, Joh. Heinrich Abicht. Berlin 1796, und Kant: Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? Hg. von Friedrich Theodor Rink. Königsberg 1804 (KJB 858, AA XX.253–332). 109,20–23 daß dieser Anstand … mußte,] Vgl. UK, oben 289,8–13.

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109,24–26 daß ich o h n e … konnte.] Dieser Einwand wurde vielfach aufgenommen, bes. (ohne Hinweis auf J.) von [Gottlob Ernst Schulze:] Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik. [Helmstädt] 1792, 294 f.: Bekanntlich haben alle Gegner der kritischen Philosophie die in derselben vorkommende Ableitung eines gewissen Theils unserer Erkenntniß aus den Dingen an sich eben so wenig, als die Ableitung der nothwendigen synthetischen Urtheile aus dem Gemüthe in derselben mit den anderweitigen Grundsätzen dieser Philosophie vereinbaren können, und es schlechterdings unbegreiflich gefunden, wie in derselben einerseits sowohl alle Vorstellbarkeit und Erkenntniß der objektiven Eigenschaften der Dinge an sich, als auch die Richtigkeit der Anwendung der Begriffe Ursache und Wirklichkeit auf Gegenstände außer unserer empirischen Anschauung geleugnet, und dennoch auch andererseits wieder die Materie unserer Sinnen-Erkenntniß von Dingen, die mehr als Vorstellungen in uns seyn sollen, abgeleitet werden könne. Sie erklärten es für widersprechend, dem Prinzip der Caussalität und der Kategorie E x i s t e n z alle Giltig|keit außer den Vorstellungen abzusprechen, und doch mit Gewißheit einen realen Zusammenhang dieser Vorstellungen mit Dingen außer uns und außer denselben zu behaupten. – Vgl. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363–373 (GA I,4.235–241). 110,6–9 ein transscendentales Etwas … Würkung sey.] S. KrV A 358: Das transzendentale Objekt ist dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so afficirt, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt. – A 494: Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Object anschauen. Vgl. A 277 f., A 288, A 372, A 379 f., A 393, A 613. – Prolegomena, 105, § 32 (AA IV.314,36–315,1): Er ist vielmehr nur die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas afficirt werden. Zur systematischen Funktion des transzendentalen Gegenstandes als regulatives Prinzip der Vernunft s. KrV A 697 f. – S. ferner KrV A 538 f. zur Annahme eines transzendentalen Grundes der Einheit von Naturnotwendigkeit und Freiheit, indem wir diesem transscendentalen Gegen|stande, außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, […] auch eine Causalität beylegen […], die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Würkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird. – Vgl. EKP, oben 159,29–160,27. 110,16–17 die Sprache der Kantischen Philosophie] KrV A 20: die Würkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben afficirt werden; vgl. A 494. 110,22–26 Spontaneität … Einbildungskraft nennen.] Den von J. hier herausgehobenen Zusammenhang von Spontaneität und Einbildungskraft verdeutlicht Kant noch stärker in der zweiten Auflage, KrV B 151 f., B 162 FN. – Vgl. UK, oben 280,6–24.

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110,26–111,4 Da aber … Weisung.] S. bes. KrV A 42 f. 111,4–6 Weder der Satz … Dinge an sich an.] S. etwa KrV A 200– 202 bzw. A 185 f. 111,7–8 nichts, was … objective Bedeutung hätte.] Dieses kritische Resümee J.s wird aufgenommen u. a. von Adam Weishaupt: Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum. Nürnberg 1788, bes. 64 ff. 111,9–13 Ich frage: … machen will?] Diesem Einwand entgegnet Jakob: An den Hrn. Prof. Cäsar, in Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, Bd 5.235: Es muß nun auch sehr begreiflich seyn, wie es nicht nur dem Kantischen System gar nicht widerspreche, sondern vielmehr demselben ganz gemäß sey, zu sagen: die Gegenstände machen einen Eindruck auf uns: denn dieses kann richtig interpretirt weiter nichts heissen, als: Gegenstände des äußern Sinnes (äußere Erscheinungen) afficiren den innern Sinn und sind wirkliche Gegenstände der Gedanken, mithin von den Gedanken selbst hinlänglich unterschieden. – 236 f: Daß Kant […] die Erscheinungen dem transcendentalen Object beylegt, und also selbst körperliche Prädicate als in ihnen gegründet annimmt, ist bloßes Bedürfniß der menschlichen Vernunft, von welchem er sich so wenig als irgend ein andrer Weiser loswinden will [../.]. Er unterscheidet sich also nur dadurch von andern Philosophen, die mit ihm auf gleiche Art dem Bedürfnisse ihrer Vernunft folgen, daß jene sich einbilden, etwas objectives erwischt zu haben, und solches […] durch nicht sinnliche und eben deshalb ganz leere Prädicate bestimmen, der Königsbergische Weise aber sich nicht mehr anmaßt, als er weiß; | daß ihm nehmlich sein subjectives Bedürfniß kein Recht giebt, seine Vorstellungen für objectiv zu halten. – 237: Herr Jacobi verfährt in seiner Schrift viel zu dogmatisch, und rühmt sich, Dinge z u wissen, welche vermöge der Natur des Menschen nie gewußt werden können. – S. demgegenüber die implizite Aufnahme der Jacobischen Einwände durch [G. E. Schulze:] Aenesidemus, 295 f. FN: Die Vernunftkritik setzt es eigentlich als an sich schon gewiß und ausgemacht voraus, daß Dinge außer uns vorhanden seyen, welche das Gemüth affizieren, und dadurch das Erkenntnißvermögen allererst in Thätigkeit versetzen; und sie hat, wenn man die in ihr vorkommende sophistische Widerlegung des Berkeleyischen Idealismus ausnimt, sonst weiter gar keine Beweise für die Wahrheit jenes Satzes, daß nämlich realiter existierende Dinge unser Gemüth affizieren, besonders aufgestellt. Seitdem aber einige von den Gegnern der kritischen Philosophie anfiengen zu behaupten, dieser Satz und die Erkenntniß seiner Wahrheit widerspreche den anderweitigen Lehren der Vernunftkritik über die Gränzen des menschlichen Wissens, so haben die Anhän|ger derselben ihn mit Beweisen zu unterstützen gesucht, aber mit Beweisen von ganz verschiedener Art. Die mehresten unter diesen Anhängern behaupten jedoch, die Dinge an sich ständen in einem wirklichen Caussal-Verhältnisse zu unserm Erkenntnißvermögen, und dieses lasse sich von uns einsehen; ohne sich aber darüber zu erklären, wie man dieß ohne den Resultaten der Vernunftkritik zu widersprechen, die nur von CaussalVerhältnissen unter Vorstellungen etwas wissen will, behaupten könne.

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111,30 mystischen Sinn beylegt.] Vgl. UK, oben 296,1–17. – J. wendet Kants Kritik des mystischen und schwärmerischen Idealismus Berkeleys (Prolegomena, 62–71, § 13 Anm. II und III (AA IV.288–294), bes. 70 (AA IV.293), gegen den transzendentalen Idealismus selbst. – Hiergegen wendet sich Jakob: An den Hrn. Prof. Cäsar, in Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, Bd 5.230: Man sieht hieraus, wie ungerecht Hr. Geh. R. Jacobi, dieser sonst so scharfsichtige Schriftsteller, gegen K a n t e n ist, wenn er meint, Kant verfalle unvermeidlich in den (empirischen) Berkleyischen Idealismus, und der transscendentale sey von diesem gar nicht unterschieden. – Jakob sieht somit J. in der Nähe jener in der Garve-Federschen Rezension der KrV (in Zugaben zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen (19. Januar 1782), 3. St., 40–48) vertretenen These, gegen die Kant seine scharfe Kritik im Anhang der Prolegomena, 202–215 (AA IV.372–380) richtet. – Vgl. J. an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 228: Herr Jakob, den ich sehr hoch schätze, hat dem Verfasser des Gesprächs über Idealismus und Realismus vorgeworfen, er bürde Kanten, höchst ungerecht, den Berkeleyschen Idealismus auf. Mir kam dieser Aufsatz erst anderthalb Jahre nach seiner öffentlichen Erscheinung zu Gesicht und ich bedauerte, ihn nicht früher gekannt zu haben, weil ich dann mit einer Rettung des Berkeley wider den ihm gemachten Vorwurf des Idealismus geantwortet hätte. Der Vortheil, da ich mit einem Repräsentanten der Kantischen Philosophie zu thun hatte, wäre ganz auf meiner Seite gewesen. Es kann im Grunde nur Einen Idealismus geben, und dieser alleinige Idealismus ist der unbekannte Gott, vor dessen Altar die Liebhaber der speculativen Philosophie, sammt und sonders, vornehmlich aber seit Cartesius, heute diesem, morgen einem andern Idol ihre Andacht weihen. Berkeley, wahrlich ein trefflicher Denker! war hinter Locke auf gutem Wege, aber weder er selbst, noch sein Nachfolger Hume konnten diesen Weg vollenden. Kant, mit einem Riesenschritte, erreichte das Ziel. Von der Stelle aus, wo er seine Fahne aufsteckte, übersehen wir Jahrhunderte des menschlichen Denkens mit einer Klarheit, die sein Werk ist, wenn sie gleich nicht sein Zweck war. Die durch ihn vollendete bewundrungswürdige Theorie eines durchaus bündigen Idealismus verschlingt alle die übrigen Systeme. 112,5–6 Da aber … Absicht verlöre,] Vgl. die implizite Aufnahme dieser Argumentation J.s durch [Schulze:] Aenesidemus, 297–299: Die kritische Philosophie behauptet nun allerdings wohl, daß es solche Dinge an sich objektiv gäbe, und daß sie der [Q: den] Real-Grund des Inhalts unserer Erfahrungskenntnisse seyen: Allein sie behauptet dieß ohne allen Grund, und hat durch ihre Lehren über die Natur und Bestimmung der Grundsätze des reinen Verstandes und der reinen Vernunft alle Möglichkeit, jene Behauptungen zu erweisen, gänz|lich zerstört. Denn wenn es wahr ist, wie die kritische Philosophie apodiktisch erwiesen zu haben vorgiebt, daß eine Erkenntniß des Dinges an sich alle Fähigkeiten unsers Vorstellungsvermögens gänzlich übersteige, und daß dieses Ding uns nach dem, was es objektiv ist, völlig unbekannt sey; so hat die Behauptung, dasselbe sey eine Bedingung, unter der wir allein Erfahrungskenntnisse zu

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besitzen im Stande sind, gar keinen Sinn, weil man, um behaupten zu können, Dinge an sich liegen den Vorstellungen in unserm Gemüth zum Grunde, doch zum wenigsten dieses wissen muß, daß Dinge an sich realiter existieren, und Ursachen von etwas seyn können. Wenn man ferner annimt, daß das Prinzip der Caussalität gar nicht auf Dinge an sich angewendet werden dürfe, sondern nur in Beziehung auf das, was als Erfahrung bloß subjektiv in uns da ist, Giltigkeit habe (wie auch die kritische Philosophie völlig erwiesen zu haben vorgiebt); so fällt dadurch wieder die Möglichkeit weg, den Zusammenhang gewisser Theile unserer Erkenntniß mit Dingen, die nicht zu dieser Erkenntniß selbst gehören, darthun zu können, und ist das Prinzip der Caussalität außer unserer Erfahrung ungiltig, so ist es ein Mißbrauch der Verstandesgesetze, wenn man den Begriff U r s a c h e auf etwas anwendet, so außer unsern Erfahrungen und gänzlich unabhängig von denselben da seyn soll. Wenn also auch die kritische Philosophie gar nicht gerade zu leugnet, daß es Dinge an sich, als Ursa|chen des Stoffs der empirischen Erkenntnisse gäbe, so muß sie doch eigentlich, vermöge ihrer eigenen Prinzipien, der Annahme einer solchen objektiven und transscendentalen Ursache des Stoffes unserer empirischen Erkenntniß alle Realität und Wahrheit absprechen, und nach ihren eigenen Grundsätzen ist also nicht nur der Ursprung des Stoffes der empirischen Erkenntniß, sondern auch deren ganze Realität, oder deren wirkliche Beziehung auf etwas außer unsern Vorstellungen völlig ungewiß und für uns = x. – Vgl. ib. 127 ff.; 155–157, 263 f. 112,12 glauben will,] Vgl. die Erläuterung in VE, oben 391,31– 392,24. 112,15–16 den kräftigsten Idealismus, … behaupten,] Auf diese Prognose beziehen sich, in vielfacher Abhängigkeit von J.s Argumenten, [G. E. Schulze:] Aenesidemus, 127–130, 298 ff., mit einer ausführlichen Kritik an Kants Begriff des Dings an sich und an der Realität des Kausalitätsbegriffs; ferner Salomon Maimon: Versuch über die Transscendentalphilosophie mit einem Anhang über die symbolische Erkenntniß. Berlin 1790: Die Dinge sind Komplexe von Vorstellungen, die nunmehr ausschließlich als Produktionen des Bewußtseins anerkannt werden. – S. auch Fichtes Kritik am Kantianismus der Kantianer (Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363– 373, Zitat 366 (GA I,4.235–241, Zitat 237,13) unter eingehender Bezugnahme auf die von J. aufgedeckten Unstimmigkeiten in Kants Begriff des Ding an sich, ferner Fichtes Aenesidemus-Rezension, ALZ 47–49 (11./12. Februar 1794), Sp. 369–374, 377–383, 385–389 (GA I,2.41–67). – S. ferner J.s Hinweise auf seinen Anteil an der nachkantischen Philosophie in ÜTB, oben 167,33–34, und JF, oben 198,1–14. 112,17 spekulativen Egoismus] Egoismus ist hier zu verstehen im Sinne eines erkenntnistheoretischen Solipsismus, d. h. als Standpunkt eines radikalen erkenntnistheoretischen Idealismus, der eine vom Bewußtsein unabhängige Außenwelt leugnet; vgl. DH, oben 32,20–22, sowie J.: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, 168: Wäre die Gewalt des sinnlichen Eindrucks nicht unwiderstehlich, so hätten wir wahrscheinlich noch viel

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mehr eigentliche Idealisten und Egoisten […]. – Vgl. JF, oben 195,3, sowie Allwills Briefsammlung (1792), Zugabe. An Erhard O**, 291 (WW I.234), und die Aufnahme von J.s Kantkritik durch Weishaupt: Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum, 62 f.: Die Dinge selbst sind so gut, als ob sie nicht wären; ich weiß nicht gewiß, ob sie sind […]; selbst daß ich mich verändere und so mancherley Erscheinungen habe, wäre nichts weiter als eine bloße Erscheinung. […] Wer schaudert nicht vor solchen Folgen zurück? Kann dieß Wahrheit seyn, was allen Menschensinn so gewaltig empört? – Hier ist kein Mittel. Entweder der gröbste (nicht Idealismus) Egoismus, der jemahlen gedacht oder gelehrt worden, ist die Folge eines solchen Systems: oder es giebt Gegenstände ausser uns […]. – J.s DH veranlaßt Weishaupt wohl auch ib. 77–83 zum Entwurf eines Dialogs zwischen dem Egoisten und dem Ich über das Dasein und die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen außer uns. – Vgl. jedoch die positive Wendung der Kritik am transzendentalen Idealismus durch C. L. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag / Jena 1789 (KJB 1047), u. a. 551 f.: Der Egoist läugnet keineswegs das wirkliche Daseyn, sondern nur die Erweislichkeit anderer Substanzen ausser seinem Ich. Im Bewußtseyn, behauptet er, kömmt nur das Vorstellende und die Vorstellung und kein von beyden verschiedenes D i n g a n s i c h vor. Das vorgestellte Ding a u s s e r m i r ist, in wieferne ich es zu denken vermag, nur | eine andere Art von Vorstellung; etwas in mir, ein Gedanke; den ich mit demjenigen, was nicht in meinem Gemüthe vorkömmt, nicht vergleichen, von dem ich also auch nicht wissen kann, ob ihm etwas ausser mir entspricht. 112,26 die Vernunft in Ruhe zu setzen,] KrV A 758–769: Von der Unmöglichkeit einer sceptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft, bes. A 761. 112,33 Nafe, … frenwn.] S. K. zu 7,8. 115,1–4 Berichtigung … betreffend.] J.s Berichtigung vom 28. Mai 1788 ist erschienen im Intelligenzblatt der Allgem[einen] Literatur-Zeitung vom Jahre 1788. Nr 24, Sp. 209–213. Sie antwortet auf die Rezension von [August Wilhelm Rehberg:] Breslau, bey Löwe: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch v. F. H. Jacobi. 1787. X u. 230 S. (18 gr.) in ALZ 92 (16. April 1788), 105–112. Auf J.s Berichtigung hat Rehberg geantwortet mit einer GegenErklärung, in Intelligenzblatt der Allgem[einen] Literatur-Zeitung vom Jahre 1788. Nr 35, Sp. 305–308 (gez. Hannover den 9 Julius 1788. / Rehberg.). – Zur Entstehungsgeschichte s. den Editorischen Bericht, 455 f. 115,10 von einem Manne, … zu reden,] J. an Rehberg, 2. Mai 1788: Als ich Ihren Brief vom 24sten April erhielt, war die No. 92 der Allg. Lit. Z. schon in meinen Händen; und es hatte mich nicht wenig überrascht, mein Gespräch in einem so edeln Tone beurtheilt zu finden. J. schreibt weiter, Rehberg bekomme für dießmal nichts Antikritisches von mir zu lesen; aber gewiß werde ich die Gelegenheit nicht ganz vorbeigehen lassen, | mich deutlicher gegen einen Mann zu erklären, vor dem man Ehre hat zu

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reden. – August Wilhelm Rehberg (1757–1836), aus Hannover, Geheimer Regierungssekretär, Philosoph, Anhänger und Kritiker der Kantischen Philosophie; s. seine Rezension der KpV in ALZ 188 (6. August 1788), 345–360; seit Anfang 1788 Mitarbeiter der ALZ; s. Rehbergs Bemerkungen in der GegenErklärung (s. vorhergehende Anm.), Sp. 306. – Rehberg hat J. seine Philosophischen Gespräche über das Vergnügen. Nürnberg 1785, übersandt; vgl. J. – rückblickend – an Hamann, 3. Juni 1788, ZH VII.505,15–18: Der Brief enthielt eine Frage, Spinoza betreffend. Ich antwortete wenige Zeilen und schickte ihm die Briefe an Mendelssohn, welche eben die Preße verlassen hatten. – Auf diese Zusendung hat Rehberg mit einem ausführlichen Brief vom 12. Dezember 1785, JBW I,4.272 f., geantwortet; danach setzt die Korrepondenz erst wieder ein mit Rehbergs Brief an J. vom 24. April und J.s Antwort, 2. Mai 1788, ABW I.465 f.: Auffallend war mir bei Erhaltung Ihres Briefes, daß ich seit einiger Zeit besonders oft und viel an Sie gedacht und auch das Schreiben wieder vor die Hand genommen hatte, womit Sie mich am Ende des Jahres 85, kurz vor Mendelssohns Tode und meiner Steinigung, beehrten. Theils wegen dieser Umstände und ihrer Folgen, theils weil Witzenmann, den Ihr schöner Brief ganz ungemein interessirt hatte, zu meiner Antwort eine Beilage schreiben wollte, wurde diese Antwort verschoben und unterblieb am Ende ganz. Nun wollte ich von Ihrem alten Briefe her doch noch eine Veranlassung nehmen, an Sie zu schreiben, zuvor aber Ihre wichtige Schrift, über das Verhältniß der Metaphysik zur Religion, noch einmal durchlesen, um Ihnen ein paar Bemerkungen vorzulegen, die ich beim ersten Durchlesen gemacht zu haben mich erinnerte. [Rehberg: Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion. Berlin 1787 (KJB 1023; J.s Exemplar mit Widmung: Herrn Geheim. Rath Jacobi von dem Verfaßer)] Leider habe ich seit zwei Monaten, da ich diesen Vorsatz faßte, nicht dazu kommen können; und itzt sind wir gar Feinde und harte Widersacher geworden. Ich denke aber, wir wollen, nach dem Ausdrucke des Verfassers der Lebensläufe [sc. Theodor Gottlieb v. Hippel], g u t e F e i n d e seyn; bessere F e i n d e , als die mehrsten Freunde Freunde sind, selbst unter Dutzbrüdern. (Fortsetzung im K. zu 117,29– 118,2). 115,12 an einem andern Orte,] Vgl. J. an Kleuker, 13. Oktober 1788, Ratjen, 118: Ich bin gegenwärtig daran, Kants Kritik der practischen Vernunft zu studieren und werde Ihnen seiner Zeit allerhand darüber zu sagen haben. Sie können sich vorstellen, wie merkwürdig das für mich seyn muß, daß Kant mit mir den Glauben an Gott auf das f a c t u m der Causalität menschlicher Vernunft gründet, und kein Mittel gegen den Spinozismus weiß, wenn man nicht Freyheit geradezu annimmt und voraussetzt. Und dennoch gehen wir in der Vorstellungsart und in den Principien so ganz von einander ab. Ich werde nächstens hierüber etwas in einem Aufsatze sagen, den ich gegen Rehbergs wiederholte Beschuldigung, daß meine Schrift über die Lehre des Spinoza mit dem Gespräche über Ideal. und Real. nicht harmoniere, zu schreiben fest entschlossen bin. – Diese Beschuldigung erhebt Rehberg in seiner Rezension des DH, Sp. 110 (Fortset-

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zung des Zitats aus K. zu 64,23–25): In den Briefen über den Spinoza setzte Hr. J. voraus, daß jener Grundsatz des Spinoza zugestanden werde, wie ihn auch wirklich alle dogmatischen Metaphysiker zugeben; und in dieser neuen Schrift sucht er den Leibnitzischen Grundsatz durch den auf seinen Glauben gestützten transscendentalen Realismus zu erweisen. Aber er behauptete doch dort, daß Spinoza durch keine metaphysischen Grundsätze zu widerlegen sey, und hier sucht er Leibnitzische Grundsätze zu erweisen, die den Sp. widerlegen. In der ersten Schrift behauptete er, die ganze angeblich atheistische Metaphysik des Sp. sey durchaus auf ihrem eignen Wege nicht zu widerlegen, und man könne sie nur durch die unmittelbare Empfindung widerlegen, welche uns zwinge, jenen Weg zu verleugnen, wenn gleich die Vernunft genöthigt sey, ihn für richtig zu halten: und hier führt er ein System von Metaphysik aus, welches sich mit dieser letzten Empfindung nicht nur wohl verträgt, sondern darauf gebauet ist. Und dennoch soll man hier unter Glauben eben das verstehn, was man damals darunter verstehn mußte? – In seiner GegenErklärung, Sp. 305, beharrt Rehberg auf seiner Interpretation: Daß im Blick auf das Verhältnis von Vernunft und Glauben aufgrund von LS und der Resultate Wizenmanns ein Irrthum in Absicht auf Hrn. J. Meynung statt gefunden, beweisen seine Gespräche über den Idealismus. Den Beweis aber, daß damals ein Irrthum statt finden m u ß t e , weil die Briefe über den Sp. mit den Gesprächen über den Idealismus nicht ganz harmoniren, denke ich, enthält meine Beurtheilung. Es ist dazu aber auch schon die Ueberschrift von Hrn. J. Aufsatze im Februar des deutschen Museums hinlänglich [sc. Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist]. – In der in die Vorrede zu LS2, JWA 1.154–157, eingeschobenen n e u n t e[n] Beylage zitiert J. Rehbergs Forderung nach genauer Abgrenzung der Empfindung von Göttlichen Dingen (s. K. zu 98,17–19) und resumiert 157,14 f.: Um dieser Forderung vollkommen Genüge zu thun, müßte ich mein Gedankensystem von Grund aus, und im Zusammenhange mit allen seinen Folgen darlegen, welches nur in einem besondern, und zwar sehr kritischen Werke geschehen könnte. S. auch die anschließenden Überlegungen über seine Stellung zum Cartesianismus, 157,15– 32. Die hierin deutliche Erweiterung des zunächst geplanten Aufsatzes zu einem Werk hat wahrscheinlich die Verwirklichung der ursprünglichen Absicht verhindert. 115,13–15 Herrn Hofrath Feder … I Band)] Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821), seit 1768 Prof. der Philosophie in Göttingen. – S. seine Rezension David Hume über den Glauben. Oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch von Friedrich Heinrich Jacobi. (gez. F.). In Philosophische Bibliothek, hg. von J. G. H. Feder und Christoph Meiners. Bd 1. Göttingen 1788, 127–149. – Feder stimmt ebenso wie Rehberg dem Rückgriff auf Leibniz’ transzendentalen Realismus als Gegenposition zum transzendentalen Idealismus Kants zu, wünscht jedoch eine deutlichere Explikation der Anknüpfung an Leibniz und fragt ib. 143: wie viel Grund für Leibnitzens H.armonia P.raestabilita sich aus gemein natürlicher Erkenntniß herholen lasse? Und

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ob auch die hier der Seele zugeschriebene Selbstthätigkeit mit dem, was der Verf. vorher vom Verhältniß der Vernunft zur Empfindung, und vom Ursprunge des Bewußtseyns ohne alle Operation des Verstandes, behaupten wollte, so recht gut zusammen passe? / Ich hoffe übrigens doch, daß der Verf. mich nicht, um dieser Einwendungen willen, zu den philosophischen Z a n k e r n rechnen werde, mit welchen er sich um keinen Preiß einlassen möchte (S. 167.) [s. DH, oben 80,1–2]. Nur darum erkläre ich mich gegen diese eine Hälfte der Philosophie des Verf. weil sie mir der andern, die ich so hochschätze, nachtheilig scheint. 115,23–31 »Ausserdem … the senses.«] Rehberg: Rezension des DH (s. K. zu 115,12), Sp. 106; ib. am Schluß: repose faith in the senses. 115,33–38 In Johnson’s … of faith.] Samuel Johnson: A Dictionary of the English language, in which the words are deduced from their originals, explained in their different meanings, and authorized by the names of the writers in whose works they are found. Abstracted from the folio ed. by the author … to which is prefixed a grammar of the English language. 6. ed. corr. by the author. 2 Vols. London 1778 (KJB 2479), Vol. I, Art. belief. 115,38–116,6 Herr Adelung … Creed.] [Johann Christoph Adelung:] Neues grammatisch-kritisches Wörterbuch der Englischen Sprache für die Deutschen; vornehmlich aus dem größern englischen Werke des Hrn. Samuel Johnson nach dessen vierten Ausgabe gezogen, und mit vielen Wörtern, Bedeutungen und Beyspielen vermehrt. Bd 1. Leipzig 1783, Sp. 450 f.: Belief. subst. (von to believe.) I) Der Glaube, das ist, der Beyfall um des Zeugnisses eines anders willen. Faith is a firm belief of the whole word of God, Wake. Light of belief, leichtgläubig. Hart of belief, schwergläubig. Easiness of belief, die Leichtgläubigkeit. Hardness of belief, Ungläubigkeit. Past all belief, unglaublich. 2) Besonders der Glaube im theologischen Verstande; wie faith. No man can attain belief by the bare contemplation of heaven and earth, Hooker. 3) Die Religion, die sämmtlichen Lehren derselben, auch im Deutschen oft der Glaube. The general persecution, whereunto christian belief was subject upon the first promulgation, Hooker. 4) Meynung. All treaties are grounded upon the belief, that states will be found in their honour and observance of treaties, Temple. 5) Die geglaubte Sache, der Gegenstand des Glaubens. Superstitious prophecies are not only the belief of tools, but the talk sometimes of wise men, Bacon. 6) Das Glaubensbekenntniß, wie Cread [!] (Kursivierung der Quellen im Original). 116,8 Ainsworth] Ainsworth’ Dictionnary liegt in zahlreichen Auflagen vor; s. etwa Robert Ainsworth’s Dictionary, English and Latin. A new edition, with great additions and amendments. London 1773. 116,8 Boyer] Dictionnaire royale françois-anglois et anglois-françois, en abrégé, par A[bel] Boyer. Avec des Accents pour faciliter aux Étrangers la prononciation de la Langue Angloise. Douzieme édition soigneusement corrigée, & enrichie de nouvelles augmentations. T. I. Lyon 1768 (KJB 2455), 134: Croyance, s. f. Faith, belief. (Sentiment, opinion,)

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belief, opinion, thoughts. Croyant, s. m. A believer, a faithful. – 224: Foi, s. f. Faith. (L’objet de la foi,) faith, doctrine, religion, or persuasion. (Croyance,) faith or belief. (Parole, promesse,) faith, promise, word, parole. Bonne-foi, good faith, honesty, sincerity, fidelity, plain dealing. Un homme de bonne foi, an honest man. Un homme de mauvaise foi, a knave, a cheat, a double dealer. Laisser quelqu’un sur sa foi, to leave one to himself or to his own conduct, to let him be his own master. Foi, (hommage qu’un Vassal rend à son Seigneur,) fealty. Foi, (preuve,) assurance, proof or testimony. Voilà qui en fait foi, that proves the matter. Possesseur de bonne foi, one that enjoys a thing bona fide. Un homme digne de foi, a credible man. Ma foi, ou par ma foi, faith, upon my faith. De bonne foi, (en vérité,) faith, indeed or truly. (Kursivierung der englischen Übersetzung im Original). 116,8–9 Lewis Chambaud und Robinet,] A. Boyer’s New Dictionary english and french: and french and english. Containing the signification of words, with their different uses. […] The whole extracted from the best writers, corrected, improved and enlarged by Lewis Chambaud and J. B. Robinet. Vol. II. Containing the English before the French. Paris / Amsterdam / Utrecht 1785, 45 f.: BELIEF, s. [faith; credit; opinion] Foi; croyance; sentiment, opinion. The firm belief of the word of God, La ferme croyance de la parole de Dieu. No man can attain belief by the bare contemplation of heaven and earth, L’homme ne peut point parvenir à la foi, par la simple contemplation du ciel & de la terre. It is a wrong belief, C’est un sentiment erroné, une opinion erronée. Light of belief, Qui croit légérement, crédule. Hard of belief, Qui ne croit pas aisément. Past all belief, Qui passe toute croyance, incroyable. / To BELIEVE, ING, ED, v. a. [to credit upon the authority of another] Croire, ajouter foi à. I believe you, Je vous crois, They shall believe the mysteries of our faith, Ils croiront les mysteres de notre foi. / To BELIEVE, v. n. Croire, penser. I believe so, Je crois que oui. I believe not. | Je crois que non. To believe in God, Croire en Dieu. He believes in Astrology, Il croit aux Astrologues. They may believe that the Lord God of their fathers hath appeared unto thee, Ils peuvent croire que le Dieu de leurs peres s’est montré à toi. / To make one believe, Faire accroire. To make one believe that the moon is made of green cheese. Faire accroire qu’il fait nuit en plein midi. / BELIEVED, part. adj. Cru, que l’on croit, tenu pour vrai. He must be believed on his word, Il doit être cru sur sa parole. That is to be believed, Cela est croyable. A person not to be believed, Une personne qui ne doit pas être crue. / BELIEVER, s. [one who believes, or gives credit] Qui croit, croyant. – 193: FAITH, s. [belief of religious truths; the credenda] Foi, croyance; l’objet de la foi, la doctrine, les dogmes. Faith, if it has not works, is dead, La foi, sans les œuvres, est une foi morte. You have no faith in miracles, Vous n’avez pas de foi aux miracles. The Christian faith, La foi Chrétienne, la doctrine, les dogmes du Christianisme. […] / FAITHLESS, adj. [unbelieving; perfidious, disloyal] Incrédule, mécréant, infidele; perfide, déloyal. – 124: CREED, s. [the articles of faith] Symbole, confession de foi. The creed of the Apostles, Le symbole des Apotres. There’s my creed, Voilà ma confession de foi. – Vgl. Nouveau Dictionnaire françois-anglois, et anglois-françois, de

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Mr. A. Boyer. Contenant la signification et les differens usages des mots […]. Corrigé & considérablement augmenté par M. Louis Chambaud, et J. B. Robinet. Tome premier, contenant le françois devant l’anglois. Paris / Amsterdam / Utrecht 1785, 201: Croire; 202: Croyance; 338: Foi. (Kursivierung der französischen Übersetzung im Original). 116,23–24 (S. 38.–48. … Realismus)] S. DH, oben 27–31, mit dem Originaltext in der Fußnote. 116,30–117,4 »Ferner … bewußt ist.«] Rehberg: Rezension des DH, Sp. 105 f. , mit Bezug auf LS1 (JWA 1.138,14–30) und [Wizenmann:] Die Resultate, 187: Nun ist es nicht die Vernunft, nicht die Ueberzeugung aus abgezogenen Begriffen, sondern es ist Glaube an Tradition, an positive Lehre, an Vätersagen, die sich auf Geschichte beziehen, was den Glauben an eine Gottheit und an Religion fortpflanzte und unterhält. – 189 f.: Wie laut sagt es die Geschichte aller Zeiten, daß der Mensch, in Ansehung Gottes, historisch unterrichtet seyn will, daß ihm eine W i l l k ü h r d e s H a ndelns von dem Unsichtbaren, wenn er an ihn glauben soll, offenbar werden muß, [FN] und | daß er a u s diesen Wahrnehmungen, Traditionen oder positiven Lehren, sich das System bildet, welches er hernach Vernunfterkenntnis nennet! – 197 f.: Ausser diesem positiven Verhältnisse, kann keine R e l i g i o n , d . i . k e i n e V e r b i n d l i c h k e i t z u i r g e n d e i n e r H a n d l u n g u m G o t t e s w i l l e n , statt finden. Sondern die Natur ist mein Gesez, und ich | selbst, mein Allerhöchstes. Triebe des Leibes, sind die Pflichten, die mich verbinden. Genuß der Gegenwart, ist der Geist consequenter Philosophie; und das Ziel der Vernunft, vernünftiger Weise, kein anderes, als die Triebe, Begierden und Leidenschaften in dasjenige System zu bringen, wodurch das Interesse des Einzelnen mit dem Interesse des Ganzen harmonisch wird. Helvetius, ist mein Evangelist. – 217–219: Erst Zeichen und Offenbarungen des unsichtbaren Wesens, und dann der Begrif von diesem Wesen. Erst Gebote Gottes, und dann Religion. Erst der Begrif der Dauer, und dann der Begrif der Ewigkeit. Erst Götter, und dann ein Gott. – Alle Begriffe des Menschen kommen aus Vergleichung des Vergleichbaren, aus unmittelbarer Beziehung des Beziehungsfähigen; nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Gott muß sich erst vergleichbar machen, ehe er erkannt; muß mit dem Menschen erst in Be|ziehung treten, ehe er von ihm verehrt werden kann. Zuerst G l a u b e , und dann E r k e n n t n i s Gottes; […] / Nach der Analogie dieser Prinzipien […] hat sich die Geschichte des Menschengeschlechts, wo sie sich entwiklen konnte, entwikkelt: überall das Allgemeine n a c h dem Einzelnen, der Geist n a c h dem Körper, das Ewige nach dem Zeitlichen; und so auch, | das Ewige du r c h das Zeitliche, der Geist d u r c h den Körper, das Allgemeine d u r c h das Einzelne. – 253: Wir können demnach vollkommen versichert seyn, daß der Mensch für die transscendente Erkenntnis Gottes nicht gemacht ist; folglich entweder für gar keine, oder für die historische. – 255: Jede Veränderung vermehrt die Masse der Erkenntnis, jede Erfahrung hebt den Menschen zu einer neuen. Mit seiner Geschichte rükt seine Erkenntnis fort, und es ist

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politisch wie theologisch wahr, daß d i e w a h r e e i g e n t l i c h e E r k e n n tn i s n u r i n d e m Grade transscendenter w e r d e n k a n n , i n w e l c h e m e s d i e G e s c h i c h t e w i r d . – Zu J.s Berufung auf Wizenmann s. WMB, JWA 1.275,3–11; s. aber auch JWA 1.275,5 den Hinweis auf Wizenmann als einen Selbstdenker vom ersten Range. S. in diesem Zusammenhang Wizenmanns konsequente Annahme einer geschichtlichen Vernunft im Ausgang von Helvetius und John Locke, im Unterschied etwa zu DH, oben 80,12–85,10, sowie Wizenmanns kritische Auseinandersetzung mit J.s Begriff der Endursachen in Die Resultate, 100 f., 145 ff. – Vgl. ferner Wizenmann: An den Herrn Professor Kant, bes. 118 f. (Fortsetzung aus K. zu 13,5): Ob ich schon mit dem leztern [sc. J.] nicht überall gleicher Meinung sein konte, so waren wir doch darüber einig geworden, daß […] eine jede wahre Ueberzeugung vom Dasein Gottes, soweit sie für den Menschen möglich ist, von Thatsachen, mithin von Wahrnehmung, Gefühl oder Glauben ausgehen müsse. Hier schieden wir uns. J a k o b i schwang sich durch Analogie der unerklärbaren menschlichen Willenskraft, die ihm ein lebendiger Funke aus der Gottheit ist, auf zu dieser Gottheit, als ihrer Quelle, in der Ueberzeugung, daß sich die Gottheit im Willen, je | gereinigter er werde, desto inniger offenbare: ich hielt mich lieber an die Bibel, die für meine individuelle Erkentniß den erhabensten Gang der Menschenführung enthält und beurkundet; – an die Geschichte des Geschlechts überhaupt, welche höchst wahrscheinlich ganz andere, als blos philosophische Erkentnis Gottes voraussetzt. – Rehbergs Kritik dieses Ansatzes entspricht der Rezension der Resultate in ALZ 125/126 (26./27. Mai 1786), Sp. 377–384, 385–392, bes. Nr 126, Sp. 389 ff., wo Wizenmanns Begriff der historischen Religion durch Kants Theologie aus praktischen Vernunftbegriffen kritisiert wird. – Vgl. Kants Befürchtung einer gänzlichen Entthronung der Vernunft durch Jacobi und Wizenmann, obschon Kant keinem von beiden die Absicht, eine so verderbliche Denkungsart in Gang zu bringen, beilegen will; s. Orientierungsaufsatz, 305 (AA VIII.134,7–8). 117,14 die Resultate … mein Werk,] S. bes. die anonyme Rezension der Resultate in ALZ 125/126 (26./27. Mai 1786), Sp. 377–384, 385– 392, die im wesentlichen die in J.s Spinozabriefen entwickelten Begriffe des Glaubens und der Offenbarung vor dem Hintergrund der Kantischen Erkenntnistheorie und Ethikotheologie kritisiert. S. ferner Johann August Eberhards Rezension der Schriften zum Spinozastreit in Allgemeine deutsche Bibliothek 68 (1786), 367–379, bes. die pauschale Verurteilung ib. 377: Die Gegner von der einen Seite des Streits haben sich in das Feld der Spekulation gewagt, ohne ihrer Unternehmung weder durch hinlängliche Vorerkenntnisse noch durch bestimmte Begriffe und gründliche Einsichten gewachsen zu seyn. S i e v e r w e r f e n in einer Art von Verzweifelung, die Aussprüche der Vernunft und des Menschenverstandes, und retten sich in die Arme des Glaubens. Um sich selbst und andere von der Nothwendigkeit dieser Entschließung zu überreden, verunglimpfen sie die Vernunft und ihre Lehren, die sie noch nicht zu erwegen und zu verstehen gehörige Zeit und Vorbereitung angewandt haben, durch unbestimmte

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Deklamation und fade Witzeleyen, auf die alsdann, wenn es eine gesetzte und gründliche Philosophie, ihre Leere und Blöße aufzudecken wagt, hochdaherfahrende Machtsprüche und gehäßige Beschimpfungen ihres Gegners folgen. – Vgl. Rehbergs GegenErklärung gegen J.s Berichtigung, in Intelligenzblatt der ALZ vom Jahre 1788, Nr 35, Sp. 305: Aus Hn. J. Briefen über den S p i n o z a erhellte sein Gedankensystem über die Gegenstände die er abhandelte, nicht ganz. Er selbst versprach deswegen Fortsetzung und Erklärung. Bis diese erschien, konnte man nicht anders, als sie in den Resultaten suchen, einem Buche das in der That sehr vielen philosophischen Geist verräth: und das Hr. J. selbst (in der Vorrede zu seiner Rechtfertigung gegen Mendelssohns Beschuldigungen, S. 5. [lies: V.; JWA 1.275,1–6]) ausdrücklich ankündigte, als enthalte es s e i n e w a h r e M e i n u n g g a n z u n d v o n G r u n d a u s g e f a ß t , m i t b e w u ndernswürdiger Klarheit dargestellt. – Wizenmann bekannte sich zu seiner Autorschaft in dem namentlich unterzeichneten Schreiben An den Herrn Professor Kant (s. K. zu 13,5). 117,29–118,2 Der Grundsatz: … untergeordnet.] Vgl. die Vorform dieser Passage im Brief J.s an Rehberg, 2. Mai 1788, ABW I.466: Die Nachricht, daß Sie ein Mitarbeiter an der Allg. Lit. Z. geworden sind, war mir sehr erfreulich. Kein Mensch kann von dem Nutzen guter kritischer Schriften und von dem Verdienste derer, welche, mit den erforderlichen Fähigkeiten zu solchen Arbeiten, sich ihnen widmen, überzeugter seyn, als ich es bin. Schade nur, daß es den Regenten im gelehrten Staate gerade so, wie denen im bürgerlichen Staate ergeht, und das: salus populi suprema lex esto auf gleiche Weise von beiden gehandhabt wird. Eine jede kritische Gesellschaft sieht ein gewisses Nützliches, welches sie glaubt aus allen Kräften befördern, und ein gewisses Schädliches, dem sie glaubt aus allen Kräften entgegen arbeiten zu müssen. Diesen höhern Zwecken werden Gerechtigkeit und Wahrheit ohne Bedenken untergeordnet. – S. dagegen Rehbergs GegenErklärung, Sp. 306 (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 118,29–33): Die Mitarbeiter der A. L. Z. machen auch keine kritische Gesellschaft aus, denn sie sind einander mehrentheils bis auf die Namen sogar, unbekannt, und ich wünschte recht sehr, daß ich die Beurtheilungen die ich seit dem Anfange dieses Jahres darin bekannt zu machen angefangen, mit meinem Namen hätte bezeichnen dürfen, und daß dieses jedem frey stehen mögte, damit jeder nur für seine Urtheile und seine Gedanken einstehn müßte. 117,29 Salus populi suprema lex esto,] Marcus Tullius Cicero: De legibus 3,3 § 8, in Cicero: Opera IV.789. 117,33 Gesalbten der gelehrten Republik] Gemeint sind die Repräsentanten der Berliner Aufklärung mit ihren meinungsbildenden Publikationsorganen, bes. Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek sowie Gedikes und Biesters Berlinischer Monatsschrift. 117,35–36 (vielleicht eine einzige ausgenommen)] Es läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, welche kritische Gesellschaft J. hier im Blick hat; s. auch die folgende Anm.

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118,1–3 Diesen höhern Zwecken … gestattet.] Vgl. Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, bes. 182: Der Mangel äußerlicher Gewalt bedeutet wenig, und kann fürchterlich ersetzt werden. 118,2–28 Beyde dürfen … darüber denke,] J. übernimmt diese Passage aus seinem Brief an Rehberg vom 2. Mai 1788, ABW I.466–468. 118,5 das pou stw] S. den Ausspruch des Archimedes (285–212 v. Chr.): D – Das Noumenon positivum soll ein problematischer Begriff seyn – Ist hier ein solcher Begriff nach S 585 d. Cr. d. r. V. [sc. KrV B 585] zuläßig? – Und wohin gehört das Noumenon negativum? Ist es Anschauung oder Begriff, u wie gelangen wir dazu. – Diese eigentliche S u b s t a n z [sc. KrV B 6], wie wird sie angenommen, eskamotiert, wieder herbey gezaubert, u wieder auf die Seite gebracht – Es ist ohngefähr daßelbe Spiel, das in der practischen Philosophie mit der Vernunft als persönlicher Intelligenz getrieben wird, u Kant selbst giebt einen Fingerzeig gegen das Ende seiner Metaphysik der Sitten (lies: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). S. ib. BA 108–112 (AA IV.452–454) sowie J.s Einwand gegen die Verwendung des Begriffs der Ursache im Begründungszusammenhang transzendentaler Erkenntnis in DH, oben 112,1–5. 159,35–37 Die speculative … könnte.] KrV B 842: Diese Moraltheologie hat nun den eigenthümlichen Vorzug vor der speculativen, daß

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sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führet, worauf uns speculative Theologie nicht einmal aus objectiven Gründen hinweiset, geschweige uns davon überzeugen konnte. 160,1–4 den Erscheinungen … nennen muß.] Vgl. KrV B XXVIf., B 594. 160,8–9 die Erscheinung … werden muß:] Vgl. KrV B 565, 594. 160,10–11 Grund … U r s a c h e] Zur Unterscheidung des Begriffs des Grundes von dem der Ursache s. Beylage VII zu LS2, JWA 1.256,2–22; vgl. Beylage C zu GD, JWA 3.131,20–35. 160,12–18 In Absicht … Causalität.] Vgl. KrV B 565–569, B 579– 581. 160,19–20 Dependenz … I n h ä r e n z] KrV 393; vgl. oben 155,28. 160,25–27 so hat … Causalität.] S. oben 159,29–31. 160,35–161,5 Deswegen … Ding an sich.] Zum Begriff des empirischen und des intelligiblen Charakters s. KrV B 567–569. 161,10–12 Ich finde … bestimmen können.] KrV B 561; vgl. B 831 f. sowie KpV A 3–5 (AA V.3 f.). 161,14–15 die erste … keine Freyheit.] KrV B 561 f.; vgl. B 829 f. 161,21–24 Diese Schwierigkeit … ärger macht.] KpV A 179, 183 f. (AA V.100, 102); vgl. Prolegomena, 158, § 54 (AA IV.347 f.). – S. Claudius’ abschließendes Urteil im Brief an J. vom 19. März 1792, Claudius: Briefe an Freunde, 344: Kant ist zwar für mich nicht vollends die Sonne, aber er scheint doch mit seinem eigenen Licht und ist gegen mich mehr als eine Sonne, er ist von einer ernsthaften Philosophie, führt nicht | leicht und leichtsinnig zu. Gewiß sind nicht viele Bücher, die so bedächtig, überlegt und so von allen Seiten geprüft und durchdacht sind als seine Kritik der R. V. Es ist dabei in seiner Vorstellungsart und in seiner Manier etwas Heiteres und Feines, auch Fülle und Kraft und ich halte ihn aus seinem Buch auch für einen guten Mann und liebe ihn. 165,16–17 Anachronismus] J. bezieht sich wahrscheinlich darauf, daß er die Vorrede mit Eutin 1799. Am heiligen 3 Königs Tage überschreibt, im Nachschreiben (s. oben 182,35 f.) jedoch auf das erst 1799 erschienene Buch Fantasieen auf einer Reise durch Gegenden des Friedens eingeht; s. K. zu 182,26–27, 183,18 und 183,25–40. 165,18–19 Der Herausgeber des Taschenbuchs] Johann Georg Jacobi; s. K. zu 169,2. 165,20–21 Verleger] Friedrich Christoph Perthes; s. K. zu 169, 2–3. 165,23 Beyträge von Jens Baggesen] Im Ueberflüßigen Taschenbuch sind drei Beiträge Baggesens enthalten: Ode an Voß, 61–64; Das Fußwaschen, 134–144; Mein Abentheuer in Rastadt. Bruchstück aus meinem ungedruckten Tagebuche, 198–219. 167,1–2 Vorrede. … Herausgeber.] Titel des Bandes: Ueberflüßiges Taschenbuch für das Jahr 1800. / Herausgegeben von / Johann Georg Jacobi / dazu eine Vorrede / von / Friedrich Heinrich Jacobi. / Hamburg

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bey Friedrich Perthes. – Darin [3]–37: Vorrede. / Ein Brief an den Herausgeber. – S. Abb. 1 und 2, Tafeln 2 *–3 * . 167,4 Anwendung der neuesten Philosophie,] J. bedient sich bei dieser Kritik an Fichte mit dem Wort Anwendung dessen eigenen Wortes; vgl. Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft. Weimar 1794, IV (GA I,2.109,12–16): Nicht gewohnt, von Dingen zu reden, die er [sc. der Verfasser] noch zu thun hat, – würde er seinen Plan ausgeführt, oder auf immer von ihm geschwiegen haben; wenn nicht die gegenwärtige Veranlassung ihm eine Aufforderung zu seyn schiene, von der bisherigen Anwendung seiner Muße, und von den Arbeiten, denen er die Zukunft zu widmen gedenkt, Rechenschaft abzulegen. – Zugleich nimmt J. hier wohl einen Ausdruck Friedrich Karl Forbergs auf, der in bezug auf Fichtes Wissenschaftslehre von der neuesten Philosophie spricht; s. Fragmente aus meinen Papieren. Jena 1796, 73; s. ferner Reinhold: Sendschreiben an J. K. Lavater und J. G. Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg 1799, 68. – Fichte wiederholt diese Benennung im Titel seiner Schrift Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen. Berlin 1801, und begründet sie in der Vorrede, [III]f. (GA I,7. 185,2–13). 167,5 unjovialischer Leser] J. spielt wahrscheinlich an auf Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, VII (GA I,2.111,14–20): Ausser jenen ernsthaften giebt es auch noch scherzhafte Männer, die den Philosophen warnen, sich durch die übertriebnen Erwartungen von seiner Wissenschaft doch nicht lächerlich zu machen. Ich will nicht entscheiden, ob alle recht aus Herzensgrunde lachen, weil ihnen die Jovialität einmal angeboren ist; oder ob es nicht welche unter ihnen giebt, die sich bloß zum Lachen zwingen, um dem weltunklugen Forscher ein Unternehmen zu verleiden, das [Q: daß] sie aus begreiflichen Gründen nicht gern sehen. – Fichte selbst nahm J.s Schrift freundlich auf; s. Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.179,16 f.: Jacobi’s Vorrede zum überflüssigen Taschenbuche hat mich mehr gefreut, als sein vermehrtes Schreiben [sc. die Druckfassung von JF, oben [189]–258]. 167,10–11 die Anwendung … Verfassers sind.] Vgl. oben 177,11–21. – J. spielt an auf seine wirtschaftspolitische Tätigkeit im Dienste des bayerischen Kurfürsten Carl Theodor, der ihn 1779 als finanzpolitischen Berater in das bayerische Innenministerium berufen hatte; betraut mit der Aufgabe, die Handels- und Wirtschaftsstruktur der bayerischen Lande zu verbessern, entwickelte J. (im Gegensatz zur herrschenden merkantilistischen Politik und in Auseinandersetzung mit den Physiokraten und mit Adam Smiths Freihandelslehre, s. K. zu 177,11) eine eigene ökonomische Theorie mit dem Anspruch, seine Gedanken systematisch aus naturrechtlichen Grundsätzen herzuleiten; s. Eine politische Rhapsodie. Aus einem Aktenstock entwendet. Ein eingesandtes Stück. und Noch eine politische Rhapsodie, worinn sich verschiedene Plagia befinden; betittelt: es ist nicht recht, und es ist nicht klug. In Baierische

