Sind wir Bürger zweier Welten?: Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus 9783787322855, 9783787322800

Es ist schwierig, Kant in der Frage der Willensfreiheit eine der heute üblichen philosophischen Sichtweisen zuzuordnen.

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Sind wir Bürger zweier Welten?: Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus
 9783787322855, 9783787322800

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Kant-Forschungen 20

KANT-FORSCHUNGEN Begründet von Reinhard Brandt und Werner Stark Band 20

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Mario Brandhorst / Andree Hahmann / Bernd Ludwig (Hg.)

Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2280-0 ISBN E-Book: 978-3-7873-2285-5 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Lichtenberg-Kollegs der Georg-August-Universität Göttingen.

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Inhalt Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dietmar H. Heidemann Über Kants These: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jochen Bojanowski Ist Kant ein Kompatibilist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tobias Rosefeldt Kants Kompatibilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Schönecker Kants Grundlegung über den bösen Willen. Eine kommentarische Interpretation von GMS III, 457.25–458.5 . . . . .

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Andree Hahmann Ist »Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit«? Das Ding an sich als Grund der Erscheinung bei Kant . . . . . . . . . .

135

Bernd Ludwig Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heiner F. Klemme Spontaneität und Selbsterkenntnis Kant über die ursprüngliche Einheit von Natur und Freiheit im Aktus des ›Ich denke‹ (1785–1787) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Geert Keil Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie . . .

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Inhalt

Kenneth R. Westphal Die positive Verteidigung Kants der Urteils- und Handlungsfreiheit, und zwar ohne transzendentalen Idealismus . . . . . . . . . . . . . .

259

Mario Brandhorst Woran scheitert Kants Theorie der Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . .

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Reinhard Brandt »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)« – wie das?

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Susanne Brauer Alternative zu Kant? Freiheit nach Hegel in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts . . .

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Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig

Keinem Leser der kritischen Philosophie Kants bleibt verborgen, dass Freiheit und Moral in ihrem Zentrum stehen. In einer Notiz der frühen 90er Jahre schreibt Kant: »Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen« (XX, 335). – In diesem Satz kommen zwei zentrale Themen zusammen: Freiheit und Moral, die zusammen die Zurechnung des Handelns möglich machen. Sowohl die Annahme des freien Wollens und Handelns als auch die Annahme, dass es moralische Verbindlichkeit gibt, müssen gerechtfertigt sein, wenn jemand für das, was er tut, moralisch verantwortlich sein soll. Kant war außerdem der Meinung, dass nur eine absolute, erstursächliche Freiheit und nur ein kategorisches Moralgesetz dafür genügen. Diese Position wird bis heute von vielen geteilt; sie wird ebenfalls von vielen angegriffen. Das Problem, auf das Kant reagiert, ist damit für uns so aktuell wie es für Kant selbst war. Die Frage, welche Art von Freiheit und welche Art von Moral Bedingungen der moralischen Zurechnung sind, bleibt weiter umstritten. Es ist auch keine Einigkeit in Bezug darauf in Sicht, ob wir über die erforderliche Freiheit verfügen und ob die Moral die geforderte Geltung besitzt. Dementsprechend ist auch kontrovers, ob wir für unser Wollen und Handeln moralisch verantwortlich sind. Und wenn wir es sind, bleibt zu klären, warum wir es sind und wie weit diese Verantwortung reicht. Die Wichtigkeit der Frage steht außer Zweifel: Freiheit, Moral und Verantwortlichkeit sind für uns nicht gleichgültig. Sie geben keine bloßen begrifflichen Rätsel auf, die uns zwar reizen, aber nicht weiter betreffen; sie gehören zu unserem Selbstverständnis und zum Fundament jeder Beziehung zu anderen Menschen. Die Frage ist außerdem weitläufig, unübersichtlich und schwierig; sie fordert die Philosophie in besonderer Weise heraus. Einerseits fällt es uns schwer, der Frage und den Antworten auf sie gerecht zu werden; andererseits können wir der Frage nicht ausweichen: Wenn sie einmal gestellt ist, verlangt sie nach einer Antwort. Dass Kant ebenso empfand, als er in ganz neuer, radikaler Weise auf die Herausforderung reagierte, zeigt seine Rede vom »Ursprung der critischen Philosophie«. Kants Konstruktion hat bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Dieser Band ist daher seiner Theorie der Freiheit und moralischen Zurechenbarkeit gewidmet. Im ersten Teil der Einleitung geben wir einen Überblick der zentralen Fragen und Themen. Im zweiten Teil folgen kurze Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge. Dem folgt ein Hinweis auf die Zitierweise der verwendeten Texte.

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1. Kants Theorie der Freiheit: eine Problemübersicht Kant meint schon 1781, mit der Kritik der reinen Vernunft die Frage der Freiheit so weit gelöst zu haben, wie es für menschliche Einsicht nur möglich und für moralisches Handeln erforderlich ist. Dabei geht es ihm vor allem um den Nachweis der Vereinbarkeit: Kant will zeigen, dass Freiheit und Determiniertheit des Handelns einander nicht notwendig widersprechen, sondern grundsätzlich miteinander vereinbar sind. Kants Begründung dieser These lautet, dass wir uns selbst einmal als ›Ding an sich‹ und einmal als ›Erscheinung‹ beschreiben können. Das ist zugleich der Grundgedanke der Lehre, die Kant als transzendentalen Idealismus bezeichnet und in der ersten Kritik entfaltet. Mit dieser Lehre soll verständlich werden, wie »Freiheit und Natur« menschliches Handeln »zugleich und ohne allen Widerstreit« (A 541 / B 569) bestimmen können. Damit setzt sich Kant ausdrücklich von der Tradition ab, die behauptet, Freiheit sei nichts weiter als eine besondere Art der Determiniertheit und deshalb auch ohne Umschweife mit der These des Determinismus vereinbar – wenn sie diese nicht sogar voraussetzt. Aber Kant setzt sich zugleich von der Tradition ab, die den Determinismus für das menschliche Handeln abstreitet, einschränkt oder relativiert. Kant zufolge sind alle Ereignisse in der Erscheinungswelt Wirkungen. Sie haben Ursachen in der vorherigen Zeit, und das gilt auch für menschliches Denken und Handeln. Anders als viele Verteidiger menschlicher Freiheit gibt Kant den Gedanken der Naturnotwendigkeit menschlichen Handelns also nicht preis. Zugleich hält er an einem Verständnis von Freiheit, von Moral und von moralischer Zurechnung fest, demzufolge Freiheit »absolute Selbstthätigkeit« (A 418 / B 446) ist und deshalb nicht bloßer Teil des Naturnotwendigen sein kann. Weil es der ersten Kritik zufolge eine solche »Selbstthätigkeit« in der Natur nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben kann, ist die Freiheit, die Moral und Zurechnung des Handelns sichert, keine Freiheit, die sich einfach in die Ordnung der Natur einfügen ließe. Wie Kant zu zeigen versucht, ist eine solche Freiheit dennoch möglich, weil sie dem Determinismus der Natur nicht widerspricht. Die Begründung dafür lautet, dass wir uns als ›Ding an sich‹ betrachten können und uns als ein ›Ding an sich‹ als frei ansehen dürfen. Wenn wir uns als ›Ding an sich‹ betrachten, abstrahieren wir von Raum und Zeit als »reinen Formen der Sinnlichkeit« (A 89 / B 121) – und damit auch von dem Naturgesetz der zeitlichen Abfolge. Zwar können wir von uns als Ding an sich und damit von der Freiheit nichts erkennen; aber wir sind sicher, dass sie nicht unmöglich ist. So »behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte« (B XXIX). Wie schon diese knappe Skizze zeigt, ist Kants Unterscheidung zwischen dem, was Gegenstand der Erfahrung sein kann und dem, was sich grundsätzlich dem

Einleitung

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Bereich des Erfahrbaren entzieht, nicht nur für die »critische Philosophie« im Allgemeinen, sondern für Kants Theorie der Freiheit, Moral und Verantwortlichkeit im Besonderen von zentraler Bedeutung. In ihrem Mittelpunkt steht die Unterscheidung von ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹, die ihrerseits der Erklärung bedarf. Mit ihr verbunden ist die Unterscheidung von zwei verschiedenen ›Welten‹ oder ›Standpunkten‹, von denen aus unser Denken, Wollen und Handeln beschrieben und bewertet werden kann. – Wie ist diese Unterscheidung zu verstehen? Wie ermöglicht sie Freiheit? Und wie kann durch sie die Vereinbarkeit von »Freiheit und Natur« aufgewiesen werden?

1.1 Die Frage der Vereinbarkeit Sehen wir für den Moment von Kants Lehre ab, so kann man auf Fragen der Freiheit und moralischen Zurechnung auf mindestens zwei verschiedene Weisen reagieren. Die erste Reaktion besteht darin, die Aussage ›Wir sind frei‹ so zu fassen, dass sie mit der These des Determinismus nicht in Konflikt gerät. Das ist die Vereinbarkeitsthese oder der Kompatibilismus. Die zweite Reaktion besteht darin, die Aussage ›Wir sind frei‹ so zu fassen, dass sie die Falschheit der These des Determinismus einschließt oder voraussetzt. Das ist die Unvereinbarkeitsthese oder der Inkompatibilismus. Die These des Determinismus besagt dabei grob gesprochen, dass jeder Zustand der Welt durch (1) den Weltzustand in der vorherigen Zeit und (2) die Naturgesetze vollständig bestimmt wird. Statt von ›Determinismus‹ können wir deshalb auch von ›Naturnotwendigkeit‹ sprechen: Wenn die These des Determinismus wahr ist, gibt es zu jedem Zeitpunkt nur eine naturgesetzlich mögliche Zukunft.1 Aus dieser Auffassung ergibt sich ein ernstes Problem, das sich nun geradezu aufdrängt: Wie ist unter Voraussetzung der deterministischen These freies und verantwortliches Handeln möglich? Anhänger der Vereinbarkeitsthese argumentieren in der Regel wie folgt: Die Freiheit, auf die es für verantwortliches Handeln ankommt, setzt nicht voraus, dass freies Wollen und Handeln sich grundsätzlich jeder Bestimmung durch die vorherigen Weltzustände und Naturgesetze entzieht. Freiheit setzt vielmehr voraus, dass unser Wollen und Handeln in der richtigen Weise von den gegebenen Absichten, Wünschen, Meinungen und Überlegungsabläufen bestimmt wird. Es geht demzufolge nicht darum, jede Erklärung des Wollens und Handelns auszuschließen, sondern Erklärungen von Fall zu Fall zu unterscheiVgl. van Inwagen 1983, 2–8 u. 65. Kant spricht in diesem Zusammenhang von »Prädeterminism«, den er vom »Determinismus« unterscheidet. »Prädeterminism« ist dabei die These, dass »willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben« (VI, 49; vgl. XXVII, 502–504); »Determinismus« dagegen ist die ganz anders gelagerte These, der zufolge die »Willkür durch innere hinreichende Gründe« bestimmt ist (ebd.), was Kants Auffassung nach ebenfalls zutrifft. Kants »Prädeterminism« entspricht also recht genau der Bedeutung des heutigen ›Determinismus‹. 1

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den. Zwang, Verwirrung, Täuschung, Sucht, Krankheit und manche Formen der Manipulation sind klare Beispiele dafür, wie Freiheit und moralische Zurechnung eingeschränkt oder ganz aufgehoben sein können. Eine Bestimmung des Handelns durch Nachdenken, eigene Wünsche und Gründe dagegen ist frei.2 Das genügt Vertretern der Unvereinbarkeitsthese nicht. Sie leugnen nicht die Freiheit, auf die es Vertretern der Vereinbarkeitsthese ankommt; sie leugnen auch nicht die Unterscheidungen, die mit dem Begriffsinventar der Vereinbarkeitsthese zu treffen sind. Sie bestreiten aber, dass diese Freiheit schon ausreicht, um Freiheit und insbesondere moralische Zurechnung in vollem Umfang beschreiben und rechtfertigen zu können. Die Freiheit, auf die es ankommt, setzt ihrer Meinung nach mehr voraus als nur die Freiheit von dieser und jener Art der Bestimmung. Freiheit in einem moralisch belastbaren Sinn setzt für sie wirkliche Selbstbestimmung, echte Handlungsalternativen und offene Zukunftsverläufe voraus. Dabei haben sie zwei mächtige Intuitionen auf ihrer Seite: die, dass wir unser Handeln nur dann als frei beschreiben und uns selbst zurechnen können, wenn wir selbst es sind, die handeln, womit die Erklärung dieser Handlung endet; und die, dass wir anders handeln können, als wir wirklich handeln und auch das eine Voraussetzung für Freiheit und Verantwortung ist. Mit dieser Art von Forderung legen sich Anhänger der Unvereinbarkeitsthese noch nicht auf die Wirklichkeit der Freiheit fest. Sie legen sich nicht einmal auf deren Möglichkeit fest, wie der Spielraum für radikal skeptische Auffassungen zeigt. Man kann schon als ›harter Determinist‹ bestreiten, dass Freiheit und moralische Zurechnung mit dem Determinismus vereinbar sind, aber zugleich den Determinismus behaupten; wenn beides zutrifft, folgt, dass wir weder frei noch moralisch verantwortlich sind. Man kann aber auch ein »echter moralischer Skeptiker« sein und bestreiten, dass Freiheit und moralische Zurechnung überhaupt klar verständlich gemacht werden können; und man kann das durch den Hinweis ergänzen, dass auch gar nicht einzusehen ist, wie Indeterminiertheit weiterhelfen würde.3 Dementsprechend bleibt bisher noch offen, ob unser Wollen und Handeln frei und der moralischen Zurechnung fähig ist oder nicht. Vertreter der Unvereinbarkeitsthese behaupten ein Konditional: Wenn die These des Determinismus wahr ist,

So schreibt etwa Peter Bieri: »Der Unterschied zwischen der Freiheit und der Unfreiheit von Tun und Wollen ist nach dieser Geschichte ein Unterschied in der Art und Weise des Bedingtseins« (Bieri 2001, 166). Der freie Wille wird von ihm entsprechend als ein Wille beschrieben, »der sich unter dem Einfluß von Gründen, also durch Überlegen bildet« (ebd.). 3 Es gibt dementsprechend erstens die Position, dass Freiheit und moralische Zurechnung nicht mit der Wahrheit des Determinismus vereinbar sind und wir tatsächlich weder frei noch moralisch zurechenbar handeln; siehe dazu Pereboom 2001. Hier wird die Möglichkeit von Freiheit und moralischer Zurechnung nicht bestritten. Es gibt zweitens die radikal skeptische Position, dass Freiheit und moralische Zurechnung völlig unmöglich sind, ganz gleich, ob die These des Determinismus nun wahr ist oder falsch; siehe dazu G. Strawson 2010. Den Ausdruck »radikale moralische Skepsis« für diese Haltung prägt P. F. Strawson 1962, 187. 2

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dann gibt es weder moralisch belastbare Freiheit noch Zurechnung unseres Wollens und Handelns. Also gilt: Wenn es moralisch belastbare Freiheit und Zurechnung gibt, dann muss die These des Determinismus falsch sein. Und nun wird es zur alles entscheidenden Frage, ob es diese Freiheit gibt, oder ob sie eine Illusion ist.4

1.2 Kants Strategie Kants Theorie der Freiheit ist schon deshalb interessant, weil sie nicht ohne Weiteres in dieses traditionelle Raster von Theorien passt. Mithilfe seiner Unterscheidung zwischen ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹ behauptet Kant im Ergebnis die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit. Tatsächlich geht er noch weiter, indem er behauptet, dass wir uns zugleich als determiniert und als frei ansehen müssen. Zugleich hält er an einem sehr anspruchsvollen Verständnis von Freiheit fest. Das wirft die Frage auf, ob Kant Kompatibilist, Inkompatibilist, oder aber beides oder keines von beiden ist. Kant behauptet die These des Determinismus mit großem Nachdruck. Ihm zufolge sind »alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt; und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten.« (A 549 f. / B 577 f.) Nur sieht Kant darin kein Hindernis der Freiheit: Der Mensch kann zugleich völlig determiniert und doch frei sein. Das betont Kant in einer Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft, die das Problem wieder aufgreift: »Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsterniß ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.« (V, 99) Wenn Kant behauptet, dass wir zugleich determiniert und frei sein können, setzt er offenbar voraus, dass Freiheit und Determinismus einander nicht notwendig widersprechen. Vielmehr sind sie vereinbar, und Kant will zeigen, warum sie es sind.

Wer (1) die These des Inkompatibilismus für wahr und (2) die Freiheit für wirklich hält, wird heute üblicherweise als ›Libertarianer‹ bezeichnet; vgl. zu dieser Debatte Kane 2002. 4

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Das spricht auf den ersten Blick dafür, Kant als Kompatibilisten zu bezeichnen: Im Ergebnis hält Kant Freiheit und Determinismus für vereinbar. Auf den zweiten Blick jedoch wird diese Zuordnung zweifelhaft. Erstens schränkt Kant die These des Determinismus ausdrücklich auf die »Handlungen des Menschen in der Erscheinung« ein (A 549 / B 577; vgl. A 545 / B 573) und weist der Freiheit so einen ganz anderen Ursprung zu, als die Handlungen des Menschen in der Erscheinungswelt haben. Dieser Ursprung liegt »im Intelligibelen« (A 552 / B 580), dem wir als Dinge an sich durch Vernunft und Sittengesetz angehören. Kant zufolge gilt die These des Determinismus dort nicht, und das ist geradezu die Pointe seiner Freiheitstheorie. Würde die These dort gelten, dann gäbe es nach Kant überhaupt keine moralisch belastbare Freiheit und Zurechnung, und sein Vereinbarkeitsvorhaben wäre gescheitert. Zweitens – und damit zusammenhängend – baut Kant durchweg auf einen Freiheitsbegriff, der jede äußere Ursache ausschließt: Freiheit ist das »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (A 533 / B 561) – nicht mehr und nicht weniger. Das schließt jede Verursachung durch Fremdes aus. Drittens lehnt Kant den Verweis auf den »comparativen«, das heißt lediglich auf die jeweilige »Art der Bestimmungsgründe« bezogenen, Freiheitsbegriff als unzureichend für Zurechnung ab (V, 96). Das ist aber eben der Freiheitsbegriff, auf den die kompatibilistische Tradition sich stützt. Kant dagegen meint, ein solcher Begriff von Freiheit sei eine »Ausflucht« und ein »elender Behelf«: Wenn solche Freiheit nicht »transscendentale, d. i. absolute, zugleich« wäre, »würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet« (V, 97). Das scheint nun eher dafür zu sprechen, Kant als Inkompatibilisten zu bezeichnen. Eine erste Frage ist also, ob Kant sich überhaupt einem der zwei Lager zuordnen lässt. Eine weitere Frage ist: Welchem, und mit welcher Begründung? Hinter diesen Fragen steht die weitere, wie Kants Theorie gedeutet werden sollte. Kant behauptet im Ergebnis die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit. Aber wie wird sie erklärt und begründet?

1.3 Transzendentaler Idealismus Offenbar will Kant die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit des Wollens und Handelns durch die Lehre des transzendentalen Idealismus begründen. Frei sind wir demzufolge, weil wir uns nicht nur als Erscheinung, sondern auch als Ding an sich denken können und müssen, als Ding an sich aber keiner zeitlichen Ordnung und damit auch keinem Naturgesetz zeitlicher Abfolge unterliegen. Als Erscheinung ist unser Handeln dagegen ein Teil der Natur und als solcher auch naturnotwendig. Die These des Determinismus bleibt somit auf die Erscheinung beschränkt. Das ermöglicht Freiheit und Naturnotwendigkeit derselben Handlung, einmal als Ding an sich, einmal als Erscheinung betrachtet.

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Wie ist aber diese Unterscheidung zwischen ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ ihrerseits zu verstehen? Seit mehr als 200 Jahren wird diese Frage sehr kontrovers diskutiert. Mit der Unterscheidung zwischen ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹, ›Sinnenwelt‹ und ›Verstandeswelt‹, ›Phaenomenon‹ und ›Noumenon‹ steht und fällt Kants »critische Philosophie«, und deren Schicksal ist nicht nur für Fragen der Freiheit bedeutsam. Eine einflussreiche Tradition meint eine bestechend einfache Antwort auf diese Frage gefunden zu haben. Man geht zunächst davon aus, dass es sich bei der Rede vom ›Ding an sich‹ um eine Kurzform der Rede vom ›Ding an sich selbst betrachtet‹ handelt.5 Ein Gegenstand als Ding an sich ist demzufolge derselbe Gegenstand wie dieser Gegenstand in der Erscheinung, nur ohne die Formen der sinnlichen Anschauung – Raum und Zeit – betrachtet. Es gibt also nicht zwei Arten von Dingen: erstens Erscheinungen, zweitens Dinge an sich. Es gibt vielmehr nur eine Art von Dingen, aber zwei Aspekte, unter denen wir diese Dinge betrachten können: einmal bezogen auf unser Erkenntnisvermögen, einmal unabhängig davon. Die entsprechende Lesart wird traditionell als ›Eine-Welt-‹ oder ›Zwei-Aspekte-Theorie‹ bezeichet. Diese in der neueren Zeit von Gerold Prauss und Henry Allison geprägte Lesart ist allerdings in den vergangenen Jahren verstärkt in die Kritik geraten. Einerseits steht sie im klaren Widerspruch zu zahlreichen Formulierungen Kants; andererseits scheint sie zumindest in Allisons Lesart nicht annähernd das leisten zu können, was Kant sich von der Unterscheidung verspricht.6 Das wird nicht zuletzt bei Fragen der Freiheit, Moral und Zurechnung deutlich: Wie kann das Subjekt der Ursache »außer der Reihe« (A 552 / B 580), dessen Tun Wirkungen in der Erscheinung hat, mit dem erscheinenden Subjekt der Wirkung identisch sein? Umgekehrt: Wie kann das Subjekt des Handelns in Raum und Zeit, das erscheint, mehr als eine Vorstellung und damit kein Ding an sich sein, wenn Kant Erscheinungen durchweg als »bloße Vorstellungen« deutet (z. B. A 491 f. / B 519 f., A 537 / B 565 u. ö.)? Auch Allisons Neufassung seiner Verteidigung des transzendentalen Idealismus konnte nicht alle Bedenken ausräumen, sodass die Debatte unentschieden bleibt.7 Was wäre die Alternative? Einerseits kann man an einer ›Zwei-Aspekte-Theorie‹ festhalten, sie aber eher ontologisch als methodologisch wenden.8 Dann wird man

Vgl. Prauss 1974, 42 f. Siehe Van Cleve 1999. Passagen, die sich nur schwer mit der Lesart in Einklang bringen lassen, sind zum Beispiel die folgenden: A 494 / B 522; A 544 / B 572; A 358; A 359; A 393; Prolegomena, IV, 289; 315; 344–347, 354; Grundlegung, IV, 459. 7 Allison 2004; die erste Auflage erschien 1983. In Allison 1990 wendet er die Lesart auf die Freiheitsproblematik an. 8 Vgl. dazu Rosefeldt 2007, der selbst eine Variante der ontologischen Lesart der ZweiAspekte-Theorie vertritt. Die methodologische Lesart, die Rosefeldt unter anderem Prauss und Allison zuschreibt, versteht die zwei Aspekte nicht so sehr als einen Unterschied auf Seiten der Objekte, sondern als einen Unterschied in der Weise, diese zu betrachten. Vertre5 6

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dem kantischen Text zwar eher gerecht, hat aber noch immer die Aufgabe zu erklären, wie das Subjekt der Ursache »außer der Reihe« mit dem Subjekt der Wirkung, das Teil der Reihe in Raum und Zeit ist und erscheint, identisch sein kann. Außerdem bleibt zu erklären, warum und in welchem Sinn Kant so oft von der »Sinnenwelt« und »Verstandeswelt« spricht und Erscheinungen durchweg als »Vorstellungen« deutet. Andererseits kann man die ›Eine-Welt-‹ oder ›Zwei-Aspekte-Theorie‹ ganz zugunsten einer ›Zwei-Welten-‹ oder ›Zwei-Objekte-Theorie‹ aufgeben, um sich so von den Paradoxien der Identität zu befreien. Aber auch hier folgen umgehend weitere Fragen: Warum spricht Kant von »zwei Standpunkten«, von denen aus ein vernünftiges Wesen »sich selbst betrachten« kann, wenn er doch eigentlich zwei Welten meint (IV, 452)? Wie kann er unter »Noumenon« nach dieser Lesart »ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahiren« (B 307)? Spricht Kant hier nicht eindeutig von ein und demselben Objekt? Und angenommen, er tut es nicht: Von welcher Art sind die zwei Objekte, die ihnen entsprechenden Welten, und welche Beziehungen haben sie? Auch im Hinblick auf Freiheit und Zurechnung stellen sich schwierige Fragen. In welchem Sinn ist ein Subjekt in Raum und Zeit für sein Wollen und Handeln verantwortlich, wenn dieses Subjekt der neuen Voraussetzung nach nicht mit dem, das »außer der Reihe« frei handelt, identisch ist? Wie Lewis White Beck bemerkt, scheinen wir dann zwar die Freiheit des noumenalen Menschen vorauszusetzen, hängen aber den phänomenalen für ihn an den Galgen.9 – Wie ist jetzt das Verhältnis des freien Subjekts, das Ding an sich ist und nicht erscheint, zum Subjekt, das erscheint und vom freien Subjekt abhängig sein soll, zu interpretieren? Schließlich bleibt noch eine deflationäre Lesart übrig, der zufolge wir uns nicht für eine der zwei alternativen Lesarten entscheiden müssen. Das könnte deshalb der Fall sein, weil Kant sich mehrdeutig ausdrückt und beide Arten von Ausdruck ihre Berechtigung haben, aber auch deshalb, weil Kant kein klares, stabiles Verständnis der Unterscheidung von ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹ erreicht hat.10

tern der ontologischen Lesart erscheint dies zu schwach. Sie schreiben Kant die Annahme zu, dass es zwei verschiedene Arten von Eigenschaften von Gegenständen gibt, und dass wir nur Eigenschaften einer dieser beiden Arten – nämlich die Eigenschaften der Dinge, wie sie uns erscheinen – erkennen können. Die zwei Aspekte unterscheiden demnach Eigenschaften der Objekte, nicht nur Weisen, sich auf die Objekte zu beziehen. 9 Zitiert bei Allison 1990, 71, 259. 10 So hält Frederick Beiser den Streit zwischen ›Zwei-Aspekte-‹ und ›Zwei-Welten-Theorien‹ für »steril und unlösbar«, weil ihm zufolge die Texte Anhaltspunkte für beide Lesarten bieten und Kant den Begriff der Erscheinung in Abhängigkeit vom dialektischen Kontext mit verschiedenem Sinn benutzt. Beiser sieht darin gleichwohl kein Anzeichen dafür, dass Kants Theorie inkohärent oder widersprüchlich wäre (Beiser 2002, 22).

Einleitung

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Wie auch immer man sie liest, wirft die Theorie schwierige Fragen auf, die ihren Inhalt und ihre Begründung betreffen. Fragen des Inhalts und der Begründung der Theorie sind eng mit Fragen ihrer Relevanz und Überzeugungskraft verbunden: Viele Verteidiger Kants sind dementsprechend bemüht nachzuweisen, dass sie keineswegs die unzumutbaren Annahmen macht oder die extravaganten Ergebnisse hat, die man ihr stets unterstellt hat. In diesem Spannungsfeld stehen die weiteren Fragen, die das Verständnis und die Chancen einer Verteidigung der Freiheitstheorie Kants betreffen.

1.4 Empirischer und intelligibler Charakter Der transzendentale Idealismus ermöglicht die These: Wenn wir frei sind, dann hat diese Freiheit ihren Ort und Ursprung nicht in der Natur, das heißt der ›Welt der Erscheinung‹, sondern in der ›Welt der Dinge an sich‹. Das ›Ding an sich‹ ist dabei so definiert, dass es nicht Gegenstand sinnlicher Anschauung ist und damit kein Teil der ›Welt der Erscheinung‹ sein kann. Dadurch wird es für Kant möglich zu behaupten, dass Dinge an sich deshalb, weil sie keine Erscheinungen sind, auch nicht den subjektiven Bedingungen der Anschauung wie Raum und Zeit und dem Naturgesetz zeitlicher Abfolge unterliegen. Das ist der entscheidende Zug: Er schafft Raum für Freiheit, ohne mit der Naturnotwendigkeit des Handelns in Konflikt zu geraten. Freiheit haben wir demnach als Dinge an sich mit einem »intelligibelen Charakter« (A 539 / B 567), der zugleich als »empirischer Charakter« (ebd.) erscheint und auf diesem Weg unser Handeln in Raum und Zeit, in der Erscheinung, bestimmt. Für die Erscheinungen gilt nun die These des Determinismus uneingeschränkt: Es gibt keine erste Ursache in der Natur, und das gilt auch für das menschliche Denken und Handeln. Doch dieses Handeln in Raum und Zeit ist für Kant nur das »sinnliche Zeichen« der »transscendentalen« Ursache (A 546 / B 574). Diese ist »außer der Reihe der Erscheinungen (im Intelligibelen)« (A 552 / B 580) und absolut frei. Das erst ermöglicht die Vereinbarkeit von Determiniertheit und Freiheit: »So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intellgibelen oder sensibelen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden« (A 541 / B 569). Zur Erklärung der Möglichkeit einer besonderen »Causalität durch Freiheit« beruft sich Kant also auf die Unterscheidung von zwei Arten der Kausalität, die er dem »intelligibelen« und dem »empirischen Charakter« zuordnet. Wieder stellen sich schwierige Fragen: Wie ist diese Unterscheidung zu verstehen, und wie hilft sie dabei, Freiheit und Zurechnung möglich zu machen? Wie ist die Beziehung des intelligiblen zum empirischen Charakter einerseits und zu anderen Erscheinungen und Ereignisfolgen andererseits zu deuten? Ist der Begriff einer Kausalität, die »im Intelligibelen« angesetzt wird, überhaupt klar verständlich? Steht er Kant selbst zur Verfügung? Wenn ja: Ist der Begriff der Erstursächlichkeit, den Kant in Anspruch

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nimmt, für seine Zwecke geeignet? Setzt Freiheit in dem Sinn, auf den es ankommt, tatsächlich Erstursächlichkeit in diesem Sinn voraus?

1.5 Zurechnung und Handlungsalternativen Freiheit des Wollens und Handelns ist nicht nur eine besondere Art von Kausalität, »absolute Selbstthätigkeit« (A 419 / B 446) und das »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (A 533 / B 561). Mit Freiheit verbinden wir auch die Vorstellung einer gewissen Ergebnisoffenheit des praktischen Überlegens – die Annahme also, es bestünde zum Zeitpunkt der Entscheidung grundsätzlich die Möglichkeit, anders zu handeln, als wir dann tatsächlich handeln. Nun liegt es durchaus nahe, daraus zu schließen, Freiheit setze die Möglichkeit alternativer Weltverläufe voraus. Das scheint wiederum unvereinbar mit der These der Notwendigkeit des tatsächlichen Weltverlaufs zu sein – und damit wiederum unvereinbar mit der These des Determinismus. Wie sich aus den bisherigen Erörterungen ergibt, muss Kant bestreiten, dass dieser Schluss gültig ist: Wenn man die Lehre des transzendentalen Idealismus voraussetzt, sind Freiheit im Sinn von Erstursächlichkeit und strikter Determinismus vereinbar. Und Kant akzeptiert in der Tat auch die zweite Voraussetzung: Freiheit ist die Fähigkeit, anders zu handeln, als wir tatsächlich handeln und setzt die Möglichkeit anderer Weltverläufe voraus. So schreibt Kant in der Grundlegung: »Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind« (IV, 455). Freiheit ermöglicht uns Handlungsspielraum. Handlungsspielraum setzt Möglichkeitsspielraum voraus. Ein solcher Möglichkeitsspielraum setzt Kant zufolge aber nicht voraus, dass die These des Determinismus falsch ist: Eher setzt Möglichkeitsspielraum voraus, dass die These des Determinismus nicht das letzte Wort behält. Besonders deutlich wird das Sollen, von dem Kant spricht, spürbar, wenn es sich dabei um ein moralisches Sollen handelt. Unleugbar und unhintergehbar – so die Lehre vom »Factum« (V, 6) der reinen praktischen Vernunft – sieht sich der Mensch moralischen Forderungen ausgesetzt. Ein Verstoß gegen moralische Pflicht ist insofern ein klarer Fall einer Handlung, ›die nicht hätte geschehen sollen, ob sie gleich geschehen ist‹; das Handeln im Einklang mit der moralischen Pflicht wäre dagegen die Handlung, ›die hätte geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen ist‹. Beide stehen dem Handelnden, der sich des Sollens bewusst ist, zum Zeitpunkt seiner Entscheidung vollkommen frei. Und Kant fügt hinzu: Sie müssen ihm auch in dieser Weise freistehen, wenn der Handelnde verpflichtet sein soll und die Verfehlung, die er begehen mag, ihm selbst moralisch zugerechnet werden können soll. So schreibt Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: »Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein« (VI, 44).

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Moralisch gut oder böse ist demnach nur, wem die Beschaffenheit seines Charakters auch zugerechnet werden kann. Zugerechnet werden kann die Beschaffenheit des Charakters ihrerseits nur dann, wenn sich der Handelnde diesen Charakter durch freie Wahl selbst verschafft hat; das setzt wiederum voraus, dass weder der Charakter selbst noch die Wahl des Charakters auf die Wirkungen der gegebenen Dispositionen des Handelnden zurückgeht. Die Freiheit, um die es Kant bei der Zurechnung geht, ist wie zuvor die Freiheit der Urheberschaft, der Selbstbestimmung und der wirklich offenen Handlungsalternativen: Es ist die Freiheit, »nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß« (VI, 49 f. Anm.). Doch wie ist das möglich? Kant hat hier eine besondere Schwierigkeit, die sich direkt aus dem Determinismus herleitet: Wenn man sie nur in der Dimension von Raum und Zeit betrachtet, kann »die Handlung sowohl als ihr Gegentheil« nicht mehr »in der Gewalt des Subjects sein«, weil das »Subject« der Voraussetzung nach determiniert ist. Im gegebenen Weltverlauf in Raum und Zeit können Handlungen also nie ausbleiben, weil sie »als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben« (VI, 49 f. Anm.). Wie kann dann »die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein«, wie Kant es fordert? Kant meint auch dieses Problem mit der Lehre des transzendentalen Idealismus und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen »empirischem« und »intelligibelen« Charakter gelöst zu haben. Demzufolge verschafft sich der Handelnde den empirischen Charakter durch die intelligible Tat. Diese Tat ist eine Ursache, die selbst keine Wirkung ist und deren Wirken sich außerhalb von Raum und Zeit vollzieht. Mit dieser Voraussetzung kann auch dem Handelnden in Raum und Zeit zum Zeitpunkt der Handlung transzendentale Freiheit zukommen, obwohl die Handlung als Erscheinung in Raum und Zeit vollkommen determiniert ist. Doch mit dieser Antwort ergibt sich ein zweites ernstes Problem, das Kants Zuordnung des »intelligibelen« Charakters zur »intelligibelen« Welt und dessen Wirkungsweise betrifft.

1.6 Grenzen der Zurechnung Wenn Kants Unterscheidung trägt, können wir das Handeln in Raum und Zeit in zwei verschiedenen Hinsichten als determiniert betrachten. In der ersten Hinsicht wird es vollkommen durch Ursachen in der Erscheinung bestimmt. Wie jemand wirkt, wird von seinem empirischen Charakter bestimmt, der seinerseits eine Wirkung ist, die sich aus anderen, früheren Ursachen herleitet. Insofern kann niemand anders handeln, als er wirklich handelt. In der zweiten Hinsicht dagegen wird Handeln in Raum und Zeit durch eine »transscendentale Ursache« (A 546 / B 574) bestimmt, die »außer der Reihe der Erscheinungen (im Intelligibelen)« (A 552 / B 580) wirkt und diese Reihe selbst festlegt.

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Das entspricht dem Bild des Menschen mit einem empirischen und einem intelligiblen Charakter, der ihm die Freiheit des Handelns in Raum und Zeit sichert. Wenn das Bild zutrifft können wir – obwohl es paradox klingt – auch noch in dem Moment über Freiheit und Möglichkeitsspielraum verfügen, in dem unser Handeln schon längst determiniert ist und sich in Raum und Zeit nur noch als Wirkung der Ursachen in der Zeit vor diesem Handeln vollzieht. Die Bedingung der Zurechnung, »nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß« (VI, 49 f. Anm.), wäre dann selbst in der deterministischen Welt der Erscheinung erfüllt, weil diese deterministische Welt in Bezug auf diese Handlung zugleich durch die Freiheit des Subjekts als Ding an sich mitbestimmt wird. Doch für was genau wäre der Handelnde dann verantwortlich? Für seine Handlungen in Raum und Zeit? Für sich selbst und seinen Charakter? Für all das, was als Bedingung zu diesem Charakter gehört und ihn geformt hat? Folgt am Ende aus der Theorie, dass wir für die ganze Vorgeschichte unserer eigenen Existenz (mit-)verantwortlich sind? Dahinter steht eine skeptische Frage: Wie kann man überhaupt nach diesem Maßstab moralisch urteilen, das eine loben, anderes tadeln? Wäre ein Mensch nach der Theorie nicht für genau das verantwortlich, was der intelligible Charakter in zeitlosem Handeln bewirkt? Wie aber kann man wissen oder auch nur eine Vermutung darüber anstellen, was er bewirkt, wenn wir von diesem intelligiblen Charakter nichts wissen? Kant selbst bleibt an dieser Stelle skeptisch. Wie er selbst bekennt, bleiben der intelligible Charakter und mit ihm der Umfang der Zurechnung uns am Ende unbekannt. Das sagt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten« (A 551 Anm. / B 579 Anm.). Diese Antwort ist zwar folgerichtig, doch selbst wenn wir uns mit ihr zufriedengeben wollen, wirft sie sofort eine weitere Frage auf. Wie kann die »reine Wirkung der Freiheit«, von der Kant spricht und die wir ihm zufolge als Ding an sich haben, noch dadurch eingeschränkt sein, dass »der bloßen Natur« und dem »unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit« ebenfalls ein möglicher Einfluss auf unser Wollen und Handeln in Raum und Zeit eingeräumt wird? Anders gefragt: Wie kann man jetzt noch – nämlich nachdem man seine Freiheit in einer intelligiblen Welt angesiedelt hat – das, was man sich selbst oder einer bestimmten Person zurechnen kann, von dem unterscheiden, was man einer anderen Person oder niemandem zurechnen kann? Und wenn das alles unklar bleibt: Wie kann man hier überhaupt von Zurechnung sprechen?

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1.7 Freiheit zum Bösen? Auf diese Fragen braucht Kant eine Antwort, wenn die Theorie der Zurechnung nicht aporetisch enden soll. Er braucht aber auch eine Antwort auf die Frage, die sich anschließt. Nehmen wir an, wir bekommen das erste Problem in den Griff: Dann begründet die Freiheit des intelligiblen Charakters die Zurechnung des empirischen Wollens und Handelns – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Weil uns dabei nicht nur die Betrachtungsweise des Subjekts als Erscheinung, sondern auch die Betrachtungsweise des Subjekts als Ding an sich zur Verfügung steht, gilt dann: »In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und sofern unausbleiblich nothwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können; denn sie mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet.« (V, 98) So weit, so gut – doch wie ist es dann überhaupt möglich, frei und zugleich »gesetzwidrig« zu handeln? Wie kann eine »von aller Sinnlichkeit unabhängige Ursache«, die sich selbst zur Verstandeswelt zählt, gegen das Moralgesetz verstoßen, das Gesetz dieser Verstandeswelt ist? Das Problem ist für Kant deshalb besonders ernst, weil er Freiheit in der Verstandeswelt ansetzt, die per definitionem von allem Sinnlichen, das ja der Sinnenwelt angehört, frei ist. Tatsächlich geht Kant noch weiter, indem er den »freien Willen« mit dem Willen, der dem Moralgesetz folgt, gleichsetzt. So schreibt er in der Grundlegung, dass der moralische Wille sich selbst das Gesetz gibt, sich selbst das Gesetz zu geben aber nichts anderes als das Merkmal des freien Willens ist: »Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei. Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs.« (IV, 447) Das scheint es nun geradewegs auszuschließen, frei unmoralisch zu handeln. Frei wäre der Wille ja nur insofern als er moralisch ist; wäre er dagegen unmoralisch, so wäre er auch nicht mehr frei. Wenn ein unmoralischer Wille aber nur ein unfreier Wille sein kann, dann wäre auch niemand für dieses unmoralische Wollen und Handeln verantwortlich, ja der Begriff der moralischen Schuld oder Verfehlung hätte dann gar keinen Sinn. In späteren Schriften versucht Kant, dem Problem durch eine Unterscheidung von »Wille« und »Willkür« zu begegnen. So schreibt er in der Metaphysik der Sitten:

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»Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.« (VI, 213) Hier unterscheidet Kant zwischen Wille und Willkür durch ihren verschiedenen Gegenstand. Gegenstand der Willkür ist die Handlung, die der Vernunft entsprechen oder widersprechen kann. Damit ist der Gegenstand der Willkür auch die freie Wahl der Handlung aus Alternativen, die jeweils durch »Bestimmungsgründe« erfolgt. Gegenstand des Willens selbst dagegen ist nicht die Handlung oder die Wahl, sondern die Willkür im Hinblick auf diesen »Bestimmungsgrund«. Der Wille ist kein Vermögen der Wahl, und er hat und braucht aus diesem Grund seinerseits keinen »Bestimmungsgrund«. Er befähigt eher zur Erkenntnis als zur Entscheidung; er gibt der Willkür den Maßstab und Grund des Richtigen vor. Das kann der Wille genau deshalb tun, weil er nichts anderes als »die praktische Vernunft selbst« ist, die sich selbst gleichbleibt, der Willkür in der Entscheidung den Maßstab des Richtigen vorgibt und zu ihrem Bestimmungsgrund werden »kann«. – Das erlaubt es Kant zu behaupten, dass der Wille dann und nur dann frei ist, wenn er mit dem Moralgesetz übereinstimmt, ohne mit dieser Behauptung die Möglichkeit des unmoralischen Handelns und dessen Zurechnung fragwürdig werden zu lassen. Doch das Problem kehrt gleich wieder. In diesem Bild steht der Wille im Einklang mit dem Moralgesetz, und jede Abweichung ist jetzt begrifflich unmöglich. Ob der Wille dagegen die Willkür und mit ihr das Handeln bestimmt, ist eine offene Frage: Moralisches Handeln wird vom Willen nur gefordert, aber nicht automatisch bewirkt. Unmoralisches Handeln verstößt gegen die Forderung der Vernunft und des Willens, wird aber durch Willkür möglich und zurechenbar. Unmoralisches Handeln ist also möglich und wirklich, weil der Wille zwar die Willkür bestimmen »kann«, das aber nicht immer tut. – Doch jetzt werden wir fragen: Warum bestimmt der Wille die Willkür nicht immer? Warum entscheiden und handeln wir manchmal »gesetzwidrig«, wenn wir als Dinge an sich keinem Zwang unterliegen und mit dem Willen auch transzendentale Freiheit besitzen? Klar ist: Dabei muss es sich um einen Akt der Freiheit handeln, denn sonst wären wir nicht dafür verantwortlich, dass sich der Wille nicht durchsetzt. Aber welcher Akt der Freiheit kann das sein? Wie ist seine Wirkung zu erklären? Auf diese Fragen hat Kant keine Antwort, und er weist sie zuletzt als falsch gestellt zurück. In der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bringt Kant das abschließend klar zum Ausdruck. Er spricht dort von einer »Verstimmung« der Willkür, die uns zwar zugerechnet, aber nicht erklärt werden kann. Kant akzeptiert, dass die »Verstimmung« uns zugerechnet werden können muss, um ihrerseits frei zu sein; doch den Versuch der Erklärung weist er dann selbst so zurück:

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»Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen Maxime erfordern würde.« (VI, 43) Diese erneute »Annehmung einer bösen Maxime« müsste dann ihrerseits frei sein – und so weiter ad infinitum. – Zurechenbares böses Handeln bleibt ein unerklärtes Faktum. Ist das eine gute Antwort? Gibt es eine bessere?

1.8 Freiheit und Vernunft Angenommen, wir sind von der Möglichkeit freien und zugleich bösen Handelns überzeugt: Bleibt es bei der bloßen Möglichkeit der Freiheit, oder ist sie wirklich? Auch hier ist Kants Position komplex. In der ersten Kritik beansprucht Kant nur die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und Freiheit aufgezeigt zu haben. Diese wird in der Auflösung der dritten Antinomie durch die Lehre des transzendentalen Idealismus begründet. Doch wenn erstens gilt, dass Freiheit nur die Freiheit als Ding an sich sein kann oder in ihr gründet, und zweitens gilt, dass alles, was wir theoretisch erkennen können, »auf bloße Erscheinungen eingeschränkt« ist, dann folgt daraus, dass wir von Freiheit nichts wissen. Tatsächlich wird Freiheit von Kant »nur als transscendentale Idee behandelt« (A 558 / B 586), deren Wirklichkeit und Wirkungsweise sich unserer Kenntnis entzieht. Dass Freiheit in dem Sinn möglich ist, dass sie nicht der Naturnotwendigkeit widerspricht und außerdem aufgrund der Unterscheidung zwischen der Welt der Erscheinung und der Welt der Dinge an sich einen möglichen Ort hat, zeigt die Lehre des transzendentalen Idealismus – daraus folgt aber weder, dass Freiheit wirklich ist, noch dass wir einsehen können, wie solche Freiheit beschaffen sein würde, und Kant weist ausdrücklich auf beides hin. Der Schluss auf die Wirklichkeit von Freiheit ist deshalb unzulässig, weil wir »aus der Erfahrung niemals auf etwas, was gar nicht nach Erfahrungsgesetzen gedacht werden muß, schließen können« (A 558 / B 586).11 Selbst auf die Möglichkeit der Freiheit zu schließen wäre verfehlt, »weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität, aus bloßen Begriffen a priori, die Möglichkeit erkennen können« (ebd.). Wie Freiheit möglich ist und ob sie wirklich ist, wissen wir also auf dieser Grundlage noch nicht. Schon in der ersten Kritik gibt es allerdings Anzeichen dafür, dass es nicht bei dieser bloßen Vereinbarkeitsannahme bleibt. Kant verknüpft schon hier die »transscendentale Idee der Freiheit« mit dem Begriff der »Freiheit im praktischen Verstande«, womit »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe

Wie es bei Kant die Regel ist, bedeutet ›muss nicht‹ ›darf nicht‹ (wie im Englischen ›must not‹). 11

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der Sinnlichkeit« gemeint ist (A 534 / B 562). Wenn diese Verbindung besteht, folgt daraus, dass »die Aufhebung der transscendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen« würde (ebd.). Worin besteht der Zusammenhang? In der Kritik der reinen Vernunft wird er durch Kants Bild der Vernunft gestiftet: Anders als allen natürlichen Dingen schreibt Kant dem Menschen »in Ansehung gewisser Vermögen« die Fähigkeit zu, sich selbst »durch bloße Apperception« als »bloß intellgibeler Gegenstand« zu erkennen (A 546 f. / B 574 f.). Diese Vermögen sind »Verstand und Vernunft« (A 547 / B 575). Nun gilt: Nur wenn die Willkür von der »Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« frei ist, haben wir praktische Freiheit. Verstand und Vernunft sind das, was diese praktische Freiheit verbürgt, und beide sind »intelligibel«. Von moralischer Pflicht ist hier noch nicht die Rede: Kant begnügt sich mit dem Hinweis auf die »bloße Apperception«. In der Folge werden Kants Theorien der Freiheit und der Moral immer enger miteinander verzahnt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 soll Freiheit die Möglichkeit des katgorischen Imperativs garantieren. Das wirft erneut – und noch dringlicher – die Frage auf, ob wir transzendental frei sind, und was unabhängig von jedem Interesse an der Moral für diese Annahme spricht. Kant meint auch hier noch, in der Vernünftigkeit des Menschen das Merkmal identifiziert zu haben, das uns berechtigt, uns selbst für transzendental frei zu halten. Er schreibt: »Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit« (IV, 452). Das nimmt Kant schon bald darauf zurück. Die endgültige Fassung der Theorie erreicht Kant deshalb erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787, wo er nicht mehr auf die Vernunft im Allgemeinen, sondern auf das Moralgesetz und mit ihm auf das Gesetz der reinen praktischen Vernunft selbst verweist.

1.9 Das »Factum« der Vernunft 1788 hält Kant das »System« der reinen Vernunft für vollendet. Er schreibt zuversichtlich: »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus« (V, 3 f.). Diese Entwicklung kündigt sich schon in der zweiten Auflage der ersten Kritik von 1787 an. – Was hat sich verändert? Wie zuvor sind Freiheit und Moral als Bedingung und Bedingtes aufeinander angewiesen – ab jetzt aber so, dass Freiheit durch Moral bewiesen werden soll. Freiheit wird nun nicht mehr durch »gewisse Vermögen« (A 546 / B 574) – nämlich Verstand und Vernunft –, sondern durch »gewisse Gesetze« (B 430) bewiesen. Da-

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mit ist unser Bewusstsein der Gültigkeit der moralischen Gesetze – und damit des moralischen Gesetzes selbst – gemeint. Kants Begründung lautet, dass wir dieses Bewusstsein nicht hätten, wenn wir nicht wirklich frei wären: »Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein«. (V, 4 Anm.) Freiheit wird so zur »ratio essendi« des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz zur »ratio cognoscendi.« der Freiheit (ebd.) Diese Wirklichkeitsannahme ist nach wie vor nicht dazu geeignet, die theoretische Einsicht über die Welt der Erscheinung hinaus zu erweitern und in die intelligible Welt vordringen zu lassen. Aber »in praktischer Absicht« hält Kant die Annahme transzendentaler Freiheit für richtig und sogar für zwingend (V, 4 f.). Worin besteht der Zusammenhang? Kant scheint so zu schließen: Wir sind uns des Moralgesetzes bewusst. Zu diesem Bewusstsein gehört: Das Moralgesetz gebietet kategorisch. Wenn es aber kategorisch gebietet und alle Menschen betrifft, müssen die Menschen die Fähigkeit haben, dem Moralgesetz unabhängig von Neigung, Empfindung und Wunsch zu folgen. Hier impliziert jedes ›Sollen‹ ein ›Können‹ (vgl. V, 94 u. 159): Wenn der Mensch dem Gesetz nicht nachkommen könnte, wäre es nicht seine Pflicht, ihm nachzukommen. Das würde heißen: Es wäre gar kein Moralgesetz. Wenn der Mensch dem Gesetz nicht unabhängig von Neigung, Empfindung und Wunsch nachkommen könnte, wäre es nicht kategorisch. Das würde heißen: Es wäre dann kein Moralgesetz. Nun ist es Pflicht und kategorisch: Also verfügen wir auch über die Fähigkeit, es zu befolgen, und diese Fähigkeit ist gleichbedeutend mit Freiheit. Kant selbst schlägt die Brücke so: »[D]er Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebot anerkennt und sagt, daß man es thun solle, das heißt sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich erheben, und ist in demselben Bewußtsein des Gesetzes auch als Triebfeder eines die Sinnlichkeit beherrschenden Vermögens unzertrennlich, wenn gleich nicht immer mit Effect verbunden […].« (V, 159) Das Bewusstsein moralischer Pflicht verbürgt also die Freiheit, weil Freiheit selbst die Bedingung moralischer Pflicht ist. Die Freiheit bleibt zwar »Idee« (V, 4) und ist in Bezug auf ihre Möglichkeit und Wirklichkeit nicht erklärbar. Dennoch ist sie nach Kant die Bedingung des Moralgesetzes, das wir anerkennen. In der Grundlegung sieht Kant in der Freiheit eine »nothwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens, (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft unabhängig von Naturinstincten zu bestimmen) bewußt zu sein glaubt« (IV, 459). In der Kritik der praktischen Vernunft macht das

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Moralgesetz selbst aus diesem Glauben Gewissheit. Es zeigt, dass dem moralischen Sollen, das sich an uns richtet und »apodiktisch gewiß ist« (V, 47), ein freies Können als seine Bedingung entspricht. 1.10 Offene Fragen So wird Freiheit 1788 zum »Schlußstein« (V, 3 f.) des gesamten Systems. Dieses Bild aus der Architektur ist gut gewählt: Es hat eine eigene Pointe und hebt die zentrale Bedeutung der Freiheit für das Unternehmen der »critischen Philosophie« hervor. Diese gleicht einem Gebäude, das Theorie und Praxis überwölbt. Freiheit ist ihre Verbindung: Sie ist die Bedingung des Moralgesetzes, die uns das Moralgesetz verbürgt. So ist auch der Schlussstein mehr als die Verbindung der zwei Teile des Gebäudes, denn beim Bau von Bögen und Gewölben ist der Schlussstein mehr als nur der Stein, der zum Schluss noch fehlt: Erst mit eingesetztem Schlussstein trägt die Konstruktion sich selbst. Alle hier nur knapp skizzierten Punkte werfen viele Fragen auf. Wie begründet Kant die These, dass moralische Verantwortung transzendentale Freiheit voraussetzt? Ist diese These überzeugend? Ist es Kant selbst gelungen, die Voraussetzung einzulösen? Hat er gezeigt, dass wir uns für transzendental frei halten dürfen oder gar müssen, wenn auch nur in praktischer Hinsicht? Was bleibt von der Lehre des transzendentalen Idealismus? Was genau besagt sie, was spricht für und gegen sie? Wie tragfähig Kants Antworten auf diese Fragen sind, ist nach wie vor kontrovers. Es hängt offenbar entscheidend von der Frage der richtigen Lesart der Theorie ab, und auch diese Frage bleibt umstritten. Es hängt aber auch von der Frage ab, welche Annahmen Kants wir heute noch teilen können, und führt so über Kants eigene Texte hinaus. Die Beiträge zu diesem Band werfen ein Licht auf diese und andere Fragen. Manche der Beiträge sind eher historisch oder exegetisch angelegt; andere gehen eher systematisch und problemorientiert vor. Dass sich beides nicht ausschließt, sondern im Gegenteil fest zusammengehört und sich ergänzt und befruchtet, zeigen die Beiträge in der Gesamtschau.

Literaturverzeichnis Allison, Henry E.: Kant’s Theory of Freedom. Cambridge 1990. –: Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense. New Haven, London 22004. Beiser, Frederick C.: German Idealism. The Struggle Against Subjectivism 1781– 1801. Cambridge/Mass. 2002. Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001.

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Kane, Robert (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will. Oxford 2002. Prauss, Gerold: Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn 1974. Strawson, Galen: Freedom and Belief. Oxford 22010. Strawson, Peter F.: Freedom and Resentment. – In: Proceedings of the British Academy 48 (1962), 187–211. Pereboom, Derk: Living Without Free Will. Cambridge 2001. Rosefeldt, Tobias: Dinge an sich und sekundäre Qualitäten. – In: J. Stolzenberg (Hg.): Kant in der Gegenwart. Berlin 2007, 167–209. Van Cleve, James: Problems from Kant. New York 1999. van Inwagen, Peter: An Essay on Free Will. Oxford 1983.

2. Die Beiträge Den Band eröffnet ein Beitrag von Dietmar H. HEIDEMANN, der die Motivation und den Gehalt der These des transzendentalen Idealismus untersucht. Dabei konzentriert sich Heidemann auf einen Satz aus der Kritik der reinen Vernunft: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (A 536 / B 564). Mit dieser ›Unrettbarkeitsthese‹ droht Heidemann zufolge ein Dilemma: Da die Moral Freiheit voraussetzt, würde diesem Satz zufolge dann, wenn Dinge an sich Erscheinungen wären, mit der Freiheit auch Moral unmöglich werden; wenn man dagegen mit Kant behauptet, dass Erscheinungen nicht Dinge an sich sind, scheint man sich die große metaphysische Last einer ›Zwei-Welten-Theorie‹ aufzubürden. Demgegenüber will Heidemann zeigen, dass Kant seiner Ethik keine Zwei-WeltenTheorie zugrunde legt, sondern vielmehr transzendentale Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des moralischen Handelns im Rahmen einer ›Eine-Welt-Theorie‹ etablieren kann. Heidemann argumentiert, dass die Unrettbarkeitsthese lediglich eine mögliche Welt fingiert, in der die kritische Erkenntnisrestriktion nicht gilt, und dass daraus die Inkompatibilität von Natur und Freiheit mit der Konsequenz der Unrettbarkeit der Freiheit folgen würde. Gegen eine solche metaphysische Bestimmtheitsthese wendet der transzendentale Idealist ihm zufolge ein, dass die Gegenstände der Erfahrung nicht an sich bestimmt, sondern vielmehr an sich unbestimmt, wenn auch durch den Verstand nach subjektiven Erkenntnisbedingungen bestimmbar, seien. Wenn das zutrifft, sind auch Natur und Freiheit vereinbar, ohne dass zwei Welten – eine Welt der Natur und eine Welt der Freiheit – angenommen werden müssten. Wir wären transzendental freie Bürger der einen Welt. – Auch Jochen BOJANOWSKI steht einer Zwei-Welten-Lesart des transzendentalen Idealismus skeptisch gegenüber. In seinem Beitrag versucht er, Kants Position in der Freiheitsdebatte in der gegenwärtigen Debatte zu verorten. Er argumentiert zunächst dafür, Kant einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff zuzuschreiben, von dem er dann zeigt, wie er gegen das Zufallsargument der Kom-

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patibilisten widerspruchsfrei expliziert werden kann. Weil Kant zugleich eine Form des Determinismus behauptet, liegt es dessen ungeachtet nahe, ihn als Kompatibilisten zu bezeichnen. Bojanowski argumentiert gegen diese Zuordnung, indem er Kants Position von den gängigen Formen des Kompatibilismus unterscheidet. Ihm zufolge vertritt Kant weder einen klassischen Kompatibilismus, noch einen Metakompatibilismus, noch einen anomalen Monismus nach dem Vorbild Davidsons. Vielmehr sollten wir Kants Verständnis der deterministischen These genauer beleuchten: Bojanowski zufolge schließt diese These einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff nämlich gar nicht aus. Seine These lautet, dass Kant einen Indeterminismus hinsichtlich der Naturursachen menschlichen Handelns vertritt, wobei Kants Freiheitsbegriff der moralischen Autonomie seine Theorie fundamental von allen gegenwärtigen inkompatibilistischen Freiheitstheorien unterscheidet. Auch nach dieser Lesart sind wir freie Bürger einer Welt. – Tobias ROSEFELDT dagegen liest Kant als einen Deterministen ohne Wenn und Aber. Er schreibt ihm folgende Annahmen zu: erstens die Annahme der Determiniertheit der menschlichen Handlungen durch zeitlich frühere Ereignisse; zweitens die Annahme der Möglichkeit transzendentaler Freiheit; drittens die Annahme der Vereinbarkeit der ersten zwei Annahmen unter der Voraussetzung, dass man den transzendentalen Idealismus als Theorie über Raum und Zeit akzeptiert. Aufgrund dieser Vereinbarkeitsannahme bezeichnet er Kants Position als eine Form des Kompatibilismus. Die Begründung für diese Zuordnung lautet, dass die These des Kompatibilismus die Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und Determinismus behauptet, nicht aber eine bestimmte Auffassung davon beinhaltet, weshalb und unter Inkaufnahme welcher weiteren theoretischen Kosten diese Vereinbarkeit möglich ist. Dabei räumt Rosefeldt ein, dass die theoretischen Kosten von Kants transzendentalem Idealismus tatsächlich hoch sind. Determinismus und Freiheit sind nach seiner Lesart nur dann miteinander vereinbar, wenn man akzeptiert, dass Menschen nur als Erscheinungen, nicht aber an sich selbst in der Zeit existieren, und dass sie als Dinge an sich außerhalb der Zeit handeln können. Rosefeldt verteidigt diese Lesart, die er als die ›Standardinterpretation von Kants Kompatibilismus‹ bezeichnet, und schützt sie gegen einen gewichtigen Einwand. Die Lesart scheint die absurde Konsequenz zu haben, dass unser transzendental freies Handeln nur dann einen Einfluss auf unsere Handlungen in der Zeit haben kann, wenn es auch Einfluss auf die Geltung der Naturgesetze oder auf den bisherigen Weltverlauf hat. Um diesem Einwand zu begegnen, untersucht Rosefeldt in seinem Beitrag, was Kants Kompatibilismus für den Zusammenhang zwischen freiem zeitlosen Handeln, determiniertem zeitlichen Handeln und den dieses Handeln determinierenden Faktoren impliziert. Seine These lautet, dass keine der Konsequenzen sachlich so absurd ist, dass sie einen hinreichenden Grund dafür darstellen würde, diese Form des Kompatibilismus nicht selbst zu vertreten oder sie Kant nicht zuzuschreiben. Sie ist Rosefeldt zufolge zumindest nicht weniger glaubwürdig als der transzendentale Idealismus. –

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Dieter SCHÖNECKER untersucht eine Passage der Grundlegung, die den Zusammenhang von Freiheit und Moralgesetz betrifft. Kant behauptet im dritten Abschnitt, ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen seien »einerlei«: »Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« (IV, 447). Diese These, die Schönecker Kants ›Analytizitätsthese‹ nennt, besagt, dass der intelligible Wille dann und nur dann frei ist, wenn er ein moralisch guter Wille ist. Doch wie ist dann die Möglichkeit des bösen und auch freien Handelns zu erklären? Wenn eine Person kraft ihres intelligiblen Willens dann und nur dann frei handelt, wenn sie moralisch handelt, dann kann eine solche Person offenbar nicht frei und unmoralisch handeln; das moralisch Böse wird dann schlicht unmöglich. Die Passage aus dem dritten Abschnitt, die Schönecker kommentarisch interpretiert, soll diesen Einwand bekräftigen. Schönecker zufolge zeigt sie, dass Kant zwar vielleicht mit dem Begriff der Freiheit einen Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens haben mag, dass er einen Schlüssel zur Erklärung der Heteronomie des Willens aber nicht anzubieten hat. Das Problem des Bösen in der Grundlegung lässt sich nach Schönecker letztlich auf die Schwierigkeit zurückführen, dass Kant den Menschen sowohl als Glied der Verstandeswelt als auch als Glied der Sinnenwelt versteht, wobei er den freien Willen des Menschen als Glied der Verstandeswelt, seinen bösen Willen dagegen als Glied der Sinnenwelt begreift, aber nicht einmal im Ansatz erklärt, wie das Verhältnis der zwei ›Willen‹ zueinander und zur ganzen Person zu verstehen ist. – Andree HAHMANN untersucht in seinem Beitrag das Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung. Er diskutiert es zum einen im Hinblick auf die dritte Antinomie der Kritik der reinen Vernunft, zum andern im Hinblick auf die in der Kritik der praktischen Vernunft eingeführte Lehre vom Faktum der Vernunft. Dabei betont er die ontologische Priorität des Dings an sich, die seiner Lesart zufolge vor allem im Zusammenhang der Lehre vom Faktum hervortritt. Damit wendet Hahmann sich zugleich gegen die Deutung des transzendentalen Idealismus, die er als ›epistemologisch‹ bezeichnet. Dieser Deutung zufolge sind die Gegenstände in mehr als nur der raumzeitlichen Hinsicht bestimmt, sodass sie auch unabhängig von der Tätigkeit des Verstandes als Gegenstände gedacht werden können. Demgegenüber betont Hahmann, dass Kant zufolge die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Gegenstände der Erfahrung darstellt. Eher von exegetischen als systematischen Interessen geleitet, will Hahmann eine kohärente Interpretation des Texts entwickeln, die keine sachlichen Härten vermeidet und dem Ding an sich den Stellenwert einräumt, den Kant ihm in der praktischen Philosophie zuschreibt. Das gelingt Hahmann zufolge nur mit einer ontologischen Lesart des transzendentalen Idealismus. Nach dieser Lesart erweitert das Faktum der Vernunft unsere Erkenntnis in praktischer Hinsicht über den Bereich des Sinnlichen hinaus und ebnet auf diese Weise den Weg zu einer kritischen Metaphysik. –

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Bernd LUDWIG geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie Kant seine kritische Metaphysik zwischen 1781 und 1788 veränderte, und aus welchen Gründen er das tat. Thematisch konzentriert sich Ludwig dabei auf die Neufassung der Paralogismen der reinen Vernunft und die Lehre vom Faktum der Vernunft, zeitlich auf die Ereignisse des Frühjahres 1786, die Kant zu dieser Neufassung bewegten und den entscheidenden Fortschritt hin zu einer kritischen Metaphysik und Freiheitslehre mit sich brachten. Nach Ludwigs Lesart musste Kant die erste Fassung der Paralogismen von 1781 verwerfen, weil es ihm darin nicht gelungen war, die Fehler der rationalen Psychologie zu vermeiden. In der zweiten Fassung von 1787 dagegen hat Kant in der entscheidenden Hinsicht mit dieser Psychologie brechen müssen, weil ihm im Frühjahr 1786 durch den Rezensenten Pistorius deutlich gemacht worden war, dass erst durch diesen Bruch eine »consequente Denkungsart der speculativen Critik« (V, 6) möglich sein würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Kant nach dieser Lesart an der Möglichkeit intelligibler Selbsterkenntnis durch reine Apperzeption festgehalten und sich an zentralem Ort in Abschnitt III der Grundlegung selbst noch darauf berufen. Aus der Sicht von 1787 stellt das einen Irrtum dar, und erst mit diesem Bruch ist eine kritische Freiheitslehre erreicht. Das hat nach Ludwig zur Folge, dass 1781er-Textpassagen zur Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit, zur praktischen Freiheit und zum Kanon, die Kant für die zweite Auflage unverändert zum Druck gab, nicht mehr dem Standpunkt der kritischen Philosophie von 1787 entsprechen. – Auch Heiner KLEMME beleuchtet in seinem Beitrag Kants Konzeption der Selbsterkenntnis, die er aus einem wichtigen Satz der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 entwickelt. Dort behauptet Kant: »Das Ich denke ist […] ein empirischer Satz, und hält den Satz, Ich existiere, in sich« (B 422, Anm.). Klemme zufolge ist die Erkenntnis der Existenz, die Kant uns mit diesem Satz zuschreibt, keineswegs auf das empirische Ich beschränkt. Vielmehr behauptet Kant schon wenig später, dass das Ich durch Spontaneität so bestimmt sei, dass uns dies in praktischer Hinsicht als noumenale Wesen zu erkennen gebe. Dem folgt im Text ein Hinweis auf »jenes bewundernswerte Vermögen«, das uns das »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« offenbart (B 431). So gelesen steht der Satz in enger Verbindung mit den Lehren vom Faktum der reinen praktischen Vernunft und von den Kategorien der Freiheit, die Kant in der Ende 1787 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft entwickelt. Klemme zufolge erweisen sich dabei die logischen Funktionen des Denkens als gemeinsamer Grund der Bestimmung unserer selbst als eines Wesens, das zugleich in der Sinnenwelt und der Verstandeswelt existiert. Wir sind Kant zufolge berechtigt, den Kategorien der Freiheit deshalb eine objektive Bedeutung zuzusprechen, weil an die Stelle der Anschauung, die den Kategorien der Natur eine objektive Bedeutung gibt, das Moralgesetz tritt. Diese Interpretation entfaltet er in drei Schritten. Zuerst untersucht Klemme

Einleitung

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Kants Konzeption der Selbsterkenntnis in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und diskutiert Einwände, die der Rezensent Pistorius gegen sie vorgebracht hat. In einem zweiten Schritt erläutert er den Existentialsatz ›Ich denke‹, so wie er in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erscheint, und bezieht ihn auf die Relation von Natur und Freiheit. In einem dritten Schritt entwickelt er einen Einwand gegen Kants eigene Deutung dieses Existentialsatzes. Dieser lässt Klemme zufolge schon für sich genommen den Schluss auf die Fortdauer nach dem Tod zu, ohne auf den Gedanken der zweckmäßigen Ordnung der Natur angewiesen zu sein. – Geert KEIL kritisiert Kant grundsätzlicher, wobei er dessen kritische Haltung gegenüber dem klassischen Kompatibilismus teilt. Kants Satz »Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (A 536 / B 564) stellt Keil einen anderen entgegen: ›Wenn Freiheit noumenale Kausalität erfordert, ist Freiheit nicht zu retten‹. Keil verfolgt zunächst die Frage, wie das Junktim von transzendentalem Idealismus und der Rettung der Freiheit bei Kant motiviert ist. Er hält es für unzureichend begründet und führt fünf Gründe an, die dafür sprechen, das Junktim zu lösen. Kant konstruiert seiner Auffassung nach in der dritten Antinomie ein idiosynkratisches Vereinbarkeitsproblem, das auf angreifbaren kausalitätstheoretischen und metaphysischen Annahmen beruht. Insbesondere versucht Keil zu zeigen, dass die Auflösung der Antinomie durch den transzendentalen Idealismus nur nötig wird, weil Kant (1) für Freiheit Erstverursachung fordert, (2) die Gesetzesauffassung der Kausalität für einen analytischen Bestandteil des Kausalbegriffs hält, (3) das Kausalprinzip mit dem Determinismus identifiziert und (4) mit der Auszeichnung des Kausalprinzips als synthetischem Satz a priori zugleich den deterministischen Charakter der Natur erwiesen zu haben glaubt. Dem folgt eine Diskussion der Frage, ob noumenale Kausalität aus Freiheit als Akteurskausalität oder Substanzkausalität rekonstruiert werden kann, wobei sich Keil vor allem mit Rosefeldt und Watkins auseinandersetzt. Sein Beitrag schließt mit einem Epilog, der einige tentative Überlegungen dazu enthält, ob wenigstens einige Elemente des transzendentalen Idealismus für die Freiheitstheorie fruchtbar gemacht werden können. Im Ausgang von einer Bemerkung Wittgensteins findet er einen Anknüpfungspunkt an der Stelle des Umschlags von der volitiven Vorbereitung einer Handlung zur Handlung selbst. Dieser Umschlagspunkt scheint insofern etwas Nichtempirisches zu sein, als er keine Ausdehnung in der erfahrbaren Welt der Erscheinungen hat. Der Akteur spielt Keil zufolge in diesem Bild eine besondere irreduzible Rolle, die in einer ereigniskausalen Analyse nicht eingefangen wird. – Kenneth WESTPHAL lehnt den transzendentalen Idealismus Kants ausdrücklich ab, will aber auf der Grundlage einer Form des Realismus Kants Freiheitsanspruch verteidigen. Seine These lautet, dass Kant die Möglichkeit der Freiheit des Handelns und Urteilens hinreichend gerechtfertigt hat, ohne den transzendentalen Idealismus

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Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig

heranzuziehen. Ihm zufolge ist es Kant hier wie auch andernorts gelungen, eine stärkere und wichtigere philosophische Position zu rechtfertigen als er beabsichtigt hatte. Westphal präsentiert zunächst eine Reihe von Gründen, die an Kants Rechtfertigung des universalen Kausaldeterminismus zweifeln lassen. Selbst wenn man das allgemeine Prinzip, dass jedes Ereignis eine zureichende Ursache hat, akzeptiert, reicht das ihm zufolge für die Grundsätze der Analogien der Erfahrung nicht aus. Diese setzen das spezifische Prinzip, dass jedes physische Ereignis eine äußerliche, physische Ursache hat, voraus, und Kants transzendental-idealistischer Versuch, dieses Prinzip zu beweisen, scheitert. Zwar lässt sich das spezifische Kausalprinzip Westphal zufolge tatsächlich transzendental rechtfertigen, indem man Kants kognitive Semantik der singulären Gegenstandsbezogenheit heranzieht. Aber damit lässt sich nicht mehr der universale Kausaldeterminismus rechtfertigen. Westphal argumentiert weiter, dass Kant den universalen Kausaldeterminismus auch gar nicht zu beweisen brauchte, weil das spezifische Kausalprinzip zur transzendentalen Kategoriendeduktion genügt, aber zur Erklärung einzelner menschlicher Handlungen nur einen regulativen Gebrauch hat. Tatsächlich stellt ihm zufolge schon die These, dass jede menschliche Entscheidung oder Handlung kausal vollkommen bestimmt sein könnte, eine unbegründete, kognitiv leere Anmaßung dar. Kant hat ihm zufolge außerdem gezeigt, dass wir legitime Kausalurteile nur in Bezug auf raumzeitliche, nicht aber ausschließlich zeitliche Ereignisse fällen können. Nur wenn das menschliche Handeln aus der Perspektive der Neurophysiologie oder Psychologie untersucht wird, sind kausale Kategorien ihm angemessen. Daraus kann Westphal zufolge aber nicht auf die Determiniertheit jeder Entscheidung und Handlung geschlossen werden. Tatsächlich gibt es nach Westphal drei kritische Gründe, die für die Annahme der Freiheit sprechen: erstens sind freie Handlungen Ausdruck der Zwecksetzung einer Person und können zwar rational nachvollzogen, aber nur in pathologischen Fällen kausal erklärt werden; zweitens ist die Urteilskraft selbst normativ und so gegenüber kausalen Prozessen der Physiologie oder Psychologie autonom; drittens handeln wir nur dann verantwortlich, wenn wir zu Recht beanspruchen, Gründe für diese Handlung zu haben, und auch das zeigt, dass Entscheiden und Handeln so lange nicht kausal, sondern rational zu verstehen sind, bis sie sich als pathologisch erweisen. – Mario BRANDHORST übt eine Kritik an Kants Freiheitsverständnis. Sein Beitrag zielt darauf ab, Gründe für das Scheitern von Kants Freiheitslehre sichtbar werden zu lassen, die auch dann bestehen bleiben, wenn man Kant die Lehre des transzendentalen Idealismus zugesteht. Auch wenn dieses Ergebnis vor allem negativ ist, hat es ihm zufolge doch eine klärende Wirkung: Es wirft ein Licht auf die Frage, welches Verständnis von Freiheit den Namen verdient und trägt so dazu bei, das verzweigte Begriffsfeld der Freiheit zu klären. Außerdem kann uns die Einsicht in Gründe des Scheiterns vor ähnlichen Träumen und den mit ihnen verbundenen Ängsten bewahren, wenn wir das Muster der Täuschung durchschauen.

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Brandhorst verteidigt zwei Thesen, die dazu betragen sollen. Die erste These lautet, dass es Kant nicht gelingt, die traditionelle Vereinbarkeitsthese zu untergraben. Kant lässt sich ihm zufolge von Bildern und Gedanken leiten, die zwar eine starke assoziative Wirkung auf uns haben, aber der kritischen Prüfung nicht standhalten können. Deshalb schlagen auch Kants Versuche fehl, für die Annahme transzendentaler Freiheit zu argumentieren. Weder Kants Kritik der »comparativen« Freiheit noch seine Verteidigung der »transscendentalen« (V, 96 f.) überzeugen, und beide Einwände hängen zusammen. Die zweite These lautet, dass Kants Freiheitstheorie zwar scheitert, doch dass die tieferen Gründe für dieses Scheitern nicht da zu finden sind, wo man sie zunächst vermutet. Brandhorst zufolge liegen diese Gründe nämlich nicht in Kants Metaphysik des transzendentalen Idealismus, auch wenn dieser zweifellos mit großen Schwierigkeiten behaftet ist und sich nach seiner Auffassung nicht überzeugend verteidigen lässt. Die Gründe für dieses Scheitern liegen vielmehr in Kants Begriff und Konzeption von Freiheit. Der Vorwurf lautet, dass die Konzeption in sich nicht stimmig ist: Sie bietet keinerlei Grundlage dafür, die postulierte Art der Kausalität als Kausalität aus Freiheit anzusehen. Das gilt Brandhorst zufolge zumindest dann, wenn ›Freiheit‹ den moralisch belastbaren Sinn haben soll, den Kant diesem Wort durchgängig zuschreibt. Damit wird zugleich fraglich, ob Kant sein kritisches Ziel erreicht und die Möglichkeit der Freiheit nachweist. – Reinhard BRANDT beleuchtet Kants Freiheitsverständnis aus der Perspektive der Rechtslehre von 1797. In der Schrift formuliert Kant eine erste Rechtspflicht: »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)« (VI, 236). »Rechtliche Ehrbarkeit« besteht dem folgenden Satz nach darin, »im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ›Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‹«. Kant kündigt auch an, diese Pflicht als »Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person« zu erklären. Die Passage gibt dem Leser Rätsel auf. Brandt zufolge nimmt der Satz, der kurz vorher noch der Tugendlehre angehörte, die Empörung gegen die unmenschlichen Despoten in Europa auf und fordert die Bürger auf, aus dem Zustand tyrannischer – wiewohl legaler – Unterjochung in den rechtlichen Zustand der Republik zu wechseln. Damit überschreitet Kant nach Brandt das Konzept seines bisherigen Naturund Vernunftrechts in zweierlei Hinsicht: Erstens macht er den Menschen selbst zum Ursprung seiner Qualität eines Rechtswesens durch die Pflicht, eben dies zu sein; zweitens ergänzt er das duale Schema von Natur- und Zivilzustand und stellt ihm die Alternative von Despotie und Republik an die Seite. Die These des Beitrags lautet: Die erste Rechtspflicht wird von Kant unter der Voraussetzung des kategorischen Imperativs und der Vernunftnotwendigkeit des Rechts eingeführt und dient so als die Grundlage des Rechts, das in den beiden Bereichen des neminem laede und suum cuique als Privat- und Öffentliches Recht abgehandelt wird. Die erste Rechtspflicht ist dabei der Ort der Selbstkonstitution des

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Menschen als eines Rechtswesens. Damit erweist sich zugleich die Abhängigkeit der kantischen Rechtslehre von ihrer kritischen und transzendentalphilosophischen Begründung. – Susanne BRAUER öffnet den Horizont des Themas weiter und diskutiert einen Freiheitsbegriff, den Hegel nach Kant und im Gegensatz zu ihm entwickelt. Brauer betrachtet dazu die Grundlinien zur Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse von 1821. Am Beispiel der von Hegel so genannten sittlichen Institution der Familie möchte sie zeigen, inwiefern für Hegel die Freiheit nicht losgelöst von gesellschaftlichen Kerninstitutionen zu denken ist, die zugleich einen Anspruch auf Vernünftigkeit erheben. Diesem Zusammenhang liegt ihr zufolge die allgemeinere These zugrunde, dass Hegel Freiheit nicht ohne Relationalität, das heißt zwischenmenschliche Beziehungen bestimmter Art, für möglich hält. Der freie Wille ist nach Hegel an das Ziel gebunden, seine Freiheit zu wollen. Ein Ziel zu wollen bedeutet für rational Handelnde, auch die Bedingungen für die Verwirklichung des Ziels zu wollen. Diese Bedingungen sieht Hegel in sozialen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Einrichtungen, die er unter drei Institutionen zusammenfasst: Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. So erweist sich Brauer zufolge die Familie als konstitutive Bedingung für Freiheit. In der Familie zu leben heißt so betrachtet, im Sinn vernünftiger Selbstbestimmung frei zu sein. Hier legt sich der Einwand nahe, dass Hegels institutionelle Konzeption der Freiheit die individuelle Freiheit eher gefährdet als sichert. Um diesem Einwand zu begegnen, stützt sich Brauer auf den Hegelschen Begriff der Anerkennung. Er stellt ihr zufolge das begriffliche Scharnier zwischen Freiheit und institutioneller Vernünftigkeit dar. Die Form der Anerkennung, die Hegel für die Familie konzipiert, ist die Liebe. Ein Vergleich der Freiheitskonzeptionen Kants und Hegels, mit dem Brauer ihren Beitrag abschließt, zeigt sowohl viele Kontinuitäten als auch viele Brüche auf. Wie sie ausführt, kann Hegels Freiheitsauffassung als Alternative zu Kant bedenkenswert sein: Erstens kann Hegel nach dieser Lesart erklären, warum ein Mensch motiviert ist, Normen für sich als bindend anzuerkennen: Die Erklärung lautet, dass der Mensch in einer bestimmten Weise sozialisiert wurde und die gemeinschaftlichen Normen internalisiert hat. Zweitens kann Hegel inhaltlich konkrete Pflichten formulieren, weil diese durch die konkrete Gestalt der gesellschaftlichen Institutionen vorgegeben sind. Drittens bietet Hegel eine Lösung für das kantische Paradox an, dass ein Mensch sich zugleich selbst das Gesetz gibt und dem Gesetz unterworfen ist. Die Lösung liegt in Hegels Konzeption der Selbstbestimmung, die sie als ein graduelles, kollektives und historisches Ergebnis, nicht als noumenalen Akt der Wahl versteht. –

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3. Zur Zitierweise Wenn nicht anders angegeben, werden die Werke Kants nach der Akademieausgabe zitiert: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, 1900 ff. Dabei werden Zitate mit Band, Seite und gegebenenfalls Zeile nachgewiesen: (V, 3.14–15). Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft werden ohne Bandzahl nach den Ausgaben A (1781) und B (1787) zitiert. Wenn nicht anders angegeben, liegt auch hier der Text der Akademieausgabe zugrunde. Weitere Literatur wird jeweils am Schluss der Beiträge aufgeführt. In den Texten wird mit einer Sigle (Autor, Jahr, gegebenenfalls Seitenzahl) auf das Literaturverzeichnis des Beitrags verwiesen, wo die Siglen aufgelöst werden. Klassiker, die nach modernen Ausgaben zitiert werden, sind mit (Autor: Titel) aufgeführt. Wenn nicht anders angegeben, sind die Hervorhebungen in längeren Zitaten immer im Original. Wo Hervorhebungen getilgt oder ergänzt wurden, wird das vermerkt. Bei Zitaten einzelner Wörter und wiederkehrender Ausdrücke wurden Hervorhebungen im Original in der Regel getilgt. Die Unterscheidung zwischen wörtlichem Zitat und Markierung eines Wortes wird mit doppelten und einfachen französischen Anführungszeichen wiedergegeben: »Zitat«, ›Markierung‹. *** Die Beiträge in diesem Band gehen auf eine Tagung zurück, die vom 10. bis 13. März 2011 am Lichtenberg-Kolleg der Georg-August-Universität Göttingen stattfand. Wir danken allen Teilnehmern des Workshops für ihren Beitrag zum Gelingen der Tagung und für ihre Beiträge zu diesem Band. Wir bedanken uns außerdem bei der Direktorin des Kollegs, Frau Prof. Dr. Dagmar Coester-Waltjen, für die großzügige Förderung durch das Kolleg und die Gewährung eines Druckkostenzuschusses für diesen Band. Für ihre tatkräftige und kompetente Unterstützung bei der Organisation und Durchführung danken wir außerdem den Mitarbeitern des Kollegs, insbesondere Herrn Dr. Dominik Hünniger und Frau Turan Lackschewitz, M.A.