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Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur, hg. von Lorenz Westenrieder. I,1. München 1779, 407–418 (WW VI.345–362) und 418–458 (WW VI.363–418). – In ÜTB verwendet J. den dort erläuterten Begriff des Überflusses zur Charakterisierung der Fichteschen Philosophie, indem er Fichtes Tatbegriff – als den seinen Gegenstand mit Notwendigkeit voraussetzenden Trieb (s. 171,14) bzw. als die Kraft, den Mangel zu erfinden – gleichsetzt mit dem wirtschaftlichen Streben nach Vermehrung des Wohlstands; vgl. K. zu 177,15–21 und zu 177,30–31. 167,25–26 die Rettung des Ueberflüßigen,] Gemeint ist wohl der Fortbestand des von J.s Bruder Johann Georg Jacobi nun in neuer Gestalt herausgegebenen Ueberflüßigen Taschenbuchs. 167,29–168,4 Daß nur … verspotten dürfte.] Diesen Satz hat nahezu wörtlich in JF übernommen; s. oben 195,36–196,3. 168,5–8 Antheil an … mit ihr lebt.] Dieser Eindruck verfestigt sich bei J. seit Fichtes Rezeption seines DH: J. an Christian Wilhelm von Dohm, 13. Dezember 1797, Zoeppritz I.199 f.: Ich hätte große Lust, Dir von dem Fortgange der Philosophie in unsern Tagen zu erzählen; aber Du würdest mich | nicht anhören: Etwas hast du doch wohl schon davon erfahren, daß wir nun alles mit dem I c h welches, Kraft seiner Ichheit, sich sich selbst entgegensetzt, und nicht anders kann, weil es Objekt und Subjekt zugleich ist, und sich selbst nicht setzen könnte, wenn es nicht, aus eigner Kraft, zugleich ein Nicht-Ich (ein Du) mit sich setzte – daß wir damit nun alles bestreiten, und fertig bringen, Himmel und Erde und was darinn ist, und den alten Herrgott, der wir gar nicht seyn möchten, gewaltig auslachen. Und denke: dies System soll i c h eigentlich erfunden, und in dem Werke über Spinoza, vornehmlich aber in dem Gespräche über Idealismus, zuerst gegründet haben. In sofern haben diese Männer recht, daß ich gezeigt habe, die Kantische Philosophie, um consequent zu werden, müße zu diesem Ziele eilen. […] (Fortsetzung des Zitats im K. zu 203,20–22). – J. an Jean Paul, 5. November 1798, ABW II.259 (unter Anspielung auf DH, oben 112,15–20): Ich habe bei der ersten Erscheinung der kritischen Philosophie auf das bestimmteste vorausgesagt, was sich heute zuträgt; bin dadurch ein Täufer Johannes dem Stifter des neuen Bundes und seinen Jüngern geworden, wie ich höre und überall lese, mit gleicher Verwunderung über die Sache und das Geständniß. – Vgl. J. an Goethe, 7. Juni 1794, in Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi hg. von Max Jacobi. Leipzig 1846, 184 mit Bezug auf Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre: Fichte scheint mehr als alle seine Vorgänger in der Predigt des in die Welt gekommenen neuen Lichts auch noch für das am ersten Tage geschaffene Licht ein Auge – ich meine: wenigstens E i n Auge – offen behalten zu haben. Du lachst mich wohl aus, wenn ich dir sage, daß auch dieser neue Profeßor mit meinem Kalbe, ja mit a l l e n meinen Kälbern, und nicht für die lange Weile, gepflügt hat. An Reinholden verdroß es mich ein wenig. Hier war es mir angenehm. Wir müßen nun abwarten was er weiter zu Tage bringen wird aus dem noch uneröffneten Schachte seiner drey Absoluten. Diese Einladungsschrift ist das erste was ich von

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Fichte gelesen habe. – Neben anderen (s. K. zu 112,15–16) hat Fichte J.s Kantkritik im DH mit ausdrücklicher Berufung auf J. aufgenommen; s. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363–373 (GA I,4.235–241) sowie Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt. Jena / Leipzig / Tübingen 1799, 98 f. (GA I,5.447 f.). – Zu J.s Anteil an der nachkantischen Philosophie vgl. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus [im Philosophischen Journal, H. 11., irrtümlich Dogmaticismus] und Kriticismus, in Philosophisches Journal (1795), II,3.177–203 und III,3.173–239, bes. III,3.194 ff. (AA I,3.81 ff.), und C. L. Reinhold: Ueber die Paradoxien der neuesten Philosophie. Hamburg 1799 (KJB 1039). – Am 21.–26. Oktober 1797 schreibt J. an Baggesen, Aus Jens Baggesen’s Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. 2 T. Leipzig 1831, T. II. Januar 1795 bis November 1801. Nebst vierzehn Beilagen, 234 f.: Fichte und Schelling berufen sich nun immer häufiger, nachdrücklicher und ausführlicher auf meine Schriften, und allen Aufsätzen des Letzteren sieht man es an, wie er sie in Saft und Blut verwandelt hat; mit den Sachen sind ihm auch die Worte hängen geblieben. Nun muß ich | doch dahinter zu kommen suchen, ob mich vielleicht diese Männer besser als ich selbst verstanden haben, und ich durch sie – wie sie – etwas Besseres, als ich zu lehren glaubte, von mir lernen kann, welches keinesweges unmöglich wäre. / Fürchte nicht, daß ich mich zu tief in das Spiel einlasse, vergessend, daß es nur Spiel ist. Ich verweise Dich an Friedrich Schlegel, der es mir bezeugt, daß der wahre philosophische Geist, d e r l o g i s c h e Enthusiasmus, wie er sich ausdrückt [s. K. zu 196,34–197,1], der die Wahrheit blos um der Wahrheit willen, den Zweck nicht wegen des Zweckes, sondern wegen des Mittels sucht, nicht in mir wohnt. – Zu J.s Verhältnis zur nachkantischen Philosophie vgl. J. an Schenk, 15. Oktober 1799, ABW II.285 f., an Jean Paul, 12. Dezember 1799, ABW II.289, und an Dohm, 13. Dezember 1797 (zit. im K. zu 203,20–22), sowie UK, oben 261,12–16, und Friedrich Köppen: Vertraute Briefe über Bücher und Welt. 2 T. Leipzig 1820–23, T. 1.367–405: 10. Brief: Erinnerungen an Friedrich Heinrich Jacobi, bes. 386 f. 168,11–13 zum Triumph der Imperatoren … begleiteten?] Diese Bemerkung ist wohl veranlaßt durch Fichtes gereizte Polemik gegen die Tollheit, mit der eine Vielzahl eitler Schwachköpfe in Teutschland sich damals über seine Wissenschaftslehre geäußert habe; s. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, VI,1.38–43 (GA I,4. 267–269). – J. spielt an auf die Tradition der scharf pointierten Satire, wie sie etwa Marcus Valerius Martialis (ca. 40– 103) mit den unter den Kaisern Titus und Domitian verfaßten Epigrammata (ca 80–101) schuf (vgl. KJB 2732) – eine Form, an die noch Goethes und Schillers Xenien. anknüpfen; s. Musen-Almanach für das Jahr 1797. Hg. von Schiller. 197–302 (irrtümlich 203), bes. 294, in Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd 1. Gedichte. Hg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar 1943, 356 (Nr 380):

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Ein Sechster. Ich bin Ich, und setze mich selbst, und setz ich mich selber Als nicht gesetzt, nun gut! setz ich ein Nicht-Ich dazu. J. hat wohl auch jene Episode im Blick, die fast zu einer Verstimmung Fichtes mit Baggesen und Reinhold geführt hätte; s. J. an Reinhold, 22. Februar 1797, RLW 241: Ich hörte vielmehr Dinge, die einen formellen Bruch zwischen Ihnen und Fichte erwarten ließen: er hätte Sie hart abgefragt wegen des Trinkliedes von Baggesen und noch anderer Gegenstände, so daß Sie für das Anständigste hielten, ihm gar nicht zu antworten. – Über diese Anfrage Fichtes berichtet Reinholds Sohn, Ernst Reinhold in RLW 241 FN: Unter den Briefen Fichtes an Reinhold, die ich nicht habe publiciren wollen, findet sich auch der von J. hier erwähnte, in welchem Fichte jedoch nur trocken und kurz berichtet, es sey ihm zu Ohren gekommen, daß Baggesen in einer Gesellschaft zu Hamburg, in der Reinhold zugegen gewesen, mit lebhafter Theilnahme aller Anwesenden über die Wissenschaftslehre sich lustig gemacht und ein Spottgedicht auf sie abgesungen habe; und Reinhold befragt, was an der Sache sey. Als Reinhold in seinem Antwortschreiben ihm den Hergang der Sache treu und ausführlich erzählt, auch Baggesens Gedicht (das bekannte Trinklied »Die gesammte Trinklehre« betitelt) ihm zugeschickt, damit er sich mit eigenen Augen von der Harmlosigkeit des in ihm enthaltenen Scherzes überzeuge, so gab Fichte sich sogleich zufrieden und schrieb an Reinhold, er habe die Verse mit großem Wohlgefallen und mit herzlichen Lachen gelesen. – Baggesen schrieb auch satirische Verse über Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Berlin 1800; s. seinen Brief an J., 14. April 1800, Baggesen: Briefwechsel. II.290: Das Buch: Über die Bestimmung des Menschen, von Fichte. Endlich erschien, was ich lange gewünscht, den sterblichen Augen: Setzende Philosophie richtig gestellt auf den Kopf. J. unterstützte diese Pläne; s. den Brief an Brinkman, 24. Juli 1800, in Erich Fuchs: Texte zu Jacobi und Fichte im Brinkman-Archiv, TrolleLjungby, Schweden. In Fichte-Studien 1.205–219, 215 FN 26. S. auch ib. 215 f. Fichtes Antwort auf ein an ihn gerichtetes Sonnet. – Zu den gegen Fichtes Wissenschaftslehre gerichteten Spottliedern zählt wenig später Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (Anhang zum I. komischen Anhang des Titans). Erfurt 1800 (KJB 3057, mit einer Widmung an J.); s. bes. die Vorrede, datiert Weimar, den 7. März 1800, PLS 2,1.84, sowie das Protektorium für den Herausgeber, PLS 2,1.85: Leibgeber habe Fichten studiert, aber blos um nach seiner Art darüber zu spaßen. Allein ich seh’, es erging ihm in der Folge wie dem Rotterdamer Bürgersmann Bredenburg [FN: Bayle’s Dictionnaire, Art. Spinoza, not. M.], der den Spinoza, um ihn gründlich zu widerlegen, in eine demonstrative Schlachtordnung stellte, sich aber unter dem Stellen unversehends vom Juden festgehalten und überwältigt sah. Spuren seines ursprünglichen Vorsatzes, die Wissenschaftslehre lächerlich zu machen, schimmern noch überall im Clavis durch, und so oft er auch darin zu einem ihm schweren, ernsten, nüchternen Stil ausholt und ansetzt, so stellet er doch bald wieder (nach seinem

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kurzweiligen grotesken Naturell) alles in ein so komisches Licht, daß er einfältige Leser ordentlich dumm macht. – J. hat das Entstehen dieser Satire brieflich verfolgt, und Jean Paul hat J. ursprünglich ein Teilstück zur Publikation in ÜTB angeboten; s. Brief an J., 3. März 1800, PLS 2,1.77: Eine meiner besten Satiren (die aber in Berlin der Zensur zuwider war) Leibgebers Leichenrede auf einen fürstlichen Magen – nebst noch etwas sanftern – geb’ ich gern dazu, wenn du jene nicht zu disson mit dem Ganzen findest. J. lehnte wegen zensurrechtlicher Bedenken hinsichtlich seines Bruders ab; s. an Jean Paul, 16. März 1800, PLS 2,1.80; ferner J. an Jean Paul, 11. Januar 1800, ABW II.290 f. 168,13 dem S t a r k e n !] Vgl. Ps 24,8 und Jer 9,22. 168,15–19 »Siehe … d e m M a u l e s e l .] J. orientiert sich an Johann Joachim Christoph Bodes Übersetzung von Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman: Tristram Schandis Leben und Meynungen. T. 1–9. Hamburg 1774 (KJB 2910). Diese Ausgabe war den Herausgebern nicht zugänglich; s. statt dessen: Laurence Sterne: Tristram Schandis Leben und Meynungen. Übertragen von Johann Joachim Bode. T. 5, Zwote verbesserte Auflage. Hamburg 1776. Neu hg. von O. J. Bierbaum mit den Kupfern der Originalbilder von Chodowiecky und Hogarth. Bd 2. München / Leipzig 1910, T. 5, Kap. 3, 26 f.: Mein Vater hatte eine kleine Stute, die er sehr liebte; dieser hatte er einen sehr schönen arabischen Hengst zugegeben, um ein Füllen für seinen eignen Sattel von ihr zu erzielen. Er war lebhaft in allen seinen Projekten; und also sprach er täglich von dem Füllen, als von einem wirklich vorhandenen Dinge, das schon geworfen – gezähmt – gezäumt, und zum Reiten gesattelt vor seiner Thüre stünde, das er nur besteigen dürfte. Durch ein oder andres Versehen des Obadiahs [sc. eines Knechtes] liefs dahinaus, daß aus meines Vaters Erwartung nichts anders wurde, als ein Maulesel, und zwar in seiner Art so häßlich, als | nur einer, der ein Eselein zum Vater haben kann. / Meine Mutter und mein Oncle Toby meynten nicht anders, als mein Vater würde Obadiah den bittersten Dampf anthun – und das arme Leben würde gar kein Ende nehmen. – Nun seh’ Er einmal, Schäker! rief mein Vater, und wies auf den Maulesel, was er gemacht hat! – Das hab’ ich nicht gethan, sagte Obadiah. – Woher kann ich das wissen? versetzte mein Vater. / Triumph schwamm über diese witzige Antwort in meines Vaters Auge – Das attische Salz brachte Wasser hinein – und damit hörte Obadiah kein Wort weiter darüber. – Vgl. Jean Pauls mit demselben Bildkreis arbeitende Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, § 12, PLS 2,1.97: Welch ein Wesen, das, sich ausgenommen (denn es w i r d nur, und i s t nie), alles macht, mein absolutes, alles gebärendes, fohlendes, lammendes, heckendes, brechendes, werfendes, setzendes Ich! 169,2 lieber alter Freund,] Johann Georg Jacobi (1740–1814), J.s älterer Bruder, Dichter anakreontischer Lyrik, 1766 Professor in Halle, 1769 Kanonikus in Halberstadt, 1774–1776 Herausgeber der Iris, 8 Bde (KJB 123), 1784 Professor der schönen Künste in Freiburg i. Br. 169,2–3 neuen Titel … zu Liebe,] J.s Bruder hatte das Taschenbuch

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vorher herausgegeben unter dem Titel Taschenbuch von J[ohann] G[eorg] Jacobi und seinen Freunden für […]. Mit Kupfern. Königsberg / Leipzig: Nicolovius 1795–1797; Basel: Flick 1798–1799 (KJB 180). – Der neue Verleger ist Friedrich Christoph Perthes (1772–1843), der 1796 in Hamburg die erste deutsche Sortimentsbuchhandlung gegründet hatte. Die Verbindung kam wohl über den Freundeskreis J.s in Hamburg und Eutin zustande, bes. über die Grafen Schimmelmann und Reventlow und schließlich über Claudius, dessen Tochter Maria Caroline Elisabeth 1797 Perthes geheiratet hatte. – Zu J.s Verhältnis zu Perthes s. Clemens Theodor Perthes: Friedrich Perthes Leben nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet. 2 Bde. Hamburg / Gotha 1848, Bd 1.59–61, 100, 115, 118, 120 f. 169,10 es ist mein Beruf;] J. wurde am 4. März 1779 im Zusammenhang mit seiner wirtschaftspolitischen Tätigkeit in Bayern durch den Kurfürsten Carl Theodor zum Geheimen Rat und Ministerialreferenten für das kurpfälzisch-baierische Zoll- und Handelswesen ernannt (vgl. das Ernennungsreskript (Handschrift), Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Sign.: Jülich-Berg III, Nr 690, Bd 1, fol. 161). Auch nach Beendigung dieser nur einige Monate dauernden Tätigkeit in München und der Rückkehr nach Düsseldorf behielt J. den Titel des Geheimen Rats und übte noch bis zu seinem Ausweichen vor den französischen Revolutionstruppen nach Norddeutschland 1794 beratende Tätigkeiten aus; erst 1802 ließ er sich durch den Kurfürsten Max IV. Joseph in den Ruhestand versetzen. 169,16–17 die Schwierigkeit selbst angesprochen.] J. spielt auf seine wirtschaftsreformerische Tätigkeit für das Zollwesen in kurpfälzisch-bayerischen Diensten an, bes. wohl auf seine diesbezüglichen Bemühungen, in ausführlichen Gutachten den aus dem veralteten Zollsystem zu erwartenden volkswirtschaftlichen Schaden aufzuzeigen; s. F. H. Jacobi: Acta, die Ihro Churfürstln. Durchlaucht zu Pfaltz Höchstdero Hofcammerrathen Jacobi gnädigst aufgetragenen Commission, das Commerzium der beyden Herzogthümer Gülich und Berg zu untersuchen, betreffend, publiziert in Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins (1882), 1–148. 169,21 Ueberflüßiges Taschenbuch.] J. an Baggesen, 6. Dezember 1798, Baggesen: Briefwechsel II.257: Schreibe mir bald wieder, und schicke mir Beiträge für das Taschenbuch meines guten Freiburgers [sc. Johann Georg Jacobi, s. K. zu 169,2]. Ich habe den Titel vorgeschlagen: »Ü b e r f l ü s s i g e s T a s c h e n b u c h f ü r d a s J a h r 1 8 0 0 ;« und wenn der Professor sich den Titel gefallen läßt, eine Vorrede und Beiträge versprochen. Die Beiträge werden aus überflüssigen Gedanken bestehen, deren ich in hinlänglicher Menge schon aufgeschrieben liegen habe: Beweis genug, daß ich sie überflüssig hatte. 169,22 das Orakel] Zur Vorstellung des Geistes bzw. der transzendentalen Einbildungskraft als orakelnde Sphinx vgl. das Titelmedaillon. – Möglicherweise spielt J. hier an auf Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in Berlinische Monatsschrift 27 (Mai 1796), 387–426, Zitat 389 f. (AA VIII.390,15–25): Es ist neuerdings so weit gekommen, daß sich eine vorgebliche Philosophie, bei der man nicht arbeiten, sondern | nur das Orakel in sich selbst anhören und genießen

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darf, um die ganze Weisheit, auf die es mit der Philosophie angesehen ist, von Grunde aus in seinen Besitz zu bringen, unverhohlen und öffentlich ankündigt: und dies zwar in einem Tone, der anzeigt, daß sie sich […] – geniemäßig –, durch einen einzigen Scharfblick auf ihr Inneres, alles das, was Fleiß nur immer verschaffen mag, und wohl noch mehr, zu leisten im Stande sind. – Vgl. K zu 192,1. 169,34–35 Uebermeisterung … einigen gelungen] S. Fichtes Hinausgehen über Kant im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in Philosophisches Journal V,1 (1797), 3 f., und V,4 (1797), 357 ff. (GA I,4.184 f. bzw. 230 f.). 169,36–170,2 durch Anwendung … mit Gewalt erfahren.] J. wendet sich gegen den Begriff der Deduktion, der sowohl in der KrV als auch bei Fichte (u. a. GA I,2.369, I,4.95, I,5.33) großes systematisches Gewicht hat. – Vgl. das Bild der logischen Folter und die Darstellung der philosophischen Deduktion als mechanisches Prinzip in JF, oben 236,5–13, sowie J.s Kladdennotiz VII,561–581 (Schneider: Denkbücher, 239): Fichte beweist zurückschließend wie es zum Seyn u Wesen eines Geistes gehöre – überhaupt vorzustellen nachdem er diese Deduction vollendet, zeigt er vorwärts schließend, wie der Geist sich nothwendig diese bestimmte Welt vorstellen müße. – J.s Ausführungen sind insgesamt in einer an Fichte orientierten Sprache geschrieben, jedoch in so großer Distanz, daß sie sich nur selten einem Text Fichtes exakt zuordnen lassen. 171,6–7 die r e c h t e Hand … thun wird:] Vgl. Mt 6,3. 171,10–22 sein Bedürfniß erfahren … werden.] J. verbindet seine Fichte-Paraphrase mit seiner ökonomischen Theorie von der Schaffung der Bedürfnisse als Grundlage der dynamischen Produktivität des Überflusses, die aus sich selbst wiederum neue Bedürfnisse schafft; diese erzeugen sich immer wieder neu aus den menschlichen Begierden, ohne bloß um der natürlichen Erhaltung willen notwendig zu sein; s. K. zu 177,15–21. 171,23–32 Es ließe … Offenbarung.] J. parodiert Fichtes Ausführungen über das Entstehen der Realität aus unserer moralischen Bestimmung; s. Fichte: Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in Philosophisches Journal VIII,1 (1798), 12–14 (GA I,5.353,19–354,10). 173,5 Ueberfluß und Mangel] S. K. zu 177,32–33. 173,7–8 unmöglich b l o s dem M a n g e l abzuhelfen;] S. K. zu 177,11. 173,32 Plato … M e n o n .] S. K. zu 154,10–12. 173,32 Thiere lernen nie reden.] Vgl. J.: Betrachtung über die von Herrn Herder in seiner Abhandlung vom Ursprung der Sprache vorgelegte Genetische Erklärung der Thierischen Kunstfertigkeiten und Kunsttriebe. In Der Deutsche Merkur Bd 1,2 (Februar 1773), 99–121, bes. 99 f., (WW VI.243–264, bes. 245). 174,35–36 Hirngespinst, … grundlose Erdichtung] Vgl. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.330 (GA I,4.214,23): Hirngespinnst, eine bloße Erdichtung.

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175,4–7 Man beschreibe … des Raums.] Vgl. J. an Jean Paul, 19. Februar 1799, Zoeppritz I.210: Wie wollte der Mathematiker eine Linie ziehen oder einen Zirkel beschreiben, wenn nicht überflüßiger Raum dazu vorhanden wäre? 175,4–5 lasse sie entstehen vor seinen Augen,] Vgl. Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,1.39 (GA I,4.202,24–25): So lange man nicht das ganze Ding vor den Augen des Denkers entstehen läßt, […]. 176,7–19 Nun trete … erhebe.] Vgl. J. an Jean Paul, Zoeppritz I.210: Die ganze Philosophie, was ist sie anders, als das Ueberflüßige im Verstande? Der größte Tiefdenker unserer Zeit, Fichte (tiefsinnig sind nur die Gemüthskranken, sagt Kant) – hat es bewiesen, daß man dadurch allein Philosoph werde, daß man vom Nothwendigen abstrahiren und reflektiren, sich zum überflüßigen, ganz freyen, erhebe. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 177,11–21.) 176,11–12 tiefsinnig sind nur die Gemüthskranken] Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg 1798 (KJB 841), 142 (AA VII.213,21–24): Die Tiefsinnigkeit (melancholia) kann auch ein bloßer Wahn von Elend sein, den sich der Trübsinnige (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft. 176,13 ich fürchte, mir zu Gehör!] J. vermutet eine Anspielung Kants auf seine Unterscheidung des philosophischen Tiefsinns vom Scharfsinn; s. K zu 67,12. 176,28–29 Determinatio est negatio,] S. J.s Formulierung einer Wendung aus Spinozas Brief an [Jarig Jelles], 2. Juni 1674, in Opera posthuma, 558, Ep. 50 (Gb IV.240,6–15, Ep. 50), in LS, JWA 1.22,24. 176,38 selbstanschauend] Zum Begriff der Selbstanschauung vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, VII,1.13 f. (GA I,4.277,15, 278,1). 177,8–9 Um die Wahrheit … g r e i f e n zu lassen,] Vgl. die Variationen dieses Bildes in LS, JWA 1.118,3–6, und GD, JWA 3.19,34. 177,11–21 Die unter … Bedürfniß sey.] Vgl. J. an Jean Paul, 19. Februar 1799, Zoeppritz I.210 (Fortsetzung des Zitats im K. zu 176,7–19): Man kann es mit Händen greifen in den Schriften der Oekonomisten, daß der Ueberfluß die alleinige Materie des Tausches und Handels ist, und der Reichthum nothwendig allem Erwerbe vorhergehen muß […]. 177,11 Oekonomisten] Unter dieser Bezeichnung faßt J. die zeitgenössischen nationalökonomischen Reformbestrebungen gegenüber dem Merkantilismus zusammen, dessen späte Form ihm bekannt ist durch James Denham Steuart (Stewart): An Inquiry into the principles of political oeconomy, dt: James Stewart Untersuchung der Grund-Säze von der Staats-Wirthschaft als ein Versuch über die Wissenschaft von der Innerlichen Politik bey freyen Nationen; aus dem Englischen übersetzt. Buch 1–3, Stück 1.2. Tübingen 1769–71 (KJB 1387). S. François Quesnay: Tableau économique avec son explication ou Extrait des économies royales de Sully. Versailles 1758; ders.: Physiocratie, ou constitution naturelle du gouvernement le plus

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avantageux au genre humain. Recueil publié par [Pierre Samuel] Du Pont [de Nemours] … P. [1.]2. Leyde / Paris 1767–1768 (P. 2: KJB 1377); [Victor de Riquetti Marquis de Mirabeau und François Quesnay:] Élémens de la philosophie rurale. La Haye 1767 (KJB 1365), sowie Anne Robert Jacques Baron de l’Aulne Turgot: Réflexions sur la formation et la distribution des richesses. o.O. 1788 (KJB 1391); Adam Smith: An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations […]. 4. ed. Vol. 1–3. London 1786 (KJB 1384), vgl. Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums […]. Aus dem Englischen der 4. Ausgabe neu übers. [von Christian Garve und August Dörrien]. 2., mit [Dugald] Stewarts Nachricht von dem Leben und den Schriften des Autors [An Account of the life and writings of Adam Smith, dt.] vermehrte Ausgabe. 3 Bde. Breslau, Leipzig 1799 (KJB 1385). 177,12 Transscendentalphilosophen der Staatswirthschaft,] J. sieht eine Analogie zwischen Kants Lehre von der Autonomie der Vernunft und Adam Smith’ Freihandelslehre, nach der ökonomisches Handeln sich im Rahmen eines sich ohne staatliche Reglementierung autonom regulierenden, wissenschaftlich erkennbaren Systems vollzieht. 177,15–21 daß die erste … Bedürfniß sey.] Vgl. J.: Eine politische Rhapsodie, in Baierische Beyträge, 409 (WW VI.350): Das e r s t e B edürfniß des Commerzii, sein unentbehrlich Nothwendiges, seine einzige Materie, ist das Ueberflüssige, denn niemand vertauscht, was er nicht entbehren will. […] Einzig und allein die Begierde zu einem vervielfältigten Genuße, und die Möglichkeit, die Mittel zu demselben gegen unsren Ueberfluß einzutauschen, treibt uns an, diesen Ueberfluß zu erarbeiten. – 409 f. (WW VI.350–352): Wollte man die blosse Menge, den | blossen Ueberfluß selbst der unentbehrlichsten Güter des Lebens Reichthum nennen, so müßte man vor allen Dingen Luft und Wasser mit diesem Prädikat belegen. Der Ueberfluß darf also nicht allgemein und gleich seyn; es muß ihm allemal ein Bedürfniß auf der andern Seite entsprechen, wenn nämlich jener U e b e r f l u ß i n N o t hdurft verwandelt werden, und einen bestimmbaren feilen Werth (valorem venalem) erhalten soll. D i e s e s z u b e w e r k s t e l l i g e n , nämlich den Ueberfluß in Nothdurft zu verwandeln, ist der eigentliche Gegenstand des Commerzii. […] Man muß ausgeben und erwerben, man muß in das allgemeine Commerzium verwickelt seyn, um nicht in der bürgerlichen Gesellschaft noch w e n i g e r als ein Thier zu gelten: a l s o i s t d a s C o m m e r z i u m e b e n s o g e w i ß d a s e i g e n t l i c h e w a h r e B a n d d e r G e s e l l s c h a f t , a l s d i e V e s t s e t z u n g d e s E i g e nthums ihr erstes nothwendigstes Bedingniß war. / Aus den bis hiehin auseinander gefolgerten Grundsätzen zusammen genommen, erhellet unwidersprechlich, d a ß d i e W o h l f a h r t e i n e s S t a a t s i n e b e n d e m M a ß e z u n i m m t , w i e s e i n C o m m e r z a n w ä c h s t . – 415 (WW VI.358): Es ist erwiesen, daß jeder von den Menschen durch willkührliche Arbeit hervorgebrachte Ueberfluß, und die Ausbreitung der Gesellschaft nach Maaßgabe dieses Ueberflußes, sich nothwendig auf eine V e r-

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vielfältigung der Bedürfniße in dieser Gesellschaft stützen müße, und d a ß d a s V e r m ö g e n , d i e M i t t e l z u B e f r i e d i g u n g a l l e r d i eser Bedürfniße hervorzubringen, und ihre ununterbrochene w e c h s e l s e i t i g e E r n e u e r u n g , d i e D a u e r u n d S t ä r k e d e r p o l i t ischen Gesellschaft ausmache. Wenn nun jemand sich einen Ueberfluß an einer Sache erwirbt, in der Absicht dagegen ein anderes Mittel zu Befriedigung eines gewissen Bedürfnißes einzutauschen, so muß, wenn der Zweck erfolgen soll, auf der andern Seite sich ebenfalls jemand befinden, der die begehrte Sache aus ähnlichen Absichten in einem gewissen Ueberfluße bewürkt hat: woraus dann ferner folgt, daß, wann beyde Personen Bürger E i n e s Staates sind, ihre gegenseitigen Bedürfniße alsdann im Staate selbst einen zwiefachen Ueberfluß wechselseitig erzeugen. In diesem Falle werden also z w e y Quellen des Reichthums im Staate eröfnet, da im entgegengesetzten Falle nur e i n e flöße, welches allerdings ein Vortheil ist. Daß aber durch eine gewaltsame Begünstigung innländischer Fabriken keine zweyte Quelle des Reichthums im Staat sich eröfne, ist leicht zu erweisen. 177,30–31 Hand, die zuerst sich aufthat.] S. die Subscriptio zum Titelkupfer, Abb. 1, Tafeln 2 * mit K. 177,32–33 Diese Erfindung nennen wir den M a n g e l ,] J.s Zusammenstellung von Mangel und Überfluß erinnert an den Mythos des Eros in Plato: Symposium, 203 f. 178,8–9 ein Unendliches auszufüllen … könnt.] J. spielt auf Fichtes Idee des die Unendlichkeit ausfüllenden Ich an; s. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 264 (GA I,2.407,6–10): Das Ich ist gesezt, […], als ein unendliches Quantum, als ein die Unendlichkeit ausfüllendes Quantum. – 288 (GA I,2.421,5–8): Im Ich ist ursprünglich ein Streben die Unendlichkeit auszufüllen. […] Das Ich hat in sich das Gesez, über sich zu reflektiren, als die Unendlichkeit ausfüllend. – Vgl. JF, oben 204,28–29. 178,29–31 Die wesentliche … Werth habe,] Diese Aussage konnte nicht nachgewiesen werden. 179,1–2 zwischen dem … eine Grenze] Vgl. 173,5. 179,4 selbst nach Lichtenberg,] Aus dieser Anspielung geht nicht hinreichend deutlich hervor, auf welchen Ausspruch Lichtenbergs J. sich bezieht. 180,28–30 »Felder … S t a d t .«] Plato: Phaedrus 230d; s. Auserlesene Gespräche des Platon, übersetzt von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. 3 T. Königsberg 1796–97, T. 1.11. 180,31–33 Phädrus … begehrte.] Plato: Phaedrus 227a–228c, bes. 228d; s. Auserlesene Gespräche des Platon, T. 1.6: Sokrates. / Wollest mir doch erst zeigen, lieber Freund! was du da in der Linken unter den Mantel hast? Ich argwöhne, daß es das Schriftchen selber sey. 180,35–181,7 »verständigen … Belehrung der Menschen.] KU 111 (AA V.265). – Kant bezieht sich auf Saussure: Voyages dans les Alpes, précédés d’un essai sur l’histoire naturelle des environs de Genève, par Horace-Bénedict De Saussure […]. T. 1. Neuchatel 1780, T. 2–4. Genève 1786 (KJB 2426).

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181,12–13 Vermögen der Begriffe.] KrV B 199. 182,1–3 Provinz Holstein … Hamburg und Lübeck] Die französische Besetzung des Rheinlandes hat J. veranlaßt, Pempelfort am 28. September 1794 zu verlassen und Zuflucht bei Freunden in Norddeutschland zu suchen; vgl. J. an Kleuker, 1. Oktober 1794, Ratjen, 200. Der Weg dorthin führte nach kurzem Aufenthalt bei Fürstin Gallitzin in Münster und einem längeren bei Claudius in Wandsbeck am 10. Dezember 1794 nach Emkendorf, dem nahe Rendsburg gelegenen Gut der J. seit längerem freundschaftlich verbundenen Familie Reventlow-Schimmelmann, wo er sich vorläufig niederließ. – Hier hatte sich der Emkendorfer Kreis gebildet, in dem sich über Jahre hinweg Mitglieder des ehemaligen Göttinger Hainbundes und andere Anhänger der Sturm- und DrangBewegung zusammenfanden: u. a. die Brüder Stolberg, Voß, Klopstock, Claudius, J. und Fürstin Gallitzin. – Nach dem Aufenthalt in Emkendorf lebte J. abwechselnd in Eutin und Tremsbüttel, bis er sich 1798 in Eutin niederließ; s. K. zu 182,18. Hier, in Kiel, oder auch bei gemeinsamen Freunden in Hamburg und Lübeck traf J. sich nun auch des öfteren mit C. L. Reinhold und dem dänischen Schriftsteller Jens Baggesen. – Zum Aufenthalt in Holstein s. den Brief aus Wandsbeck an Schenk, 12. Juni 1795, ABW II.202: Ich bin eine ganz seltsame Erscheinung in diesem Lande; je mehr mich die Leute sehen, desto weniger wissen sie sich in mich zu finden, und werden mir dabei doch immer noch gewogener. – J. an Schenk, 4. Februar 1795, ABW II.197 f.: Die Sehnsucht der Rückkehr wächst in mir mit jedem Tage; ich kann es nicht vor meinen Augen wegbringen, was ich immer sehe … Und wenn erst der Schnee schmelzen und Frühlingsluft mich anwehen wird, wie viel lieblicher werden sie dann vor mir stehen, die grünen Bäume, wodurch Ihr weißes Haus schimmert! Ich darf nicht denken an die Freude und Rührung, mit der ich vor der Schwelle meines Hauses niederknien und sie küssen würde. Hier muß ich diese Regungen sorgfältig, aus Dankbarkeit, in mich verschließen, und wirklich hilft mir die Dankbarkeit auch vieles überwinden. 182,2–3 Apfel der überflüßigen Schönheit] S. den Mythos von Aphrodite in Homer: Ilias, XXIV,28 f.; vgl. Lukianos aus Samosata: Theon Dialogoi, 20,7: Paris überreicht den im Wettstreit der Göttinnen als Preis ausgesetzten goldenen Apfel nicht Hera und Athene, sondern der Liebesgöttin Aphrodite. 182,7–8 s c h ö n e n G e g e n d e n u m Eutin] Auch das Taschenbuch für das Jahr 1802, hg. von Johann Georg Jacobi (Hamburg: Perthes) mit J.s Abhandlung Ueber eine Weissagung Lichtenbergs (JWA 3.7–31) enthält Abbildungen mit Motiven aus Holstein. 182,13 Stolberg] Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750– 1819), Bruder des Dichters Christian Günther Graf zu Stolberg-Stolberg (1748–1821), Gründungsmitglied des Göttinger Hainbundes, Schriftsteller und Lyriker, Übersetzer antiker Literatur, 1789–1791 dänischer Gesandter in Berlin. – Ein Brief Stolbergs an J. ca. vom 15. Januar 1783, in dem er sich zustimmend zu J.: Etwas das Leßing gesagt hat äußert, ist nicht erhalten. In engem Briefwechsel stehen Stolberg und J. seit dem 28. April 1788, und im Juli 1791

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besucht Stolberg auf seiner Reise in die Schweiz und nach Italien J. in Pempelfort, von wo er J.s Sohn Georg Arnold mitnimmt; vgl. Stolberg an J., 5. August 1788, ABW II.60, und J. an Lavater, 21. August 1791. – Seit seiner zweiten Ehe mit Sophie v. Redern (1790) und verstärkt seit dem ersten Aufenthalt der Fürstin Gallitzin in Holstein (1793) deuten sich religiöse Differenzen zu J. an, etwa in J.s Urteil über Stolbergs Roman Numa (J. an Stolberg, 29. Januar 1794, ABW II.141–148) bzw. in Stolbergs Urteil über J.s Woldemar im Brief an J., 19. Februar 1794, ABW II.159 f., wie insgesamt in diesem Brief. J. ist sich dieser Veränderung und ihrer Ursache bewußt gewesen; s. an Herder, 4. Oktober 1797: Ich habe die Fürstin immer sehr lieb gehabt, aber ich war ihr beinahe feind geworden wegen des Samens, den sie vor vier Jahren in Holstein ausgestreut hatte und den ich bei meiner Ankunft das Jahr darauf in voller Blüthe stehen fand. – Gleichwohl siedelt J. sich Ende 1798 als Nachbar von Stolberg in Eutin an; dieser aber schreibt wenig später, am 30. Juni 1799, an Fürstin Gallitzin: Seitdem unser Jacobi der Hoffnung, zu einer lebendigen Quelle zu gelangen, entsagt zu haben scheint, mag er wohl mit heimlichem Grausen die Löcher, die er sich selber gräbt und grub, ansehen, wiewohl er immer eifrig fort gräbt, so wie Spieler immer noch auf die Karte setzen, wenn sie das Ihrige verspielt haben. Er ist gesellig, aber weniger froh als er war; gegen uns freundschaftlich, aber weniger offen. In Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe. Hg. Jürgen Behrens. Neumünster 1966, 359. Im folgenden Jahr, 1800, konvertiert Stolberg in Münster mit seiner Familie zum Katholizismus und zieht nach Münster in den Kreis der Fürstin Gallitzin und Fürstenbergs; hierdurch kommt es zum Bruch zwischen J. und Stolberg. – S. Carl Gustav Brinkman an Luise Gräfin v. Voß, Juni 1800, in ders.: Filosofische Schreibtafel, Nr 151–156, in Fuchs: Texte zu Jacobi und Fichte im Brinkman-Archiv, 225 f.: Stolberg, der vielverkannte, ist hier in Eutin J.[acobis] vertrautester Freund, u. so äusserst verschieden sie auch über politische u. religiöse Gegenstände denken, macht ihre innige Uebereinstimmung als Menschen beiden gleiche Ehre. – Ich sah St[olberg] vor ein p[aa]r Monaten in Hamburg, fand ihn in vielen Rücksichten milder u. duldender als man ihn mir beschrieben hatte, u. in Allem, was blos den Menschen charakterisirt unendlich liebenswürdig. Sein Geist, wie sein Aeusseres trägt das unverkennbare Gepräge, einer reichen, genialischen Natur – u. so zeichnet mir ihn auch J. – Aus Überzeugung gewissen hyperorthodoxen Begriffen des christlichen Kirchensistems zugethan, ist die Seele seiner Religion doch eigentlich der schöne Geist, jenes Gefühl der Heiligkeit, den der Stifter des Christenthums seinen Schülern einzuhauchen strebte. – So lebendig Stolbergs Enthusiasmus für alles anerkannte Gute u. Edle ist, so heftig auch sein Abscheu gegen Alles, was ihm hiemit in Widerspruch scheint. Bis zum wütenden Eifer kan ihn dieser, auch wol im Gespräch ergreifen – bis irgend ein mächtiger Anklang der reinen Menschheit, die edlern Töne seines bessern Gefühls anspricht, wo er plözlich weich werden kan, bis zu kindlichen Thränen, wie dies oft in Gesprächen mit J. geschieht, wo dieser mit der offensten Freimütigkeit, von den seinigen abweichende Grundsätze vertheidigt.

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Kurz St. ist eigentlich mehr ein andächtiger Schwärmer für das Höchste u. Göttliche im Menschen, das sich ihm unter einer gewissen Religionsgestalt aufdringt, als wie so viele ein Fanatiker für das Geistlose der religiösen Form selbst. /|Eutin im Mai 1801. / So wie ich in dem obigen Stolb. schilderte, fand ihn Jacobi noch bei meinem hiesigen Aufenthalt voriges Jahr. Aber bald nach meiner Abreise wurde das ganze schöne Verhältniß dieser beiden treflichen Männer auf die traurigste Weise zerrissen, als der Graf auf Einmal öffentlich zur katholischen Kirche übertrat. Diese Begebenheit wirkte fürchterlich auf Jacobi. Seine innige Liebe zu St. machte, daß er den gewagten Schritt desselben, abscheulich fand, u. s o abscheulich, daß ihm unmögl. ward, ihn nachher nur zu s e h e n . Der Briefwechsel, den ich hier beifüge ist höchst merkwürdig, u. scheint mir vorzüglich in Rücksicht Jacobis selbst interessant. […] Noch nimmt er nichts von dem zurück, was er in jenen Briefen geschrieben, kann u. wird es n i e thun; aber d[ie]se Härte ist doch nur moralischer Rigorismus seines Geistes, nicht Empfindlichkeit eines beleidigten Herzens. Das seinige ist noch voll der innigsten, treusten Liebe zu Stolb. – also freil. e d l e Intoleranz – aber mir doch immer auffallend. – Ueberzeugt, daß s[ein]e ehemalige vertraute Freundin, die Fürstin Gallitzin die Hauptverführerin gewesen, ergrif ihn dieser Gedanke bei der ersten Nachricht v. St. Schritt, so heftig, daß er sogleich das Bild der G. das bisher zu seinen Penaten gehörte, mit Entrüstung zerschmetterte. Die gemeinschaftl. Trauer über Stol. Verlust haben Jacobi u. Voß Vertrauter gemacht als je zuvor. 182,14 Voß] Johann Heinrich Voß (1751–1826), ebenfalls Gründungsmitglied und zugleich gewähltes Haupt des Göttinger Hainbundes (ab 1772), ab 1775 Redakteur und Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs in Wandsbek, 1778–82 Rektor in Otterndorf und Eutin (durch die Fürsprache Stolbergs), 1786 Hofrat in Eutin, nach dem Zerwürfnis mit Stolberg 1802 Privatgelehrter in Jena, ab 1805 in Heidelberg. – Zahlreiche Nachdichtungen griechischer und römischer Autoren, Übersetzer des Homer. Seine in Hexametern geschriebenen Idyllen verbinden inniges Naturgefühl, Landschaftsschilderungen und Szenen des bürgerlichen Lebens mit gelehrter Bildung und aufgeklärtem Protestantismus; s. u. a. Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen. (1783 und 1784; Königsberg 1802: KJB 3181; Tübingen 1807: KJB 3182; Königsberg 1812: KJB 3183). – J. tritt mit Voß wegen dessen Kritik an Nicolai in Verbindung (Januar 1781; JBW II,2.261), setzt sich für das Erscheinen von Voß’ Übersetzung der Odyssee ein und stellt sich in Voß’ Streit mit Lichtenberg auf seine Seite. Am 30. Juli 1781, JBW I,2.328, nennt er ihn gegenüber Forster einen Mann von seltener Gelehrsamkeit, von seltenen Talenten, und von äußerst seltner Würde des Charakters; s. auch J.s Epigramm An Voß. / In einer Bibliothek, worin alle deutsche Kritiken befindlich waren, in Deutsches Museum Bd 2,10 (Oktober 1781), 289. Im Spätsommer 1789 lernen beide sich persönlich kennen, und Voß berichtet: Jacobi hat mir ausnehmend gefallen. S. Heinz Gottwaldt / Gerhardt Hahne (Hg.): Briefwechsel zwischen Johann Abraham Peter Schulz und Johann Heinrich Voss. Kassel / Basel 1960, 79. Wegen der zurückgezogenen Lebensweise von Voß ist es in

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Eutin nicht zu einer engen Verbindung zwischen Voß und J. gekommen, doch führt die gemeinsame Kritik an Stolbergs Konversion beide kurzfristig enger zusammen. – Vgl. den o. g. Reisebericht Eutin, am 13ten October 1799, in Der Genius der Zeit. Ein Journal hg. von August Hennings. Bd 19 (1800), 67: Die Dämmerung führte mich zu dem edlen Voß, […]. Der unermüdete Fleiß dieses eben so großen Philologen als Dichters, und die Mannichfaltigkeit der Gegenstände, die sein Geist umfaßt, lassen uns eine reiche Ausbeute von diesem Winter hoffen. – 69 f.: Hier überzählte ich die Arbeiten unsers Dichters, und verglich nach ihnen, was der Geist vermag. Wie in einem Garten, in dem der Frühling überall Leben hervorruft, wandelt er unschlüssig noch, ob er seine Uebersetzung der griechischen Bukoliker mit Anmerkungen ausrüsten, oder den dritten Band der mythologischen Briefe vollenden, oder die neue Ausgabe seiner Gedichte fertigen, oder seine Regeln der deutschen Sylbenzeit und Verskunst niederschreiben, oder an der alten Geographie fortarbeiten, oder Horazens Oden und den Brief an die Pisonen vorangehen lassen will.[FN] Von allen | diesen Blüthen und Blumen seiner Wartung und Pflege, verdienen aber die Homerischen die ehrenvolleste Erwähnung. – 71: Der seit vorigen Ostern vollendete neue Commentar zu Virgils Landbau wird in der nächsten Ostermesse bey Herrn Hammerich erscheinen, und den dritten und vierten Band von Virgils ländlichen Gedichten ausmachen. Er wird Schulmännern und andern Liebhabern dazu dienen, den forschenden Dichter in mancherlei zum Theil wenig besuchte Gegenden des schönen Alterthums zu begleiten. Möchte der edle Voß auch den Vorsaz ausführen, seinen Text Virgils mit kurzen Anmerkungen für Jünglinge heraus zu geben. 182,18 wir E u t i n e r ,] J. hat sich – nach den Jahren seines Wanderlebens in Hamburg und Holstein seit 1794 – im Jahre 1798 in Eutin niedergelassen, wo er in dem von Johann Georg Schlosser überlassenen Hause an der Achterstraße als Nachbar von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg wohnt; s. J. an Herder, 22. November 1798, ABW II.262 (hier versehentlich 1789 datiert): Von Schlosser weißt Du wohl schon, daß er auf die ehrenvollste Weise als Syndicus nach Frankfurt, seiner Vaterstadt, berufen worden und diesem Rufe gefolgt ist. Er bat uns, sein Haus zu bewohnen, damit seine hier verheirathete Tochter mit ihrem Manne Trost an uns hätte. Ich willigte mit Freuden ein, weil ich Schlosser’s Tochtermann, Nicolovius, wie meine Seele liebe. Mir ist so wohl in dieser Lage, die ich jetzt schon in die fünfte Woche genieße, daß ich nichts so sehr wünsche, als bis zu meiner Rückkehr nach Hause, oder einer andern festen Niederlassung, darin bleiben zu können. – Vgl. J. an seinen Sohn Johann Friedrich Jacobi, 3. April 1799, ABW II.271–276, an Friderike Jacobi, 3. Juni 1799, ABW II.280–282, und an Schenk, 15. Oktober 1799, ABW II.284 f.: Ich sitze hier in meinem geräumigen Büchersaale, der etwas größer ist, als mein mittleres Zimmer in Pempelfort. Die Aussicht ist in den Garten, hinter dem eine schöne Allee und der Hofgarten liegt. Mein Nachbar links ist Stolberg und rechts der Hofprediger, der ein guter, fleißig lesender Mann ist. Das Haus, das wir bewohnen, ist sehr bequem und angenehm; es steht im Garten und wir haben lauter Gärten

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neben uns. Ich bin also nun ganz leidlich eingerichtet. – Nach Eutin waren auch viele Franzosen emigriert; s. den o. g. Brief an Schenk, ABW II.288 f. – Zur folgenden Beschreibung der Eutiner Gegend und ihrer Bewohner vgl. den an J.s Darstellung in ÜTB orientierten Reisebericht Eutin, am 13. October 1799, in Der Genius der Zeit 19 (Januar 1800), 53–71. 182,19 unseren B i s c h o f f] Friedrich August von Holstein-Gottorp, Herzog von Oldenburg, Fürstbischof von Lübeck. 182,20 Holmer,] Friedrich Levin Freiherr v. Holmer (1741–1806), seit 1777 Erhebung in den Stand des Reichsgrafen, leitender Minister im Herzogtum Oldenburg, Förderer der Literatur, Freund Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs. 182,21–24 den V o ß … nennt.] J. bezieht sich auf die damals eben vollendete Übersetzung, die den Herausgebern nicht zugänglich war: Des Publius Virgilius Maro Ländliche Gedichte. Übers. und erklärt von Johann Heinrich Voss. Mit erläuternden Kupfern. 4 Bde. Altona 1797–1800 (KJB 2844; vgl. KJB 2843: Des Publius Virgilius Maro Werke, übersetzt von Johann Heinrich Voss. Bde 1–3. Braunschweig 1799). 182,26–27 der Bischoff … d i e G e g e n d .] Fantasieen auf einer Reise durch Gegenden des Friedens von E. P. v. B. [Motto von Baggesen] Hg. von J. L. Ewald. Hannover 1799, Abschnitt Eutin, 230 f.: Eutin ist ein kleines, reinliches, niedliches, aber dem Anscheine nach ärmliches Städtchen, in dem sich der Herzog von Oldenburg, Bischof von Eutin, bekanntlich während des Sommers aufhält. [..|.] Wir begegneten dem Herzog einigemal; sein Gesicht drückt aber etwas anders aus, als die Gegenden um ihn her. Er ist ernsterer, und ich möchte fast sagen, finsterer, als sie. Ein doppeltes Verdienst, wenn er nicht aus herzlicher Theilnehmung an Menschenwohl, sondern bloß aus Pflicht und Grundsätzen seine Unterthanen so glücklich macht. 182,31 des Sokratischen Princip.] S. oben 180,28–30. 183,2–4 »daß unser … contrastiere;«] S. die vorletzte Anm. 183,6 Physiognomist.] Zu J.s Kenntnis der Physiognomik s. [Johann Caspar Lavater:] Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Joh[ann] George Zimmermann. T. 1–4. Zürich 1768–1773 und 1778 (T. 3–4: KJB 313), T. 2. Zürich 1770 (KJB 314), und Gemeinnütziger Auszug daraus, Zürich 1781(KJB 315); Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe … Mit vielen Kupfern. Versuch 1–4. Leipzig/Winterthur 1775–1778 (KJB 904). – Diese Studien führten zu einem langen Streit zwischen Physiognomisten und Antiphysiognomisten, in dem sich u. a. Goethe, Herder, J. und Lenz zur Physiognomik bekannten, während etwa Nicolai und bes. Lichtenberg scharfe Kritik übten; s. Lichtenbergs Essay Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß. (Göttinger Taschen-Calender 11778; KJB 923: Zweyte vermehrte Auflage. Göttingen 1778.) In Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies. Bd III. München 1972, [256]–295. – Lavater replizierte mit Vermischte unphysiognomische Regeln zur Menschen- und

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Selbstkenntniß. [Zürich] 1778 (KJB 906: mit handschriftlicher Widmung an Freünd Jacobi). 183,11 empfindsamen Nasenrümpfern,] Zu J.s pejorativem Tenor s. seine Auseinandersetzung mit dem irrationalen Subjektivismus und dem Geniekult in den Auswüchsen der zeitgenössischen Strömung der Empfindsamkeit in Allwill und Woldemar; vgl. J. an Forster, 25. Oktober 1779, JBW I,2.118,14–21: Grüßen Sie Lichtenbergen von mir […]. Wenn er mich etwa der Empfindelei (das Wort Empfindsamkeit mag ich nicht verhunzen helfen, mag kein Schwärmer, weder pro noch contra, weder für die Wärme noch für die Kälte seyn) oder der Geniesucht im Verdacht haben sollte, so lesen Sie ihm nur Luciens Brief aus dem December des Merkurs 1776 vor; ich dächte, auch die Fragmente im Museum, wenn man sie g a n z liest, und nicht etwa nur hie oder da einen Fetzen, wären schon hinreichend. Sc. Eduard Allwills Papiere, in Der Teutsche Merkur (Dezember 1776), 245–262 (vgl. WW I.200–226), sowie das Ergänzungsgespräch zu Woldemar: Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande von Woldemar, in Deutsches Museum 1 (April 1779), 307–348 (vgl. WW V.41–53, 127–163) und (Mai 1779), 393–427 (vgl. WW V. 163–215), sowie den Anhang, 4–23). – Vgl. J. an Elise Reimarus, 8. Juni 1781, JBW I,2.313,10–22, und an J. A. H. Reimarus, 23. Oktober 1781, ib. 356 ff. 183,18 So entschuldige ich den Mann,] Zur Bekanntschaft J.s mit Ewald s. die Schilderung eines Besuchs bei J. während dessen Aufenthalt bei Claudius in Wandsbeck; s. Fantasieen auf einer Reise durch Gegenden des Friedens, 121: Jetzt fuhren wir nach Wandsbeck, wohin W. und ich zu Jakobi gebeten waren. – 123–125: Jakobi war heute sehr heiter und geistvoll. – Dies ist immer eins bei ihm. – Das Gespräch am Tische war munter, geistvoll, höchst interessant. Über die kleinsten Vorfälle und Gegenstände ward immer wie über die größten geredet, die größten Begebenheiten des Tages damit verglichen, und die Ähnlichkeit ihres Ganges mit | ihnen gezeigt. Sorgfältig suchte Jakobi einen Fleck von rothem Weine mit Salz wegzubringen, den er auf das Tischtuch gemacht hatte, und der seinem feinen Sinne für Ordnung und Reinlichkeit zuwider war. Kurz darauf aber zerbrach er eine ganze Bouteille, und nun gab’s einen Exceß, den man so lassen mußte. »Sehet da die Staatsklugheit!« hieß es gleich. »Eine kleine Unruhe im Staate bemüht man sich sorgfältig zu stillen; hier ist aber eine Revoluzion, der man ihren Lauf lassen muß!« Nach Tische sprach ich noch mit Jakobi über die neueste Philosophie, aus der er manche Folgen zog, die man mit s e i n e m Scharf- und Tiefsinn finden kann, und die äußerst auffallend waren. Ich erlaube mir indeß nicht, weiter etwas darüber zu sagen. F i c h t e zeigte Jakobi, wie sich seine Philosophie wieder an den gesunden Menschenverstand anschließe. | Und wenn man fragt, wozu denn also überhaupt alle Philosophie solle? so antwortet er: »Weil die Menschen von der verbotenen Frucht der Spekulazion gegessen haben, ist diese Erlösung nöthig. Der Erste, der die Frage aufwarf: giebt’s auch einen Gott? setzte uns in diese Nothwendigkeit. Wohl dem denn, der von dieser