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Der Fritz-Thyssen-Stiftung danken wir für die finanzielle Förderung der Tagung. Für die Finanzierung einer Hilfskraft danken wir der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld und besonders Herrn Prof. Dr. Martin Carrier. Herrn Florian Pahlke danken wir für das Erstellen des Index. Herrn Armin Schneider, M. A. danken wir für die vorbildliche redaktionelle Begleitung der Publikation. Göttingen, im September 2012

Über Kants These: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« Dietmar H. Heidemann Einleitung An einer für die Auflösung der Freiheitsantinomie zentralen Stelle behauptet Kant: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (A 536 / B 564)1. Diese These, im Folgenden ›Unrettbarkeitsthese‹ genannt, wiederholt Kant in anderen Werken sowie in Briefen und Reflexionen in gleicher oder ähnlicher Form. Wäre die Unrettbarkeitsthese wahr, so hätte dies nach Kant schwerwiegende Konsequenzen. Denn wären Erscheinungen tatsächlich Dinge an sich, so müsste nicht nur Freiheit aufgegeben werden, sondern mit ihr verlören zugleich »die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit« (A 468 / B 496) und das hieße Moralität würde faktisch unmöglich. In der Kritik der praktischen Vernunft vergleicht Kant eine Welt, in der Erscheinungen Dinge an sich selbst sind, daher auch mit einer ausschließlich nach mechanischen Gesetzen funktionierenden Marionettenwelt. In einer solchen Welt wäre der »Mensch […] Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke«. Selbst wenn man einem solchen »Automat« »Selbstbewußtsein« zuschreiben wollte, so würde man ihn »zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre«. Denn ein solcher »Automat« wäre, so Kant, nicht wirklich, sondern nur »nur komparativ« frei zu nennen, weil alle Verursachung seiner »Bewegung« »gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird« (V, 101). Der Bedrohung der Moral im Szenario der Vaucansonschen Marionettenwelt begegnet Kant mit der Konzeption transzendentaler Freiheit. Transzendentale oder, wie sie auch heißt, »kosmologische« Freiheit, ist »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (A 533 / B 561) und als solche ist sie Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns. Wirklich frei ist der menschliche Wille nur, wenn er transzendental frei ist und sich als vom »durchgängigen Zusammenhange aller BeDie Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der Ausgabe von Timmermann 1998 (A für die erster Auflage, B für die zweite Auflage). Alle übrigen Werke etc. Kants werden in zum Teil modernisierter Schreibweise mit Angabe der Band- und Seitenzahlen zitiert nach: Gesammelte Schriften. Hg.: Band I–XXII Preußische Akademie der Wissenschaften, Band XXIII Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Band XXIV Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900 ff. 1

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gebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen« (A 536 / B 564) unabhängig denkt. Für die Einführung eines von Naturkausalität unabhängigen Spontanvermögens zur Rettung von Freiheit und Moral scheint Kant einen hohen metaphysischen Preis zahlen zu müssen. Denn da für transzendentale Freiheit in der Natur kein Platz ist, bedarf es offensichtlich einer nicht von mechanischen Gesetzen regierten zweiten Welt intelligibler Kausalität, in der dieses Vermögen angesiedelt ist. Zwei Fragen stehen dabei traditionell im Fokus der Debatte: Erstens, ob Kant seine Moralphilosophie nur auf Kosten einer Zweit-Welten-Hypothese verteidigen kann, sowie zweitens, ob die metaphysisch höchst anspruchsvolle Annahme zweier Welten überhaupt haltbar wäre.2 Im Folgenden soll anhand der Analyse der Unrettbarkeitsthese gezeigt werden, dass Kant seiner Ethik keine Zwei-Welten-Lehre zugrunde legt, sondern dass er transzendentale Freiheit als Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns in seiner Moralphilosophie im Rahmen einer Eine-Welt-Theorie etablieren kann. Zunächst wird im ersten Abschnitt der transzendentale Realismus als diejenige Theorie identifiziert, die sich hinter der Unrettbarkeitsthese verbirgt. Denn Kant ist der Auffassung, dass der transzendentale Realismus, demzufolge »Erscheinungen […] Dinge an sich selbst« sind (A 369), die metaphysische Voraussetzung der Antinomien und das heißt auch der Freiheitsantinomie bildet. Der zweite Abschnitt expliziert, dass die Unrettbarkeitsthese dabei keine These über die Erkenntnis von Dingen an sich als Noumena ist, sondern eine mögliche Welt fingiert, in der die kritische Erkenntnisrestriktion nicht gilt, so dass die Inkompatibilität von Natur und Freiheit mit der Konsequenz der Unrettbarkeit der Freiheit notwendig folgt. Wie der dritte Abschnitt darlegt, muss der transzendentale Realist deshalb als Inkompatibilist verstanden werden, weil er gezwungen ist, empirische Dinge und damit auch Handlungen als im physikalischen Sinne an sich bestimmt anzusehen. Gegen die metaphysische Bestimmtheitsthese des transzendentalen Realisten zeigt der transzendentale Idealist, dass die Gegenstände unserer Erfahrung hinsichtlich der ihnen tatsächlich zukommenden Eigenschaften nicht an sich bestimmt, sondern unbestimmt, wenn auch durch den Verstand gemäß subjektiven Erkenntnisbedingungen bestimmbar sind. Handlungen als Ereignisse in der Natur, das heißt als Erscheinungen, sind daher nicht an sich selbst bestimmt, sondern bestimmbar und können als zugleich frei und determiniert gedacht werden. Für diese Möglichkeit der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit lässt sich auf der Grundlage einer Welt, nämlich der Welt der Erscheinungen argumentieren. Das heißt, in seiner Moralphilosophie sieht sich Kant nicht gezwungen, zwei Welten vorauszusetzen, die Welt der Freiheit und die Welt der Natur. Im Gegenteil, moralische Agenten sind in transzendentaler Bedeutung freie Bürger einer, nicht zweier Welten.

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Vgl. zum Beispiel die Diskussion bei Allison 2006, hier 16–18, sowie Allison 1996.

Über Kants These: »Denn, sind Erscheinungen Dinge …«

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1. Vernunftantinomie und transzendentaler Realismus Transzendentale Realisten setzen nach Kant voraus, dass Erscheinungen Dinge an sich selbst sind. Im Abschnitt »Der transzendentale Idealism, als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik« der »Antinomie der reinen Vernunft« heißt es: »Der Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus [den] Modifikationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistierende Dinge, und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst« (A 491 / B 519). Dass im Kontext der Antinomienauflösung die Rede auf den transzendentalen Realismus kommt, hat einen guten Grund. Schließlich macht Kant die Generalthese des transzendentalen Realisten, Erscheinungen seien Dinge an sich, als die ausschlaggebende Prämisse aus, unter deren Voraussetzung die reine Vernunft sich überhaupt in Antinomien verstrickt, die dann durch den transzendentalen Idealismus aufgelöst werden. Zwar handelt es sich bei der »Antithetik der reinen Vernunft« um einen »Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse«, der auf die »Natur der Vernunft« selbst zurückgeht; doch entsteht dieser »Widerstreit« allein dadurch, dass die Vernunft über die »Grenze« der Erfahrung hinaus nach Erkenntnissen strebt (A 420 f. / B 448 f.). Die Vernunft, in ihrem natürlichen Hang, die »absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen« (A 407 / B 434) erreichen zu wollen, operiert dabei auf der Grundlage des Prinzips: »wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben« (A 409 / B 436). Gemäß diesem Prinzip geht sie aus von gegebenen Erscheinungen und fordert die absolute Vollständigkeit der Bedingungen des Gegebenen. Die Systematisierung dieser Forderung auf der Folie der Kategorienordnung ergibt dann vier spezifische kosmologische Ideen, denen entsprechend sich vier Antinomien aufstellen lassen. Um nämlich das Bestehen des Bedingten erklären zu können, so konzipiert es Kant, postuliert die Vernunft in diesen Ideen durch die Produktion von Bedingungsreihen das Unbedingte. Bei der Aufstellung dieser Bedingungsreihen im Hinblick auf das jeweils Unbedingte gerät sie jedoch unvermeidlich in einen inneren »Widerstreit«, in die »Antithetik« widerstreitender Behauptungen über das Unbedingte solcher Reihen (A 420 / B 449). Denn bei Bedingungsreihen kann es zwei Arten des Unbedingten geben, nämlich das erste unbedingte Glied der Bedingungsreihe und die selbst unbedingte Totalität aller Bedingungen. So sieht sich die Vernunft schließlich vier »Antinomien« gegenüber, von denen in der dritten die »Thesis« – dass es neben Naturkausalität auch Kausalität aus Freiheit gibt – der »Antithesis« – wonach es in der Welt keine Kausalität aus Freiheit, sondern nur Naturkausalität gibt – entgegengesetzt ist. Hierbei handelt es sich um eine echte Antinomie, weil für »Thesis« und »Antithesis« jeweils scheinbar gleich gute apagogische Beweise geführt werden können, obwohl beide Behauptungen für die dogmatische Vernunft nicht zugleich wahr beziehungsweise falsch sein können. In der dritten, der Freiheitsantinomie, setzt der »Beweis« der Thesis zunächst die Antithesis, nämlich dass es »keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur« (A 444 / B 472) gibt. Diese Annahme widerspreche sich selbst, weil sie zu einem unendlichen Regress der Ur-

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sachen führe, durch den keine Ursache hinreichend bestimmt werden könne, was durch Naturkausalität aber gefordert sei. Die Wahrheit der Thesis sei so indirekt durch Widerlegung des Gegenteils erwiesen. Entsprechend setzt der »Beweis« der Antithesis zunächst die Thesis, derzufolge es Kausalität aus Freiheit, das heißt den Selbstanfang einer »Reihe von Folgen« (A 446 / B 474) in der Natur gebe, voraus. Dies aber widerspreche überhaupt dem Sinn der auch in der Thesis angenommenen Kausalverbindung von Ursache und Wirkung, so dass ihr Gegenteil, die Antithesis, wiederum indirekt erwiesen sei. Obwohl die »kosmologischen Ideen« »Produkt der reinen Vernunft« (IV, 338) sind, treten die Antinomien doch nicht unter beliebigen Bedingungen, sondern allein unter der aus Kants Sicht unhaltbaren Voraussetzung auf, dass Erscheinungen Dinge an sich sind: »Wenn wir, wie es gewöhnlich geschieht, uns die Erscheinungen der Sinnenwelt als Dinge an sich selbst denken; wenn wir die Grundsätze ihrer Verbindung als allgemein von Dingen an sich selbst und nicht bloß von der Erfahrung geltende Grundsätze annehmen, wie denn dieses eben so gewöhnlich, ja ohne unsre Kritik unvermeidlich ist: so tut sich ein nicht vermuteter Widerstreit hervor.« (IV, 339 f.) Die Generalthese des transzendentalen Realismus, Erscheinungen seien Dinge an sich, fungiert folglich als Erklärungsgrundlage für das Zustandekommen des jeweiligen Widerstreits zwischen Thesis und Antithesis in allen vier Antinomien. Unter Voraussetzung des transzendentalen Realismus lassen sich demnach gleich gute Beweise für die Thesis wie für die Antithesis führen, also in der Freiheitsantinomie für die Thesis: ›Einiges geschieht durch Kausalität aus Freiheit‹ sowie für die Antithesis: ›Alles geschieht aus Naturkausalität‹. Dabei kann für den transzendentalen Realisten entweder nur die Thesis oder nur die Antithesis wahr sein. Insofern bildet der transzendentale Realismus die Voraussetzung der Antinomien. In der »Kritischen Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft« streicht Kant ausdrücklich die »Wichtigkeit« der Erkenntnis heraus, dass sich die »Beweise der vierfachen Antinomie« nur ergeben »unter der Voraussetzung nämlich, daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären« (A 507 / B 535).3 Insofern lässt sich nachvollziehen, warum Kant behauptet, dass die »Antinomie der reinen Vernunft«, die die Konsequenzen des transzendentalen Realismus reflektiert, als indirekter Beweis des transzendentalen Idealismus gelten kann. Denn mit der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im transzendentalen Idealismus können Kant zufolge die Antinomien vermieden werden.4 Aus diesem Grund lässt sich der transzendentale Realismus Noch in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik heißt es, dass die »Verwechselung der Erscheinungen mit den Dingen an sich selbst« die »Antinomie der reinen Vernunft« »bewirkt« (XX, 311). Vgl. auch Prolegomena IV, 343. 4 Vgl. A 506 / B 534. Kant erachtet den transzendentalen Idealismus indirekt durch Wi3

Über Kants These: »Denn, sind Erscheinungen Dinge …«

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letztlich auch als eine intrinsisch antinomische Theorie bezeichnen, da er mit der Präsupposition der Gleichsetzung von Erscheinungen und Dingen an sich von einer Prämisse ausgeht, unter deren Voraussetzung die Vernunft notwendig in Antinomien gerät. Bisher kam es nur darauf an, die Generalthese des transzendentalen Realismus als entscheidende metaphysische Voraussetzung der Antinomien zu identifizieren. Im zweiten Anschnitt ist nun anhand der Unrettbarkeitsthese zu erläutern, was die Behauptung, Erscheinungen seien Dinge an sich, des Näheren besagt und warum aus ihr die Unrettbarkeit der Freiheit folgt.

2. Die Unrettbarkeitsthese und der transzendentale Realismus Bedingung der Denkmöglichkeit transzendentaler Freiheit ist, dass Erscheinungen nicht Dinge an sich sind. Für die Denkmöglichkeit transzendentaler Freiheit ist diese Bedingung hinreichend, weil transzendentale Freiheit durch den Willen nicht allererst realisiert werden muss, sondern ihre Möglichkeit nur voraussetzt, dass der Wille als an sich selbst frei gedacht werden kann. Dem Kantischen Anspruch nach lässt sich die dritte Antinomie durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im transzendentalen Idealismus auflösen, so dass wir ohne Widerspruch eine freie, intelligible Ursache denken können, die in der Erscheinungswelt Wirkungen »nach der Notwendigkeit der Natur« hat (A 537 / B 565). Die Unrettbarkeitsthese muss in diesen Gesamtzusammenhang der Auflösung der dritten Antinomie eingeordnet werden. Ihre kanonische Version lautet: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (B 564).5 Worauf Kant mit dieser These hinaus will und was er mit ihrer Formulierung als Konditionalsatz bezweckt, soll im Weiteren anhand folgender drei Fragen eruiert werden: (a) Was genau besagt das Antezedens »sind Erscheinungen Dinge an sich«? (b) Wenn Erscheinungen Dinge an sich wären, anhand welcher Kriterien ließe sich dies bestimmen? (c) Wieso folgt aus der Bedingung, Erscheinungen sind Dinge an sich, die Unrettbarkeit der Freiheit? (a) Die Ausdrücke ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ gehören ursprünglich dem Begriffsrepertoire an, mit dem Kant seinen »Lehrbegriff« des »transzendentalen

derlegung des transzendentalen Realismus als bewiesen. Dabei geht er offensichtlich von der vollständigen Disjunktion beider Theorien aus. Zur Strategie des indirekten Beweises in den Antinomien siehe Engelhard 2005, 309–319. 5 Die Konjunktion ›denn‹ weist dabei auf die unmittelbar vorangehende Argumentation zurück, aus der die These folgt. Die Unrettbarkeit der Freiheit ist insofern eine Schlussfolgerung aus dem, was Kant bereits eingangs der Passage, in der die These in der Kritik der reinen Vernunft eingeführt wird, darlegt: »Wenn Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, […] so würden die Bedingungen mit dem Bedingten jederzeit als Glieder zu einer und derselben Reihe gehören, und daraus auch in gegenwärtigem Falle die Antinomie entspringen, die allen transzendentalen Ideen gemein ist« (A 535 / B 563).

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Idealismus aller Erscheinungen« kennzeichnet, »nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst ansehen« (A 369). Insofern verwundert es zunächst, dass Kant die Unrettbarkeitsthese unter Rückgriff auf die für den transzendentalen Idealismus symptomatische Begrifflichkeit formuliert. Genaugenommen würde der transzendentale Realist als Vertreter dieser These darauf hinweisen können, dass er zwar die Unrettbarkeit der Freiheit behauptet, seine These aber nicht mit Hilfe transzendentalidealistischen Vokabulars formuliert. Obwohl transzendentaler Idealist wie transzendentaler Realist die Begriffe ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ verwenden, bedeuten diese in beiden Theorien doch nicht dasselbe. Der Ausdruck ›Ding an sich‹ in der Proposition ›Erscheinungen sind Dinge an sich‹ referiert für den transzendentalen Realisten schließlich nicht auf denselben Gegenstand wie in der Aussage ›Erscheinungen sind nicht Dinge an sich‹ des transzendentalen Idealisten. Für Letzteren bedeutet ›Ding an sich‹ das Noumenon, während für Ersteren Dinge an sich gerade anders als für den transzendentalen Idealisten nicht unerkennbare, sondern erkennbare, empirisch gegebene Dinge sind. Dies gilt entsprechend für den Begriff ›Erscheinung‹, unter dem der transzendentale Realist die Vorstellung an sich bestimmter, empirisch gegebener Dinge an sich versteht, während ›Erscheinung‹ für den transzendentalen Idealisten in spezifischem Sinne der »unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung« (A 20 / B 34) ist. In dieser Hinsicht besteht ein fundamentaler Unterschied. Später wird sich zeigen, dass im transzendentalen Idealismus Natur und Freiheit genau deswegen als vereinbar gedacht werden können, weil die Gegenstände der Erkenntnis, Erscheinungen, lediglich als bestimmbar und nicht wie im transzendentalen Realismus als an sich selbst bestimmt vorgestellt werden. Mit der Formulierung »sind Erscheinungen Dinge an sich selbst« will Kant also sagen, dass der transzendentale Realist keinen Unterschied macht zwischen Erscheinungen und Dingen an sich und dass er das, was er vorstellt, also Erscheinungen, für ontologisch unabhängige Dinge an sich selbst hält. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die Unrettbarkeitsthese kein einfacher Konditionalsatz, sondern ein kontrafaktischer Konditionalsatz ist. Denn für den transzendentalen Idealisten ist es ja der Fall, dass Erscheinungen nicht Dinge an sich sind und Freiheit daher gerettet werden kann. Nähmen wir das Gegenteil an – also dass Erscheinungen Dinge an sich sind – so wäre Freiheit verloren. Kant formuliert dies auch so: »Wenn wir der Täuschung des transzendentalen Realismus [sic. dass Erscheinungen Dinge an sich sind; D. H.] nachgeben wollen: so bleibt weder Natur, noch Freiheit übrig« (A 543 / B 571). Zwar wird die Unrettbarkeitsthese damit nicht von einer neutralen Position aus, sondern explizit vom Standpunkt des transzendentalen Idealisten aus formuliert, wobei die Begriffe ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ in beiden Theorien Verschiedenes bedeuten. Der Sache nach stellt der transzendentale Realismus aber eine vom transzendentalen Idealismus vollkommen unabhängige Theorie dar.6 6

Allison 2006, 1, 4, 16. Ihm zufolge kann der transzendentale Realismus nicht als meta-

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Im Grunde ist das Antezedens dieses kontrafaktischen Konditionalsatzes, »sind Erscheinungen Dinge an sich selbst«, rein ontologisch zu verstehen. Denn der Vertreter der Unrettbarkeitsthese, der transzendentale Realist, behauptet mit ihr im Wesentlichen, dass es in der Welt nur eine Sorte Gegenstände gibt, die in keiner Weise von unseren epistemischen Fähigkeiten abhängen. Das heißt, welche Eigenschaften Dinge an sich selbst besitzen, hängt nicht davon ab, wie wir Eigenschaften generell zuschreiben und ob wir überhaupt mentalen Zugang zu ihnen haben. Auch wenn er keine Aussagen darüber macht, wie diese Gegenstände erkannt werden, behauptet er aber, dass sie diese Eigenschaften besitzen. Letztlich ist der transzendentale Realismus für Kant daher eine metaphysische Theorie. Dabei gewinnt er die Unrettbarkeitsthese dadurch, dass er von seiner eigenen kritischen Position ausgeht und auf die Konsequenzen aufmerksam macht, die die Suspension der kritischen Erkenntnisrestriktion des transzendentalen Idealismus hätte. Dies verdeutlicht eine Reihe alternativer Formulierungen der Unrettbarkeitsthese. Im Nachlass finden sich folgende Versionen: »Nun wird es interessant, die Bedingungen des uns möglichen Erkentnisses der Dinge nicht zu Bedingungen der Moglichkeit der Sachen zu machen; denn thun wir dieses, so wird Freyheit aufgehoben« (R 6317 [1790–1804], XVIII, 626). In einem Brief an Garve vom 7. August 1783 heißt es: »Nimmt man dagegen umgekehrt das, was als Ding an sich selbst von irgend etwas in der Welt die Bedingung enthalten kan, vor Erscheinung, so macht man sich Wiedersprüche, wo keine nöthig wären, e. g. bey der Freyheit« (X, 342, Anm. 2). Was Kant im Antezedens der kanonischen Version der Unrettbarkeitsthese als die kontrafaktische metaphysische Annahme ›wären Erscheinungen Dinge an sich‹ formuliert, erläutert er hier lediglich aus epistemischer Perspektive. Erscheinungen für Dinge an sich zu halten, bedeutet für Kant insofern nichts anderes, als die Grundeinsicht des transzendentalen Idealismus aufzugeben, dass die Möglichkeit der Erkenntnis transzendentalen Bedingungen unterliegt, dass also »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt […] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« sind (A 158 / B 197). Im Antezedens der Unrettbarkeitsthese wird demnach der kontrafaktische Fall fingiert, dass wir Gegenstände nicht unter transzendentalen Bedingungen erkennen. Erscheinungen für Dinge an sich zu halten, heißt folglich aus Kants Sicht, Gegenstände der Erkenntnis ohne

physische beziehungsweise ontologische Theorie aufgefasst werden, da andernfalls auch die ihm entgegengesetzte Theorie – der transzendentale Idealismus – metaphysisch beziehungsweise ontologisch verstanden werden müsste. Aus der Tatsache, dass der transzendentale Realist metaphysische beziehungsweise ontologische Thesen einer bestimmten Art vertritt, scheint mir nicht zu folgen, dass der transzendentale Idealist entsprechend entgegengesetzte metaphysische beziehungsweise ontologische Auffassungen vertreten muss. Gegen den transzendentalen Realisten macht der transzendentale Idealist vielmehr geltend, dass insbesondere dessen Raum-Zeit-Ontologie unhaltbar ist, weil sie in Antinomien führt. Dagegen argumentiert der transzendentale Idealist, diese erkenntniskritisch auflösen zu können (siehe unten).

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kritische Erkenntnisrestriktion zu erwägen, so dass sie unabhängig von subjektiven Erkenntnisbedingungen vorgestellt werden. Die ontologische Grundbedeutung der Generalthese des transzendentalen Realisten ›Erscheinungen sind Dinge an sich‹ wird dadurch jedoch nicht tangiert. Die Frage ist nun, worin die Suspension der kritischen Erkenntnisrestriktion in dem für die Unrettbarkeitsthese relevanten Sinn genau besteht. (b) Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Problem der Realität der Außenwelt formuliert Kant eine der Unrettbarkeitsthese analoge These: »Wenn wir äußere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmöglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die in uns ist« (A 378). Die Bedingung ›wenn Erscheinungen Dinge an sich sind‹ hätte insofern skeptische Konsequenzen, als uns der epistemische Zugang zur Außenwelt versagt bliebe und wir nicht wissen könnten, ob sie überhaupt existiert. Wie Kant zuvor argumentiert, wäre die, wenn man so möchte, Unrettbarkeit der »Wirklichkeit außer uns« unausweichlich, wenn die in der transzendentalen Ästhetik entwickelte Theorie des Raumes und der Zeit fallengelassen würde (A 378 f.). So heißt es in den Prolegomena: »Denn wenn der Raum nichts als eine Form meiner Sinnlichkeit ist, so ist er als Vorstellung in mir eben so wirklich als ich selbst, und es kommt nur noch auf die empirische Wahrheit der Erscheinungen in demselben an. Ist das aber nicht, sondern der Raum und Erscheinungen in ihm sind etwas außer uns Existirendes, so können alle Kriterien der Erfahrung außer unserer Wahrnehmung niemals die Wirklichkeit dieser Gegenstände außer uns beweisen.« (IV, 337)7 Kants Diagnose zufolge hält der transzendentale Realist Erscheinungen also deswegen für Dinge an sich, weil für ihn der Raum (und die Zeit) nicht Form der Sinnlichkeit, sondern eine Eigenschaft von Dingen an sich beziehungsweise selbst Ding an sich ist. Diesen Grund mache der transzendentale Realist nicht nur im Zusammenhang mit dem Idealismusproblem geltend, sondern ebenso im Hinblick auf das Antezedens der Unrettbarkeitsthese: »Ohne die zum Grunde gelegte Idealität des Raumes und der Zeit, mithin der Gegenstände als Erscheinungen, würden wir die Realität der Freyheit uns gar nicht practisch denken können« (R 7316 [1790–1804], XVIIII, 314). Denn »[w]enn Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, mithin Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst« (A 535 / B 563), so wäre auch der transzendentale Idealismus und mit diesem die kritische Erkenntnisrestriktion aufgehoben. Die Gegenstände der Erkenntnis wären sodann Dinge an sich, ohne dass Raum und Zeit Formen a priori unserer Sinnlichkeit und damit transzendentale Bedingungen der Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung wären. Kant unternimmt damit den Versuch, die Begründung der Generalthese des transzendentalen Realismus vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus aus zu rekonstruieren. Auch wenn der transzendentale Realist selbst keine erkenntnis7

Vgl. Heidemann 1998, 47 ff.

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theoretische Rechtfertigung seiner Ontologie aufbieten muss, so ist doch für Kant klar, dass transzendentale Realisten Erscheinungen deshalb für Dinge an sich halten, weil für sie die kritische Erkenntnisrestriktion nicht gilt, nicht zuletzt weil in ihrer Theorie Raum und Zeit nicht Formen unserer Sinnlichkeit sind. Die Gründe, die Kant in seiner Rekonstruktion der Begründung des Antezedens der Unrettbarkeitsthese identifiziert, sind demnach epistemischer Natur. Auf der anderen Seite ist sich Kant aber darüber im Klaren, dass der transzendentale Realist eine dezidiert ontologische These vertritt, insofern er nämlich »Zeit und Raum als etwas an sich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht« (A 369).8 Bei der Darstellung des transzendentalen Realismus muss also differenziert werden zwischen dem, was der transzendentale Realist seinem eigenen Selbstverständnis nach behauptet, nämlich der schlichten ontologischen These, dass Erscheinungen Dinge an sich sind, und Kants Diagnose, derzufolge der transzendentale Realist diese These deshalb vertritt, weil für ihn die kritische Erkenntnisrestriktion nicht gilt.9 An dieser Stelle muss zudem auf ein wichtiges Detail der Kantischen Theorienklassifikation hingewiesen werden: Unter die These ›Erscheinungen sind Dinge an sich‹ fallen nicht nur solche Theorien, die herkömmlicherweise mit der Leugnung oder Unrettbarkeit von (transzendentaler) Freiheit assoziiert werden, nämlich der Materialismus beziehungsweise Naturalismus oder in neuerer Terminologie der Physikalismus; Theorien also, die in der Regel die eigenständige Realität des Geistigen bestreiten. Neben Materialisten können auch Spiritualisten oder Dualisten Vertreter der These sein, dass Erscheinungen Dinge an sich sind: »Wenn aber der Psycholog Erscheinungen für Dinge an sich selbst nimmt, so mag er als Materialist einzig und allein Materie, oder als Spiritualist bloß denkende Wesen (nämlich nach der Form unsers innern Sinnes) oder als Dualist beide, als für sich existierende Dinge in seinen Lehrbegriff aufnehmen, so ist er doch immer durch Mißverstand hingehalten über die Art zu vernünfteln, wie dasjenige an sich selbst existieren möge, was doch kein Ding an sich, sondern nur die Erscheinung eines Dinges überhaupt ist.« (A 380) Für den Spiritualisten – man könnte hier zum Beispiel an Leibniz denken – existieren Monaden unabhängig von den transzendentalen Bedingungen unserer Sinnlichkeit und gelten daher als Dinge an sich. Ebenso einem Dualisten, wie etwa Descartes, zufolge sind denkende Wesen ebenso wie Körperdinge unabhängig von

Es ist zwar zutreffend, wie Allison betont (Allison 2006, 6), dass Kant mit dem transzendentalen Realismus keine spezifische Raum-Zeit-Ontologie verbindet. Gleichwohl erwähnt er im Kontext der Freiheitsthematik konkret Mendelssohn, der »Zeit und Raum für zum Dasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmungen« ansieht und aus diesem Grunde die »Fatalität der Handlungen« in Kauf nehmen müsse (IV, 101). Vgl. Dyck 2011, bes. 165 ff. 9 Wie gesagt, Kant geht grundsätzlich davon aus, dass zwischen seiner eigenen Theorie und dem transzendentalen Realismus eine vollständige Disjunktion besteht. Vgl. Heidemann 1998, 73 ff. 8

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diesen Bedingungen und folglich Dinge an sich. Im Weiteren wird sich zeigen, dass Kant im Kontext der Freiheitsantinomie und ihrer Auflösung weniger spiritualistische oder dualistische als materialistische Theorien vor Augen stehen. Der Ausdruck ›Dinge an sich‹ des transzendentalen Realisten referiert daher im Kontext der dritten Antinomie auf empirische Dinge in Raum und Zeit und nicht auf rein denkende Wesen. Nachdem sich erwiesen hat, was das Antezedens der Unrettbarkeitsthese besagt und dass aus Kants Sicht Erscheinungen genau dann als Dinge an sich gelten, wenn Raum und Zeit nicht Formen der Sinnlichkeit sind, kann nun die Frage erörtert werden, wieso die Wahrheit des Antezedens, ›Erscheinungen sind Dinge an sich‹, überhaupt die Unrettbarkeit der Freiheit erzwingt. (c) Das Konsequens der Unrettbarkeitsthese lautet: »so ist Freiheit nicht zu retten« (A 536 / B 564). Die Anforderung, die Kant hier an den Begriff der Freiheit stellt, ist keine geringere als die der transzendentalen Freiheit als »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte« (A 533 / B 561). Dass Freiheit nicht gerettet werden kann, heißt also, dass transzendentale Freiheit in einer Welt, in der Erscheinungen Dinge an sich sind, nicht vorkommen beziehungsweise nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann. Es kommt hier darauf an, sich den Sinn des Antezedens erneut in Erinnerung zu rufen. In der Welt des transzendentalen Realisten, in der Erscheinungen Dinge an sich sind, könne es keine Freiheit geben, weil in einer solchen Welt Naturkausalität uneingeschränkt gelten würde, ohne dass selbst die Möglichkeit transzendentaler Freiheit gedacht werden könnte. Transzendentale Freiheit ist dabei für Kant in einer solchen Welt deshalb nicht denkbar, weil in dieser Welt der transzendentale Idealismus und damit die kritische Erkenntnisrestriktion suspendiert ist, so dass wir der theoretischen Möglichkeit beraubt sind, transzendentale Freiheit als intelligible Kausalität überhaupt konzipieren zu können. Schließlich eröffnet allein die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich durch den transzendentalen Idealismus die Möglichkeit – so Kants Anspruch in der Auflösung der dritten Antinomie – das Zusammenbestehen von intelligibler Kausalität aus Freiheit und Kausalität nach Naturgesetzen widerspruchsfrei denken zu können, ohne dabei die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit behaupten und die uneingeschränkte Geltung der Naturkausalität für Erscheinungen aufgeben zu müssen. Wer sich hingegen wie der transzendentale Realist auf die These festlegt, Erscheinungen seien Dinge an sich, muss die Denkmöglichkeit der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit verwerfen. Vielleicht vermag der transzendentale Realist dem Begriff der Freiheit in seiner Theorie einen gewissen Sinn zu verleihen, etwa den der relativen oder komparativen Freiheit, vielleicht kann er sogar die Idee transzendentaler Freiheit denken. Die Vereinbarkeit von transzendentaler Freiheit und Kausalität nach Naturgesetzen kann er auf der Grundlage seiner Theorie jedoch nicht widerspruchsfrei erklären. Für den transzendentalen Realisten ist Freiheit daher unrettbar, weil für ihn nicht einmal denkbar ist, wie sie angesichts uneingeschränkter Naturkausalität möglich

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sein sollte: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur« (A 445 / B 473). In der Kritik der praktischen Vernunft erläutert Kant dies folgendermaßen: »Der Begriff der Kausalität als Naturnotwendigkeit zum Unterschiede derselben als Freiheit betrifft nur die Existenz der Dinge, so fern sie in der Zeit bestimmbar ist, folglich als Erscheinungen im Gegensatze ihrer Kausalität als Dinge an sich selbst. Nimmt man nun die Bestimmungen der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst (welches die gewöhnlichste Vorstellungsart ist), so läßt sich die Notwendigkeit im Kausalverhältnisse mit der Freiheit auf keinerlei Weise vereinigen; sondern sie sind einander kontradiktorisch entgegengesetzt.« (V, 94) Sind Natur und Freiheit in der allein durch Naturkausalität bestimmten Welt der Dinge an sich aber unvereinbar, so ist Freiheit nicht möglich: »In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein« (V, 101).10 Die im Konsequens der Unrettbarkeitsthese behauptete Unmöglichkeit der Freiheit wird also darauf zurückgeführt, dass im Falle der Wahrheit des Antezedens die Bestimmungsgründe unserer Handlungen immer nur solche sein und als solche gedacht werden könnten, die selbst Wirkungen anderer Ursachen in der Natur sind. Transzendentale Freiheit als spontaner Selbstanfang ist dann nicht möglich: »Wenn die Erscheinungen der Sinne die Sachen an sich selbst wären, so hätten sie insgesamt Nothwendigkeit in der Kette der Wirkungen und Ursachen und es wäre keine Freyheit« (R 6349 [1790–1804], XVIII, 672).11 Die Unrettbarkeit der Freiheit folgt für Kant also deshalb aus dem Antezedens, weil wenn die kritische Erkenntnisrestriktion nicht gilt, Naturkausalität nicht nur eine Eigenschaft von Dingen an sich, sondern auch die allein mögliche Art der Kausalität wäre und sich dann letztlich nicht einmal denken ließe, wie sie mit Kausalität aus Freiheit vereinbar sein könnte. Die Wahrheit des transzendentalen Realismus würde folglich die Inkompatibilität von Naturkausalität und transzendentaler Freiheit erzwingen, und zwar zu Ungunsten

Vgl. auch B XXVII: »Nun wollen wir annehmen, die durch unsere Kritik notwendiggemachte Unterscheidung der Dinge, als Gegenstände der Erfahrung, von eben denselben, als Dingen an sich selbst, wäre gar nicht gemacht, so müßte der Grundsatz der Kausalität und mithin der Naturmechanism in Bestimmung derselben durchaus von allen Dingen überhaupt als wirkenden Ursachen gelten. Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei«. 11 Unrettbarkeit der Freiheit ist dabei für Kant gleichbedeutend mit Unrettbarkeit der Moral: »Denn der categorische imperativ könnte nicht Gelten, wenn die Handlungen durch Naturursachen bestimmt würden, und es wäre keine Freyheit moglich, wenn die bestimende Natur Dinge an sich selbst vorstellete.« (R 6349 [1790–1804], XVIII, 674). Vgl. R 5630 [1778– 1779], XVIII, 262. 10

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der Freiheit. Aus diesem Grunde steht hinter der Unrettbarkeitsthese letztlich die Behauptung der Inkompatibilität von Natur und freiem Willen.12 Die entscheidende Frage ist daher, ob Kant gegen den Inkompatibilismus der Unrettbarkeitsthese in seiner eigenen Theorie zeigen kann, wie Freiheit angesichts der auch von ihm nicht bestrittenen lückenlosen Naturkausalität möglich ist. An dieser Frage entscheidet sich schließlich, ob Kant die Möglichkeit der Freiheit und damit moralischen Handelns nur auf Kosten der metaphysischen Voraussetzung erklären kann, dass moralische Agenten Bürger zweier Welten sind.

3. Kompatibilismus und Unbestimmtheit von Handlungen Die Kantische Ethik wird wesentlich von der Einsicht getragen, dass moralisches Handeln ohne transzendentale Freiheit nicht möglich ist (IV, 447 ff.). Da »Sittlichkeit« selbst keine »chimärische Idee« und noch weniger ein »Hirngespinst« (IV, 445) ist, sondern sich gemäß Kant an der praktischen Vernunft des Menschen als unbestreitbare Realität erweist, muss transzendentale Freiheit als Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns notwendig angenommen werden. Die Bedingtheit moralischen Handelns durch transzendentale Freiheit legt nahe, Kants Freiheitstheorie als eine kompatibilistische Position zu verstehen, da sie die Freiheit des Willens mit dem Naturdeterminismus als vereinbar und nicht wie der Inkompatibilismus als unvereinbar erachtet.13 Kants Theorie der Freiheit dem Lager des Langsam 2000 zieht im Anschluss an Hudson’s Studie Kant’s Compatibilism (1994) aus der Unrettbarkeitsthese den Schluss, Kant vertrete einen »conditional incompatibilism«. Demnach folgt aus der Wahrheit des Antezedens der Unrettbarkeitsthese die Wahrheit eines solchen Inkompatibilismus: »In other words, if appearances were things in themselves, then both determinism and incompatibilism would be true, and therefore freedom would not obtain« (Langsam 2000, 165). Da Kant Erscheinungen nicht für Dinge an sich hält, sei er eben ein »conditional incompatibilist«. Denn Kant gemäß gelte der Inkompatibilismus nur unter der Bedingung der Wahrheit des Antezedens. Diese Interpretation der Unrettbarkeitsthese ist insofern irreführend, als man Kants eigene Theorie dann zugleich einen ›conditional transcendental realism‹ nennen müsste. Realist ist Kant jedoch nur im Sinne des empirischen Realismus unter der alleinigen Bedingung des transzendentalen Idealismus. 13 Ob Kants Freiheitstheorie kompatibilistisch oder inkompatibilistisch interpretiert werden muss, ist letztlich eine Frage der Definition von Kompatibilismus und Inkompatibilismus. Wood 1984 zum Beispiel versteht sie ebenso wie Langsam 2000 als Kompatibilismus, während sie für Allison eine Form des Inkompatibilismus darstellt (Allison 1996, 123 ff., sowie Allison 1990, 48 ff.). Eine hilfreiche, kritische Einordnung der Kantischen Position in die Debatte um Kompatibilismus und Inkompatibilismus findet sich bei Bojanowski 2006, 4–17. Im Folgenden verstehe ich Kants Freiheitstheorie insofern kompatibilistisch, als sie die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit angesichts durchgängiger Naturkausalität behauptet. Wie sich zeigen wird, handelt es sich dabei allerdings nicht um eine ontologische, sondern kognitive Form des Kompatibilismus, da sie die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit nicht als empirisch wirklich, sondern lediglich als denkmöglich behauptet. 12

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Kompatibilismus zuzuschlagen, ist alles andere als selbstverständlich. Auch wenn Kant bestreitet, dass Erscheinungen Dinge an sich sind, konzediert er dem transzendentalen Realisten doch, dass es in der Natur keine Wirkungen geben kann, die nicht auf Ursachen in der Natur zurückgehen. Insofern räumt er offensichtlich den Inkompatibilismus beziehungsweise Determinismus des transzendentalen Realisten ein, ohne jedoch seine eigene kompatibilistische Grundauffassung fallenzulassen. Damit scheint Kant sogar Kompatibilist und Inkompatibilist zugleich zu sein.14 Ob man Kants Theorie der Freiheit dem Kompatibilismus zurechnen kann, hängt nicht zuletzt von der Interpretation und Bewertung der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im transzendentalen Idealismus ab. Denn da Kant den Determinismus der Natur nicht bestreitet, scheint er nur dann Kompatibilist sein zu können, wenn er neben der phänomenalen Welt eine zweite Welt intelligibler Kausalität aus Freiheit annimmt. Auf jeden Fall ist nicht ohne Weiteres zu sehen, wie Natur und Freiheit anders vereinbar sein könnten. Für die Kantische Moralphilosophie hängt daher viel davon ab, ob sich der transzendentale Idealist mit der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich auf eine ›Eine-Welt-‹ oder eine ›Zwei-Welten-Theorie‹ festlegt. Gemäß der ›Eine-Welt-Theorie‹ ist die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich keine, die neben einer phänomenalen Welt eine von dieser numerisch verschiedene zweite, noumenale Welt zur Voraussetzung hat; die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich lasse sich allein im Hinblick auf die eine Welt der Gegenstände möglicher Erfahrung machen. Dagegen existiert gemäß der ›Zwei-Welten-Theorie‹ neben der phänomenalen Welt erkennbarer Gegenstände, der Erscheinungen, eine der Erscheinungswelt zugrunde liegende zweite, noumenale Welt der Dinge an sich.15 Der transzendentale Realist der Freiheitsantinomie begründet seinen Inkompatibilismus nicht zuletzt damit, dass es nur eine Welt gibt, in der alle Ereignisse aus Naturkausalität erfolgen, in der also der Determinismus gilt. Ist der transzendentale Idealist wie der transzendentale Realist Vertreter einer ›Eine-Welt-Theorie‹, ist allerdings nicht leicht zu sehen, wie Ersterer Kompatibilist, Letzterer aber Inkompatibilist sein kann. Nun teilt Kant die deterministische Auffassung des transzendentalen Realisten, wonach es in der Natur keine freien, spontanen Ursachen geben kann. Daher liegt der Schluss nahe, den Kompatibilismus des transzendentalen Idealisten nicht so zu verstehen, als könnten Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit in einer Welt einfachhin zusammen bestehen. Das heißt, gemäß dem transzendentalen Idealismus müssen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit in einem spezifischeren Sinn kompatibel sein. Ein Problem stellt hierbei die Mehrdeutigkeit So sieht es zum Beispiel Wood 1984, 73: Kant »wants to show not only the compatibility of freedom and determinism, but also the compatibility of compatibilism and incompatibilism«. Ähnlich Langsam 2000, 184: »Kant’s conditional incompatibilism is compatible with his compatibilism«. 15 Für den instruktiven Überblick der verschiedenen Versionen dieser Theorien siehe Allais 2004 und 2010. 14

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des Begriffs ›Determinismus‹ dar. Denn der Determinismus des transzendentalen Realisten der Unrettbarkeitsthese kann nicht gleichbedeutend sein mit demjenigen, den Kant in der Erscheinungswelt für wahr hält. Im ersten Abschnitt wurde gezeigt, dass die Generalthese des transzendentalen Realismus – Erscheinungen sind Dinge an sich – die theoretische Voraussetzung der Freiheitsantinomie bildet, deren Antithesis den Determinismus behauptet: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur« (A 445 / B 473). Wie bereits gesehen, widerspricht sich der Determinismus gemäß dem Thesis-Beweis selbst »in seiner unbeschränkten Allgemeinheit« (A 444 ff. / B 472 ff.). Der Determinismus des transzendentalen Realismus hebt sich damit selbst auf, da er letztlich für kein Ereignis eine hinreichend bestimmte Ursache belegen kann.16 Sofern der Determinismus in der Erscheinungswelt auch gemäß dem transzendentalen Idealisten gilt, da »[…] wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität unterwerfen« ( B 234), muss dieser Determinismus der Erscheinungswelt offenbar anders verstanden werden als der des transzendentalen Realisten. Wären sie gleichbedeutend, würde die Argumentation des Thesis-Beweises Kants eigene Theorie ebenso zu Fall bringen wie die des transzendentalen Realisten. Der Unterschied zwischen dem Determinismus des transzendentalen Realisten und demjenigen des transzendentalen Idealisten besteht nun insbesondere darin, dass Ersterer die Möglichkeit transzendentaler Freiheit bestreitet, während Letzterer sie zulässt.17 Wohlgemerkt, der transzendentale Idealist ist zwar wie der transzendentale Realist Determinist, insofern auch für ihn Kausalität aus Freiheit in der Natur nicht angetroffen werden kann. Anders als für den transzendentalen Realisten ist für den transzendentalen Idealisten das Nichtwiderstreiten von Natur und Freiheit aber denkmöglich, das heißt, dieses Nichtwiderstreiten kann ohne Widerspruch angenommen werden. Unter welchen spezifischen Bedingungen aber besteht diese Möglichkeit und in welchem Sinne lässt sich Kants Freiheitstheorie kompatibilistisch verstehen? Die Frage, ob Kant Kompatibilist oder Inkompatibilist ist, muss im Grunde solange offen bleiben, wie nicht geklärt ist, welcher Freiheitsbegriff eigentlich zur Diskussion steht. Auch wenn Kant Begriffe relativer Freiheit wie ›Wahlfreiheit‹, ›psyVgl. zum Aufbau des Beweises im Einzelnen Bojanowski 2006, 99 ff. Ein weiterer entscheidender Unterschied ist darüber hinaus, dass das Kausalprinzip der zweiten Analogie den transzendentalen Idealismus anders als das Kausalgesetz des transzendentalen Realisten nicht in einen infiniten Regress der Bestimmung einer jeweils subalternen Ursache für jede Wirkung zwingt. Denn erstens nimmt nur der transzendentale Realist an, dass wenn das Bedingte gegeben ist, dann auch die gesamte Reihe der Bedingungen gegeben ist. Zweitens besagt die zweite Analogie nicht, dass jedes Ereignis durch eine Ursache bestimmt ist, sondern lediglich dass wenn ein Ereignis, das heißt eine Veränderung in unserer Erfahrung, auftritt, dieses gemäß dem Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung bestimmbar ist. Das heißt, in der Sinnenwelt muss vor jeder Wirkung »nach dem allgemeinen Naturgesetze eine Bestimmung der Kausalität ihrer Ursache (ein Zustand derselben) vorhergehen, worauf sie nach einem beständigen Gesetze folgt« (IV, 343). 16 17

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chologische Freiheit‹ oder ›Bewegungsfreiheit‹ in seine ethischen Überlegungen ausdrücklich miteinbezieht, geht es ihm im Kontext von Fragen der Moralbegründung, wie bereits herausgestellt, vorrangig um transzendentale Freiheit als spontanen Selbstanfang. Nur unter der Bedingung dieses Freiheitsbegriffs kann es überhaupt sinnvoll sein, Kants Theorie in die Kompatibilismus-Inkompatibilismus-Debatte einzuordnen. Ebenso wichtig wie die Bestimmung des zur Diskussion stehenden Freiheitsbegriffs ist das Beweisziel im engeren Sinne. Kants Argumentation ist ausdrücklich nicht darauf angelegt, die »Wirklichkeit der Freiheit« (A 557 / B 585) zu beweisen. Das heißt, dass es transzendentale Freiheit tatsächlich gibt. Ebenso wenig ist es das Ziel seiner Freiheitstheorie, die »Möglichkeit der Freiheit« (A 558 / B 586) zu beweisen, das heißt, unter welchen empirischen Bedingungen sie möglich ist. In beiden Fällen konfligiert der Beweisanspruch mit der vom transzendentalen Idealismus gezogenen kritischen Erkenntnisgrenze. Denn als unzeitlicher spontaner Selbstanfang ist transzendentale Freiheit kein Gegenstand möglicher Erfahrung, so dass wir daher auch prinzipiell weder wissen können, wie sie tatsächlich beschaffen sein mag, noch unter welchen realen Bedingungen sie möglich wäre: »Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen.« (IV, 448 Anm.) Kant will vielmehr nachweisen, »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite« (A 558 / B 586). Dieses Beweisziel ist so aufzufassen, dass aus der Unmöglichkeit, transzendentale Freiheit als wirklich zu erkennen und der daraus resultierenden Konsequenz, dem Determinismus in der Erscheinungswelt den Vorzug geben zu müssen, nicht folgt, dass wir Handlungen nicht zugleich als frei und naturkausal determiniert denken können. Denn könnten wir die Möglichkeit transzendentaler Freiheit nicht einmal denken, so bliebe auch Moralität ein unerklärliches Phänomen und wäre den Angriffen des Skeptikers wehrlos ausgesetzt. Die Denkmöglichkeit transzendentaler Freiheit eröffnet sich gemäß der Auflösung der dritten Antinomie dadurch, dass wir ohne Widerspruch denken können, dass Handlungen aus intelligibler Kausalität aus Freiheit erfolgen, obwohl sie bestimmbare Naturursachen haben. Rein formal wird dies dadurch erreicht, dass der transzendentale Idealismus die ursprünglich kontradiktorische Entgegensetzung zwischen Thesis und Antithesis der dritten Antinomie als eine subkonträre erweist. Thesis und Antithesis können dann beide wahr sein, da Kausalität aus transzendentaler Freiheit als Ursache einer Handlung angenommen werden kann und wir dieselbe Handlung zugleich als durch Naturkausalität bestimmt ansehen können. Mithin können »Natur also und Freiheit eben demselben Dinge, aber in verschiedener Beziehung, einmal als Erscheinung, das andre Mal als einem Dinge an sich selbst, ohne Widerspruch beigelegt werden« (IV, 344).18 Vgl. A 532 ff. / B 560 ff. Zur Auflösung siehe Allison 1990, 22–25 und Bojanowski 2006, 114–127. 18

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Das Kantische Beweisziel erweist sich als ontologisch bescheiden, wenn auch epistemisch anspruchsvoll. Schließlich besteht es in der bloß denkbaren Vereinbarkeit von noumenaler Kausalität aus Freiheit (Dinge an sich) und Naturkausalität (Erscheinungen), ohne den Anspruch zu erheben, transzendentale Freiheit auch zu erkennen. Gleichwohl provoziert die Kantische Lösung des Freiheitsproblems unweigerlich den Einwand, das Problem nicht zu lösen, sondern es durch die Hinsichtenunterscheidung von bloß denkbarer Kausalität aus Freiheit und der Wirklichkeit der Naturkausalität lediglich zu verschleiern. Eine Option, Kants Lösung zu verteidigen, besteht in der de-re-Lösung, der zufolge auf der Grundlage der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich gezeigt wird, dass dem intelligiblen Charakter des Menschen Kausalität aus transzendentaler Freiheit zukommt, deren Wirkungen in der Sinnenwelt gemäß der Kausalität der Natur durch die Handlungen seines empirischen Charakters erklärbar sind. Die Schwierigkeit dieser de-re-Lösung besteht darin, dass sie den Kantischen Kompatibilismus nur unter der anspruchsvollen metaphysischen Prämisse eines in der Erscheinungswelt durch spontane Kausalität wirkenden intelligiblen Charakters konzipieren kann. Wie der intelligible Charakter kausale Grundlage des empirischen sein kann, muss dabei offen bleiben.19 Man kann Schwierigkeiten dieser Art vermeiden und dem Kantischen Beweisziel dadurch gerecht werden, wenn man seine Lösung als de-dicto-Lösung versteht. Die de-dicto-Lösung des Freiheitsproblems impliziert keine positiven Annahmen über die Existenz und das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter, sondern verfolgt eine Argumentationsstrategie ex negativo. Den Ausgangspunkt bildet die auch vom transzendentalen Realisten geteilte Überzeugung, dass es Moralität wirklich gibt, wobei für den transzendentalen Idealisten moralisches Handeln nur unter der Bedingung transzendentaler Freiheit möglich ist. Nun zeigt sich, dass der transzendentale Realist Erscheinungen für Dinge an sich hält und daher Freiheit nicht gerettet werden kann. Soll aber die Überzeugung, dass es Moralität wirklich gibt, nicht aufgegeben werden, so kann am transzendentalen Realismus nicht festgehalten werden. Denn aufgrund seiner Generalthese kann der transzendentale Realist in seiner Theorie keine konsistente Erklärung dafür aufbieten, wie transzendentale Freiheit und damit Moralität angesichts lückenloser Naturkausalität als möglich gedacht werden kann. Dies leistet hingegen der transzendentale Idealismus durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, so dass sich zumindest denken lässt, dass Natur und Freiheit einander nicht widerstreiten: »Nun kann ich ohne Widerspruch sagen: alle Handlungen vernünftiger Wesen, so fern sie Erscheinungen sind (in irgend einer Erfahrung angetroffen werden),

Vgl. A 538 ff. / B 566 ff. In der Metaphysik der Sitten spricht Kant später auch von der »zwiefache[n] Persönlichkeit« des Gewissens. So sei derselbe Mensch einerseits in moralischer Hinsicht freier »homo noumenon« der »Gesetzgebung« sowie andererseits der »mit Vernunft begabte Sinnenmensch« (VI, 439 Anm.). 19

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stehen unter der Naturnotwendigkeit; eben dieselbe Handlungen aber bloß respektive auf das vernünftige Subjekt und dessen Vermögen nach bloßer Vernunft zu handeln sind frei.« (IV, 345) Die de-dicto-Lösung spekuliert nicht über die Eigenschaften intelligibler Kausalität in ihrem Verhältnis zur Erscheinungswelt und der darin herrschenden Naturkausalität. Sie weist vielmehr zunächst auf ein fundamentales Erklärungsdefizit des transzendentalen Realismus mit allen seinen Konsequenzen – den Antinomien – hin und weist nach, dass Naturkausalität Freiheit keinen Abbruch tut, weil Erscheinungen nicht Dinge an sich sind. Wie intelligible Kausalität beschaffen ist, so dass sie Wirkungen unter Erscheinungen hervorbringt und wie dies vor sich geht, können wir nicht wissen, »denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie« (VI, 439 Anm.). Für die Erklärung der Möglichkeit moralischen Handelns müssen wir dies auch nicht wissen. Hierfür reicht der durch den transzendentalen Idealismus erbrachte Beweis bereits aus, dass sich das Nichtwiderstreiten von Natur und Freiheit prinzipiell widerspruchsfrei denken lässt, indem wir uns zum Gegenstand praktischer Vernunft machen und unser Handeln in der »Verstandeswelt« als unter moralischen, das heißt unter Freiheitsgesetzen stehend denken: »Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken« (IV, 458). Mit der de-dicto-Lösung ist allerdings noch nicht zugleich entschieden, ob der transzendentale Idealist sein Beweisziel auf der Grundlage einer Zwei-Welten- oder Eine-Welt-Theorie erreicht, ob er also die Denkmöglichkeit des Nichtwiderstreitens von Natur und Freiheit nur dadurch erklären kann, dass sich freie Willensentschließungen in der Verstandeswelt der Dinge an sich vollziehen, während die Wirkungen dieser Entschließungen in der Erscheinungswelt der Naturkausalität unterstehen, oder ob von einem Weltendualismus im transzendentalen Idealismus gar nicht die Rede sein kann. Für Kants Lösung des Freiheitsproblems ist dieser Punkt deshalb entscheidend, weil die Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit gegen den transzendentalen Realismus nur im Rahmen der Eine-Welt-Theorie, nicht aber auf der Grundlage einer Zwei-Welten-Theorie einsichtig zu machen ist. Die Zwei-Welten-Theorie geht dabei grundsätzlich vom Dualismus einer realen noumenalen Welt der Dinge an sich und einer von dieser numerisch verschiedenen, ebenso wirklichen Welt der Erscheinungen aus. Sie tritt in zwei unterschiedlichen Versionen auf: Nach der ersten Version bildet die Welt der Dinge an sich die intelligible Grundlage der Welt der Erscheinungen, jedoch ohne dass sie kausale Wirkungen in der Erscheinungswelt hervorrufen könnte. Gemäß der zweiten Version bildet die Welt der Dinge an sich ebenfalls die intelligible Grundlage der Welt der Erscheinungen, mit dem Unterschied allerdings, dass die noumenale Welt durch intelligible Kausalität in der Erscheinungswelt physische Wirkungen hervorzurufen vermag. Die erste Version der Zwei-Welten-Theorie ist für das Freiheitsproblem im Grunde ohne wirklichen Erklärungswert, da sie für die intellektuelle Welt keinerlei kausale Wirksamkeit in

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der Erscheinungswelt beansprucht. Nach der zweiten Version kommt der Welt der Dinge an sich zwar kausale Wirksamkeit für die Erscheinungswelt zu, indem intelligible Kausalität direkt Veränderungen unter Erscheinungen bewirken kann. Doch ist diese Konzeption unhaltbar, weil sie das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Erscheinungswelt verletzt. Durch intelligible Kausalität in der Erscheinungswelt gezeitigte Wirkungen wären demzufolge als Wunder zu interpretieren. Daher ist diese Version der Zwei-Welten-Theorie schon aus physikalischen Gründen abzulehnen.20 Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich kann also – insbesondere im Kontext der Freiheitsproblematik – nicht als Zwei-Welten-Theorie plausibel gemacht werden. Daher muss sich Kants Kompatibilismus auf der Grundlage der Eine-Welt-Interpretation des transzendentalen Idealismus erklären lassen. Die Eine-Welt-Theorie tritt ebenfalls in unterschiedlichen Versionen auf. Auch wenn diese Versionen untereinander zum Teil unvereinbar sind, teilen die Vertreter der Eine-Welt-Theorie doch die gemeinsame Überzeugung, dass die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich keine zwischen ontologisch distinkten Welten beziehungsweise Klassen oder Arten von Gegenständen ist.21 Demnach existiert gemäß dem transzendentalen Idealismus allein die Welt der Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung, während Dinge an sich bloß denkbar, aber nicht erkennbar sind. Der Abschnitt »Phaenomena und Noumena« der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft gibt über die Bedeutung des Dinges an sich als Noumenon präzise Auskunft. Zu unterscheiden sind »Noumenon in positiver Bedeutung« und »Noumenon im negativen Verstande« (B 307). Mit ersterem beziehen wir uns auf »ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung«, zum Beispiel einer dem Menschen nicht zukommenden, aber doch denkbaren intellektuellen Anschauung. »Noumenon in positiver Bedeutung« steht insofern für die metaphysischen Gegenstände der traditionellen rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie. Dagegen bezeichnet »Noumenon im negativen Verstande« Dinge, »die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß« (B 307). Der Ausdruck »Noumenon in positiver Bedeutung« referiert also auf rein intelligible Gegenstände. Gehen wir hingegen von uns gegebenen Erscheinungen aus und erwägen sie als Gegenstände einer dem Menschen nicht zukommenden Anschauungsart, so denken wir das »Noumenon im negativen Verstande«. In beiden Fällen handelt es sich bei Noumena nicht um wirkliche Gegenstände, sondern um Objekte, die wir zwar widerspruchsfrei denken, aber nicht erkennen können. Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich im transzendentalen Idealismus darf also nicht als eine zwischen disjunkten Welten oder Klassen von Gegenständen missverstanden Den Hintergrund der Kantischen Rede von Verstandes- und Sinnenwelt bildet dabei gemäß Puech neben Swedenborg insbesondere Leibniz’ Unterscheidung von »règne de la grâce« und »règne de la nature« (Puech 1990, 460 ff.). 21 Siehe zu diesen Versionen wiederum Allais 2004 und 2010. 20

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werden, wie Kant selbst in aller Unzweideutigkeit herausstellt: »Die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt, kann daher in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden« (B 311). Halten wir also fest, erstens dass es Kant um transzendentale Freiheit als spontanen Selbstanfang geht, zweitens dass er die Denkmöglichkeit des Nichtwiderstreitens von Natur und Freiheit nachweisen will, und drittens dass er dieses Beweisziel auf Grundlage der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im Rahmen des transzendentalen Idealismus als Eine-Welt-Theorie zu erreichen versucht. Vor dem Hintergrund dieses Befundes lässt sich nun zeigen, inwiefern für den transzendentalen Idealisten Handlungen sowohl frei als auch determiniert sein können, während sie der transzendentale Realist der Unrettbarkeitsthese ausschließlich als determiniert ansehen muss. Handlungen sind Kant zufolge zunächst beobachtbare empirische Ereignisse in Raum und Zeit. Als solche sind sie Erscheinungen. Eine Erscheinung aber ist der »unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung« (A 20 / B 34). Folglich ist auch eine Handlung als Naturereignis ein unbestimmter Gegenstand.22 Was es gemäß dem transzendentalen Idealisten heißt, dass ein Gegenstand als Erscheinung unbestimmt ist, lässt sich auf der Kontrastfolie der korrespondierenden Auffassungen des transzendentalen Realisten erläutern. Auch für den transzendentalen Realisten sind Handlungen empirische Ereignisse in Raum und Zeit; als solche aber sind sie Dinge an sich und nicht Erscheinungen. Daher sieht der transzendentale Realist Handlungen als an sich selbst bestimmte Gegenstände an. Dass Gegenstände für ihn an sich selbst bestimmt sind, folgt aus dem Antezedens der Unrettbarkeitsthese, also daraus dass Erscheinungen Dinge an sich sind. Gemäß dem transzendentalen Realisten stehen Gegenstände der Wahrnehmung nicht unter Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Die Dinge der äußeren Realität existieren an sich außer uns. Das heißt, anders als im transzendentalen Idealismus besteht im transzendentalen Realismus kein epistemischer Rechtfertigungszusammenhang zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was wir erkennen oder wissen können. Dies hat für den transzendentalen Realisten entscheidende Konsequenzen: Erstens besteht dann die Welt in einem starken ontologischen Sinn aus Dingen an sich selbst, die in jeder Hinsicht unabhängig von unseren kognitiven Fähigkeiten sind. Zweitens wird unser empirisches Wissen ausschließlich durch die kausale Einwirkung von Dingen an sich auf unseren kognitiven Apparat vermittelt. Diese Dinge sind außer uns im Raum und was für uns wirklich ist, hängt nicht von dem ab, was wir prinzipiell erkennen können. Drittens muss der transzendentale Realist daher das Prinzip der metaphysischen Bivalenz voraussetzen; das heißt, er muss davon ausgehen, dass jedem Ding von allen möglichen Prädikaten jedes Prädikat entweder zukommt oder nicht zukommt. Denn er Das soll nicht heißen, dass Kant den Begriff der Handlung nicht auch im nicht-empirischen, intelligiblen Sinne als »Verstandeshandlung« (B 130) oder intelligible Handlung (vgl. VI, 222 f.) verwendet. 22

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konzipiert die Welt unabhängig von Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und stellt sich ihre Gegenstände als an sich selbst bestimmt vor. In der Kritik der reinen Vernunft erläutert Kant dies anhand des vom transzendentalen Realisten akzeptierten metaphysischen Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung aller Dinge: »[A]lles Existierende ist durchgängig bestimmt«. Nach diesem Prinzip kommt einem Gegenstand »von jedem Paar einander entgegengesetzter« gegebener und möglicher Prädikate eines zu (A 573 / B 601).23 Für den transzendentalen Realisten ist die Welt in ihrer Totalität daher entweder endlich oder unendlich, bestehen Körper entweder aus einfachen Substanzen oder nicht, existiert ein höchstes Wesen oder nicht und so weiter. Mit anderen Worten: Jeder Gegenstand ist an sich selbst bestimmt. Dies gilt entsprechend auch für Handlungen, die gemäß metaphysischer Bivalenz entweder frei sind oder nicht. Der transzendentale Realist beansprucht also, dass es eine vollständige Beschreibung der Welt gibt, ohne über sie verfügen zu müssen. Denn für ihn gibt es keine subjektiven Erkenntnisbedingungen, unter denen allein er die Welt für real hält, so dass Gegenstände für ihn auch nicht unbestimmte Dinge (Erscheinungen), sondern hinsichtlich aller ihrer möglichen Eigenschaften an sich selbst bestimmte Dinge sind. Dem transzendentalen Idealismus gemäß verhält sich dies grundlegend anders. Demnach sind die Gegenstände unserer Erkenntnis nicht vollständig bestimmt, das heißt, sie sind unbestimmt, aber bestimmbar. Der transzendentale Idealist begründet dies mit der transzendentalen Theorie der Erfahrung, wonach Erkenntnis unter subjektiven Bedingungen ihrer Möglichkeit steht. Für ihn ist die Wirklichkeit daher anders als für den transzendentalen Realisten epistemisch nicht an sich unabhängig von den Bedingungen dessen, was wir überhaupt erkennen können. Dass die Gegenstände der Erkenntnis oder Erscheinungen für den transzendentalen Idealisten unbestimmt sind, heißt dabei nicht, dass sie nicht bestimmbar, beliebig bestimmbar oder gar amorph sind, sondern dass sie als in der Erfahrung gegebene Gegenstände durch den Verstand gemäß subjektiven Erkenntnisbedingungen bestimmt werden müssen und insofern bestimmbar, ja sogar objektiv bestimmbar sind. Unabhängig von ihrer Bestimmung durch den Verstand sind sie unbestimmt, also eben nicht vollständig bestimmt, wie der transzendentale Realist annimmt. So haben Erscheinungen für den transzendentalen Idealisten viele, möglicherweise unabzählbar viele Eigenschaften. Daher lässt sich von keinem Gegenstand als Erscheinung eine vollständige Beschreibung angeben. Die Unbestimmtheit der Erscheinungen begründet der transzendentale Idealist dabei spezifisch mit der Subjektivität von Raum und Zeit als Anschauungsformen sowie der Kategorien. So gilt für die uns jeweils in der Erfahrung gegebenen Gegenstände zwar durchaus das Prinzip der Bestimmtheit, weil wir für jede Erscheinung objektiv bestimmen können, ob ihr eine Eigenschaft zukommt oder nicht. Zum Beispiel kann für das jetzt vor mir liegende Buch bestimmt werden, ob sein Einband grün ist oder nicht, ob es mehr Zur grundlegenden Bedeutung dieses Prinzips für die Auflösung der Antinomien siehe Engelhard 2005, 321–334. 23

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als tausend Seiten umfasst oder nicht, ob seine Seiten weiß sind oder nicht, ob es rechteckig ist oder nicht, und so weiter. Da diese Bestimmungen aber von epistemisch-subjektiven Bedingungen des Bestimmens abhängen, ist das Buch in vielerlei Hinsicht unbestimmt. Denn da Raum und Zeit kontinuierliche, unendlich gegebene Größen sind, bleibt für uns unbestimmt, welche Eigenschaften durch eine noch so detaillierte Untersuchung dieses Gegenstandes jemals zutage gefördert werden mögen. Zwar ist jede der Eigenschaften dieses in der Erfahrung gegebenen Gegenstandes grundsätzlich durch den Verstand theoretisch bestimmbar. Die prinzipielle Unabschließbarkeit des Bestimmens aufgrund subjektiver Erkenntnisbedingungen macht ihn als Erscheinung aber zu einem für sich unbestimmten Gegenstand. Eben dies trifft im transzendentalen Idealismus auch auf Handlungen zu. Handlungen sind empirische Ereignisse in Raum und Zeit und insofern Erscheinungen. Als solche sind sie unbestimmt, aber bestimmbar. Das heißt, es gibt keine vollständige Beschreibung einer Handlung als Erscheinung, so wie es der Determinismus des transzendentalen Realismus verlangt. Als Erscheinung steht jede Handlung unter Naturgesetzen und ist insofern bestimmbar. In theoretischer Hinsicht lassen sich Ursachen, die zu einer Handlung geführt haben, wenn vielleicht auch nicht vollständig, in vielen Fällen aber doch immerhin umfassend bestimmen, etwa wenn es um die Beschreibung der kausalen Genese von Handlungen geht. In unzähligen Hinsichten bleibt dieselbe Handlung als Erscheinung dennoch unbestimmt, gleich wie detailliert eine Untersuchung der Ursachen, die zu ihr geführt haben, auch sein mag. So kann ich dieselbe Handlung ebenso in rein praktischer Hinsicht betrachten und als durch transzendentale Freiheit bestimmbar denken. Zwar erkenne ich sie dadurch nicht als durch transzendentale Freiheit bestimmt. Gleichwohl ist der Gedanke nicht widersprüchlich, dass obwohl ich eine Handlung als Erscheinung theoretisch gemäß der Kausalität der Natur als determiniert bestimmt habe, ich sie aufgrund ihrer Unbestimmtheit in praktischer Hinsicht als frei ansehen kann. Man sollte dies nicht missverstehen: Kant ist nicht der Auffassung, dass einer Handlung als Erscheinung unabzählbar viele, aber gemäß der Kausalität der Natur prinzipiell bestimmbare Eigenschaften zukommen, so dass ihre darüber hinausgehenden, noch nicht bestimmten, aber gleichwohl realen Eigenschaften den Raum der Freiheit eröffnen. Denn dass Handlungen als Erscheinungen an sich unbestimmt, wenn auch bestimmbar sind, heißt nicht, dass der zukünftige wissenschaftliche Fortschritt diejenigen heute noch nicht bestimmten Eigenschaften von Handlungen entdecken wird, die sie als frei zu erkennen geben. Für den transzendentalen Idealisten stehen alle einem Gegenstand unserer Erfahrung zukommenden Eigenschaften, seien sie durch den Verstand bestimmt oder künftig bestimmbar, unter Naturgesetzen und sind daher mit Freiheit unvereinbar. Die Tatsache aber, dass Gegenstände unbestimmt, aber bestimmbar sind, macht sie zu Erscheinungen und nicht zu Dingen an sich. Eben dadurch ist es möglich, transzendentale Freiheit angesichts lückenloser Naturkausalität zu denken. Dass Natur und Freiheit einander nicht widerstreiten, kann folglich nur deshalb ohne Widerspruch angenommen werden, weil Erscheinungen unbestimmte Gegenstände und nicht an sich bestimmte Dinge

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sind: »Hiedurch wird also die praktische Freiheit, nämlich diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität hat, gerettet, ohne daß der Naturnotwendigkeit in Ansehung eben derselben Wirkungen als Erscheinungen der mindeste Eintrag geschieht.« (IV, 346) Gilt der transzendentale Idealismus nicht und sind Erscheinungen Dinge an sich, »so ist Freiheit nicht zu retten«.

Fazit Misst man Kants Lösung des Freiheitsproblems an ihrem Anspruch, die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit als denkmöglich zu erweisen, wird man ihre Vorzüge gegenüber alternativen Auffassungen, die die Kompatibilität von Natur und Freiheit als wirklich behaupten, nicht in Abrede stellen können. Wie sich anhand der Analyse der Unrettbarkeitsthese gezeigt hat, bestehen diese Vorzüge zum einen in der ontologischen Sparsamkeit des transzendentalen Idealismus als Eine-Welt-Theorie sowie zum anderen im Verständnis von Handlung als empirisch determiniertes Ereignis, deren Unbestimmtheit als Erscheinung es möglich macht, sie als frei denken zu können. Eines sollte dabei klar sein: Kants Interesse am Freiheitsthema ist vorrangig praktischer Natur. Zwar ist Freiheit für die theoretische Vernunft zunächst ein kosmologisches Problem, doch geht es Kant bei der Auflösung der Freiheitsantinomie nicht allein um die Klärung einer althergebrachten metaphysischen Kontroverse. Für Kant ist die moralische Dimension des Freiheitsproblems ausschlaggebend. Nur wenn erklärt werden kann, wie transzendentale Freiheit angesichts lückenloser Naturkausalität denkmöglich ist, können wir unserem Handeln einen moralischen Sinn geben. Dabei gibt Kant sich nicht der Illusion hin, für den metaphysisch anspruchsvollen Begriff transzendentaler Freiheit eine über seine bloße Denkmöglichkeit hinausgehende Bedeutung beanspruchen zu können. Moralität zu bestreiten und sogar grundsätzlich in Frage zu stellen, bereitet zunächst keine Schwierigkeit, denn ihre Wirklichkeit lässt sich theoretisch nicht beweisen. Zweifel an ihrer praktischen Realität lassen sich in letzter Konsequenz aber nicht aufrecht erhalten. Daher muss sich zumindest die Möglichkeit transzendentaler Freiheit als Bedingung moralischen Handelns theoretisch bestimmen lassen. Dies ist das Ausgangsmotiv, unter dessen Voraussetzung Kants Freiheitstheorie letztlich allein plausibel zu machen ist. Wer diese praktische Absicht dabei nicht zur Kenntnis nimmt und darüber hinaus den Sinn des Begriffs transzendentaler Freiheit leugnet, den wird die Version des Kantischen Kompatibilismus nicht überzeugen können. Der naheliegende Einwand, dass selbst im Falle der Wahrheit von Kants Lösung transzendentale Freiheit doch empirisch mit Naturkausalität konfligiere, ist nur auf den ersten Blick schlagend. Denn auf die Realisierung transzendentaler Freiheit in unserer Erfahrungswelt kommt es nicht an, da wir über sie ohnehin nichts wissen könnten. Den Ausschlag gibt allein die Denkmöglichkeit der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit, um moralisches Handeln erklären zu können. Dass diese

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Denkmöglichkeit besteht, kann Kant durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich gegen den transzendentalen Realisten zeigen, der behauptet, dass Freiheit nicht zu retten ist.

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Ist Kant ein Kompatibilist? Jochen Bojanowski

Zu den Grundproblemen der Debatte um die Willensfreiheit gehört auch das Kompatibilitätsproblem: Ist Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar? Auf dieses Problem scheint es genau zwei mögliche Reaktionen zu geben: die verneinende und die bejahende. Die Vertreter der bejahenden Reaktion werden Kompatibilisten genannt, weil sie die beiden Thesen ›der menschliche Wille ist frei‹ und ›der menschliche Wille ist determiniert‹ für kompatibel halten. Die Vertreter der verneinenden Reaktion werden Inkompatibilisten genannt, weil sie davon überzeugt sind, dass beide Thesen sich gegenseitig ausschließen. Der Inkompatibilist behauptet daher: Der menschliche Wille ist nur dann frei, wenn er nicht determiniert ist. Kant geht es nach eigener Aussage in der Auflösung der Freiheitsantinomie um die »Vereinigung« von Natur und Freiheit (B 566). Deshalb ist es prima facie naheliegend, Kant als einen Kompatibilisten zu bezeichnen. Andererseits ist der Freiheitsbegriff, den er in Anspruch nimmt, dezidiert inkompatibilistisch, so dass es auch einen guten Grund gibt, Kant einen Inkompatibilismus zuzuschreiben. Mit der Frage, ob Kant ein Kompatibilist sei, wendet man sich also dem grundsätzlichen Problem zu, wie genau seine Behauptung zu verstehen ist, dass »dieselbe Handlung« zugleich »ganz frei« sein und unter der »unvermeidlichen Naturnothwendigkeit« stehen kann (V, 95; Hervorhebung J. B.). Kant im Rahmen der gegenwärtigen Systematik zu verorten, hat seinen Interpreten große Schwierigkeiten bereitet. In der Kantliteratur wird Kant nicht nur als Inkompatibilist (Allison 1990), sondern auch als Kompatibilist (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994; Horstmann 1997; Horn 2002), ja sogar als Kompatibilist von Inkompatibilismus und Kompatibilismus bezeichnet (Wood 1984). Ich möchte hier der Frage nachgehen, wo man Kants Theorie im Rahmen der gegenwärtigen Debatte zu verorten hat. Dazu möchte ich zunächst dafür argumentieren, dass man Kant einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff zuschreiben muss, der sich gegen den kompatibilistischen Standardeinwand – das Zufallsargument – widerspruchsfrei explizieren lässt. Gleichwohl will Kant seinen Determinismus nicht aufgeben. Das hat Anlass dazu gegeben, Kant als einen Kompatibilisten zu verstehen. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, warum keiner der Kompatibilismen, die man Kant zugeschrieben hat (klassischer Kompatibilismus, Metakompatibilismus und Davidsons anomaler Monismus), seine Theorie angemessen repräsentiert. Schließlich möchte ich dafür argumentieren, dass Kants Determinismus nicht in der Weise deterministisch ist, dass er die Möglichkeit eines inkom-

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patibilistischen Freiheitsbegriffs ausschließt. Meine These ist, dass Kant einen Inkompatibilismus, genauer: einen Indeterminismus hinsichtlich der Naturursachen des menschlichen Handelns vertritt, wobei sein Freiheitsbegriff der moralischen Autonomie seine Theorie fundamental von allen gegenwärtigen inkompatibilistischen Freiheitstheorien unterscheidet.

I. Kant ist davon überzeugt, dass eine Handlung nur dann im eigentlichen Sinne frei ist, wenn ihre »Ursache in der Erscheinung […] nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Causalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen […]«. Dementsprechend definiert Kant die Freiheit als »das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen« (B 562). Nehmen wir die Begriffe ›Kausalität‹ und ›Ursache‹ hier zunächst unanalysiert hin, dann können wir festhalten, dass für Kant menschliche Handlungen nur dann frei sind, wenn die Ursache der Handlung (der Wille) selbst nicht durch eine andere Ursache verursacht ist. Wir werden uns noch genauer mit Kants Determinismus auseinandersetzen. Wenn wir aber vorläufig und negativ den Determinismus so bestimmen, dass er die Möglichkeit von Freiheitskausalität ausschließt, inkompatibilistische Freiheit eine Freiheitskausalität des Willens aber gerade voraussetzt, dann wird verständlich, warum Kant ein Freiheitsbegriff zugeschrieben werden muss, der nicht mit dem Naturdeterminismus kompatibel ist. Kompatibilisten halten den indeterministischen Freiheitsbegriff für widersprüchlich. Sie versuchen dies mit dem sogenannten Zufallsargument zu beweisen. Der interne Widerspruch des inkompatibilistischen Freiheitsbegriffs werde offenkundig, wenn man sich verdeutlicht, dass ein indeterminierter Wille und die Handlung, die daraus hervorgeht, in keinem Zusammenhang mit unserer bisherigen Lebensgeschichte ständen. Ein solcher Wille bräche gewissermaßen aus einem »kausalen Vakuum« über uns herein und wir müssten ihn als einen Willen betrachten, der »von der Erfahrung der Urheberschaft weit entfernt wäre«. Ein unbedingt freier Wille wäre also ein Wille, der uns »zustößt«. Mit den Eigenschaften »Unbeeinflußbarkeit«, »fehlende Urheberschaft«, »Fremdheit« weise dieser Wille die Merkmale auf, die nicht als ein Fall von Freiheit, sondern als ein Fall äußerster Unfreiheit begriffen werden müssten (Bieri 2001, 230 f.; Frankfurt 2001, 79 ff.; ebenso bereits Schulz 1783, 164 und 170). Ein inkompatibilistischer Freiheitsbegriff könne nicht erklären, warum wir für unser Handeln verantwortlich sind. Denn ein absolut freier Wille wäre nicht das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, bei dem wir uns durch biographisch gewachsene Überzeugungen bestimmen, vielmehr hätte dieser zufällige, ja »launische« Wille mit unserer Person überhaupt nichts zu tun. Losgelöst von dieser Person wären die »Handlungen«, die auf ihn zurückzuführen sind, nicht uns, sondern dem Zufall zuzurechnen und wir nicht für sie verantwortlich (so bereits Hume 1748, 77 und Schulz 1783, 164; ebenso Bieri 2001, 237 f.). Die begriff-

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lichen Verwechslungen, die dem Vertreter eines inkompatibilistischen oder absoluten Freiheitsbegriffes unterlaufen, führen aus Sicht des Kompatibilisten damit letztlich dazu, dass er das, wozu er das Konzept der absoluten Freiheit glaubte einführen zu müssen – die Sicherung menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit –, durch ihn gerade auflöst. Wären die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffes bessere Analytiker gewesen, hätten sie bemerkt, dass sie »Notwendigkeit« mit »Zwang« und »Bedingtheit« mit »Unfreiheit« verwechselt haben und dadurch zu dem Schluss verleitet worden sind, »Freiheit« mit »Unbedingtheit« gleichsetzen zu können. Mit dieser Gleichsetzung aber habe sich der Inkompatibilist eines fundamentalen Kategorienfehlers schuldig gemacht (vgl. auch Dennett 1986, 78–83). Im Gegensatz zu dieser Konzeption der absoluten Freiheit entwickelt der Kompatibilist sein Konzept der »bedingten Freiheit« (vgl. ebenfalls bereits Hume 1748, 78). Wir sind genau dann frei, wenn wir unsere Entscheidungen an Gründe binden und unser Handeln mit diesen Entscheidungen zur Deckung bringen können. Für diese Art von Freiheit ist es nicht erforderlich, dass wir diese Gründe ursprünglich selbst hervorgebracht haben oder uns zu ihnen immer noch indifferent verhalten können. Gerade weil die Gründe das Produkt unserer Lebensgeschichte sind, sind es unsere Gründe. Gelingt es uns, unseren durch jene Gründe bedingten Willen gegen äußere und innere Zwänge handlungswirksam werden zu lassen, sind wir frei. Die Freiheit des Willens kann also, dieser Argumentation zufolge, aus konzeptuellen Gründen gar nicht als absolut verstanden werden, sondern muss, damit der Wille unser Wille sein kann, eine relative, bedingte Freiheit sein. Die bedingte Freiheit ist determinismusverträglich. Die Frage, ob nun der menschliche Wille auch tatsächlich (bedingt) frei sein kann, stellt für den Kompatibilisten kein weiteres Problem dar: Wir können durch Selbstbeobachtung feststellen, dass wir dazu in der Lage sind, unseren Willen gegen innere und äußere Zwänge durchzusetzen. Die Wirklichkeit der bedingten Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Die argumentative Schuld, die man sich mit dem kompatibilistischen Freiheitsbegriff auflädt, ist vergleichsweise gering. Kant aber bezeichnet die hier skizzierte kompatibilistische Lösung des Determinismusproblems als eine »kleine Wortklauberei« (V, 96). Warum hätte Kant nicht, wie Jonathan Bennett geglaubt hat, den inkompatibilistischen Freiheitsbegriff aufgeben und ihn gegen den kompatibilistischen eintauschen können (Bennett 1974, 189–195)? Anders gefragt: Welche Funktion erhält der inkompatibilistische Freiheitsbegriff in Kants Freiheitstheorie? Kant streitet den kompatibilistischen Sinn von Freiheit nicht ab. Er ist aber davon überzeugt, dass menschliche Praxis nicht ohne die absolute Dimension dieses Begriffes auskommt. Doch im Unterschied zu den gegenwärtigen Vertretern eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes behauptet Kant, dass uns die absolute Dimension verschlossen bleiben muss, solange wir uns nur mit Handlungsalternativen befassen, die unsere biographisch bedingten Präferenzen betreffen: Soll ich nach Colorado oder Hawaii in den Urlaub fahren? Soll ich ins Kino oder in die Oper gehen? Soll ich eine Ausbildung beginnen oder eine Familie gründen? (Kane 2002b,

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415; Roth 2003, 167 und 74 f.; Rössler 2001, 122 f.)? Auf die inkompatibilistische Dimension des Freiheitsbegriffes stößt man Kant zufolge nur dann, wenn man in einer zugespitzten moralischen Entscheidungssituation steht, in der Vernunft und Neigung sich gegenseitig ausschließen. In dieser Situation bemerken wir, dass selbst wenn alle unsere biographisch bedingten Handlungsgründe dagegen sprechen, wir dennoch einen Vernunftgrund haben, der gegen die Verwirklichung unserer subjektiv-privaten Interessen spricht. In der zweiten Kritik möchte Kant anhand zweier pointiert angeordneter Entscheidungskonflikte zeigen, dass wir uns erst durch das Moralgesetz – als Faktum der Vernunft – der absoluten Freiheit bewusst werden (vgl. Bojanowski 2006, 86–90): Im ersten Szenario wird jemand vor die Wahl gestellt, entweder seine Wollust zu befriedigen und anschließend getötet zu werden, oder aber jenes Bedürfnis zu suspendieren und auf diese Weise sein Leben zu retten. Im zweiten Szenario soll jemand als Zeuge in einem Gerichtsverfahren auftreten und kann entweder die Wahrheit sagen, was zur Konsequenz hätte, dass sein »Fürst« ihn töten ließe oder er kann auf Drängen dieses »Fürsten« eine Falschaussage über einen Unschuldigen abgeben und auf diese Weise sein eigenes Leben retten (V, 30). Im ersten Szenario lässt Kant zwei Naturtriebe in Konkurrenz zueinander treten. Er setzt implizit voraus, dass der Überlebenstrieb in der Regel stärker ist, weshalb er sagt, dass man »nicht lange raten« müsse, wie die Antwort ausfallen wird (ebd.). Unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe wird derjenige, der vorgibt, er könne seiner Wollust nicht widerstehen, feststellen, dass er sie suspendieren und an dem »Hause, da er diese Gelegenheit trifft«, vorbeigehen kann (ebd.). Zweifellos macht dieser Mensch hier die Erfahrung von Freiheit. Aber – und das ist es, was Kant uns durch den Kontrast mit dem zweiten Szenario vor Augen führt – die Freiheit, die er hier erfährt, ist nur relativ und nicht etwa absolut. Denn ›überleben zu wollen‹, verweist auf einen Naturtrieb, der kein Fall von praktischer Erkenntnis ist. Solange wir nur zwischen gegebenen sinnlichen Bedürfnissen auswählen, hängt das Ergebnis unserer Wahl nur davon ab, von welcher Entscheidung wir uns ein größeres Vergnügen beziehungsweise einen geringeren Schmerz versprechen (V, 22 f.). Wir stellen hier also sehr wohl fest, dass wir durch Vorstellungen unsere unmittelbaren Handlungsimpulse überwinden können, doch dabei machen wir nicht die Erfahrung, dass wir von allen sinnlichen Motivationsgründen frei sind und aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln können. Kant glaubt, dass wir diese absolute Freiheit erst im moralischen Konflikt zwischen Vernunft und Neigung erfahren. Nachdem er im ersten Szenario einen Konflikt zwischen zwei fundamentalen Naturtrieben dargestellt hat, lässt er nun im zweiten Szenario ein ungleichartiges Prinzip – die Sittlichkeit – mit dem stärkeren der beiden Triebe konfligieren. Es kommt hinzu, dass die Lüge keine strafrechtlichen Konsequenzen für den Täter haben wird, weil der Staat ihn in Person des »Fürsten« gerade zur Lüge zwingen möchte. Angst vor Strafe scheidet damit als Motiv, die moralisch gebotene Handlung zu vollziehen, aus. Kant behauptet nun, dass selbst wenn alle subjektiv-privaten Interessen ausscheiden, wir dennoch einen Grund dafür haben, in diesem Fall die

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Wahrheit zu sagen. Dieser Grund beruht nicht auf unseren Neigungen, sondern auf der Erkenntnis, dass wir die Maxime einer solchen Handlung nicht verallgemeinern können. Also impliziert nicht jede Art von Sollensansprüchen (so z. B. Pereboom 2005, 559 f.) und auch nicht jede Art von Moral, sondern nur eine solche, deren Sollensansprüche voraussetzungslos sind, einen absoluten Freiheitsbegriff. Nur wenn reine Vernunft für sich selbst – und nicht etwa wie bei Humes instrumentalistischer Konzeption der praktischen Vernunft nur unter Voraussetzung sinnlich gegebener Wünsche – praktisch werden kann, muss man einen absoluten Freiheitsbegriff in Anspruch nehmen. Deshalb sagt Kant: »Wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft […], so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas als [transzendentale; J. B.] Freiheit […] anzunehmen« (V, 4). Der kategorische Sollensanspruch des Moralgesetzes versichert uns, dass wir absolut frei sind, weil wir aus reiner Vernunft handeln sollen. Das Moralgesetz ist damit die ratio cognoscendi, der nachträglich bestimmende Erkenntnisgrund, der absoluten Freiheit. Es ist hier nicht der Ort, die Probleme der kantischen Moralphilosophie zu besprechen. Wir wollen uns nur verdeutlichen, welche Funktion dem absoluten Freiheitsbegriff in der kantischen Theorie der Moral zukommt. Doch selbst wenn der Skeptiker bereit wäre zuzugeben, dass eine Moraltheorie kategorisch-gebietende Imperative nur dann mit Recht in Anspruch nehmen kann, wenn der Wille absolut frei ist, folgt daraus noch nicht, dass das Zufallsargument falsch ist. Das Zufallsargument könnte vielmehr ein guter Grund dafür sein, von einer Moraltheorie mit kategorisch-gebietenden Imperativen Abstand zu nehmen. Das Zufallsargument ist aber nicht stichhaltig. Wenn wir uns im moralischen Konfliktfall für oder gegen das moralische Gesetz entscheiden, sind wir nicht etwa indifferent gegenüber unseren Gründen, so dass unsere Entscheidung mit uns überhaupt nichts mehr zu tun hätte. Der Vertreter des Zufallsarguments wirft dem Libertarier vor, dass er ›Notwendigkeit‹ mit ›Zwang‹ verwechsle und auf diese Weise ›Determinismus‹ rhetorisch der ›Freiheit‹ entgegensetze (Schlick 1978, 160 ff.; Ayer 1954). Tatsächlich dramatisiert der Prädeterminist selbst den Begriff des Indeterminismus, indem er ›indeterminiert‹ als ›zufällig‹ missversteht und auf diese Weise die Konnotation ›unzurechenbar‹ dramatisch auszunutzen sucht. Doch von der Indeterminiertheit einer Handlung führt kein direkter Weg zu ihrer Unzurechenbarkeit. Auch wenn unsere Entscheidung nicht determiniert war, bedeutet das noch nicht, dass sie unzurechenbar ist. Kant unterscheidet das menschliche Begehrungsvermögen vom tierischen dadurch, dass »Sinnlichkeit [unsere; J. B.] Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen« (B 562). Das bedeutet gerade nicht, dass wir, wenn wir frei handeln, grundlos handeln. Unsere naturkausale Vorgeschichte ist nur nicht so beschaffen, dass sie nur eine Entscheidung zulässt. Wir können uns dies an Kants Beispiel verdeutlichen: Derjenige, dem die Todesstrafe angedroht wird, damit er eine Falschaussage ablegt, hat sowohl Gründe

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die Wahrheit zu sagen als auch eine Falschaussage abzulegen. Kants These ist bekanntlich, dass die Falschaussage letztlich nicht zu rechtfertigen ist und also nicht vollkommen rational ist. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn wir uns für die Falschaussage entscheiden, wir damit auch unser Vermögen, aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln zu können, verloren hätten. Dieses Beispiel soll ja gerade auch plausibel machen (nicht beweisen), dass wir nicht bloß aus Gründen von Lust und Unlust, sondern auch aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln können. Genau deshalb behauptet Kant, dass wir uns auch »unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst […] bestimmen« können (ebd.). Kants inkompatibilistischer Freiheitsbegriff ist also nicht durch das Zufallsargument gefährdet. Ein absolut freier Wille ist gerade kein launischer Wille, sondern ein Wille, der das Vermögen hat, durch einen reinen Vernunftgrund zur Handlung bestimmt zu werden. Diese Gründe sind weder – wie der Kompatibilist es will – das notwendige Produkt unserer Lebensgeschichte noch – wie der Kompatibilist es dem Inkompatibilisten unterstellt – launische Einfälle. Es sind vielmehr Gründe, die so ursprünglich unsere sind, dass sie uns überhaupt erst zu moralischen und der Zurechnung nach kategorischen Gesetzen fähigen Wesen machen. Diese Gründe sind uns, wie Kant sagt, »unmittelbar« (V, 29) und »apodiktisch« bewusst (V, 47). Es sind unsere Gründe, weil wir (Kants Moraltheorie vorausgesetzt) erkennen, dass wir so handeln sollen. Wer sich von diesen Gründen lossagen wollte, müsste zugleich seine Vernunftfähigkeit aufgeben. Kants inkompatibilistischer Freiheitsbegriff impliziert also sehr wohl, dass unser Wille durch Naturkausalität nicht so determiniert ist, dass er nicht hätte anders entscheiden können. Er impliziert aber nicht, dass eine freie Handlung ein Produkt des Zufalls ist und mit unserer Person überhaupt nichts zu tun hat. Genau darin besteht die entscheidende begriffliche Konfusion vieler Kompatibilisten: Sie identifizieren ›indeterminiert‹ mit ›unverursacht‹. Diese Identifikation führt sie wiederum dazu, ›indeterminiert‹ mit ›zufällig‹ gleichzusetzen, und auf diese Weise sind sie dann schließlich erneut bei der absurden Konsequenz angelangt, dass die absolut freie Handlung nicht eigentlich dem Subjekt, sondern dem Zufall zuzurechnen ist.