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verbotenen Frucht nicht gegessen hat, und auch keine Lust dazu in sich fühlt! Wenn er sich nur bewahrt vor den Schlangen, die ihn mit ihrem »sollte auch?« zu dieser verbotenen Frucht reizen. – Zur Notwendigkeit der Philosophie in Folge des Sündenfalls der Spekulation vgl. Fichte an J., 30. August 1795, GA III,2.392,35–393.2. 183,20–23 »das doppelte … mache,«] S. K. zu 182,26–27. 183,25–40 »So ein Frühstück, … erweitern.«] Fantasieen auf einer Reise durch Gegenden des Friedens, 89 f. – 20: ich fühlte, wie das, was in dem Menschen am meisten lebt, worin Er lebt, durch mäßigen Genuß eines guten Weins exaltirt wird, – seine Sinnlichkeit, wenn er sinnlich, und seine feinste Geistigkeit, wenn er fein-geistig ist; – daß G ö t h e recht hat: »Durch Wein wird der Mensch doppelt das, was er vorher war.« – 203 f.: Wie doch Genuß für den Leib durch Geistes- und Herzensgenuß gewürzt wird, und wie wir gestimmt werden zu Geistes- und Herzensgenuß durch mäßigen Körpergenuß! – Eine mäßige Mahlzeit mit geistvollen, gleichge|stimmten Menschen ist einer der menschlichsten Genüsse, die es giebt. Geistes-, Herzens- und Leibesgenuß ist von Gott zusammengefügt, und »was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen.« Ich finde es darum sehr natürlich, daß unsre Alten alles Wichtige mit einer Mahlzeit verbanden. Geist und Herz war da am offensten. – Vgl. ferner die weitere Frühstückserinnerung, ib. 257 f. 183,35 Spallanzani] Lazzaro Spallanzani (1729–1799), aus Scandiano (Provinz Emilia Romagna), italienischer Biologe, Prof. in Reggio Emilia, Modena und Pavia. – Zu dem genannten Experiment s. Spallanzani’s Versuche über das Verdauungs-Geschäfte des Menschen und verschiedene Thier-Arten; nebst einigen Bemerkungen des Herrn [Jean] Senebier. Übers. und mit einem Register versehen von Christ[ian] Friedr[ich] Michaelis. Leipzig 1785 (KJB 3563). 184,5–9 Zum Aufnehmen … S t r a c k .] Ludwig Strack, Eutiner Landschaftsmaler. Vgl. den o. g. Aufsatz Eutin, am 13. October 1799, in Der Genius der Zeit 19 (1800), 61 f.: Hier von der Königshöhe bey Eutin schien mir bey dem Feieranblicke des Ruhetags der Natur, die Thätigkeit der Arbeiter umher ein Gottesdienst, (es war ein Sonntag) und die ganze Scene ein schönes Bild, wovon die Seele der Mahler war. Diesen Eindruck fand ich bestätigt, als ich den treflichen Landschaftsmahler Strak in seiner Werkstatt auf dem Schlosse besuchte. Vorhin hatte die Natur sich mir zu einem schönen Gemählde dargeboten, jetzt verwandelte die Kunst Gemählde zum Anblik der Natur. Italien bietet dem Landschaftsmahler die reichhaltigsten Gegenstände dar, und der Künstler hatte in seinem dasigen fünfjährigen Aufenthalte, außer einer Menge schöner Studien, eine durch den glücklichen Himmel Sici|liens und Italiens erwärmte Phantasie mitgebracht. […] Sie hatte, ohne durch den Uebergang in ihrer Kraft zu verliehren, die Hand des Mahlers in treflichen Darstellungen Eutinscher Naturscenen geführt, von denen einige gestochen werden und einige schon das Jacobische Taschenbuch zieren. Ich glaubte nicht, daß, so schön auch die Eutiner Gegenden sind, ihre zu wenig gehäuften Massen

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Stof zu großen mahlerischen Abbildungen geben könnten, aber diese Schwierigkeit hat der Mahler glüklich überwunden, und von dem Eutiner Garten, mit eben so vieler Treue als Schönheit, gefällige Scenen in ziemlich großen Gemählden dargestellt. 184,11–12 macht sich … kosten.] J. zieht hier die Folgen aus dem physiokratischen Wirtschaftsmodell, das den Schwerpunkt des Ertrags in die unmittelbare Produktivität des Bodens setzt; s. J.: Eine politische Rhapsodie, 411 (WW VI.352): Die Erde ist bekanntermaßen die einzige Quelle aller Reichthümer. Der Landeigenthümer vermehrt die Güter, welche sie hervorbringt, entweder durch e i g n e Arbeit, oder in der Person seiner Pachter und Ackersleute. Der Handwerker und Künstler hingegen, weit entfernt die Produkten zu vermehren, hilft sie nur vernichten, indem er dieselben zum Theil, durch die Veränderung, welche er mit ihnen vornimmt, zur Reproduktion untüchtig macht, und zum Theil an Lohn für seine Arbeit verzehrt; er kann also nicht anders als auf die vorhin beschriebene Weise im Dienst und Solde der Grundeigenthümer existieren, und sein einziges Verdienst um die Bereicherung des Staats ist, daß er die Grundeigenthümer zu einem stärkern Anbau reizt. 184,12–15 Der Regierungs-Präsident … D i c h t e r ist.] Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, s. K. zu 182,13, war damals Kammerpräsident der fürstbischöflich-lübeckischen Regierung in Eutin. 184,32–34 In dem Staatsrath … verneinend.] Die Quelle dieser Erzählung konnte nicht nachgewiesen werden. 184,37 Temple, Swift] Vgl. William Temple: The works… To which is prefixed the life and character of the author. A new edition. 4 Bde. London 1770 (KJB 62), und Temple: Remarques sur l’estat des Provinces Unies de Pays-Bas faites en l’an 1672 […]. La Haye 1692 (KJB 1682). – Zu J.s Lektüre Swifts s. J.: Swifts Meditation über einen Besenstiel, und wie sie entstanden ist. In Neues deutsches Museum Bd 1,4 (Oktober 1789), 405–417 (WW I.310–324). 185,3 mein lieber Aeltester,] Johann Georg Jacobi; s. K. zu 169,2. 185,8 Du schriebst mir damals,] Dieser Brief kann nicht nachgewiesen werden. 185,13 einen deiner Neider] Dieser Neider kann nicht nachgewiesen werden. 185,23–27 Die Leute … eigenes Gesetz.] J. bezieht sich auf die am 14. Juli 1790 eingeführte neue Zeitrechnung seit der Französischen Revolution. Ein Dekret teilte 1793 das Jahr in 12 Monate zu 30 Tagen ein, denen 5 (in Schaltjahren 6) zusätzliche Tage hinzugefügt wurden; der Jahresanfang wurde auf den 22. September gelegt, den Tag der Verkündung der Republik im Jahr 1792. 185,30–31 Dieser Einrichtung … zu erwarten:] Diesen Plan hat J. nicht ausgeführt. 185,34–35 Idee einer Unglückseligkeitslehre] Diesen Plan hat J. nicht ausgeführt. 186,12–13 An trois … An deux] In Anspielung auf den Revolutionskalen-

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der (s. K. zu 185,23–27) imaginiert J. nun selbst eine neue Zeitzählung, beginnend mit dem Erscheinen des Ueberflüßigen Taschenbuchs. 186,17–18 Herodot, der … benannt hat.] S. etwa die Ausgabe Herodot: Libri novem, Musarum nominibus inscripti, interprete Laurentio Valla […]. Coloniae 1562. – Sowohl diese Einteilung als auch die Benennung stammen aber nicht von Herodot, sondern wohl von alexandrinischen Philologen. – J.s Anlaß für den Hinweis auf Herodot war vielleicht die Übersetzungsarbeit seines Sohnes Maximilian Jacobi: Herodots Geschichte, aus dem Griech. übersetzt. 3 Bde. Düsseldorf [um 1800] (KJB 2689). 189,2–4 Nous sommes … comprendre. Fenelon nach Augustinus.] François de Salignac de la Motte Fenelon: Œuvres philosophiques, ou demonstration de l’existence de dieu, tirée de l’art de la nature, dans la prémiere partie: et dans la seconde, des preuves purement intellectuelles, & de l’ideé de l’infini même. […] Nouvelle édition, où l’on a joint les lettres du même auteur sur divers sujets concernant la religion & la metaphysique, & ses sermons. 2 T. Amsterdam 1731 (KJB 250), T I.90. – Das Motto findet sich am Ende eines längeren Zitats aus Augustin: Confessiones; zum Motto vgl. bes. ib. X,8,15, ferner Kladde VII,931 (Schneider: Denkbücher, 253). 190,1–5 »Wodurch … geheim.] Musen-Almanach für das Jahr 1797. Hg. von Schiller. Tabulae Votivae. 173: Genialität. In Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd 1.300. – Die irrtümliche Zuschreibung an Goethe hat J. in der zweiten Auflage korrigiert; s. 190,7. 191,2 den folgenden Brief] Vgl. den Abdruck von JF in GA III,3.224– 281. Die dort gegebenen Zitatnachweise wurden im folgenden berücksichtigt. 191,2–7 so wie ich ihn … geschrieben habe,] Diese Behauptung trifft nur für die beiden ersten Drittel des Briefes zu, oben 191,1–216,1; die Schlußpartien 216,1–225,3 hat J. für die Publikation neu verfaßt; s. den Editorischen Bericht, 475–477. 191,4–5 den Mann, … gerichtet ist,] Vgl. J. an Reinhold, 26. Februar 1799, RLW 243: Schon heute vor 14 Tagen habe ich Ihnen wieder schreiben wollen, […]. Es unterblieb, weil ich […] auf den Gedanken kam, was ich für Fichte auf dem Herzen hatte, in diesen Brief an Sie zusammenzufassen, der ihm alsdann hätte geschickt werden können. Ich war gewiß, hatte es vor Augen, daß ich auf diese Weise freier, froher und besser schreiben würde. Zufälle verhinderten, daß ich nicht gleich zum Werke schreiten konnte, und so entschloß ich mich nachher wieder, doch lieber gerade an Fichte zu schreiben. Daran bin ich nun mit Eifer. 191,7 mit deßelben Bewilligung] Fichte an Reinhold, 22. Mai 1799, GA III,3.362,18–363,2: Meinen herzlichen Gruß an Jacobi. – Er hat mir nichts darüber geschrieben, ob er sein Schreiben an mich für den Druck bestimmt. Von meiner Seite dies in Anregung zu bringen, geht nicht, da dasselbe in mancher Rüksicht so vortheilhaft für mich ist. Will aber Er es drucken lassen, so gebe ich dazu meine Einwilligung ohne Bedenken: besonders wenn einige grelle Stellen, insonderheit die, wo er meine Philosophie allerdings atheistisch nennt, (was in gewisser Rüksicht wahr, u. zuzugeben ist, aber wohl die wenigsten Leser so verstehen dürfen, wie wir

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es verstehen) weggelassen [s. J.s Veränderung der Stelle in dem Fichte durch Reinhold mitgeteilten Bruchstück, 216,27–34 (GA III,3.223,21–28) – s. den Editorischen Bericht, oben 476]; und etwa mein Fragment, das ich auch an Jacobi als Beilage geschikt [Fichte an J., 22. April 1799, sowie unter demselben Datum an Reinhold, GA III,3.337,26 bzw. 330–333.] […] mit hinzugedruckt würde. Ob die Schrift, in welche jenes Fragment gehört [Fichte plante noch vor Empfang des Jacobischen Sendschreibens eine Schrift mit dem Titel Rükerinnerungen, Antworten, Fragen; s. Fichte an J., 22. April 1799 (GA III,3.334,17–20) und an Reinhold, 22. April 1799 (GA III,3.325,8–12)] noch erscheinen werde, ist nicht ausgemacht: erscheint sie aber, so wird denn doch auch dieses Stük eine andere Gestalt in derselben erhalten. Sollte ich Jacobi durch mein leztes Urtheil [Fichte an J., 22. April 1799] unrecht gethan haben, wie ich freilich bis jetzt noch nicht glaube, so wird er mir es verzeihen […]. Ich bin stets bereit, zu widerrufen. – Fichte an Reinhold, (14. Juni) 1799 (Bruchstück), GA III,3.381,19–21: Ich erwarte den Abdruck des Jacobischen Schreibens begierig; u. werde schon jezt, sobald ich mehr Freyheit des Geistes habe […] auf eine Antwort denken. 191,10 flüchtigen Abschriften] J. an Jean Paul, 19. Februar 1799, in Zoeppritz I.208: Von meinem Briefe an Fichte schicke ich Dir und Herdern eine Abschrift, so bald er geschrieben ist; aber, wie es sich von selbst versteht, unter dem Gelübde der Verschwiegenheit. – In der zweiten Auflage hat J. die Rede von flüchtigen Abschriften verschärft; s. 191,33–34. 191,17–20 Durch eine … gethan habe.] J. an Reinhold, 13. Mai 1799, RLW 247: Ich muß noch nachholen, daß ich eben so überzeugt bin wie Du, daß Fichte den Druck meines Briefes an ihn gerne sehen wird. […] Ich gäbe meinen Brief heraus unter dem Titel: Jacobi an Fichte. Er antwortete alsdann, auch in einem besonderen Pamphlet: Fichte an Jacobi. Zu meinem Briefe käme ein kleiner Vorbericht, und hinten einige Anmerkungen, damit der Brief selbst so unverändert wie möglich bleibe. – Anders als hier geplant, hat J. jedoch den Schluß des Briefes neu geschrieben; s. J. an Reinhold, 10. September 1799, RLW 249, bezüglich seiner Bedenken wegen des Schlusses, der eine derbe Stelle enthält wider die Götzendiener aller Art – Du aber wirst mich preisen. Mein Brief ist durch den Schluß um ein Drittel länger geworden. – Die derbe Stelle ist wohl J.s Rede von der Selbstgötterey mit philosophischen Begriffen (JF, oben 221,12–32), die in der Tat Fichtes Unmut erregt und einen seiner Haupteinwände gegen J.s Sendschreiben veranlaßt hat; s. Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, zit. in K. zu 193,7. 191,23–25 Urtheile über … Theologie.] S. bes. oben 257 f.: Anhang 5. 191,26 anderen Schrift,] Gemeint ist UK, s. oben 261–330. – Zur Entstehungsgeschichte von JF und UK s. GD, Nothgedrungener Vorbericht, JWA 3.4,3–5,7. 191,29–31 Stelle, wo ich … nenne,] Vgl. oben 196,12. – Einen zusätzlichen Anlaß für J.s Bedenken bildet die Kontroverse Kants mit Schlosser; vgl. K. zu 257,4–7.

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191,33–34 aus dem Gedächtniß gemachten Auszügen] Solche Auszüge sind den Herausgebern nicht bekannt geworden. 192,1 der Vorläufer offenbar der Vornehmere.] Die Bezeichnung Kants als des Vornehmeren bezieht das Epitheton auf ihn selbst, das er kritisch gegen schwärmerische Tendenzen seiner Zeit gewendet hat; s. Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. – Ähnlich bezeichnet bereits Fichte in Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 341 (GA I,4.220,8 f.), die Kantianer als diejenigen, die bei Erwähnung einer intelligiblen Anschauung die bekannte vornehme Mine annehmen. – Vgl. Musen-Almanach für das Jahr 1797, Xenien, 214, Nr 63 (Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd 1.317): An Kant Vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig, Vornehm philosophiert heißt wie R o t ü r e gedacht. 192,2–4 Fichte selbst … bewiesen.] Neben der zugehörigen FN vgl. Fichtes Aenesidemus-Rezension, ALZ 47–49 (11./12. Februar 1794), Sp. 369–374, 377–383, 385–389 (GA I,2.41–67), und Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.343–378 (GA I,4.221–244). 192,5–7 das Bewußtseyn des Nichtwißens … halte;] Mit dem Begriff des Nichtwissens schließt J. sich an Plato an: Apologia Socratis 21b–e und Symposion 216d. – S. auch J. an Kant, 16. November 1789, AA XI.104, 27–105,8 (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 234,20–30; abschriftlich auch in J. an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 230): Nach Ihrer Lehre nimt die Natur; überhaupt d as V o r g e s t e l l t e , die Form unseres einmahl innerlich und unerforschlich so und nicht anders bestimmten Vorstellungsvermögens (dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen) an: wodurch denn nicht allein aller Widerstreit der Vernunft mit sich selbst gehoben, sondern auch ein durchaus zusammenhängendes System reiner Philosophie möglich wird. Ich im Gegentheile bin geneigter, die Form der menschlichen Vernunft in der allgemeinen Form der Dinge zu suchen; und glaube einiger Maaßen zu sehen, auch zum Theil schon gezeigt zu haben, wie die verschiedenen Instanzen, welche der entgegengesetzten Behauptung alles Hypothetische | benehmen sollen, vielleicht zu heben wären. Unser Wißen möchte wohl so ganz Stückwerk seyn, daß auch nicht einmahl das W i ß e n unseres Nichtwißens davon ausgenommen werden könnte. Unterdeßen bin ich wirklich daran, mein Credo noch einmahl auf das ernstlichste, und zwar an der neuen Theorie des Vorstellungsvermögens des Herrn Profeßor Reinhold [ Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag / Jena 1789] zu prüfen. Sehr tief kann ich wohl nicht im Irrthum stecken, da meine Resultate mit den Ihrigen fast durchaus zusammen treffen. – S. auch Vorbericht. zu WW IV, JWA 1.349,23–26, 30–35. – Zum Verständnis des Wahren s. JF, oben 208,13–27. 192,8–9 sich lieber … versündigen wollte.] KrV B XXX bezeichnet Kant den Dogmatismus der Metaphysik als die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens und folgert: Ich mußte also das

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Wißen aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen. – Vgl. KpV A 218 (AA V.121): Einschränkung des spekulativen Frevels. 192,9–13 Fichte versündiget sich … sehen laßen.] Zu Fichtes Überschreitung der Kantischen Selbstbeschränkung des Wissens s. etwa Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer. Jena / Leipzig 1795, 3 f. (GA I,3.144 f.). 192,14–16 Aber Kant, … gemacht.] S. DH, oben 112,5–32; vgl. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363 (GA I,4.235,7–14). 192,17–18 Man hat … beschuldigt,] Der Atheismusvorwurf wurde gegen Fichte erhoben wegen der Abhandlung von Friedrich Karl Forberg: Entwickelung des Begriffs der Religion, ib. 21–46, und Fichtes darauf bezogenem Aufsatz Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, ib. 1–20 (GA I,5.347–357) in Bd VIII,1 des Philosophischen Journals. – S. die Eingabe des Dresdener Oberkonsistoriums an den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich August, und über ihn an die Erhalter der Universität Jena, GA III,3.174 f. FN 7: Churfürstlich Sächsisches Requisitionsschreiben an den Weimarischen Hof in dieser Angelegenheit. / (bisher ungedruckt.) Ad. Seren. Domin. Reg. Vimar. / Unsere freundlichen Dienste ec. / Es ist Uns angezeigt worden, wie in dem von den Professoren zu Jena, F i c h t e und N i e t h a m m e r , herausgegebenen ersten Hefte des sogenannten Phil. Journals von diesem Jahre zu dessen ersten Aufsatz der Prof. F i c h t e , so wie zu dem andern, der Rektor zu Salfeld, Forberg, sich namentlich zu bekennen, nicht gescheuet haben, solche Grundsätze geäußert worden, die mit der christlichen, ja selbst der natürlichen Religion unverträglich sind, und offenbar auf Verbreitung des Atheismus abzielen. Ew. Liebden werden Sich Selbst davon aus denen in der uns mit eingereichten Beilage enthaltenen Stellen jener beiden Aufsätze überzeugen. – Wir halten uns von dem gerechten Unwillen, den dieselben mit Uns über ein so frevelhaftes Beginnen von Lehrern der Jugend auf Universitäten und Schulen empfinden werden, versichert. Da die Erfahrung genugsam lehrt, was für traurige Folgen aus der Duldung jener unseligen Bemühungen, den ohnehin überhand nehmenden Hang zum Unglauben noch weiter zu verbreiten, und die Begriffe von Gott und Religion aus dem Herzen der Menschen zu vertilgen, für das allgemeine Beste und insonderheit auch für die Sicherheit der Staaten entstehen: so mag uns auch in Absicht auf Unsere Lande nicht gleichgültig seyn, wenn Lehrer in angränzenden Landen sich öffentlich und ungescheuet zu dergleichen gefährlichen Grundsätzen bekennen. […] Dresden den 18. December 1798. / F r i e d r i c h A u g u s t , Churfürst ec. – Wiederholt wird diese Verurteilung in der fast gleichzeitig mit dieser Eingabe erschienenen anonymen Flugschrift Schreiben eines Vaters an seinen studierenden Sohn über den Fichtischen und Forbergischen Atheismus. o.O. 1798 (KJB 707), die (S. 2) Fichte als theoretischen Atheisten bezeichnet; ebenso von Friedrich Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung (s. K. zu 197,14–16), 206, und

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J. H. G. Heusinger: Ueber das idealistisch-atheistische System des Herrn Profeßor Fichte in Jena. Einige Aphorismen philosophischen Inhalts. Dresden und Gotha 1799, 64: Fichte sei Atheist, da seine philosophische Theorie einen sittlichen Determinismus begründe; er widerspricht auch den unentwickelten Ueberzeugungen jedes pflichtliebenden und moralisch-teleologischer Reflexionen fähigen Mannes. – Eigentlich in dieser letztern Hinsicht ist es, daß ich dieses Resultat des Fichtischen Systems atheistisch nenne. Denn es leugnet einen Gott nicht nur, wie diese oder jene religiöse Glaubensparthei, diese oder jene philosophische Schule, sondern wie jeder Mann von Herz und Besinnung einen Gott statuirt. Es ist atheistisch in Bezug auf die Ueberzeugung der ganzen Menschheit. – S. auch die gegen Fichtes Appellation an das Publikum gerichtete anonyme Flugschrift [A. W. Rehberg:] Appellation an den gesunden Menschenverstand, in einigen Aphorismen über des Herrn Professor Fichte Appellation an das Publikum, wegen ihm beygemessener atheistischen Aeusserungen. [Hannover] Im Februar 1799. Rehberg hält Fichtes Philosophie für atheistisch, da Fichte keine rationale Substanz annehme; was Fichte mithin als Gott bezeichne, sei nach der Sprache des allgemeinen Menschenverstandes, und auch nach der Sprache der Schule, nur nicht der neuesten Schule ein Non Ens (S. 12). Fichtes Gott sei eine Gesinnung, ein Gefühl, eine Modifikation in der menschlichen Seele (S. 26). Fichte selbst hatte demgegenüber bereits in seiner Appellation an das Publikum, 62 (GA I,5.435,30–33), bemerkt: Der Hauptgrund dieser Bezüchtigung ist ohne Zweifel der, daß ich Gott als eine besondere Substanz läugne. Ein substantieller Gott aber ist nothwendig ein im Raume ausgedehnter Körper, welche Umrisse man übrigens auch seiner Gestalt gebe. – S. 12 setzt Rehberg zudem Fichtes Gott dem Gott der Christen entgegen; dem widerspricht die Flugschrift [Friedrich Christoph Jensen:] Kann man Herrn Professor Fichte mit Recht beschuldigen, daß er den Gott der Christen läugne? / beantwortet durch eine für den gesunden Menschenverstand faßliche Darstellung seines Systems / von einem Nichtphilosophen. Kiel 1799. – S. Fichte an Jensen, 3. Mai 1799, GA III, 3.347,11–19. – Um den Vorwurf des Atheismus abzuwehren, beruft Fichte sich in seiner Appellation an das Publikum, 97 (GA I,5.447 f.), auf die Theologen Johann Joachim Spalding und Franz Volkmar Reinhard (Oberhofprediger in Dresden, Mitglied des Dresdener Oberkonsistoriums) und auf J.; auch in Der Herausgeber des philosophischen Journals gerichtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des Atheismus. Hg. von J. G. Fichte. Gedruckt auf Kosten des Herausgebers. Jena 1799 (GA I,6.27–90), sucht Fichte den Atheismusvorwurf seitens der Theologen abzuweisen. – S. jedoch die Rezension in Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, St. 88/89 (26./29. Juli 1799), Sp. 184–190, 193–207, hier St. 89, Sp. 202: Uebrigens kann Rec. nicht verhehlen, daß, was Kantianer und Fichteaner Christenthum heißen, wenigstens das positive nicht ist, noch seyn kann. Es wäre also besser, sie nännten die Sache bey ihrem wahren Nahmen – moralische Vernunftreligion, und unterließen es vorzüglich aus der Bibel mit Texten zu spielen, die meistens einen anderen Sinn haben, als den sie ihnen geben.

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192,18–21 Transscendentalphilosophie, … Theistisch seyn.] J. wendet sich hier implizit gegen die damalige Diskussion über einen Atheismus der theoretischen bzw. der praktischen Vernunft; s. etwa Carl Heinrich Heydenreich: Briefe über den Atheismus. Leipzig 1796. 192,24–39 »der Verfaßer … belohnen kann«,] Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft. Weimar 1794 (KJB 689), Vorrede, V–VII (GA I,2.110,18–111,10). – Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Vorerinnerung, GA I,4.184,17–20. 192,35 Reinholds. …] Die durch Auslassungspunkte bezeichnete Stelle lautet: und er glaubt den ehrenvollen Platz zu kennen, welchen die Elementar-Philosophie des leztern, bey den weitern Vorschritten, die die Philosophie, an wessen Hand es auch sey, nothwendig machen muß, dennoch immer behaupten wird. Es ist nicht in seiner Denkungsart irgend ein Verdienst muthwillig zu verkennen, oder es verkleinern zu wollen; er glaubt einzusehen, daß jede Stuffe, die die Wissenschaft je bestiegen hat, erst bestiegen seyn mußte, ehe sie eine höhere betreten konnte; 193,4–9 Warum dann … vertrieben werden?] Fichte geht in seiner Abhandlung Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung über den kantianisierenden Standpunkt Forbergs hinaus; vgl. Fichte an Reinhold, 22. April 1799, GA III,3.330,6 f.: Daß in dem Kantischen Aufsatze [sc. Forbergs] der Kantische wahre skeptische Atheismus durchsehe, muß allerdings dem Kenner zugestanden werden; u. darauf zielte eben mein Ausdruck in der Vorrede: Fbg. sei meiner Ueberzeugung nicht sowohl entgegen, als daß er sie nicht erreiche. – Seine eigene Position faßt Fichte prägnant ib. 15 (GA I,5.354,24–31): Der eben abgeleitete Glaube ist aber auch der Glaube ganz und vollständig. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines andern Gottes, und können keinen andern fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen WeltOrdnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen; der ursprüngliche Verstand macht sonach diesen Schluß sicher nicht, und kennt kein solches besonderes Wesen; nur eine sich selbst misverstehende Philosophie macht ihn. 193,7 ein neuer e i n z i g e r Theismus] Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.181,9–14: Jacobi scheint in seinem Eifer mich oft für Mendelssohn oder seines Gleichen anzusehen, die eine Religion in die Menschen hineinraisonniren wollen. Ist ihm noch nicht bekannt, daß ich die Werke der Nicolaiten hasse, wie er, und ärger? Dies kann auch wohl nur die Behauptung in der Vorrede, »ich habe einen einzig möglichen Theismus aufstellen wollen,« bedeuten, wenn – sie nicht etwas Schlimmeres bedeutet. 193,14–18 Ein n u r k ü n s t l i c h e r … Theismus auf.] Auf diesen Einwand J.s und Reinholds (s. die folgende Anm.) kommt Fichte 1806/07 in seiner Stellungnahme zu JF wieder zurück; s. GA II,11.43,3–15 (PLS 2,1.45):

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Erinnerung an Stellen daraus. […][s. K. zu 200,14–25] / 2.). In der Vorrede. Der Streitpunkt ist über den Dualismus des Absoluten. Da wollen sie nun ihre Selbstständigkeit, aus einem Enthusiasmus für die Sünde, u. das Uebel, als Manichäer, behaupten. Nun wird ihnen ja die Selbstständigkeit Gottes nicht abgeläugnet. Nur wollen sie dieselbe erst durch Aussonderung von sich aus der zweiten Hand habe[n]: wenn er nicht a u ß e r ihnen ist, so ist er nicht. Er ist ihnen also das zweite selbstständige, durch den Gegensatz entstanden, um ihretwillen da, mittelbar zu erfaßen: sie selbst aber sind das unmittelbare, über welches weiter gar kein Streit ist. S i c h fühlen sie, Gott nicht, in sich leben sie[,] nicht in ihm. Dieser Sinn ist nun wirklich so alt als die Welt, aber es ist darum doch ein unheiliger, und ungöttlicher Sinn. 193,18–19 Ich verweise auf … a n F i c h t e .] Reinhold: Sendschreiben an J. C. Lavater und J. G. Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg 1799 (vgl. K. zu 193,33–34), 80 (GA III,3.309,1–6; PLS 2,1.48): Daß unsre Philosophie j e n e n G l a u b e n keineswegs hervorzubringen vermöge, gesteht sie schon dadurch ein, daß sie denselben zu ihrer eigenen Möglichkeit voraussetzt, sich nur zur Erklärung desselben anheischig macht, und sich auf diese Erklärung, als auf die einzig mögliche B e w ä hrung des spekulativen Wissens v o r dem n a t ü r l i c h e n g e s u n d e n V e rstande beruft. – 81–86 (GA III,3.309,16–311,11; PLS 2,1.48 f.): Die Philosophie hat es mit einen b l o s s e m Wissen, als solchem, zu thun. Sie muß von allem wirklichen Glauben abstrahiren, wenn ihr Wissen angehen soll, und so lange die Funktion des Wissens fortdauert, ist die Funktion des Glaubens unmöglich. Diese ist nur im M e n s c h e n, als solchen, real möglich; kann nur i n demselben vorhanden seyn, und fortdauern, inwieferne der Mensch n i c h t i m m e r im Z u s t a n d e des Philosophirens begriffen ist, und inwieferne er den Glauben n e b e n seiner Philosophie, und fast möchte ich sagen, t r o t z seiner Philosophie, in sich als Mensch, rein und l e b e n d i g aufbewahrt. Das Bestreben, diesen Glauben n e b e n jenem Wissen, und v o n demselben praktisch unabhängig zu erhalten, ohne der spekulativen Unabhängigkeit jenes Wissens zu nahe zu treten, ist eben das vornehmste Geschäft, der eigentlichen praktischen, nicht blos wissenschaftlichen, Philosophie. Die Spekulation ist, und bleibt nur so lange nüchtern, als sie jenen Glauben nicht verdunkelt und verwirrt; und sie muß ihn verdunkeln und verwirren, so wie sie i n s e i n , von ihr unabhängiges, Gebiethe eingreift. Da sie, als Spekulation, auf keine andere, als lauter, v o n i h r s e l b s t a b h ä n g i g e , Ueberzeugung ausgeht: so kann s i e Ihm jene Unabhängigkeit von ihr insoferne nie eingestehen. Nur E r selbst kann dieselbe f ü r sich und d u r c h sich selber behaupten; indem er jenes Wissen, das für sich A l l e s i n A l l e m ist, für das, was es für ihn ist, für blosse Spekulation erklärt. Er reißt sich durch s e i n e e i g e n e K r a f t von jenem Wissen los, erhebt den M e nschen über den Philosophen; und während Dieser d a s d u r c h s i c h selbst gewisse Wahre und durch sich selbst wahre Gewisse durch die ins unendliche fortschreitenden Selbst|bestimungen seines

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künstlichen Bewußtseyns (durch Begreifen ins Unendliche f ü r ein endloses Wissen) zu realisiren strebt – findet Jener dasselbe bereits realisirt – in seinem G l a u b e n , – realisirt f ü r d a s b e s o n d e r e Selbstbewußtseyn, welches er G e w i s s e n nennt, – zum Behuf eines Handelns, das kein Wissen – aber mehr w e r t h i s t , a l s a l l e s Wissen, – und in dem in seiner A r t e i n z i g e n Gefühle des r e e l l e n , aber schlechthin unbegreiflichen, Unendlichen, dem sich die endliche Freyheit durch k e i n W i s s e n je n ä h e r n k a n n , dem sie sich aber durch g e w i ss e n h a f t e s H a n d e l n e w i g n ä h e r n s o l l . / Dieses schlechthin Unbegreifliche, aber auch s c h l e c h t h i n R e e l l e , ist G o t t ; und das Gefühl, wodurch es sich im G e w i s s e n ankündiget, ist die W u r z e l des Gewissens, die U r q u e l l e aller W a h r h e i t und V e r n ü n f t i g k e i t i m Menschen. Dieses Gefühl wird d u r c h die Vernunft vorausgesetzt, und kann durch sie nie hervorgebracht, nie nachgemacht werden. Aus ihm allein g e h t sie selber erst, als Vernunft, h e r v o r , und nur ihm allein verdankt sie ihre w a h r e Natur, und die g a n z e R e a l i t ä t , deren ihr D e n k e n d e s E n d l i c h e n i n s U n e n d l i c h e fähig ist, sie mag bey demselben in der E r f a h r u n g a u s s e r s i c h – oder im r e i n e n W i s s e n – m i t sich und i n s i c h selber beschäftiget seyn. An j e n e m G e f ü h l e , durch welches sie u r s p r ü n g l i c h als T e n d e n z i n s U n e n d l i c h e z u m Unendlichen constituirt wird, muß sie sich fortwährend o r i e n t iren; wenn sie sich nicht in ein l e e r e s , wesenloses, Unendliche – wenn sie s i c h nicht s e l b e r , als w a h r e V e r n u n f t verlieren soll. Der Philosoph i s o l i r t die Vernunft, um zu versuchen, was dieselbe, als b l o s s e Vernunft, für sich, und d u r c h sich selber, v e r m ö g e – um zu w i s s e n , wie und w a s sich w i s s e n lasse. – Er hebt durch jenes Isoliren ihre Wirklichkeit, als natürliche Vernunft, auf, und constituirt sie in der Eigenschaft der Künstlichen. Als blosse Vernunft, ist sie nun auch für Ihn die b l o s s e T e n d e n z i n s u n e n d l i c h e ü b e r h a u p t geworden, die das E n d l i c h e ins unendliche begreift, aber dabey auch ins Unendliche aufhört, das r e e l l e U n e n d l i c h e , und d u r c h d a s s e l b e , s i c h s e lber zu vernehmen. Dieses muß der künstlichen Vernunft, die nur auf Wissen, und Begreifen, ausgeht, und f ü r d i e es nichts giebt, was sich nicht Wissen und Begreifen läßt, e w i g v e r b o r g e n b l e i b e n . Für Sie ist kein Unendliches, sondern nur ein Endliches ins Unendliche, kein an sich und d u r c h sich selbst W a h r e s , sondern nur W a h r h e i t für d i e und durch die spekulirende Vernunft, kein G o t t – sondern nur s i e selber in ihrem end|losen Wissen. Das r e e l l e Unendliche, an sich und durch sich selbst W a h r e , G o t t – ist nicht für den Philosophen; nur für den Menschen[;] ist nicht i m Wissen, und d u r c h s Wissen, sondern nur i m Glauben und d u r c h Glauben; und i n demselben, zwar durch Vernunft, aber nicht d ur ch bl osse Vernunft, und eben so wenig in der Eigenschaft blosser Vernunft – ist nur d u r c h und f ü r die natürliche – nicht b l o s sich selbst anschauende und denkende – z w ischen der N a t u r und G o t t wirksame, – die N a t u r ins Unendliche b e g r e i f e n d e – G o t t aber d u r c h i h n sich selbst vernehmende – das

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an sich selbst Wahre empfangende – Wahrnehmende – nicht wahrmachende Vernunft vorhanden. – 105 f. (GA III,3.317,33–318,6; PLS 2,1.54): Für die philosophirende Vernunft, oder was dasselbe heißt, für den spekulativen Gebrauch der Vernunft, ist n i c h t s wirklich, was nicht d u r c h ihn wirklich ist, und durch ihn ist nichts wirklich, als was er begreift. | Für den Philosophen ist daher auch G o t t , der f ü r die natürliche Vernunft, und den Menschen, als solchen, der unbegreifliche und unendliche Realgrund alles Begreiflichen und Endlichen Reellen i s t , – o b j e k t i v nichts als die moralische Weltordnung, und subjektiv nichts als der G l a u b e a n d i e s e l b e , der, wie Sie in Ihrer A b h a n d l u n g ü b e r d e n G r u n d ec. [unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung] vortrefflich gezeigt haben, mit dem B e w u ß t s e y n d e s Sittengesetzes unzertrennlich verbunden ist. 193,20–23 Auf ihn, … angefochten werden.] Der Anstoß zur Veröffentlichung von JF ist von Reinhold ausgegangen; s. J. an Reinhold, 13. Mai 1799, RLW 246 f.: Es ist mir lieb, daß Du an Fichte Deinen Wunsch, meinen Brief an ihn gedruckt zu sehen, geschrieben hast [i. e. Reinhold an Fichte, (Mitte) Mai 1799, GA III,3.353; verschollen]. Der Gedanke, ihn in Gemeinschaft mit dem Deinigen [sc. Reinhold an Fichte, 27. März - 6. April 1799, GA III,3.295–307] erscheinen zu lassen, ist mir schon vier Wochen durch den Kopf gegangen; ich finde aber, nachdem ich die Sache mehr|mals überlegt habe, besser, daß es nicht geschehe. Wir werden beide eifriger und wiederholter gelesen werden, wenn wir nach einander auftreten. 193,20–21 um der Wahrheit willen … Verläugnenden,] J. spielt an auf Reinholds Systemwechsel von seinen Briefen über die Kantische Philosophie. (In Teutscher Merkur (August 1786), 99–141; (Januar 1787), 3–39; (Februar 1787), 117–142; (Mai 1787), 167–185; (August 1787), 142– 165; (September 1787), 247–278; bzw. 2 Bde. Leipzig 1790–92 (KJB 1034)) über die Phase seiner sog. Elementarphilosophie (Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag / Jena 1789 (KJB 1047), Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, 2 Bde. Jena 1790–94, bes. Erster Band das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, 167–254; Über das Fundament des philosophischen Wissens. Nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens. Jena 1791 (KJB 1037)) ab 1797 zu Fichtes Wissenschaftslehre (s. K. zu 196,23–25). – Über diese und die späteren Systemwechsel s. K. zu 371,16–17 und 371,17–18 sowie Reinhold: Rechenschaft über mein Systemwechseln, in Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Hg. von C. L. Reinhold. H. 5. Hamburg 1803, 23–46. 193,23–29 Du mußt … und Gefahr!«] Vgl. J. an Reinhold, 10. September 1799, RLW 248: Du hast Fichten doch ganz bestimmt geschrieben, daß mein Brief an ihn gedruckt wird und daß ich einen neuen Schluß dazu gemacht habe? – Am Ende bekomme ich wohl noch Händel mit ihm, aber dann mußt Du vor den Riß treten und den älteren Freund auf Deinen

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Schultern aus der Schlacht tragen, wie Socrates ehmals den jüngeren. – Ich denke, ich setze dies gleich in den Vorbericht, an dem ich eben schreibe. Bist Du nicht allein Schuld, daß ich drucken lasse? Wage ich nicht allein auf Dein Wort, auf Deine Verantwortung? – Zum Bildvergleich s. Plato: Symposium, 220e. 193,33–34 Sendschreiben … 1799.] Reinhold: Sendschreiben an J. C. Lavater und J. G. Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg 1799 (KJB 1044); darin 9–75: Reinhold: An J. C. Lavater, über den Glauben an Gott, Kiel den 1. May, und 76–113: Reinhold an Fichte, 27. März / 6. April 1799 (GA III,3.307–320), d. i. der Brief, der ursprünglich zusammen mit JF gedruckt werden sollte; vgl. K. zu 193,20–21. 193,38 Sokrates ehmals] Diese Variante korrigiert die Wortstellung entsprechend J.s Brief an Reinhold; s. die vorletzte Anm. 194,2–3 die sechste Woche] J. bezieht sich auf die Zeitspanne seit Empfang des gedruckten, jedoch mit einem handschriftlichen Zusatz für J. versehenen Schreibens vom 16. Januar 1799, mit dem Fichte ihm seine Appellation an das Publikum übersandte; s. K. zu 215,27–28. 194,15–17 für den wahren Meßias … Philosophie] Auch im Brief an Jean Paul vom 5. November 1798 spricht J. von Fichte als dem Stifter des neuen Bundes und seinen Jüngern; s. K. zu 167,35–38; in DH, oben 61,21, bezieht J. das messianische Epitheton auf Kant. – Zu dieser Einschätzung der Bedeutung Fichtes s. Baggesen an J., 9. Mai 1799, Baggesen: Briefwechsel II.275 f.: Mir ist nur Eins unbegreiflicher als dieser transcendente und transcendentale Wahnsinn, der mit sich selbst in einem ewigen Schatten spielt, dem der Körper und das hinter diesem strahlende Licht geraubt ist; und das ist: wie Friedrich Heinrich Jacobi, der Ernsthafte, das theilnehmende Verweilen an dieser Posse aller Possen unseres fiebernden Jahrhunderts | ertragen kann, und (wie es heißt) den Verfasser der Posse den Messias der Philosophie nennen. Man hat nämlich aus Jena (und zwar ein vertrauter Schüler Fichte’s) geschrieben, daß Dein langer Brief an ihn ganz was Anderes enthielte, als ich mir vorgestellt, daß er damit sehr zufrieden sei, daß Du ihn den von Kant nur verkündigten Messias genannt hast. Ob ich nun gleich kühn behauptet habe, Dies könne unmöglich was Anderes als Ironie sein, so ist mir doch wunderbar dabei zu Muthe. 194,19–34 Unleugbar … hervorzubringen.] S. etwa Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, 63–65 (GA I,2.150,5–151,13); vgl. VE, oben 392,25–393,23 mit FN und Kladdennotiz VII,841 (Schneider: Denkbücher, 235). 194,35–195,12 die zwey Hauptwege: … gegründet ist.] Vgl. Reinhold: Briefe an F. H. Jacobi. Über das Wesen der Jacobischen, Fichteschen, Schellingschen und Bardilischen Philosophie. In Beyträge zur leichtern Uebersicht, H. 5 (1803), 73 f. (PLS 2,1.316 f.): Zwar wollen deine neuesten Gegner Inkonsequenz und Abfall von jener Lehre darin finden, daß du nachmals in deinem Sendschreiben a n F i c h t e , diesen Erfinder der Wissenschaftslehre, der die Absolute Identität des Unendlichen und Endlichen n u r auf das W i s s e n einschränkte, […] »den wahren Messias

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der spekulativen Vernunft, und den ächten Sohn der Verheißung einer durchaus reinen in und durch sich selbst bestehenden Philosophie« genannt hast. [JF, oben 194,15] Allein du ertheiltest dieses Lob nur darum und insoferne, weil und inwieferne du in dem | Fichteschen Wissen der subjektiven Identität des Unendlichen und Endlichen, d a s s e l b e Nichtwissen des Unterschiedes zwischen Gott und Natur d emonstrirt fandest, welches schon durch S p i n o z a , als ein W i s s e n der objektiven Identität von beyden geltend gemacht wurde. Schon damals schwebte dir die bald darauf auch in der Darstellung [meines Systems der Philosophie (1801)] d u r c h S c h e l l i n g erfolgte V o l l e ndung der Philodoxie nicht undeutlich vor dem Blicke deines Geistes. [Reinhold: Schlüssel zur Philodoxie überhaupt, PLS 2,1.270–275.] Schärfer, auch auf dem Felde des spekulativen Wissens a l s F i c h t e sehend, sahst du schon damals, w a s S c h e l l i n g , erst n a c h d i r s a h , daß die Identität des Unendlichen und des Endlichen, wenn sie das U r w a h r e seyn soll, keineswegs b l o s s u b j e k t i v , sondern a u c h o b j e k t i v , oder vielmehr, daß sie weder für das Eine noch für das Andere, als solches, sondern a b s o l u t f ü r d a s A b s o l u t e gelten müsse. Du sahest und verkündigtst die Annäherung des Idealismus und Materialismus bis zu der endlichen Berührung, welche endlich mit der Entdeckung des Indifferenzpunktes zwischen dem Unendlichen und Endlichen, und der Errichtung des absoluten Identitätssystems eingetroffen ist. – Vgl. GD, Beylage A, JWA 3.121,33–122,34. 195,3 Egoismus,] S. K. zu 112,17. 195,5–12 Verklärung des Materialismus … gegründet ist.] Spinoza: Ethica II, prop. 7 cum schol., Opera posthuma, 45 f. (Gb II.89,21 f., 90,2– 8): Ordo, & connexio idearum idem est, ac ordo, & connexio rerum. – schol: quòd quicquid ab infinito intellectu percipi potest, tanquam substantiae essentiam constituens, id omne ad unicam tantum substantiam pertinet, & consequenter quod substantia cogitans, & substantia extensa una, eadem q´ ue est substantia, quae jam sub hoc, jam sub illo attributo comprehenditur. – Vgl. LS, JWA 1.18,17–20, und GD, JWA 3.80,13–17, 120,3– 123,3. – Auf die Möglichkeit einer Berührung idealistischer Systeme mit dem Spinozismus verweist bereits Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 94 und 47, vgl. 16 f. (GA I,2.310,8–14 und 282,8–12, vgl. 263,12–264,9). – Auf die beiden erstgenannten Stellen bezieht sich – unter Aufnahme von J.s Dictum vom umgekehrten Spinozismus (oben 195,26) – Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, PLS 2,1.95, § 9: Idealismus. […] Fichte nennt zwar das Realisieren des Nicht-Ichs einen materialen Spinozismus [FN]; mithin wäre sein Idealisieren desselben der ideale – und daher nennt Jacobi unsere Wissenschaftslehre eine Umkehrung desselben, wiewol man sie eben so gut dessen Metastase heißen könnte –; aber man werde doch nicht irre. Nicht-Ich und Ich oder Objekt und Subjekt sind Wechselbegriffe, beide sind die gleichzeitigen Zwillinge der Aseität, die S e l b s t - und M i tlauter [FN] in der a b s o l u t e n L u f t [FN] oder Ichheit. – Vgl. J. an Jean Paul, 11. Januar 1800, ABW II.290 f.

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195,13–14 philosophischen Cubus einmal umzustellen;] Die Anregung zu dieser Vorstellung entnimmt J. wohl Baggesens Brief vom 12. September 1797, Baggesen: Briefwechsel II.213 f. (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 206,9–13): Es gibt meines Erachtens nur z w e i metaphysische Systeme, die von einem, der Philosophie und ihre Geschichte kennt, Aufmerksamkeit verdienen, weil diese beide das, was in allen andern bündig ist, enthalten, und meisterhaft zu einem Ganzen verbunden haben; ich meine die beiden alleinigen Systeme Spinoza’s und Fichte’s. Sie sind einander unendlich ähnlich und unendlich unähnlich, zwei gleiche Triangeln, mit dem Unterschiede, daß die Spitze des einen die Basis des andern ist, und ich behaupte kühn (und befürchte wenigstens nicht von Jacobi widersprochen zu werden), sie seien die zwei einzig möglichen Systeme, die sich aus den drei gegebenen Ideen der reinen Vernunft construiren lassen, so wie der Triangel die einzige Figur ist, welche sich aus drei gegebenen Seiten construiren läßt. Die Kant’sche Kritik habe ich nie für ein System angesehen. | Nicht dieser alte Weise, sondern seine jungen Affen am Fuße seiner Sternwarte, haben versucht, ein System aus seiner Kritik zu machen, ein System aber, das neben den beiden genannten kaum genannt zu werden verdient. / Sie sind beide schlechterdings unwiderlegbar, diese beiden Systeme, […]. Ich nenne sie die Alleinige, nicht blos darum, weil ich kein drittes kenne (Skepticismus in System gebracht ist ein Widerspruch), sondern darum, weil das alte Èn kaì p≠n ihnen gemeinschaftlich ist, in dessen bodenlosen Abgrund sich jede speculirende Vernunft nothwendig verlieren muß, wenn sie durch sich selbst, aus sich selbst, für sich selbst, den Stein der Weisen sucht. In diesen Abgrund, und aus seinem (logischen) Schattenstoff (bloße Form) sind sie beide construirt, das eine auf dem Fuß, das andere auf dem Kopf. Nach Spinoza ist das p≠n die Mutter des Èn – nach Fichte das Èn der Vater des p≠n. – S. J.s Kladdennotiz VII,591 (Schneider: Denkbücher, 241): Der Vollendete Criticismus oder Idealismus verklärt nur den Materialismus – Er läßt den Spinozismus nur seinen Cörper ablegen, die irdische Hülle. – Diese Philosophie, sagt Schelling, kehrt die Pole des menschlichen Wißens um […]. – Vgl. K. zu 429,35– 36. 195,23 Flamme:] Das Bild der Flamme entnimmt J. vielleicht Fichtes Brief an Reinhold vom 21. März 1797 (den Reinhold wohl J. zur Einsicht übergeben hatte – s. u. a. J. an Reinhold, 13. Mai 1799, RLW 246) über dessen Rezension der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (s. K. zu 196,23–25), GA III,3.57,25–28: Über meine bisherige Darstellung urtheilen Sie viel zu gütig; oder der Inhalt hat sie die Mängel der Darstellung übersehen lassen. Ich halte sie für äußerst unvollkommen. Es sprühen Geistesfunken daraus; das weiß ich wohl: aber es ist nicht E i n e Flamme. – Später verwendet Schelling das Bild der Flamme im System des transscendentalen Idealismus. Tübingen 1800, 475 (SW 3.628): Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist,

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und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß. 195,26–27 umgekehrten Spinozismus … Wißenschaftslehre] Die Anregung zu dieser Deutung gab wohl Fichte selbst; s. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 47 f. (GA I,2.282,8–15): Der theoretische Theil unserer Wissenschaftslehre […] ist wirklich, wie sich zu seiner Zeit zeigen wird, der systematische Spinozismus; nur daß eines Ieden Ich selbst die einzige höchste Substanz ist: aber unser System fügt einen | praktischen Theil hinzu, der den ersten begründet und bestimmt, die ganze Wissenschaft dadurch vollendet, alles, was im menschlichen Geiste angetroffen wird, erschöpft […]. – Zur Vorstellung des Subjektiven als umkehrender Spiegelung s. Baggesen an J., 26. April 1797, Baggesen: Briefwechsel II. 175 f.: In der That, ich bin […] der Meinung, daß Fichte die wahre, allgemeingültige und einmal allgemeingeltende Philosophie gefunden habe; nur hat er, was leicht begegnen kann, wenn man von einer schwind|lichen Höhe dergleichen herabbringt, seine vom Himmel geholte a u f d e n Kopf gestellt. Man kehre sie nur um, den Kopf in die Höhe, und stelle sie auf ihre Füße! und jeder menschliche Geist wird niederfallen und anbeten […]. Gibt es vielleicht menschliche Gehirnspiegel, worin sich Alles vollkommen richtig, nur verkehrt, abzeichnet? und ist man vielleicht gerade ein Philosoph, wenn man ein solches Gehirn hat, oder scharfwahnsinnig ist wie Schelling? Sah Fichte wirklich die wahre Gestalt der Philosophie, und spiegelt sie nur so umgekehrt ab, ohne es zu wissen? [../.] warum muß Alles in den besten Köpfen auf dem Kopfe stehen? – Vgl. Fichte an Reinhold, 2. Juli 1795, GA III,2.348, über Schelling: Besonders lieb ist mir sein Hinsehen auf Spinoza: aus dessen System das meinige am füglichsten erläutert werden kann – mit Bezug auf Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, II,3.177–203, und III,3.173–239, bes. 205 f. (AA I,3.88 f.). – Schelling nimmt J.s Dictum später auf in einem Erlanger Manuskript seiner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X.92: Fichtes Idealismus verhält sich insofern als das vollkommene Gegentheil des Spinozismus oder als ein u m g ekehrter Spinozismus, indem er dem absoluten, alles Subjekt vernichtenden Objekt des Spinoza das Subjekt in seiner Absolutheit, dem bloßen, unbeweglichen Seyn des Spinoza die T h a t entgegensetzte; das Ich ist für Fichte nicht wie für Cartesius bloß der zum Behuf des Philosophirens angenommene, sondern der wirkliche, der wahre Anfang, das absolute Prius von allem. 195,30–35 Wie die reine Mathematik, … vermag,] Diese Kritik an der Analogie zwischen apriorischer Philosophie und Mathematik wendet J. ähnlich auch gegen Kant; s. UK, oben 303,19–20 und 264,24–31, sowie den Kladdeneintrag XII,981 (Schneider: Denkbücher, 222): Die Mathematischen Wesen sind nach dem Kantischen System nicht weniger bloße Gespenster als die logischen. 195,36–196,1 Also nur … verachten;] J. übernimmt diesen Satz fast wörtlich aus der Vorrede zu ÜTB, oben 167,27–32.

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196,6–7 was für ein Buch … schreiben?] JF steht in einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit ÜTB, oben 165–186, UK, oben 261–330, sowie GD, JWA 3. 196,10–11 unter den Juden … König aus;] Vgl. Jes 11,1 f., Jer 23,5 f. sowie Dan 7,13 f., Mi 5,1 und Sach 9,9 f. 196,12 den Königsberger Täufer … Ihren Vorläufer] Die Bezeichnung Kants als Täufer spielt an auf Mt 3,1–17, Mk 1,1–18, Joh 1,19–27; vgl. oben 192,1. 196,13–16 Das Zeichen … Jonas.] Den Vergleich zwischen dem Verschlungen- und Ausgespieenwerden des Propheten Jonas (Jon 2,1 f., Mt 12,39– 41, Lk 11,29–32) und dem Verschlingen und Neuproduzieren bisheriger Systeme bezieht J. zunächst auf Kant; s. J. an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 229: Kant, mit einem Riesenschritte, erreichte das Ziel. […] Die durch ihn vollendete bewundrungswürdige Theorie eines durchaus bündigen Idealismus verschlingt alle die übrigen Systeme. 196,17–19 die Juden in Palästina … verwarfen,] Vgl. Mt 26,31; 27,37; Mk 14,27; 15,26; Joh 18,37 ff. sowie die folgende Anm. – Ähnliche Bilder verwendet bereits die an J.s Begriff des Glaubens anknüpfende Abhandlung von Johann Neeb: Vernunft gegen Vernunft, oder, Rechtfertigung des Glaubens. Frankfurt am Main 1797 (KJB 983); s. J. an Schenk, 15. Oktober 1799, ABW II.286 f.: Unter meiner jetzt ziemlich zahlreichen Jüngerschaft habe ich ganz neuerlich einen Mann entdeckt, der sich, wie kein anderer, in mich hinein gedacht und empfunden hat, und dessen Name und Schriften mir bis dahin ganz unbekannt geblieben waren. Er heißt Neeb, und war Professor zu Bonn. Im Jahr 1797 ist ein Buch von ihm erschienen: Vernunft gegen Vernunft, oder Rechtfertigung des Glaubens. […] Meine Freude an diesem Menschen ist über allen Ausdruck, und es verdrießt mich nur, daß er mir so lange verborgen blieb. Wer meinen Brief an Fichte liest, und hernach dieses Buch, könnte | denken, ich hätte daraus gestohlen, sogar Einfälle und Gleichnisse mir zugeeignet. 196,20–21 es gelte … neue Creatur:] Vgl. Gal 6,15 und II Kor 5,17. – Zu Fichtes Sendungsbewußtsein s. dessen Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.362 f. (GA I,4.234,15–235,4): Es mag anmaaßend, und verkleinerlich für Andere scheinen, wenn ein einziger auftritt, und sagt: bis diesen Augenblick hat unter einer Menge würdiger Gelehrten, die ihre Zeit und Kräfte auf die Auslegung eines gewissen Buchs verwandt, kein einziger dieses Buch anders, als g a n z v e r k e h r t verstanden; sie haben gerade das, dem Systeme, welches vorgetragen wird, entgegengesetzte System in ihm gefunden; Dogmatismus statt transscendentalen Idealismus: i c h a l l e i n a b e r | v e r s t e h e e s r e c h t . Doch dürfte auch wirklich diese Anmaaßung nur scheinbar seyn, denn es lässt sich hoffen, daß hinter her auch andere das Buch so verstehen werden, und dieser Einzige nicht Einzig bleiben wird. – Hierfür beruft Fichte sich im folgenden auf DH; s. K. zu 196,29–31. 196,23 Juden der speculativen Vernunft] Vgl. Röm 9,32 f.; I Petr 2,8; Mk 6,2 f.; Jes 4,18. – J. spricht die Zurückweisung des ,neuen Bundes’ der

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Wissenschaftslehre sowohl durch die Kantianer als auch durch Kant selbst an; s. etwa Jakob Sigismund Becks anonyme Rezension von Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre und des theoretischen Teils der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre in den Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, hg. von Ludwig Heinrich Jakob, 16.–18. St. (6., 9. und 11. Februar 1795), Sp. 121–124, 129–136, 137–144, die Fichte als Exemplum von abentheuerlichen Misgeburten gewertet hat; s. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.345 (GA I,4.222,29). – Kant ist im Januar 1799 in einer Rezension von J. G. Buhles Entwurf der Transscendental-Philosophie in der Erlanger Litteraturzeitung zu einer Stellungnahme zur Wissenschaftslehre aufgefordert worden; s. AA XIII.542 f.: K a n t ist der erste L e h r e r der Transscendental-Philosophie und R e i n h o l d der trefflichste Verbreiter der kritischen Lehre: aber der erste Transscendental-Philosoph selbst ist unstreitig F i c h t e . F i c h t e hat den in der Kritik entworfnen Plan realisirt und den, von K a n t angedeuteten transscendentalen Idealismus systematisch durchgeführt. Wie natürlich ist daher der Wunsch des Publicums, daß sich der Urheber der Kritik über das Unternehmen seines würdigsten Schülers, über den Urheber der Transscendental-Philosophie öffentlich erkläre! Wie sehr wird dieses Verlangen dadurch gereitzt, da Kant selbst (z. B. im Intelligenzblatt der A. L. Zeitung [Nr 74 (14. Juni 1797), Sp. 616, von Kant unterzeichnet am 29. Mai 1797] und einigen seiner neuesten Schriften) mißbilligende Winke über den Geist der Fichte’schen Philosophie gegeben hat und mehrere, von ihrem Lehrer anerkannte und gelobte, Kantianer (z. B. in den Jacobschen Annalen u. a. O.) F i c h t e ’ s Schriften und Methode auf eine sehr ungeziemende Weise behandelt haben! Rec. glaubt daher im Namen eines sehr großen und achtungswürdigen Theils des Publicums die Bitte wagen zu dürfen, daß der L e h r e r d e r T r a n s s c e n d e n t a l - P h i l o s o p h i e s e i n f ü r d i e Wissenschaft so interessantes Urtheil über die Wissenschaftslehre mittheile. – Kant antwortet mit einer Erklärung. im Intelligenzblatt der ALZ 109 (28. August 1799), Sp. 876–878 (AA XII.370 f.), daß er Fichte’s Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System halte. Denn reine Wissenschaftslehre ist nichts mehr oder weniger als bloße L o g i k , welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt, sondern vom Inhalte derselben als r e i n e L o g i k abstrahirt, aus welcher ein reales Object herauszuklauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist, sondern wo, wenn es die Transscendental-Philosophie gilt, allererst zur Metaphysik übergeschritten werden muß usf. – Fichte reagiert darauf in einem Privatschreiben an Schelling, ca. 12. September 1799 (GA III,4. Nr 481.I.), das dieser mit Einwilligung Fichtes im Intelligenzblatt der ALZ, Nr 122 (28. September 1799), Sp. 992 (AA I,8.125 f.) als Antwort auf Kant’s Erklärung - g e r a d e s o w i e e s g eschrieben worden ist, publiziert. 196,23–25 Nur Einer … Nathanael Reinhold.] Sc. Carl Leonhard Reinhold; der Beiname Nathanael spielt an auf das Bekenntnis Joh 1,47–50. Reinhold war nach zweifachem Systemwechsel (s. K. zu 193,20–21) inzwischen

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Anhänger der Wissenschaftslehre geworden; s. Reinhold an Fichte, 14. Februar 1797, GA III,3.483–27, sowie seine sehr positive Sammelrezension: [anonym] 1) Weimar, im Industriecomtoir: U e b e r d e n B e g r i f f d e r W i s s e nschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft von J o h a n n G o t tlieb Fichte, designirten ordentlichen Professor der Philosophie auf der Universität zu Jena. 1794. […] 2) Leipzig u. Jena, b. Gabler: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, […]. 3) Ebendaselbst: G r u n driß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, […]. 4) Ebendaselbst: P h i l o s ophisches Journal einer Gesellschaft deutscher Gelehrten. Herausgegeben von J o h a n n G o t t l i e b F i c h t e und F r i e d r i c h I m m a n u e l Niethammer der Philosophie Doctoren und Professoren zu Jena. Fünften Bandes erstes bis (incl. ) sechstes Heft. ALZ 5–9 (4., 5., 6. und 8. Januar 1798), Sp. 33–39, 41–47, 49–56, 57–63 und 65–69. – Vgl. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.366 f. (GA I,4.237,13–22): Er nehme von dem, was er über den Kantianismus der Kantianer sagen werde, Reinhold aus, weil dieser mit einer Geisteskraft, und einer Wahrheitsliebe, die seinem Kopfe und seinem Herzen die höchste | Ehre macht, dieses System (das er jedoch noch immer für das Kantische hält, und allein über diese historische Frage bin ich mit ihm uneins) abgelegt; […]. – S. ferner die 2. Ausgabe der Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1798), Vorrede, XV (GA I,2.161,17–31): Ohnerachtet dieses abschreckenden Empfanges [sc. der 1. Ausg. 1794] hat dennoch bald darauf dieses System glücklichere Schicksaale gehabt, als wohl irgend einem andern zu Theile geworden seyn dürften. Mehrere junge geistreiche Köpfe haben es mit Feuer ergriffen, und ein verdienstvoller Veteran in der philosophischen Literatur hat ihm nach langer und reifer Prüfung seinen Beifall gegeben. 196,25–26 Wäre ich … gewesen,] Reinholds Sohn, Ernst Reinhold, berichtet RLW 95 f. über seinen Vater: Er hatte mit Jacobi schon seit 1789, seit der Herausgabe seiner Theorie des Vorstellungsvermögens, von der er ihm ein Exemplar zugesandt, einen Briefwechsel unterhalten, und es bestand schon zwischen beiden eine sehr herzliche, liebevolle, gegenseitige Hochachtung, als sie sich, bald nach Reinholds Ankunft in Kiel, persönlich kennen lernten. Jacobi, der durch die Unruhen des französischen Revolutionskrieges 1794 aus seinem Gute Pempelfort bei Düsseldorf vertrieben worden war, lebte bis zu seiner Versetzung nach München 1804 in dem freundlichen Eutin, nur vier Meilen von Kiel entfernt. Beide gaben sich nicht selten Zusammenkünfte sowohl in ihren Wohnorten als auch bei ihren gemeinsamen Freunden in Hamburg und Lübeck, schrieben einander häufig und vertraut über Alles, was in dem damals an interessanten Erscheinungen reichen Gebiete der philosophischen Litteratur vorging, und ihr Verhältniß wurde nach und nach ein ächt brüderliches Freundschaftsbündniß. Jacobi, um dies beiläufig zu bemerken, und Baggesen waren, außer seinen Wiener Jugendgenossen, die einzigen Freunde, mit | denen Reinhold sich duzte.

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196,27 eine ganz andere Freundschaft,] J. an Reinhold, 22. Februar 1797, RLW 240 f., im Vorblick auf Reinholds Abhandlung Ueber den gegenwärtigen Zustand der Metaphysik und der transscendentalen Philosophie überhaupt, in Reinhold: Auswahl vermischter Schriften. 2. T. Jena 1797 (KJB 1029), 1–363, die zur Ostermesse des Jahres 1797 erschien. Er warte besonders auf diese Schrift, da es verlauten will, daß Sie in einem neuen Werk, welches unverzüglich erscheinen soll, als Fichtianer auftreten werden. [..|.] Ob Ihnen meine Freude über diese Botschaft sogleich einleuchten wird, weiß ich nicht, muß es beinahe bezweifeln, da Sie mir auch nicht das kleinste Wörtchen davon durch unsere gemeinschaftliche Freundinn Rudolphi sagen ließen, die Ihnen doch so oft Grüße und warme Freundschaftsversicherungen von mir überbracht haben muß. […] Wann Sie sich Fichten im Philosophiren nähern, so nähern Sie sich auch mir; nähern mich hinwieder Fichten, und aus dem Allen, deucht mir, könnte Gutes kommen. – In Ueber die Paradoxien der neuesten Philosophie. Hamburg 1799 (KJB 1039), schließt Reinhold sich J.s Lehre vom Glauben an, mit dem Ziel, den Idealismus der Wissenschaftslehre mit realistischen Momenten zu vereinen. Reinhold selbst begründet seine philosophische Nähe zu Fichte, die zugleich enge Berührungspunkte mit dem philosophischen Denken J.s biete, im Brief an Fichte vom 27. März–6. April 1799 (zugl. gedrucktes Sendschreiben an Fichte mit demselben Datum), GA III,3.307–320, hier 308,16–20: Durch I h n [sc. J.] habe ich den Geist Ihrer Philosophie, so wie durch Sie, den Geist der kantischen inniger kennen gelernt; und ich hoffe nun auf der, mir von Ihnen geöffneten Bahn des spekulativen Wissens desto freyer und fester fort zu schreiten, seitdem ich das, was Er sein Nichtwissen nennt, verstehe, und von ganzem Herzen daran Theil nehme. 196,29–31 Ich bin … des neuen,] J. betont seine Distanz gegenüber der Transzendentalphilosophie sowohl in ihrer älteren Kantischen als in ihrer neueren Fichteschen Spielart, trotz Fichtes mehrfacher Betonung der Nähe seines Denkens zu J.; s. etwa Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.363 und VI,1.26 (GA I,4.235,7–18, 260,3–21), sowie Fichte an J., 30. August 1795, GA III,2.391–393 (zit. im K. zu 200,8–13), und 26. April 1796, GA III, 3.17 f. (zit. im K. zu 198,2–3). 196,32 ein überschwenglicher Jünger Ihrer Lehre,] Gemeint ist Friedrich Schlegel; s. seine Rezension: Woldemar. Neue verbesserte Ausgabe; Königsberg 1796, bei Friedrich Nicolovius. Erster Theil VI. S. und 286 S. Zweiter Theil 300 S., in Deutschland. Bd 3. Hg. von J. F. Reichardt. Berlin 1796, 185–213 (KFSA II.57–77), Zitat 213, (KFSA II.77): Wenn man, was S. 250. Th. II. von dem überschwenglichen Gegenstande überschwenglicher Liebe gesagt wird, mit den beiden Sentenzen [sc. Fénelons] am Schluß vergleicht: so ist es, als würden sie durch ein plötzliches Licht von oben erhellt, oder vielmehr von einem heiligen Strahlenkranz wie umglänzt. 196,34–197,1 Mangel des blos logischen Enthusiasmus] Ib. 202 f. (KFSA II.69): Die erste subjektive Bedingung alles echten Philosophirens ist – Philosophie im alten Sokratischen Sinne des Worts: W i s s e n-

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schaftsliebe, uneigennütziges, reines Interesse an Erkenntnis und Wahrheit; man könnte es logischen Enthusiasmus nennen; der wesentlichste Bestandtheil des philosophischen Genies. Nicht w a s sie meinen, unterscheidet den Philosophen, und den Sophisten: sondern w i e sie’s meinen. Jeder Denker, für den Wissenschaft und Wahrheit keinen unbedingten Werth haben, der ihre Gesetze seinen Wünschen nachsezt, sie zu seinen Zwecken eigennützig misbraucht, ist ein S o p h i s t ; mögen diese Wünsche, | und Zwecke so erhaben sein, und so gut scheinen, als sie wollen. – Vgl. J. an Baggesen, 21.–26. Oktober 1797, Baggesen: Briefwechsel II.235: Ich verweise Dich an Friedrich Schlegel, der es mir bezeugt, daß der wahre philosophische Geist, d e r l o g i s c h e E n t h u s i a s m u s , wie er sich ausdrückt, der die Wahrheit blos um der Wahrheit willen, den Zweck nicht wegen des Zweckes, sondern wegen des Mittels sucht, nicht in mir wohnt. – Schon vor dreizehn Jahren versicherte ich, daß ich so ein Narr auf meine Augen wäre, daß ich sie für die Brille, mit der man o h n e Augen b e s s e r sieht, durchaus nicht weggäbe; daß ich früh wol die Gestalt aus der Sache, aber nie die Sache allein aus der Gestalt hätte herzuleiten gewußt, und überhaupt nicht vermöchte, mir nur eine Vorstellung von einer bloßen Gestalt vor aller Sache, und ohne alle Sache zu machen: – von einer reinen That=That ohne Thäter. – J. bezieht sich auf LS, JWA 1.130,15–17 und 144,16–22. – Zum logischen Enthusiasmus vgl. oben 205,22–23 sowie UK, oben 261,17, und Vorbericht zu WW IV, JWA 1.337,19–26, 348,26 f. – Vgl. Fichte an Reinhold, 22. April 1799, GA III,3.326,13–17: J. verbittet sich den logischen Enthusiasmus; mit Recht: ich verbitte mir ihn gleichfals. Aber es scheint ein entgegengesezter Enthusiasmus, den ich den des w i r k l i c h e n L e b e n s nennen möchte, in ihm zu wohnen, der es ihm garnicht erlaubt, auch nur zum Versuche kalt u. gleichgültig von demselben (wirklichen Leben) zu abstrahiren. – Vgl. III,3.335,2–6 (PLS 2,1.57). 196,36 Urtheil eines Vornehmen] J. spielt an auf Kants Verwendung des Epithetons vornehm; s. K. zu 169,22. 196,39 dem Scharfsinnigen,] S. K. zu 67,12 und 176,11–12. 197,4–7 es sey nur … u n r e i n .] Auf diese Bemerkungen J.s über die Alleinphilosophen bezieht sich Fichtes Kritik in Aus einem Privatschreiben (im Jänner 1800). In Philosophisches Journal IX,4.369 f. (GA I,6.375 f.) FN. 197,9–13 geborner Philosoph … N i c h t s sey.] J.s Wortwahl erinnert an Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.26 (GA I,4.195,26–28): zum Philosophen muß man gebohren seyn, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu erziehen: aber man kann durch keine menschliche Kunst dazu gemacht werden. – In Anknüpfung an eine Formulierung J.s (s. u.) sagt Schlegel in seiner Woldemar-Rezension, 185 (KFSA II.57) von J., daß er kein Philosoph von Profession, sondern von Karakter ist. – Ib. 200 (KFSA II.67 f.): Das Poetische ist im Woldemar offenbar nur Mittel: denn wenn ein Werk nicht selten die höchsten Erwartungen des Schönheitsgefühls und des Kunstsinnes befriedigt, öfter aber und grade

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in der Zusammensetzung des Ganzen die ersten Gesetze des Geschmacks beleidigt, so darf man voraussetzen, daß Schönheit und Kunst hier nicht vernachlässigt, sondern einem höhern Zwecke mit Bedacht aufgeopfert sei […]. Die große Ungleichheit des Werths der einzelnen philosophischen Stücke bestätigt die Vermuthung, daß auch die Philosophie hier nur als Mittel gebraucht werde. […] so muß man voraussetzen, daß Wahrheit und Wissenschaft hier nicht letzter Zweck sei, sondern einer höhern Absicht mit Bedacht aufgeopfert werde. – S. demgegenüber J.s Erläuterungen des Verhältnisses der philosophischen Intention zur poetischen Darstellung in Woldemar (1794), Vorrede. XVI (WW V.XVf.): Jene philosophische Absicht aber: »M e n s c h h e i t w i e s i e i s t , e r k l ä r l i c h o d e r u n e r k l ä rl i c h , a u f d a s g e w i s s e n h a f t e s t e v o r A u g e n z u l e g e n« – findet sich in dem gegenwärtigen Werke nicht wie dort [sc. Allwills Briefsammlung (1792), XVI (WW I.XIII)] mit Dichtung b l o s u m g e b e n ; sondern hier scheint vielmehr die Darstellung einer Begebenheit die Hauptsache zu seyn. / »S c h e i n t ; u n d s c h e i n t a u c h n i c h t : d a s i s t d e r F e h l e r ! « wird man sagen. / Diesen Vorwurf muß ich mir gefallen lassen. Mein Zweck konnte nur auf dem Wege, den ich eingeschlagen habe, von mir erreicht werden. Von der Wichtigkeit und Würde dieses Zwecks habe ich die innigste, deutlichste, vollkommenste Ueberzeugung; und ich bin mir auch der Mittel die ich, um ihn zu erreichen, angewendet habe, auf eine Weise bewußt, die mich beruhigt. Mit dem kunstverständigen erfahrnen Dichter werde ich mich leicht verstehen; auch mit dem Philosophen, wenn er etwas m e h r ist, als nur P h i l o s o p h v o n P r o f e s s i o n . – Vgl. J. an W. v. Humboldt, 2. September 1794, ABW II.176 f. (mit Bezug auf dessen Woldemar-Rezension, PLS 1,1.235–250): Dieß verhindert mich aber nicht, Ihnen darin, was Sie über das Befremdende sowohl in den Charakteren als der Geschichte meiner Person bemerken, vollkommen Recht zu geben. Ich habe diese Bemerkung selbst in einer Vorrede zu Woldemar, die nicht zu Stande gekommen ist, weil mich Dohm an ihrer Ausarbeitung fast mit Gewalt verhinderte, machen wollen. Boileau’s bekannte Warnung: le vrai peut quelquefois n’être pas vraisemblable! scheint durchaus in diesem Werk außer Acht gelassen. Hierüber gedachte ich mich auch eben so zu entschuldigen, wie Sie mich entschuldigt haben, nämlich dadurch, daß im Woldemar der Dichter mehr im Dienste des Philosophen, als der Philosoph im Dienste des Dichters ist, und es erlaubt seyn muß, in diesem Falle das Wahrscheinliche dem Wahren nachzusetzen. Daneben wollte ich bemerken, daß auch der Dichter und jeder Künstler das Wahrscheinliche hintansetzen muß, und nur unter dieser Bedingung diejenige Täuschung, die sein Zweck ist, zuwegebringen kann. 197,11 Gestalt allein zur Sache zu machen,] S. K. zu 196,34–197,1; vgl. J. an Köppen, 13. September 1802, Zoeppritz I,313 f.: Das Protonpseudos aller specul. Philosophie liegt in dem ihr nothwendigen Bestreben, Wahrheit, d. i. Wesen in Worte, und Worte in Wahrheit, d. i. in Wesen zu verwan|deln. 197,14–16 Herrn N i c o l a i … loben muß,] Friedrich Nicolai: Ueber

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meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard, und Fichte. Berlin / Stettin 1799, III: Nothwehr entschuldigt Selbstlob! – sagt Lessing [FN: Schriften, XIter Theil, S. 19]. / Ich will mich nicht selbst loben; aber Nothwehr zwingt mich von mir selbst zu reden. – J.s Polemik gegen Nicolai ist ein Akt der Solidarisierung mit Fichte, den Nicolai scharf bekämpft hat; s. seine anonyme Satire Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen. Nebst zwey Urkunden der neuesten deutschen Philosophie. Berlin / Stettin 1798, 292 f.: daß Hr. Prof. Fichte in der Kunst zu schreiben noch ein Stümper sey; er wäre besser Bauer geworden anstatt seinen armen Kopf so sehr anzustrengen, um den Ursatz, die Wissenschaft der Wissenschaft […] zu erfinden. – Vgl. Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Bd 11. Berlin / Stettin 1796, 232 u. a. – In seiner Vorrede zu [J. Chr. Schwab:] Neun Gespräche zwischen Christian Wolff und einem Kantianer über Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und der Tugendlehre von ***. Mit einer Vorrede von Friedrich Nicolai. Berlin / Stettin 1798. Am Ende der Vorrede des Verlegers (5–74), unterzeichnet Berlin den 22 Jänner 1798. / Friedrich Nicolai, die sich vor allem mit Kants Metaphysik der Sitten auseinandersetzt, resumiert Nicolai sein Verdikt über die Vertreter der kritischen Philosophie, 72 f.: Man könnte diese Herren gar wohl in ihrer Lächerlichkeit und Unbedeutsamkeit fortspielen lassen, wenn nur die Jugend nicht damit verderbt würde, welche zu ächter und nützlicher | Gelehrsamkeit und zum fleißigen Studium wahrer brauchbarer Wissenschaften soll angeführt werden, und die von gewissen Professoren nichts als r e i n e Spekulationen hört, und auf deren Empfehlung bloß solche Bücher lieset, wodurch ihr Kopf mit Hirngespinnsten erfüllt wird, und wodurch sie den Sinn für wirklich nützliche Wissenschaften nur allzufrüh verliert. Wenn dieß Unwesen so fortgeht, so wird die Polizey ein Einsehen darin haben müssen. Nicolai schlägt im Folgenden (73 f.) ironisch vor, für diese Professoren, die nicht auch nur den allergeringsten Nutzen gewähren, e i n e g a n z b e s o n d e r e U n i v e r s i t ä t in irgend einem großen Kloster zu stiften, und zwar so, daß – wie vormals in der Tübinger Burse – der Disputirsaal durch eine vier Fuß hohe hölzerne Wand getheilt werde: Denn man weiß, einige der gravitätischen Herren, welche mit dem Ich = Ich Schnellkäulchen spielen, sind nicht nur sehr peremptorisch und in ihren Kleinigkeiten von vorn unbedingt gebietend, sondern werden auch »schrecklich, wenn sie herausgefordert werden,« [FN: In einem in Jena 1797 herausgekommenen Buche F r a g m e n t e a u s m e i n e n P a p i e r e n betitelt, wird dieß S. 71 von Hrn. Prof. Fichte versichert.] das heißt, wenn sie jemand nicht für so wichtig hält als sie selbst sich halten, und dann gehen sie mit wildem Grimme vom Disputiren zum Annihilationsakte über. – Ein Jahr später rechtfertigt Nicolai das Lehrverbot gegen Fichte; s. Ueber meine gelehrte Bildung, 241 f.: Wenn nun ein solcher Mann von seiner Lehrstelle dispensirt, | aber ihm Gehalt und bürgerliche Ehre gelassen würde, um ein unbescholtenes Privatleben zu führen, so könnte er sich

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nicht beklagen; denn das Wohl der Jugend, der Pflanzschule des Staats, verdiente vor allem beherzigt zu werden. – J.s sprachlicher Duktus solidarisiert sich mit der polemischen Schärfe der gegen Nicolai gerichteten Xenien Goethes und Schillers, in Musen-Almanach für das Jahr 1797, 245, Nr 184: Nicolai. Nicolai reiset noch immer, noch lang’ wird er reisen, Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg. In Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd 1.332; vgl. 332–334 (Nrr 185– 206). S. aber Nicolais Replik: Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797. Berlin / Stettin 1797, 4: Der pöbelhafte Ton in diesem Musenalmanach erregte in Deutschland allgemeinen Widerwillen; […]. 197,17–21 »d a ß e r … Nikolais,«] Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, 42: Daher summirten wir [i.e. Nicolai, Lessing und Mendelssohn], wenn unsere Unterredungen eine Zeitlang gedauert hatten, nicht die Summe der gefundenen philosophischen Wahrheit, sondern die Summe der Entwickelung unserer Geisteskräfte. Diese stärkten wir, indem wir das Dafür und D a w i d e r aller Fragen v o n a l l e n S e i t e n betrachteten. Weil Hr. J a c o b i für diese Art jede Untersuchung aufzunehmen bloß um der Untersuchung willen, keinen Sinn zu haben scheint, glaubte er Lessings Ueberzeugung errathen zu haben, als dieser nur die Gründe für Eine Seite einer Meinung untersuchte. 197,21–24 Uneigennützig … gewinnt.] J. persifliert Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, 6: Die Spekulanten erinnern sich aber gemeiniglich nicht, daß Streben nach Wahrheit den eigentlichen Werth der Spekulation ausmacht, und daß die absolute objektive Wahrheit von der beschränkten menschlichen Erkenntniß so weit entfernt liegt, daß eine auch nur unmerkliche Annäherung dazu dem unparteyischen Wahrheitsfreunde wohl des Anstrengens während seiner ganzen Lebenszeit werth seyn kann. 197,27–28 Enthusiasten des blos logischen Enthusiasmus,] Zu dieser Zusammenstellung Friedrich Schlegels mit Nicolai s. Jean Paul an J., 22./23./26. Dezember 1799, PLS 2,1.63: Dein Brief an Fichte gefällt allen kräftigen Köpfen in den beiden feindlichen Lagern. Aber deine Vergleichung Nicolai’s und Schlegels ist zu hart für d i e s e s Kopf und j e n e s Herz. 197,28 eigennützigen Gemüthsart … des Wahren] J. variiert Schlegel: Woldemar-Rezension, 185 (KFSA II,1.57): Das Dasein eines uneigennützigen Triebes, einer reinen Liebe zu enthüllen, ist die Hauptabsicht oder Nebenabsicht mehrerer Werke Jakobi’s, der kein Philosoph von Profession, sondern von K a r a k t e r ist. – 203 (KFSA II.69): Der elastische Punkt, von dem Jakobi’s Philosophie ausging, war nicht ein objektiver Imperativ, sondern ein individueller Optativ. – 205 (KFSA II.71): Er trennt die Philosophie von der herabgesetzten Vernunft, und behauptet, Philosophie überhaupt sei nichts anders als was die seinige wirklich ist: der in Begriffe und Worte gebrachte Geist eines individuellen Lebens.

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197,35–36 Verurtheilungen der zufälligen Ergießungen] S. Friedrich Schlegels (?) Rezension von Die Horen. VII–XII. St., in Deutschland. 2. St. (1796), 241–256. – 243: Inhalt des achten Stücks. I, Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers, in Briefen an vertraute Freunde. 197,38 demüthigenden Strafreden,] Vgl. Schlegel: Woldemar-Rezension, 201 (KFSA II.68 f.): Aber welche Art von Einheit ist denn nun in dem sonderbaren Werk, welches sich unter keine Kategorie bringen läßt, in dem man indessen doch einen gewissen Zusammenhang so unleugbar fühlt? / Offenbar nur eine E i n h e i t d e s G e i s t e s u n d d e s Tons; eine individuelle Einheit, welche um so begreiflicher wird, je mehr man mit dem Karakter und der Geschichte des Individuums, das sie hervorbrachte, bekannt ist. Daß die vom Verfasser selbst sehr bestimmt aufgestellte angeblich philosophische Absicht des: »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, aufs gewissenhafteste vor Augen zu legen;« so objektiv klingt, darf uns nicht irre machen: denn wenn es auch nicht der erste Blick auf das Werk selbst lehrte, so würde es schon aus der Erläuterung, und Entstehungsgeschichte jener Absicht in der Vorrede zum Allwill erhellen: daß hier unter »Menschheit« nur die Ansicht eines Individuums von derselben verstanden werde; und daß es also eigentlich heißen sollte: »Friedrich-Heinrich-Jakobiheit«, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, aufs gewissenhafteste vor Augen zu legen. / Wer also den Geist des Woldemar verstehen will, so weit dies möglich ist, muß Jakobi’s sämtliche Schriften, und in ihnen den individuellen Karakter, und die individuelle Geschichte seines Geistes studiren. – 208 f. (KFSA II.74): Eben diese Lebendigkeit seines Geistes macht aber auch die Immoralität der darstellenden Werke Jacobi’s so äußerst gefährlich. Es ist nicht blos müßige Spekulation, deren auch noch so immoralische Resultate dem wahrheitliebenden Philosophen nie zum Verbrechen gemacht werden können: denn Wahrheitsliebe ist die eigentliche Sittlichkeit des Denkers. Nein, in ihnen lebt, athmet und glüht ein verführerischer Geist vollendeter Seelenschwelgerei, eines [!] grenzenlosen Unmäßigkeit, welche trotz ihres edlen Ursprungs alle Gesetze der Gerechtigkeit und der Schicklichkeit durchaus vernichtet. – 209 f. (KFSA II.74 f.): es ist doch schon äußerst gefährlich, Religion als Mittel der Sittlichkeit, und Krücke des gebrechlichen Herzens zu gebrauchen. Der Weichling vollends, welcher anbetende Liebe als das eigentliche Geschäft seines Lebens treibt, und kein andres Gesetz anerkennt, muß mit seiner bequemen Tugend, welche weder gerecht, noch thätig zu sein braucht, endlich allen Begriff von Willen verlieren und selbst vernichtet in die Knechtschaft fremder oder eigner Laune sinken. / Das Quantum seiner Glaubensfähigkeit bestimmt nach Jakobi’s Lehre den Werth des Menschen; und Glaube ist S y m p athie mit dem Unsichtbaren (Allw. S. 308.) Da er, trotz der schönen Lobreden auf die angebliche Freiheit, den Willen leugnet; indem er ihn theils mit dem vernünftigen Instinkt für identisch (Spin. S. XXIX. XXXVIII. Allw. S. XVIII. Anm.), theils für einen »Ausdruck des göttlichen Willens,« für einen »Funken aus dem ewigen, reinen Lichte,« für eine »Kraft der

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Allmacht,« für einen »Abdruck des göttlichen Herzens in dem Innersten unsres Herzens« (Spin. S. XIV. S. 253. Allw. S. 300.) erklärt: so kan seine Sittlichkeit nur Liebe oder Gnade sein; auch scheint er von keiner Tugend zu wissen, welche G e s e t z e ehrte, und sich in Thaten b e w i e s e . 198,2–3 Alleinphilosophie und meine Unphilosophie,] S. K. zu 200,8–13 sowie Fichte an J., 26. April 1796, anläßlich der Übersendung der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. T. 1. Jena / Leipzig 1796; s. GA III,3.17,17–18,18: Seitdem ist eine neue Ausgabe Ihres Woldemar [i. e. die verbesserte Ausgabe der umgearbeiteten Fassung von 1794, nunmehr Königsberg 1796, mit nochmals erheblichen Ausweitungen, ohne Widmung an Goethe und Motti aus Tasso] erschienen, und ich besitze ein Exemplar desselben durch Ihre Güte. Ich hatte ihn in der ersten Ausgabe [Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. Bd 1. Flensburg / Leipzig 1779] gelesen. Lag | es an meiner damaligen Stimmung (ich trieb eben ein sehr scholastisches Geschäft), oder hat das Werk durch die zweite Ausgabe wirklich so beträchtlich gewonnen – es befriedigte mich damals, wie Alles, was von Ihnen kommt, aber es zog mich nicht so allmächtig an, als es jetzt gethan hat. / Ja, theurer edler Mann, wir stimmen ganz überein; und diese Uebereinstimmung mit Ihnen beweist mir mehr als irgend etwas, daß ich auf dem rechten Wege bin. Auch Sie suchen alle Wahrheit da, wo ich sie suche, im innersten Heiligthum unsres eigenen Wesens. Nur fördern Sie den Geist a l s G e i s t , so sehr die menschliche Sprache es erlaubt, zu Tage: ich habe die Aufgabe, ihn in die Form des Systems aufzufassen, um ihn, statt jener Afterweisheit, in die Schule einzuführen. Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren! Sie gehen gerade ein in den Mittelpunkt: ich habe es jetzt größtentheils mit den Elementen zu thun, und will nur erst den Weg ebnen. Es wäre also sehr möglich, daß Jeder andere, denn Sie, meine Uebereinstimmung mit Ihnen nicht eben so bemerkte, als sie mir selbst klar ist – Jeder andere, denn Sie, sage ich, denn Sie haben es an Spinoza gezeigt, daß Sie ein System von seinem künstlichen Apparat zu entkleiden und den Geist rein hinzustellen, daß Sie von den Theilen auf das Ganze, zu welchem sie gehören, fortzuschließen vermögen. – Vgl. Baggesen an J., 26. April 1797, Baggesen: Briefwechsel II.177: Wie ich übrigens behauptete […], daß die reine Philosophie, gerade weil sie r e i n ist, sprachlos sei, und wenn sie darstellbar ist, nicht durch Worte, sondern allein durch Handlungen, bemerkte Reinhold, daß Du, mein Jacobi, eben der Meinung seiest, und daß nicht die Philosophen, sondern nur die Dichter sie darstellen können. Dieser letzte Gedanke von Dir ist herrlich, und äußerst fruchtbar. – Vgl. Fichtes Beilage für J. zu seinem Brief an Humboldt, 29. September 1794, GA III,2.202,12–15 (mit dieser Beilage sendet Fichte J. die ersten Bogen der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre): Ist irgend ein Denker in Deutschland, mit welchem ich wünsche und hoffe, in meinen besondern Ueberzeugungen übereinzustimmen, so sind Sie es […] ; – ich, der ich von den meisten berühmten philosophischen Schriftstellern nichts als Widerspruch erwarte. – Vgl. K. zu 167, 35–38.

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198,7–8 an der Thür … Weißagungen redete.] Vgl. die Erfüllung der messianischen Erwartung Simeons bei der Darstellung Jesu im Tempel, Lk 2,25– 32, sowie das Gleichnis vom Türsteher, Plato: Philebus 62; von J. zitiert GD, JWA 3.58,32–38. – J. spielt an auf seine zwölf Jahre zurückliegende Prognose, die Inkonsequenzen der Kantischen Vernunftkritik könnten nur durch den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, überwunden werden; s. DH, oben 112,16, sowie J. an Jean Paul, 5. November 1798, ABW II.259 f.: Ich habe bei der ersten Erscheinung der kritischen Philosophie auf das bestimmteste vorausgesagt, was sich heute zuträgt; bin dadurch Täufer Johannes dem Stifter des neuen Bundes und seinen Jüngern geworden, wie ich höre und überall lese, mit gleicher Verwunderung über die Sache und das Geständniß. 198,12–13 dem coge intrare … Abbruch thut,] Mt 22,1–14; Lk 14,15–24. – Vgl. J.s auf UK bezogene Bemerkung gegenüber Brinkman, 17. August 1801, in Fuchs: Texte zu Jacobi und Fichte im Brinkman-Archiv, 209: Fichte, der aus Reinholds Ankündigung meiner Arbeit [sc. Beyträge. 1801, H. 2] geschloßen hatte, sie wäre wider ihn gerichtet, wird sich wunderen wenn er sieht, daß ich ihm damit gewißermaaßen nur reinere Bahn mache. 198,32–34 aus der poetisch philosophischen Methode … herzuleiten,] Fragmente. In Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. 3 Bde. Berlin 1798–1800 (KJB 86). Bd 1, St. 2. Berlin 1798, 28 f. (KFSA II.182): Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisiren, sey ihr Eins und Alles; und doch giebt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. 198,37 das Meisterwerk L u c i n d e .] Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. T. 1. Berlin 1799 (KFSA V.1–82). 199,7–8 Das Philosophieren … übertreiben.] J. an Jean Paul, 5. November 1798, ABW II.259 f.: Es muß in thesi zugegeben werden, daß, in so fern wir nur durch Abstrahiren und Reflectiren vernünftig hier auf Erden sind, man im Abstrahiren und Reflectiren – im Ergründen auch nicht zu weit gehen und das Philosophiren übertreiben könne. Das Philosophiren übertreiben, hieße die Besinnung übertreiben. Wohl aber darf man über den Vernünftler spotten, der sich nur h o h l denkt; der anstatt der Bissen das Messer verschluckt, nicht wie ein Taschenspieler, sondern in der That, und nur bedauert, nicht die bloße H a n d l u n g des Schneidens zu sich nehmen zu können; der seine Hände betrachtet und tiefsinnig sie erforscht, als seiner Hände Werk, nicht ganz unähnlich jenen großen Geistern Frankreichs, die ihre und aller Menschen Vernunft bloß aus den Fingern zu saugen wußten. Ich sage, man darf nicht allein über ihn spotten, sondern jeder, dem es am Herzen liegt, daß Philosophie in Ehren bleibe, muß sich mit der Gabe dazu ausgerüstet wünschen.

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199,12–14 daß S i e … zeige;] Vgl. J.s späteren Bezug auf Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Berlin 1806 (KJB 701) in der Kladdennotiz X,891 (Schneider: Denkbücher, 234): Fichte setzet das zum voraus: der Mensch muß über alles zur Wißenschaft gelangen können. – Alle Gegenstände der menschlichen Erkenntnis müßen sich nach dieser Voraussetzung bequemen, u dürfen nicht mehr seyn, als der Mensch begreifen u ergründen kann. – »Durchaus nichts soll gelten als seyend u bindend, als dasjenige, was man versteht u klärlich bgrft.« Grundzüge S. 39, 40. »Durchaus nichts ist gültig als das Begreiffliche.« – Gerade umgekehrt nur das ist, was ich schlechthin nicht begreiffe; u alles was ich begreifen kann, das ist nicht. 199,26–27 noch rhapsodischer … Heuschrecken-Gange] J.s Wendungen sind Reminiszenzen an Hamann; vgl. Hamann an Kant, 27. Juli 1759, ZH I.379,24–27: Jedes Thier hat im denken und schreiben seinen Gang. Der eine geht in Sätzen und Bogen wie eine Heuschrecke; der andere in einer zusammenhängenden Verbindung wie eine Blindschleiche im Fahrgleise, der Sicherheit wegen, die sein Bau nöthig haben soll. Der eine gerade, der andere krumm. – Vgl. VE, oben 425,9–10. – Zur rhapsodischen Stilform s. [Hamann:] AESTHETICA.IN.NVCE. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose, in ders.: Kreuzzüge des Philologen, 158–220. 200,8–13 Das Geheimniß … bemühen wollte.] J. an Reinhold, 26. Februar 1799, RLW 244: Sehr gern aber möchte ich, daß Sie mit ganz gesammeltem Gemüth meine Epistel an Erhard O. hinter Allwills Briefsammlung noch einmal durchlaufen. Ich bin vor einiger Zeit veranlaßt worden, sie wieder zu lesen, und habe gefunden, daß das Geheimniß der Identität und Verschiedenheit zwischen mir und Fichte, unserer Sympathie und Antipathie, in keiner meiner anderen Schriften so vollständig enthalten ist. – S. Allwills Briefsammlung (1792), Zugabe. An Erhard O**. – S. den Auszug, oben 252–255, sowie Fichte an J., 30. August 1795, GA III,2.391,16–27: Ich habe diesen Sommer in der Muße eines reizenden Landsitzes Ihre Schriften wieder gelesen und abermals gelesen und nochmals gelesen, und bin allenthalben, besonders im Allwill, erstaunt über die auffallende Gleichförmigkeit unsrer philosophischen Ueberzeugungen. Das Publikum wird an diese Gleichförmigkeit kaum glauben; vielleicht Sie selbst nicht, scharfsichtiger Mann, dem aber hier zugemuthet würde, aus den wankenden Grundlinien des Anfangs eines Systems das ganze System zu folgern. Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als K a n t es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung, zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen producirt werde. Erlauben Sie, daß ich noch in diesem Briefe über diesen Punkt mich mit Ihnen erkläre. – 393,6–12: Allwill macht den transcendentalen Idealisten, wenn sie sich nur begnügen wollen, ihre eigenen Gränzen zu decken, und dieselben recht fest machen wollen, Hoffnung zum Frieden, und sogar zu einer Art Bündniß. Ich glaube die Bedingung schon jetzt erfüllt zu haben.

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Wenn ich nun etwa noch überdies aus dem für feindlich gehaltenen Lande selbst dem Realismus sein Gebiet garantirte und befestigte, so hätte ich den Rechten nach nicht blos auf eine Art von Bündniß, sondern auf ein Bündniß in aller Art zu rechnen. 200,14–25 Ich kann … K o p f wirft.] Hierzu bemerkt Fichte an J., 22. April 1799 (Selbstzitat aus seinem Brief an Reinhold unter demselben Datum), GA III,3.334,21–335,28, bes. 334,21–22: Ich unterschreibe Jacobi’s Aeußerungen in ihrer ganzen Ausdehnung. Er kennt das Wesen der Spekulation so innigst, und eben so das Wesen des Lebens. – Vgl. Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.181,17–182,7 (PLS 2,1.65): Meine Philosophie hat ihr Wesen so gut im Nichtwissen als die Jacobische. […] Ich meine, […] daß da allerdings Keiner den Andern nöthigen könne, dies zu setzen, […] aber wenn er es gegen die Vernunftgesetze und über sie hinaus setzt, ihm sagen könne: Du bist ein Schwärmer, ohne daß der Andere erwiedern dürfe; – daß er, mit Jacobi zu reden: ihm »den Sparren zu viel« getrost an den Kopf werfen könne, ohne daß der Andere »den Sparren zu wenig« zurückwerfen dürfe. – Vgl. Fichte: Stellungnahme zu J.s Sendschreiben (1806/07), GA II,11.43,3–5 (PLS 2,1.45): Erinnerung an Stellen daraus. 1.). Mit den Sparren zu viel oder zu wenig. So sind wir beide Sünder. Ist es denn nicht möglich, das gehörige Fachwerk im Dache zu haben. 200,26–27 eine Philosophie aus E i n e m Stück] J. sieht Fichte in der Tradition des Systemgedankens einer Philosophie aus einem Princip; s. KrV B 671, 860, und bes. Reinhold: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Misverständnisse der Philosophen. 2 Bde. Jena 1790–94 (KJB 1033); ders.: Über das Fundament des philosophischen Wissens. Nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens. Jena 1791 (KJB 1037); ders.: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag / Jena 1789 (KJB 1047). 200,27–201,1 ein wahrhaftes Vernunft-System … möglich.] Vgl. Reinholds Erläuterung im Druck seines Sendschreibens an Fichte vom 23. November 1800, 123 f. (GA III,4.380,10–20, PLS 2,1.130): Jacobi glaubt und bekennt laut, daß S i e dem w i s s e n s c h a f t l i c h e n W i s s e n a u f d e n Grund gekommen seyen – er glaubt und bekennt, daß ein rein spekulatives System des Wissens n u r a u f d i e F i c h t e s c h e W e i s e m ö g l i c h sey. Aber er glaubt und bekennt es in dem gerade entgegengesetzten Sinne, in welchem S i e , und ich ehemals mit Ihnen, dasselbe glauben und bekennen. Er hält das Spekulative Wissen überhaupt, folglich auch das von Ihm als das einzigmögliche konsequente anerkannte System desselben, das Sie aufstellen, für organisirtes Nichtwissen. Er ist also der Skeptiker, und S i e sind, Ihm gegen über, der h a r t n ä c k i g e D o gmatiker. 201,5–7 Reine Vernunft … nur sich.] Vgl. K. zu 193,18–19 und J.s Gegenposition im Kladdeneintrag VII,321 (Schneider: Denkbücher, 231): Das Vernünftige Wesen besteht im Vernehmen seiner selbst; es geht in sich selbst zurück. Was es vernimmt in so fern es durch Sinnlichkeit

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bedingt ist, heißt es Natur; was es vernimmt in so fern es durch Sinnlichkeit nicht bedingt ist, heißt es Gott. 201,15 That-That.] Zum Zusammenhang der Begriffe Thathandlung und intellectuelle Anschauung s. bes. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.383 f., 342 f. (GA I,4.218,35–219,4, 221,10–18), sowie Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 3–10 (GA I,2. 255,6–259,10). 201,25–26 (Br. über Spinoza … Note S. 419–420.)] LS2, JWA 1.248,34–249,31 und 258,5–39; vgl. Beylage I, oben 229–231, sowie J. an Reinhold, 26. Februar 1799, RLW 244: Wegen der Verwechslung zwischen Construction und Deduction, die Sie mir schuld gaben, verweise ich Sie vorläufig auf die Note S. 419 u. 420 der Briefe über Spinoza; mehr darüber werden Sie in meinem Schreiben an Fichte zu lesen bekommen. 202,11–14 Aber auch … zu haben:] Vgl. Fichte an J., 22. April 1797, mit Fichtes Erläuterung zum Wesen der Transcendental-Philosophie in dem beigelegten Fragment, GA III,3.331,23–332,28, PLS 2,1.59–61. 203,1–2 Wenn Ich … können:] Vgl. etwa Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, 38–40 (GA I,2.132,2–133,11). 203,20–22 vorigen Winter … einen Strickstrumpf.] J. hat sich bis zu seiner endgültigen Niederlassung in Eutin (1798) an mehreren Wohnsitzen in Holstein und Hamburg aufgehalten; vgl. K. zu 182,1–3. – Für das Strickstrumpf-Gleichnis liegen neben JF zwei weitere Bearbeitungsstadien vor: 1) J. an Christian Wilhelm v. Dohm, 13. Dezember 1797, Zoeppritz I.200 f.; s. die Fortsetzung des Zitats aus K. zu 167,35–38: Ich habe ein närrisches Bild für dies System gefunden: einen Strickstrumpf. Du weißt, ein solcher Strumpf entsteht durch, und b esteht i n einem einzigen Faden, der sich nur hin und her bewegt, und im Fortgange seiner Handlung seine Bewegungen durch Bewegung selbst fixirt, ohne sich dazu eines Knotens oder dergleichen zu bedienen. Dieser Faden nun ist das reine I c h , und strebt ins unendliche hinaus. Da er nun als I c h sich unmöglich s e l b s t setzen könnte, wenn er sich nicht von etwas unterschiede, d. i. sich ein N i c h t Ich entgegensetzte, so imaginiert der selbstthätige Faden die Strickdräte, an welchen er sich aufhält, und im Moment des Aufhaltens ein N i c h t Ich setzt; dann zurück gehend, ein I c h ; und da beydes in demselben Augenblick geschieht: ein Zusammengesetztes Wesen. So entsteht durch Thesis, Antithesis, und Synthesis, die in der | Abstraction als drey verschiedene Handlungen betrachtet werden, aber in der That nur E i n e seyn können – der Strumpf. – In dem Strumpfe sind nun Streifen, Blumen, Sterne, was Du willst, zu sehen und wirklich in ihm; aber Du wirst doch gewiß nicht so albern seyn und glauben, das alles wäre aus den Dräthen in den Strumpf gefloßen? Offenbar sind ja alle diese Dinge – nicht einmal Modificationen – sondern bloße Handlungen des Fadens; es ist nichts da, gar nichts, als der Faden, und er kann wieder Faden werden. Das will er auch, und wir sehen, daß alte Strümpfe die Tendenz haben: ihre Schranken zu zerbrechen, um die Unendlichkeit zu erfüllen, da sie doch unmöglich a l l e s seyn können, wenn sie E i n s und E t w a s seyn wollen u. s. w.