II. Selbst wenn man Kant zugibt, dass der Zufallseinwand seinen Freiheitsbegriff nicht trifft und darüber hinaus auch noch dazu bereit ist, den begrifflichen Zusammenhang zwischen einem inkompatibilistischen Freiheitsbegriff und dem kategorischgebietenden Imperativ zu akzeptieren, wird der Kompatibilist das Determinismusargument gegen Kant geltend machen. Dabei dreht er Kants Schluss vom Sollen aufs Können um und verneint die Wahrheit der Antezedenz: Wir können nicht aus absoluter Freiheit handeln, also sollen wir auch nicht nach kategorisch-gebietenden Imperativen handeln. Der Kompatibilist bezweifelt also, dass unser vermeintliches Wissen um kategorische Verpflichtung ein Argument gegen die Wahrheit des

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Determinismus darstellen könnte. Kant scheint dagegen beides zu wollen: sowohl einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff als auch den Determinismus. Und seine Lösung scheint in einer Zwei-Welten-Theorie zu bestehen, die den Determinismus in die phänomenale und die Freiheit in die noumenale Welt verweist. Allen Wood hat Kants Position deshalb als »Kompatibilismus von Inkompatibilismus und Kompatibilismus« (Wood 1984, 74) bezeichnet. Demnach sind wir frei und determiniert, weil wir zwei Welten angehören. In der phänomenalen Welt sind wir einem Naturdeterminismus unterworfen, in der noumenalen Welt sind wir frei. Der Kompatibilismus gilt also für die phänomenale Welt, der Inkompatibilismus für die noumenale Welt (ebd). Wood glaubt, dass der Inkompatibilist notwendig jede Art von Determination (also auch Vernunftdetermination) ablehnt und einen Begriff der Freiheit der Indifferenz vertritt. Deshalb bezeichnet Wood Kants Theorie als Kompatibilismus. Der Inkompatibilist wendet sich aber nicht gegen jede Art von Determinismus, sondern nur gegen einen Naturdeterminismus. Woods sogenannter Metakompatibilismus ist in Wahrheit kein Kompatibilismus, sondern ein Zwei-Welten-Parallelismus, weil er nicht verständlich machen kann, wie »dieselbe Handlung« determiniert und frei zugleich sein kann. Vielmehr lässt diese Art des sogenannten Kompatibilismus letztlich die Frage unbeantwortet, warum wir überhaupt berechtigt sind, den phänomenalen Menschen für sein unmoralisches Verhalten zu verurteilen, wenn wir lediglich die Freiheit des noumenalen Menschen voraussetzen können (vgl. z. B. Beck 1998, 190). Andere Interpreten versuchen Kant vor diesen absurden Konsequenzen zu bewahren, wollen ihm aber ebenfalls einen Kompatibilismus zuschreiben. Hud Hudson will weder, wie der klassische Kompatibilismus, Kants Freiheitsbegriff abschwächen noch, wie der Metakompatibilist, in den sauren Apfel beißen und Kant einen Zwei-Welten-Parallelismus zuschreiben. Stattdessen versucht Hudson Kants Freiheitstheorie als einen Kompatibilismus zu interpretieren, der sich auf einen anomalen Monismus im Sinne Donald Davidsons gründet (Hudson 1994 im Anschluss an Meerbote 1984a und b). Hudson glaubt, dass man Kant, wenn man ihn als einen Zwei-Aspekte-Theoretiker versteht, Davidsons These einer Token-TokenIdentität von physischen und mentalen Ereignissen zuschreiben könne: Ding an sich und Erscheinung sind nicht zwei distinkte Gegenstände, sondern zwei unterschiedliche Betrachtungsarten ein und desselben Dinges. Dasselbe Ereignis wird demnach als physisches Ereignis (Erscheinung) und als mentales Ereignis (Ding an sich) betrachtet. Als physisches unterliege das Ereignis dem Grundsatz der Kausalität, der die Freiheit ausschließe. Als mentales Ereignis unterliege es dagegen diesem Grundsatz nicht. Denn, so lautet das Argument, Kant habe in der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft bewiesen, dass die Psychologie nicht mathematisierbar ist und psychologische Gesetze prinzipiell ausgeschlossen sind. Dieses Argument wird von Hudson so verstanden, dass der Grundsatz der Kausalität sich nicht auf mentale Zustände anwenden lasse. Kant vertrete also einen kausalen Determinismus auf der physikalischen (phänomenalen) Ebene und einen Indeterminismus auf psychologischer (noumenaler) Ebene. Wenn men-

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tale Ereignisse token-token-identisch mit physischen Ereignissen sind, können sie auch auf der Grundlage von physischen Ereignissen erklärt werden. Wenn man aber dieselben Ereignisse in mentalem Vokabular beschreibt (Wollen, Wünschen, Denken), widersetzen diese sich einer naturkausalen Erklärung. Darin liege die Anomalie von Davidsons (und Kants) Monismus. Die mentale und die physikalische Ebene seien nun genau deshalb miteinander vereinbar, weil mentale Erklärungen nicht mit den physikalischen Erklärungen derselben Ereignisse in Konkurrenz treten. Davidson und Kant hätten demnach beide eine Token-Token-Identität und Type-Type-Irreduzibilität von physischen und mentalen Ereignissen vertreten. Ob Kant tatsächlich einen anomalen Monismus vertritt, ist fraglich. Zunächst ist die Gleichsetzung von mentalen mit noumenalen Ereignissen problematisch. Zumindest für einige dieser Ereignisse scheint zu gelten, dass sie als Gegenstände des inneren Sinnes selbst Erscheinungen sind (z. B. Hoffnungen, Wünsche). Ein zweiter Kritikpunkt setzt bei der Beobachtung an, dass für Kant das Grundproblem der zweiten Kritik gerade darin besteht, ob reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann. Die Praktizität der Vernunft wird von Kant als Vernunftkausalität verstanden. Wäre Kant ein anomaler Monist im Sinne Davidsons, dürfte er indes nicht behaupten, dass die Vernunft kausal die psychophysische Wirklichkeit verändert. Das scheint aber gerade der Punkt zu sein, auf den es Kant bei seinem Begriff der Freiheit als Erstursächlichkeit ankommt. Es ist schließlich drittens auch bereits deshalb nicht plausibel, Kant einen anomalen Monismus zuzuschreiben, weil man dabei ein Argument für einen Zweck funktionalisiert, den es im Rahmen der kantischen Texte nachweislich nicht einnimmt. Kant wendet sich gegen die Vertreter eines psychologischen Determinismus gerade nicht mit seiner prinzipiellen Kritik an der Psychologie als ›eigentlicher Wissenschaft‹. Selbst wenn man aus den kantischen Texten einen anomalen Monismus zusammensetzen könnte, macht Kant von diesem Argument nachweislich keinen Gebrauch, wenn er für die menschliche Freiheit argumentiert. Im Gegenteil: Kant setzt in der ersten und zweiten Kritik hypothetisch einen psychologischen Determinismus voraus, dessen Gesetze sich an den strikten Gesetzen der newtonschen Mechanik orientieren und hält dennoch an der menschlichen Freiheit fest: »Man kann also einräumen, daß wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mondoder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei« (V, 99; Hervorhebung J. B.; Parallelstelle in B 577 f.). Diese Mondfinsternispassage, wie ich sie nennen möchte, macht zunächst deutlich, dass Kant seine Theorie der Freiheit nicht auf einen bloß epistemischen Indeterminismus gründet. Kant begeht nicht den Fehler, von unserer faktischen Unfähigkeit sichere Voraussagen über die Zukunft anzustellen, auf einen ontologischen Inde-

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terminismus zu schließen. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Hirnforscher unser Handeln (noch) nicht mit vollkommener Sicherheit voraussagen können, bedeutet nicht auch, dass die Welt selbst nicht deterministisch verfasst ist. Von einem solchen epistemischen Indeterminismus führt also kein direkter Weg zum ontologischen Indeterminismus. Es wäre ja durchaus möglich, dass in der Welt alles deterministisch zugeht, wir aber (noch) nicht die richtigen Theorien entwickelt haben, mit denen wir diese deterministische Welt angemessen in den Griff bekommen. Diese Passage macht aber auch deutlich, warum wir Kant nicht mit Recht einen Kompatibilismus zuschreiben können, der auf einem anomalen Monismus gründet. Kant setzt hier hypothetisch die Wirklichkeit von psychologischen Verlaufsgesetzen voraus. Das Gesetz hat die folgende Form: Immer wenn Denkungsart x, Triebfeder y und Umstandsbedingung z zur Zeit t vorliegen, dann folgt notwendig Handlung h. Kontrafaktisch gewendet: Handlung h wäre nicht eingetreten, wenn (ceteris paribus) Denkungsart x, Triebfeder y und Umstandsbedingung z zur Zeit t nicht vorgelegen hätten. Der anomale Monist behauptet nun, dass, wenn es Gesetze der Psychologie gäbe, die Freiheit nicht zu retten wäre. Kant behauptet dagegen, dass die Existenz derartiger Gesetze die Freiheit des Menschen nicht ausschließt. Kants Verteidigung eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes beruht also gerade nicht auf einer Gesetzesskepsis (wie z. B. bei Keil 2007). Wir können diese Passage also auch so verstehen, dass Kant seine Freiheitstheorie ausdrücklich nicht von einem anomalen Monismus abhängig machen will. Kant behauptet hier, dass auch dann, wenn der anomale Monismus nicht zutrifft, die Möglichkeit der Freiheit nicht ausgeschlossen ist. Davidsons Kompatibilismus ist also nicht der Kompatibilismus Kants. Wir müssen Kant in dieser Passage vielmehr so verstehen, dass er mit Blick auf die Vertreter eines Determinismus sagt: Ich gebe den Deterministen einen psychologischen Determinismus zu. Ich will sogar einräumen, dass sie das menschliche Handeln mit derselben Sicherheit voraussagen können, wie die newtonsche Physik die Planetenbewegung vorausberechnen kann. Ich könnte zwar gegen sie argumentieren, dass derartige Gesetze aus prinzipiellen Gründen unmöglich sind, aber von diesem Argument muss ich keinen Gebrauch machen. Denn auch wenn es Naturgesetze für menschliches Verhalten gäbe, kann ich »dennoch dabei behaupten, daß der Mensch [absolut; J. B.] frei sei« (V, 99).

III. Wenn Kant seine Freiheitstheorie nicht auf einen anomalen Monismus gründet, stehen wir nun erneut vor dem eingangs skizzierten Dilemma: Entweder wir schwächen den kantischen Freiheitsbegriff ab und schreiben ihm einen schwachen, kompatibilistischen Freiheitsbegriff zu oder wir halten an dem absoluten Freiheitsbegriff fest und lesen Kant als den Vertreter eines Zwei-Welten-Parallelismus. Mit dem ersten Horn des Dilemmas schlagen wir den klassischen kompatibilistischen Weg ein. Die Mondfinsternispassage legt eine solche Lesart nahe. Kant hätte Freiheit dann als

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das Vermögen verstanden, das zu verwirklichen, was wir tun wollen. Die Frage, ob der Wille selbst naturkausal determiniert ist, wäre dann nicht mehr von Bedeutung. Entscheidend wäre nur, dass der Wille die intendierte Handlung auch verwirklichen kann. Doch es ist gerade diese kompatibilistische Vereinbarkeitsstrategie von Freiheit und Naturdeterminismus, die Kant, wie wir oben gesehen haben, kurz zuvor explizit als eine »kleine Wortklauberei« und einen »elenden Behelf« zurückweist. Mit dem ersten Horn würden wir also Kants inkompatibilistischen Freiheitsbegriff gerade aufgeben. Das zweite Horn würde dagegen einen Rückfall in die Zwei-Welten-Theorie bedeuten. Kant könnte dann prinzipiell nicht verständlich machen, wie dieselbe Handlung zugleich frei und naturkausal determiniert sein kann. Ich denke, dass ein wirklich haltbarer Ausweg aus diesem Dilemma bei Kants Determinismusbegriff ansetzen muss. Dabei hat man sich oft auf eine Lesart der zweiten Analogie der Erfahrung berufen, die den Grundsatz der Kausalität als einen bloß regulativen Grundsatz verstehen will. Demnach sei es Kant mit dem Grundsatz der Kausalität gerade nicht um den Beweis des Uniformitätsprinzips der Kausalität gegangen, wonach gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. Die zentrale These der zweiten Analogie sei vielmehr, dass überhaupt nur ein objektives Ereignis (»Geschehen«) möglich ist, weil wir voraussetzen, dass jedes Ereignis eine Ursache haben muss (vgl. Buchdahl 1969, 670 f.; Beck 1978b, 147–153). Kant habe also mit der zweiten Analogie lediglich dieses allgemeine Kausalprinzip beweisen wollen, wonach jedes Ereignis eine Ursache hat (vgl. Beck 1978a, 126). Ursache und Wirkung sind insofern »notwendig« miteinander verknüpft als sie in der Zeit nicht umkehrbar sind. Dieses Prinzip schließt eine Freiheitskausalität prinzipiell nicht aus, weil die Freiheitskausalität gerade nicht in der Zeit geschieht, selbst kein Ereignis ist und somit selbst nicht wiederum eine Ursache haben muss. Über die Existenz spezieller Kausalgesetze macht die zweite Analogie der Erfahrung keine Aussage. Spezielle Kausalgesetze lassen sich nicht aus transzendentalphilosophischer Reflexion ableiten. »Es muß Erfahrung dazu kommen«, um sie zu erkennen. Aber wie Erfahrung überhaupt zustande kommen kann, davon »geben allein jene Gesetze a priori Belehrung« (B 165). Um ein Urteil, das eine objektive Zeitfolge ausdrückt, fällen zu können, müssen wir nicht im Besitz spezieller Kausalgesetze sein (Guyer 1987, 252). Kant sagt vielmehr, dass, wenn wir ein Ereignis erfahren, wir voraussetzen müssen, dass es eine Ursache hat. Die speziellen Kausalgesetze müssen erst noch aufgesucht werden. Damit ist nicht auch schon garantiert, dass wir derartige Gesetze finden werden. Doch mit dieser schwachen Lesart der zweiten Analogie der Erfahrung machen wir uns die Sache zu leicht. In der zitierten Mondfinsternispassage setzt Kant ja gerade hypothetisch voraus, was die schwache Lesart der zweiten Analogie offen lassen will: die Existenz spezieller Kausalgesetze für menschliche Handlungen. Diese Gesetze sollen es uns ermöglichen, das Verhalten eines Menschen mit Sicherheit voraussagen zu können. Zur Erinnerung: In dieser Passage behauptet Kant, dass auch wenn Handlung h nicht hätte anders sein können, wenn Denkungsart x, Triebfeder y und Umstandsbedingung z zur Zeit t vorliegen, wir dennoch die

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Handlung so betrachten dürfen, dass sie absolut frei war. Wir dürfen deshalb die Gültigkeit von Kants inkompatibilistischem Freiheitsbegriff nicht einfach von einer schwachen Lesart der zweiten Analogie der Erfahrung abhängig machen. Wir müssen vielmehr die Vereinbarkeit oder Kompatibilität des absoluten Freiheitsbegriffes auch mit diesem empirischen Determinismus beweisen. Kant selbst bezeichnet dieses Unternehmen als die »Vereinigung« von »Freiheit« und »Naturnothwendigkeit« (B 566). Deshalb ist es auch naheliegend, Kant eine Art von Kompatibilismus zuzuschreiben. Der Determinismus, den die Mondfinsternispassage in Anspruch nimmt, verpflichtet Kant indes nicht auf den Kompatibilismus, wie er uns aus der gegenwärtigen Freiheitsdebatte bekannt ist. Wenn wir also Kants Theorie in der gegenwärtigen Debatte situieren wollen, müssen wir dieser Bezeichnung widerstehen. Denn selbst wenn aus x, y, z zu t notwendig h folgt, so könnte Kant sagen, dass zumindest ein Teil der Bedingungen selbst in der Macht des Handelnden liegt. Folgt man Kants sogenannter »Inkorporationsthese« (Allison 1990), dann kann der Mensch »durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden […], als nur sofern [er] sie in seine Maxime aufgenommen hat […]; so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« (VI, 24). Nur wenn wir uns dafür entscheiden, eine Triebfeder in unsere Maxime aufzunehmen, und nicht etwa, indem sie unvermittelt als Naturtrieb uns bestimmt, werden unsere Triebfedern handlungswirksam. In der Mondfinsternispassage ist die »Maxime« mit dem Begriff der »Denkungsart« angesprochen. Wenn dem empirischen Psychologen die Denkungsart vollkommen bekannt wäre und er mit Sicherheit die Handlungen vorausberechnen könnte, dann, so Kants These, ist damit die Möglichkeit inkompatibilistischer Freiheit nicht ausgeschlossen. Sie wäre aber sehr wohl ausgeschlossen, wenn auch die Entscheidung des Handelnden selbst nicht in der Macht des Handelnden läge. Kant hat ganz deutlich gesehen, dass die eigentliche Gefahr für den inkompatibilistischen Freiheitsbegriff nicht der Determinismus, sondern, wie er es in der Religionsschrift genannt hat, der »Prädeterminismus« ist: »Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird.« (VI, 49 f.) Es ist also nicht die Möglichkeit von sicheren Handlungsprognosen, die unsere absolute Freiheit bedroht. Es ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Bedingungen, bei

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denen diese Prognosen ansetzen, selbst nicht in der Macht des Handelnden sind. Die empirische Forschung kommt, sofern sie auf die Handlungsprognose gerichtet ist, immer zu spät, um die Möglichkeit absoluter Freiheit auszuschließen. Nur wenn die Denkungsart ihrerseits stets durch Naturursachen so bestimmt ist, dass sie nicht hätte anders sein können, ist die Möglichkeit inkompatibilistischer Freiheit ausgeschlossen. Die Wirklichkeit eines solchen Prädeterminismus wird aber in der Mondfinsternispassage gerade nicht behauptet. Kant hält das Problem des Prädeterminismus bekanntlich für ein notwendiges Vernunftproblem. Es entsteht, wenn die Grundsätze des Verstandes durch die Systematizitätsbestrebungen der Vernunft über die Erfahrung hinaus bis zum Unbedingten erweitert werden. Der Widerspruch, die »Antinomie«, wie Kant sagt, zwischen Freiheit und Prädeterminismus entspringt erst aus dem Konflikt zwischen den Systematizitätsforderungen der Vernunft und den möglichen Synthesisleistungen eines sinnlichen Erkenntnisvermögens. Genauer liegt diesem Konflikt das folgende Argument zugrunde: 1. Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der Bedingungen gegeben. 2. Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. 3. Also ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen derselben (der Gegenstände) gegeben (B 525, B 364). Diese allgemeine Argumentationsfigur, die allen Vernunftwidersprüchen als hypothetischen Vernunftschlüssen zugrunde liegt, lässt sich auf den Sonderfall der dritten Antinomie übertragen: 1. Wenn etwas Bewirktes gegeben ist, dann sind alle Ursachen des Bewirkten ebenfalls gegeben. 2. Nun ist uns etwas Bewirktes gegeben. 3. Also sind auch alle Ursachen des (gegebenen) Bewirkten gegeben. Der Grundsatz dieses Syllogismus postuliert die vorhandene Totalität der Ursachen. Aus ihr entsteht der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst. Es wird behauptet, dass die vollständige Reihe der Ursachen, und damit das Unbedingte selbst gegeben ist. Das Unbedingte ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Deshalb ist dieser Grundsatz kein empirischer, sondern ein Grundsatz a priori. Es ist ein synthetischer Grundsatz a priori, »denn das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte« (B 364). Das Unbedingte wird von dem Vertreter eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes und dem Vertreter eines universellen Prädeterminismus auf jeweils unterschiedliche Weise gedacht. These und Antithese der dritten Antinomie legen ihrer eigenen Position jeweils einen anderen Begriff des »Unbedingten« zugrunde. Zum einen kann das Unbedingte als Erstursächlichkeit verstanden werden. In diesem Fall ist es ein Teil der Kausalreihe, dem die anderen Ursachen untergeordnet sind, der selbst aber ein absolut Erstes der Kausalreihe darstellt. In diesem Fall bedeutet

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›unbedingt‹ »absolute Selbsttätigkeit (Freiheit)« (B 445 f.). Zum anderen lässt sich das Unbedingte aber auch als aktual-infiniter Regress denken, in dem alle Ereignisse bedingt sind und nur die Kausalreihe selbst von keiner Bedingung abhängt. Auch wenn man behauptet, die Kausalreihe sei »ohne Anfang, d. i. unendlich« (ebd.), nimmt man also einen Begriff des Unbedingten in Anspruch. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass nicht, wie viele gemeint haben (z. B. Strawson 1981, 181), nur der Vertreter des inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes (These), sondern auch der Vertreter eines globalen (universalen) Prädeterminismus (Antithese) einen Begriff des »Unbedingten« voraussetzt (vgl. Dimpker; Kraft; Schönecker 1996, 182–185, 195 f., 209). Die Pointe des Vernunftwiderspruchs liegt gerade darin, dass es eine Idee gibt, die auf zweifache sich einander widersprechende Weise bestimmt wird. Im Fall der dritten Antinomie ist es die Idee der »absolute[n] Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung« (B 443). Kant argumentiert nun dafür, dass sich die objektive Realität dieser Idee in keiner uns möglichen Anschauung beweisen lässt und weder die These noch die Antithese wahrheitsfähig sind. Beim Zurückverfolgen der Ursachenreihe werden wir niemals Vollständigkeit erreichen, aber damit ist nicht auch gesagt, dass der empirische Regress in jedem Fall notwendig unendlich ist. Vielmehr ist bei dem Verhältnis von Ursache und Wirkung immer nur »ein Glied der Reihe gegeben, von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst fortgehen soll« (B 541). Deshalb hält Kant hinsichtlich des Regresses, der in der Erfahrung prinzipiell unabschließbar ist, an einer Differenzierung fest, die in Bezug auf den Progressus bloß eine »leere Subtilität« ist (B 539): Wenn nur ein Glied der Reihe und nicht etwa das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben ist, dann ist man lediglich dazu berechtigt, einen Regressus in indefinitum und nicht etwa in infinitum anzunehmen (B 441 ff.). Kants Lösung besteht nun darin, den synthetischen Grundsatz in ein bescheideneres ›analytisches Postulat‹, eine Forschungsmaxime, umzuwandeln, die »klar und ungezweifelt gewiß« ist: »[W]enn das Bedingte gegeben ist, [ist] uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben […]« (B 526). Mit diesem Satz wird die Frage, wie weit sich der Regress erstreckt, ob er endlich oder unendlich ist, offengelassen. Er fordert lediglich dazu auf, das zu suchen, was im Begriff des ›Bedingten‹ beziehungsweise ›Bewirkten‹ analytisch bereits enthalten ist: die Bedingungen beziehungsweise die Ursachen. Deshalb »erhebt sich [dieser Satz] über alle Furcht vor transzendentale[r] Kritik« (ebd.). Gegen den Begriff des Unbedingten als aktual-infiniter Regress setzt Kant also den Begriff des Unbedingten als unbestimmter (potentiell-infiniter) Regress. Kants Argumentationsstrategie für einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff unterscheidet sich damit nicht vollkommen von der Strategie, die auch gegenwärtige Vertreter eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes einschlagen (z. B. Keil 2007). Kant argumentiert nicht unmittelbar für die Wahrheit des Indeterminismus, sondern dafür, dass der Prädeterminismus prinzipiell unbeweisbar bleiben muss. Von dort schließt er nicht etwa auf die Wahrheit des Indeterminismus und die Wirklichkeit einer Kausalität aus Freiheit. Vielmehr werden Determinismus und

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inkompatibilistischer Freiheitsbegriff beide zu regulativen Ideen ohne Wahrheitswert. Solange wir nur in empirischer Forschung die Ursachen einer Erscheinung bestimmen, gibt es keinen Grund, von einem Determinismus abzurücken. Vielmehr führt die Voraussetzung eines Determinismus zur Vervollkommnung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis. Erst unser unmittelbares Bewusstsein kategorischer Verpflichtung gibt uns einen Grund, einen Natur-Indeterminismus hinsichtlich des menschlichen Willens anzunehmen. Dabei setzen wir implizit voraus, dass die Naturursachen »nicht so bestimmend« sind, so dass wir also »unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt« eine Wirkung in der Natur hervorbringen können (B 562). Anders gesagt: Wenn die Naturursachen so bestimmend wären, dass wir nicht anders hätten wollen können, wären wir nicht frei. Es gibt wohl kaum eine Formulierung, in der Kants inkompatiblistischer Freiheitsbegriff deutlicher zum Ausdruck käme. Die moralisch-praktische Beurteilung menschlicher Handlungen setzt also voraus, dass die Wirkung eine andere hätte sein können, weil ihre Ursache eine andere hätte sein können. Das bedeutet aber auch, dass, wenn wir aus praktischer Perspektive menschliches Handeln beurteilen, wir davon ausgehen können, dass es nicht vollständig determiniert ist. Wenn wir dem menschlichen Willen die Idee der (absoluten) Freiheit zuschreiben, dann können wir ihn nicht zugleich als vollständig naturkausal determiniert betrachten. Diese Überzeugung macht Kant zu einem Inkompatibilisten von Freiheit und Naturdeterminismus. Wenn wir den Gegenstand als determiniert betrachten, liegt dieser Betrachtung vielmehr ein anderes Erkenntnisinteresse zugrunde. Wäre der menschliche Wille tatsächlich prädeterminiert, dann wären wir nicht absolut frei und eine Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen ungerechtfertigt. Gleichwohl müssen wir, wenn wir die menschlichen Handlungen als Naturereignisse zum Gegenstand empirischer Forschung machen, die Ursachenkette so betrachten, »als ob [sie] an sich unendlich wäre […]« (B 700). Warum? Weil nur auf der Grundlage dieser Regel unsere empirische Forschung nicht willkürlich abbricht, sondern der Erfahrungsgegenstand so weit wie möglich theoretisch bestimmt werden kann. Kant hat nicht behauptet, dass die Aussagen, ›der menschliche Wille ist frei‹ und ›der menschliche Wille ist vollständig naturkausal determiniert‹ beide zugleich wahr sein können (vgl. z. B. Rosefeldt in diesem Band). Er hat auch nicht behauptet, dass es denkmöglich ist, dass wir Menschen zugleich (absolut) frei und vollständig naturdeterminiert handeln. Kant will vielmehr dafür argumentieren, dass wir, wenn wir eine empirisch-psychologische Perspektive auf den Menschen einnehmen, ihn so betrachten müssen, »als ob« seine Handlungen vollständig determiniert sind, und, wenn wir eine moralische Perspektive einnehmen, ihn so betrachten müssen, »als ob« er absolut frei ist. Die vollständige Prädetermination der Welt schließt die Freiheitskausalität und die Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen aus. Die prinzipielle Unbeweisbarkeit des universellen Prädeterminismus zusammen mit dem unmittelbaren Bewusstsein kategorischer Verpflichtung geben uns einen Grund, dem Menschen inkompatibilistische Freiheit zuzusprechen.

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Schluss Kants Freiheitstheorie im Rahmen der gegenwärtigen Taxonomie zu verorten, macht uns bereits deshalb so große Schwierigkeiten, weil dieser Taxonomie eine Äquivokation zugrunde liegt. Die beiden Lager Kompatibilismus und Inkompatibilismus setzen bei ihrer Antwort auf die Frage, ob Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar ist, jeweils einen anderen Begriff von Willensfreiheit voraus. Letztlich sind sich alle darüber einig, dass der Begriff der absoluten Freiheit nicht prädeterminismusverträglich ist. Insofern sind wir eigentlich alle Inkompatibilisten. Einigkeit besteht auch darüber, dass der schwache Freiheitsbegriff prädeterminismusverträglich ist. Insofern sind wir alle Kompatibilisten. Der eigentliche Konflikt betrifft also zunächst den Freiheitsbegriff selbst und nicht das Kompatibilismusproblem. Welche Art von Freiheit setzen unsere verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken voraus? Ist der relative Freiheitsbegriff für diese Praktiken hinreichend oder fordert die Aufgabe des absoluten Freiheitsbegriffes auch eine Revision dieser Praktiken? Die Vertreter des relativen Freiheitsbegriffes glauben mit dem Zufallsargument zeigen zu können, dass es gerade nur der relative Begriff ist, der die menschliche Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit begründen kann. Kants absoluter Freiheitsbegriff ist dagegen an eine Ethik mit kategorisch-gebietenden Imperativen geknüpft. Er soll die Zurechenbarkeit nach kategorisch-gebietenden Imperativen legitimieren. Im Unterschied zu den gegenwärtigen Freiheitstheoretikern möchte Kant zeigen, warum wir, wenn wir über menschliche Freiheit sprechen, notwendig und primär über Moraltheorie sprechen müssen. Er ist davon überzeugt, dass wir ohne die Erkenntnis des Moralgesetzes »niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde[n], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen« (V, 30). Die Erkenntnis der praktischen Verpflichtung ist zugleich auch der Bewusstseinsgrund der absoluten Freiheit. Es ist also nicht ein spekulatives Interesse, sondern die praktische Vernunft, die uns zuerst das »unauflösliche Problem« mit dem Begriff der absoluten Freiheit aufgibt (V, 30). Erst eine Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen macht eine Rechtfertigung des absoluten Freiheitsbegriffes erforderlich. Im ersten Teil dieses Aufsatzes habe ich versucht zu zeigen, warum der Zufallseinwand gegen den absoluten Freiheitsbegriff nicht stichhaltig ist. Die Vertreter eines relativen Freiheitsbegriffes missverstehen den Begriff des Indeterminismus, indem sie ›indeterminiert‹ mit ›zufällig‹ identifizieren. Auch wenn unsere Entscheidung nicht naturdeterminiert war, bedeutet das noch nicht, dass die Entscheidung zufällig und unzurechenbar wäre. Wir handeln, wenn wir frei handeln, nicht grundlos, aber die naturkausale Vorgeschichte ist nicht so beschaffen, dass sie nur eine Entscheidung zulässt. Doch auch wenn sich der absolute Freiheitsbegriff widerspruchsfrei explizieren lässt, ist damit noch nicht die Kompatibilismusfrage beantwortet: »[W]enn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede

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Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen« (B 562). Kant hat uns hier einen Einwand geliefert, der in der gegenwärtigen Freiheitsdiskussion unter dem Titel »Konsequenzargument« neu erfunden worden ist (van Inwagen 1983, 16). Mit der Auflösung der dritten Antinomie möchte Kant dafür argumentieren, dass einige »Kausalität in der Sinnenwelt« nicht »bloß Natur« ist. Er möchte die logische Möglichkeit einer Kausalität aus absoluter Freiheit beweisen. Ich denke nicht, dass wir Kants Auflösungsstrategie als Kompatibilismus bezeichnen sollten. Sein Freiheitsbegriff ist entschieden inkompatibilistisch. Seine Vereinbarkeitsstrategie ist gerade nicht darauf angelegt, mit Recht von einer Handlung sagen zu dürfen, dass sie sowohl absolut frei als auch prädeterminiert ist. Vielmehr müssen wir die Handlung, wenn wir sie theoretisch erklären wollen, so betrachten, als ob sie prädeterminiert ist und, wenn wir sie moralisch beurteilen, so betrachten als ob sie absolut frei ist. Wir haben es hier mit regulativen Prinzipien zu tun, die weder wahr noch falsch sein können, weil sie über eine uns mögliche Erfahrung hinausgehen. Kants Formulierung des Konsequenzarguments macht deutlich, dass für ihn die Wahrheit oder Gültigkeit des Prädeterminismus die Möglichkeit von Freiheit als Erstursächlichkeit ausschließen würde. Bereits deshalb dürfen wir Kant nicht mit Recht als Kompatibilisten bezeichnen. Doch selbst wenn Kants Lösung des Prädeterminismusproblems nicht befriedigend ist, werden wir doch zumindest bei der Problemexposition an Kant anschließen müssen. Kant hat die deterministischen Freiheitstheorien gekannt. Schon zu Kants Zeit hat Johann Heinrich Schulz in aller Schärfe einen empirischen Determinismus vertreten. Schulz trat damals für dieselbe Korrektur des Menschenbildes ein, wie sie derzeit von einigen Hirnforschern gefordert wird (Roth 2003; Singer 2003; Walter 1998). Auch Schulz plädierte damals für eine Revision der »Sittenlehre« und des »Kriminalrechts«, der Begriffe »Lob und Tadel«, »Tugend und Laster«, »Schuld, Zurechnung und Strafe« sowie unseres Gefühls der »Reue« (Schulz 1783, 76). Niemand wird die Fortschritte der empirischen Wissenschaften seit Kants Zeiten leugnen wollen. Ebenso verkehrt wäre es jedoch zu meinen, diese Fortschritte stellten uns vor prinzipiell neue Probleme und die philosophische Diskussion stünde ihnen unvorbereitet gegenüber. Kant hat die Schriften jener Deterministen gekannt, Schulz’ Buch sogar selbst rezensiert. Doch obgleich ihm der Gedanke eines Determinismus vertraut war, hält er an der Freiheit des menschlichen Willens fest. Der Determinismus ist also keine Reaktion auf Kant, sondern andersherum können wir Kants Freiheitstheorie als eine Reaktion auf den Determinismus verstehen. Dabei hat Kant aber nicht mit einem auf empirischer Forschung basierenden »Beinahedeterminismus« angesetzt (Honderich 1995, 11, 99, 116), sondern mit dem Prädeterminismus, der die eigentliche Bedrohung für den absoluten Freiheitsbegriff darstellt. Im Streit zwischen absoluter Freiheit und Prädeterminismus schlägt Kant sich nicht dogmatisch auf eine Seite, sondern strengt einen fairen Prozess an. Beide

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Parteien, sowohl der Vertreter des Prädeterminismus als auch der Vertreter von Erstursächlichkeit, sollen die Gültigkeit ihrer Position beweisen. Kant bemüht sich dabei, den Grund und Ursprung des Streites zu diagnostizieren, weil er glaubt, dass nur so auch der Therapieversuch eine Aussicht auf Erfolg haben kann. Wir gehen zwar sehr wohl in der gegenwärtigen Debatte auf die Argumente der Gegner ein. Der Versuch aber, den Ursprung dieses Konfliktes aufzuspüren, um zu erkennen, warum dieser Konflikt nicht beizulegen ist, bleibt, soweit ich sehe, aus. Auch in diesem Punkt könnten wir von Kant lernen.

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1. Kants Lügnerparadoxie In der folgenden Passage aus der Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant das Dilemma, in das wir dadurch geraten, dass wir menschliche Handlungen einerseits als Teil der natürlichen Welt, andererseits aber als frei und moralisch bewertbar ansehen: »[…] man [nehme] eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat, und die man zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht und darauf beurtheilt, wo sie sammt ihren Folgen ihm zugerechnet werden könne. In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Theil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells aufsucht, zum Theil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läßt. […] Ob man nun gleich die Handlung dadurch bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichts destoweniger den Thäter und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturells, nicht wegen der auf ihn einfließenden Umstände, ja sogar nicht wegen seines vorhergeführten Lebenswandels; denn man setzt voraus, man könne es gänzlich bei Seite setzen, wie dieser beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. […] die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen der That völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen.« (A 554 f. / B 582 f.) Kants Position zu menschlicher Freiheit und ihrem Platz in der natürlichen Welt zeichnet sich dadurch aus, dass er beiden in dieser Passage genannten Einstellungen zu menschlichen Handlungen Rechnung tragen will und dafür argumentiert, dass sie miteinander vereinbar sind. Genauer kann diese Position anhand von drei Annahmen charakterisiert werden: eine Annahme über die Determiniertheit menschlicher Handlungen durch zeitlich frühere Ereignisse, eine Annahme über die

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Möglichkeit transzendentaler Freiheit und eine Annahme über die Vereinbarkeit der ersten beiden Annahmen unter der Voraussetzung, dass man den transzendentalen Idealismus als Theorie über Raum und Zeit akzeptiert. Eine Formulierung der ersten Annahme, die dem heutigen Verständnis von Determinismus recht nahe kommt, findet sich zum Beispiel in Kants Zustimmung zu der Vermutung, dass menschliche »Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen und von ihnen als ihren Bedingungen abgeleitet werden könnten und also mit diesen in Verbindung Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten« (A 539 / B 567). Eine weitere Belegstelle ist seine Aussage, dass »jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei« (V, 94). Der von Kant bevorzugte Ausdruck für diese Art von Determiniertheit von Handlungen durch zeitlich frühere Zustände lautet »Prädeterminismus« (vgl. VI, 49 f.). Ich werde Kants Annahme, dass die genannte Determiniertheit in der raum-zeitlichen Welt besteht, aber dem heutigen Sprachgebrauch folgend als Determinismusthese bezeichnen. Man kann sie folgendermaßen formulieren: Determinismusthese Für jede in der Zeit stattfindende menschliche Handlung H gibt es einen zeitlich vor H liegenden Naturzustand Z und Naturgesetze N1…Nn, so dass gilt: Es ist unmöglich, dass Z existiert und N1…Nn gelten, aber H nicht stattfindet. Obwohl die genannten Textstellen eine recht deutliche Sprache sprechen, ist die These, dass Kant einen Determinismus im Sinne dieser Annahme vertreten hat, in der Literatur allerdings immer wieder bestritten worden.1 In diesem Band zum Beispiel argumentiert Jochen Bojanowski dagegen, dass Kant Determinist im Sinne der Determinismusthese war.2 Er stützt sich dabei auf Kants Bemerkungen in den Antinomien, dass es keine vollständige Reihe der hinreichenden Ursachen für ein bestimmtes Ereignis geben kann, man also auch nicht davon ausgehen kann, dass menschliche Handlungen durch den vorhergehenden Weltverlauf vollständig bestimmt sind. Ich halte dieses Argument für nicht überzeugend, weil der Determinist gar nicht anzunehmen braucht, dass es eine vollständige Reihe von Ursachen für eine bestimmte Handlung geben muss, damit diese Handlung durch einen vorherigen Naturzustand vollständig kausal determiniert ist. In der obigen Formulierung der Determinismusannahme und den Textstellen, auf denen sie beruht, ist allein davon die Rede, dass es für jede Handlung einen zeitlich früheren Zustand gibt, der zusammen mit den Naturgesetzen die Handlung determiniert. Ob dieser Zustand selbst verursacht wird, vor allem aber, ob man beim Rückgang zu immer weiteren Ursachen jemals an ein Ende kommt oder nicht, ist dabei irrelevant.3 Ge1 2 3

Vgl. etwa Wolff (im Erscheinen). Vgl. neben seinem Beitrag zu diesem Band auch Bojanowski 2006. Vgl. zu diesem Kritikpunkt auch Pereboom 2006, Fn. 24.

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nerell scheinen mir Zweifel an jeder Art von Interpretation angebracht, die darauf hinausläuft, dass Kant einen Determinismus im Rahmen seines Systems entweder gar nicht vertreten hat oder aber darunter etwas hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Freiheit ›Harmloseres‹ verstanden hat, als man das in der gegenwärtigen Debatte tut. Passagen wie die folgende machen meines Erachtens unmissverständlich klar, dass Kant der Meinung war, dass sich transzendentale Freiheit auch mit dem radikalsten Determinismus laplacescher Prägung verträgt: »Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsterniß ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.« (V, 99)4 Die zweite oben genannte Annahme, diejenige über menschliche Freiheit, findet sich zum Beispiel in der folgenden Passage: »[…] jede Handlung unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligibelen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Naturursachen durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe dynamisch bestimmt zu sein […]« (A 553 / B 581). Wesen, die so handeln können, dass ihr Handeln – wie die hier erwähnte Handlung der Vernunft – nicht durch etwas anderes, insbesondere einen zeitlich früheren Zustand, verursacht ist, nennt Kant »transzendental frei« (vgl. z. B. A 446 / B 474). Seine Annahme über menschliche Freiheit kann man also folgendermaßen formulieren:

Bojanowski argumentiert in seinem Beitrag zu diesem Band dafür, dass Kant an dieser Stelle keinen Prädeterminismus, das heißt keine Annahme der Determiniertheit menschlicher Handlungen durch zeitlich frühere Ereignisse vertritt (vgl. S. 69 f.). Auch wenn dieses exegetische Manöver für die Sonnenfinsternispassage erfolgreich sein sollte, scheint sie mir als generelle Strategie nicht erfolgversprechend. Der Kontext der Stelle aus der Religionsschrift, in der Kant zwischen Determinismus und Prädeterminismus unterscheidet (VI, 49 f.), macht deutlich, dass er selbst auch den Prädeterminismus für die raumzeitliche Welt annehmen will und gerade diese Annahme als philosophische Herausforderung betrachtet. An dieser und verschiedenen anderen Stellen, zum Beispiel aus der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. V, 94 f. und V, 97), wird klar, dass es gerade die Determiniertheit von Handlungen durch vergangene Ereignisse, die nicht mehr in der Gewalt des Handelnden liegen, ist, die Kants Grund für die Annahme darstellen, dass menschliche Freiheit nur dann zu retten ist, wenn Menschen nicht an sich in der Zeit existieren. 4

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Freiheitsthese Menschen sind transzendental frei, das heißt, ihre in der Zeit stattfindenden Handlungen sind die Wirkungen eines Handelns ihrer Vernunft, das selbst unverursacht ist. Kant ist nicht der Meinung, dass wir theoretisches Wissen von der Wahrheit dieser These erlangen können. Da er die Wahrheit der Freiheitsthese für eine notwendige Voraussetzung dafür hält, dass Menschen zu moralisch richtigem Handeln verpflichtet sind und für moralisch falsches Handeln getadelt werden dürfen, misst er ihr aber denselben Grad und dieselbe Art von Gewissheit zu wie der Überzeugung, dass diese beiden Sachverhalte bestehen (vgl. z. B. Kritik der praktischen Vernunft, V, 3 ff.). Kants Vereinbarkeitsthese schließlich lautet folgendermaßen: Vereinbarkeitsthese Die Determinismusthese und die Freiheitsthese können dann und nur dann beide wahr sein, wenn der transzendentale Idealismus wahr ist, das heißt wenn raumzeitliche Eigenschaften Gegenständen nur als Erscheinungen zukommen, diese Gegenstände an sich selbst aber nicht in Raum und Zeit existieren. Menschen können dann als Dinge an sich transzendental frei sein, obwohl sie und ihre Handlungen als Erscheinungen kausal durch frühere Weltzustände determiniert sind. Der erste, ›dann, wenn‹-Teil der Vereinbarkeitsthese findet sich zum Beispiel in folgendem Ausschnitt aus der Kritik der praktischen Vernunft: »[Der] Widerstreit zwischen Naturnothwendigkeit und Freiheit [ist] kein wahrer Widerstreit […], da ein und dasselbe handelnde Wesen als Erscheinung […] eine Causalität in der Sinnenwelt hat, die jederzeit dem Naturmechanism gemäß ist, in Ansehung derselben Begebenheit aber, so fern sich die handelnde Person zugleich als Noumenon betrachtet (als reine Intelligenz, in seinem nicht der Zeit nach bestimmbaren Dasein), einen Bestimmungsgrund jener Causalität nach Naturgesetzen, der selbst von allem Naturgesetze frei ist, enthalten könne.« (V, 114) Der zweite, ›nur dann, wenn‹-Teil der Vereinbarkeitsthese kommt zum Ausdruck, wenn Kant klarstellt, dass sich transzendentale Freiheit und Determinismus nur dann vereinbaren lassen, wenn man zugesteht, dass Dinge an sich nicht in der Zeit existieren, und zwar deswegen, weil jede Handlung in der Zeit durch zeitlich vorhergehende Ereignisse determiniert ist, auf die der Handelnde zum Zeitpunkt der Handlung keinen Einfluss mehr hat. Als Beleg kann wieder ein Ausschnitt aus der Kritik der praktischen Vernunft dienen: »Nimmt man nun die Bestimmungen der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst […], so läßt sich die Nothwendigkeit im Causalverhältnisse mit der Freiheit auf keinerlei Weise vereinigen; sondern sie

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sind einander contradictorisch entgegengesetzt. Denn aus der ersteren folgt: daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, nothwendig sein, d. i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei. […] in jedem Zeitpunkte stehe ich doch immer unter der Nothwendigkeit, durch das zum Handeln bestimmt zu sein, was nicht in meiner Gewalt ist, und […] meine Causalität [wäre] also niemals Freiheit.« (V, 94 f.; vgl. auch V, 97) Aufgrund der Vereinbarkeitsthese sollte man Kants Position in der Freiheitsdebatte meines Erachtens als Kompatibilismus bezeichnen. Dies ist in letzter Zeit zwar bestritten worden und zwar mit dem Argument, dass Kant eine Freiheitsauffassung hat, die normalerweise von Inkompatibilisten vertreten wird und zeitgenössische Kompatibilisten Freiheit und Determinismus in der Regel deswegen für kompatibel halten, weil sie eine Analyse des Freiheitsbegriffes favorisieren, der Kant nicht zustimmen würde.5 Aber ›Kompatibilismus‹ ist dem Wortsinn nach ein Ausdruck für die These, dass menschliche Freiheit und Determinismus vereinbar sind, und nicht ein Ausdruck für eine bestimmte Auffassung darüber, weshalb und unter Inkaufnahme welcher weiteren theoretischen Kosten sie vereinbar sind.6 Die theoretischen Kosten von Kants Kompatibilismus sind zweifellos hoch. Determinismus lässt sich für Kant mit Freiheit – im für ihn einzig relevanten Sinn von transzendentaler Freiheit – nur dann vereinbaren, wenn man akzeptiert, dass Menschen nur als Erscheinungen, nicht aber an sich selbst, in der Zeit existieren und dass sie – oder, wie es in dem obigen Zitat heißt, »ihre Vernunft« – als Dinge an sich außerhalb der Zeit handeln können. Zumindest behauptet Kant dies gemäß der Lesart, die ich als Standardinterpretation von Kants Kompatibilismus bezeichnen möchte. Auch diese Standardinterpretation ist in der Literatur immer wieder bestritten worden, und man hat versucht, Kants Kompatibilismus so zu interpretieren, dass dessen theoretische Kosten weniger spektakulär ausfallen. Ein Beispiel für diese Strategie ist Hud Hudsons Versuch, Kants Position als frühe Version eines anomalen

Vgl. z. B. Xie 2009. Zu Kants Kritik an dem Freiheitsbegriff, der den gewöhnlichen Versionen des Kompatibilismus zu Grunde liegt, vgl. z. B. Kritik der praktischen Vernunft (V, 95 ff.). 6 Wood hat Kants Position als »compatibilism of compatibilism and incompatibilism« bezeichnet, um den Unterschied zu gewöhnlichen Versionen des Kompatibilismus zu markieren (vgl. Wood 1984; hier 74). Am treffendsten finde ich die ebenfalls leicht paradoxe Bezeichnung »libertarischer Kompatibilismus« von Ertl, weil sie deutlich macht, dass Kant eine libertarische Freiheitskonzeption mit dem Naturdeterminismus vereinbaren will (vgl. Ertl 2012). 5

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Monismus à la Davidson zu interpretieren.7 Kants These wäre dann, dass Handlungen und die Entscheidungen, die zu ihnen führen, zwar unter der Beschreibung als Teile der physikalischen Welt, nicht aber unter der Beschreibung als mentale und rationale Zustände unter ein deterministisches Naturgesetz fallen. Auch diesen Versuch halte ich für exegetisch unhaltbar.8 Erstens meint Kant, dass eine transzendental freie Handlung selbst unverursacht sein muss; eine Handlung, die unter einer Beschreibung unter ein Kausalgesetz fällt und unter einer anderen Beschreibung nicht, ist aber nicht unverursacht. Zweitens macht er unmissverständlich klar, dass es unter der Voraussetzung des Determinismus keine Freiheit geben könnte, wenn alle Handlungen in der Zeit stattfinden würden, weil in diesem Fall jede Handlung in der Zeit durch etwas determiniert ist, »was zur vergangenen Zeit gehört und nicht mehr in seiner [des Handelnden; T. R.] Gewalt« ist.9 Die Annahmen des anomalen Monismus implizieren aber sicher nicht, dass Ereignisse unter irgendeiner Beschreibung außerhalb der Zeit stattfinden. Die wichtigste Motivation dafür, nach Alternativen zur Standardinterpretation von Kants Kompatibilismus zu suchen, besteht sicher darin, dass diese Interpretation Kant eine Konzeption unterstellt, die viele für so abwegig halten, dass sie ihm diese – entweder als wohlwollende Interpreten oder als Philosophen, die an einer plausiblen Rekonstruktion der eigentlich wichtigen Einsichten Kants interessiert sind – nicht zuschreiben wollen. Diese Motivation ist durchaus nachvollziehbar. Kants Kompatibilismus impliziert gemäß der Standardinterpretation nicht nur die problematische Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich sowie die Annahme, dass Dinge an sich selbst nicht in Raum und Zeit existieren; diese Interpretation beinhaltet darüber hinaus, dass in der Zeit stattfindende Handlungen in Kants Konzeption auf eine bestimmte Weise überdeterminiert sind: Sie sind einerseits durch frühere Naturzustände und die Naturgesetze determiniert, andererseits hängen sie kausal von einem transzendental freien und zeitlosen Handeln der Vernunft ab. Das scheint aber zu implizieren, dass unser transzendental freies Handeln nur dann einen Einfluss auf unsere Handlungen in der Zeit haben kann, wenn es auch einen Einfluss auf die Geltung der Naturgesetze oder auf den bisherigen Weltverlauf hat, die zusammen über das Stattfinden der zeitlichen Handlung entscheiden. Diese Konsequenz scheint aber absurd zu sein. Ich möchte in diesem Beitrag versuchen, die Standardinterpretation von Kants Kompatibilismus gegen den eben skizzierten Einwand zu verteidigen. Dazu werde ich zum einen untersuchen, welche Konsequenzen Kants Kompatibilismus gemäß der hier vertretenen Standardinterpretation für den Zusammenhang zwischen Hudson 1994. Vgl. dazu auch die Kritik in Ertl 1999 und in Pereboom 2006. 9 Vgl. das obige Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft (V, 98 f.), sowie V, 101: »In der That: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein«. 7 8

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freiem zeitlosem Handeln, determiniertem zeitlichem Handeln und den dieses Handeln determinierenden Faktoren tatsächlich hat; zum anderen werde ich dafür argumentieren, dass keine dieser Konsequenzen sachlich so absurd ist, dass sie einen hinreichenden Grund dafür darstellen würde, diese Form des Kompatibilismus nicht selbst zu vertreten oder sie Kant nicht zuzuschreiben (Abschnitte 3–5). Im nächsten Abschnitt werde ich etwas genauer auf einige Besonderheiten von Kants Konzeption freien Handelns und seiner Determinismusauffassung eingehen, die für meine Darstellung und Verteidigung von Kants Kompatibilismus relevant sind (Abschnitt 2). Nicht verteidigen werde ich Kant gegen den Vorwurf, dass sein Kompatibilismus nur dann funktioniert, wenn man die Unterscheidung zwischen in der Zeit existierenden Erscheinungen und außerhalb der Zeit existierenden Dingen an sich hinnimmt, und dass eben diese Unterscheidung schlicht nicht akzeptabel ist. Das ist natürlich ein triftiger Grund dafür, Kants Kompatibilismus abzulehnen. Aber mir reicht es, hier dafür zu argumentieren, dass es auch der einzige triftige Grund ist und dass Kants Kompatibilismus also zumindest nicht abwegiger ist als Kants transzendentaler Idealismus im Allgemeinen.10

2. Empirischer und intelligibler Charakter, empirische und intelligible Tat Kant formuliert die Determinismusthese, die Freiheitsthese und die Vereinbarkeitsthese häufig mit Rekurs auf den sogenannten »empirischen« und den sogenannten »intelligiblen Charakter« eines Menschen, so zum Beispiel in der folgenden Passage: »Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. Und da würden wir an einem Subjecte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen und von ihnen als ihren Bedingungen abgeleitet werden könnten und also mit diesen in Verbindung Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten. Zweitens würde man ihm noch einen intelligibelen Charakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist. Man könnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen. […] Nach seinem empirischen Charakter würde […] dieses Subject als Erscheinung allen Gesetzen der Bestimmung nach der Causalverbindung unterworfen sein; und es wäre so fern nichts, als ein Theil der Sinnenwelt,

Dass Kants transzendentaler Idealismus im Allgemeinen nicht so abwegig ist, wie es prima facie den Anschein hat, habe ich zu zeigen versucht in Rosefeldt 2007. 10

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dessen Wirkungen, so wie jede andere Erscheinung aus der Natur unausbleiblich abflössen. […] Nach dem intelligibelen Charakter desselben aber […] würde dasselbe Subject dennoch von allem Einflusse der Sinnlichkeit und Bestimmung durch Erscheinungen freigesprochen werden müssen; und da in ihm, so fern es Noumenon ist, nichts geschieht, keine Veränderung, welche dynamische Zeitbestimmung erheischt, mithin keine Verknüpfung mit Erscheinungen als Ursachen angetroffen wird, so würde dieses thätige Wesen so fern in seinen Handlungen von aller Naturnothwendigkeit, als die lediglich in der Sinnenwelt angetroffen wird, unabhängig und frei sein. […] So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intelligibelen oder sensibelen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden.« (A 539–41 / B 567–9) Auch an anderen Stellen nennt Kant bei der Formulierung seiner Determinismusannahme den empirischen Charakter des Menschen und die äußeren Umstände der jeweiligen Handlung als diejenigen Faktoren, die menschliche Handlungen determinieren. So schreibt er, dass »alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt« sind (A 550 / B 578) und dass »jede [willkürliche Handlung; T. R.] im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt [ist], ehe noch als sie geschieht« (A 553 / B 581).11 Unter dem empirischen Charakter einer kausal wirksamen Substanz versteht Kant »ein Gesetz ihrer Causalität«, also etwas, das festlegt, auf welche Weise die Substanz unter gegebenen Umständen handelt, das heißt Zustände in sich selbst oder anderen Substanzen bewirkt.12 Kants Determinismusannahme kann man also auch folgendermaßen formulieren: Determinismusthese* Für jede in der Zeit stattfindende menschliche Handlung H gibt es einen empirischen Charakter CE des Handelnden und zeitlich vor H liegende Handlungsumstände U, so dass gilt: Es ist unmöglich, dass der Handelnde CE hat und die Handlungsumstände U vorliegen, aber H nicht stattfindet.13 Unter dem intelligiblen Charakter eines Menschen ist in Analogie zum empirischen Charakter etwas zu verstehen, das festlegt, auf welche Weise der Mensch unter geIm Anfangszitat dieses Beitrags wird das, was ich hier »äußere Umstände der Handlung« nenne, nicht wie in diesem Zitat »mitwirkende andere Ursachen«, sondern »veranlassende Gelegenheitsursachen« genannt (vgl. A 554 / B 582). Dafür, dass mit diesen Formulierungen dasselbe gemeint ist, vgl. die Metaphysikvorlesung L2 nach Pölitz (XXVIII, 572). 12 Der hier virulente Handlungsbegriff ist nicht der heute übliche, sondern derjenige der metaphysischen Tradition zu Kants Zeit. Beliebige Substanzen handeln diesem Begriff zufolge genau dann, wenn sie vermöge einer eigenen Kraft einen Zustand in sich selbst oder in einer anderen Substanz hervorrufen (vgl. z. B. Metaphysikvorlesung L2 nach Pölitz, XXVIII, 564). 13 Ich werde weiter unten etwas dazu sagen, wie diese Version der Determinismusthese mit der ursprünglichen zusammenhängt. 11

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gebenen Umständen als Ding an sich wirksam ist. Da der Mensch als Ding an sich nicht in der Zeit existiert, lässt es sein intelligibler Charakter zu, dass er handelt beziehungsweise etwas verursacht, ohne dass es für diese Handlung selbst eine Ursache geben muss – dass er also im Sinne der Freiheitsthese transzendental frei ist. Zu den Dingen, die der Mensch auf Grund seines intelligiblen Charakters bewirkt, gehören auch seine in der Zeit stattfindenden empirischen Handlungen, die allerdings auch durch seinen empirischen Charakter und die Handlungsumstände festgelegt sind. Laut Kant ist diese Doppeldetermination deswegen möglich, weil es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen intelligiblem und empirischem Charakter gibt: Kant nennt den intelligiblen Charakter die »transscendentale Ursache« des empirischen Charakters (A 546 / B 574) und sagt, dass der empirische Charakter »im intelligibelen Charakter […] bestimmt« sei (A 551 / B 579) und als »sinnliches Zeichen desselben« angesehen werden könne (A 546 / B 574). Mit der Abhängigkeit des empirischen Charakters vom intelligiblen will Kant die moralische Zurechenbarkeit empirischer Handlungen erklären. Zwar ist jede empirische Handlung durch den empirischen Charakter und Handlungsumstände determiniert, aber weil »ein anderer intelligibeler Charakter […] einen andern empirischen gegeben haben« würde (A 556 / B 584), hätte eine moralisch schlechte Handlung wie eine Lüge auch unterlassen werden können, dann nämlich, wenn der intelligible Charakter des Lügenden ein anderer gewesen wäre. Diese Erklärung ist allerdings nur dann plausibel, wenn man die moralische Zurechenbarkeit des intelligiblen Charakters selbst für unproblematisch hält. Doch dies ist keineswegs selbstverständlich: Nur weil der intelligible Charakter einer ist, der dem Menschen als Ding an sich zukommt, ist er nicht unbedingt etwas, das der Mensch zu verantworten hat und das ihn schuldfähig macht. Schließlich scheint es viele andere Dinge zu geben, die keine vernünftig handelnden Wesen sind, und denen man als Dingen an sich einen intelligiblen Charakter zuschreiben kann, ohne sie deswegen für irgendetwas, das aus diesem intelligiblen Charakter folgt, verantwortlich zu machen. Kant hat dieses Problem spätestens seit der Kritik der praktischen Vernunft gesehen und darauf mit der Annahme reagiert, dass ein Mensch deswegen für seinen intelligiblen Charakter verantwortlich ist, weil er selbst die Ursache dafür ist, dass er diesen Charakter hat. Er schreibt dort, dass wir einen Menschen deswegen für eine gesetzeswidrige Handlung verantwortlich machen, weil sie »zu einem einzigen Phänomen seines Charakters [gehört], den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet« (V, 98; Hervorhebung T. R.). Mit dem Motiv der selbständigen Aneignung eines intelligiblen Charakters nimmt Kant dabei die antike Konzeption der Lebenswahl auf und kann sich zudem auf unsere alltäglichen moralischen Überzeugungen berufen, denen zufolge der Verweis darauf, dass sich eine bestimmte moralisch schlechte Handlung durch den schlechten Charakter des Handelnden erklären lässt, nicht als Entschuldigung zählt. Zu voller Entfaltung bringt Kant die Konzeption einer selbständigen Aneignung eines intelligiblen Charakters erst in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Gren-

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zen der bloßen Vernunft, die eine umfassende Auseinandersetzung mit der Frage enthält, wie es böse Handlungen geben kann, das heißt Handlungen, die moralisch falsch, aber dennoch frei und zurechenbar sind. Das Problem, mit dem sich Kant konfrontiert sieht, besteht darin, dass solche Handlungen einerseits nicht daraus resultieren können, dass der Mensch vernunftgesteuert handelt, seine Vernunft aber selbst »boshaft« ist, das heißt ihm unmoralische Anweisungen gibt, andererseits aber auch nicht dadurch erklärt werden können, dass der Mensch beim Handeln vollständig von seinen sinnlichen Neigungen bestimmt ist, denn in diesem Fall wäre seine Handlung nicht mehr frei.14 Kants Lösung dieses Dilemmas besteht in der Annahme, dass der Mensch sowohl das moralische Gesetz als auch das Prinzip der Selbstliebe »als Triebfedern in seine Maxime« aufnimmt, er aber »die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht« (VI, 36), das heißt es sich zur obersten Maxime macht, dem Sittengesetz nur dann zu folgen, wenn dies nicht zu sehr seiner Selbstliebe widerspricht.15 An dieser Stelle nimmt Kant nun seine Konzeption eines sich selbst »verschafften« intelligiblen Charakters des Menschen wieder auf: Der intelligible Charakter des Menschen – das heißt das »Gesetz seiner Kausalität« – zeichnet sich nämlich gerade durch diese Rangordnung seiner Triebfedern in der obersten Handlungsmaxime aus (vgl. VI, 37, 47 u. 21 f.). Kant argumentiert wieder dafür, dass die genannte Rangordnung nur dann die Möglichkeit zurechenbarer böser Handlungen

Vgl. VI, 35: »Um also einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem blos Thierischen; eine vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben und so das Subject zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. – Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar«. 15 Alternativ könnte man Kant so verstehen, dass wir es uns zur obersten Maxime gemacht haben, dem Sittengesetz nur dann zu folgen, wenn deren Gebot sich mit dem der Selbstliebe deckt. Ich halte die im Haupttext gewählte Formulierung allerdings für der Sache nach plausibler. Sie passt zudem sehr gut zu dem Zusammenhang, den Kant herstellt zwischen der falschen Unterordnung der Triebfedern in der obersten Maxime und der These, dass »ein jeder Mensch […] seinen Preis [hat], für den er sich weggiebt« (VI, 38). Dieser Formulierung zufolge besteht der menschliche Hang zum Bösen nicht darin, dass wir nur dann das moralisch Gebotene tun, wenn wir es ohnehin auch aus Neigung getan hätten, sondern darin, dass wir dem Sittengesetz nicht bedingungslos folgen, das heißt, es für jeden von uns einen Grad der Verletzung unserer Eigeninteressen gibt, bei dem wir nicht mehr dem moralischen Gebot folgen würden. Das ließe zu, dass Menschen zwar alle gleichermaßen böse sind, weil es überhaupt einen Punkt gibt, an dem der Konflikt zwischen Pflicht und Neigung zu Gunsten der Neigung ausgeht, aber sich dennoch darin unterscheiden, wo bei ihnen dieser Punkt liegt. Der eine lügt erst dann, wenn er ansonsten gefoltert würde, der andere, weil er sich dadurch einen Doktortitel erschwindeln kann. 14

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verständlich machen kann, wenn sie selbst als das Resultat einer freien Handlung verstanden wird, weil »nichts sittlich- (d. i. zurechnungsfähig-) böse [ist], als was unsere eigene That ist« (VI, 31). Was Kant nun zum ersten Mal in aller Deutlichkeit betont ist, dass seine Erklärung zuschreibbarer böser Handlungen nur dann funktioniert, wenn er zwei verschiedene Arten von freien Handlungen, das heißt (in Kants Terminologie) von »Taten« oder »facta« unterscheidet.16 Er schreibt: »Es kann aber der Ausdruck von einer Tat überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetz gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlung selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objekte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. […] Jene ist intelligible Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbestimmungen erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und angeboren, […] weil wir davon, warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene That ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.« (VI, 31 f.) Es ist auffällig, dass Kant die oberste Handlungsmaxime an dieser Stelle durch zwei Merkmale charakterisiert, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen: Einerseits soll sie so etwas wie eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Willens sein, die man als »angeboren« bezeichnen könnte und mit einer »Grundeigenschaft unserer Natur« vergleichen kann. Andererseits soll sie das Resultat einer freien Handlung der Aneignung sein, weil nur so die empirischen Handlungen, die dieser Maxime gemäß ausgeübt werden, zurechenbar sind. Diese Spannung kommt auch an anderen Stellen der Religionsschrift zum Ausdruck, so zum Beispiel an der folgenden: »Die eine oder die andere [d. h. böse oder gute; T. R.] Gesinnung als angeborne Beschaffenheit von Natur haben, bedeutet hier auch nicht, daß sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d. i. er nicht Urheber sei; sondern daß sie nur nicht in der Zeit erworben sei (daß er eines oder das andere von Jugend auf sei immerdar). Die Gesinnung […] muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjective Grund oder die Ursache erkannt werden (obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist: weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß). Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von

Zum Verständnis von »Tat« und »factum« als »freie Handlung« vgl. z. B. VI, 223 und Metaphysikvorlesung L2 nach Pölitz, XXVIII, 565. 16

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irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der That in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukommt.« (VI, 25) Es ist klar, aus welchen theoretischen Motiven Kant den intelligiblen Charakter beziehungsweise die Gesinnung eines Menschen mit der darin festgeschriebenen verkehrten Rangordnung seiner Triebfedern als das Resultat einer zeitlosen und willentlichen intelligiblen Tat verstehen will. Es ist in der Literatur aber immer wieder moniert worden, dass der Begriff einer solchen intelligiblen Tat letztlich unverständlich bleibt.17 Erstens scheint angesichts dessen, was Kant über diese Tat sagt, unklar, wie sie aus »freier Willkür« geschehen, das heißt eine willentliche Handlung sein kann. Zweitens ist fraglich, ob es der Begriff des Handelns nicht ohnehin ausschließt, dass es Handlungen gibt, die nicht zu einer bestimmten Zeit stattfinden oder eine bestimmte Dauer haben. Auf das erste Problem kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehen und möchte nur darauf hinweisen, dass Kant selbst unter der Willentlichkeit der intelligiblen Tat etwas anderes verstanden haben muss, als dasjenige, was gemäß seiner Handlungstheorie einer gewöhnlichen Handlung zukommt, wenn sie willentlich geschieht.18 Wie Kant selbst schreibt, kann die intelligible Tat, mit der man sich auf die oberste Maxime festlegt, nicht das Resultat einer praktischen Überlegung oder bewussten Entscheidung sein, weil dies selbst bereits das Vorhandensein einer obersten Handlungsmaxime voraussetzen würde. Diese Feststellung beantwortet allerdings nicht die Frage, wie eine positive Charakterisierung der Willentlichkeit der intelligiblen Tat aussehen sollte.19 Das zweite Problem jedoch, das im Zuge der Auseinandersetzung mit der Kompatibilismusproblematik das drängendere ist, lässt sich meines Erachtens ausräumen, und zwar dann, wenn man genauer darauf achtet, welcher Handlungsbegriff Kants Aussagen zugrunde liegt. Wie bereits erläutert20 deckt sich Kants Handlungsbegriff nicht mit demjenigen, was man heute ›Handlung‹ nennen würde, sondern entstammt der vorkantischen metaphysischen Tradition, in der Handeln (actio) einfach das Gegenteil von Leiden (passio) ist. Dieser Handlungsbegriff lässt es zu, Für eine Darstellung der Probleme, die der Begriff der intelligiblen Tat mit sich bringt, vgl. z. B. Willaschek 1992, 149–167. 18 Vgl. zum Begriff ›gewöhnlicher‹ Handlungen aus Willkür z. B. Die Metaphysik der Sitten (VI, 213). 19 Die systematisch aussichtsreichste Antwort auf diese Frage scheint mir zu sein, dass die Willentlichkeit der intelligiblen Tat einer Bestimmung der obersten Maxime nichts weiter ist als ein Teilaspekt der Willentlichkeit der empirischen Handlungen, die aus der Befolgung dieser Maxime resultieren. Um diese Annahme zu rechtfertigen, müsste man dafür argumentieren, dass empirische Handlungen nur dann als solche gelten können, die man wirklich ausführen will, wenn man auch die Handlungsmaximen haben will, aus deren Befolgung die Handlungen resultieren. 20 Vgl. oben Anm. 12. 17

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beliebigen – also zum Beispiel auch unbelebten – Substanzen das Vermögen zu handeln zuzusprechen; sie handeln genau dann, wenn sie vermöge ihrer eigenen Kraft Ursache eines Zustands ihrer selbst oder einer anderen Substanz sind. Dass Kant nicht mehr als dies unter einer Handlung versteht, lässt sich anhand seiner Metaphysikvorlesungen belegen (vgl. z. B. Metaphysikvorlesung L2 nach Pölitz, XXVIII, 564). Er weist darauf aber zum Beispiel auch in der Kritik der reinen Vernunft hin, wenn er zu Beginn der transzendentalen Deduktion schreibt, dass jemand, der wissen will, wie sich die sogenannten Prädikabilien – zu denen der Begriff der Handlung gehört – aus den von ihm explizit behandelten Kategorien ergeben, am besten »die Ontologischen Lehrbücher zur Hand nimmt« (A 82 / B 108). In dem für Kant maßgeblichen dieser Lehrbücher – das heißt in Baumgartens Metaphysica – wird der Begriff der Handlung in § 210 folgendermaßen definiert: »Handeln (Agieren, Tätigsein) ist eine Veränderung des Zustands, und ganz allgemein die Verwirklichung eines Akzidens in der Substanz durch deren eigene Kraft; Leiden ist eine Veränderung des Zustands, und ganz allgemein die Verwirklichung eines Akzidens in der Substanz durch fremde Kraft.«21 Interessant an dieser Definition ist nun, dass sie Handeln im allgemeinsten Sinn nicht an eine Zustandsveränderung koppelt, sondern als »Verwirklichung eines Akzidens in der Substanz durch deren eigene Kraft« beschreibt. Dadurch ist der Handlungsbegriff kompatibel damit, dass etwas unter ihn fällt, das nicht in der Zeit stattfindet, denn anders als der Begriff der Zustandsveränderungen ist der Begriff der Verwirklichung (actuatio) eines Akzidens in einer Substanz kein wesentlich zeitlicher, zumindest dann nicht, wenn man mit Kant annimmt, dass Dinge überhaupt Eigenschaften haben können, ohne sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu haben. Die intelligible Tat als zeitlose Handlung (in Kants Sinne) zu beschreiben, ist also beileibe kein begrifflicher Widerspruch. Dass eine Substanz handelt, wenn diese Verwirklichung eine »aus eigener Kraft« ist, kann man in Anschluss an § 197 der Metaphysica verstehen, in dem Baumgarten eine Kraft als Grund dafür definiert, dass einer Substanz bestimmte Akzidenzien inhärieren. Eine Substanz handelt also genau dann, wenn sie selbst die Ursache dafür ist, dass sie oder eine andere Substanz sich in einem bestimmten Zustand befinden. Und ihr Handeln ist transzendental frei, wenn es dafür, dass sie eine solche Ursache ist, keine weitere Ursache in einer anderen Substanz gibt. Dass der Mensch sich seinen intelligiblen Charakter und die damit verbundene oberste Handlungsmaxime in einer intelligiblen freien Handlung selbst verschafft, bedeutet also nicht mehr, als dass die Tatsache, dass er diesen Charakter hat, ontologisch fundamental und in nichts als dem jeweiligen Menschen selbst gegründet ist, das heißt, nicht dadurch weiter erklärt – und entschuldigt – werden kann, dass ein anderes Ding auf bestimmte Weise beschaffen ist.22 21 22

Zitiert nach Baumgarten: Metaphysica, 137. Es ist natürlich eine alles andere als leicht zu beantwortende Frage, was man unter

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Fassen wir die wichtigsten Punkte von Kants Erklärung der Freiheit und Zuschreibbarkeit böser Handlungen, wie der im Anfangszitat dieses Beitrags erwähnten boshaften Lüge, noch einmal zusammen: Wir müssen eine transzendental freie und zeitlose intelligible Tat annehmen, die darin besteht, dass sich der Mensch als Ding an sich einen bestimmten intelligiblen Charakter aneignet, das heißt, es sich zur obersten Maxime macht, den Forderungen des moralischen Gesetzes nur dann zu folgen, wenn diese nicht zu sehr dem Prinzip seiner Selbstliebe widersprechen. Diese Aneignung des Charakters durch den Menschen darf dabei nicht als zeitliches Abfolgeverhältnis, sondern soll als eines der ontologischen Fundierung verstanden werden. Neben der zeitlosen freien Handlung gibt es auch in der Zeit stattfindende freie Handlungen (zum Beispiel Lügen). Diese sind deswegen frei und moralisch zurechenbar, weil sie nach der genannten obersten Maxime ausgeführt werden und weil sie nur deswegen stattfinden, weil der Mensch denjenigen intelligiblen Charakter hat, den er sich »verschafft« hat. Die moralische Zurechenbarkeit einer bösen Handlung ist deswegen damit vereinbar, dass diese Handlung durch den empirischen Charakter des Menschen und die äußeren Umstände seiner Handlung determiniert ist, weil der empirische Charakter eines Menschen seinerseits von seinem intelligiblen Charakter abhängt. Alles in allem kann der Lügner also deswegen für seine boshafte Lüge moralisch verantwortlich gemacht werden, weil das folgende komplexe Abhängigkeitsverhältnis besteht: Hätte die intelligible Tat der falschen Triebfederunterordnung nicht stattgefunden, hätte der Mensch einen anderen intelligiblen Charakter gehabt (nämlich einen, der in der Überordnung des Moralprinzips über das der Selbstliebe bestände). Hätte er diesen anderen intelli-

ontologischer Fundierung, die nicht in einem Kausalverhältnis zeitlich aufeinander folgender Ereignisse besteht, verstehen soll und was es genau heißen soll, dass eine bestimmte Beschaffenheit einer Substanz in dieser Substanz allein gegründet ist. Vor dem Hintergrund der Renaissance von Konzeptionen nicht ereigniskausaler ontologischer Fundierung in der gegenwärtigen Debatte über ›grounding‹ kann man Kants Konzeption allerdings nicht mehr einfach deswegen als absurd abtun, weil er überhaupt eine solche Art von Fundierung annimmt. Was die Frage nach den historischen Quellen des Zusammenhangs zwischen transzendentaler Freiheit und ontologischer Fundiertheit des Charakters einer Substanz in dieser Substanz selbst betrifft, hat Ertl auf die so erstaunliche wie erhellende Parallele zwischen Kants Konzeption und derjenigen des scholastischen Philosophen Luis de Molina hingewiesen (vgl. Ertl 2012). In Molinas Freiheitskonzeption werden durch die Freiheit eines Menschen Wahrheiten darüber konstituiert, wie dieser Mensch in gegebenen Situationen handeln würde, und zwar Wahrheiten, die einerseits kontingent sind, aber andererseits trotzdem nicht vom Willen Gottes abhängen, sondern von diesem bei der Schöpfung als gegeben hingenommen werden müssen. Gott als Primärursache der Welt kann für Molina deswegen nur im Zusammenwirken mit den Menschen als Sekundärursachen bestimmen, was in der Welt geschieht. Es ist nicht schwer, in Kants These, dass der Charakter eines Menschen auf seiner intelligiblen Tat beruht und in nichts anderem als dem Menschen selbst gegründet ist, ein Echo dieser molinistischen Freiheitskonzeption zu hören. Ertl zeigt ferner, dass es keineswegs ausgeschlossen ist, dass Kant tatsächlich von Molinas Lehre beeinflusst wurde.

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giblen Charakter gehabt, hätte er auch einen anderen empirischen Charakter gehabt (nämlich einen, der in der Situation, in der es zu der Lüge kam, dazu geführt hätte, dass der Mensch diese unterließe). Und hätte der Mensch einen solchen anderen empirischen Charakter gehabt, dann hätte er nicht gelogen. Ich werde in Abschnitt 5 auf die Frage zurückkommen, ob der Zusammenhang zwischen intelligibler Handlung, intelligiblem Charakter, empirischem Charakter und empirischer Handlung durch die eben erwähnte kontrafaktische Abhängigkeit bereits hinreichend beschrieben ist. Zuvor möchte ich mich allerdings wie angekündigt mit dem Einwand auseinandersetzen, dass schon die genannten kontrafaktischen Abhängigkeiten Kant auf die prima facie absurde These verpflichten, dass wir durch unsere intelligible Handlung nicht nur Einfluss auf unsere Handlungen in der Zeit nehmen, sondern darüber hinaus auch entweder auf die Geltung der Naturgesetze oder auf den Weltverlauf, der zu den zeitlichen Handlungen geführt hat.