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Lache mich nicht aus, Lieber, daß ich Dir mit solchem Geschwätz komme, denn ich habe mich unter dem Schreiben schon beständig selbst darüber ausgelacht, und im Grunde auch nur das gewollt, daß Du über mich und den Contrast der zwischen uns obwaltet lachen solltest. – 2) J. führte zwei eigene Werkkladden zu Fichte, genannt Kladde zum Brief an Fichte und Kladde Jacobi an Fichte, mit einer weiteren Vorstufe zu JF; s. Kladde VII,491, (Schneider: Denkbücher, 236): Ein Strumpf ist ein einziger Faden; durch Bewegung wird er ein Strumpf; es kommt nichts weiter hinzu – Aus einander gezogen, wird dieser Faden, anders bewegt etwas ganz andres – Man könnte diesen Faden mit dem Fichtischen I c h das durch bloße Reflexion seiner selbst alles hervorbringt [vergleichen] – Die Strickdrähte wären das Nicht-ich, welches, ohne in das Ich [im Original fälschlich: Nichtich] einzufließen, durch Wechselwirkung, eine Welt v Vorstellungen im Ich veranlaßen. – Die Bewegung fixiert auch die Bewegung – wie sie sich hie oder da gesetzt hat, bleibt sie sitzen. 203,27–204,3 durch ein unaufhörliches … gelangte.] Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 137 (GA I,2.334,29). 204,7–8 schwebenden productiven Einbildungskraft] Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 180 f. (GA I,2.360,18– 29). 204,28–29 Alle Strümpfe … auszufüllen.] Vgl. K. zu 178,8–9. 204,33–37 so wüßte ich … seyn wollte;] Auf diese Beurteilung seines Systems antwortet Fichte im Brief an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.180,1–7 (PLS 2,1.64): So viel scheint mir aber schon jetzt klar: / 1) Daß Jacobi meine Philosophie nur zur Hälfte kennt: den praktischen Theil derselben nämlich gar nicht. […] Ich hoffe, recht bald Ihnen und ihm meine Bestimmung des Menschen [Berlin 1800] zuzuschicken, durch deren drittes Buch [sc. über den Glauben] ich für jeden unbefangenen Denker, mithin für Jacobi sicher, nun endlich diesen Theil meiner Philosophie in ein unverkennbares Licht gesetzt zu haben glaube. – Vgl. hingegen J. an Jean Paul, 13. Februar 1800, PLS 2,1.74: daß Fichte sich einbildet, dadurch die Frucht meines Briefes an ihn dem Publico rein abzutreiben. – J. an Jean Paul, 16. März 1800, PLS 2,1.80: Deine Bemerkung, daß man kein System nur halb verstehen kann, hat ihre ausgemachte Richtigkeit, und Fichte hat sich durch diesen Vorwurf selbst den Stab gebrochen. Ich habe Dich schon einmal an das aut aut in meinem Briefe an ihn S. 21 verwiesen, und verweise Dich nochmals darauf. Ihm selbst ist von dieser Erinnerung gar nicht wohl geworden, wie eine Menge Stellen in seiner Bestimmung des Menschen beweisen. Durch Verbeßerung wird aber das Hokuspokus der Kritik seiner theoretischen Vernunft durch die practische, nur immer mehr als ein leeres Hokuspokus sichtbar. Um sich zu helfen, Kantisiert und Jacobiniert er, und macht dadurch sein Uebel nur ärger bey dem, der die Sache ein wenig beim Licht besehen kann. 204,38 Philosophie a u s E i n e m S t ü c k .] S. K. zu 200,26–27. 205,5–10 Im menschlichen … Wahrheit.«] S. Fichte: Versuch

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einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, VII,1.7–15 (GA I,4.274,19–278,16; Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.322 f. FN (GA I,4.210,28–211,37). – Vgl. Reinhold an Fichte, 23. Januar 1800, GA III,4.197,25–198,3 (PLS 2,1.69): Es kann seyn daß ich mich darin irre indem ich Jacobi[s] Philosophie als Seinige für nichts anderes als die Ansicht halte, die auf dem vergleichenden Standpuncte zwischen dem speculativen Wißen und ursprünglicher natürlicher Überzeugung erhalten wird, und die freylich durch manche Eigenthümlichkeiten dieses Originalkopfs modificirt ist; zu denen unter andern gehört daß er mehr auf den Unterschied als auf den Z u s a mmenhang jener beyden Standpuncte hinsieht, und über den S t a n dpunct der Speculation hinaus, noch eine andere Philosophie, nämlich die Ansicht von s e i n e m vergleichenden Standpuncte aus [als] s e i n e Philosophie annimt. Daraus erkläre ich mir alle Differenzen zwischen Ihm und Ihnen. 205,14 »Besinne dich … Gehe in dich!] J. spielt an auf Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,1.6 (GA I,4.186,3–6); vgl. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, VII,1.8 (GA I,4.274,20 f.). 205,23 logischer Enthusiasmus] S. K. zu 196,34–197,1. 205,30–35 Allem Entstehen … oder zu.«] Vgl. Fichtes Ausführungen in dem seinem Brief an J. vom 22. April 1799 beigelegten Fragment; s. K. zu 202,11–14. 206,9–13 Unsere Wißenschaften … zu kommen.] Vgl. J. an Baggesen, 21. Oktober 1797, Baggesen: Briefwechsel II.233 f.: Bis zur Verzweiflung habe ich’s schon lange eingesehen und durchschaut, daß man »in der Mitte, wovon Du redest, nur von einem Stücke des Nämlichen zum andern kommt«, und daß insofern Wissenschaften ergründen, oder sich die Zeit mit Schach- und Kartenspiel vertreiben, einerlei ist. Es ist ein Rechnen, nur um neue Sätze zum Weiterrechnen, und nie ein Facit zu finden; durchaus ein bloßes Zahlenspiel mit reinen, leeren Zahlen. Darum, ich wiederhol’ es, wäre ohne »jene Momente der Ewigkeit mitten in der Zeitnacht, die keine erkünstelten, sondern wahrhafte Blitze aus der Region jenseits der Träume sind«, gerade die höchste Gabe der Besinnung der ärgste Fluch. Wohl dem, den sie so durchleuchteten, daß sein ganzes Wesen Licht wurde und Licht blieb! Wer, gleich Prometheus, dieses | Feuer nur aus dem Himmel s t a h l , erfährt auch des Titanen Schicksal: ein gräßlicher Geier wird täglich, was unter seinem Herzen anwächst, wieder verzehren. – Du verstehst diese Wendung des Gleichnisses, wie ich Deine Wendung verstanden habe; nämlich: »daß es sich zur Noth begreifen ließe, wie Prometheus das Feuer vom Himmel stahl, aber nicht, wie er es zur Erde herunterbrachte« für sich und sein Geschlecht; wie er es zum Eigenthum der Erde machte. – J. antwortet hier auf Baggesen an J., 12. September 1797, Baggesen: Briefwechsel II.212 f.: Indeß ist das Menschengeschlecht hauptsächlich durch Worte in der Welt weiter gekommen. Ich gebe es zu; aber nur in der wirklichen, in der sinnlichen, in der Körper-

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welt, und in | dem Schatten derselben, das heißt in den Sphären seiner Arbeit und seines S p i e l s . In die Späre [!] der wahren Thätigkeit, in die Geistwelt, ist er aber dadurch um keinen Schritt weiter hineingekommen. […] die Alten waren des Spiels der Worte mit Worten, der Begriffe mit Begriffen, des Ichs mit dem Nichtich und des Alls mit dem Eins nicht so unkundig, wie die Philosophen glauben, die sie nicht gelesen oder längst vergessen haben, weil sie ein Paar Kategorie-Rubriken zu wenig hatten; sie hatten dafür ein Paar Prädicamente zu viel [wohl eine Anspielung auf Kants Kritik an Aristoteles, KrV B 107]. Dabei litt das Spiel an sich so wenig, daß es im Gegentheil um so unterhaltender wurde, weil man gar nicht so genau im Voraus wußte, was herauskommen müsse. Man spielte damals Blindekuh wie jetzt – der Unterschied ist, daß wir in unserm Spiel ein wenig zwischen das Augenband und die Nase durchblinzen – ein Umstand, der uns nicht zur sonderlichen Ehre gereicht. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 195,13–14.) 206,21 Nürrenberger, so genannten, Grillenspiel] Bei diesem Spiel handelt es sich um das jetzt unter dem Namen Solitaire bekannte Spiel. – Jean Paul wandelt dieses Bild ab; s. Jean Paul an J., 4. Juni 1799, ABW II.283 f.: Aber warum stößest Du nicht öffentlich dieses transscendentale Schachspiel, wozu sich Fichte die Figuren und Spieler gegeben ausbittet, nur die Combination nicht – um [..|.]? 206,28–30 Wegen dieser Stelle … haben,] Die aus J.s Umkreis überlieferten kritischen Stimmen richten sich weniger gegen diese Bezeichnung der Wissenschaften als Grillenspiel als gegen den großen Respekt, den J. Fichte zollt, bes. gegen dessen Auszeichnung als Messias der speculativen Vernunft; s. etwa Baggesen an J., zitiert im K. zu 194,15–17. – Hegel wendet J.s Bild gegen den Skeptizismus; s. Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie, Darstellung seiner verschiedenen Modificationen, und Vergleichung des neuesten mit dem alten, in Kritisches Journal der Philosophie, Bd 1, St. 2, 49 (GW 4.224,23): Es wird hier, was Jacobi vom Wissen überhaupt meynt, eigentlich das Nürrenberger Grillenspiel immerfort gespielt, das uns aneckelt, sobald uns alle seine Gänge und möglichen Wendungen bekannt und geläufig sind. 206,33 von den göttlichen Dingen … Anmerkung.] GD, JWA 3.95,33–96,8, 96,38–40. 207,4–6 daß wir … z u m weiter R e c h n e n ,] Es handelt sich hier wahrscheinlich um ein Element des ursprünglichen Werkes, das J. in GD, JWA 3.55,26–28 übernommen hat: daß wir im Grunde nur ein Spiel treiben mit leeren Zahlen; neue Sätze ausrechnen, immer nur zum Weiterrechnen, 207,12–14 aus dem B e t r u g e … übergegangen ist] Es handelt sich hier wahrscheinlich um ein Element des ursprünglichen Werkes, das J. in GD, JWA 3.69,35–70,1 übernommen hat: er ist übergegangen aus dem B e t r u g e d e s Wahren in die wesentliche reine | W a h r h e i t d e s B e t r u g s , […]. – Zu J.s häufig wiederkehrendem Vorwurf des Betrugs vgl. J. an Heyne, 14. April 1790, ABW II.24: Die speculative Philosophie scheint dem practischen Wege, welchen die speculative Theologie ehemals nahm, eine Parallele

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ziehen zu wollen; gelänge es ihr, wir würden bald erfahren, daß der letzte Betrug ärger, als der erste sey. 207,15–17 Psyche … folterte;] Vgl. den Mythos von Psyche und Eros in Lucianus Apuleius: Metamorphoses. bzw. Asinus aureus, in dem die tatsächlich vorhandene sinnliche Gestalt entschwindet. – Vgl. [De asino aureo, dt.] Der Goldene Esel, aus dem Lateinischen des Apuleius von Madaura. [Übers.] von August Rode. 2 Bde. Berlin 21790 (KJB 2602), und Lucius Apuleius: Opera, ad optimas editiones collata, praemittitur notitia litteraria studiis Societatis Bipontinae. Editio accurata. Vol. [1.] 2. Biponti 1788 (KJB 2601). – Vgl. Kants ähnliche Assoziation im Brief an Johann Heinrich Tieftrunk, 5. April 1798, AA XII.241,13–22: Was halten Sie von Herrn Fichte allgemeine Wissenschaftslehre? einem Buche, welches […] [ich] nur aus der Recension in der A. L. Z. kenne? Für jetzt habe ich nicht die Muße es zur Hand zu nehmen; aber die Recension für Fichte (welche mit vieler Vorliebe des Recensenten abgefaßt ist) [s. K. zu 196,23–25] sieht mir wie eine Art von Gespenst aus, was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst u. zwar hievon auch nur die Hand die darnach hascht vor sich findet. 207,21–31 Alle Wißenschaften … befreyt;] Vgl. UK, oben 321,17– 18. – Fichte nimmt diesen Gedanken J.s implizit auf in Die Bestimmung des Menschen. Berlin 1800, 176 f. (GA I,6.252,11–33) (Rede des Geistes); vgl. J. an Jean Paul, 16. März 1800, PLS 2,1.79 f.: Dein Tiriot [sc. ein Bekannter Jean Pauls, s. PLS 2,1.78] hat ganz recht mit pag. 307. und 177. der Bestimmung des Menschen. Was der erhabene Geist S. 177 sagt, ist fast abgeschrieben aus meinem Briefe S. 26 und 27. – und ich muß bekennen, es hat mich verdroßen, weil er vorher das Ich auch beständig meine Worte und Redensarten brauchen läßt. Um mich zurecht zu weisen, hätte er mich nicht bestehlen sollen und das sehr undankbar, denn ich hatte ihm geholfen; geholfen gerade mit dieser Ausflucht. – Vgl. Fichtes Entwurf einer Antwort an J., GA II,5.194,2–13. 207,32–33 Mechanik des menschlichen Geistes] S. etwa Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 193 f. (GA I,2.368,6–7): Mechanismus des | menschlichen Geistes; Das System der Sittenlehre, II (GA I,5.21,16–18): Mechanismus des Bewußtseyns. – Vgl. demgegenüber J. an Kleuker, 13. Oktober 1788, Ratjen, 119: Was ist an sich auffallender und durch alle Geschichte und Nachrichten bewährter, als daß der Begriff der Thätigkeit auf dem Begriffe eines unsichtbaren freyen Wesens beruht. Nun aber wurde bemerkt, daß nicht alle Veränderungen Wirkungen einer solchen unmittelbaren Thätigkeit sind, und man entdeckte immer mehr von den Gesetzen, welche man mechanische genannt hat. Nun nahm man den Weg rückwärts, machte selbst den Geist zu einer Maschine und bildete sich ein zu deutlichen Begriffen und wirklicher Einsicht gelangt zu seyn. Eine auf diese Weise speculatif gewordene Vernunft, habe ich in dem Büchlein über Spinoza eine verkommene Vernunft genannt. – S. LS, JWA 1.118,4. 208,10–12 Wißenschaft seiner Unwißenheit … schielt.] Das Bild des

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Schielens nach sich selbst ist wohl eine Reminiszenz an Johann Georg Hamann; vgl. J. an Reinhold, 11. März 1793, RLW 235: Der selige Hamann nannte, schrecklich boshaft! die Philosophie des transscendentalen Idealismus das Formenspiel einer alten Baubo mit sich selbst und erwähnte des wunderlichen Streites in einem alten Kirchenliede: »wie Ein Tod den Andern fraß«. Sie, mein Freund, müssen nichts als falschen Witz (de mauvaises plaisanteries) in diesen Einfällen sehen, da sie mir hingegen von Bedeutung sind und ich wirklich etwas der Sünde Onans Aehnliches im Treiben dieser Philosophie wahrzunehmen meine, welches mich von Anfang an verhindert hat, sie als eine Philosophie der Wahrheit, am wenigsten in practischer Hinsicht, anzunehmen. Aber darum sollte sie nicht gleich mit dem ekelhaften Nothbehelf einer triefäugigen alten unfruchtbaren Baubo verglichen werden. Giebt es doch auch Jugendsünden verführter oder getäuschter Unschuld, die sich eines Besseren gern besinnt. Zu Hamanns boshaftem Bild s. seine Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), von der J. eine Handschrift besaß (Erstdruck: Fr. Th. Rink: Mancherley zur Geschichte der metakritischen Invasion. Königsberg 1800, 120– 134, N III.281–289, Zitat 287,28–40). 208,13–15 Ich verstehe … Werth giebt.] S. J.s Kladdennotiz VI,81– 1 9 , in Fichte im Gespräch, VI,1.137, Nr 268b (mit Bezug auf Fichtes Aufsatz Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit, in Die Horen, hg. Schiller, Jg. 1795, Bd 1, St. 1 (GA I,3.83–90, bes. 87,14)): Ich verstehe unter W a h r h e i t a n s i c h s e l b s t etwas andres, etwas nicht blos formelles … Ich gehe auch sehr ab von dem was in der Folge gesagt wird; ich bin nicht durch mich selbst, habe mich nicht von mir selbst, u. so liegt mir auch nicht so viel daran daß ich Eigenschaften […] durch mich, als nur daß ich sie i n mir besitze. – Freyl süß und erhebend zu wißen, ich habe die Quelle von Etwas in mir selbst; man will lieber selbst erfunden, selbst entdeckt, als etwas nur gelernt haben. Bey der Dürftigkeit unserer Natur ist es aber ein trauriger Gedanke zu nichts gelangen zu können, was sich nicht aus uns selbst hervorbringen läßt. Wir müssen beständig aus uns heraus nach etwas anderem heraus gen, u wir sagen daß wir Wahrheit gefunden haben, wenn wir etwas erhascht haben, das unser abhängiges Wesen erhält, ihm etwas z u s e t z t . – 208,19–22 Mit seiner Vernunft … gegeben.] S. die Erläuterung der Unterschiede zwischen Fichtes wissenschaftlicher Selbstbeobachtung der geistigethischen Aktivität durch die selbsttätige Denkbestimmung und J.s Verständnis der geistigen Tätigkeit als eines Vernehmens (s. JF, oben 201,5–7) in Reinhold: Sendschreiben an Fichte vom 27. März–6. April 1799, 79 f. (GA III,3.308,21–39, PLS 2,1.47 f.): Auch S i e haben dieses Nichtwissen, auf welches das ganze wohlverstandene System Ihres r e i n e n W i s s e n s hinweiset, an vielen Stellen, und besonders in d e r A b h a n d l u n g , die Ihnen die bekannte Beschuldigung des Unglaubens zugezogen hat, ausdrüklich unter dem Namen des G l a u b e n s und dem Charakter des E l ementes aller Gewisheit, behauptet. [Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, 9 (GA I,5.351,29–34), mit Anspie-

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lung auf LS, vgl. JWA 1,1.115,21–116,4.] Daß aber auch das p h i l o s ophische Wissen, bey aller Selbstständigkeit, die es f ü r sich, und d u r c h sich selber hat, gleichwohl (und zwar eben zum Behuf derselben), jenes, von ihm schlechthin unabhängigen, G l a u b e n s nicht entbehren könne, ist mir durch J a k o b i um sehr vieles einleuchtender geworden. Ich weiß nun auch bestimmter, daß die Beziehung jenes Glaubens auf dieses Wissen durch kein Philosophiren an sich selbst, sondern nur durch den G ebrauch, | den mein W i l l e von meinem blos natürlichen, durch mein Philosophiren nur gereinigten Wissen machen s o l l , möglich ist –, und daß das philosophische Wissen nur allein d u r c h j e n e Beziehung ü b e r den Charakter der blossen Spekulation erhoben, und mit derjenigen reellen Realität verbunden werden kann, ohne welche dasselbe, im Auge des a n d e n G l a u b e n , d e r d a s E l e m e n t a l l e r G e w i s h e i t i s t , festhaltenden Rechtgläubigen, blosse Erdichtung seyn und bleiben würde. 208,24–27 Diese Weisung … Vernunft aus.] Vgl. J.s Kladdeneintrag VIII,851 (Schneider: Denkbücher, 217): Die Vnft weiset, der Vstd beweiset. Um zu beweisen muß aber etwas früheres daseyn, woran gewiesen, womit bewiesen wird. Gott kann deßwegen nicht bewiesen werden. D e r B e w e i s g r u n d w ä r e ü b e r i h m , w ä r e w a hr e r a l s e r s e l b s t . – Die Vernunft wäre kein Vermögen der Wahrheit, wenn kein Gott wäre. So wird die Vernunft aus Gott nicht Gott aus der Vernunft bewiesen. 209,16–17 Er kommt … v o n S i n n e n kommt;] Vgl. DH, oben 67,3–4, sowie J.: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, 162 f. 209,24–27 Eine nicht … d e s L e b e n s hat –] Vgl. J.s Aufzeichnung in Kladde VII,321 (Schneider: Denkbücher, 231): Das Vernünftige Wesen besteht im Vernehmen seiner selbst; es geht in sich selbst zurück. Was es vernimmt in so fern es durch Sinnlichkeit bedingt ist, heißt es Natur; was es vernimmt in sofern es durch Sinnlichkeit nicht bedingt ist, heißt es Gott. J. publizierte die Notiz später in Fliegende Blätter, in Minerva. Taschenbuch für das Jahr 1817. 9. Jg. Leipzig, 275 (WW VI.148 f.). 209,33–37 So gewiß … meinen Ursprung.] J.widerspricht hier Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 263 (GA I,2.406,34–37): Das Ich soll sich nicht nur selbst setzen für irgend eine Intelligenz ausser ihm, sondern es soll sich f ü r s i c h s e l b s t setzen; es soll sich setzen, a l s durch sich selbst gesetzt. Es soll demnach, so gewiß es ein Ich ist, das Princip des Lebens, und des Bewußtseyns lediglich in sich selbst haben. – Vgl. demgegenüber Allwills Briefsammlung. Zugabe. An Erhard O**, 294 f. (WW I.235 f.): Es muß, da überhaupt Vernunft vorhanden ist, auch eine reine Vernunft, eine Vollkommenheit des Lebens vorhanden seyn. Alle andre Vernunft ist von dieser nur Erscheinung oder Wiederschein. Und | diese Vernunft ist gewiß im strengsten Sinne Einzig und A l l e i n …. ¸En kai pan ! – Leider, für die menschliche Anschauung auch: Oÿden kai panta! 210,4–9 So lehret … durch Liebe.] Vgl. ib. 299 (WW I.239 f.): Der

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Trieb der vernünftigen Natur zum an sich Wahren und Guten ist auf ein Daseyn an sich, auf ein vollkommenes Leben, ein L e b e n i n s i c h selbst gerichtet; er fodert Un|abhängigkeit; Selbstgenugsamkeit; Freyheit! – Aber in wie d u n k l e r , d u n k l e r A h n d u n g n u r ! / Denn wo ist Daseyn und Leben in sich, wo ist Freyheit? Wahrlich nur j e n s e i t s der Natur! Innerhalb der Natur ist alles offenbar unendlich mehr im a n d e r n als in s i c h , und Freyheit nur im Tode! / Dennoch wissen wir daß etwas ist, und w a r , und s e y n w i r d – ein Urheber jener n a t ü r l i c h u n e rzeugten Thätigkeit in uns, des K e r n s unseres Daseyns, wunderbar umgeben mit Vergänglichkeit – in sie versenkt, ein Saame der aufgehen wird. Ewiges Leben ist das Wesen der Seele, und darum ihr unbedingter Trieb. – Fichte bezieht sich auf diese Gedanken in seinem ersten Entwurf zu einer Auseinandersetzung mit JF, GA II,5.195,13–17: Strenger Unterschied zwischen Leben, u. Philosophie. / Da wird, denke ich, auch der Trieb seine Rolle spielen. Das scheine ich ehemals vergessen zu haben. Es sey Liebe: aber es sey nicht hinwiederum L i e b e d e r L i e b e , welche Abneigung gegen den transscendentalen Gesichtspunkt gebiert, u. Jacobi’s Sache zu seyn scheint. – Der Transscendentalismus des Lebens ist bei ihm. 210,13–14 »daß Vernunft … M i t t e l sey.«] Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, VI,1.22 (GA I,4.257,33–258,4). Fichte antwortete auf J.s Einwände implizit in Die Bestimmung des Menschen, 249 (GA I,6.277,9–19). Hierauf bezieht sich J.s Kladdennotiz VII,1801 (Schneider: Denkbücher, 233): Die Vernft, sagt Fichte, ist nicht der Persönlichkeit wegen da, sondern die Persönlichkeit der Vnft wegen. Was ist aber Vnft ohne Persönlichkeit, u wie kann jene als das prius v dieser gedacht werden? – Ueber die Best. des Menschen S 249 »Die Vernft ist nicht um des Daseyns, sondern das Daseyn ist um der Vnft willen«. […] Fichte hat mit seiner Bestimmung des Menschen die Frucht meines Briefes abtreiben wollen. 210,15–16 »Gott ist,« … hervorbringt.«] Plato: Timaeus 30a–b (Bipontina 9.305) (Zitat in JWA 3.204, K. zu 46,31–32). – Daß J. diese Äußerung Timäus zuschreibt und nicht Platon, könnte darauf hindeuten, daß er nicht an den Platonischen Dialog denkt, sondern an Timaios Lokros; s. Timäus der Lokrier von der Weltseele. In Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Bd 3, St. 9, Iena 1799 (KJB 90), 1–57, bes. 3–5: Weil nun das alte besser ist als das | neue, und das geordnete besser als das ungeordnete, so fand Gott nach seiner Güte für nöthig, die Materie, von welcher er sahe, daß sie die Idee annahm, und von ihr mannigfaltige aber regellose Verwandlungen erlitt, in die Ordnung zu bringen, und ihre, bis dahin unbestimmte Veränderungen auf eine bestimmte einzuschränken, damit die verschiedenen Zustände der Körper nach einstimmigen Verhältnissen, und nicht mehr blos willkührlich auf einander folgten. So schuf er also nun die Welt aus dem ganzen Vorrath von Materie, und machte sie zur Gränze | alles dessen, was ist, indem sie alles übrige in sich schließt, – zu einem einzigen, eingebohrnen, vollkommenen,

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beseelten und vernünftigen Werk; denn ein solches ist besser als ein unbeseeltes und unvernünftiges; […] / §. 8. / Weil nun Gott das vollkommenste Werk hervorbringen wollte, so machte er diesen erschaffenen Gott, […]. Ia sie ist das Vortreflichste, was geschaffen werden konnte, weil sie von dem vollkommensten Werkmeister herkommt, […]. 210,31–211,18 Ich gestehe … Natur ist.] Hegel bemerkt dazu in seiner Jacobi-Rezension, 19 f. (PLS 2,1.398): Es ist jedoch noch in einem andern Sinne, in welchem Jacobi das H e r z hier dem a n s i c h G u t e n , dem a n s i c h W a h r e n gegenüberstellt; er sagt S. 37, daß er dasselbe nicht kenne, von ihm nur eine ferne A h n d u n g habe; er erklärt, daß es ihn empöre, wenn man ihm den Willen, d e r N i c h t s w i l l , diese hohle Nuß der Selbstständigkeit und Freyheit im absolut Unbestimmten dafür aufdringen will. Dies wäre hiemit jenes a n s i c h G u t e . J. erklärt sich feyerlicher in der darauf folgenden schönen Stelle: »Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der d e m W i l l e n d e r N i c h t s w i l l zuwider, – lügen will, wie Desdemona sterbend log; lügen und betrügen will, wie der für Orest sich darstellende P y l a d e s ; morden will, wie Timoleon; Gesetz und Eyd brechen, wie Epaminondas, wie J o h a n n d e W i t t ; Selbstmord beschließen, wie O t h o , Tempelraub unternehmen, | wie David, – ja, Aehren ausraufen a m S a b b a t h , auch nur darum, weil mich hungert, und das Gesetz um des Menschen willen gemacht i s t , n i c h t d e r M e n s c h u m d e s G e s e t z e s w i l l e n ; – mit der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich, daß das privilegium aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen, das Siegel seiner Würde, seiner göttlichen Natur ist.« – Man kann die Absolutheit, die das Selbstbewußtseyn in sich weiß, nicht wärmer und edler aussprechen, als hier geschieht. Warum erscheint aber diese Majestät, die in demselben ist, diese W ü r d e , diese g ö t t l ic h e N a t u r hier der V e r n u n f t entgegengesetzt? Ist es nicht sonst allenthalben die ausdrücklichste Behauptung Jacobi’s, daß die V e r n u n f t das Uebernatürliche, das Göttliche im Menschen ist, welches Gott offenbart? – Aber dies Göttliche ist hier nur dem Vernunftgesetze, dem B u c h s t aben des Gesetzes, und in den aufgenommenen Beyspielen, den Gesetzen von bestimmtem Inhalt, welche diesen bestimmten Inhalt zu einem Absoluten machen, entgegengestellt, – den bestimmten Gesetzen, welche absolut verbieten z u l ü g e n , z u b e t r ü g e n , z u m o r d e n , G e s e t z und Eyd zu brechen, Selbstmord zu beschließen, die T e m p e l z u b e r a uben, den S a b b a t h z u b r e c h e n . – I c h w i l l , sagt Jacobi, solches thun, berechtigt durch die Majestät, die im Menschen ist! – Spricht er hier nicht einen absoluten W i l l e n aus, der N i c h t s will, d. i. nicht ein b e s t i m mtes Gesetz, nicht ein bestimmtes Allgemeines, – eine Selbstständigkeit und Freyheit im absolut Unbestimmten? Die Handlungen Desdemona’s, des Pylades, Timoleons u. s. f. sind äußerlich-concrete Wirklichkeiten, aber ihr Inneres ist der Willen, das innerlich Concrete, das diese Hoheit und Majestät nur erreicht, durch diese unendliche Kraft d e r

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Abstraction von dem Bestimmten, und das allein dadurch Selbstständigkeit und Freyheit ist, als es sich als das absolut Unbestimmte, d a s A l l g e m e i n e , a n s i c h G u t e w e i ß , und sich zum absolut Unbestimmten macht, zugleich aber eben darum nur sich a u s s i c h s e l b s t bestimmt, | und concretes Handeln ist. 210,35–211,2 und mich, … beschuldigt.] J. bezieht sich auf Fichtes Kritik an der traditionellen Vorstellung Gottes als Sein oder Intelligenz, die als Weltvergötterung, Götzendienst und wahrer Atheismus dargestellt wird; vgl. Fichte: Appellation an das Publikum, 68–71 (GA I,5.437,25–35, 438,8– 30). – Zur Diskussion um den wahren Atheismus vgl. Johann August Eberhard: Ueber den Gott des Herrn Prof. Fichte und den Götzen seiner Gegner. Eine ruhige Prüfung seiner Appellation an das Publikum in einigen Briefen. Halle 1799 (KJB 656), und ders.: Versuch einer genauen Bestimmung des Streitpunktes zwischen Herrn Prof. Fichte und seinen Gegnern. Halle 1799 (KJB 659). 211,4–5 wie Desdemona sterbend log;] William Shakespeare: The Tragedy of Othello, the Moore of Venice. London 1622, V. Akt, 2. Szene; s. William Shakespeare: The plays … with the corrections and illustrations of various commentators; to which are added notes by Samuel Johnson and George Steevens. 2. ed. rev. aug. Vol. 1–10. [Nebst] Suppl. Vol. 1.2. London 1778–80 (KJB 2890); vgl. Shakespeare: Schauspiele; (übers. von Wieland, bearb.) von Joh. Joach. Eschenburg. Neue Ausgabe. 12 Bde. Zürich 1775–77 (KJB 2892). 211,5–6 der für Orest sich darstellende P y l a d e s ;] EURIPHDOU ORESTHS. [Orestes, griech. u. lat.] Ex recensione I. Barnesii, varietate lectionis et animadversionibus illustravit I. F. Facius. Praefatus est Chr. Gottl. Heyne. Coburg 1778 (KJB 3639), Verse 726–806. 211,6 morden will, wie Timoleon;] Timoleon (ca. 410 v. Chr. nach 337 v. Chr.), Feldherr und Staatsmann aus Korinth, befreite 343 v. Chr. Syrakus vom Tyrannen Dionysios II. Er stellte die Pflicht über familiäre Bande und ließ sogar seinen Bruder ermorden, weil er dem feindlichen Lager anhing. S. [Vitae parallelae, frz.] Les Vies des hommes illustres de Plutarque; trad. en français avec des remarques historiques et critiques par Dacier. Nouv. ed. rev. et corr. T.1–13. Paris 1762 (KJB 2780), Timoleon, cap. 4. – Vgl. Hemsterhuis: Lettre sur l’homme et ses rapports, in Hemsterhuis: Œuvres philosophiques. T. I. Paris 1792, 201: Timoléon fut auteur et témoin de la mort de son frère, tyran de sa patrie. Timoléon, tant qu’il vécut dans son jardin hors de Corinthe, fut accablé de tristesse et de remords. 211,6–7 Gesetz und Eid brechen wie Epaminondas,] Epaminondas (um 420–362 v. Chr.), thebanischer Staatsmann und Feldherr. Obwohl Epaminondas zunächst in spartanischen Diensten stand, wendete er sich gegen Sparta und schlug das spartanische Heer vernichtend in der Schlacht bei Leuktra (371), wodurch Theben zur führenden Macht in Griechenland aufstieg. – Vgl. JWA 1.134,22–135,34. 211,7 wie J o h a n n d e W i t ;] Jan de Witt (1625–1672), führender niederländischer Staatsmann, ab 1653 Ratspensionar von Holland. Bei seinen

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Unterhandlungen mit Cromwell zur Beendigung des englisch-niederländischen Seekrieges scheute er zur Gewinnung eines Vorteils für sein Land kein Mittel, auch nicht das geheimer Abmachungen, diplomatischer Winkelzüge und eigenmächtiger Intrigen. 211,7–8 Selbstmord beschließen wie O t h o ;] Marcus Salvius Otho (32–69 n. Chr.), römischer Kaiser (69 n. Chr.). Nach Neros Absetzung und Freitod (68 n. Chr.) folgen im Dreikaiserjahr 69 Galba, Otho und Vitellius auf einander. Otho wählte nach seiner Niederlage gegen Vitellius den Freitod. 211,8 Tempelraub begehen wie D a v i d] I Sam 21,2–7; vgl. Mt 12,3–4. 211,8–9 Aehren ausraufen a m S a b b a t h ,] Mk 2,23–28. 211,22–41 »Gewalt mag … geachtet.«] Adam Ferguson: Principles of moral and political science; being chiefly a retrospect of lectures delivered in the College of Edinburgh. Edinburgh / London 1792, Vol. I, Chap. V, Sect. I, 317 (KJB 682): Force may operate in practice, by presenting evils which deter from iniquity; but vice itself is a greater evil than any that force can inflict; and the obligation to humanity und candour, therefore, is as perfect as the fear of evil or the consideration of human felicity can make it. A person who deliberates on the choice of his conduct, will not always find himself more powerfully determined to respect what may be called the right of one fellow creature, than he is to relieve the distress, or cordially to embrace the merits of another.[FN] An orphan, it is said, was found almost naked, lying on the grave of his parent, of whom he had been recently deprived; the person who found him, we shall suppose, was passing to an appointment, at which he was about to discharge a debt: But this object fixed his mind; he employed his money in procuring relief and protection for him, and his creditor for the time was disappointed. Will any one reprobate this act of humanity, as interfering with a matter of more perfect obligation? Even the courts of law, as we have had occasion to observe, can admit the extreme necessity of one person as valid to suspend the right of another. Thus, a person about to perish for want of food, is allowed to save himself by recourse to the property of another; and the plea of humanity is held to be more sacred than that of an absolute and exclusive right. 212,1–5 unpersönliche Persönlichkeit; … soll.] Vgl. Fichte: Das System der Sittenlehre, 341–343 (GA I,5.229,26–231,8). – Zur Beziehung des reinen Ich zur Person s. J. an Jean Paul, 16. März 1800, PLS 2,1.78 f. (mit Bezug auf Jean Pauls Brief vom 21./23. Februar, 3./6. März 1800, PLS 2,1.76): In das innerste meines Geistes bist Du an der Stelle eingedrungen, wo Du von Fichte sagst: »H i e r w i r d e r u n h e i l i g .« Individualität ist ein Fundamentalgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntniß; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Substanzialität überall nichts. Ichheit als eine bloße Handlung des Gleichsetzens von – Nichts, als Nichts, in Nichts, durch Nichts, ist ein baarer Un-Gedanke; und das Entgegensetzen, als Bedingung dieses Gleichsetzens, eine wahre Tollheit, da ich z u m Entgegensetzen nur ein

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Nichts plus Nichts, eine u n e n d l i c h e G r ö ß e von plus Nichts vorfinde. Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne D e r . – Der oder d a s ist nothwendig immer ein Individuum. Also liegt der Identität Substanzialität, der Substanzialität Individualität schlechterdings zum Grunde. Bewußt ist ein Adjectiv; es kann ohne Substantiv nicht gedacht werden, und dieser Substantivus ist das, was sich im Gefühl der Identität unanschaubar darstelt. Die Persönlichkeit des Menschen ist als ein bloßes Schweben durch Synthesis ganz undenkbar; als ein Erzeugniß in der Zeit, als etwas, das durch Besinnung erst entstünde, ist sie erweislich unmöglich. Ich, Fr. Heinr. Jacobi erkenne mich als solchen o h n e a l l e s M e r k m a l , unmittelbar, Kraft meiner Substanz; ich brauche mich | nicht erst zusammen zu setzen – – Ich mache einen großen Sprung und sage: wie Fichten alles Subjectivität, so ist mir alles Objectivität. S. Allwills Briefsammlung S. 164–165. Der Trieb des Menschen ist, durchzudringen zum Wa h r e n . Ich bin Realist, wie es vor mir noch kein Mensch gewesen ist, und behaupte, es giebt kein vernünftiges Mittelsystem, zwischen totalem Idealism oder totalem Realism. – Du bist der erste, dem ich mich auf diese Art entdecke, weil Du der erste bist, dem ich es zutraue, daß er mir auf halbem Wege schon entgegen gekommen sei. 212,12–17 ihr müsst! … v o n d e m L e h r s t u h l a u s .] Vgl. Woldemar (1794), 217: wir sind ein hinkendes Geschlecht, das der Krücken und hölzernen Beine […] eines leblosen, durch Abstraktion vom Leben gewonnenen, wissenschaftlich-begrifflichen Systems der Moral bedarf, das mit Hilfe lebloser Instrumente Weisungen im Leben erteilt – ex cathedra. – J.s Einwand wurde u. a. aufgenommen von J. H. G. Heusinger, mit dem Fichte J. in seinen Entwürfen einer Erwiderung auf JF mehrmals in Verbindung bringt; vgl. Ueber das idealistisch-atheistische System des Herrn Profeßor Fichte in Jena, 66: Fichte braucht den Ausdruck: I c h m u ß . […] Es sollte aber stehen: I c h s o l l . – Mein Leser glaube ja nicht, daß ich hier auf einem A u s d r u c k eigensinniger Weise bestehe. Es hängt an der S a c h e , die dieser Ausdruck bezeichnet, das Resultat der ganzen Untersuchung. / Sage ich nemlich mit Hrn. Fichte: i c h m u ß m o r a l i s c h h a n d e l n ; so hat er recht. Man braucht alsdann k e i n e n G o t t , der die moralische Ordnung in der Welt aufrecht erhält, denn diese Ordnung k a n n nicht gestört werden, weil die Menschen moralisch handeln m ü ß e n . Die Menschen sind alsdann Maschinen, die nach sogenannten moralischen Gesetzen wirken, wie Feder, Kette und Räder in einer Taschenuhr nach mechanischen Gesetzen. – Fichte berücksichtigt diese Einwände im dritten, Glaube überschriebenen Buch von Die Bestimmung des Menschen, 179–338 (GA I,6.253–309). – Vgl. Fichte an Friedrich Schlegel, 16. August 1800, GA III,4.283,14–16: Die Denkart, die eine durchgeführte Philosophie für das Leben erzeuge, glaube ich im 3ten Buche der Bestimmung des Menschen dargestellt zu haben. 212,24–26 Das Moral-Princip der Vernunft … im Begriffe;] Diesem Einwand gegen Fichtes reine Moralität stimmte Hegel zu in seiner Rezension von WW III in Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur, 10. Jg. Januar bis

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Juny. Heidelberg 1817, 17 f. (PLS 2,1.397): Was Jacobi S. 40 [sc. WW III] das Moral-Princip der V e r n u n f t nennt, was aber eigentlich nur das Princip einer zum V e r s t a n d heruntergebrachten V e r n u n f t ist, nämlich die abstracte Einstimmigkeit des Menschen mit sich selbst, bestimmt er richtig als ö d e , w ü s t e und l e e r , und stellt ihr das Vermögen der I d e e n a l s n i c h t l e e r e r , die c o n c r e t e Vernunft, unter dem populären Namen H e r z entgegen. – Im Grunde ist dies dasselbe, was schon A r istoteles | an dem moralischen Princip tadelt (Hvik. meg. A), er sagt nämlich, der erste Lehrer der Moral, Sokrates, habe d i e T u g e n d e n z u e i n e m W i s s e n , êpisthmaß, gemacht, – das G u t e und S c h ö n e ist die praktische Idee nur als Allgemeines, – dies a b e r i s t u n m ö g l i c h , setzt er hinzu; d e n n a l l e s W i s s e n i s t m i t e i n e m G r u n d e ( logoß ), der Grund aber gehört der denkenden Seite des Geistes an; es widerfährt ihm daher, daß er die alogische Seite der Seele a u f h e b t , d e n T r i e b u n d d i e S i t t e ( p a v o ß k a i Ω v o ß ). – Das Allgemeine des Praktischen enthält nur, was s e y n s o l l ; Aristoteles vermißt, wie Jacobi, daran die Seite dessen, durch und nach welcher das Allgemeine ist. 212,33–35 wahrhaft … n i c h t l e e r e n , ist.] Zu J.s Berufung auf das Herz als das Innerste der Person s. Augustinus: Confessiones I,1, sowie bes. Pascal: Pensées, Art. XXVIII,58, Bd 2.205 (Brunschvicg XIII.201, Fr. 277/278, bzw. 206 f., Fr. 284): Le cœur a ses raisons, que la raison ne connoît point. On le sent en mille choses. C’est le cœur qui sent Dieu, & non la raison. Voilà ce que c’est que la foi parfaite, Dieu sensible au cœur. – Art. VI,2, Bd 2.42: Ne vous étonnez pas de voir des personnes simples croire sans raisonnement. Dieu [Q: Dieur] leur donne l’amour de sa justice & la haine d’eux-mêmes. Il incline leur cœur à croire. On ne croira jamais d’une créance utile & de foi, si Dieu n’incline le cœur, & on croira dès qu’il l’inclinera. Et c’est ce que David connoissoit bien lorsqu’il disoit: Inclina cor meum, Deus, in testimonia tua. 213,1–2 durch H o c h m u t h selig zu werden.] Vgl. Spr 18,12. – Fichte nimmt diese Anspielung auf in den Aufzeichnungen zu JF in den Jahren 1805/06, GA II,11.44,18–45,15 (vgl. PLS 2,1.46): Durch Hochmuth seelig werden, Er durch Demuth.–. Ich hoffe, beide den, ohne eines von beiden. Wie sollte denn der Mensch vernünftigerweise zu Einem von beiden kommen?. S i c h zum Gegenstande seines Nachdenkens macht, denke ich, der ernsthafte Mensch nie, als wenn er sich als Werkzeug ansieht für ein gewisses Unternehmen, Wagstück. Verrechnet er sich, indem er seine Kräfte überschäzt, so ist dies noch etwas schlimmeres als Hochmuth; es ist Vermeßenheit; schäzt er sie nicht genug u. unterläßt was er wohl ausführen könnte, so ist das gar nicht lobenswürdige Demuth, sondern es ist tadelnswürdige Faulheit, u. Feigheit: denn der Mensch soll was er kann. Freilich wird in solchen Selbstprüfungen das vergangne Leben, u. wie wir uns haben da u. da kennen lernen, eine HauptPrämisse seyn, u. da wir eben zu allem uns tüchtig zu machen streben sollen, falls wir | uns nicht so finden, so wird daraus die Anstrengung

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entstehen, uns selbst beßer zu bearbeiten, aber nicht, damit nun ein müßiges lobpreisendes Wohlbehagen, daß wir so treflich sind, oder eine jämmerliche Zerknirschung über unsere Sündhaftigkeit unser künftiges Leben ausmache, sondern damit wir immer tüchtiger werden, u. so immer eben kühner an die vorliegenden Werke schreite[n]. – So sage ich, beim Handeln. An eine allgemeine SelbstPrüfung unseres Wesens nach den heiligen zehn Geboten , u. an Vorbereitungen zu Generalbeichten zu gehen, müßiger Weise, als ob man nichts anders zu thun hätte, ist sehr unweise. Laße man seine Seiten nur durch das Leben berühren, u. aufdeken: in die verborgenen Winkel, welche daßelbe nicht berührt, mit seinen Gedanken herumwühlen, ist theils selbst Sünde, weil es Müßiggang ist: theils trägt man dann aus übergroßer Demuth, allerlei Unreinigkeiten, die man sich andichtet hinein, u. besudelt so sich wirklich durch dieses andichten. Laßet uns seelig seyn in der redlichen Treue gegen das göttliche in uns, demselben folgen, wie es uns zieht, und [nicht] durch eigne Werkheiligkeit uns allerlei ankünsteln wollen, das nicht aus ihm ist. 213,14–16 1) Die Aphorismen … eingeschaltet habe.] LS2, JWA 1.158,1–169,2; vgl. oben 243–252. 213,16–17 2) Die Anmerkung … zu A l l w i l l ;] Allwills Briefsammlung (1792), XVI–XIX FN (WW I.XIV–XV FN); vgl. oben 252 f. 213,17–18 in demselben … 295–300.] Vgl. oben 253–255. 213,18 3) im Ersten Theile … 138–141.] Woldemar. T. 1. Neue verbesserte Ausgabe. Königsberg 1796, 138–141. Vgl. oben 255–257. – Im Brief an J. vom 26. April 1796 (GA III,3.17,12 f.) bedankt sich Fichte für die Übersendung dieser Ausgabe des Woldemar und charakterisiert J. mit Anspielung auf das Thema des Romans als ein[en] Mann, den ich für das schönste Bild der reinen Menschheit in unserm Zeitalter halte. 213,24–25 in einem … A n h a n g e beygefügt.] S. oben 241–257. 213,25–27 Man wird dort … finden,] S. oben 257,3–258,37. 214,5 (Br. ü. Sp. …. XXXIV.,)] LS 2, JWA 1.161,26–162,16, vgl. oben 248,12–16. 214,7–10 die Lückenbüßer … angetroffen.] J. kritisiert die konstitutive Funktion des Begriffs des Unbedingten in Kants praktischer Philosophie, bes. in der Postulatenlehre, KpV A 219–241 (AA V.122–134). – Zur Bezeichnung eines solchen Unbedingten als Lückenbüßer vgl. UK, oben 282,26, 324,4, sowie EKP, oben 155,6, 155,31, 156,4–5.11–12, ferner die Zugabe. An Erhard O**, 304, 314 (WW I.242, 250) und die Kladdennotiz zu Kants Satz Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, Kladde V,741–751 (Schneider: Denkbücher, 210): Zu Kants Cr. d. pr. Vnft S. 135 u 139. – – – Diese einzige u unbezweifelte Triebfeder, welche die reine Vnft sich aus der Sinnlichkeit – wie paßt dieser Mistkarren Gaul vor den himmlischen Wagen? – Er schleppt den himmlischen Wagen in den Mist. – Diese ganze Fabrication des Achtungsgefühls ist eins der schändlichsten Gewebe von Sophistereyen, so jemals gemacht worden ist. 214,12 über die Bestimmung des Gelehrten] Fichte: Einige Vorle-

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sungen über die Bestimmung des Gelehrten. Jena / Leipzig 1794 (KJB 710), 10–12 (GA I,3.29,31–30,18). 214,19–23 Briefen über Spinoza … zu legen.] Die Wendungen W u nder der Wahrnehmung bzw. Geheimniß der Freyheit finden sich so nicht in LS; vgl. aber JWA 1,249,14–31 bzw. 138,6–7 sowie die Abhandlung Ueber die Freyheit des Menschen, JWA 1.158–170 bzw. oben 243–252. Vom Wunder und Geheimniß des Vernünftigen Daseyns selbst spricht J. in einer Fußnote zu Beylage II zu JF (oben 233,35–36), die er irrtümlich als Zitat aus LS bezeichnet; vgl. ferner 235,4–7. – Zum Salto mortale s. LS, JWA 1. 20,16, 30,10, sowie J.s spätere Erläuterung im Vorbericht. zu WW IV, JWA 1.348,3, und im Brief an Johann Neeb, 30. Mai 1817, ABW II.466–468. 214,26–28 dem N i c h t s … Platonische Unendliche!)] Vgl. Allwills Briefsammlung. Zugabe. An Erhard O**, 309–311 (WW I.246 f.): Ein finsteres Geheimniß liegt eben schwer auf uns allen: das Geheimniß des Nichtseyns, des Daseyns durch Vergänglichkeit, des Vermögens mit und durch lauter Unvermögen – d a s G e h e i m n i ß d e s E n d l i c h e n . Unendliches scheint der S t o f f ; Endlichkeit die F o r m der Dinge zu seyn. Also wäre Nichtseyn – wenn die Begriffe von Endlichkeit und Nichtseyn in einander fließen – die Möglichkeit; Nichtseyn wäre die nächste Ursache der Natur und ihres Inhalts! | / P l a t o äussert sich auf eine merkwürdige Weise über diesen Gegenstand. Kühn weist er, in der Reihe der Dinge, dem Unendlichen die Unterste; dem Maass, welches das Endliche mit dem Unendlichen vereinigt, und wirkliche Dinge zuerst ans Licht bringt, die Oberste Stelle an. Er setzt einen G o t t voraus, der ein G e i s t , ein besonnenes persönliches Wesen ist, als den Urheber aller Dinge, durch die Vollkommenheit seines Willens. [FN:] Im Philebus. Plato versteht unter dem Unendlichen das Unbestimmte, welches unter dem Bilde von M e h r oder W e n i g e r gedacht, aber, als an sich wirklich, nie vorgestellt werden kann. / Dem Unendlichen setzt er entgegen – nicht das Endliche, sondern – das E w i g e , A l l e i n W a h r e und W i r k l iche, durch welches alle Dinge sind und erkannt werden, in so fern sie erkannt werden können und ein wirkliches Daseyn besitzen. | / Das Endliche steht zwischen dem Unendlichen und dem Ewigen, dem Wahren und Unwahren, dem Seyn und Nichtseyn in der Mitte. – J. verweist in dieser Fußnote im folgenden auf Plato: Philebus 18 ff., insbesondere auf die resumierenden Partien 66a–b; s. JWA 3.196, K. zu 15,18–32. – Vgl. Plato: Sophistes 237a ff., 256d ff. – J. notiert zu diesem Thema in Kladde IV,101 (Schneider: Denkbücher, 332): Plato versteht unter dem Unendlichen, das Unbestimmte, welches allein unter dem Begriffe eines Mehr, oder eines Weniger gedacht werden kann, u kein objectives Daseyn haben kann. Die Ausführung dieser Materie findet sich im Philebus. – IV,71, ib.: Es ist merkwürdig das [!] Plato das Unendliche, wie es uns erscheint (wo es nur das Unbestimmte ist) unter das Endliche setzt, welches durch Verstand, nehmlich durch Bestimmung entsteht. – IV.101, ib.: Daß [!] Unendliche wird von Plato mit Recht herabgesetzt, weil der menschliche Verstand es nur als das Unbestimmte denken kann.

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215,5 meine Philosophie des Nicht-Wißens,] S. K. zu 192,5–7. 215,10 Chimärismus] Dieses Wort findet sich mehrfach in den Auseinandersetzungen um den transzendentalen Idealismus; s. MV, oben 3,5, aber auch Fichte: Appellation an das Publikum, 89 (GA I,5.444,16–17): Was mir das allein wahre, und absolute ist, ist f ü r s i e gar nicht vorhanden, ist für sie Chimäre und Hirngespinst: was s i e für das wahre und absolute halten, ist nach m i r bloße Erscheinung, ohne alle wahre Realität. – S. die Aufnahme dieses Motivs in der anonymen Flugschrift Ueber den Briefsteller Jacobi an Fichte. o. O. 1800, bes. 28 f.: Der Chimärsche-Nihilismus ist allerdings auf einem so feinen Gewebe des Vernehmens und Ahndens gegründet, daß | es schwer hält, ihn in gewisse Formen zu bringen. So wenig wir uns des glücklichen Erfolges eines solchen Versuches vergewissern können, hoffen wir doch unseren Zweck zu erreichen, wenn des Briefstellers Sokrates, der Reine und Holde, der die Schiebladen des menschlichen Verstandes liebt, dieses System in gewisse numerirte Fächer bringen will. Unser Versuch kann ihm dazu als Propaedeutik dienen. 215,11 Nihilismus] Dieser Vorwurf der Leere des bloßen Wissens wird von Fichte und seinen Anhängern zurückgewiesen; s. Wissenschaftslehre (18042), 28 Vorlesungen 1804, Vortrag X, GA II,8.145,8–19, sowie J. an Reinhold, 28. Januar 1800, RLW 253: Im Februar des Genius der Zeit wird ein Brief von Gerstenberg an mich erscheinen, worin er den Vorwurf des Nihilismus, den ich dem critischen Idealismus gemacht, abtreiben will. Ich habe gesucht, ihm den Bardili in die Hände zu spielen, vermuthe aber, daß er ihn schon kannte und gerade gegen ihn, doch ohne das Buch zu nennen, seine Pfeile gerichtet hat. Wie sich die Sache verhält, werden wir nun in wenigen Tagen erfahren. – J. bezieht sich auf Christoph Gottfried Bardili: Grundriß der ersten Logik, gereiniget von den Irrthümern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondere; keine Kritik sondern eine Medicina Mentis, brauchbar hauptsächlich für Deutschlands kritische Philosophie. Stuttgart 1800 (KJB 531) und [Heinrich Wilhelm v. Gerstenberg:] Aus einem Briefe an Herrn Geh. Rath Jacobi über eine Stelle in seiner neuesten Schrift (unterzeichnet: Altona, den 19ten November 1799. / Gerstenberg), in Der Genius der Zeit, hg. August Hennings. Bd 19, 2. St. (Februar 1800), 137–153; s. bes. 137 f.: – – Nur über das, was Sie den Nihilismus der critischen Philosophie überhaupt und des Fichteschen Systems insbesondere nennen, habe ich noch einige Bedenklichkeiten, die ich Ihnen, Ihrer freundschaftlichen Aufforderung gemäß, so gut es sich in einem Briefe thun läßt, ohne weitere Vorrede hier vorlegen will. – Gerstenberg wählt hierfür, nach dem Vorgange von J.s Strickstrumpfbeispiel, den Weg der Parabel, nämlich die Aufstellung von vier mit Denkkraft ausgestatteten Wunderspiegeln auf der Toilette meines absoluten Ich. Am Ende dieser Feerey meines absoluten Ich (S. 139) resumirt Gerstenberg S. 145, um wieder auf Ihre Beschuldigung des Nihilismus zu kommen: wie wollen wir unsre vier critisch orthodoxen Selbstforscher nennen? sind sie Idealisten? oder Realisten? / Ich meyne, sie sind beides: Idealisten, sofern ihnen das Substrat ihrer Fratzengesichter nicht Gerstenberg, sondern x heißt; Reali-

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sten, sofern sie das Daseyn irgend eines Substrats anerkennen. – Hegel nimmt den Vorwurf des Nihilismus auf; s. Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in Kritisches Journal der Philosophie, hg. von Fr. Wilh. Joseph Schelling und Ge. Wilhelm Fr. Hegel. Bd 2, St. 1, Tübingen 1802 (KJB 137/138), [1]–188, hier 159 (GW 4.398,17–32): Warum die Jacobische Philosophie den Nihilismus, den sie in der Fichteschen findet, so sehr verabscheue, ist vorhin gezeigt worden; aber was das Fichtesche System selbst hierüber betrifft, so liegt allerdings die Aufgabe des Nihilismus in dem reinen Denken, es ist aber nicht fähig zu ihm zu gelangen: weil dieß reine Denken schlechthin nur auf Einer Seite stehen bleibt, und also diese unendliche Möglichkeit eine unendliche Wirklichkeit sich gegenüber, und zugleich mit sich hat; und so ist das Ich schlechthin in die Unendlichkeit hinaus von einem NichtIch afficirt; […]. Das erste der Philosophie aber ist, das absolute Nichts zu erkennen, wozu es die Fichtesche Philosophie so wenig bringt, so sehr die Jacobische sie darum verabscheut; dagegen sind beyde in dem der Philosophie entgegengesetzten Nichts; das Endliche, die Erscheinung, hat für beyde absolute Realität; das Absolute und Ewige ist beyden das Nichts für das Erkennen. 215,16–17 von Kindesbeinen … wie Wenige –] S. LS mit Beylage III, JWA 1.13,13–14,7, 216,2–217,17, DH, oben 40,9–17, sowie J. an Goethe, 6. November 1774, JBW I,1.268,6–13, und 28. April 1784, JBW I,3.314,12–19. – Auf diesen Hinweis J.s bezieht sich Fichte in Briefen vom 22. April 1799 an Reinhold bzw. J., GA III,3.326,17–18 bzw. 335,6–10. 215,27–28 von Ihrer Hand … gedruckten Briefe;] Fichte versandte ca. 150–200 Exemplare seiner Appellation an das Publikum mit einem gedruckten Brief vom 16 Jenner 1799 an ausgesuchte Persönlichkeiten, in dem Fichte sie sowohl um Verbreitung der Flugschrift als auch um eine öffentliche Stellungnahme bat; s. GA III,3.174,6–175,21: Die Angelegenheit, mit welcher ich durch die beigelegte Schrift S i e näher bekannt zu machen wage, gehört ohne Zweifel vor den Richterstuhl des gelehrten, und denkenden Publikum, und fällt zunächst der Beurtheilung solcher Männer anheim, die I h n e n gleichen. Wenn mich nicht alles täuscht, so ist die Lehre, welche den Streit veranlaßt hat, zum wenigsten einer ernsthaften, und bedächtigen Erwägung werth; auf alle Fälle aber kann über sie nur durch Gründe, keinesweges aber durch Gewalt entschieden werden. Man ist auf dem Wege, durch den öffentlichen Ausruf, daß sie atheistisch sey, dieselbe kurz und gut, und tumultuarisch, zu verurtheilen: man ist auf dem Wege, die Gewalt den Ausschlag gegen sie geben zu lassen, und eines s i c v o l o s i c j u b e o statt aller Gründe sich zu bedienen; indem nunmehro die Herausgeber [sc. Fichte und Niethammer] und Verfasser der angeschuldigten Aufsätze [sc. Forberg und Fichte] durch ein Churfürstlich Sächsisches RequisitionsSchreiben [s. K. zu 192,17–18] bei den Herzogen zu Sachsen, Ernestinischer Linie, angeklagt sind, und über das begangene Verbrechen, »über den Frevel, der nur mit Unwillen vernommen werden könne, und der alle

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angrenzenden Staaten in Gefahr setze,« gar kein Zweifel übrig gelassen, sondern lediglich auf »ernstliche Bestrafung« angetragen wird – und dies unter Bedrohungen gegen die Universität. |/ Die Angeklagten werden ohne Zweifel auch vor dem Richterstuhle, vor welchen man sie zieht, Rechenschaft zu geben wissen, wenn man nur Rechenschaft will; aber ihr Hauptzweck muß seyn, diese Sache vor den wahren Gerichtshof derselben zurückzubringen. Sie wollen keine günstigere Sentenz, als ihnen gebührt, sie wollen ihren Richter nicht bestechen, sie wollen nur wirklich vor ihn gestellt werden. Diese Zurückstellung vor das wahre Tribunal ist – ich glaube es, und wage es zu denken, daß S i e es mit mir glauben – eine allgemeine Angelegenheit. Das gelehrte Publikum kann sich nicht sein Urtheil, der einzelne Gelehrte kann sich nicht das Recht, nur von ihm beurtheilt zu werden, entreißen lassen. / Ich ersuche S i e daher – und diese Bitte ist der Zweck meines Schreibens – durch mündliche, oder schriftliche Ablegung I h r e r vielgeltenden Stimme zur Zurückstellung und durch Verbreitung dieser Schrift in I h r e m Wirkungskreise zur wirklichen Ausübung dieses Rechts, beizutragen, erbiete mich I h n e n mit Wärme zu jedem litterarischen Dienste in meinem Zirkel, und unterzeichne mich mit inniger Hochachtung und wahrer Ergebenheit. – Dieses gedruckte Schreiben sandte Fichte an J. mit einem handschriftlichen Zusatz vom 18. Januar 1799; s. GA III,3.176,19–23: Habe ich bei Abfassung dieser Schrift an irgend einen Mann oft und lebhaft gedacht, habe ich gewünscht, daß sie Einem gefallen möchte, so waren Sie es, Verehrungswürdiger. / Bei Ihnen suche ich nicht Theilnahme, Verwendung oder deß Etwas, sondern mehr, ich suche Freundschaft. 215,29–216,1 die Anrede in Ihrer Schrift.] Fichte: Appellation an das Publikum, 98 f. (GA I,5.447,19–448,2): Und unter den Philosophen du, edler J a c o b i , dessen Hand ich zutrauungsvoller fasse; so verschieden wir auch über die bloße Theorie denken mögen, das, worauf es hier ankommt, hast du schon längst, gerade so, wie ich es denke, gesagt, mit einer Kraft und Wärme gesagt, mit welcher ich es nie | sagen kann, [FN: Besonders: B r i e f e ü b e r d i e L e h r e d e s S p i n o z a , S. 234 ff. 2te Ausg. in s e i n e r Vertheidigung gegen Mendelssohn; und so in allen seinen Schriften.] hast es zur Seele deines Philosophirens gemacht: »durch ein göttliches Leben wird man Gottes inne.« – Zu Fichtes Seitenangaben in der FN: statt 234 ff. (LS2, JWA 1.128,24–129,26) s. 218 (JWA 1.117,13–14) und WMB, JWA 1.326,11–327,30. 215,30 s. Allwills Br. S. 306 u. 307.] Allwills Briefsammlung (1792), 306 f. (WW I.244 f.): so unwissend, ganz unwissend, wie ich Dir sage, bin ich. Unwissend in einem Maaße, daß ich den bloßen Zweifler v e rachten darf! – Dennoch; weit davon entfernt, mit dieser überschwänglichen Unwissenheit mich zu brüsten; sie zu verwechseln mit der Wahrheit, deren Verheißung ich im Busen trage; ihr, von Hochmuth trunken, Tempel und Altar zu weihen, und die sinnloseste aller Abgöttereyen anzurichten: demüthigt mich vielmehr ihr Bewustseyn bis zu einer Schwermuth – die sich zwar mit keinem Hohn verträgt; wohl aber zum Lachen satter

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Wisser und Nichtwisser sagen möchte: D u b i s t t o l l ! zu ihrer Freude: was machst du? 216,3–5 Ihre Lehre … Gottlosen halten.] Zu dieser Unterscheidung s. LS, JWA 1.120,19–22: Spinozismus ist Atheismus. FN: Ich bin weit entfernt, alle Spinozisten für Gottesläugner zu erklären. Gerade deswegen scheint mir der Erweis nicht überflüßig, daß die rechtverstandene Lehre des Spinoza keine Art von Religion zulasse. – Vgl. Fichtes Erläuterung des Atheismusvorwurfs als Beschuldigung der Unsittlichkeit in Appellation an das Publikum, 4 f. (GA I,5.416,15–21). Fichte greift die genannte Unterscheidung J.s in den späteren Rükerinnerungen, Antworten, Fragen noch einmal auf; s. GA II,5.130,9–131,12: Dahin gehört das Gerede von einem Fichteschen Gotte, oder einem Jacobischen, einem Spinozischen u. dgl. Fichte, Jacobi, Spinoza, sind etwas Anderes, als ihre Philosophie. Der Philosoph hat gar keinen Gott und kann keinen haben; er hat nur einen Begriff vom Begriffe oder von der Idee Gottes. Gott und Religion giebt es nur im Leben: aber der Philosoph, als solcher, ist nicht der ganze vollständige Mensch, sondern im Zustande der Abstraction, und es ist unmöglich, dass jemand n u r Philosoph sey. Was durch die Vernunft gesetzt ist, ist schlechthin bei allen vernünftigen Wesen ganz dasselbe. Die Religion und der Glaube an Gott ist durch sie gesetzt, sonach in gleicher Weise gesetzt. Es giebt in dieser Rücksicht | nicht mehrere Religionen, noch mehrere Götter; es ist schlechterdings nur E i n Gott. – Die Analogie zwischen J.s Verteidigung der Personen Fichtes und Spinozas im Unterschied zu ihrer Philosophie hebt später Friedrich Schlegel hervor; s. seine Rezension von WW I–V, in Wiener Jahrbücher der Literatur 19 (1822), 169 f. (PLS 3,1. 412 f.) 216,9–14 Wäre nun … ein Gedankending,] Fichte kritisiert im Brief an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.180,17–181,8 (PLS 2,1.65), J. seien einige des tiefsten Denkers unsrer Zeit, (dies ist er mir gewesen, weit über Kant, seit ich ihn ganz kenne, und dies wird er mir stets bleiben) nicht würdige Aeußerungen entgangen. Z. B. das Bestehen auf einer Persönlichkeit Gottes war mir schon in seinem Idealismus und Realismus auffallend [s. DH, oben 63,13, 87,2]; und nunmehr wieder? Was mir Persönlichkeit heiße, habe ich in meinem Naturrechte auseinandergesetzt; vielleicht denkt Jacobi etwas anderes Bestimmtes bei diesem Worte, aber was, mit dem gewöhnlichen Gebrauche desselben nur die entfernteste Analogie Habendes, das nicht dem Gedanken des Unendlichen geradezu widerspräche? Bewußtseyn Gottes möchte noch hingehen. Wir müssen einen Zusammenhang des Göttlichen mit unserm Wissen annehmen, den wir nicht füglich anders, | denn als ein Wissen der Materie nach denken können, nur nicht der Form unsers discursiven Bewußtseyns nach. Nur das letztere läugnete ich und werde es läugnen, so lange ich meiner Vernunft mächtig bin. / Meine Theorie streite mit den Aeußerungen des natürlichen Verstandes? Sage mir doch Jacobi, wo denn auch nur eine Ahnung einer Repräsentation des natürlichen Verstandes über diesen Gegenstand anzutreffen sey? Ich finde überall nur den durch irgend eine Theologie

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verkünstelten Verstand. Was der natürliche Verstand darüber sage, wird sich erst ergeben, nachdem man ihn frei gemacht. 216,19–23 »Eh proh dolor … dein Leben.«] WMB, JWA 1.313, 30–33. 216,24–217,13 »Was ist Euer … nichts taugt.] WMB, JWA 1.314, 1–17. 216,36 im 2ten Bande … S. 60.] Vgl. VE, oben 431,9–28 mit 403, 1–8. 217,1–218,1 Uebereinstimmung … F e n e l o n] Der Gedanke einer Übereinstimmung zwischen Spinoza und Fénelon – trotz Fénelons Réfutation du Spinozisme, s. K. zu 423,9–424,2 – formte sich für J. insbesondere bei den Woldemar-Bearbeitungen von 1794 und 1796, die sich mit den Trieblehren Fénelons und Spinozas auseinandersetzen, die, in der von Augustinus ausgehenden und von Pascal weitergeführten Tradition des tantum cognoscitur, quantum diligitur, ihren höchsten Punkt in der Annahme einer geistigen Liebe finden, die die Zerstörung des Körpers überdauert und als göttliche Liebe bestimmend ist für eine sittlich-religiöse Lebenshaltung. – Vgl. etwa Spinoza: Ethica IV, prop. 28 und prop. 37 schol. 1, Opera posthuma, 184, 192 (Gb II.228,8 f., 236,17–19), sowie Ethica V, prop. 36 und prop. 41, Opera posthuma, 258, 262 (Gb II.302,12–16, 306,26–29), François de Salignac de La Mothe-Fénelon: Œuvres spirituelles […]. Nouvelle édition, revue & enrichie. 4 T. o. O. 1777 (KJB 251), bes. T. 1: Contenant ses traités spirituels, 47–78: III. Sur le pur Amour. – Vgl. J. an Wilhelm v. Humboldt, 2. September 1794, ABW II.177 f.: In der gedachten nicht zu Stande gekommenen Vorrede sollte auch der Spruch des Fenelon am Ende [sc. Woldemar (1794), 282], a u s d e m F e n e l o n erläutert und gerechtfertigt werden. Sie finden wohl in der dortigen Bibliothek oder bey einem Freunde die Oeuvres spirituelles de Fénélon. Lesen Sie […] im ersten Theile den kleinen Aufsatz sur le pur amour, und sagen Sie mir nachher, ob dieser Mystiker viel von Kant zu lernen hatte. – Vgl. J.s Kladdennotizen IV,731 (Schneider: Denkbücher, 252 f.): Fenelon Oeuvres Sp. I. p 110. Toute la religion ne consiste qu’à sortir de soi et de son amour propre pour tendre à Dieu. – Wenn man die Absicht wegläßt, so wird die Religion leer, u das heißt hier eben so viel, als der ganze Mensch wird leer – er vernichtet sich. – IV,751 (ib. 337): I. p 220. Les hommes ne jugent presque nos actions que par le dehors: Dieu compte pour rien dans nos actions tout ce qui éclate le plus aux yeux des hommes. Ce qu’il veut, c’est une intention pure, c’est une volonté prête à tout, et souple dans ses mains, c’est un sincere detachement de soi même. – E i n W i l l e d e r z u a l l e m b e r e i t i s t , w a s d a s Gesetz vorschreibt, darin besteht die Freyheit. Der Wille ist eine Modification des Begehrungsvermögens. Die beständige Begierde des Guten wäre also das, was den Menschen frey machte; wir können aber nur begehren, was unser Vergnügen da zu seyn erhöht, was unserem Wesen in irgend einer Beziehung zuträglich ist. Wer also das gute beständig begehrt, muß selbst gut seyn, immer beßer u auch freyer werden. Also kann man auch sagen, d a ß d i e F r e y h e i t i n d e m V e r m ö g e n g u t z u

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seyn oder sich zu beßern bestehe. Sclaven sind wir von N a t u r ; f r e y w e r d e n w i r d [!] d u r c h g ö t t l i c h e K r a f t . – Vgl. K. zu 250,31–32. 217,14–218,36 »Sind im Gegentheil … Wahrheit.«] WMB, JWA 1.314,22–31, 314,35–315,37. Der Text in WMB ist mit Veränderungen übernommen aus J.: Ueber und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werkes, des lettres de Cachet et des prisons d’etat, in Deutsches Museum (April 1783), 392–394 (WW II.426–429) und gegenüber WMB nochmals stilistisch verändert. 218,27–220,6 »Um Gott … Wahre?«] Kürzere Fassung eines in GD, JWA 3.41,16–27, 42,3–43,4 ausführlicheren Textes. Es ist nicht zu klären, welche Fassung die ursprüngliche ist. – Zur partiell gemeinsamen Entstehungsgeschichte von GD und JF s. JWA 3.178; vgl. K. zu 238,2. 218,29–30 was uns nicht … erforschen.] Vgl. JWA 1.115,18–21. 218,38 S. Beylage II.] S. oben 232–237. 219,6 »Nach seinem Bilde geschaffen] Gen 1,26 f. 219,18–20 Ein berühmter Heerführer … les hommes.] S. die Anm. zu GA III,3.250: Es handelt sich um einen anglo-navarresischen Bandenführer. Vergl. »Chroniques de J. Froissart«, par Siméon Luce, Tome VI, 1360–1366, Paris 1876, S. 72, – 495: »Et avoient ces Compagnes dou Pont Saint Esperit fait un chapitainne souverain entre yaus, qui se faisoit adonc communement appeller amis à Dieu et anemis à tout le monde.« – Nach einer Variante zu Froissarts Chronik soll dieser Bandenführer Seguin de Badefol gewesen sein. – S. ib. zum genannten französischen König: Jean II, dit le Bon, ca. 1319–1364; König von Frankreich 1350–1364. 220,15–18 darum verliert … begründen will.] Vgl. J.s Kladdennotiz I,192 (Schneider: Denkbücher, 252): Man verliert Gott, sagt Fénelon (Exist. de Dieu) wenn man sich selbst verliert, oder, dadurch daß er sich selbst verliert. – Vgl. Kladde V,132 (Schneider: Denkbücher, 253): L’Art de se connoitre soi même p.[ar] J. Abbadie. [sc. Jacques Abbadie: L’Art de se connoître soi-même, ou la recherche des sources de la morale. La Haye 1760] p. 50. Le monde est l’amas des objets corruptibles. ibid. p. 51. – – – »de sorte que l’homme, au lieu de s’aimer lui même par les motifs de ce plaisir …« Der Mensch soll sich nicht selbst wegen des Genußes den er hat, sondern allein um Gottes willen lieben (d’un amour de pure charité, wie Fenelon sich ausdrückt). – Vgl. Fénelon: Sur le pur amour (s. K. zu 217,1–218,1). 220,18–21 Alles löset sich … einen G o t t .] Vgl. GD, JWA 3.89,12– 14.19–22. 220,22–24 denn es ist … G e s p e n s t sey.] Der Gedanke entstammt ursprünglich der Kantkritik; vgl. J.s Kladdennotiz VIII,161 (Schneider: Denkbücher, 217 f.): Wenn wir nur einen erdichteten Gott haben, wie Kant will, so haben wir auch nur erdichtete sinnliche Gegenstände. Der Vorzug der sinnlichen Gegenstände besteht nur darin, daß sie zweymal erdichtet sind, nehmlich daß sie ihren Ursprung in einer durch u durch subjectiven Sinnlichkeit, u in einem durch u durch subjectiven Verstande

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haben . Das ganze Erkenntnißvermögen gespenstert mir. 220,25–27 Gott ist … kein drittes.] J. formuliert in fast wörtlicher Anlehnung an Fénelon: Œuvres spirituelles, T. 1: XI. Sur le Renoncement à soi-même, 132 f.: Il n’y a point de milieu: il faut rapporter tout à Dieu ou à nous-mêmes. Si nous rapportons tout à nous-mêmes, | nous n’avons pas d’autre Dieu que ce m o i , dont j’ai tant parlé; si au contraire nous rapportons tout à Dieu, nous somme dans l’ordre; […]. – Vgl. Hegel: JacobiRezension, 29 (PLS 2,1.403 f.): So behauptet Jacobi durchaus, daß es das Uebernatürliche im Menschen ist, das Gott offenbart, S. 424. [JWA 3.117,3 f.] das höchste Wesen i n ihm, was von einem Allerhöchsten außer ihm zeugt; der Geist i n ihm allein von einem Gott; (S. 325) [JWA 3.65,23] diese Majestät i m Menschen wird auch, wie oben angeführt, seine göttliche Natur genannt. – Somit ist es selbst gesagt, daß Gott eben so sehr n i c h t a u ß e r mir ist, denn was wäre das gottverlassene Göttliche in mir? nicht einmal d a s G o t t , wie Jacobi geistreich den bewußtlosen Naturgott nennt; – auch nicht das B ö s e , denn dies Göttliche in mir ist der heilige Zeuge von Gott. Mit der Idee des Geistes, als dieses Zeugen in mir, wird man auch den Hauptsatz im B r i e f e a n F i c h t e nicht übereinstimmend finden können, der S. 49 so ausgedrückt ist: »Gott ist, und ist a u ß e r mir, ein l e b e n d i g e s , f ü r s i c h b e s t e h e n d e s W e s e n , oder I c h b i n G o t t . E s g i b t k e i n D r i t t e s .« Man wird diesen Gegensatz vielmehr als dem ganzen übrigen Sinn Jacobi’s widersprechend ansehen können […]. 220,31–32 d a ß i c h n i c h t … Ichheit.] Vgl. Ex 20,3 und Dtn 4,35; 32,39 u. ö. sowie J.s Kladdennotiz VI,811 (Schneider: Denkbücher, 214 f.): Das Erste Gebot der Kantischen Philosophie ist: Du sollst keine andre Götter | haben neben Deinem Ich. 221,14 meinen Aberglauben – Atheismus nennen;] S. K. zu 210,35–211,2. 221,17–18 in Ihrer Appellation (S. 61 und 62)] Fichte: Appellation an das Publikum, 61 f. (GA I,5.435,21–27). 221,25–26 Der lebendige … L i p p e n .] Is 6,7; 29,13; vgl. oben 216,12–16 sowie die folgende Anm. 221,28–34 ob ich … betrüge.] Dieser Einschätzung widerspricht Fichte im Brief an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.180,8–16 (PLS 2,1.64): Daß er sich arger Verdrehungen, obwohl er sie nicht erfunden, dennoch theilhaftig macht. Ich hätte keinen lebendigen und kräftigen Gott, mein Gott sey durch und durch Begriff. – So etwas wundert mich nicht von Heusingern [s. K. zu 192,17–18], wohl aber von Jacobi. Daß moralische Weltordnung nicht nothwendig ordo ordinatus (wie alle meine Recensenten und Gegner, mit dem schon gefaßten Vorsatze, mich zum Atheisten zu erklären, mich verstanden haben), sondern auch wohl ordo ordinans seyn könnte, zu vermuthen, war vom Erklärer des Spinoza zu erwarten; und daß sie es seyn mußte, mußte der Zusammenhang und

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einige Bekanntschaft mit meinem Systeme lehren. – Fichte bezieht sich hierauf auch in Aus einem PrivatSchreiben (im Jänner 1800.), in Philosophisches Journal IX,4 (i. e. 8. Heft des Jahrgangs 1798), 358–390, Zitat 364 f. (GA I,6.373,1–15): es wundert mich seitdem nicht im mindesten mehr, nicht nur bei den geringsten unter den philosophischen Recensenten und Gelegenheitsschriftlern, sondern sogar bei Männern, die unstreitig in die innersten Tiefen der Speculation eingedrungen sind, zu lesen, daß ich – einen lebendigen, kräftigen, und thä tigen Gott läugne (unerachtet meine Worte S. 15 [sc. Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung (GA I,5.354,25)] ausdrücklich lauten: Jene lebendige und w i r k e n d e | moralische Ordnung ist Gott,) daß mein Gott d u r c h und-durch-Begriff sey, u. dergl. / Mit diesem Misverständnisse verhält es sich nun so. Jene haben zum nächsten Gegenstande ihres Philosophirens nichts denn Begriffe, fertig vorhandne, und in sich todte Begriffe; und was sie Philosophiren nennen, ist, wenn es hoch kommt, ein Entwickeln dieser Begriffe. Sie hören das Wort O r d n u n g nennen. Nun – diesen Ausdruck verstehen sie wohl. Er bedeutet ein gemachtes schon fertiges – bestimmtes Nebeneinanderseyn, und Nacheinanderseyn eines Mannichfaltigen […]. – S. ferner Fichtes Entwurf einer Antwort auf JF (ca. 1806– 1807), GA II,11.43,16–24: Moralische Weltordnung – oder wenn man sich an das Wort Ordnung, als ordo ordinans absolute, eo quo ipse creans[,] nicht gewöhnen kann, Princip .. Allerdings i s t , existirt, Gott nur als solche, u es ist uns durchaus kein anderes Mittel gegeben ihn, im Begriffe, so daß dieser nicht leer sey, zu erfaßen, oder wirklich in ihm, mit ihm vereinigt, zu leben, außer hierin: darin ein zu ordnendes, ein ordnendes, Sphären dieser Ordnung: . Er existirt nicht, als Natur, oder als ein System von Ichen, denn diese insgesammt existiren nicht eigentlich, nicht in jener Ordnung, u. zufolge derselben, sondern nur in der Erscheinung derselben, u. zufolge ihrer ewigen Erscheinbarkeit. 222,25–27 Oede … z u s t r e u e n .] Vgl. Ps 107,33 f. sowie die alttestamentlich-kultische Vorschrift Lev. 6,9 f. u. a., am Ort des Heiligen kein Salz zu verwenden. 222,29–33 »Nicht … Allgemeine ist.«] J. wiederholt das Zitat in Beylage III, oben 238,18–21, sowie in GD, JWA 3.53,27–30. – Zum Zusammenhang von GD und JF s. K. zu 238,1–240,12. 223,2 alte Betheurung … l e b e n d i g e n G o t t !] Mt 26,63; Mt 16,16. 223,11 gesunkenen Altäre des … Wahren] Vgl. Fichtes ironische Wendung in der Appellation an das Publikum, 14 (GA I,5.419,31–32): dann stehen die Thronen fest, die Altäre wanken nicht […]. 223,18 meine Unwißenheitslehre,] Vgl. K. zu 192,5–7. 223,30 Opinionum … confirmat.] Cicero: De natura deorum II,2, § 5. In Cicero: Opera IV.513. 223,32–37 Quid est … decet?] Cicero: De legibus II,7 § 16. Ib. 764 f.

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224,1–5 »Was für eine … der es hat.«] Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in Philosophisches Journal V,1 (1797), 25 (GA I,4. 195,15–18). – Es entgeht J., daß Fichte hier einen Gedanken Schellings aufgreift, ihn in der Folge jedoch kritisiert. – S. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, II,3.177–203 und III,3.173–239, Zitat 187 (AA I,3.75,13–16): Das Problem der Entscheidung zwischen Dogmatismus und Kriticismus könne nicht theoretisch, sondern nur praktisch, d. h. durch Freiheit gelöst werden. Es seien nur zwei Lösungen desselben möglich: Welche von beiden wir wählen, dies hängt von der Freiheit des Geistes ab, die wir uns selbst erworben haben. – Vgl. J.: Fliegende Blätter. 4. Abt., WW VI.239: Es giebt nur zwei von einander wesentlich verschiedene Philosophieen. Ich will sie Platonismus und Spinozismus nennen. Zwischen diesen beiden Geistern kann man wählen, d. h. man kann ergriffen werden von dem einen oder von dem andern, so daß man ihm allein anhangen, ihn allein für den Geist der Wahrheit halten muß. Was hier entscheidet, ist des Menschen ganzes Gemüth. Zwischen beiden sein Herz zu theilen ist unmöglich; noch unmöglicher, sie wirklich zu vereinigen. Wo der Schein des letzteren entsteht, da betrügt die Sprache, da ist Doppelzüngigkeit. – Vgl. oben 194,35–38. 224,7 vorher geht und folgt (S. 23–26.)] J. bezieht sich auf Fichtes Kontrastierung des Dogmatikers und des Idealisten, in Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,1.23–26 (GA I,4.194,19–195,31). 224,19 vorhin schon angeführt;] S. oben 198,9–14. 224,27–28 Vergelten Sie … lieber Fichte,] Fichte plante unmittelbar nach Erhalt des ursprünglichen Briefes, J. öffentlich zu antworten; s. seine Notizen vom Frühjahr 1799, GA II,5.194 f. – Am 13. Januar 1800, GA III,4.187, schrieb Fichte an seinen Verleger Cotta, er habe eine Menge Entwürfe angefangen; unter Nr 2 nennt er eine Antwort auf das viel Aufsehen erregende Jacobische Schreiben an mich […]. Meine Antwort wird nicht weniger Aufsehen erregen – ohngefähr ebenso stark (8. Bogen) oder auch ein wenig stärker. – Im folgenden ergab sich die Aussicht auf ein persönliches Gespräch über die philosophischen Differenzen, da Fichte J. anläßlich des Besuchs der Frau von Staël nach Berlin einlud, s. 31. März 1804, GA III,5.236,1–5: Wird mein lange gehegter, inniger Wunsch, mit Ihnen einmal von Mund zu Mund, und Auge zu Auge zu leben, erfüllt, so werden die Verschiedenheiten in unsern philosophischen Ansichten, welche durch Ihre letztern Aeußerungen und durch mein neues fünfjähriges Spekuliren einander keineswegs sich genähert haben, wahrscheinlich verschwinden. – Das Treffen kam nicht zustande, da Fichte bei J.s Ankunft in Berlin im Frühjahr 1805 seine Professur in Erlangen angetreten hatte; vgl. Fichte an J., 5. Mai 1806, GA III,5.354. – Erst 1807, nachdem Fichte vor den Kriegswirren nach Kopenhagen geflohen war, nahm er den Plan einer öffentlichen Antwort an J. erneut auf; sie sollte in einer allein von ihm bearbeiteten Zeitschrift Zur Geschichte des wißenschaftlichen Geistes zu Anfange des 19ten Jahrhunderts publiziert werden; s. den Entwurf, GA II,11.43,1 f.: Zu dem Gedanken eine philosophische Zeitschrift zu verfaßen, und diese mit einer Beantwortung des Jacobischen

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Schreibens von 99. anzufangen. – Weitere Bruchstücke einer Antwort an J. finden sich sowohl in dem um 1807 entstandenen Fragment einer Auseinandersetzung Fichtes mit dem Kopenhagener Philosophen Niels Trescho in Form einer ausführlichen Anmerkung zu JF, GA II,11.51–59, als auch in einem nur in der Veröffentlichung und vielleicht auch Überarbeitung durch Fichtes Sohn, Immanuel Hermann Fichte (SW 3.390–394), vorliegenden Fragment, GA II,11.63–63 (zit. im K. zu 236,14–17). – Auch Fichtes letzter Brief an J., 3. Mai 1810, GA III,6.328, kommt zurück auf Ihr gedrucktes Schreiben, zu dessen Erwägung ich von Zeit zu Zeit zurückkehre, auf welches auch öffentlich, wiewohl spät, zu antworten, ich mir oft vorgenommen, aber immer verhindert worden […]. Vielleicht wird dieser Vorsatz doch noch einmal ausgeführt. – Eine ausführliche Auseinandersetzung mit J. findet sich in Fichtes Wissenschaftslehre (1804 2); s. Copia. Wiederholung der Wissenschaftslehre. 28 Vorlesungen 1804. X. und XVIII. Vortrag, GA II,8.142/143–146/147 und 282/283–286/287 (s. K. zu 215,11) sowie in dem Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben (1806/07), GA II,10.21–65. – Fichte nimmt auch gelegentlich Bezug auf JF in Aus einem Privatschreiben (im Jänner 1800.), 358– 390 (GA I,6.369–389) (vgl. K. zu 221,28–34), sowie in Transzendentale Logik (1812), SW IX.121 f., und Staatslehre (1813), SW IV.485, 490 (noch nicht in GA ediert.) 229,1 Beylage I.] Der Text ist – mit Ausnahme der Fußnote – entnommen aus LS2, Beylage VII, JWA 1.248,34–249,31 und 258,17–39. – Vgl. J. an Kleuker, 29. Mai 1789, Ratjen, 133: Ich halte aber die VIIte Beylage für das beste und erheblichste in dieser neuen Auflage. Wenn ich in dieser Abhandlung Recht habe, so ist ein großer Schritt vorwärts gethan. – J. an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 233, über die Beilagen in LS2: Kant scheint sich über die IV. und V. am mehrsten gefreut zu haben und findet sie über alle Maßen gründlich. Sonst höre ich immer nur von der VII., die ich selbst, als Werk des Geistes betrachtet, für den vorzüglichsten unter meinen philosophischen Aufsätzen halte. – Jean Paul an J., 3. Dezember 1798, ABW II.263 f.: O guter Jacobi, wie leicht rettete ich mich durch alle kritische und Fichtische Strudel bloß mit Ihrem Ruder! Schon die einzige VIIte Beilage in Ihrem ewigen Spinoza ist die Rechtfertigung, der Inbegriff, die Auf|lösung und das Gegengift der ganzen Kantischen Vernunft-Critik. 229,2–9 »Das Prinzip … solches Wesen.«] LS2, JWA 1.248,34– 249,5. 229,10–26 »Vollkommnere … Vermögens aus …«] LS2, JWA 1.249,14–31. 229,27–231,3 »Wir begreifen … gewinnen müßen.«] LS2, JWA 1.258,17–39. 230,18–26 Ich merke … zugeschrieben wird.] S. JF, oben 207,32– 33. 230,27–40 »Man kann … verrichtet.«] KpV A 173 f. (AA V.97); vgl. 2 LS , JWA 1.26,2–27,4.

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230,35 Automaton] Zusatz J.s. 232,1 Beylage II.] Zu J.s Hochschätzung dieser Beilage s. VE, oben 424,33–425,4. 232,2–3 »H a t d e r M e n s c h … d e n M e n s c h e n ?«] Selbstzitat aus LS 2, JWA 1.259,29 f.. – Vgl. die analoge Satzbildung in [Lessing:] Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer. Wolfenbüttel 1778, Zweytes Gespräch, LM 13.352: [Falk:] Glaubst du, daß die Menschen für die Staaten erschaffen werden? Oder daß die Staaten für die Menschen sind? 232,9–12 »Die Tugend … b e s i t z e .«] Kant: Die Metaphysik der Sitten. 2 T. Königsberg 1797 (KJB 857), T. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 47 (AA VI.406,9–11). 232,17–28 »Versteht man … angenommen hat.«] LS2, JWA 1.259, 31–260,4. 232,29–233,37 »Eine solche … Creatur ist.«] Dieser als Zitat gekennzeichnete Text ist nicht in LS enthalten; vgl. aber oben 234,20–24. 234,20–23 Die Vereinigung … Geheimniß.] Vgl. KpV A 10 (AA V.6) FN und J. an Kant, 16. November 1789, AA XI.104,7–27: Ich behaupte nehmlich eine dem Menschen eben so evidente als unbegreiffliche Verknüpfung des Sinnlichen mit einem Uebersinnlichen, des Natürlichen mit einem Uebernatürlichen, welche, so bald sie als gewiß vorhanden wahrgenommen und erkannt ist, dem anscheinenden Widerspruche der Vernunft mit sich selbst eine befriedigende Auflösung verschafft. Wie sich das Bedingte auf ein erstes Unbedingtes; wie sich jede Empfindung auf eine reine Vernunft, auf E t w a s d a s s e i n L e b e n i n s i c h s e l b s t hat, zuletzt bezieht: so bezieht aller Mechanismus sich zuletzt auf ein nicht mechanisches Prinzip der Aeußerung und Verkettung seiner Kräfte; alles Zusammengesetzte auf ein Nichtzusammengesetztes der Unzertrennlichkeit; alles nach Gesetzen physischer Nothwendigkeit erfolgendes auf etwas Nichterfolgtes, ursprünglich handelndes, Freyes; Universalia auf Particularia; Individualität auf Person. Und es entspringen diese Erkenntniße, nach meiner Meynung aus der unmittelbaren Anschauung, welche das vernünftige Wesen von sich selbst, von seinem Zusammenhange mit dem Urwesen, und einer Abhängigen Welt hat. Bey der Frage, ob diese Erkenntniße wirkliche oder nur eingebildete Erkenntniße sind; ob ihnen Wahrheit, oder Unwißenheit und Täuschung entspreche, wird die Verschiedenheit zwischen Ihrer Theorie und meiner Ueberzeugung auffallend. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 192,5–7.) 234,39–40 Bouterweks … Th. I. S. 168–178.] Friedrich Bouterwek: Lehrbuch der philosophischen Wissenschaften nach einem neuen System entworfen. 2 T. Göttingen 1813 (KJB 581), T. 1.168–178. 235,29–236,4 Wer nun … zu streiten.] Diesen Einwand erhebt J. bes. gegen die Philosophie Spinozas; s. seinen Dialog mit Lessing, LS, JWA 1.20,24–21,23, und das fiktive Streitgespräch zwischen Spinoza und Hemsterhuis’ Aristée in LS, JWA 1.80,20–84,19. 236,6–13 daß er … im Sinne habe.] Fichte weist diesen Einwand zurück; s. seine Aufzeichnung zu JF (ca. 1807), GA II,11.64,5–16 (PLS

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2,1.44) (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 236,14–17): Ich würde eben gut thun, J a c o b i ’ s Sätze einzeln durchzugehen, z. B. was er von der Freiheit sagt: Wer sie läugne, komme auf eine unbestimmte Aktuosität und Agilität a n s i c h . Dies hängt zusammen mit der Frage, die ich eben thun wollte, daß, wenn die Anschauung sich bricht, individualisirt, sie doch in die Zeitform selbst zu fallen scheine. – Da muß ich meinen Standpunkt wahrhaft über der Zeit nehmen; – wie gewinne ich den? – Z e i t , I c h , und die ganze mit ihm eintretende Synthesis von Gliedern liegt im Verstande, in dem Durch, das nun absolut unendlich ist; und in den Verstand, d. h. seine absolute Form, tritt das Reale, das göttliche Leben ein. In dieser höchsten Ursynthesis ist die Einheit zugleich die Totalität und Unendlichkeit. Fasse ich jene Einheit, fasse ich zugleich das Princip der Fakticität, so ist jene Frage gelöst. – Vgl. Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.182,9–24 (PLS 2,1.65 f.): Jacobi sagt, daß er über den Begriff von Freiheit u. s. w. mit mir schwerlich eins werden werde, und erklärt sich in der Beilage so, als ob er mich im Verdachte hätte, ein heimlicher Abläugner der Freiheit zu seyn. In Hinsicht des Letzteren hat es nun mit mir wohl keine Gefahr. Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit und es kann in ihm diesem nicht widersprochen werden, indem gar kein anderes Ingrediens hineinkommt. Aber ich fürchte aus dieser und allen Aeußerungen, die ich bei Jacobi noch je über Freiheit gefunden, daß Er selbst es sey, der die eigentliche persönliche Freiheit des endlichen Wesens läugnet, um alle Thätigkeit in diesem auf den Unendlichen, als den letzten Grund derselben, zu übertragen (wie ich auch in Ihrem gedruckten Schreiben an mich die dahin wenigstens zu deutende Aeußerung finde: Gott sey der Grund der Freiheit.) [Reinhold: Sendschreiben an Lavater und Fichte (s. K. zu 193,18–19), 103] Ist diese Vermuthung Wahrheit, – wie sie denn auch durch das Jacobische Ausgehen vom Seyn, jetzt vom Wahren, im Gegensatz der Wahrheit, bestärkt wird – so habe ich bis zu dieser Voraussetzung Jacobi mißverstanden, kann erst nun mir alle seine sonderbar geschienenen Aeußerungen erklären […]. (Fortsetzung des Zitats in der folgenden Anm.) 236,14–17 Hat er … widerlegen.] Fichte an Reinhold, 8. Januar 1800, GA III,4.182,26–183,6 (PLS 2,1.66): Zu überzeugen ist ein Solcher nicht, gleichfalls nach Jacobi’s Geständniß; denn das Bewußtseyn der persönlichen Freiheit kann man nur in sich selbst finden und die Realität desselben nur glauben. Zu peinigen ist er, wie jeder Dogmatiker; denn ohne Voraussetzung der Freiheit ist das Bewußtseyn sogar nicht begreiflich. Ein solches System ist Spinozism. Mysticism, – wenn es etwa die Bibel als Gotteswort annimmt, Lavaterianism […]. – Zum Verdacht des Lavaterianismus s. K. zu 119,18–20 und 119,29–31. – Das von J. aufgeworfene Problem beschäftigt Fichte auch in den folgenden Fassungen seiner Wissenschaftslehre und in seiner Aufzeichnung zu JF (1807?), GA II,11.63,1–64,4: Mit Jacobi kann durchaus nur der jetzt in Untersuchung befindliche Punkt über den eigentlichen Beginn des Ich mich in’s Reine bringen, und ich müßte diesen mit höchster Deutlichkeit erst gefaßt haben. / Erläutert wird dies

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durch die Freiheit. Die absolute Freiheit ist das absolute Erscheinen. Die Freiheit der Freiheit ist und bleibt in allen Dingen nur ein H i n g e b e n an das sie ergreifende R e a l e der absoluten Erscheinung. – Was ist nun das sich Hingebende? Antwort: Es ist gar nichts W a h r e s , sondern es liegt lediglich in der Anschauung, und ist nicht an sich. Kannst du dies deutlich machen, so ist hier und dort Alles gewonnen. Auch ist der Gedanke in dieser Weise neu. / J a c o b i ’ s Mißverständniß liegt darin: 1) daß er ein wirkliches, substantielles Ich voraussetzt, in das er die Absolutheit nicht gelegt wissen will, und meint, ich lege sie darein. 2) Daß er meint, durch die Philosophie solle ein neues Leben erlebt werden, oder daß sie glaube, das Reale a priori herleiten zu können u. dgl., und da er d i e s nicht in ihr findet, sie des Nihilismus bezüchtigt. Darüber habe ich mich in dem sonnenklaren Berichte deutlich genug ausgesprochen. [s. K. zu 291,7] / Wie fasse ich nun das Erste, um die Erscheinung nicht in die Z e i t zu bringen, und den Begriff der Freiheit recht scharf zu fassen? –So wäre es gefaßt: die Anschauungsform selber setzt das Ich mit seiner ganzen Freiheit hin. In ihr schwimmt es mit allen seinen Prädikaten, mit seinem Sichhingeben, seiner Besinnung u. s. w. | Dies noch deutlicher: das Ich ist niemals G r u n d der Anschauung, wie es scheint, sondern es erscheint nur also in der Form der sich brechenden E i n e n Anschauung. In dieser Einen ist keine Zeit und kein Wandel; nur in der mit dem Ich wechselwirkenden ist derselbe nach ableitbaren Anschauungsgesetzen. – Gut. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 236,6–13). – Fichte nimmt diese Differenz mit J. noch einmal auf in dem Fragment zu JF aus der Kopenhagener Zeit (1807), GA II,11.53,5– 13: Eben dieses Schweben in der logischen Tiefe macht diesen Streit schwierig / In ihr liegt ferner das Vorstellen, oder das Bild, der Begriff, als V o r b i l d eines Seyns –.) / NB. Dieses leztere macht nun den höhern Begriff von der Freiheit durchaus klar, so wie es in unsre ganze Untersuchung ein unerwartetes Licht bringt, den Idealismus erst recht befestigt. Nemlich das Leben erscheint unmittelbar gar nicht, als ein Seyn das da i s t , (gegen die NaturPhilosophie entscheidend) sondern als ein solches das da seyn soll. daher eben, wenn es i s t , ein anderes seyn sollendes eintritt, u. so ins Unendliche. 237,19–20 weinen würde … sähe.] J. spielt wohl an auf Fichtes Begriff des unendlichen Strebens; s. etwa Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 254–257 (GA I,2.402 f.). Fichte kommentiert in seinem Entwurf einer Antwort, GA II,11.46,8–16: »weinen würde, wie Alexander« [:] so giebt es überhaupt keine D u r c h = u . d u r c h K l a r h e i t , u. so keine Wißenschaft.! / Da entsteht wieder eine Schöpfung aus Nichts: Klarheit, aus Dunkelheit. Wo ist denn derUebergang. Auch ist Freiheit dadurch vernichtet. Denn Dunkelheit ist ein Wißen, das unter mechanischen Gesetzen steht. Kein Mensch ist f r e i : der nicht klar ist: nicht einmal praktisch: sondern es ist da der Instinkt: nur die Klarheit löst ihn, ohne dadurch das absolute gegebenseyn aufzuheben. Wie es denn in der That i m L e b e n keine durch u. durch Klarheit giebt, u. der Mensch da in keinem Sinne frei ist.

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237,26 entwickelte sich … lauter Tod.] Vgl. J.s Kladdennotiz IV,331 (Schneider: Denkbücher, 276): Die reine Vernunft ist der Tod alles wirklichen Daseyns; aller Veränderung, folglich alles Wirkens. 237,34–35 der Wißenschaft unzugängliche Ort des Wahren] Vgl. oben 192,7. 237,35–36 »Ziehe … h e i l i g e s L a n d !«] Ex 3,5. 238,1–240,12 Beylage III. … nicht gedeyen.««] Beylage III entstammt dem Entwurf zu einer Rezension von Matthias Claudius: Sämmtliche Werke, der später in GD eingegangen ist; s. JWA 3.53,15–55,15. Diese Fassung weist gegenüber der hier vorliegenden einige Änderungen auf; es läßt sich nicht entscheiden, welche Fassung die ursprüngliche sei. – Zur Entstehungsgeschichte dieses Textes im ursprünglichen Zusammenhang von GD, JF und UK s. GD, Nothwendiger Vorbericht, JWA 3.3–6, sowie den Editorischen Bericht, JWA 3.189 f. 238,2 im Text angeführte Stelle] S. oben 222,29–33. 238,5 »Wie der Mensch … ist er.] Diesen Satz hat J. nicht in GD aufgenommen. Vergleichbare Satzkonstruktionen verwendet Lavater: Vermischte unphysiognomische Regeln zur Menschen- und Selbstkenntniß. o.O. 1788 (KJB 906), 39: 75. / Wie einer frägt, so bittet er; Wie einer antwortet, so giebt er. / 76. / Wie einer schweigen kann, so duldet er, wie einer spricht, so wirkt er. – 52: 106. / Wie der Mensch liebt, so lebt er; […]. – In der Vorrede zu WW III, JWA 3.139,14, bezieht J. sich auf diese Wendungen. 238,23–24 Botenmann zu Wandsbeck … Asmus] Matthias Claudius: Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbekker Bothen, VIII Teile: T. I–II: Hamburg und Wandsbeck 1775, T. III– VII: Beym Verfasser, und in Commission bey Friedrich Perthes in Hamburg o. J. (1777, 1782, 1789, 1797, 1802); T. VIII: Zugabe zu den Sämmtlichen Werken des Wandsbecker Bothen, oder Achter Theil. Wandsbeck 1812: Beym Verfasser (KJB 3625). Dieses Sammelwerk ging u. a. hervor aus der viermal wöchentlich erscheinenden, von dem Hamburger Verleger Bode gegründeten Zeitung Der Wandsbecker Bothe, deren Herausgeber Claudius vier Jahre war. 238,24–34 wie er … d a b e y .«] In der Parallelstelle GD, JWA 3.53,31–54,2, verweist J. auf Th. I. S. 20, sc. Claudius: Sämmtliche Werke, Bd 1.20: Eine Chria, darin ich von meinem Academischen Leben und Wandel Nachricht gebe. 238,35–239,7 Ein andermal, … großen Geist.«] In der Parallelstelle GD, JWA 3.54,3–12, verweist J. auf Th. IV. S. 135, sc. auf Claudius: Sämmtliche Werke, Bd 4.135: Kleine Geschichtchen. – Vgl. J. an Reinhold, 28. Januar 1800, RLW 250: Jean Paul schrieb mir am 23. Decbr: »Fichte antwortet Ihnen öffentlich und ich wollte schwören, er bringt sein altes Wunschhütlein wieder in seinen Kopf, nämlich die Frage – (womit er die Realität des Nicht-Ichs zersetzt) –: Wo denn anders jenes Wahre und das Streben darnach sey, als wieder im Fragenden, weil der sonst keiner seyn könnte. So gegen Ihren Abscheu vor dem Philosophen, der neben

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dem anbetenden Wilden sich anbetet, wird er mit seinen un- und endlichen Ichs ausziehen.« 239,19–20 Dieser wettet nicht auf seinen Begriff,] J. spielt an auf Pascals Gedanken der Wette, der die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf den Gottesbeweis und die Zukunft des Lebens anwendet: Blaise Pascal: Pensées, Art. VII,2, Bd 2.45–48 (vgl. Brunschvicg XIII.141–153, Fr. 233): Nous connoissons qu’il y a un infini, & ignorons sa nature. [..|.] La raison, direz-vous, n’y peut rien déterminer. Il y a un cahos infini qui nous sépare. Il se joue un jeu à cette distance infinie, où il arrivera croix ou pile. Que gagnerez-vous? Par raison vous ne pouvez assurer ni l’un ni l’autre; par raison vous ne pouvez nier aucun des deux. / Ne blâmez donc pas de fausseté ceux qui ont fait un choix; car vous ne sçavez pas s’ils ont tort, & s’ils ont mal choisie. Non, direz-vous; mais je les blâmerai d’avoir fait, non ce choix, mais un choix, & celui qui prend croix, & celui qui prend pile, ont tous deux tort: le juste est de ne point parier. / Oui ; mais il faut parier; cela n’est pas volontaire; vous êtes embarqué; & ne parier point que Dieu est, c’est parier qu’il n’est pas. Lequel prendrez-vous donc? Pesons le gain & la perte en prenant le parti de croire que Dieu est. Si vous gagnez, vous gagnez tout; si vous perdez, vous ne perdez rien. Pariez donc qu’il est sans hésiter. Oui, il faut gager. Mais je gage peut-être trop. Voyons: puisqu’il y a pareil hazard de gain & de perte, quand vous n’auriez que deux vies à gagner pour une, vous pourriez encore gager. Et s’il y en avoit dix | à gagner, vous seriez imprudent de ne pas hazarder votre vie pour en gagner dix à un jeu où il y a pareil hazard de perte & de gain. Mais il y a ici une infinité de vies infiniment heureuse à gagner avec pareil hazard de perte & de gain, & ce que vous jouez est si peu de chose & de si peu de durée, qu’il y a de la folie à le ménager en cette occasion. / Car il ne sert de rien de dire qu’il est incertain si on gagnera, & qu’il est certain qu’on hazarde; & que l’infinie distance qui est entre la certitude de ce qu’on expose & l’incertitude de ce que l’on gagnera, égale le bien fini qu’on expose certainement, à l’infini qui est incertain. Cela n’est pas ainsi: tout joueur hazarde avec certitude, pour gagner avec incertitude, & néanmoins il hazarde certainement le fini pour gagner incertainement le fini, sans pécher contre la raison. Il n’y a pas infinité de distance entre cette certitude de ce qu’on expose & l’incertitude du gain; cela est faux. Il y a à la vérité infinité entre la certitude de gagner & la certitude de perdre. Mais l’incertitude de gagner est proportionnée à la certitude de ce qu’on hazarde, selon la proportion des hazards de gain & de perte: & delà vient que s’il y a autant de hazard d’un côté que de l’autre, le parti est a jouer égal contre égal; & alors la certitude de ce | qu’on expose est égale à l’incertitude du gain, tant s’en faut qu’elle en soit infiniment distante. Et ainsi notre proposition est dans une force infinie, quand il n’y a que le fini à hazarder à un jeu où il y a pareils hazards de gain que de perte, & l’infini à gagner. Cela est demonstratif, & si les hommes sont capables de quelques vérités, ils doivent l’être de celle-la. 239,20 dieser Begriff ist überschwenglich,] S. u. a. KrV B XXX, KU A 457 (AA V.468).