3. Are we free to break the laws? Ich werde den genannten Einwand im Folgenden anhand des Beispiels der im Eingangszitat erwähnten »boshaften Lüge« darstellen. Im Folgenden soll ›L‹ für diese in der Zeit stattfindende Handlung des Lügens stehen und ›H‹ für diejenige transzendental freie Handlung der Vernunft, mit der sich der Lügner seinen intelligiblen Charakter verschafft hat, aufgrund deren wir ihn für seine Lüge verantwortlich machen. Ferner soll ›N1…Nn‹ für die in der Erscheinungswelt geltenden Naturgesetze stehen und ›Z‹ für einen Naturzustand vor L, der zusammen mit N1…Nn L determiniert. Wir können das folgende gültige Argument formulieren: (1) Es ist unmöglich, dass Z existiert und N1…Nn gelten, aber L nicht stattfindet. (Determinismusthese) (2) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte auch L nicht stattgefunden. (Annahme über die kontrafaktische Abhängigkeit von L und H) (K0) Also: Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte entweder Z nicht existiert oder aber N1…Nn nicht gegolten. An dieser Stelle kann man auf mindestens drei Weisen fortfahren: Wer der Meinung ist, dass die Vergangenheit nicht von unseren freien Handlungen abhängen sollte, aber mit Kant an (1) und (2) festhalten will, wird die Konsequenz (K1) ziehen: (K1) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätten N1…Nn nicht gegolten. Nennen wir jemanden, der (K1) für eine akzeptable Konsequenz hält, einen ››altered laws‹-Kompatibilisten‹. Wer meint, dass die Geltung der Naturgesetze nicht von unseren freien Handlungen abhängt, aber mit Kant an (1) und (2) festhalten will, wird die Konsequenz (K2) ziehen:

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(K2) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte Z nicht existiert. Wer diese Konsequenz für akzeptabel hält, soll im Folgenden ››altered past‹Kompatibilist‹ heißen. Wer schließlich meint, dass weder die Vergangenheit noch die Geltung der Naturgesetze von unseren freien Handlungen abhängen, wird das Argument für eine Widerlegung von Kants Kompatibilismus halten. Verteidiger von Kants Kompatibilismus haben sowohl für den ›altered laws‹Kompatibilismus als auch für den ›altered past‹-Kompatibilismus argumentiert. Ich werde in diesem Abschnitt den ›altered laws‹-Kompatibilismus und im nächsten Abschnitt den ›altered past‹-Kompatibilismus diskutieren und zu zeigen versuchen, dass beide Positionen sehr viel weniger abwegig sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Der ›altered laws‹-Kompatibilismus behauptet, dass die in unserer Welt geltenden Naturgesetze von unseren transzendental freien Handlungen abhängen.23 Eric Watkins hat dafür argumentiert, dass es im Rahmen von Kants Kausalitätsauffassung durchaus plausibel ist, eine solche Abhängigkeit anzunehmen. Um seine Verteidigung des ›altered laws‹-Kompatibilismus zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass man Prämisse (1) des oben genannten Arguments unter Rückgriff auf die in Abschnitt 2 erläuterte alternative Version der Determinismussthese auch anders formulieren könnte. Das obige Argument für die Konklusion (K0) kann dann folgendermaßen reformuliert werden (›U‹ stehe an dieser Stelle für die äußeren Umstände der Lüge, ›CE‹ für den tatsächlichen empirischen Charakter des Lügenden): (1*)

Es ist unmöglich, dass die Handlungsumstände U bestehen und der Handelnde CE hat, aber L nicht stattfindet. (Determinismusthese*)

(2)

Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte auch L nicht stattgefunden. (Annahme über die kontrafaktische Abhängigkeit von L und H)

(K0*) Also: Hätte H nicht stattgefunden, dann hätten entweder die Handlungsumstände U nicht bestanden oder der Handelnde hätte nicht CE gehabt. Das Argument, dass es unplausibel sei, H einen Einfluss auf die Handlungsumstände von L zuzusprechen, spricht dann für die folgende Variante der Konsequenz (K1): (K1*) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte der Handelnde nicht CE gehabt. Wie hängen die ursprünglichen Versionen der Determinismusthese, des Arguments für (K0*) und der Konsequenz (K1) mit ihren (*)-Varianten zusammen? Wenn man Eric Watkins’ Interpretation von Kants Theorie der Kausalität folgt, gibt es einen sehr engen Zusammenhang zwischen ihnen.24 Watkins argumentiert dafür, dass in

Der ›altered laws‹-Kompatibilismus wird unter anderem vertreten in Ertl 2004, Watkins 2005 und Pereboom 2006. 24 Zum folgenden vgl. Watkins 2005, Kap. 4 f. 23

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Kants Kausalitätsauffassung die Relata der Kausalitätsrelation nicht Ereignisse sind, sondern als Wirkungen Ereignisse und als Ursachen Substanzen fungieren. Substanzen sind insofern Ursachen, als sie in bestimmten Umständen eine bestimmte »Kausalität« zeigen, wobei Kant den bereits erwähnten empirischen Charakter einer Substanz als das »Gesetz ihrer Kausalität« versteht, das heißt als etwas, das festlegt, welche Wirkungen die Substanz in bestimmten Umständen hervorbringt.25 Die speziellen Naturgesetze in einer Welt ergeben sich dann aus der Summe der empirischen Charaktere der die Welt bildenden Substanzen. Insofern gilt die Determinismusthese in ihrer ersten Variante, weil sie in ihrer (*)-Variante gilt. Und aus der Wahrheit von (K1*) folgt die von (K1), denn wenn der eigene empirische Charakter ein anderer gewesen wäre, wären auch die Naturgesetze, die sich ja aus der Gesamtheit der empirischen Charaktere ergeben, andere gewesen. Watkins argumentiert selbst dafür, dass seine Interpretation von Kants Kausalitätskonzeption eine plausible Lesart von Kants Kompatibilismus möglich macht. Die These, dass die Naturgesetze andere gewesen wären, wenn unsere transzendental freie Handlung eine andere gewesen wäre, verliert ihren Schrecken, wenn man bedenkt, dass dies deswegen der Fall gewesen wäre, weil die Naturgesetze in einer Welt allgemein über den empirischen Charakteren der Substanzen in dieser Welt supervenieren, und die empirischen Charaktere von Substanzen in deren intelligiblen Chrakteren gegründet sind. Watkins’ Variante des ›altered laws‹-Kompatibilismus ist allerdings mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Das Problem ergibt sich daraus, dass Kant nicht nur annimmt, dass zeitliche Handlungen wie Lügen kausal durch frühere Naturzustände und den empirischen Charakter des Handelnden determiniert sind, sondern dass auch der empirische Charakter selbst durch frühere Ereignisse in der Welt festgelegt wird. In dem Anfangszitat hatte es geheißen, dass man dann, wenn man eine Lüge »ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht«, den »empirischen Charakter [des Lügners; T. R.] bis zu den Quellen desselben durch[geht], die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Theil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells aufsucht, zum Theil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt« (A 554 / B 582). Das bedeutet: Bei der kausalen Erklärung einer Handlung wie einer Lüge behandeln wir den empirischen Charakter des Handelnden nicht als etwas, das selbst als gegeben und einer weiteren empirischen Erklärung unzugänglich ist, sondern geben die zeitlich vorhergehenden Ursachen dafür an, dass eine bestimmte Person eben denjenigen Charakter hat, der zu der betreffenden Handlung geführt hat. Diese Kantische Annahme deckt sich mit unserer tatsächlichen Praxis. Wenn aber auch der empirische Charakter durch zeitlich frühere Quellen kausal determiniert ist, dann hätte eine andere transzendental freie Handlung nicht nur Konsequenzen für Vgl. die oben zitierte Passage aus A 539–541 / B 567–569; Watkins spricht in seiner Rekonstruktion eher von Naturen als von Charakteren, meint mit beiden Ausdrücken aber dasselbe. 25

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den empirischen Charakter des Handelnden, sondern auch für das, wodurch dieser Charakter empirisch determiniert ist. Man kann diesen Punkt wieder in Form eines formal gültigen Arguments darstellen (wieder soll ›CE‹ für den tatsächlichen empirischen Charakter des Lügenden stehen und ›Z‹ diesmal für einen Naturzustand, der vor der Ausbildung von CE besteht und dafür kausal relevant ist): (1+) Es ist unmöglich, dass Z existiert und N1…Nn gelten, aber der Handelnde nicht CE hat. (2+) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte der Handelnde nicht CE gehabt. (=(K1*)) (K0+) Also: Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte entweder Z nicht existiert oder aber N1…Nn nicht gegolten. Ein ›altered laws‹-Kompatibilist wäre als Reaktion auf (K+) wieder gezwungen die Konsequenz (K1) (›Hätte H nicht stattgefunden, dann hätten N1…Nn nicht gegolten‹) zu akzeptieren, nur dass man diesmal diese Konsequenz nicht mit dem Hinweis schmackhaft machen kann, dass es sich bei den Verletzungen der Naturgesetze um solche handelt, die sich unmittelbar aus der Änderung des empirischen Charakters des Handelnden ergeben. Schließlich ergibt sich dieser Charakter für Kant – wie eben gesehen – ja aus Dingen wie der Erziehung des Handelnden und seinem gesellschaftlichen Umfeld, und damit aus Situationen, in die nicht nur er selbst involviert ist, sondern auch andere Substanzen und deren empirische und intelligible Charaktere. Selbst Watkins müsste also zugestehen, dass im Falle des Ausbleibens von H auch die empirischen Charaktere anderer Substanzen als des Handelnden selbst anders beschaffen sein müssten, als sie es tatsächlich sind. Und diese Konsequenz mag man immer noch für unakzeptabel halten.26 Ist die Konsequenz (K1) (›Hätte H nicht stattgefunden, dann hätten N1…Nn nicht gegolten‹) tatsächlich so abwegig? Ich denke, die Antwort muss klarerweise ›nein‹ lauten. Schließlich ähnelt (K1) einer These, die im Rahmen von heute üblichen Versionen des Kompatibilismus für völlig akzeptabel gehalten wird. Zwar meinen Vertreter dieser Art von Kompatibilismus nicht, dass eine zeitliche Handlung wie

Watkins setzt sich mit diesem Einwand kurz in einer Fußnote auseinander und schreibt: »One might object that our empirical natures are caused by prior events so that our choice of our empirical natures really does entail prior events. However, there is an important distinction between causing a nature that is instantiated in the world to be efficacious in certain ways and causing a nature to be instantiated in the world« (Watkins 2005, 336, Fn. 38). Mir ist nicht klar, auf welche Weise genau die genannte Unterscheidung helfen soll, das Problem zu vermeiden. Schließlich scheint sowohl die Existenz eines bestimmten empirischen Charakters in der Welt als auch die Aktivierung eines in der Welt existierenden Charakters durch zeitlich frühere Zustände determiniert zu sein. 26

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die Lüge L kontrafaktisch von einer zeitlosen und unverursachten Handlung H abhängen muss, um zurechenbar zu sein. Aber viele von ihnen meinen, dass Freiheit die Fähigkeit, anders zu handeln, impliziert, und sie akzeptieren für L selbst genau diejenige Konsequenz, die (K1) für H behauptet, nämlich: (K3)

Hätte L nicht stattgefunden, dann hätten N1…Nn nicht gegolten.

(K3) ergibt sich aus der Standardtheorie zur Bewertung kontrafaktischer Konditionale, wie man sie etwa bei David Lewis finden kann.27 Dieser Theorie zufolge ist ein kontrafaktisches Konditional der Form ›Wenn p der Fall gewesen wäre, wäre q der Fall gewesen‹ genau dann wahr, wenn q in all denjenigen p-Welten wahr ist, die der wirklichen Welt am ähnlichsten sind.28 Laut Lewis’ Kriterien für Weltenähnlichkeit sind solche Nicht-L-Welten der wirklichen Welt am ähnlichsten, die bis kurz vor L der wirklichen Welt vollständig gleichen und in der dann kurz vor L eine Verletzung der in der wirklichen Welt geltenden Naturgesetze (ein ›kleines Wunder‹) passiert, die das Ausbleiben von L bewirkt, wobei nach dieser Verletzung wieder alles so geschieht, wie die tatsächlichen Naturgesetze es vorschreiben. Lewis’ Theorie hat zur Folge, dass (K3) wahr ist. In seinem Aufsatz Are we free to break the laws?29 zeigt Lewis ferner, dass aus der Wahrheit von (K3) und der Annahme, dass der Lügner die Fähigkeit hatte, die Lüge zu unterlassen, nicht folgt, dass wir dem Lügner so etwas wie die Fähigkeit zusprechen müssen, die (tatsächlichen) Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Dies wäre tatsächlich eine unakzeptable Konsequenz, aber es wäre auch nur dann der Fall, wenn Lewis’ Theorie die Wahrheit des folgenden kontrafaktischen Konditionals implizieren würde: (K4)

Hätte L nicht stattgefunden, dann hätte das Unterlassen von L N1…Nn verletzt.

In anderen Worten: Die Naturgesetze würden wir nur dann außer Kraft setzen, wenn wir etwas täten, das entweder selbst den Naturgesetzen widerspricht oder ein Naturgesetze verletzendes Ereignis verursacht. Laut Lewis’ Analyse ist es aber nicht die Unterlassung der Lüge selbst, die eine Verletzung der Naturgesetze darstellt, sondern das dieser Unterlassung vorhergehende sogenannte ›kleine Wunder‹. (Wie Lewis deutlich macht, ist dieses Wunder auch nicht die Wirkung der Unterlassung.) Es ist natürlich abwegig, Kant ein wenn auch nur implizites Verständnis von Lewis’ Analyse kontrafaktischer Konditionale zu unterstellen. Aber darum geht es hier Vgl. Lewis 1979. Dies ist die vereinfachte Version von Lewis’ eigentlicher Definition, welche auf die Voraussetzung verzichten kann, dass es Welten gibt, die unserer Welt »näher« als alle anderen Welten sind. Da diese Voraussetzung in unserem Kontext unwichtig ist und die vereinfachte Version leichter fasslich ist, werde ich weiter mit ihr arbeiten. 29 Lewis 1981. 27 28

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nicht. Es geht um die Frage, ob eine Konsequenz wie (K1) systematisch so absurd ist, dass man eine Interpretation ablehnen muss, bei der sich diese Konsequenz aus Kants Kompatibilismus ergibt. Und diese Frage kann man mit Verweis auf Lewis klar verneinen. Ob die vorgeschlagene Verteidigung im Rahmen von Kants Philosophie akzeptabel ist, hängt allerdings auch davon ab, welche Auffassung über den modalen Status von Naturgesetzen man Kant zuschreibt, denn die Verteidigung funktioniert nur, wenn es mit dem modalen Status der in (K1) und (K3) genannten Naturgesetze N1…Nn vereinbar ist, dass sie in einer unserer Welt sehr ähnlichen Welt nicht gelten.30 Eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik würde eine Beschäftigung mit der umfangreichen und kontroversen Debatte zum Status spezieller Naturgesetze bei Kant erfordern und sprengt deswegen den Rahmen dieses Beitrags. Die Tatsache, dass eine Verteidigung des ›altered laws‹-Kompatibilismus an diesem Punkt unter Umständen mit kantischen Annahmen konfligiert, lässt es aber lohnend erscheinen, zu untersuchen, ob man Kants Position auch als ›altered past‹-Kompatibilismus interpretieren könnte, ohne ihm abwegige Ansichten zuschreiben zu müssen.

4. Are we free to change the past? Sehen wir uns noch einmal das Argument an, aus dem sich die Schwierigkeit für Watkins’ Ansatz ergeben hatte: (1+) Es ist unmöglich, dass Z existiert und N1…Nn gelten, aber der Handelnde nicht CE hat. (2+) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte der Handelnde nicht CE gehabt. (K0+) Also: Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte entweder Z nicht existiert oder aber N1…Nn nicht gegolten. Wer nicht akzeptieren will, dass im Falle der Unterlassung von H die Naturgesetze andere gewesen wären, oder zumindest nicht, dass sie über die allein aus der Änderung des empirischen Charakters CE resultierende Weise hinaus andere gewesen wären, ist gezwungen, die folgende Konsequenz zu akzeptieren: (K2)

Hätte H nicht stattgefunden, dann hätte Z nicht existiert.

Aus dem Unterlassen von H folgt also, dass ein zeitlich vor der Lüge vorhergehender Naturzustand nicht existiert hätte. Da dieser Zustand Z seinerseits kausal durch die Naturgesetze und durch einen zeitlich vor Z liegenden Zustand Z’ determiniert ist, hätte das Unterlassen von H auch das Ausbleiben von Z’ zur Folge, und das

Laut Lewis’ sogenannter »best-system analysis«-Konzeption von Naturgesetzen ist diese Annahme kein Problem (Lewis 1994, 478). 30

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Ausbleiben eines Z’ determinierenden Zustands Z’’, und immer so weiter. Wir können diese Konsequenz folgendermaßen formulieren: (K2*) Hätte H nicht stattgefunden, dann hätten beliebig weit in die Vergangenheit zurückreichende Abfolgen von Zuständen Z, Z’, Z’’… Zn, die jeweils darin resultieren, dass der Handelnde CE hat, nicht stattgefunden. Die Form von ›altered past‹-Kompatibilismus,31 die in der Akzeptanz von (K2*) besteht, hat den exegetischen Vorteil, dass Kant sie an einer Stelle explizit vertritt. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt er: »[…] die Bestimmungsgründe einer jeden Handlung [des handelnden Subjects als Erscheinung; T. R.] liegen [in demjenigen], was zur vergangenen Zeit gehört und nicht mehr in seiner Gewalt ist (wozu auch seine schon begangene Thaten und der ihm dadurch bestimmbare Charakter in seinen eigenen Augen, als Phänomens, gezählt werden müssen). Aber ebendasselbe Subject, das sich anderseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, […] und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung […], selbst die ganze Reihenfolge seiner Existenz als Sinnenwesen ist im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts als Folge, niemals aber als Bestimmungsgrund seiner Causalität, als Noumens, anzusehen. In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich nothwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können; denn sie mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet.« (V, 97 f.; Hervorhebung T. R.) Mit dem Charakter, den sich das handelnde Subjekt selbst verschafft, ist, wie oben erläutert, der intelligible Charakter gemeint. Kants Aussage, dass »alles Vergangene«, das eine zeitliche Handlung determiniert, »zum Phänomen« dieses Charakters gehört, kann man dann im Sinne der Konsequenz (K2*) verstehen: Hätte sich das Subjekt mit seiner transzendental freien Handlung einen anderen intelligiblen Charakter verschafft und wäre die gesetzeswidrige Handlung deswegen ausgeblieben, dann wäre auch die gesamte kausale Vorgeschichte der Handlung eine andere gewesen. Ist (K2*) eine akzeptable Konsequenz? Derk Pereboom bezeichnet einen ›altered past‹-Kompatibilismus, der (K2*) akzeptiert, als »at best insignificantly more credible than an overt contradiction«.32 Das sind starke Worte – was könnte sie rechtferti31 32

Am prominentesten vertreten von Wood 1984. Pereboom 2006, 556.

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gen? Ich denke, es sind zwei Einwände, die man gegen (K2*) vorbringen könnte – und die zumindest teilweise auch explizit dagegen artikuliert worden sind. Der erste Einwand (i) lautet, dass aus (K2*) folgt, dass H eine Ursache für den bisherigen Weltverlauf ist und unsere Fähigkeit, transzendental frei zu handeln, also die Fähigkeit implizieren würde, kausal auf die Vergangenheit einzuwirken. Der zweite Einwand (ii) lautet, dass (K2*) impliziert, dass wir nicht nur für die gesetzeswidrige Handlung, die durch ein Unterlassen von H zu verhindern gewesen wäre, moralisch verantwortlich sind, sondern zudem für die gesamte kausale Vorgeschichte dieser Handlung. Ich werde im Folgenden beide Einwände darstellen und dann zu entkräften versuchen. (i) Impliziert (K2*), dass H eine Ursache für den bisherigen Weltverlauf ist, so dass die Fähigkeit transzendental frei zu handeln die Fähigkeit impliziert, kausal auf die Vergangenheit einzuwirken? Ein sachlicher Grund für diese Annahme könnte darin liegen, das Bestehen einer kontrafaktischen Abhängigkeit der Form ›Wenn p nicht der Fall gewesen wäre, wäre auch q nicht der Fall gewesen‹ als hinreichend dafür anzusehen, dass p eine Ursache dafür ist, dass q. Wenn man dies annimmt, impliziert (K2*), dass die transzendental freie Handlung H eine Ursache für die Existenz der Naturzustände Z, …, Zn ist. Diese Konsequenz scheint deswegen absurd, weil es sich bei Z, …, Zn um bereits vergangene Naturzustände handelt und sich die Vergangenheit dadurch auszeichnet, dass man nicht kausal auf sie Einfluss nehmen kann. Es ist allerdings zu beachten, dass man im Falle von H gar nicht davon sprechen kann, dass zum Zeitpunkt von H die Zustände Z, …, Zn bereits vergangen sind und H also eine kausale Wirkung in die Vergangenheit hinein entfaltet. H ist schließlich gar nicht eine Handlung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet. Absurd wäre zweifellos das folgende Bild: Z, …, Zn sind bereits vergangen, dann kommt es zu der transzendental freien Handlung H, und nun soll gelten, dass Z, …, Zn bestehen, weil es zu H gekommen ist und H also Z, …, Zn im Nachhinein verursachen. Aber so stellt sich Kant das auch nicht vor. H ist eine Handlung des Menschen als Ding an sich und als solches existiert er nicht in der Zeit, so dass auch H nicht zum Zeitpunkt zum Beispiel der Lüge oder kurz vorher stattfindet. Der Hinweis auf die Zeitlosigkeit von H allein reicht allerdings nicht aus, um die genannte Schwierigkeit wirklich auszuräumen. Selbst wenn H nicht in der Zeit stattfindet und also ein kausaler Einfluss auf Z, …, Zn nicht mit einem kausalen Einfluss auf die Vergangenheit gleichzusetzen ist, findet die zeitliche Handlung, deren moralische Zurechenbarkeit H garantieren soll – zum Beispiel die Lüge L –, doch in der Zeit statt. (K2*) ist eigentlich nur eine Folge der Tatsache, dass L nicht stattgefunden hätte, wenn H nicht stattgefunden hätte, und dass das folgende kontrafaktische Konditional wahr ist: (K5)

Hätte L nicht stattgefunden, dann hätten beliebig weit in die Vergangenheit zurückreichende Folgen von Zuständen Z, …, Zn, die jeweils in L resultieren, nicht stattgefunden.

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Wenn kontrafaktische Abhängigkeit hinreichend für kausalen Einfluss ist, hätte also auch L einen kausalen Einfluss auf Z, …, Zn, wobei dieser kausale Einfluss nun unabweislich einer auf die Vergangenheit wäre, schließlich handelt es sich bei L um eine Handlung in der Zeit. Um diesem Vorwurf zu begegnen, ist es wieder hilfreich, einen kurzen Blick in die gegenwärtige Diskussion zur Bewertung kontrafaktischer Konditionale zu werfen. Kant selbst behauptet nirgends, dass die Lüge eine Ursache für ihre eigene Vorgeschichte ist; also wäre der einzige Grund, ihm diese absurde Annahme als Konsequenz seines Kompatibilismus zuzuschreiben, der, dass man (K5) nicht vertreten kann, ohne aus systematischen Gründen zu dieser Annahme gezwungen zu sein. Gemäß der Standardtheorie über die Wahrheitsbedingungen kontrafaktischer Konditionale ist ein kontrafaktisches Konditional genau dann wahr, wenn das Konsequens in allen der wirklichen Welt ähnlichsten Welten wahr ist, in denen das Antezedens wahr ist. Nun sind die allermeisten Theoretiker, die diese Standardauffassung akzeptieren, der Meinung, dass Welten, in denen kleine Verletzungen der Naturgesetze geschehen, der wirklichen Welt ähnlicher sind als solche, in denen genau dieselben Naturgesetze gelten wie in der wirklichen Welt, dafür aber der Weltverlauf vor der Antezedens-Situation massiv von der tatsächlichen Vergangenheit abweicht. Jonathan Bennett hat allerdings zumindest eine Zeit lang eine Position vertreten, der zufolge in den unserer Welt ähnlichsten Welten ausnahmslos unsere Naturgesetze gelten und die Abweichung, die zum Bestehen der Antezedenz-Situation führt, dadurch zustande kommt, dass sich der Weltverlauf bis zu dieser Situation von der tatsächlichen Welt unterscheidet.33 Ein kontrafaktisches Konditional der Form ›Wenn p der Fall (gewesen) wäre, wäre auch q der Fall (gewesen)‹ ist Bennetts Vorschlag zufolge genau dann wahr, wenn q in allen p-Welten wahr ist, die der tatsächlichen Welt zum Zeitpunkt des Bestehens der p-Situation am nächsten sind und in der unsere Naturgesetze gelten.34 Bennett hat diese Position entwickelt, um der Tatsache gerecht zu werden, dass bestimmte sogenannte ›backtracking counterfactuals‹, also kontrafaktische Konditionale, bei denen das Konsequens von einer Situation handelt, die derjenigen, von der im Antezedens die Rede ist, zeitlich vorhergeht, wahr zu sein scheinen.35 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass eine solche Theorie der Wahrheitsbedingungen kontrafaktischer Konditionale auf jeden Fall die Wahrheit von (K5) impliziert. Nun hat Bennett zwar inzwischen die genannte Theorie wieder verworfen. Aber der Grund dafür ist, dass diese Theorie für bestimmte Fälle von ›backtracking counterfactuals‹ unintuitive Ergebnisse liefert; der Grund ist nicht, dass diese TheoVgl. Bennett 1984b. Bennett lässt offen, worin die Nähe einer Welt zur wirklichen Welt zu einem Zeitpunkt besteht und legt nur fest, dass sie auf jeden Fall Ähnlichkeit zu diesem Zeitpunkt impliziert. 35 Ein Beispiel wäre etwa: ›Wenn Steinmeier heute Kanzler wäre, wäre er 2009 gewählt worden‹. 33 34

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rie und (K5) von vornherein absurd und »at best insignificantly more credible than an overt contradiction« ist, um noch einmal an die Formulierung von Perebooms Kritik zu erinnern. Vor allem aber liegt der Grund für die Ablehnung sicher nicht darin, dass man der Theorie die Implikation zuschreiben muss, dass Ereignisse Ursachen für zeitlich frühere Ereignisse sein können. Es ist nämlich völlig klar – und wird von Bennett eher nebenbei festgestellt36 –, dass eine Theorie, die ›backtracking counterfactuals‹ erlaubt, nicht zulassen darf, dass diese kontrafaktischen Konditionale in einer kontrafaktischen Analyse der Kausalrelation eine Rolle spielen, wenn man diese Analyse denn überhaupt plausibel findet. Diese Replik auf den Einwand stünde Kant selbstverständlich auch offen und es ist deswegen keineswegs so, dass er aus systematischen Gründen durch die Akzeptanz von (K5) zu der Annahme gezwungen ist, dass die Lüge eine Ursache für ihre eigene kausale Vorgeschichte ist. (ii) Der zweite Einwand gegen den ›altered past‹-Kompatibilismus geht auf Ralph Walker zurück.37 Walker meint, dass Kants Kompatibilismus die unangenehme Konsequenz hat, dass Menschen nicht nur für ihre in der Zeit stattfindenden Handlungen moralisch verantwortlich sind, sondern zudem auch für die gesamte kausale Vorgeschichte, die zu diesen Handlungen führt. Walker begründet diese Annahme offensichtlich damit, dass Kant durch (K2*) gezwungen sei, für beliebige Zustände Z, die zeitlich vor der Ausbildung des empirischen Charakters eines Menschen liegen und Teil der kausalen Vorgeschichte dieses Charakters sind, anzunehmen, dass Z nicht existiert hätte, wenn die zeitlose Aneignung H des Charakters nicht stattgefunden hätte, und dass der Mensch deswegen moralisch für Z verantwortlich sei. Mit drastischen Beispielen macht Walker klar, wie absurd diese Konsequenz ist: »I can be blamed for the First World War and for the Lisbon earthquake that so appalled Voltaire. Gandhi is no less guilty than Amin of the atrocities of the Ugandan dictator.«38 Allen Wood, der vielleicht prominenteste Verfechter des ›altered past‹-Kompatibilismus, hat auf Walkers Einwand mit der Behauptung reagiert, dass man einen Menschen nicht für jeden Zustand, der Teil der kausalen Vorgeschichte seines empirischen Charakters ist, verantwortlich machen muss, sondern nur für solche, die zu einer kausalen Vorgeschichte dieses Charakters gehören müssen.39 Wood erläutert das theoretische Fundament dieser Einschränkung nicht weiter und führt sie einfach als intuitiv plausibel ein, aber man kann sie vielleicht anhand von Bennetts eben skizzierter Theorie begründen: Durch die zeitlose Aneignung H des intelligiblen Charakters soll festgelegt werden, ob der Handelnde ab einem Zeitpunkt t den empirischen Charakter CE hat oder einen anderen empirischen Charakter. Betrachten wir nun ein beliebiges kontrafaktisches Konditional der Form ›Wenn der Handelnde zu t CE hätte, dann q‹. Um wahr zu sein, muss q laut den bennettschen Wahrheitsbedingungen für kontrafaktische Konditionale in allen möglichen Welten 36 37 38 39

Bennett 1984b, 68. Walker 1978, 149. Ebd. Wood 1984, 92.

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wahr sein, in denen der Handelnde zu t CE hat und die tatsächlichen Naturgesetze gelten und die der wirklichen Welt zu t am nächsten sind. Das heißt, es ist nur dann wahr, wenn q in jeder der relevanten kausalen Vorgeschichten, die dazu führen, dass der Handelnde CE hat, vorkommt; q scheint also genau von denjenigen Zuständen zu handeln, von denen auch Wood in seiner Einschränkung spricht. Kants Position kann laut Wood also dahingehend verstanden werden, dass ein Handelnder für jeden Sachverhalt q moralisch verantwortlich ist, für den gilt, dass er bestehen würde, wenn der Handelnde zu t CE hätte. Jonathan Bennett hat – diesmal in seiner Funktion als Kantforscher – gegen Woods Vorschlag eingewandt, dass dieser Vorschlag immer noch zu absurden Konsequenzen führt. Er schreibt: »One might think, for example, that in 1929 oxygen exists not in all deterministic worlds but in all the ones where I am born in 1930 with character E; and so by Kant’s theory I am morally responsible for the presence of oxygen in the universe in 1929.«40 Wenn Kants Kompatibilismus beinhalten würde, dass jemand heute für den Ersten Weltkrieg oder für die Anwesenheit von Sauerstoff im Jahr 1929 moralisch verantwortlich wäre, käme dies in der Tat einer Widerlegung gleich. Aber ist Kants Kompatibilismus wirklich auf diese Konsequenz festgelegt? Zwischen Walker, Wood und Bennett besteht ein erstaunliches Einvernehmen darüber, dass man aus einer bestimmten Form der kontrafaktischen Abhängigkeit eines Zustands Z von einer transzendental freien Handlung H darauf schließen darf, dass der Handelnde für das Bestehen von Z moralisch verantwortlich ist. Bei Walker ist das die Abhängigkeit, die zwischen H und Z besteht, weil Z nicht bestanden hätte, wenn H nicht stattgefunden hätte. Bei Wood ist es die Abhängigkeit, die zwischen H und Z besteht, weil Z auf jeden Fall bestehen müsste, wenn H stattfinden würde. Die drei Autoren schweigen sich jedoch leider darüber aus, weshalb sie der Meinung sind, dass dieser Zusammenhang zwischen kontrafaktischer Abhängigkeit und moralischer Verantwortung besteht, und man fragt sich, weshalb um alles in der Welt dies der Fall sein sollte. Das einzige Argument, das einem in den Sinn kommt, geht davon aus, dass die kontrafaktische Abhängigkeit der Lüge L von H von Kant angenommen wird, damit wir für L moralisch verantwortlich gemacht werden können, und dass dieselbe kontrafaktische Abhängigkeit auch zwischen Z und H besteht. Macht man das auf dieser Überlegung basierende Argument explizit, erhält man – im Falle von Walkers Version – den folgenden Schluss: 1) Der Handelnde ist nur dann moralisch für L verantwortlich, wenn L nicht stattgefunden hätte, wenn die transzendental freie Handlung H nicht stattgefunden hätte. 2) Z hätte nicht stattgefunden, wenn die transzendental freie Handlung H nicht stattgefunden hätte. 3) Also ist der Handelnde moralisch für Z verantwortlich.

40

Bennett 1984a, 103.

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So formuliert sieht man sofort, dass Walkers Überlegung ein recht drastisches non sequitur zu Grunde liegt. Nur weil die kontrafaktische Abhängigkeit der Lüge von H eine notwendige Bedingung dafür ist, das der Handelnde für L verantwortlich ist, sind analoge kontrafaktische Abhängigkeiten anderer Zustände von H noch lange nicht hinreichend dafür, dass der Handelnde für diese Zustände verantwortlich ist. Sachlich gesehen ist die Annahme, dass man für alle Zustände moralisch verantwortlich ist, die nicht bestanden hätten oder nicht bestehen würden, wenn man sich anders entschieden hätte – so etwa für alle Wirkungen des eigenen Handelns –, natürlich eine ausgewachsene Absurdität. Deswegen sollte man diese Annahme Kant nur dann zuschreiben, wenn seine eigenen Schriften starke Hinweise darauf enthalten, dass er sie akzeptiert hat.41 Ansonsten ist es naheliegend, Kant die Ansicht zu unterstellen, dass die Verantwortlichkeit für eine Lüge nicht allein durch die kontrafaktische Abhängigkeit der Lüge von H bedingt ist, sondern dass die Lüge darüber hinaus auch noch andere Bedingungen erfüllen muss, um verantwortbar zu sein, zum Beispiel das unmittelbare Ergebnis des Subsumierens der Handlungssituation unter eine der eigenen Maximen sein muss. Diese Bedingung würden der erste Weltkrieg und die Anwesenheit von Sauerstoff in der Welt nicht erfüllen.

5. Kontrafaktische Abhängigkeit und wirkende Ursachen Bislang wurde Kants Reaktion auf das im Anfangszitat beschriebene Dilemma folgendermaßen rekonstruiert: Die erwähnte »boshafte Lüge« ist kausal prädeterminiert, weil ihre Existenz aus den Handlungsumständen und aus dem empirischen Charakter des Lügners folgt. Zudem ist auch der empirische Charakter des Lügners vollständig durch den Weltverlauf vor der Entstehung dieses Charakters festgelegt. Dass wir den Lügner trotzdem für die Lüge verantwortlich machen, liegt daran, dass wir ihn für seinen empirischen Charakter verantwortlich machen, und zwar deswegen, weil ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem empirischen Charakter, dem intelligiblen Charakter und dem transzendental freien, das heißt unverursachten und außerzeitlichen intelligiblen Handeln des Lügners als eines Dinges an sich besteht. Dieses Verhältnis wurde bislang als das der kontrafaktischen Abhängigkeit spezifiziert: Hätte die besagte intelligible Handlung nicht stattgefunden, das heißt, hätte sich der Lügner nicht einen intelligiblen Charakter verschafft, der als oberste Maxime die Unterordnung der sittlichen unter die sinnliche Triebfeder beinhaltet, dann hätte der Lügner auch nicht denjenigen empirischen Charakter gehabt, der zusammen mit den Handlungsumständen zu der Lüge führte. Deswegen ist er für seine Lüge verantwortlich. Wie in den letzten beiden Abschnitten dargelegt, kann Und selbst wenn dies der Fall wäre, würde sich daraus kein Argument gegen Kants Kompatibilismus ergeben, sondern Kant wäre vielmehr für eine absurde Auffassung über moralische Zurechenbarkeit zu kritisieren. 41

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Kant die genannte kontrafaktische Abhängigkeit behaupten, ohne sich dadurch allzu abwegige Konsequenzen einzuhandeln. Ich möchte abschließend nun einen Einwand diskutieren, den man gegen die bislang vorgestellte Rekonstruktion und Verteidigung von Kants Kompatibilismus vorbringen könnte. Er lässt sich in zwei Schritte untergliedern und lautet folgendermaßen: (i) Es mag zwar einleuchtend sein, dass Kant die moralische Zurechenbarkeit einer Lüge L dadurch erklärt, dass der empirische Charakter CE des Lügners, aus dem zusammen mit den Handlungsumständen die Lüge folgt, ein anderer gewesen wäre, wenn der Lügner sich nicht durch eine bestimmte transzendental freie, intelligible Handlung H einen bestimmten intelligiblen Charakter CI zugelegt hätte. Aber das von Kant angenommene Verhältnis zwischen H einerseits und CE bzw. L andererseits kann sich nicht in dieser kontrafaktischen Abhängigkeit erschöpfen. Diese wäre im Rahmen von Kants Verständnis von Kausalität nämlich nicht hinreichend dafür, die Handlung H eine Ursache von L oder von CE nennen zu können – was Kant aber tut.42 Für Kant ist etwas nicht schon dadurch eine Ursache, dass seine Wirkung nicht auftreten würde, wenn es selbst nicht auftreten würde, sondern erst dadurch, dass es selbst nicht auftreten kann, ohne dass seine Wirkung auftritt: »Der Begriff der Ursache enthält eine Regel, nach der aus einem Zustande ein anderer nothwendiger Weise folgt« (IV, 314). Auf den vorliegenden Fall angewandt heißt das: Die vorgestellte Verteidigung von Kants Kompatibilismus nimmt an, dass H eine notwendige Bedingung dafür ist, dass L auftritt und der Handelnde CE hat. Kant behauptet aber, dass H eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass L auftritt und der Handelnde CE hat. (ii) Versteht man H als hinreichende Bedingung für L und CE, ergeben sich aber wieder genau diejenigen Probleme, die die in Abschnitt 3 und 4 vorgestellte Verteidigung von Kants Kompatibilismus auszuräumen versucht hat. Dass H eine hinreichende Bedingung für L und CE ist, kann man als die These verstehen, dass eine mögliche Welt, in der H stattfindet, immer auch eine ist, in der L stattfindet und der Handelnde CE hat. In diesem Fall sorgt der Handelnde allein dadurch, dass er H ausführt, dafür, dass die wirkliche Welt eine ist, in der L stattfindet und er selbst CE hat. Dann aber scheint es plausibel anzunehmen, dass der Handelnde, allein indem er H ausführt, dafür sorgt, dass die wirkliche Welt eine ist, deren Weltverlauf vor L zusammen mit den in ihr geltenden Naturgesetzen dazu führt, dass L auftritt. Das würde zwar – ganz im Sinne des Vorschlags von Wood – nicht heißen, dass durch unsere freie Handlung genau der tatsächliche Weltverlauf vor L und die tatsächlich geltenden Naturgesetze als diejenigen in der wirklichen Welt festgelegt werden, denn H legt nur fest, dass unsere Welt irgendwie so beschaffen sein muss, H ist zweifellos als Ursache des intelligiblen Charakters zu verstehen; zudem behauptet Kant von diesem intelligiblen Charakter sowohl, dass er die »transscendentale Ursache« des empirischen Charakters sei (A 546 / B 574), als auch, dass jede empirische Handlung seine »unmittelbare Wirkung« sei (A 553 / B 581). 42

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dass L auftritt. Aber man kann immer noch einwenden, dass es sehr unplausibel ist, dass sich die wirkliche Welt von einem frei handelnden Menschen überhaupt irgendwelche Vorschriften hinsichtlich der Frage machen lassen sollte, welche Naturgesetze in ihr gelten oder welchen Verlauf sie vor der zeitlichen Existenz des betreffenden Menschen genommen hat.43 Meine Replik auf diesen Einwand wird in dem Nachweis bestehen, dass Kant Ursachen im Allgemeinen und die transzendental freie Handlung H im Besonderen nicht als hinreichende Bedingungen in dem für den Einwand maßgeblichen Sinn versteht. In den Prolegomena wählt Kant als paradigmatischen Fall eines Kausalverhältnisses das Warmwerden eines Steins durch das Scheinen der Sonne (vgl. IV, 301 Fn. und 311). Ist das Scheinen der Sonne in dem für den Einwand vorausgesetzten Sinne allein hinreichend dafür, dass sich der Stein erwärmt? Sicher nicht, schließlich gibt es viele mögliche Welten, in denen die Sonne scheint, ohne dass sich der Stein erwärmt, zum Beispiel Welten, in denen der Stein gar nicht existiert, sich nicht in der Nähe der Sonne befindet, oder im Schatten einer Mauer liegt. In der Metaphysikvorlesung L2 nach Pölitz führt Kant eine Terminologie ein, die hilfreich ist, um diejenigen Faktoren zu beschreiben, die vorhanden sein müssen, damit eine Ursache wie das Sonnenscheinen eine Wirkung wie die Steinerwärmung haben kann. Er definiert dort eine Ursache allgemein als einen »Grund der Wirklichkeit« (XXVIII, 571) und meint, dass wir zwei Arten solcher Gründe der Wirklichkeit unterscheiden sollten: »Causa efficiens ist eine Ursache durch einwirkende Kraft. Die Conditio sine qua non ist eine Bestimmung der Dinge, die zwar nicht negativ ist, aber auch nicht wirkende Ursache heißt, ob sie gleich zur Ursache gerechnet wird. So ist bei der

Ertl hat in verschiedenen Schriften zu Kants Freiheitslehre dafür argumentiert, dass Kant über die Ressourcen verfügt, der eben genannten Konsequenz ihren philosophischen Schrecken zu nehmen. Ertl vertritt eine kosmologisch-theologische Version des ›altered laws‹Kompatibilismus, der zufolge es Gott ist, der unsere freien intelligiblen Handlungen zur Kenntnis nimmt und dann die Menge der speziellen Naturgesetze so bestimmt, dass die deterministische Welt mit dem phänomenalen Ergebnis dieser Handlungen vereinbar ist (vgl. z. B. Ertl 2004). Ertl zeigt ferner, dass Kant sich die Inspiration für diese Konzeption wiederum bei Molina verschafft haben könnte (vgl. Ertl 2012). Auch Pereboom meint, dass man sich zur Rettung von Kants Kompatibilismus bei Molinas Konzeption göttlicher Vorhersehung freier menschlicher Handlungen bedienen müsse, allerdings ohne wie Ertl die Möglichkeit eines tatsächlichen historischen Bezugs zwischen Kant und Molina nachzuweisen (vgl. Pereboom 2006, 557). Sollte sich der Einwand im Haupttext nicht entkräften lassen und Kant transzendental freie Handlungen tatsächlich als hinreichende Bedingungen für empirische Handlungen und Charaktere verstehen, scheint mir die von Ertl und Pereboom vorgeschlagene Konzeption die eleganteste Lösung der Schwierigkeiten mit Kants Kompatibilismus zu sein. Allerdings bringt die These, dass wir laut Kant nicht nur den transzendentalen Idealismus, sondern zudem auch die Existenz Gottes benötigen, um die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturdeterminismus zu garantieren, exegetisch sicher einige Härten mit sich. 43

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Kanonenkugel das Pulver conditio sine qua non; causa efficiens aber der Soldat, der die Kanone abbrennt.« (XXVIII, 572)44 In seinen Vorlesungen über die philosophische Religionslehre (nach Pölitz), schreibt Kant über das Verhältnis verschiedener Ursachen, die nur zusammen eine Wirkung hervorbringen: »Es können nämlich mehrere Ursachen sich vereinigen, um eine Wirkung hervorzubringen. Geschiehet das, so concurriren in solchem Falle mehrere concausae. Von diesen mitwirkenden Ursachen muß eine für sich selbst zur Hervorbringung der Wirkung nicht hinreichend seyn; denn sonst wäre die Vereinigung einer andern unnöthig, die ihr das complementum ad sufficientiam geben soll.« (XXVIII, 1105; vgl. auch Metaphysik Mrongovius, XXIX, 844 f.) Auf den Fall des Kanonenschusses angewandt heißt das, dass nur der Soldat, das Pulver und wahrscheinlich noch viele weitere Faktoren zusammengenommen hinreichend für den Schuss sind, jeder dieser Faktoren einzeln aber – auch die »wirkende Ursache«, das heißt die causa efficiens – nur eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Kanone schießt. Mit den Worten von J. L. Mackies bekannter Formulierung könnte man die wirkende Ursache (also den Soldaten, der die Kanone abfeuert) als »insufficient but necessary part of a condition which is itself unnecessary but sufficient for the result« bezeichnen.45 Das heißt aber, dass Ursachen durch das in der hier vertretenen Verteidigung von Kants Kompatibilismus in Anspruch genommene kontrafaktische Abhängigkeitsverhältnis sehr viel zutreffender charakterisiert sind als durch die im Einwand zu Grunde gelegte Beschreibung als hinreichende Bedingungen.46 Kants allgemeine Auffassung von wirkenden Ursachen lässt sich wie folgt auf transzendental freie Handlungen übertragen: Wenn Kant die transzendental freie Dass nicht nur die wirkende Ursache eine Ursache ist, wird auch in der Reflexion 3618 deutlich, in der Kant Baumgartens Definition »CAUSA realitatis per actionem est EFFICIENS« in § 319 seiner Metaphysica (Halle, Magdeburg 1757) durch den Zusatz »vel efficiens vel conditio sine qva non« korrigiert (XVII, 96). 45 Mackie 1965, 245. 46 Ich hatte oben in der Diskussion des ›altered past‹-Kompatibilismus gesagt, dass Kant als Vertreter dieser Position nicht annehmen dürfte, dass jede Art von kontrafaktischer Abhängigkeit hinreichend für Verursachung ist, weil er sonst die Möglichkeit eines kausalen Einflusses auf die Vergangenheit einräumen müsste. Auf der Grundlage der eben erläuterten kantischen Ausführungen könnte man sagen, dass die Wahrheit eines kontrafaktischen Konditionals der Form ›Wäre p nicht der Fall gewesen, dann wäre q nicht der Fall gewesen‹ nur dann hinreichend dafür ist, dass der Sachverhalt, dass p, eine Ursache für den Sachverhalt, dass q ist, wenn er zusammen mit anderen Sachverhalten eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass q. (So wie in Kants Beispiel der Soldat zusammen mit den verschiedenen conditiones sine qua non hinreichend für den Kanonenschuss ist.) Diese Bedingung ist im Falle eines kontrafaktischen Konditionals wie »Wäre L nicht aufgetreten, wäre das-und-das Ereignis in der kausalen Vorgeschichte von L nicht aufgetreten« nicht erfüllt. 44