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239,36–240,4 »Vetter!« … nicht voll.«] In der Parallelstelle GD, JWA 3.55,1–7, verweist J. auf Th. IV. S. 215, i. e. Claudius: Sämmtliche Werke, Bd 4.215; s. jedoch Bd. 4.198 f.: Passe-Tems zwischen mir und meinem Vetter in der Schneiderstunde (Twilight). 240,5–12 Und noch einmal … gedeyen.««] In der Parallelstelle GD, JWA 3.55,8–15, verweist J. auf ib. Th. I. S. 21, i. e. Eine Chria, darin ich von meinem Academischen Leben und Wandel Nachricht gebe. 243,1–252,12 1. Ueber die Freyheit … Unsterblichkeit.] J. zitiert mit geringen Änderungen aus LS2. In LS3 stellt er den Text unter den Titel Vorbereitende Sätze / über / Gebundenheit und Freyheit / des Menschen, mit einer einleitenden Notiz zur Geschichte dieser Abhandlung; s. JWA 1.158,1–169,2. – Die Abhandlung steht im Zusammenhang mit dem (verschollenen) Brief J.s an Joseph Nicolaus Graf Windisch-Graetz vom 30. November 1788 sowie mit zwei im Jahre 1788 erschienenen Schriften des Grafen; s. den Editorischen Bericht, JWA 1.371 FN 39 und 40. – Bereits die thetisch-antithetische Einteilung der Abhandlung analog zu Kants Drittem Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft (KrV B 472 f.) deutet an, daß J. sich hier mit dem Freiheitsverständnis des transzendentalen Kritizismus auseinandersetzt; dies bestätigt die Kladdennotiz VIII,261 (Schneider: Denkbücher, 226): In der zweiten Kl. zum Br. an Fichte No 11. S 4 u No 2 S 1 u 2 – nicht zu vergeßende Bemerkungen über die Kantische Freyheitslehre. – Die Kantische Freyheit ist das radicale Böse. – J. bezieht sich auf Kant: Ueber das radicale Böse in der menschlichen Natur, in Berlinische Monatsschrift 19 (April 1792), 323–385, übernommen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg 11793, 1. St., 3–58 (AA VI.19–53). – Vgl. K. zu 327,30–33. 249,11 Il est donc des remords!] Voltaire: Mahomet. Bruxelles 1742, bzw. Le fanatisme ou Mahomet le Prophète. Amsterdam 1743; 5. Akt, 4. Szene: Schlußrede des Mahomet in Collection complette des Œuvres, Bd 3.184. – Voltaires im 18. Jh. viel bewundertes und von Goethe (KJB 3414) übersetztes Stück galt im Sinne der Aufklärung als Manifest der Geistesfreiheit gegen religiösen Fanatismus und geistige Intoleranz. Der von J. zitierte Ausspruch bezieht sich darauf, daß der als Prophet verehrte Mohammed als skrupelloser Massenverführer auftritt, der einen Unschuldigen im Namen der Gottheit zum Mörder werden läßt. 250,31–32 Reine Liebe? … ihren Gegenstand?] S. J.s Auseinandersetzung mit der Cartesianischen Affektenlehre im Zusammenhang mit Fénelons Gedanken des pur amour (s. K. zu 217,1–218,1) in Woldemar (1794), 240: Freyheit ist der Tugend W u r z e l ; und Freyheit ist der Tugend Frucht. Sie ist die r e i n e Liebe des Guten, und die A l l m a c h t dieser Liebe. – Zur cartesianischen Affektenlehre s. J. an J. A. H. Reimarus, 23. Oktober 1781, JBW I,2.357,7–358,3, sowie An Schlosser über dessen Fortsetzung des platonischen Gastmahles, WW VI.[63]–81, bes. die Bruchstücke der Fortsetzung, WW VI.[82]–94. 250,37 Eth. P. IV. Pr. LXXII.] Spinoza: Ethica IV, prop. 72, Opera posthuma, 220 (Gb II.264,11): Homo liber nunquam dolo malo; sed semper cum fide agit.

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251,2 das veion] Plato: Apologia Socratis, 31c–d; Euthyphro, 3b; Respublica, 496c; Phaedrus, 242b–c; Theaetet, 151a; Euthydemus, 272e; Phaedo, 99d. 252,14–16 Aus Allwills Briefsammlung … die Anmerkung.] Allwills Briefsammlung (1792), XVI–XIX (WW I.XIVf.) FN. – Auf diese Vorrede und einige Textpassagen aus dem Allwill als Schlüsseltext zu seinen Werken verweist J. auch im Vorbericht zu WW IV, JWA 1.335,27–33 und 337 FN. – Vgl. K. zu 200,8–13. 253,2 A f f e c t der Vernunft.] Spinoza: Ethica V, prop. 7, cum demonstr., Opera posthuma, 241 sq. (Gb II.285,4–6, 285,26–286,2): Affectûs, qui ex ratione oriuntur, vel excitantur, si ratio temporis habeatur, potentiores sunt iis, qui ad res singulares referuntur, quas ut absentes contemplamur. – demonstr.: affectus, qui ex ratione oritur, refertur necessariò ad communes rerum proprietates ([…]), quas semper ut præsentes contemplamur (nam nihil dari potest, quod earum præsentem existentiam secludat), & quas semper eodem modo imaginamur ([…]): Quare talis affectus idem semper manet, & consequenter ([…]) affectûs, qui eidem sunt contrarii, qui´que à suis causis externis non foventur, eidem magis magis´que sese accomodare debebunt, | donec non ampliùs sint contrarii, & eatenus affectus, qui ex ratione oritur, est potentior. 253,3 das H e r z der bloßen Vernunft] S. JF, oben 212,10.32 und K. zu 212,24–26. 253,16–255,23 So wenig … abdrücken konnte.«] Allwills Briefsammlung (1792), 295–300 (WW I.236–240): Zugabe. An Erhard O**. (datiert: Den 28. Jänner 1791.). 253,22–27 Was die … entscheidet.] Vgl. J.s Erläuterung dieses Gedankens im Brief an J. A. H. Reimarus, 23. Oktober 1781, JBW I,2.357,12–23: Denn nicht unsre angenommene Meinung von der wahren Rangordnung menschlicher Begierden, bestimmt die Grade u Verhältniße ihrer Kräfte in unserem Individuo: sondern es werden diese Kräfte u diese Verhältniße durch die eigenen Eindrücke von den Gegenständen, mit denen Ideen die sie verursachen oder die sie zurück gelaßen haben, nach sich bis ins Unendliche verändernden Gesetzen bestimmt. Also nicht auf die Frage von der transscendentalen oder möglichen Rangordnung der Begierden im Menschen überhaupt: sondern auf ihre würkliche Rangordnung in jedwedem Menschen ins besondre kommt es an. Was wir uns einbilden von der transscendentalen oder möglichen; was wir etwa gar nur blindlings davon glauben: daran ist wenig gelegen, so allgemein auch das Gegentheil, wider die Erfahrung angenommen wird. 253,28–30 (welches … könnte)] J. spielt an auf ein Dictum Lessings; s. DH, oben 88,32–36. 254,8–12 da dem Menschen … läugnen kann.] Zur Lehre von der Macht der Meinung als Zentrum der individuellen Lebensenergie s. J.: Zufällige Ergießungen, Brief II (22. Februar 1793), in Die Horen, Bd 1, 8. St. (1795), 12–34 (WW I.267–296), bes. 16–19 (WW I.272–275). 254,12–18 Und wie … Verknüpfung.] Vgl. die Kladdennotiz

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IV,181 (Schneider: Denkbücher, 330 f.): Das Leben ist also nicht in der Empfindung, die für | sich allein kein Leben giebt, sondern in der Vorstellung. […] Das Leben entsteht also durch Reflexion und wird von uns selbst hervorgebracht. 254,19–26 Der Gegenstand … ihm gemäß.] J. orientiert sich an Spinozas Begriffen der conservatio sui bzw. des conatus in suo esse perseverandi als der auf die Selbsterhaltung gerichteten Triebnatur des Menschen; s. Ethica III, prop. 6–14; Ethica IV, prop. 3 ff.; Ethica V, prop. 36 in Verbindung mit Ethica III: Definitionen der Affekte, def. 25, sowie den Begriff des Einzelwesens als eines mit eigenem conatus versehenen Organismus, Ethica II, prop. 13, schol. und bes. Ethica III, prop. 7, Opera posthuma, 102 (Gb II.146,20 f.): Conatus quo unaquæque res in suo esse perseverare conatur, nihil est præter ipsius rei actualem essentiam. – Prop. 9, dem., Opera posthuma, 103 (Gb II.147,19–22): Mentis essentia ex ideis adæquatis, & inadæquatis constituitur, […] adeóque […] tam quatenus has, quàm quatenus illas habet, in suo esse perseverare conatur; id´que […] indefinitâ quâdam duratione. – Ferner Ethica III, prop. 9, schol., Opera posthuma, 103 (Gb II.147,27–148,8), und prop. 58, dem., ib. 144 (Gb II.188,2–6): Deinde Mens tam quatenus claras, & distinctas, quàm quatenus confusas habet ideas, in suo esse perseverare conatur: […] At per conatum Cupiditatem intelligimus; […] ergo Cupiditas ad nos refertur, etiam quatenus intelligimus, sive […] quatenus agimus. 254,38 TOTUM … NECESSE EST.] S. K. zu 50,2–3. 254,39–255,2 Aber kann … ohne z u ?] Vgl. die Vorstufe zu J.s Trieblehre in dem Kladdeneintrag IV,91 (Schneider: Denkbücher, 330): Da der Mensch aus lauter Bedürfnißen zusammengesetzt ist, so ist es unmöglich daß er allein auf seiner Form ruhe. Was kann das nichts für eine Form haben? Und außer allem Zusammenhange ist der Vernünftige Mensch nichts. Er muß durchaus mit Absicht, das ist, nach einem gewißen Intereße handeln. Ohne Besonnenheit ist kein vernünftiges Leben, u diese fodert u stiftet Zusammenhang. Allerdings ist also die Form der Vernunft das Objekt der Vnft; jede Natur strebt, sich selbst zu erhalten, das ist ihr Trieb. 255,26–257,2 Jezt erzählte … z u s e y n .«] [ohne Verfasserangabe] Woldemar. 2 T. Neue verbesserte Ausgabe. Königsberg 1796, T. 1.138–141 (WW V.118–121). 256,9–10 Trieb der Selbsterhaltung] Vgl. K. zu 254,19–26. 256,15–16 T ä u s c h u n g d u r c h B e g r i f f u n d W o r t] Zur Kritik an Täuschung und Betrug s. oben 207,13–14. 256,24 in Büffons schöner Dichtung] Buffon: Histoire naturelle, T. III. Paris 1749, 364-370 (im Original kursiv); Buffon erzählt hier die Selbstund Welterfahrung eines vollständig entwickelten Menschen im Augenblick seiner Schöpfung: Je me souviens de cet instant plein de joie & de trouble, où je sentis pour la première fois ma singulière existence; je ne savois ce que j’étois, où j’étois, d’où je venois. J’ouvris les yeux, quel surcroît de sensa-

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tion! la lumière, la voûte céleste, la verdure de la terre, le cristal des eaux, tout m’occupoit, m’animoit, & me donnoit un sentiment inexprimable de plaisir; je crus d’abord que tous ces objets étoient en moi & faisoient partie de moi-même. / Je m’affermissois dans cette pensée naissante lorsque je tournai les yeux vers l’astre de la lumière, son éclat me blessa; je fermai involontairement la paupière, & je sentis une légère douleur. Dans ce moment d’obscurité je crus avoir perdu presque tout mon être. / Affligé, saisi d’étonnement, je pensois à ce grand changement, | quand tout-à-coup j’entends des sons; le chant des oiseaux, le murmure des airs formoient un concert dont la douce impression me remuoit jusqu’au fond de l’ame; j’écoutai long-temps & je me persuadai bien-tôt que cette harmonie étoit moi. / Attentif, occupé tout entier de ce nouveau genre d’existence, j’oubliois déjà la lumière, cette autre partie de mon être que j’avois connue la première, lorsque je r’ouvris les yeux. Quelle joie de me retrouver en possession de tant d’objets brillans! mon plaisir surpassa tout ce que j’avois senti la première fois, & suspendit pour un temps le charmant effet des sons. / Je fixai mes regards sur mille objets divers, je m’aperçus bien-tôt que je pouvois perdre & retrouver ces objets, & que j’avois la puissance de détruire & de reproduire à mon gré cette belle partie de moi-même, & quoiqu’elle me parût immense en grandeur par la quantité des accidens de lumière & par la variété des couleurs, je crus reconnoître que tout étoit contenu dans une portion de mon être. / Je commençois à voir sans émotion & à entendre sans trouble, lorsqu’un air léger dont je sentis la fraîcheur, m’apporta des parfums qui me causèrent un épanouissement intime & me donnèrent un sentiment d’amour pour moi-même. / Agité par toutes ces sensations, pressé par les plaisirs d’une si belle & si grande existence, je me levai tout d’un coup, & je me sentis transporté par une force inconnue. / Je ne fis qu’un pas, la nouveauté de ma situation me rendit immobile, ma surprise fut extrême, je crus que mon existence fuyoit, le mouvement que j’avois fait avoit confondu les objets, je m’maginois que tout étoit en désorde. / | Je portai la main sur ma tête, je touchai mon front & mes yeux, je parcourus mon corps, ma main me parut être alors le principal organe de mon existence; ce que je sentois dans cette partie étoit si distinct & si complet, la jouissance m’en paroissoit si parfaite en comparaison du plaisir que m’avoient causé la lumière & les sons, que je m’attachai tout entier à cette partie solide de mon être, & je sentis que mes idées prenoient de la profondeur & de la réalité. / Tout ce que je touchois sur moi sembloit rendre à ma main sentiment pour sentiment, & chaque attouchement produisoit dans mon ame une double idée. / Je ne fus pas long-temps sans m’apercevoir que cette faculté de sentir étoit répandue dans toutes les parties de mon être, je reconnus bien-tôt les limites de mon existence qui m’avoit paru d’abord immense en étendue. / J’avois jeté les yeux sur mon corps, je le jugeois d’un volume énorme & si grand que tous les objets qui avoient frappé mes yeux, ne me paroissoient être en comparaison que des points lumineux. / Je m’examinai long-temps, je me regardois avec plaisir, je suivois ma main de l’oeil & j’observois ses mouve-

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ments; j’eus sur tout cela les idées les plus étranges, je croyois que le mouvement de ma main n’étoit qu’une espèce d’existence fugitive, une succession de choses semblables, je l’approchai de mes yeux, elle me parut alors plus grande que tout mon corps, & elle fit disparoître à ma vue un nombre infini d’objets. / Je commençai à soupçonner qu’il y avoit de l’illusion dans cette sensation qui me venoit par les yeux; j’avois vu distinc|tement que ma main n’étoit qu’une petite partie de mon corps, & je ne pouvois comprendre qu’elle fût augmentée au point de me paroître d’une grandeur démesurée, je résolus donc de ne me fier qu’au toucher qui ne m’avoit pas encore trompé, & d’être en garde sur toutes les autres façons de sentir & d’être. / Cette précaution me fut utile, je m’étois remis en mouvement & je marchois la tête haute & levée vers le ciel, je me heurtai légèrement contre un palmier; saisi d’effroi, je portai ma main sur ce corps étranger, je le jugeai tel qu’il ne me rendit pas sentiment pour sentiment; je me détournai avec une espèce d’horreur, & je connus pour la première fois qu’il y avoit quelque chose hors de moi. / Plus agité par cette nouvelle découverte que je ne l’avois été par toutes les autres, j’eus peine à me rassurer, & après avoir médité sur cet évènement je conclus que je devois juger des objets extérieurs comme j’avois jugé des parties de mon corps, & qu’il n’y avoit que le toucher qui pût m’assurer de leur existence. / Je cherchai donc à toucher tout ce que je voyois, je voulois toucher le soleil, j’étendois les bras pour embrasser l’horizon, & je ne trouvois que le vide des airs. / A chaque expérience que je tentois, je tombois de surprise en surprise, car tous les objets me paroissoient être également près de moi, & ce ne fut qu’après une infinité d’épreuves que j’appris à me servir de mes yeux pour guider ma main, & comme elle me donnoit des idées toutes differentes des impres|sions que je recevois par le sens de la vue, mes sensations n’étant pas d’accord entr’elles, mes jugemens n’en étoient que plus imparfaits, & le total de mon être n’étoit encore pour moi-même qu’une existence en confusion. / Profondément occupé de moi, de ce que j’étois, de ce que je pouvois être, les contrariétés que je venois d’éprouver m’humilièrent, plus je réfléchissois, plus il se présentoit de doutes; lassé de tant d’incertitudes, fatigué des mouvemens de mon ame, mes genoux fléchirent & je me trouvai dans une situation de repos. Cet état de tranquillité donna de nouvelles forces à mes sens, j’étois assis à l’ombre d’un bel arbre, des fruits d’une couleur vermeille descendoient en forme de grappe à la portée de ma main, je les touchai légèrement, aussi-tôt ils se séparèrent de la branche, comme la figue s’en sépare dans le temps de sa maturité. / J’avois saisi un de ces fruits, je m’imaginois avoir fait une conquête, & je me glorifiois de la faculté que je sentois, de pouvoir contenir dans ma main un autre être tout entier; sa pesanteur, quoique peu sensible, me parut une résistance animée que je me faisois un plaisir de vaincre. / J’avois approché ce fruit de mes yeux, j’en considérois la forme & les couleurs, une odeur délicieuse me le fit approcher davantage, il se trouva près de mes lèvres, je tirois à longues inspirations le parfum, & goûtois à longs traits les plaisirs de l’odorat; j’étois intérieurement rempli de cet air embaumé, ma bouche s’ouvrit

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pour l’exhaler, elle se rouvrit pour en reprendre, je sentis que je possédois un odorat | interieur plus fin, plus délicat encore que le premier, enfin je goûtai. / Quelle saveur! quelle nouveauté de sensation! jusque-là je n’avois eu que des plaisirs, le goût me donna le sentiment de la volupté, l’intimité de la jouissance fit naître l’idée de la possession, je crus que la substance de ce fruit étoit devenue la mienne, & que j’étois le maître de transformer les êtres. / Flatté de cette idée de puissance, incité par le plaisir que j’avois senti, je cueillis un second & un troisième fruit, & je ne me lassois pas d’exercer ma main pour satisfaire mon goût; mais une langeur agréable s’emparant peu à peu de tous mes sens, appésantit mes membres & suspendit l’activité de mon ame; je jugeai de son inaction par la mollesse de mes pensées, mes sensations émoussées arrondissoient tous les objets & ne me présentoient que des images foibles & mal terminées; dans cet instant mes yeux devenus inutiles se fermèrent, & ma tête n’étant plus soutenue par la force des muscles, pencha pour trouver un appui sur le gazon. / Tout fut effacé, tout disparut, la trace de mes pensées fut interrompue, je perdis le sentiment de mon existence: ce sommeil fut profond, mais je ne sais s’il fut de longue durée, n’ayant point encore l’idée du temps & ne pouvant le mesurer; mon réveil ne fut qu’une seconde naissance, & je sentis seulement que j’avois cessé d’être. / Cet anéantissement que je venois d’éprouver, me donna quelque idée de crainte, & me fit sentir que je ne devois pas exister toujours. / J’eus une autre inquiétude, je ne savois si je n’avois pas | laissé dans le sommeil quelque partie de mon être, j’essayai mes sens, je cherchai à me reconnoître. / Mais tandis que je parcourois des yeux les bornes de mon corps pour m’assurer que mon existence m’étoit demeurée toute entière, quelle fut ma surprise de voir à mes côtés une forme semblable à la mienne! je la pris pour un autre moi-même, loin d’avoir rien perdu pendant que j’avois cessé d’être, je crus m’être doublé. / Je portai ma main sur ce nouvel être, quel saisissement! ce n’étoit pas moi, mais c’étoit plus que moi, mieux que moi, je crus que mon existence alloit changer de lieu & passer toute entière à cette seconde moitié de moimême. / Je la sentis s’animer sous ma main, je la vis prendre de la pensée dans mes yeux, les siens firent couleur dans mes veines une nouvelle source de vie, j’aurois voulu lui donner tout mon être; cette volonté vive acheva mon existence, je sentis naître un sixième sens. / Dans cet instant l’astre du jour sur la fin de sa course éteignit son flambeau, je m’aperçus à peine que je perdois le sense de la vue, j’existois trop pour craindre de cesser d’être, & ce fut vainement que l’obscurité où je me trouvois, me rapela l’idée de mon premier sommeil. 256,30–31 A g i s und Kleomenes] Plutarch: Vitarum parallelarum volumen quartum. Lipsiae 1776, 494–531: Agis; 532–609: Cleomenes. – In den Schlußteil des Woldemar (1794) schiebt J. ein moralphilosophisches Gespräch ein, dessen ersten Teil – eine Erörterung von Woldemars Lebensführung unter ethischen Gesichtspunkten – ein Auszug aus Plutarchs Geschichte von Agis und Kleomenes beendet; s. Woldemar (1794), 178–205 (WW V.393– 417).

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256,40–257,2 »I c h h a t t e … z u s e y n .«] WW V.121 FN weist J. diesen Ausspruch nach als Übersetzung aus Buffon: Histoire naturelle, T. III.370: J’existois trop pour craindre de cesser d’être. 257,4–7 Auszug aus … Kants Sittengesetz.] Dieser Auszug lag bereits dem handschriftlichen Brief an Fichte bei; s. oben 213,27. Der dem Auszug zu Grunde liegende Brief J.s ist nicht erhalten. Die enge Beziehung zwischen dem Auszug einerseits und Brief III (31. März 1793) der Zufälligen Ergießungen (WW I.297–305) sowie dem diesem letztgenannten Brief zu Grunde liegenden Schreiben J.s an Johanna Schlosser, geb. Fahlmer, andererseits (vgl. den Variantenapparat zu JWA 4) läßt erkennen, daß der JF beigefügte Brief an einen Freund an Johann Georg Schlosser gerichtet ist und aus dem Jahr 1793 stammt. Damals steht J. mit Schlosser in brieflicher Verbindung über Kants Philosophie; s. J. an Schlosser, 18. Januar 1794, Zoeppritz I.170; vgl. Schneider: Denkbücher, 351. Ein weiteres Indiz dafür, daß Schlosser der Adressat ist, liegt in J.s Erwähnung der ihm zugesandten Note (257,9, vgl. 257,20), denn Schlosser hat seiner Abhandlung Plato’s Briefe über die Syrakusanische Staatsrevolution, zuerst in Philosophisches Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl. hg. von Carl Christian Erhard Schmid und Friedrich Wilhelm Daniel Snell. Gießen 1793, Bd 2, H. 3.1–141 (sodann als Monographie: Plato: Briefe nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen. Königsberg 1795, KJB 2760), auf den S. 180–184 und 191–192 zwei Noten beigegeben, die Kant zu seiner Replik Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie veranlaßt haben; s. bes. 401–420 (AA VIII.395,18–19.20–24, 398–401, 404). Bei diesen beiden Noten dürfte es sich jedoch nicht um die beiden gegen Kant gerichteten Aufsätze handeln, die Schlosser im Januar 1794 an J. geschickt hat, da J. sich über die verwünschte Handschrift des Copisten beklagt, also keine Druckfassung vor sich hat, während Plato’s Briefe bereits im Vorjahr erschienen sind. Auf diese Aufsätze antwortet J. am 18. Januar 1794, Zoeppritz I.170 f., indem er Schlosser zunächst zustimmt, ihn aber dann korrigiert: Ueber die Art, wie Du die Kantisten provocierst, bin ich nicht erschrocken; was Du sagst, ist wahr. Aber diese Philosophie ist, wie so vieles andere, was sich in unsern Zeiten zuträgt, eine E p o c h e d e r N a t u r – nach m e i n e r Meynung. Du hältst es mehr für eine widernatürliche Begebenheit, und glaubst, dem Uebel könnte durch blos vernünftige Besinnung abgeholfen werden. Daß man sich eines beßern besinnen könne, glaube ich auch; aber um die Menschen dahin zu leiten, muß man ihnen zuvor darthun, daß man sich ganz in sie hinein zu denken wisse. […] Die h a l b e Wahrheit wird a l l e i n durch die G a n z e besiegt. – Trotz der Bemühungen J.s hat Schlosser in seinem Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studiren wollte. Lübeck / Leipzig 1797 (KJB 1105) scharf auf Kants Abhandlung dupliziert. – J. distanziert sich mehrfach brieflich von Schlossers Polemik gegen Kant; s. J. an Reinhold, 22. Februar 1797, RLW 242: Mein Mißfallen an Schlossers Ausfall auf die Kantische Philosophie wissen Sie. Ich habe es desto stärker empfunden, da es mir höchst unangenehm ist, bei Manchen, vielleicht bei Kant selbst, in den Verdacht zu gerathen, als könnte ich dergleichen billigen, oder hätte wohl

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gar die Hände mit im Spiel. – Vgl. J. an Herder, 4. Oktober 1797, ABW II.254: Sogar Schlosser verträgt mich, ob er gleich unter allen meinen Freunden und Bekannten (Vossen nehme ich aus) wohl am weitesten davon entfernt ist, in der eben beschriebenen Verträglichkeit mein Nachfolger zu werden. Ich habe ihm besonders hart widersprochen, erst schriftlich, hernach mündlich, fünf Wochen hinter einander von Morgen bis Abend, über fast alle seine Behauptungen in dem Briefe wider die Kantische Philosophie. Einige gute Wirkungen dieser gymnastischen Uebungen wirst Du in Schlosser’s zweitem Briefe finden [sc. Zweites Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studiren wollte, veranlaßt durch den angehängten Aufsatz des Herrn Prof. Kant über den Philosophen-Frieden (1798)]; aber das gute Spiel, das er sich hätte machen können, hat er sich doch nicht gemacht, weil er überall Recht behalten, auch ein eigenes System zu Tage legen wollte; weder das eine noch das andere konnte gerathen. – Auch bei einem Treffen mit J. A. H. Reimarus und Johann Diederich Gries in Hamburg hat J. sich gegen Schlossers Schrift ausgesprochen; s. Aus dem Leben von Johann Diederich Gries. Nach seinen eigenen und den Briefen seiner Zeitgenossen. o. O. 1855, 13: Bei Tische kam dann die Rede auf Schlosser’s Sendschreiben, von dem Jacobi behauptete, es sei fades und elendes Zeug, ein Product des Schlosser’schen Eigensinns. – Diese Bedenken wurden wohl noch verstärkt durch die negative Aufnahme von Schlossers Schrift; s. Schlegels Rezension in Philosophisches Journal V,2 (1797), 184–192, sowie die Vorerinnerung der Herausgeber, d. h. Fichte und Niethammer, ib. 183 f. (GA I,4.425,18–426,2), daß ganz unabhängig von einander zwei Männer von gleicher Wahrheitsliebe mit gleicher Indignation von demselben Producte sprechen. Dies nimmt auch auf das vernichtende Urteil Schellings Bezug; s. Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur, ib. V,2.182 (AA I,4.81): Schlosser sei ein schleichender, heimtückischer, arglistiger Gegner, dessen Schrift nicht nur wegen der schlechten Composition, und der Verworrenheit ihrer Begriffe keinen Beifall, sondern noch weit mehr wegen des in ihr herrschenden rachsüchtigen, fanatischen und delatorischen Geistes t i e f e V e r a c h t u n g verdient. – S. ferner Schellings im gleichen Tone gehaltene anonyme SchlosserRezension, ALZ 299 (5. Oktober 1798), 33–36 (AA I,4.283–287). – Mit der Publikation des Auszugs ergreift J. öffentlich Partei für Kants Ethik, wohl auch aus der Befürchtung, Kant oder Rezensenten der Schrift Schlossers könnten seine Sicht der Ethik Kants wegen seiner persönlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen mit Schlosser (dessen zweite Frau Johanna, geb. Fahlmer ist eine – etwa gleichaltrige – Tante J.s) mit derjenigen Schlossers identifizieren. 257,10–11 welches Werk … lege,] In den Kladden dieser Zeit beschäftigt J. sich mit folgenden moralphilosophischen Schriften Kants: Critik der practischen Vernunft. Riga 1788 (KJB 851), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785 (KJB 848), Critik der Urtheilskraft. Berlin / Libau 1790 (KJB 850, mit einem handschriftlichen Anhang von 19 Blättern mit Seitenangaben, Stichworten und Kommentierungen), Die Metaphysik der Sitten. 2 T. Königsberg 1797 (KJB 857) sowie Ueber das radicale Böse in der menschli-

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chen Natur. In Berlinische Monatsschrift 19 (April 1792), 323–385, von Kant übernommen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. St., 3–58; vgl. K. zu 327,30–33. 257,12–16 Es sey unmöglich … hergeleitet werden.] S. etwa KpV A 32 und 101. 257,20 Die in der Note erwähnte Formel] Plato’s Briefe über die Syrakusanische Staatsrevolution (1793), 86–90 FN: Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die alten und neuen Philosophen, durch einen Mißbrauch dieses analogischen Raisonnements [sc. durch den Schluß von der Anschauung unserer Prinzipien auf Objekte außer uns], und daß unter ihnen sonderlich Plato im objectiviren oft zu weit geht: aber mich dünkt die allerneuste Deutsche Philosophie zieht die der Menschheit gesetzte Grenzen durch ihr subjectiviren eben so sehr viel zu enge zusammen. Aus lauter Sorge in ihr gereinigtes oder reinigendes System nichts empirisches einschleichen zu | lassen, sondern alles auf lauter Grundsätze und Begriffe, die a p r i o r i entstanden sind zu bauen, schneidet sie den denkenden Menschen gleichsam von der ganzen Natur und der um ihn lebenden, ihn immer mit sich fortreisenden [!] Schöpfung gänzlich ab, und macht ihn, vielleicht in einigen Dingen um etwas gewisser, aber wahrhaftig weder weiser noch besser, wenn anders die Weisheit noch will, daß man sich in seine Verhältnisse schicke. Es mag seyn, daß diese Philosophen sehr grosse Ursache hatten, eine Kritik der reinsten Philosophie im engsten Verstand des Wortes, Philosophie zu geben, und mir scheinen sie einen glücklichern und bessern Weg gegangen zu seyn, als die alten Skeptiker, die im Grund eben diese Absicht gehabt haben mögen. Aber K r i t i k d e r P h i l o s o p h i e ist nicht deswegen K r i t i k d e r V e r n u n f t . Iene kann vielleicht zu ihrer Demüthigung auf die engen Kreise der apodiktischen Gewißheit eingeschränkt werden: warum maßt sie sich an das Schild: h i e r f i n d e t m a n Wahrheit, auszuhängen? Aber nicht so die Vernunft. Die Vernunft dünkt mich, kann den, der ihrer Leitung sich ergiebt, nicht in engere Gränzen schließen, als diejenige sind, in welchen er ist, | und wenn es scheint, daß, wie einige alten Stoiker prahlten, die Vernunft in der Hungersnoth gebiethe ohne zu essen glücklich zu seyn, dann würde wohl Shakespear mit Recht die Frage vorlegen können, ob er auf den beeisten Alpen wärmer werde, wenn er an das Feuer denke? / Die Vernunft kann die Schlüsse aus Analogien und aus Wahrscheinlichkeiten ehe nicht entbehren, als biß sie entweder das Wesen, den Grundstoff, alle Prinzipien der Dinge erkennt: oder, biß sie sich los macht von der Sinnlichkeit, von dem Willen, von der Empfindung; oder endlich biß die ihr a p r i o r i unbekannte Welt aufhört, auf sie zu wirken. Dann mag sie über Realitäten oder Phänomene absprechen wie sie will, nichts hindert sie dann in jedem Augenblick zu sagen: Ich weis nicht. Aber so lang sie die Gesetzgeberinn des Willens seyn muß, so lang sie zu den Phänomene […] sagen muß, du gefällst mir, und du gefällst mir nicht: so lang muß sie selbst die Phänomenen als Wirkungen von Realitäten ansehen, und nach Analogien, Inductionen und Wahrscheinlichkeiten über deren Ursachen richten, und ur-

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theilen, und nach ihren Urtheilen dem Willen seine Gesetze geben. Eine Kritik die der Vernunft dieses | abspräche, würde sie nicht reinigen, sondern entmannen; und mich dünkt sogar, eine Philosophie, die sich durch eine solche Reinigung so sehr von der Vernunft sequestrirte, würde selbst Gefahr laufen, bald in eine blose Form-Gebungs-Manufactur auszuarten, welche im Kurzem alle Materie verlieren, und in der nächsten Generation, i m D e n k e n den alten scholastischen Peripatetismus einführen würde, welchem dann immer i m H a n d e l n , zumahl da, wo dem Vorurtheil und dem Aberglauben ihre zämende Kraft benommen worden ist, der regelloseste Libertinismus folgt, bis sich beyde in der Barbarey verlieren. Ein System das beynahe alle Wirklichkeit, das Gott und Unsterblichkeit wegkritisirt, und die Tugend so metaphysisch sublimirt, daß ihre Gestalt kaum mehr zu ahnden ist, läßt nichts bessers hoffen. Und obgleich das allerneueste Reinigungssystem, uns eine Sittlichkeit a p r i o r i , und selbst Realität, Gott und Unsterblichkeit, die dasselbe uns mit der einen Hand genommen hat, mit der andern wieder zu geben scheint; so giebt es doch diese, eben so wieder, wie man in einigen schwachen Gerichtshöfen dem, den das Urtheil als einen Betrüger verdammt, seine Ehre, durch die | frostige Clausel s e i n e r E h r e u n b e s c h a d e t , wieder zu geben pflegt; und die Sittlichkeit die uns dieses System aus dem Schiffbruch der Vernunft rettet, ist so fein nervig geworden, daß sie den Kampf mit dem Laster schwerlich mehr wird bestehen können. / Ich gehe in dem System herum und rufe der Weisheit, wie Orlandino in dem Zauberpalast der Lirina seiner Geliebten ruft; ich glaube sie zu sehen, aber wenn ich sie ergreifen will, so entschlüpft immer die Erscheinung die mich täuschte meiner Hand, und spottet noch unfreundlich meines Wahns. 257,20–24 »Handle nur … werden sollte.«] Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 52 (AA IV.421). 257,24–28 Diese Formel … nicht widersprechen.] KpV A 55 f., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 52–57 (AA IV.421–424). 257,31–32 Die Quelle … Vernünftigkeit.] S. etwa KpV A 55 f. (AA V.31). 258,9 Es ist … Z w e c k a n s i c h .] Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 64 (AA IV.428 f.). 258,20–22 »Handle so … brauchest.«] Ib. 66 (AA IV.429). 258,25–26 Idee eines R e i c h e s d e r Z w e c k e .] Ib. 74 f. (AA IV.433,16). 258,29 Der erste und lezte … Selbstachtung.] Im Interesse der Verteidigung von Kants praktischer Philosophie interpretiert J. Kants Begriff der Achtung nur als Selbstachtung, nicht als Achtung vor dem Sittengesetz; vgl. KpV A 130–139 (AA V.73–78). Zu dieser vgl. Kladde V.75 (Hammacher: Jacobi, 156): Die ganze Fabrikation des Achtungsgefühls ist eines der schändlichsten Gewebe von Sophistereien so jemals gemacht worden. – Kladde VI.381 (Schneider: Denkbücher, 476): Also lehrt Kant, daß es kein andres, als ein blos negatives Sittengesetz für den Menschen, überhaupt für alle Vernünftigen Wesen gebe […] – VI.161 (ib., 339): Die größte u

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eigentliche Würde des Menschen kann nicht darin bestehen, immer nur aus Furcht, das ist, aus kantischer bloßer Achtung fürs Gesetz zu handeln. – VI.191 (ib., 226): Nach Kant will ich das Gute nicht weil es mir gefällt, sondern darum, weil ich, wenn ich überall blos dem Angenehmen nachjage, mit mir selbst zerfalle – Der categorische Imperativ ist im Grunde überall nur ein Verbot. – Deshalb beruft J. sich in den Woldemar-Fassungen (1794/1796) gegen Kants negative Konzeption des Sittengesetzes auf die aristotelische Ethik in ihrem Ausgang von einem positiven Grundtrieb; vgl. auch die in diesem Zusammenhang entstandenen Kladdenaufzeichnungen; s. K. zu 254, 39–255,2. 258,30–37 Die Selbstachtung … Gesetz giebt.] KpV A 154 f. (AA V.86 f.) 261,9–10 Die ersten Blätter … genommen,] Zur Entstehungsgeschichte von UK s. den Editorischen Bericht. 261,11 unter den Eingangs Angeredeten] S. oben 274,1–14. 261,13–14 mit den Kriticisten gemeine Sache machend] J. spielt auf seinen Antheil an der Entstehung der neuesten Philosophie und seine Blutsfreundschaft mit ihr an; s. ÜTB, oben 167,33–36, mit weiteren Nachweisen im K, sowie BK, oben 350,2–3. – Neben der prinzipiellen Differenz zu den Kriticisten sieht J. Gemeinsamkeiten in der Annahme der Priorität des Geistes vor der Materie; vgl. die Kladdennotiz VII,351 (Schneider: Denkbücher, 232): Die kritische Philosophie hat das Gute u heilsame, das [!] sie gezeigt hat, wie noch keine andre vor ihr, daß Vernunft das Erste sey, daß man von Vernunft ausgehen, und der Geist notwendig vor dem Cörper gedacht werden müße – dieser unmöglich den Geist erschaffen könne, sondern d a ß d e r G e i s t s e l b s t v o n a l l e m d i e Materie s e y , u z u g l e i c h d i e Form. – Zur Abgrenzung seiner Philosophie vom Kritizismus vgl. K. zu 10,22–23, JF, oben 196,29–32, VE, oben 388,1–2, sowie J. an Kant, 16. November 1789, AA XI.101–105. 261,17 Enthusiasten des blos logischen Enthusiasmus] S. K. zu 196,34–197,1. 261,18 Verfechter überhaupt des Positiven,] Friedrich Schlegel: Woldemar-Rezension, 204 f. (KFSA II.71): Jakobi mußte die philosophirende Vernunft hassen: da der konsequente Dogmatismus, nach seiner Überzeugung dem Gegenstande seiner Liebe sogar die Möglichkeit absprach; der kritische Idealismus hingegen, so wie er ihn verstand oder misverstand, demselben nur einen Schatten von Rea|lität übrig ließ, mit dem er sich nicht begnügen konnte; und doch zeigte ihm die philosophirende Vernunft keinen andern Ausweg. Auch unterscheidet er den Glauben, welchen er als Fundament alles Wissens aufstellt, sorgfältig von jedem Fürwahrhalten aus Vernunftgründen; setzt diese wunderbare Offenbarung dem natürlichen Wissen entgegen. […] Seine positive Glaubenslehre aber kan durchaus nicht für philosophisch gelten. 261,23 jener Rede] Zur ursprünglichen Rede s. oben 274,1–312,8. 261,25–26 Reinhold … mich besuchte,] S. J.s Einladung im Brief an Reinhold, 28. Januar 1800, RLW 253.

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262,2–3 seine Beyträge … beschäftigte,] Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Hg. von C[arl] L[eonhard] Reinhold. H. 1–6. Hamburg 1801-03 (KJB 91). – Neben UK lieferte J. noch Hamanns bis dahin ungedruckte Rezension der KrV (1781) für Reinholds Beyträge, H. 2 (1801), 206–212; s. J. an Reinhold, 4. November 1800, RLW 257 f. 262,3–5 es bliebe mir … zu lassen.] Die Abhandlung erschien in Reinholds Beyträgen zur leichtern Uebersicht, H. 3 (1802), 1–100 (KJB 91/92) (WW III.[59]–195), und als Separatdruck mit gleicher Paginierung mit dem Impressum: Hamburg, bey Friedrich Perthes. 1801; s. Editorischer Bericht, oben 480. 262,33–34 von einer anderen … abhielt,] In der fraglichen Zeit hat J. gearbeitet an Ueber eine Weissagung Lichtenbergs, s. JWA 3.7–31. – Vgl. ferner J.s Ankündigungen in ÜTB, oben 185,30–36; es ist jedoch nicht bekannt, ob er an der Verwirklichung dieses Planes gearbeitet habe. 262,37–38 der Betrogene … zum Betrüger.] Vgl. Lessing: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen. Berlin 1779, 125, 3. Aufzug, Siebender Auftritt, Vers 507 f. (LM 3.94): O so seyd ihr alle drey / Betrogene Betrieger! 263,10–11 durch Zufälle … meiner Arbeit] J. spielt wahrscheinlich auf die Umstände in Folge der Konversion Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs an; s. J. an Jean Paul, 3. September 1800, Zoeppritz I.278: Deinen Brief aus Weimar vom 27. Juli erhielt ich den 9. August. Ich war noch in Eutin, aber im Einpacken begriffen. Meine Reise ist eine Flucht vor Stolbergen, der, wie Du gewiß schon gehört haben wirst, mit seiner Frau zur römisch katholischen Religion übergetreten ist. Weil ich ihn unaussprechlich liebe, mochte ich ihn nicht wiedersehen. Ich bleibe nun hier, bis er von Eutin weggezogen seyn wird, wahrscheinlich noch vier Wochen. – J. an Reinhold, 30. August 1800, RLW 257: Am Dienstag beantworte ich Deinen Brief und schreibe Dir über Stolberg, dessen wahnsinnige Handlung allerdings die Ursache meiner Reise nach Hamburg ist. 263,30–32 Ganze drey Monate … unmöglich.] Diese Verschlechterung seines Gesundheitszustandes trat im Frühjahr 1801 ein; s. J. an Johanna Margaretha Sieveking, 16. August 1801 (Schneider: Denkbücher, 409): Wenn ihr mich sähet, u mich erzählen hortet was ich seit dem 2ten Februar erfahren u gelitten habe, es würde Euch weh genug davon ums Herz werden. – Vgl. weitere Zeugnisse im Editorischen Bericht. 263,36 meinem Freunde Köppen,] Friedrich Köppen (1775–1858), aus Lübeck, Schüler und Freund J.s; seit der Übersiedlung nach Eutin war J. auch mit der Familie befreundet. Köppen wirkte damals als protestantischer Theologe in Lübeck; er wurde 1805/06 unter Mitwirkung J.s (der seit 1805 Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München war) auf eine Professur für Philosophie an die Universität Landshut berufen, 1807 zum königlich bayerischen Hofrat. – Zur Zusammenarbeit mit Köppen s. J. an Reinhold, 3. März und 28. April 1801, s. K. zu 264,8–10. – Köppen machte sich J.s Kritik am transzendentalen Idealismus und bes. an Schellings Identitätsphilosophie zu

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eigen; er nahm auch teil an J.s Verstimmung mit Hegel angesichts dessen Abhandlung Glauben und Wissen und griff in J.s Streit mit Schelling ein; s. oben 331– 372. Nach J.s Tod stellte Köppen den nicht mehr vollendeten Vorbericht zu WW IV, JWA 1.335–353, nach J.s Notizen zusammen. 263,38–264,2 aus meiner Vorbereitungs-Kladde … vollenden wolle.] J. an Jean Paul, 30. April 1801, Zoeppritz I.288 f. (Fortsetzung des Zitats aus K. zu 271,21): Mir liegt sehr daran diesen Aufsatz zu vollenden. So bald ich Kopf und Augen wieder brauchen kann, werde ich mich daran geben, und meine Kladde die außer mir selbst kein Mensch auf Erden würde entziffern können, ich selbst nicht nach einiger Zeit, ins reine schreiben. Ueber dieser Arbeit hoffe ich zum Vollenden wieder in den Gang zu kommen. | Gelingt dieses nicht, so sende ich Dir das Fragment und bedeute Dir, was noch hinzukommen sollte und in beschriebenen Papierfetzen auch schon da ist. – Zu diesem Zeitpunkt scheint Köppen noch nicht mit der Ausarbeitung betraut gewesen zu sein, doch hat er spätestens im Juli zumindest Teile hiervon vorgelegt; s. J.s Begleitbrief zur Übersendung seines Manuskripts an Reinhold, 25. Juli 1801, RLW 267: Wo Dir also eine Stelle aufstößt, die Dir eines Beleges zu bedürfen scheint, da mache Dir ein NB. Ich habe mir selbst schon einige angemerkt, schicke Dir aber diese Noten nicht mit, weil sie noch nicht im Reinen und nur in meine erste Kladde eingetragen sind. – Dieser Hinweis bezieht sich nur auf J.s eigene Ausarbeitung, oben 274,1–312,8, sowie auf den Schluß von Köppens Umarbeitung, oben 325,18–330,15, denn J. fährt fort, 268: Du wirst finden, wie ich die ersten Bogen meines Aufsatzes umgearbeitet habe. Den ersten Absatz wußte ich nicht zu verändern. Wenn Du mir darüber einen Vorschlag thun kannst, so werde ich ihn gern annehmen. Es wird mir aber nichts helfen, wenn Du mir bloß sagst: ich könnte es ungefähr so machen; Du mußt es mir ganz bestimmt angeben können und die Verbesserung selbst zu machen wissen. / Daß Du die Köppensche Fortsetzung aus meinen Papieren eben so sorgfältig wie meine eigene Arbeit durchzusehen hast, versteht sich, da ich in dem Vorbericht sage, daß sie nach meinem Entwurfe und aus den dazu von mir gegebenen Materialien ausgearbeitet sey, wie denn dies auch nur zu wörtlich wahr ist. Von dem, was ich Dir von dieser Ausarbeitung neulich sandte, habe ich die 6 ersten Seiten cassirt, weil sie lauter Wiederholungen enthielten. Den Abschnitt von dem practischen Theil der Kantischen Philosophie habe ich ihn schon einmal umarbeiten lassen, und ich glaube, er ist nun so, daß er mitgehen kann. Daß ich diesen Abschnitt nicht selbst ausarbeiten konnte, dauert mich unendlich. – Die hier vermutlich noch fehlenden Partien seiner Ausarbeitung [s. oben 312,9–325,17] hat Köppen wohl Anfang August 1801 fertiggestellt, denn J. berichtet Brinkman am 17. August 1801 (s. Fuchs: Texte zu Jacobi und Fichte im Brinkman-Archiv, 209), er habe zur Vollendung seines Aufsatzes jeden leidlichen Augenblick benutzt, u Sonnabend vor 8 Tagen ist er würklich zum Druck abgegeben worden, u wird wahrscheinlich schon Ende September erscheinen u ungefähr ein ganzes Reinholdisches Heft ausfüllen. Köppen hat mir wacker dabey geholfen, u ich wäre ohne ihn nicht fertig geworden.

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264,8–10 Abhandlung … Genius der Zeit;] S. Köppens Darstellung der Philosophie Bardilis in der Abhandlung Einige Gedanken über philosophische Systeme überhaupt und insbesondere die Wissenschaftslehre, in Beyträge zur leichtern Uebersicht, H. 2 (1801), 141–178. Das Manuskript ging vor der Publikation durch J.s Hände; s. J. an Reinhold, 4. November 1800, RLW 258 f. – Die an zweiter Stelle genannte Arbeit ist Köppens Versuch einer kurzen Darstellung des Bardilischen Systems, nebst Bemerkungen über dasselbe, in Genius des neunzehnten Jahrhunderts, hg. von August Hennings. 6. St. (Juni 1801), (KJB 110), 129–212. – S. J. an Reinhold, 3. März 1801, RLW 262: Ich sende Dir, mein Lieber, Köppens Versuch einer kurzen Darstellung des Bardilischen Systems, nebst den hinzugekommenen Bemerkungen. […] Köppen hat vier Tage bei mir zugebracht und hier seine Bemerkungen abgeschrieben. Er empfiehlt sich Dir beßtens und erwartet Deine Erklärung über seine Handschrift, ob Du sie ins dritte Heft Deiner Beiträge, wenn ein drittes zur Wirklichkeit gelangt, aufzunehmen Lust hast oder nicht. – J. an Reinhold, 28. April 1801, RLW 266: Mit vielem Dank schicke ich Dir Deine Anmerkungen über Köppen wieder zurück. Ich habe sie höchst lehrreich gefunden und mir deßwegen eine Abschrift davon machen lassen. Köppen hat Dir wahrscheinlich geschrieben, daß sein Aufsatz nun im Genius der Zeit erscheinen wird. [..|.] Ich denke, es kann Dir nicht unlieb seyn, daß auch in einem anderen Journale von Bardilis Philosophie geredet werde. 264,14–15 in einer Note angezeigt.] S. oben 312,32. 264,24–31 Zum Beweise … können;] KrV B 4–6, 14–18. 264,31–34 jene Erkenntnisse … beschäftigt.] KrV B 6 f. 265,2–3 wie sind … möglich?] KrV B 19; Prolegomena, 41, § 5 (AA IV.276,12). 265,4–8 Die Möglichkeit … verstehen.] KrV B 10–14: IV. Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urtheile; B 128; Prolegomena, 24–32, §§ 2 f. (AA IV.266–270). 265,14–19 Hernach, weil … nothwendig geworden.] Vgl. KrV B 19–24. 265,19–25 Ihre Realität … Licht stellte.] Vgl. KrV B 5, 19 f., 127; Prolegomena, 8 f. (AA IV.257 f.); KpV A 88 ff. – Zu Humes Zweifel am apriorischen Ursprung des Kausalitätsbegriffs s. Essay on Human Understanding, Sect. IV,1, in Essays and Treatises III.45 u. 49 f. (GG IV.24 f. und 27). 265,27–28 wählt Kant … eigenen Weg.] KrV B 127–129; vgl. Prolegomena, 13–17 (AA IV.260–262). 266,5–12 »die verschiedenen … sey.«] Vgl. KrV B 677. – Die von J. angegebenen Seitenzahlen beziehen sich – wenn nichts Gegenteiliges angegeben ist – auf die zweite Auflage der KrV. 266,31–33 »die Möglichkeit … hielt;] KrV B 793: Unser Sceptiker unterschied diese beyde Arten der Urtheile nicht, wie er es doch hätte thun sollen, und hielt geradezu diese Vermehrung der Begriffe aus sich selbst, und, so zu sagen, die Selbstgebährung unseres Verstandes (samt der

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Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu seyn, für unmöglich […]. 266,33–267,7 weil er … gehalten werde –] Vgl. KrV B 127. 267,7–8 das ganze … zu erklären.«] KrV B 128: Hume ergab sich gänzlich dem Scepticism, da er einmal eine so allgemeine für Vernunft gehaltene Täuschung unseres Erkenntnißvermögens glaubte entdeckt zu haben. 267,9–10 wenn David Hume … sollte,] Vgl. Kants Auseinandersetzung mit Hume, Prolegomena, 97–102, §§ 27–30 (AA IV.310–313), bes. 102 (AA IV.313): Die Auflösung des Humischen Problems rettet also den reinen Verstandesbegriffen ihren Ursprung a priori, und den allgemeinen Naturgesetzen ihre Gültigkeit, als Gesetzen des Verstandes, doch so, daß sie ihren Gebrauch nur auf Erfahrung einschränkt, darum, weil ihre Möglichkeit blos in der Beziehung des Verstandes auf Erfahrung ihren Grund hat: nicht aber so, daß sie sich von Erfahrung, sondern daß Erfahrung sich von ihnen ableitet, welche ganz umgekehrte Art der Verknüpfung H u m e sich niemals einfallen ließ. 267,18 Deduction des Objects allein aus dem Subject,] Vgl. KrV B XXIII. 267,31–33 »als an sich … beseitiget,«] KrV B XIXf.: Aber hierin | liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nemlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse. 267,33 otium cum dignitate] Cicero: De oratore I,1, § 1. In Cicero: Opera I.344: Cogitanti mihi sæpenumero, & memoria vetera repetenti, perbeati fuisse, Quinte frater, illi videri solent, qui in optima republica, cum & honoribus, & rerum gestarum gloria florerent, cum vitæ cursum tenere potuerunt, ut vel in negotio sine periculo vel in otio cum dignitate esse possent. Vgl. Cicero: Pro P. Sextio, 45, § 98; ib. II.1082 f. – Vgl. Hegel: Jacobi-Rezension, 10 (PLS 2,1.392 f.): Die Jacobischen Behauptungen von der Unfähigkeit der Wissenschaft, das Göttliche zu erkennen, könnten dazu verleiten, daß die Unwissenheit und Geistlosigkeit sich solche Sätze als ein bequemes Polster utiliter acceptirt, und sich daraus ein gutes Gewissen, und sogar Hochmuth bereitet hat; wie die Kantische Philosophie das Object zu einem problematischen Etwas herabgesetzt, und ihm nach einem geistreichen Ausdrucke J.s S. 74 a l s D i n g - a n - s i c h , ein otium cum dignitate zu genießen verschafft hat. 268,19 vollkommnes Ende aller Dinge] Vgl. Kant: Das Ende aller Dinge, in Berlinische Monatsschrift 23 (Juni 1794), 495–522 (AA VIII. 325–340). 268,22–40 »Wenn unsre … Ungemach.«] S. oben 61,4–62,2. 269,8 mystische Verbindung oder Kryptogamie] Vgl. K. zu 111,30. – Zu dieser Terminologie könnte J. durch Hamanns Kantkritik angeregt worden sein; s. dessen Rezension der KrV (deren Publikation in Reinholds Beyträgen, H. 2. Hamburg 1801, 206–212, J. veranlaßt hat; s. K. zu 262,2–3), N

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III.279,8–11: Nach dieser Autocheirie oder Euthanasie dringt endlich die reine Vernunft bis zum I d e a l ihrer mystischen E i n h e i t , als dem regulativen Princip ihres ganzen constitutiven Schematismus und ätherischen Gebäudes. 269,18 Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst,] Vgl. DH, oben 108–112. 269,20–22 seine wirklichen … zu benehmen;] Vgl. J. an Reinhold, 25. Juli 1801, RLW 267 f.: Alle Widersprüche in den Kantischen Schriften, sowohl die bloß scheinbaren als die wirklichen, entwickeln sich aus meinem Gesichtspuncte als gleich nothwendig. Zum Beispiel, warum es einmal heißen müsse, der Raum sey nicht bloß Form der sinnlichen Anschauung, sondern selbst Anschauung (Cr. d. r. V. S. 160.), und ein andermal (S. 347.), er sey bloße Form der Anschauung und nicht selbst Anschauung; warum hier das Materielle und Reelle das Formale und Ideale, dort hingegen das Formale und Ideale das Materielle und Reelle bedingen müsse; warum hier das Empirische als das Licht, das dem Apriorischen als der Finsterniß nothwendig vorhergehe, dort das Apriorische als das Licht, das dem Empirischen als der Finsterniß nothwendig vorhergehe, zu betrachten sey u. s. w. u. s. w. Gern möchte ich auch noch zeigen, wie die Kantische Philosophie gerade durch ihren Grundfehler, die ungereimte Vermischung des Empirischen mit dem Reinen, die sich einander gegenseitig möglich und unmöglich machen, setzen und wieder aufheben, so großen Eingang gefunden hat und auch jetzt noch eifrige Liebhaber behält. Vor mir steht die Sache in einer solchen Klarheit, daß ich vor Ekel kaum davon reden und vor Entrüstung nicht davon schweigen kann. 269,25–26 Schaar fortwährend standhafter Freunde] Für die 90er Jahre sind neben dem Jenaer Kreis um Christian Gottfried Schütz und Gottlieb Hufeland mit ihrem seit 1785 bestehenden Rezensionsorgan, der Allgemeinen Literatur-Zeitung (s. K. zu 24,37–39) zu nennen: Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, 3., verb. u. verm. Aufl. 1794 (KJB 1106), sowie Johann Schultz (Schulze), dessen frühere Erläuterungen über des Herrn Kant Critik der reinen Vernunft. Königsberg 1784 (KJB 1112) in unmittelbarer Absprache mit Kant entstanden waren. Ihm hat Kant nach der Publikation seiner Streitschrift gegen Eberhard Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll die weitere Auseinandersetzung übertragen; s. Schultz’ Rezension von Eberhards Philosophischem Magazin, Bd 2, in ALZ 281–284 (September 1790), sowie Johann Schultz: Prüfung der Kantischen Critik der Vernunft (1792), T. 2.99 ff., und Kants öffentliche Erklärung, daß Schultz’ Schrift eine adäquate Wiedergabe der Kantischen Philosophie sei, im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Nr 74 (14. Juni 1797) (AA XII.367). S. ferner Jacob Sigismund Beck: Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant, auf Anrathen desselben. 3 Bde. Riga 1793, 1794 und 1796, sowie Ludwig Heinrich Jakob, der 1795–97 die der Kantischen Philosophie gewidmeten Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes

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von einer Gesellschaft gelehrter Männer in Verbindung mit dem Philosophischen Anzeiger herausgab; J. bezeichnet ihn als Repräsentanten der Kantischen Philosophie im Brief an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 228 (s. K. zu 111,30); vgl. Reinhold an J., 13. März 1790, Zoeppritz I.136. – J. berücksichtigt ferner den reformierten Prediger Georg Samuel Albert Mellin; s. die folgende Anm. sowie sein Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, oder, Versuch einer fasslichen und vollständigen Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze. 6 Bde. Züllichau / Leipzig 1797–1804 (KJB 960: Bde 1–2, 1797– 1798); Mellin stiftete 1791 eine Gesellschaft zum Studium der kritischen Philosophie in Magdeburg. 269,32–35 Das Schaugerüst … n i c h t widerspreche;] Von seiten der Kantianer wurden die Hinweise auf Widersprüche (etwa in der Beilage zu DH, oben 108–112) wiederholt zurückgewiesen, so zuerst in der Antwort darauf durch Ludwig Heinrich Jakob: An den Hrn. Prof. Cäsar. (datiert: Halle, d. 15. Aug. 1787). In Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, hg. Cäsar, Bd 5. Leipzig 1787, 226–243; zu DH: 230–241. S. auch Mellin: Marginalien und Register zu Kants Critik der Erkenntnisvermögen. Zur Erleichterung und Beförderung einer Vernunfterkenntniß der critischen Philosophie aus ihrer Urkunde. 2 T. Züllichau 1794–95 (KJB 959 mit starken Bearbeitungsspuren), VIII: Er spreche sich das Verdienst zu, die critische Philosophie verstanden, von allen Widersprüchen frei und vollkommen consequent gefunden zu haben. Ohne dieses wäre es mir nicht möglich gewesen: diesen Abriß zu verfertigen und […] eine Vernunft-Erkenntniß der critischen Philosophie zu befördern. – S. ferner Schmid: Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt. (Als Anhang zur 3. Ausg. von Schmid: Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften. Jena 1788, KJB 1109). Schmid bezieht sich auf Christian Gottlieb Selle: Grundsätze der reinen Philosophie. Berlin 1788. – Selles Argumente gegen Kants Gegenstandskonstitution mittels der apriorischen Formen der Sinnlichkeit nehmen unausgesprochen die Hauptpunkte von J.s Kritik des Kantischen transzendentalen Idealismus auf. – Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter berichtet Kant, 20. April 1790, AA XI.157: Prof. Selle hat eine Abhandlung gegen Ihr System in der Akademie vorgelesen, und wird sie auch drucken laßen [De la réalité et de l’idéalité des objets de nos connaissances, in Schriften der Berlinischen Akademie 1792], er glaubt, wie er sagt, Ihrem System dadurch den Todesstoß gegeben zu haben. – S. ferner K. zu 103,6–9, 106,37–38, 111,9–13 und 111,30. 271,4–5 Fichte … borge,] S. etwa Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.353–355, 359 f. (GA I,4.227,34–229,13, 231,3–7). 271,9 aus der ersten … Frage.] KrV B 1. 271,13 Synthesis des Gleichartigen] KrV B 161. 271,21 Dieses philosophische Vergehen … Aufsatz.] Vgl. J. an Jean Paul, 30. April 1801, Zoeppritz I.288: Mein ganzer dem zweyten Heft

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der Reinholdischen Beyträge bestimmter Aufsatz handelt von der falschen Anmaßung der Philosophie, irgend etwas a priori oder ursprünglich und absolut bestimmen, Anfang Mittel und Ende, das ist ein Individuum hervorbringen zu können. (Fortsetzung des Zitats im K. zu 263,38–264,2.) – Vgl. 271,25–26, 294,2, 309,11–12 und 319,4–5. 271,25–26 ursprüngliches Synthesiren … seyn würde.] Gegen dieses Argument macht Hegel in seiner Jacobi-Rezension, 13 f. (PLS 2,1.394 f.) geltend, J. behaupte, daß ein ur|sprüngliches Synthetisiren ein ursprüngliches Bestimmen seyn würde; dieser Begriff ist jedoch daselbst damit beseitigt, daß ein ursprüngliches Bestimmen ein E r s c h a f f e n a u s N i c h t s seyn würde. Mit dieser Consequenz, oder vielmehr mit dem A u sdrucke: Erschaffen aus nichts, kann man aber den Begriff der Freyheit im Theoretischen um so weniger für abgefertigt halten, als auch die moralische Freyheit damit abgefertigt wäre. 271,28–29 »daß sein System … das Kantische«] Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Vorerinnerung, V,1.3 (GA I,4.184,18–19); vgl. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,4.352 (GA I,4.227,12–22). 271,30 nahm hierüber J ac o b i n zum Zeugen,] Ib. V,4.363 (GA I,4.235,7–18). 271,31–35 daß man … nicht hineinkommen könne.] S. DH, oben 109,24–26. 271,35–36 Die Erfindung des … b e d i n g e n d e n I c h s] Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 239 f. (GA I,2.392,35– 393,13); vgl. J.s Prognose in DH, oben 112,15–20. 272,19–22 Wegen dieser … dialektisch mit Recht,] J. spielt an auf die transzendentale Dialektik als Logik des Scheins und auf ihre systematische Bedeutung für die Bestimmung der Vernunft; vgl. KrV B 88, 354 f. 273,1–2 ohne … Gültigkeit haben kann.] S. u. a. KrV B 298. 273,5–9 Die Kantische … läßt.] Diese Wendung ist nahezu wörtlich EKP entnommen; s. oben 155,13–18. – Vgl. VE, oben 394,12–30, sowie J.s Kladdennotiz VI,191 (Schneider: Denkbücher, 209): Kant hat in der Kritik d e r reinen Vernunft zu zeigen gesucht, wie die Vernunft den Verstand mit ihren Ideen, in theoretischer Rücksicht zum besten habe. Ich glaube es ließe sich noch besser zeigen, wie nach dem Kantischen System, die Vernunft in practischer Rücksicht den Verstand zum besten habe. 273,9–10 n e u e A b s i c h t … g e b r a c h t .] S. J.s Kladdennotiz VII,151 (Schneider: Denkbücher, 215): Kant selbst, ob er gleich die Vernunft unter die Vorherrschaft des Verstandes setzt, und als Kirchenvater wohl nicht anders kann, erhebt doch den Werth ihrer Ideen u Ahndung, über alles was der Verstand allein erkennen kann, dem er einen geringen Werth in Ansehung seiner Ausbeute giebt, s. in d. Cr. d. r. V. den Abschnitt v. den Ideen. Schelling sucht wieder den Vstd über die Vnft zu erheben, weil er nur Wißenschaft verlangt. – VIII,191, ib.: Die neueste Philosophie, durch die Schlüße der Eleatider gewarnt, hat die Vernunft unter Vormundschaft des Verstandes gesetzt. Die Wahrheit ist

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ein fidei commissum auf ewige Zeiten. Es gehört der Vernft; aber der Verstand ist darüber gesetzt […]. Der Hinweis bezieht sich auf W. G. Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd 1. Leipzig 1798, 173: gemäß den Eleatischen Grundsätzen ist nur das Erklärbare wirklich; daher die Gefahr eines Agnostizismus durch Begriffsmängel. – UK entstand wohl auch unter dem Eindruck von J.s neuer Unterscheidung von Vernunft und Verstand; s. DH2, oben 63,40–64,44, sowie VE, oben 377,4–13. 273,11 Eutin … 1801.] J. hatte sich nach seiner Emigration aus Pempelfort (28. Sept. 1794) Ende 1798 endgültig in Eutin niedergelassen; s. K. zu 182,18. Zur Datierung s. K. zu 263,38–264,2. 274,1–12 Ihr saget … mache.] Dieser Absatz steht noch im Kontext von J.s Ankündigung eines Beitrags zur Korrektur der sorglos hingeworfenen, obgleich nicht unerwogenen Urtheile über unseren großen Königsberger – seine Moralphilosophie und Theologie; s. JF, oben 191,22–28. – Vgl. J. an Reinhold, 25. Juli 1801, RLW 268: Du wirst finden, wie ich die ersten Bogen meines Aufsatzes umgearbeitet habe. Den ersten Absatz wußte ich nicht zu verändern. Wenn Du mir darüber einen Vorschlag thun kannst, so werde ich ihn gern annehmen. 274,18–19 metaph. Anfangsgr. … S. XXIII.] Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Riga 1786, XXIII (AA IV.478). 274,21–275,20 »Wenn es … herumtappe.«] Ib., XXI–XXIII (AA IV.477,21–478,9). 275,12 X des Subjects … X des Objects] S. KrV A 8, 104 f., 109 f., 250 f., vgl. B 379 f. 276,43 kann –] KrV B 344: kann (weil diese Begriffe immer sinnliche Formen erfordern, in denen sie einen Gegenstand bestimmen;) 277,31–34 »alleinigen Philosophie … selber.] Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in Zeitschrift für spekulative Physik. Hg. von Schelling. Bd 2, H. 2 (1801), 1 (SW 4.114), § 1. 277,36–37 »sich … durchdringen,«] Reinhold bezieht sich auf die Vorerinnerung zur Darstellung meines Systems der Philosophie, in der Schelling seine Konzeption einer Vereinigung von Idealismus und Realismus skizziert. Zu J.s Prognose s. JF, oben 196,13–15; vgl. GD, JWA 3.121,33– 122,33. 277,39 Kr. d. r. V. S. 233, 234.] Dieser Beleg ist unzutreffend; an der angegebenen Stelle entwickelt Kant den Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität. J. bezieht sich im Text nicht auf eine spezifische Stelle bei Kant. 278,20–21 ein Verbinden … d u r c h Nichts.] Zum Nihilismusvorwurf s. K. zu 215,11. 278,37 Einl. S. XLII.,] S. vielmehr KU A XLIV. 280,25–26 Bildlich … darstellen.] Vgl. das in JF für Fichtes Begriff der produktiven Einbildungskraft eingeführte Gleichnis eines Strickstrumpfs; s. K. zu 203,20–22. 280,30–32 John Hunter … erscheinen] John Hunter (1728–1793), Anatom und Chirurg in London. J. bezieht sich auf die Rezension A Treatise on

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the Blood, Inflammation and gun-shot wounds, by the late John Hunter, to which is prefixed a short account of the Author’s life by his brother in law, Everard Home. 1794. In Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, St. 190/191 (28. November 1795), 1897–1904, 1905–1919. – Zu den von J. hier referierten Thesen s. die abschließende Beschreibung der Kupfer, ib. 1918: Von den Kupfern stellt Tab. I. das bebrütete Hühner-Ey in drey verschiedenen Perioden, wunderschön abgebildet, vor; zum Beweis der Sätze, daß das Blut sich vor den Gefäßen bildet; daß Gefäße erst nach Gerinnung des Blutes erscheinen; daß Gefäße neu erzeugt werden, nicht durch Verlängerung der alten entspringen. 280,32–38 Es war … v o l l s t ä n d i g s i n d .] Ib. St. 191, 1905–1908 (über den Hauptsatz des Hunterschen Werkes vom Lebensprinzip des Blutes): Organisation und Leben hängen nicht im mindesten von einander ab; bloße Organisation kann nichts thun, nicht einmahl im Mechanischen, sondern es müsse noch ein lebendiges Princip oder eine Kraft hinzu kommen. [..|.] Hätte Blut nicht das lebendige Princip, so wäre es in Rücksicht des Körpers eine fremde (extraneous) Substanz. Es ist nicht allein selbst belebt, sondern erhält auch alle Theile lebendig. Kein Theil lebt ohne Blut, und Blut macht einen Theil der Zusammensetzung des Körpers aus. Es sey ihm nicht deutlich, ob Blut ohne den Körper, oder der Körper ohne Blut geschwinder stirbt; das Blut selbst muß lebendig bleiben: denn indem es das Leben in den Solidis unterhält, muß es entweder sein eigen Leben verlieren, oder unfähig werden, das Leben des Körpers zu unterhalten; […] Die | Existenz des Lebens-Princips im Blute komme, so wie des der soliden Theile, von der Materia vitae diffusa, von der jeder Theil des Körpers seine Portion besitze. – So nenne er das Hirn Materia vitae coacervata, die Nerven Chordas internuncias, und das durch den Körper, die Solida und das Blut selbst verbreitete Diffundirte die Materia vitae diffusa. Blut und Körper ständen in Wechsel-Wirkung. – Der Körper, oder die Theile des Körpers, haben eine Recollection von vorigen Eindrücken, wenn sie neue erhalten; nur nicht über dieß noch spontaneous Memory, wie das Hirn, weil das Hirn ein für sich bestehendes Ganzes ist, dessen Actionen in sich selbst vollständig (complete) sind. Life is a property we do not unterstand. Es sey wahrscheinlich unmöglich zu sagen, wo das Leben des Blutes anfange, ob im Chylus, oder erst, wenn der Chylus sich in den Lungen mit dem Blute mischt: doch sey er geneigt, zu glauben, daß der Chylus selbst lebendig sey; er vergleicht diese Sache mit dem Einfluß des Männlichen und Weiblichen in einem Ey, welches Luft und Wärme erfordert, um das Princip der Action hervor zu bringen, so wie das Blut der Venen zu den Lungen kommt, um neue Kräfte zu erhalten. Die Flüssigkeit des Blutes sey bloß zur Bewegung, und die Bewegung zur Verbreitung des Lebens und lebendiger Materialien, die solide werden sollen, bestimmt; das Blut, was den Körper vergrößert oder reparirt, könne man als extravasirt betrachten. Ein Extravasat habe die Kraft in und durch sich selbst, Gefäße zu bilden. Er muthmaße, in selbigem eine Gefäß-Bildung ausgespritzt zu haben, in die er kein Gefäß aus der Nachbarschaft hinein verfol-

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gen konnte. Das Coagulum besitze die Materia vitae in seiner Composition, und eröffne bald eine Communication mit der Seele, indem es | in sich selbst Nerven bildet. 280,38–40 John Hunter … tracirt.] Dies berichtet nahezu wörtlich der Rezensent, ib. St. 190, 1898. 281,21–22 ein allgemeines unbildliches Bild] Entgegen Kants Unterscheidung zwischen Bild und Schema, KrV B 179, B 181, interpretiert J. das Schema als Bild und wirft Kant vor, daß es ein unbildliches Bild sei; s. auch K. zu 129,22. 282,26 Lückenbüßer] S. K. zu 214,7–10. 282,31–32 Die transscendentalen … S. 378.)] Statt KrV B 378 s. vielmehr KrV B 178. 283,14 Hirngespinnsten.] Vgl. KrV B 269, B 571, B 798 sowie oben 284,31. 283,22 Gott, Freyheit und Unsterblichkeit] KrV B XXX. 284,7–8 »hevristische Fictionen, foci imaginarii,«] Vgl. oben 285,3. 284,9–10 Gränz- und Erweiterungsbegriffe] KrV B 310–312. 284,21 möglich d e n k b a r … M ö g l i c h e s .] Vgl. Kants Bemerkung KrV B XXVI, daß wir Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen d e n k e n können. 284,31–32 »leere Hirngespinste … unterlegen.«] KrV B 798. – Vgl. J.s Kladdennotiz VIII,331 (Schneider: Denkbücher, 216): Der Verstand ist bey Kant nur ein Vermögen das Viele zu setzen, nicht die Allheit, letzteres kann aus sich nur die Vernunft. Weil sie es aber w i r k l i c h nicht kann, so sind ihre Allheiten nur Ideen, nur Hirngespinste v Individuen, und sie muß das Blendwerk ihres Objects denn noch aus der Sinnlichkeit holen, so ist der Glaube an Gott immer anthropomorphistisch. 284,33–285,8 »Wie gesagt … können.«] KrV B 799. 285,31–32 nichts w a h r h a f t Objectives … geben k a n n ;] Vgl. oben 268 sowie DH, oben 111,6–8. – Diesem Verlust des Objektiven stellt J. sein eigenes Denken als System absoluter Objectivität gegenüber; s. VE, oben 391,25. 286,15–18 Dieser Gemüthstheil b e g r e i f t … sehend.] Vgl. KrV B 74 f. 286,27–28 ursprüngliche, … qualitative Einheit] Vgl. KrV B 131– 133, § 16. 286,32 Stufenleiter] Vgl. KrV B 131: Also müssen wir diese Einheit (als qualitative § 12) noch höher suchen […]. 286,33–36 bis es zuletzt … zu seyn.] KrV B 134 FN. Zur Erwähnung von Ring und Kette vgl. Fichtes Beschreibung des obersten Grundsatzes des Wissens, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, 29 (GA I,2.125,30– 126,1). 287,37 reine Synthesis als Handlung] S. KrV B 129–131. 288,15–16 Hexenrauche, Raum und Zeit genannt,] Vgl. etwa die Frage nach Sein und Schein in den Hexenszenen in Macbeth, ein Schauspiel in 5 Aufzügen nach Shakespear, übersetzt von G. A. Bürger. Göttingen 1783

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(KJB 2898; vgl. 2899), bes. Akt III, Szene V: Mit Hexenspuk und Sprüchen seid / Und jedem Zauberkram bereit. / […] / Ein Tropfen gift’ger Dünste voll / An einem Horn des Mondes blinkt; / Den fang ich, eh er niedersinkt: / Der, destilliert mit Zauberflüchen, / Ruft Geister, die mit list’gen Sprüchen / Ihn mächtig täuschen. […] – Vgl. Eduard Allwills Papiere, in Der Teutsche Merkur (April 1776), 21 (WW I.8 f.) sowie J.s Hinweis auf die reinen Grundgespenster, Raum und Zeit, in VE, oben 391,13. 288,16–17 Erscheinungen! … nichts erscheint:] S. dagegen KrV B XXVIf. 288,20 sein Schauen Schauendes,] J.s Wortbildung spielt an auf den Begriff der intellektuellen Anschauung, den Kant für den transzendentalen Idealismus jedoch ausdrücklich ablehnt; vgl. KrV B 158, 308 f., Prolegomena, 207 FN (AA IV.375), sowie Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, bes. 388, 393 FN, 407 (AA VIII.389,22–27, 391 FN, 398,23). 288,27–28 Zahl und Maß gebiert.] Vgl. KrV B 182. 289,16–17 forma substantialis alles Denkens und Seyns:] Vgl. Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 421 f. (AA VIII.404,12–21). – Zum Begriff der forma substantialis s. DH, oben 83,11 und 91,32–33. – Kant hingegen distanziert sich von Leibniz’ Begriff der Monaden als substantiellen Formen; s. KrV B 332 und Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, A 121 f. (AA VIII.248,22–249,10). 290,18–19 Schatten werfendes Doppelglas.] Vgl. KrV B 305. – Doppelglas: böhmisch-schlesisches Zierglas des 17./18. Jahrhunderts, aus zwei ineinanderpassenden Gläsern, deren zueinandergerichtete Flächen bemalt sind und so plastische Illusionen produzieren. 290,19 Spiel mit diesen Schattenwesen] Vgl. KrV A 101: Erscheinungen als das bloße Spiel unserer Vorstellungen. 290,20–30 von der Welt … in allen Wesen.] Das Bild entstammt ursprünglich der indischen Mythologie, die die Inkarnationen des Gottes Visnu als die auf sich selbst ruhende und die Welt tragende kosmische Achse versinnbildlicht; s. Rig Veda VII.99,2; vgl. J. Gonda: Visnuism and Sivaism. A Comparison. London 1920, 10 ff. – J. übernimmt das Bild für den alten Regressus wahrscheinlich von Leibniz: Nouveaux Essais II,23, § 2, Œuvres philosophiques, 177 (Gr V.203): je crois, que les Philosophes ne meritent pas d’étre raillés, comme on fait ici, en les comparant avec un Philosophe Indien, qu’on interrogea sur ce qui soutenoit la terre, à quoi il reprondit que c’étoit un grand Elephant; & puis quand on demanda ce qui soutenoit l’Elephant, il dit que c’étoit une grande tortue, & enfin, quand on le pressa de dire sur quoi la tortue s’appuyoit, il fût reduit à dire que c’étoit q u e lq u e c h o s e , u n j e n e s c a i q u o i . Leibniz ist zu diesem Bild angeregt worden durch John Locke: An Essay concerning human understanding II,13, § 19, der dieses Bild im Kontext seiner Kritik des Substanzbegriffs verwendet. Später findet sich das Bild – in jeweils abgewandelter Form – auch bei Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Berlin 1783,

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II.85–88 (JubA 8.180 f.), Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, 26 f. (GA I,2.124,20–22), und Salomon Maimon: Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. Nebst angehängten Briefen des Philaletes an Aenesidemus. Berlin 1794, 321, 371. – In Glauben und Wissen, 102 (GW 4.367,28–35), greift Hegel das Bild auf und wendet es kritisch gegen J., der die Wahrheit des in ihm enthaltenen Gedankens, daß etwas auf sich selbst ruhe, nicht verstanden habe. 290,23–28 Die Vernunft … a p r i o r i;] Zum Verhältnis von Vernunft und Verstand vgl. KrV B 671; zu Verstand und Einbildungskraft: A 118, B 194; zu Einbildungskraft und Sinnlichkeit: B 164 f.; zu Sinnlichkeit und Einbildungskraft: B 196. 290,31–32 als die Möglichkeit … allem Möglichen] Vgl. KrV A 118. 290,33 ein Ergreifen, Apprehendiren] Vgl. KrV B 235. 290,36 nur d u r c h sie … v o n ihr.] J.s Kladden zeigen, daß er bei dieser Wendung sowohl Spinozas Substanzbegriff als auch den Prolog zum Johannesevangelium im Blick hat; s. die Notiz VII,331–341 (Schneider: Denkbücher, 232): Spinoza sagt: per causam sui intelligo quod in se est et per se ipse concipitur – Was nicht i n s i c h s e l b s t ist, das ist nicht: in sich selbst seyn kann aber nur das Ich – »Am Anfang war das Wort, u das Wort war bey Gott, u Gott war das Wort. Daßelbige war im Anfang bey Gott. Alle Dinge sind durch daßelbige gemacht, u ohne daßelbige ist nichts gemacht was gemacht ist. In ihm war das Leben, u das Leben war das Licht der Menschen.« Im Ich hängen Gott u Natur, Geist u Leib, Subject u Object unzertrennlich zusammen. Das Ich aber setzt eine Handlung, wodurch es sich selbst hervorbringt zu voraus. – S. ferner Johann Rudolf Stecks Bericht über ein Gespräch zwischen ihm, Johann Diederich Gries und J. am 30. April 1797 in Hamburg, in J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Hg. von Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche. Bd 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, 429, Nr 521: Seinem Freunde [FN: vermutlich Charles Vanderbourg] in Ste. Croix hatte er [Jacobi] besonders zur Beherzigung empfohlen den Anfang des Evangeliums Johannes »im Anfang war das Wort etc.« In diesen 4 Worten, finde er die ganze Fichte’sche Philosophie. – In der Wissenschaftslehre (1804 2), GA II,8.229, nimmt Fichte J.s Wendung mit Blick auf das reine Seyn bekräftigend auf: Es ist durchaus v o n s i c h i n s i c h , d u r c h s i c h ; dieses s i c h gar nicht genommen als Gegensatz, sondern rein innerlich, mit der befohlenen Abstraktion gefaßt, wie es sehr wohl gefaßt werden kann, und wie ich z. B. mir innigst bewußt bin, es zu fassen. 291,7 Es ist sonnenklar:] J. spielt wohl an auf Fichte: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie (GA I,7.183–268). 291,16–17 ein Kind es stricken kann;] Vgl J.s Strickstrumpf-Gleichnis in JF, K. zu 203,20–22. 291,17–18 das gesammte Universum gefangen] Vgl. EKP, oben 129,5 f. 291,27–29 real-idealen und ideal-realen … Einbildungskraft)] Vgl.

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Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 194 f., 273 f. (GA I,2.368,9–27, 412,12–16.28–30). 292,1–2 transscendentale Einbildungskraft … als Verstand.] Vgl. KrV B 153 f., 162 FN, ferner Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 204 (GA I,2.374,11–23). 292,7–8 die blindgebohrne Einbildungskraft] Vgl. KrV B 103: anfänglich noch roh und verworren. 293,21 vor unseren Augen,] Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, V,1.38: vor unsern Augen. 39: vor den Augen des Denkers, 47: unter seinen Augen (GA I,4.202,6.24, 207,11). 293,22 euren Betrug] Vgl. oben 290,12 sowie JF, oben 207,13–14. 293,24 ihr habt euch ehrlich überredet,] Zur Kritik der pia fraus s. J.: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug. 293,33–36 die Kantische Philosophie … Die Fichtische] S. J. an Reinhold, 28. Juli 1801, RLW 269: Wenn ich Kant recht getroffen habe, so, denke ich, muß Fichte mit getroffen seyn, denn dieses letztern System ist ja nur die Vollkommenheit des Kantischen. Mein Vorsatz war, in dem Vorberichte zu sagen, daß ich es bloß mit der Kantischen Philosophie zu thun hätte, aber der Meinung wäre, daß meine Einwürfe die Fichtische mit treffen müßten, aus dem eben angeführten Grunde, weil nämlich diese nur die Vollkommenheit von jener sey. Um Fichten und Schelling förmlich anzugreifen, müßte ich ihre Schriften so studirt haben, wie ich die Kantischen studirt habe, und jünger und gesunder seyn. Wir wollen mündlich über die Sache zu Rathe gehen; ich thue gewiß, was möglich ist, Deinen Wunsch zu erfüllen. 294,2 ursprünglich bestimmend] Vgl. oben 271,21.25–26, 309,11–12 und 319,4–5. 294,11–13 In der dritten Thesis … ohne Antithesis!] Vgl. KrV B 129–134. 294,29–31 F i c h t e geht … aus.] Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 11 f., 65 (GA I,2.259,21–260,18, 293,1–14). 294,32 Thesis, Antithesis und Synthesis] Ib. 37 f. (GA I,2.276,3– 17). 294,33–35 In jener Vereinigung … Einheit wäre.] Ib. 49–138 (GA I,2.283–335). 295,32 eine blos intellectuelle;] KrV B 150. 295,37–38 S y n t h e s i s a n s i c h … C o p u l a a n s i c h ;] KrV B 141 f. 295,39 I s t , I s t , I s t ,] Vgl. J.s Kladdennotiz VIII,101 (Hammacher: Jacobi, 174): Den G r u n d e i n e r S a c h e a u f s u c h e n , h e i ß t , das erste Ist aufsuchen, eine ursprüngliche Tatsache. Mit diesem Ist, welches unmittelbar aus der Vernunft entspringt, urtheilt nachher der Verstand, dessen I s t überall nur ein aeque ist. – X,971 (Schneider: Denkbücher, 243 f.): Fichte u Schelling stützen beyde sich auf den Satz: Nichts ist unbedingt als das i s t , alles andre ist entweder dieses oder jenes. – Ihr Absolutes, ihr Unbedingtes ist nichts anders als die Copula an sich. 296,8–9 der Knoten, … zur Rede stelle.] Zu dieser Darstellung J.s

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bemerkt Hegel: Jacobi-Rezension, 12 (PLS 2,1.393 f.): J. hat nun an die Kantische Philosophie nicht bloß seinen Maßstab als vorausgesetzt angelegt, sondern hat sie auch auf die wahrhafte Weise, nämlich d i a l e ktisch, behandelt. Die Kantische Bestimmung der Form, nach welcher die Aufgabe der Philosophie gefaßt und gelöst werden sollte, gab selbst unmittelbar die Waffe dazu. Kant stellte die Frage auf: wie sind synthetische Urteile a priori m ö g l i c h ? statt die Nothwendigkeit dieser Urteile als den Gegenstand der Philosophie zu bestimmen. Er theilte die Stellung der Aufgabe mit der Methode der Metaphysik seiner Zeit, welche von den Begriffen, so auch von dem Begriffe Gottes, allererst die Möglichkeit darthun zu müssen meinte. Solcher Möglichkeit […] liegt die abstracte Identität, die f o r m e l l e Einheit des Verstandes, zu Grunde. Jac. nimmt diese Form auf, und hält so R a u m als Eines, die Z e i t als Eines, das Bewußtseyn als Eines, dessen reine Synthesis, die Synthesis a n s i c h , von Thesis und Antithesis unabhängig, d. h. die ganz abstracte Copula, I s t , i s t , I s t , ohne Anfang und Ende, nach dem trocknen Verstande fest, in dem sie vorkommen, und frägt nun mit Recht, wie hier die M ög l i c hkeit, daß ein Knoten geschlungen werde, Statt finden sollte. 296,15–17 entäußert sich, … V e r s t a n d s e l b s t ,] Vgl. KrV B 153 f., 162 FN. 296,26–39 das Riechen … desselben Riechens.] Vgl. EKP, oben 126,2–17, MV, oben 3,20–24, sowie den Bezug auf das Sehen und Hören in Allwills Briefsammlung (1792), Brief XV, bes. 141 f. (WW I.116 f.). 298,29 ein gleichartiges Mannigfaltiges] Vgl. KrV B 176. 298,32–33 in irgend einem … im Stande seyd.] Vgl. J. an Jean Paul, 30. April 1801, Zoeppritz I.288: Wenn Fichte philosophisch eine Linie ziehen oder nur e i n e n Punkt setzen kann in das Leere, soll er überall gewonnen haben. 299,20–21 Die Qualität … Continuität.] KrV B 211. 299,23–24 der dritten … beylegt,] KrV B 131 ff., § 16: Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperception. 300,19–20 Hoc opus, hic labor!] J. vergleicht somit diese Arbeit mit dem Wiederaufstieg vom Hades, der nur wenigen Göttersöhnen vergönnt ist; s. Vergil: Aeneis VI,126–129: facilis descensus Averno, […] sed revocare gradum superasque evadere ad auras, hoc opus, hic labor est. (KJB 2842: Publius Vergilius Maro: Opera, varietate lectionis et perpetua adnotatione illustrata a Chr[istian] Gottl[ob] Heyne. Accedit index uberrimus. T. 1–14. Lipsiae 1767–75.) 301,2 schreitendes Wesen, transscendentale Einbildungskraft] Vgl. oben 304,10 und 319,12–13 sowie MV, oben 3,15–16. 301,8–9 zugleich … zwey Füßen,] Vgl. KrV B 151 f. 301,17 Grundsätze] KrV B 197–274. 301,26–31 Unter dem Worte … Bewußtseyn selbst.] Vgl. EKP, oben 142,22–23, 149,27 f. und 150,25, sowie K. zu 303,14–17.

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302,12–19 w e i l sie … bilden?] Vgl. KrV B 46–53, bes. B 49 f. – Vgl. J. an J. A. H. Reimarus, 29. Dezember 1790, ABW II.47 f.: Das mögliche Daseyn endlicher Wesen, womit, (nach | meiner Philosophie) Zeit und Raum, nebst den Formen unseres Denkens, auf eine begreifliche Weise gegeben sind, ist für mich das Geheimniß aller Geheimnisse. Aber so wenig Ewigkeit durch Zeit hervorgebracht, dargestellt, oder erfüllt werden mag, so wenig kann vergängliches Wesen die Seele der Natur, Lebendiges nur eine Modification des Unlebendigen, vernünftiges Daseyn nur eine Zufälligkeit von Einschränkung, eine leere Form, und nichtige Erscheinung seyn. – J. übernimmt Passagen dieses Briefes in die Zugabe. An Erhard O**, zu Allwills Briefsammlung (1792), und führt den Gedanken dort weiter, 311–313 (WW I.248 f.): Aber wie hat das Zeitliche von dem E w i g e n erzeugt werden können; welch ein | mögliches Verhältniß beyder zu einander läßt sich, menschlicher Weise, denken? Diese Kluft | füllt keine Philosophie, und es bedarf, um hinüber zu kommen, einer Brücke – oder F l ü g e l . – Vgl. J.s Kladdennotiz VIII,111 (Hammacher: Jacobi, 190 f.): Um die Zeit zu definiren, zu erklären, müßte man sie anfangen können. Die Zeit ist eine aus dem Veränderlichen u. Unveränderlichen zusammengesetzte Wahrnehmung, aus einem Vergänglichen und einem Bleibenden. […] Wenn wir sagen wollten, sie (die Zeit) sey ein Product der Action u. Reaction – Eins will durchdringen, u. Eins will sich nicht durchdringen lassen – so bleibt immer die Frage was den Effect enthält u. so, … was … Zeit eintreten | läßt. 302,30 sprechet ihr vornehm,] Vgl. K. zu 192,1. 302,31 successive Synthesis] KrV B 155 FN. 302,36–303,2 einem continuirlichen … v e r -fließe.] Vgl. KrV B 211 f. 303,6–10 die unendliche … der Zeit;] Vgl. die Kladdennotiz VII,7 (Hammacher: Jacobi, 189): Ich läugne daß die Theilvorstellung von Räumen und Zeiten nur durch die Vorstellung des ganzen uneingeschränkten Raumes u. der g a n z e n unendlichen Zeit möglich werden. Es gibt keinen ganzen uneingeschränkten Raum, keine g a n z e unendliche Zeit. – J. verweist ib. auf Hemsterh. L.(ettre) s.(ur) l’homme: l’idée de Bonté implique l’idée de bonté infinie. 303,13 drey verschiedenen Continuitäten] Vgl. 299,20–21; gemeint sind Raum, Zeit und die ursprüngliche Einheit der Apperzeption. 303,14–17 Unterbrechung … Zusammen-gesetztes:] Zum Unbegreiflichen der Veränderung und der Ausdehnung, das Zeit und Raum für uns enthalten, s. J.s Randbemerkungen zu Mellin: Marginalien und Register zu Kants Critik der reinen Vernunft, bes. zu Mellins Kritik der Einwände gegen den transzendentalen Zeitbegriff, I.13 f.: 65. E i n w u r f : Veränderungen sind wirklich und nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas wirkliches. A n t w o r t : die Zeit ist etwas wirkliches, nehmlich | wirkliche Form der innern Anschauung, aber nichts f ü r sich selbst bestehendes, das da wäre, wenn auch unser Vorstellungsvermögen nicht wäre. / 66. Die Ursache dieses Einwurfs ist, daß die Wirklichkeit des Gegenstandes unseres

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innern Sinnes unmittelbar durchs Bewußtseyn klar ist, und man nicht bedachte, daß auch dieser Gegenstand nur zur Erscheinung gehört. – J. notiert am Rand von S. 14: Sie [sc. die Zeit] ist als Mittel der Veränderung und des Wechsels vom Vorstellungsvermögen unabhängig. – I.12: 49. a. Der Raum stellet gar keine Eigenschaft oder Verhältnisse der Dinge a n sich vor, denn diese können nicht a priori angeschauet werden. – mit J.s Randnotiz: Jawohl, nämlich der Endlichkeit an sich. Er […] ist die Möglichkeit des endlichen Daseyns seine Vorstellung ist also gleichzeitig mit der Endlichkeit. – Vgl. J.s Kladdennotizen VII,106 (Hammacher: Jacobi, 188 FN): Die Vorstellung der Zeit entsteht durch Entstehung, so wie die Vorstellung des Raumes durch Daseyn und Mitdaseyn. – VII,41 f. (ib. 191): Le tems existe pour tous les êtres vivans puisque tous les êtres vivans ont des désirs et agissent en conséquence de leurs désirs. Partout où il y a succession, le tems est. Il faut nier qu’il y ait succession pour soutenir que rien ne corresponde à ce que nous nommons le tems. Je demande: qu’y at-il entre la cause et l’effect? Si l’on me repond qu’il n’y a rien; je replique qu’il n’y a donc pas d’action. Action suppose resistence, et ces deux choses ensemble etablissent cette troisieme chose indéfinissable que nous nommons t e m s . … Si l’on imagine une première action quelconque, il faut dire, que cette première impulsion créa le tems. Tout ce qui se fait, se fait necessairement dans un tems en otant le tems, vous otez necessairement l’idée de toute action. – Nous ne pouvous expliquer que ce que nous pouvons produire. C’est une folie de vouloir mettre au your l e s c o n d i t i o n s de la création ou d’un premier être. 303,25 ein allgemeines Verbindungsmittel,] Vgl. Kants Betonung der Vermittlungsfunktion der Zeit, KrV B 177 f. 303,30–34 daß sie … gestalten kann:] S. die vorletzte Anm. 304,1–7 Bey dem Raume … werden.] Vgl. KrV B 37–45. 304,9–10 Einbildungskraft … durchschreiten,] Vgl. oben 301,2, und 319,12–13, sowie MV, oben 3,15–16. 304,13 auf jener Traumleiter Jacobs,] Gen 28,12: Und er [sc. Jakob] träumte: Eine Leiter stand auf der Erde, ihre Spitze berührte den Himmel. Gottes Engel stiegen auf und nieder. – Zu diesem Bild wurde J. wohl angeregt durch Hamann: Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), N III.287,28–36: so würd’ ich dem Leser die Augen öfnen, daß er vielleicht sähe – Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf – und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen, auf einer Leiter, die kein Schlafender sich träumen läst – und den Reihentantz dieser Mahanaim oder zweier Vernunftheere – die geheime und ärgerliche Chronik ihrer Buhlschaft und Nothzucht – und die ganze Theogonie aller Riesen- und Heldenformen der Sulamith und Muse […].– J. besaß diese Schrift zusammen mit Hamanns Nachlaß; s. J. an Reinhold, 4. November 1800, RLW 258, und zusätzlich in einer Abschrift Herders, s. J. an Herder, 13. November 1784, JBW I,3.384,23 ff.. 304,27 Form des inneren Sinnes] KrV B 49 f. 304,31–33 Leiter … steigen können –] S. die vorletzte Anm.

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304,35–37 Thurm … i n die Wolken] Vgl. Gen 11,4. 305,3–5 Das Merkmal … und Subject.] Vgl. DH, oben 109,12–20, sowie J.s Notizen auf einem in Kladde VIII (ab September 1800; s. Hammacher: Jacobi, 144) lose eingelegten Blatt mit Bemerkungen zu Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse: Wo hört der Sinn auf, und wo fängt das an was Sinn hat u. das was Gegenstand ist. Drey sind die da zeugen, das Ich, das Du u. zwischen beyden Etwas, das wir Sinn nennen. – 145: Was artikulirt, gliedert, den Raum, die Zeit das Bewußtseyn. Sinn gliedert; er ist das G e l e n k (lid – löten) – Wo ein kontinuirliches Ganzes zerstückelt seyn soll ohne Trennung, da müssen Glieder eintreten. – Vgl. J.: Ueber eine Weissagung Lichtenbergs, JWA 3.22,34–38. 305,19–20 das Ey r e i n e r Zeitbestimmungen] Zur Metapher des transzendental-idealistischen Welteis s. K. zu 36,25. 305,27–32 erhellet … und Ende.] KrV B 185. 305,39–40 reine Bild aller Gegenstände überhaupt] KrV B 182. 306,11–12 Einig- und Alleinigen Raum] Vgl. KrV B 39. 306,14–18 Um mich … wegdenken.] S. dagegen KrV B 38 f. 308,27–28 daß Bewegung … ist,] Vgl. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 4 (AA IV.482). 309,2–4 es soll … zu bringen,] S. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 6 (AA IV.482): beweglicher physischer Punkt; vgl. oben 317,34–35. 309,11–12 Möglichkeit irgend einer ursprünglichen Bestimmung,] Vgl. oben 271,21.25–26, 294,2 und 319,4–5. 309,26–29 So beweiset … müsse.] KrV B 38. 310,10 Einen und Alleinen,] Vgl. oben 306,10 sowie Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 3 f. (AA IV.481,22– 482,6). 310,14 rein blinde Einbildungskraft] Vgl. oben 280,7, 292,7–8 und 297,32. 310,23–24 unbestimmte … C o p u l a der Zeiten,] Vgl. KrV B 224 f. 312,1–8 ein Allerhöchstes, … Apperception.] Vgl. KrV B 130– 136. 312,32 Hier … Köppen.] S. K. zu 263,38–264,2. 313,3 leben sie als wahre Amphibien,] Vgl. dagegen Kants Begriff der transzendentalen Reflexion, KrV B 316 ff. 313,34–35 Jedes Urtheil … Identität.] KrV B 94. 314,9–10 Einbildungskraft, einer blinden … Function] KrV B 103; vgl. oben 280,7, 292,7–8. 297,32, 310,14. 314,20–22 so fiele … zusammen.] Vgl. den Nihilismusvorwurf in JF, oben 215,11. 315,5–7 ob wir … gäbe.] S. u. a. KrV B 333. 315,12–13 dieses B i l d … kein Besondres?] Zu diesem Problem sind mehrere handschriftliche Aufzeichnungen J.s in den seinem Handexemplar der

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KU angebundenen 19 Notizblättern erhalten; s. ib. 1r/v: Unser Verstand ist so beschaffen, sagt Kant, daß er vom Allgemeinen zum besondern, und Einzelnen gehen muß. Die Vernunft (darunter mit Bleistift: [Urtheilskraft]) wird für das Vermögen das Besondere als enthalten im Allgemeinen zu erkennen, erklärt. – Nun findet sich aber das besondere ganz und gar nicht, weder im Verstande noch in der Vernunft, sondern es findet sich außer beyden, und wir gelangen einzig und allein durch das Anschauungsvermögen dazu. | Wie geht es denn nun zu mit diesem Erkennen des besonderen und Einzelnen als enthalten im allgemeinen, wenn das Eine Erkenntnißvermögen dem anderen gerade entgegengesetzt ist? s. Kr. d. Urth. Kr. § 74 und ff. S. 325 … (mit rötlicher Tinte unterstrichen: Ich behaupte das Vermögen allgemeiner Begriffe ist ein Unvermögen, das Unvermögen nehmlich, sich selbst oder irgend etwas absolut zu setzen.) Wir können nur Schatten von Wesen hervorbringen, das sind unsere Begriffe. 315,23–316,2 Um mathematische … Aus mir selbst,] S. J.s Erläuterung dieses Zusammenhangs in LS, JWA 1.130,20–26, mit Nachweisen aus Simson: Euclid. 316,21–22 »die Vernunft … hervorbringt.«] Vgl. Beylage VII zu LS2, JWA 1.258,17–39, und Beylage I zu JF, oben 229–231. 316,22–25 In der Mathematik … zu Hülfe nehmen.] Vgl. J. an Schlosser, 6. März 1792, WW III.548: Man geht ganz aus dem Wesen der Mathematik heraus, welches Anschauung ist, um nur geschwinder fortzukommen, und glaubt bey der Einbuße der E v i d e n z nichts zu verlieren, weil doch dieselbe Gewißheit bleibt. Dieser Trost fehlt in andern Wissenschaften, und darum sieht es da viel schlimmer aus. Wir bringens weit im Unterscheiden und Bezeichnen, und sind wirklich drauf und dran, so behende darinn zu werden, daß wir bald sogar auch nur noch ein Gespenst von S p r a c h e haben werden. 318,16–17 durch eine Unendlichkeit … bewegen.] Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Sixième édition, revue, corrigée et augmentée. Avec la vie de l’auteur, par M. Des Maizeaux. T. IV. Basle 1741 (KJB 1), Art. Zenon d’Elée, Not. G, 540: Il faut donc s’il y a de l’étendue, que ses parties soient divisibles à l’infini. Mais d’autre côté si elles ne peuvent pas être divisibles à l’infini, il faudra conclure que l’existence de l’étendue est impossible, ou pour le moins incompréhensible. 319,4–5 ursprünglich zu bestimmen,] Vgl. 271,21.25–26, 294,2 und 309,11–12. 319,9 kritische Baumeister des Universums?] Vgl. MV, oben 3,18, und Beylage VII zu LS2, JWA 1.261,32–34. 319,12–13 Ihr schwebet … Einbildungskraft,] Vgl. oben 304,10, 301,2 und 319,12–13, sowie MV, oben 3,15–16. 319,15–16 systematisch … zu saugen:] In Einige Betrachtungen über den frommen Betrug, 177 (WW II.490) bezieht J. dieses Bild auf ein falsches Verständnis von Vernunft, als ob ihr eigentliches Wesen aber darin bestehe, alles aus den Fingern zu saugen, oder nur so Gesogenes aufzunehmen. –

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Vgl. J. an Reinhold, 11. Februar 1790, RLW 229 f.: Wie gern, theuerster Freund, gäbe ich Ihnen alle Schlüssel zu meiner Sympathie und Antipathie in Absicht der Kantischen Lehre auf einmal in die Hand, wenn diese Schlüssel nur schon fertig wären. Was mich bei dem Fertigmachen aufhält, darüber habe ich einige dunkle Worte in der Vorrede meiner neuen Ausgabe der Briefe über Spinoza (S. XXIV u. XXV) [JWA 1.157,12–25] fallen lassen. »Es ist wahr, Ihr Männer vom Königsberge, ich fürchte mich vor Eurer philosophisch-catholischen Sinnesart, vor dem Eifer, womit Ihr das Anerkennen der Infallibilität Eures Concilii zu erzwingen sucht, nur – damit man Euch für Propheten halte, welche Eingebung und Auslegung aus ihren fünf Fingern zu saugen wissen.« – Aber dennoch will ich mich aufmachen. […] und in einigen fortgesetzten Betrachtungen über Idealismus und Realismus, oder vielmehr in einer philosophischen Erörterung der Frage: Was ist Wahrheit? meine Meinung […] | heraussagen. – Zu dem Bild des Saugens im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus s. J. an Jean Paul, 5. November 1798 (s. K. zu 199,7–8) sowie J. an Kleuker, 23. Dezember 1789, Ratjen, 144 f.: ein Vorhaben, welches nur sehr unbestimmt und mit vielen Zweifeln umgeben – f o r m l o s in meiner Seele lag, hat sich auf einmahl darin auf das bestimmteste entwickelt […]. Ich will nehmlich versuchen Hamanns Lehre in eine faßlichere Predigt zu verwandeln. Vorigen Sonntag vor 8 Tagen wurde ich zu diesem Entschlusse auf so eigene Weise geleitet, daß es der Mühe werth ist, es Ihnen zu erzählen. / Ich hatte vor einigen Wochen von dem Professor Reinhold in Jena seine neue Theorie des Vorstellungsvermögens nach Kantischen Principien [s. K. zu 123,25–30] […] zu lesen angefangen. Das Buch ist mit einem Fleiße geschrieben, dem ich nichts zu vergleichen weiß, der Verfasser ist seiner Materie vollkommen mächtig und ein Mann von ungemeinem Talent. Ich war beynah zur Hälfte mit dem Buche durch, als es mir mit jedem Tage schwerer wurde, weiter zu lesen, so sehr drückte, peinigte und zerstreute mich der Gedanke, daß ein Mensch so viele Gaben und Kräfte verschwendete, aus schwärmerischer Liebe für ein System, welches, beim Lichte besehen, die Schande der menschlichen Vernunft ist, und für welches darum allein so geeifert wird: d a m i t m a n s i e n u r j a f ü r P r opheten halten möge, welche Eingebung und Auslegung aus i h r e n f ü n f F i n g e r n s a u g e n . Nachdem ich mich länger als gewöhnlich am Sonntag vor 8 Tagen mit dem Buche gemartert hatte […], sprang ich vom Stuhl auf und holte mir Hamanns Rhapsodie in cabalistischer Prosa. Wie wohl mir über dem Lesen dieses Aufsatzes wurde, ist nicht auszusprechen. Sie wissen, ich liebte ihn immer vorzüglich; aber wie diesmahl hatte ich ihn nie gelesen, nie verstanden. Seitdem habe ich fortgefahren, oder vielmehr angefangen die Schriften des göttlichen Mannes nach der Reihe zu lesen, und alles ist mir leicht und verständlich. Den Reinhold lese ich zwischendurch und manches andere, ohne daß ich mich im geringsten dadurch zerstreut oder in meiner Stimmung verändert fühle. Ich denke also, es hat seine Richtigkeit mit dem Winke, und ich werde ihm folgen können. Ich wünsche mir keine schönere Tage, als die ich genieße, seit ich

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mit diesem Vorhaben umgehe. […] / Meinem Freunde Stolberg schrieb ich die vorige Woche nach Berlin, der Geist Hamanns wühlt unter mir, wie unter Hamlet der Geist seines Vaters. 319,19–21 Form und Stoff, … verarbeitet] S. J.s Kladdennotiz II,461 (Schneider: Denkbücher, 214): Die große Erfindung v. Kant ist, daß er für die duo quaerenda [vgl. JWA 1.250,34–35] dadurch Rath geschafft hat, daß er auch die Materie zur Form machte. 321,1–2 mit Plato … vom Bestimmten.] Vgl. J.: Ueber eine Weissagung Lichtenbergs, JWA 3.15,18–32, sowie Plato: Philebus 66a (Bipontina 4.320): SW. Pùnth d¶ f≥seiß, „ Pr±tarce, ‡p< te çggélwn pémpwn kaì paro¤si frùzwn, ”ß ≤don¶ kt¢ma oÿk Ésti pr®ton, oÿd’ a defiteron, çllû pr®ton mén ph perì métron kaì tó métrion kaì kaírion, kaì pùnta ôp