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Aneignung H eines intelligiblen Charakters CI als wirkende Ursache (causa efficiens) bezeichnet, die dazu führt, dass der Lügner einen bestimmten empirischen Charakter CE hat und die Lüge L stattfindet, dann bedeutet das keineswegs, dass H allein dafür hinreichend ist, dass die Welt eine ist, in der L und CE existieren, und dass der Handelnde allein dafür sorgt, dass die Welt eine ist, in der die Naturgesetze und der Weltverlauf dazu führen, dass L und CE existieren. H ist genauso nur eine von vielen notwendigen und nur zusammengenommen hinreichenden Bedingungen für die Existenz von L und CE, wie es das Anzünden der Kanone für deren Schießen ist. Genau in diesem Sinne beschreibt Kant die Rolle des freien Handelns der Vernunft in der Reflexion 5611: »Die Vernunft ist […] in ansehung ihrer eignen Caussalitaet frey […]. Wäre alles durch Vernunft bestimmt, so wäre alles nothwendig, aber auch gut. Wäre es durch die Sinnlichkeit bestimmt, so wäre nichts Böses oder Gutes, überhaupt nichts praktisches. Nun sind die Handlungen durch sinnlichkeit großen Theils veranlaßt, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muß ein complement der Zulänglichkeit geben« (XVIII, 252; Hervorhebung T. R.).47 Auch in Kants veröffentlichten Schriften finden sich umfangreiche Hinweise darauf, dass er keineswegs der Meinung gewesen sein kann, dass die transzendental freie Handlung H eine hinreichende Bedingung für die Lüge L, den empirischen Charakter CE oder den intelligiblen Charakter CI ist: (i) Im Fall von L ist dies besonders leicht zu zeigen, schließlich soll sich unsere Verantwortlichkeit für L dadurch ergeben, dass wir für unseren empirischen Charakter CE verantwortlich sind. CE allein kann aber nicht dazu führen, dass irgendeine Handlung stattfindet, sondern es bedarf bestimmter Handlungsumstände, damit die Substanz, die CE hat, ihrem empirischen Charakter gemäß handelt. (ii) Auch in dem Fall, in dem sich der Mensch in einer zeitlosen Handlung H einen bestimmten intelligiblen Charakter CI verschafft und in seiner obersten Maxime die Triebfeder der Sittlichkeit der der Selbstliebe unterordnet, ist H nicht allein hinreichend dafür, dass er CI hat. Die oben genannte »conditio sine qua non«, die als weitere Ursache vorhanden sein muss, besteht in diesem Fall in der Tatsache, dass der Mensch das moralische Gesetz und seine eigenen Neigungen als mögliche Bestimmungsgründe seines Handelns in sich vorfindet, denn sonst könnte er nicht das Erstere den Letzteren unterordnen. Dass diese Bestimmungsgründe in ihm vorhanden sind, hat sich der Mensch nicht frei ausgesucht: Das moralische Gesetz »dringt sich ihm vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf«, und er »hängt […] auch vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage an den Triebfedern der Sinnlichkeit« (VI, 36). Diese beiden Faktoren sind im oben Die Formulierung »complement der Zulänglichkeit« entspricht dem lateinischen »complementum ad sufficientiam«, das Kant in der oben zitierten Passage aus der Religionslehre Pölitz (XXVIII, 1105) verwendet hatte, um zu beschreiben, was zu einer Ursache hinzukommen muss, damit das Ergebnis eine hinreichende Bedingung für die Wirkung ist. 47

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genannten Sinne ›concausae‹ der intelligiblen Handlung H, das heißt »mitwirkende Ursachen«, die weder alleine noch zusammengenommen hinreichend dafür sind, dass der Mensch einen bestimmten intelligiblen Charakter hat. Dies sind sie erst zusammen mit der Handlung H, weil erst diese festlegt, in welchem Bedingungsverhältnis sie zueinander stehen. (iii) Schließlich kann man auch belegen, dass Kant nicht der Meinung gewesen sein kann, dass der intelligible Charakter eines Menschen eine hinreichende Bedingung für seinen empirischen Charakter ist. In der Religionsschrift sagt Kant, dass ein guter empirischer Charakter, das heißt einer, der den Menschen zu einem gesetzeskonform handelnden Wesen macht, Resultat eines bösen intelligiblen Charakters sein kann (VI, 37), und er kritisiert, dass Menschen mit einem untadeligen Lebenswandel vorschnell annehmen, sie hätten einen guten intelligiblen Charakter, »ohne doch nachzuforschen, ob es nicht blos etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie in ihrem Innern wohl aufdecken könnten, wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen, (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können) davon entfernt gehalten hätten« (VI, 38). Aus dieser Bemerkung folgt, dass der intelligible Charakter allein nicht hinreichend dafür sein kann, ob jemand einen empirischen Charakter hat, der zu gesetzeswidrigen Taten führt, schließlich kann selbst jemand mit bösem intelligiblen Charakter durch die richtige Erziehung oder durch glückliche Fügung böse empirische Handlungen vermeiden. Folglich besteht die Rolle des intelligiblen Charakters für die moralische Zurechenbarkeit unserer Handlungen nicht darin, eine hinreichende Bedingung dafür zu sein, dass jemand einen bestimmten empirischen Charakter hat, aus dem sich zusammen mit den Handlungsumständen seine Handlungen ergeben. Die Zurechenbarkeit böser Handlungen ergibt sich vielmehr daraus, dass der Handelnde keinen bösen empirischen Charakter gehabt hätte, wenn er keinen bösen intelligiblen Charakter gehabt hätte, das heißt, die Triebfeder der Sittlichkeit nicht der der Selbstliebe untergeordnet hätte.48 Somit ist die Rolle des intelligiblen Charakters

Kann Kant auf dieselbe Weise erklären, weshalb wir Menschen – anscheinend zu Recht – manchmal auch für ihre moralisch guten Handlungen verantwortlich machen und dafür loben? Unter Rückgriff auf das kontrafaktische Abhängigkeitsverhältnis zwischen der vermeintlich guten Handlung und der Aneignung einer bösen obersten Handlungsmaxime kann er dies jedenfalls nicht tun, denn bei einer guten Handlung ist es ja gerade nicht der Fall, dass sie nicht stattgefunden hätte, wenn diese Aneignung ausgeblieben wäre und der Mensch statt dessen die Triebfeder der Selbstliebe der der Sittlichkeit untergeordnet hätte. Man könnte Kant an dieser Stelle allerdings mit der bereits oben verteidigten Rekonstruktion seiner Lehre von der Unterordnung der Triebfedern in der obersten Handlungsmaxime zu Hilfe kommen (vgl. Anm. 15). Dieser Interpretation zufolge besteht die genannte Unterordnung im Falle eines bösen intelligiblen Charakters darin, dass es für die Menschen, die diesen 48

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Tobias Rosefeldt

genau durch jenes kontrafaktische Abhängigkeitsverhältnis richtig beschrieben, das ich in meiner Verteidigung von Kants Kompatibilismus vorausgesetzt habe.49

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Charakter haben, einen Grad der Verletzung ihres Eigeninteresses gibt, bei dem sie nicht mehr dem moralischen Gesetz folgen würden. Dieser Sachverhalt allein legt nicht fest, bei welchem Grad der Verletzung des Eigeninteresses dies für einen Menschen jeweils der Fall ist, bestimmt also den empirischen Charakter nicht vollständig. Kants obige Zitate machen klar, dass der besagte Grad zumindest teilweise von Faktoren abhängig ist, auf die der Mensch keinen Einfluss hat (wie Temperament und Erziehung). Wenn man nun annimmt, dass er auch vom intelligiblen Charakter des Menschen und seiner zeitlosen Aneignungstat abhängt und sich aus einem Zusammenspiel von diesen mit den nicht von ihm zu verantwortenden Faktoren ergibt, kann der Mensch auch für gute Handlungen verantwortlich gemacht werden. Solche Handlungen hätten nämlich nicht stattgefunden, wenn der Mensch sich durch seine intelligible Tat einen intelligiblen Charakter angeeignet hätte, bei dem die Latte für eine Abweichung vom Sittengesetz noch niedriger gelegen hätte. 49 Ich habe frühere Versionen der hier entwickelten Interpretation in Vorträgen auf Tagungen in Göttingen, Saarbrücken und Miami vorgestellt. Für sehr hilfreiche Anregungen und Kritik möchte ich mich herzlich bei den Zuhörern dieser Vorträge sowie bei Alexander Dinges, Wolfgang Ertl, Vera Flocke, Stefanie Grüne, Geert Keil, Andreas Kemmerling, Franz Knappik und Thomas Krödel bedanken.

Kants Kompatibilismus

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Kants Grundlegung über den bösen Willen Eine kommentarische Interpretation von GMS III, 457.25–458.5

Dieter Schönecker

Kant vertritt im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die folgende These: »ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [sind] einerlei. Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« (IV, 447.6).1 Diese These – ich nenne sie Kants Analytizitätsthese – besagt, dass der intelligible Wille dann und nur dann frei ist, wenn er ein moralisch guter Wille ist.2 Daraus resultiert direkt ein großes Problem: Wenn eine Person kraft ihres intelligiblen Willens dann und nur dann frei handelt, wenn sie moralisch handelt, dann kann eine solche Person nicht unmoralisch handeln; es gibt dann keine Möglichkeit zum Bösen. Diese Implikation der kantischen Freiheitstheorie wurde früh gesehen und bemängelt.3 Zugleich wurde versucht, Kants Freiheitstheorie wie überhaupt die ganze Deduktion aus GMS III umzudeuten, um diese Implikation zu vermeiden; doch das ist hermeneutisch nicht akzeptabel. Zugleich ist es aber auch unbefriedigend, die Implikation von der Unmöglichkeit des Bösen einfach zu behaupten, ohne sie genau am Text zu belegen. Ich möchte mich daher mit einer Stelle beschäftigen (IV, 457.25–458.5), die – wenn ich recht sehe – noch nicht mit einer genauen Analyse gewürdigt worden ist. Sie belegt, dass Kant zwar vielleicht, wie er behauptet, mit dem Begriff der Freiheit einen Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens haben mag, dass er einen Schlüssel zur Erklärung der Heteronomie des Willens aber nicht anzubieten hat. Ich beginne mit einer Erinnerung (1) an den argumentativen Aufbau von GMS III; das ist wichtig, weil es um die Freiheit als Ermöglichungsgrund des Bösen gehen soll, und die Freiheit im Verhältnis zum moralischen Gesetz ist das zentrale Thema von

Alle einfachen Angaben in Klammern, zum Beispiel »(447.6)«, beziehen sich auf die Paginierung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in der Akademieausgabe; Textgrundlage ist die von Bernd Kraft und Dieter Schönecker besorgte Ausgabe im Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999. Weitere Verweise auf Kant benutzen die Band- und Seitenzahl der Akademieausgabe, zum Beispiel »(VI, 24)«. 2 Ich habe diese Interpretation entwickelt in Schönecker 1999. Textgenauer begründet wird sie in Schönecker 2012. Zu Kants Freiheitsbegriff vgl. auch Schönecker 2005. 3 Vgl. die Hinweise bei Guyer 2009 (Guyer zitiert übrigens die Stelle IV, 457.25–458.5, interpretiert sie aber nicht). 1

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Dieter Schönecker

GMS III. Danach präsentiere ich einen kurzen Überblick über und eine Einführung in die Begriffe und Stellen, die für das Thema dieses Aufsatzes relevant sind (2). Dann werde ich die besagte Stelle (IV, 457.25–458.5), von der ich meine, dass sie Kants Problem besonders deutlich werden lässt, kommentarisch interpretieren (3).4

1. Struktur und Argumentation von GMS III Die zentrale Frage, die in GMS III beantwortet wird – »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?« (IV, 453) –, wird schon sehr früh (ab IV, 417) als Leitfrage des ganzen Buches formuliert. In der Sek. 5 führt Kant aus, warum die Frage, wie die reine praktische Vernunft eine tatsächlich bewegende Kraft ausübt, nicht beantwortet werden kann; und insoweit kann die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs also nicht beantwortet werden. Beantwortet werden dagegen die Frage nach der Geltung des moralischen Gesetzes als eines kategorischen Imperativs für sinnlich-vernünftige Wesen und die Frage nach der Voraussetzung dieses Gesetzes, der Möglichkeit der Freiheit. Üblicherweise hat man Kants Argument so rekonstruiert: Ein freier Wille ist ein Wille unter dem sittlichen Gesetz (Sek. 1); Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen und damit auch als Eigenschaft des menschlichen Willens vorausgesetzt werden (Sek. 2/3); also ist der menschliche Wille unter dem sittlichen Gesetz, er ist also dem kategorischen Imperativ unterworfen. Ein großes Problem dieser Interpretation besteht aber darin, dass dann die »Deduktion« (IV, 454.21) des kategorischen Imperativs spätestens mit der Sek. 3 beendet wäre. Denn die erste Prämisse wird in der Sek. 1 bewiesen; die zweite Prämisse wird spätestens in der Sek. 3 begründet, und folglich wäre die Antwort auf die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich ist, bereits gegeben, bevor Kant die Sek. 4, deren Überschrift jene Frage ist und in der man die Antwort und Deduktion findet, überhaupt beginnt. Hinzu kommt, dass Kant am Ende der Sek. 1 ausdrücklich sagt, es bedürfe zunächst »noch einiger Vorbereitung« (IV, 447.25). Diese erfolgt in den Sek. 2 und 3, so dass diese Sektionen ihrerseits nicht die Deduktion selbst enthalten können; erst am Ende der Sek. 4 wird dann auch die »Richtigkeit dieser Deduktion« (IV, 454.21) behauptet. Von entscheidender Bedeutung ist das Verständnis dessen, was ich Kants Analytizitätsthese (Sek. 1) nenne: ›ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen sind einerlei‹. Kants These, dass unter der Voraussetzung der Freiheit des Willens das moralische Gesetz »durch bloße Zergliederung« (IV, 447.9) – also im Sinne der Fußnote zur Synthetizität des kategorischen Imperativs5 analytisch – aus Zur kommentarischen Interpretation vgl. Schönecker 2004 und Damschen/Schönecker 2012. 5 In dieser Fußnote (420.29–35) stellt Kant den perfekten Willen dem sinnlich-vernünftigen Willen gegenüber und fasst dabei das moralische Gesetz insofern als analytischen Satz, 4

Kants Grundlegung über den bösen Willen

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dem Begriff des freien Willens folgt, und dass der kategorische Imperativ dennoch ein synthetischer Satz ist, erscheint nur sinnvoll, wenn der Wille, von dem in der Analytizitätsthese die Rede ist, der Wille in noumenaler Perspektive ist, und wenn infolgedessen das Gesetz, von dem die Analytizitätsthese handelt, nicht der kategorische Imperativ ist, sondern das moralische Gesetz. Kant macht hier einmal mehr die Idee eines vollkommenen Willens zur Folie seiner Argumentation. Kants Analytizitätsthese besagt demnach: Freiheit als das Vermögen, ganz von selbst etwas hervorzubringen, muss als Kausalität wie jede Kausalität ein Gesetz haben, und da durch den negativen Freiheitsbegriff Naturgesetzlichkeit ausgeschlossen ist und da zudem keine andere Gesetzlichkeit in Frage kommt, ist Freiheit die »Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein« (IV, 447.1); dieses Gesetz ist das moralische Gesetz (aber nicht als kategorischer Imperativ). Der nächste Schritt in Kants Gedankengang (Sek. 2) ist ein transzendentales Argument: Jedes vernunftbegabte Wesen muss sich als denkendes Wesen für spontan und damit für transzendental frei halten, weil sonst der mit jedem Aktus des Denkens – auch mit dem, der den Determinismus behauptet – unvermeidlich erhobene Geltungsanspruch unmöglich ist; der Aktus des Denkens ist ein Aktus der Spontaneität, und Spontaneität beinhaltet transzendentale Freiheit. Und weil es »doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß« (IV, 391.27), muss die denkende Vernunft »folglich« (IV, 448.18) auch »als praktische Vernunft« (IV, 448.18) frei sein. Mit der Sek. 2 ist noch nicht bewiesen, dass der Mensch sich als ein vernünftiges Wesen denken darf. Unbewiesen ist bis dahin auch die Geltung des moralischen Gesetzes als ein kategorischer Imperativ für menschliche Wesen. So hält Kant zu Beginn der Sek. 3 ausdrücklich fest, er sei hinsichtlich der Frage, »woher das moralische Gesetz verbinde« (IV, 450.16), noch »um nichts weiter gekommen« (IV, 449.31). Denn selbst wenn Freiheit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden muss, folgt daraus nicht die Gültigkeit des kategorischen Imperativs für sinnlich-vernünftige Wesen, weil das mit jener Freiheit direkt verbundene Gesetz nur das moralische Gesetz als analytischer Satz ist. Der kategorische Imperativ ist aber ein synthetischer Satz, das heißt ein Satz, der für sinnlichvernünftige Wesen mit einem Sollen verbunden ist. Genau an dieser Stelle entsteht der berühmte und umstrittene Verdacht auf eine »Art von Zirkel« (IV, 450.18). Kant spricht auch von der bloßen »Erbittung eines Prinzips« (IV, 453.9), was seine Übersetzung des logischen Terminus ›petitio principii‹ ist. Doch für Kant ist eine petitio principii kein circulus in probando. Der Zirkelverdacht besteht daher nicht darin, dass wir frei sind, weil wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind, und dass wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind, weil wir frei sind.6 Das Problem besteht darin, wegen der »Wichtigkeit« (IV, 450.10) als er das Wollen einer Handlung aus dem Wollen eines perfekten Willens »analytisch ableitet«; der analytisch-moralische Satz ist also deskriptiv, nicht präskriptiv. 6 Vgl. dazu Schönecker 1997.

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des moralischen Gesetzes die Freiheit nur »um des sittlichen Gesetzes willen« (IV, 453.6) anzunehmen, ohne sie eigens zu beweisen, sowie in dem Missverständnis, dass sich aus der Freiheit des menschlichen Willens die Gültigkeit des moralischen Gesetzes als ein kategorischer Imperativ als direkte »Folge« (IV, 453.13) ableiten ließe. Kant begegnet dem Zirkelverdacht, indem er in Anknüpfung an das Argument aus der Sek. 2 die Freiheit des menschlichen Willens über die »reine Selbsttätigkeit« (IV, 452.9) von Verstand und Vernunft beweist (also ohne dabei auf die Gültigkeit des Sittengesetzes zu rekurrieren). Als ein »vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen« (IV, 452.31) ist der Mensch »als Intelligenz das eigentliche Selbst« (IV, 457.34), und sofern der Mensch nur in dieser noumenalen Perspektive betrachtet wird, ist das moralische Gesetz in der Tat eine direkte ›Folge‹ seiner Freiheit: »Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt gehörig und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig« (IV, 453; Hervorhebung D. S.). Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs als Frage nach dessen Geltung ist also auch am Ende der Sek. 3 noch immer nicht beantwortet. Dieser Beweis ist Aufgabe der abschließenden Deduktion und damit der Sek. 4. Für unseren Kontext ist besonders wichtig, dass Kant in der Sek. 3 vor allem den Unterschied zwischen der Verstandeswelt als der Welt der Dinge an sich und der Sinnenwelt als der Welt der Erscheinungen einführt; ich setze diese Unterscheidung als bekannt voraus (komme aber auch noch einmal darauf zurück). Kant wiederholt in der Sek. 4 zunächst noch einmal die Analytizitätsthese aus der Sek. 1, wonach ›ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei‹ sind: »Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt,« – und das heißt: als Wesen, das ausschließlich frei und vernünftig handelt – »würden also alle meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein« (IV, 453.25). Die Deduktion erfolgt dann in einem einzigen Satz (IV, 453.31–452.5), der außerordentlich schwer interpretierbar ist, aber folgendermaßen rekonstruiert werden kann: ›Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt enthält, weil sie mithin auch den Grund der Gesetze der Sinnenwelt enthält, weil sie also in Ansehung meines Willens, der ganz zu ihr gehört, unmittelbar gesetzgebend ist und weil sie also auch in Ansehung meines Willens als eine Verstandeswelt gedacht werden muss, die den Grund der Sinnenwelt und den Grund der Gesetze derselben enthält, so werde ich mich als ein Wesen, das sich zugleich als Glied der Verstandeswelt (Intelligenz) und als Glied der Sinnenwelt betrachtet, dem Gesetze der Verstandeswelt, mithin der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz der Verstandeswelt enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen und folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperative und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen.‹

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Auch an einer späteren Stelle wird deutlich, dass Kant in der Tat mit der ontischen Superiorität der Verstandeswelt argumentiert, wenn er schreibt, dass das moralische Gesetz »für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst, entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet« (IV, 461.2). Kants Deduktion des kategorischen Imperativs lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Der Mensch verfügt über das Vermögen der Vernunft, das als epistemisches Vermögen eine Form reiner Selbsttätigkeit ist. Als ein solches Wesen muss der Mensch sich als Intelligenz und damit als Glied der Verstandeswelt betrachten, das zugleich auch seinen Willen als frei verstehen muss. Da mit dieser Freiheit das Sittengesetz analytisch verbunden ist, erkennt auch der Mensch, wenn und sofern er sich als ein solches Wesen begreift, die Autonomie und das moralische Gesetz als Gesetz seines vernünftigen Wollens. Und da die Verstandeswelt und damit auch der Wille als Glied dieser intelligiblen Welt der Sinnenwelt ontisch übergeordnet sind, gilt das Gesetz jener Welt (das Sittengesetz) auch als Gesetz (als kategorischer Imperativ) für Wesen, die zugleich Glieder der Sinnenwelt und der Verstandeswelt sind. Kraft des Unterschiedes zwischen der intelligiblen Welt und der Sinnenwelt vermag Kant das Sollen, das im kategorischen Imperativ enthalten ist, als ein eingeschränktes eigenes Wollen zu verstehen.

2. Das Böse in der Grundlegung: Ein Überblick und eine Einführung 2.1 Das Böse in der GMS: Ein kurzer Überblick über die Kontexte Kant offeriert in der GMS, wie man weiß, eine ausführliche Theorie des guten Willens. Das gilt sowohl für den Begriff selbst (GMS I) wie auch für die Freiheit, die einen solchen guten Willen möglich macht (GMS III). Ein entsprechendes Pendant für den bösen Willen fehlt: Kant analysiert weder eigens den Begriff des bösen Willens noch hat er, wie wir zeigen wollen, eine Theorie darüber, wie Freiheit und das Böse sich zueinander verhalten. Das heißt aber nicht, dass das Böse nicht thematisch wäre. So ist schon im Kontext des Begriffs des guten Willens in GMS I indirekt vom bösen Willen »eines Bösewichts« (IV, 394.10) die Rede. Eben ein solcher »Bösewicht« (IV, 454.21) taucht unmittelbar nach der Deduktion des kategorischen Imperativs wieder auf, und dort spricht Kant dann auch ausdrücklich von einem »bösen Willen« (IV, 455.5; Hervorhebung D. S.); auf diese Stelle werde ich gleich etwas genauer eingehen. Sie zeigt, dass Kant den guten Willen als Glied der Verstandeswelt und den bösen Willen als Glied der Sinnenwelt begreift. Abgesehen von den wenigen Stellen, in denen Kant explizit den Ausdruck ›Böses‹ (beziehungsweise Varianten davon) gebraucht,7 spricht Kant verstreut über die 7

Vgl. IV, 393.11; 394.9; 394.10; 402.37; 404.3; 419.25; 437.7; 454.21; 455.5.

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ganze GMS immer wieder von den ›Neigungen‹, die er, wenn auch nicht in solch systematischer Weise wie in der Kritik der praktischen Vernunft,8 unter die »Selbstliebe« (z. B. IV, 401.28) als »mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht« (IV, 405.5) subsumiert; außerdem skizziert Kant am Ende von GMS I die Theorie einer »natürliche[n] Dialektik« (IV, 405.13), mit der er plausibel machen will, wie es trotz aller grundlegenden sittlichen Einsicht der gemeinen Menschenvernunft zu einem falschen Verständnis der Ethik und damit auch zu bösen Handlungen kommen kann.9 Ein dritter wichtiger Kontext für das Verständnis des Bösen ist der Begriff der Heteronomie, den Kant in den beiden letzten Unterkapiteln von GMS II entfaltet. Darunter fasst Kant einerseits jeden Willen, der nicht durch das moralische Gesetz bestimmt wird, andererseits diejenigen Ethiken, die – anders als Kants Ethik der Autonomie – die Richtigkeit von Handlungen in Bezug auf irgendein »Objekt« (IV, 441.8) bestimmen.

2.2 Das Böse in der GMS: Eine Einführung Versuchen wir jetzt, den Begriff des Bösen etwas genauer zu fassen. Der moralische Wert einer Handlung setzt sich aus zwei Elementen zusammen: Aus der formalen (legalen) Qualität der Handlungsweise selbst und aus der Gesinnung, die der Handlung zugrunde liegt. Die formale Qualität kann laut GMS I zweifach sein: Handlungen sind demnach entweder pflichtmäßig oder pflichtwidrig. Die bloße Pflichtmäßigkeit macht eine Handlung nicht gut; es muss der gute Wille hinzutreten, und das ist bei sinnlich-vernünftigen Wesen die Gesinnung (das Motiv), aus Pflicht zu handeln, das heißt aus Achtung vor dem moralischen Gesetz.10 Nun identifiziert Kant an einer Stelle die formale Eigenschaft der Pflichtwidrigkeit mit dem Bösen;11 aber woraus resultiert das Böse eines bösen Willens? Zwei Antworten kommen in Frage: Erstens daraus, den Neigungen zu folgen; zweitens aus der bewussten Missachtung des moralischen Gesetzes. In der GMS beschäftigt Kant sich nur mit dem ersten Fall: Ein Wille ist böse, der sich in seiner Maximenbildung und Willensbestimmung von seinen Neigungen beeinflussen lässt. Schon ein solcher Akt bedeutet insofern eine Missachtung gegenüber dem moralischen Gesetz, als ein solcher böser Wille nicht aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handelt. Eine tiefergehende, genuine Missachtung des moralischen Gesetzes würde aber darin bestehen, das moralische GeVgl. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft in der KpV. Vgl. Schönecker 2009. 10 Die Frage, ob objektiv pflichtwidrige Handlungen aus Pflicht geschehen können, wird von Kant vermutlich verneint (vgl. IV, 397); sachlich gesehen ist das problematisch. 11 Vgl. IV, 402.36: »Denn wenn ich von dem Prinzip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewiß böse«; etwas später allerdings (IV, 404.3) wird das Böse vom Pflichtwidrigen noch einmal unterschieden. 8 9

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setz um der Missachtung willen (und nicht zwingend aus Neigung) zu missachten; diese Möglichkeit teuflischer Maximenbildung wird von Kant in der Grundlegung III [über die Möglichkeit des Bösen] – im Unterschied zur Religionsschrift – nicht erwogen,12 und sie soll uns auch hier nicht weiter beschäftigen. In gewisser Hinsicht sind also die Neigungen die Quelle des Bösen; aber eben nur in gewisser, und zwar materialer Hinsicht: Gäbe es diese Neigungen nicht, würde der Mensch, da er als Ding an sich Intelligenz mit einem guten Willen ist, das Gute wollen. Doch der Mensch muss sich zu diesen Neigungen verhalten. So sind zwar die Neigungen die eine Quelle des Bösen, das zulassende Verhalten der Menschen aber die andere. Und dann ist es eben die Frage, ob ein solches Verhalten als freies Verhalten zu denken ist. Genau diese Problematik tritt bereits an zwei Passagen zutage, die vor unserer noch zu interpretierenden Stelle liegen: Zum einen in den erwähnten zwei Unterkapiteln zur Heteronomie, zum anderen in der besagten Stelle zum ›Bösewicht‹ und seinem ›bösen Willen‹. Dort, wo Kant den Begriff der Heteronomie einführt (am Ende von GMS II), schreibt er: »Der Wille gibt als denn sich nicht selbst, sondern das Objekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem das Gesetz« (IV, 441.7; Hervorhebung D. S.); und etwas später schreibt Kant: »der Wille gibt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb gibt ihm […] das Gesetz« (IV, 444.25; Hervorhebung D. S.). Autonomie ist Selbstbestimmung durch das moralische Gesetz als ein selbstgegebenes Gesetz; Heteronomie wäre demnach Fremdbestimmung durch ein fremdes Gesetz. Kant unterscheidet verschiedene Formen von Heteronomie, worauf ich nicht eingehen will; ihnen gemeinsam ist jedenfalls der Gedanke, dass der Wille durch etwas, das nicht ihm selbst entspringt, bestimmt wird. Das Problem des Bösen läge dann auf der Hand: Wird der Wille durch das moralische Gesetz bestimmt, ist er frei. Wird er durch etwas anderes bestimmt (paradigmatisch: durch Neigungen und das Streben nach Glückseligkeit), dann ist er fremdbestimmt und nicht frei; er gibt dann ›sich nicht selbst‹ das Gesetz, sondern etwas anderes gibt ihm dieses. Nun könnte man (vielleicht mit Kant) erwidern, dass zwar in der Tat in heteronomen Handlungen der Wille durch etwas anderes (ein ›Objekt‹, einen ›fremden Antrieb‹) bestimmt wird, er sich aber bestimmen lässt und sich insofern auch dann selbst bestimmt, wenn er seine Handlungen von Neigungen bestimmen lässt. Der Mensch kann sich – so die Erwiderung – zu Neigungen in eine bewusste und selbstbestimmte Relation setzen, er kann sich zu ihnen verhalten: Er kann sich so zu den Neigungen verhalten, dass er ihnen keinen Einfluss auf seine Maximenbildung einräumt; oder er kann sich so zu ihnen verhalten, dass er ihnen einen Einfluss gewährt. Aber in beiden Fällen ist es der Mensch, der die Entscheidung trifft; und diese Entscheidung ist eben ein Akt der Selbstbestimmung. Daher – so die Erwiderung weiter – schreibe Kant auch »Es mag nun das Objekt vermittelst der Neigung […] den Willen bestimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die VorDie Formulierung »für sich selbst als böse« (IV, 419.24) ist nicht im Sinne einer teuflischen Maxime zu verstehen. 12

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stellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder« (IV, 444.5; Hervorhebung D. S., Kants Hervorhebung getilgt). Selbst wenn also der Wille durch ein Objekt bestimmt wird, so lässt er sich doch von ihm bestimmen und bestimmt insofern ›sich selbst‹. Doch eine textuelle Beobachtung und eine systematische Frage drängen sich sofort auf. Erstens schreibt Kant direkt im Anschluss an diese eine Stelle (IV, 444.5), dass das, wodurch der Wille etwa im Falle der Neigungen bestimmt wird, zwar »in meinem Subjekt« (IV, 444.13; Hervorhebung D. S.) ist. Aber es gehört im engeren Sinne zur »Natur des Subjekts« (IV, 444.18; 444.27; Hervorhebung D. S.), so dass Kant schreibt, dass bei heteronomen Handlungen »eigentlich die Natur das Gesetz« (IV, 444.21) gibt. Diese ›Natur‹ begreift Kant aber als (Teil der) Sinnenwelt, in der es keine Freiheit gibt. Zweitens stellt sich die systematische Frage: Wer genau lässt denn die Neigungen den Willen bestimmen? Ist es der intelligible Wille als Glied der Verstandeswelt, dann stehen wir vor dem Problem, dass dieser Wille von Kant nur als frei und eo ipso moralisch handelnd gedacht wird. Ist es aber der Wille als Glied der Sinnenwelt, dann ist dieser Wille unfrei und auch unfrei in dem Akt, sich bestimmen zu lassen. Wenn wir gleich zu der zentralen Stelle kommen, werden wir sehen, dass Kant aus diesem Dilemma nicht herausfindet. Dass es sich in der Tat um ein Dilemma handelt, wird auch schon bei der Bösewicht-Stelle im Kontext der Deduktion des kategorischen Imperativs deutlich. Eine genaue Analyse ist hier nicht möglich – schon deshalb, weil diese Stelle nicht nur für unsere Thematik von Belang ist, sondern auch für die Frage, wie die ganze Deduktion überhaupt zu verstehen ist. Hier möchte ich nur auf folgende Überlegung Kants aufmerksam machen: Selbst ein Bösewicht wünsche sich, so Kant, statt seines bösen Willens einen guten. Einen guten Willen versteht Kant – und mit ihm angeblich der ›Bösewicht‹ – aber als Glied der Verstandeswelt; und dieser gute Wille als intelligibler und damit freier Wille ist ein Wille, »der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt, nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (IV, 455.4; Hervorhebung D. S.). Wieder tut sich das Dilemma und damit die Frage auf: Wie kann der böse Wille als ›Glied der Sinnenwelt‹ frei sein, wenn doch nur, was Glied der Verstandeswelt ist, frei sein kann? Und wenn die Antwort auf diese Frage darin besteht, dass der intelligible Wille die Neigungen zulässt, wie ist dieses Zulassen der Neigungen zu denken? Damit können wir zu unserer Stelle übergehen, die sich genau mit dieser Frage beschäftigt, sie allerdings, wie wir sehen werden, nicht beantworten kann.

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3. Das Böse als Nachsicht gegenüber Neigungen: Eine Analyse von GMS 457.25–458.5 Der böse Wille des ›Bösewichts‹, so haben wir gesehen, wird von Kant ausdrücklich als ›Glied der Sinnenwelt‹ charakterisiert. Der Parallelbegriff zu diesem Begriff der Sinnenwelt ist der Begriff der Verstandeswelt. Dort, wo Kant diese Begriffe einführt (Sek. 3), meint er damit ohne Zweifel den klassischen Unterschied von Ding an sich (Verstandeswelt) und Erscheinung (Sinnenwelt). In Bezug auf Handlungen spezifiziert Kant dies als »zwei Standpunkte, daraus es [das vernünftige Wesen; D. S.] sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann« (IV, 452.25). Einer dieser Standpunkte, so fährt Kant fort, ist der Standpunkt des vernünftigen Wesens, »sofern es zur Sinnenwelt gehört« und »unter Naturgesetzen (Heteronomie)« steht. Der andere Standpunkt ist derjenige der Verstandeswelt: »Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein; als bloßen Stücks der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der Natur gemäß, genommen werden müssen« (IV, 453.25; Hervorhebung D. S.). Schon damit wird deutlich, dass Kant den Begriff der Heteronomie und damit auch den Begriff des ›bösen Willens‹ in einer Weise benutzt, die überhaupt keine andere Wahl zu lassen scheint, als das Wollen des Bösen als unfreie Handlung zu verstehen; unfrei, weil durch Naturgesetze determiniert. Die Stelle, die ich genauer analysieren möchte, befindet sich in der Sek. 5 von GMS III, in der Kant noch einmal den Unterschied von Verstandes- und Sinnenwelt thematisiert. Als Glied der »Verstandeswelt« (IV, 451.18) nennt Kant den Menschen »Intelligenz« (IV, 457.9); als Glied der »Sinnenwelt« (IV, 451.18) ist der Mensch »Phänomen« (IV, 457.13). Als Glied der Verstandeswelt ist der Mensch »Ding oder Wesen an sich selbst« (IV, 457.18) und »eigentliche[s] Selbst« (IV, 461.4); als Glied der Sinnenwelt ist er nur »Ding in der Erscheinung« (IV, 457.16). Nachdem Kant diesen Grundgedanken auf mehreren Seiten in der Sek. 5 entfaltet hat, schließt er einen Absatz an, der auf die Möglichkeit zum Bösen eingeht und den ich jetzt analysieren möchte. In ihm taucht der gleiche Grundgedanke erneut auf, allerdings mit einem deutlichen Bezug zur Möglichkeit des Bösen: »[1] [1a] Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört, und [1b] dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig denkt, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. [2] [2a] Die Kausalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien einer intelligiblen Welt, [2b] von der er wohl nichts weiter weiß, als

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daß darin lediglich die Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft, das Gesetz gebe, [2c] imgleichen da er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, [2d] so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch tun können, [2e] sogar, daß er die erstere nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i. seinem Willen nicht zuschreibt, [2f] wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen, zum Nachteil der Vernunftgesetze des Willens, Einfluß auf seine Maximen einräumte.« (IV, 457.25) Dieser Absatz – nur zwei Sätze – mag auf den ersten Blick nicht besonders schwierig scheinen, und vielleicht ist das der Grund, weshalb es von ihm bisher keine genaue Analyse gibt. Auf den zweiten und dritten Blick aber hat dieser Absatz es in sich. Zergliedern wir den Text, indem wir seine Hauptaussagen identifizieren und dabei zunächst von den logischen Bezügen abstrahieren, sofern sie begründenden Charakter haben (also vom ›Daher‹ in [1a], vom ›da‹ in [2c] und ›sodass‹ in [2d]). Im ersten Satz [1] lautet die erste Aussage: (1a) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der nichts auf seine Rechnung kommen lässt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört. Worauf sind ›der‹ und ›seine‹ bezogen? Die Antwort darauf kann aus grammatischsprachlichen Gründen nur lauten: auf den Willen. Aber worauf ist das zweite Possessivpronomen ›seinen‹ bezogen: wieder auf den ›Willen‹ oder auf den eingangs genannten ›Menschen‹? Müssen wir also so lesen: (1a1) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der (also dieser Wille) nichts auf seine (also des Willens) Rechnung kommen lässt, was bloß zu seinen, des Willens, Begierden und Neigungen gehört. Oder müssen wir so lesen: (1a2) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der (also dieser Wille) nichts auf seine (also des Willens) Rechnung kommen lässt, was bloß zu seinen, des Menschen, Begierden und Neigungen gehört. Zu wem gehören also die ›Begierden und Neigungen‹? Rein grammatisch ist diese Frage, glaube ich, nicht zu beantworten. Wenn wir uns gleich Satz [2] zuwenden, werden wir sehen, dass, vielleicht entgegen dem ersten Eindruck, nur die zweite Lesart (1a2) die richtige sein kann. Doch auch unabhängig von [2] wird aufgrund einer einfachen sachlichen Überlegung deutlich, dass diese zweite Lesart zu bevorzugen ist: Der Wille, den zu besitzen der Mensch sich anmaßt, ist ein Wille, der eine bestimmte Sache nicht ›auf seine Rechnung kommen lässt‹; etwas ›nicht auf seine Rechnung kommen lassen‹, das bedeutet: etwas nicht verantworten, nicht

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verantwortlich sein für etwas, nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden können. Da es aber nun offenkundig keinen rechten Sinn ergäbe, wenn der Wille etwas nicht verantwortete, das zu ihm gehörte (also eben die ›Begierden und Neigungen‹), kann nur Lesart (1a2) die richtige sein. Damit erhalten wir als rekonstruierte Aussage von (1a): (1a)* Der Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet. Schon dass der Mensch sich einen Willen ›anmaßt‹, zeigt, dass es nur um den Willen als Glied der Verstandeswelt gehen kann. Manchmal spricht Kant sogar so, dass der Ausdruck ›Wille‹ für die Verstandeswelt reserviert ist, zum Beispiel am Anfang von der Sek. 4: »Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine Kausalität einen Willen« (IV, 453.17); daher spricht Kant kurz vor unserem Absatz auch nicht einfach nur von einer ›Intelligenz‹, sondern von einer »Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Kausalität begabt« (IV, 457.11; Hervorhebung D. S.). Ich komme bei Satz [2] noch einmal darauf zurück, was die Rede von der ›Verantwortung‹ in (1a)* eigentlich bedeutet. Betrachten wir jetzt [1b]. Problematisch ist hier vor allem der Bezug des Reflexivpronomens ›sich‹ in der Formulierung ›… und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig denkt …‹. Vor dem Hintergrund von (1a) würde man erwarten, dass durch den Willen, zu dem die Begierden und Neigungen ja gerade nicht gehören, auch die Handlungen möglich und notwendig sind, ›die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können‹; nennen wir solche Handlungen kurz ›moralische‹ Handlungen (in [2f] nennt Kant sie auch »Vernunftgesetze des Willens« [IV, 458.4]). Dann müsste aber konsequenterweise nicht »der Mensch« (IV, 457.25), sondern das »der« (ebd.) auch grammatisch als dasjenige Subjekt begriffen werden, das ›denkt‹. Die Aussage wäre demnach: (1b1) Der Wille denkt Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. Doch abgesehen davon, dass es etwas eigenartig wäre, dass der Wille sich etwas so-und-so ›denkt‹, scheint es sprachlich natürlicher, den ›Menschen‹ vom Beginn des Satzes als dasjenige auch grammatische Subjekt zu begreifen, das sich etwas so-und-so ›denkt‹; aufgrund der Konjunktion »und« (IV, 457.27) vor [1b] ist dies vielleicht sogar sprachlich zwingend. Das ergäbe dann folgende Lesart: (1b2) Der Mensch denkt Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. Demnach ist es zwar der Wille, durch den moralische Handlungen möglich werden. Aber der Mensch maßt sich einen solchen Willen an, und daher ›denkt‹ er auch

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moralische Handlungen ›durch sich‹ als möglich; der Wille gehört demnach zum Menschen, und insofern denkt der Mensch moralische Handlungen als ›durch sich‹ möglich. In diesem ersten Satz unterscheidet Kant also den von Begierden und Neigungen freien Willen vom Menschen und ›seinen (also des Menschen) Begierden und Neigungen‹; andererseits identifiziert er geradezu den Menschen mit diesem Willen. Damit erhalten wir als rekonstruierte Aussage: (1b)* Der Mensch denkt moralische Handlungen durch sich als möglich und notwendig. Insgesamt ergibt dies folgende Rekonstruktion des ersten Satzes: (1)* Der Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er (der Mensch) denkt durch diesen Willen moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig. Ergänzend sei noch gesagt, dass das »dagegen« (IV, 457.27) der Gegenüberstellung derjenigen Handlungen, die auf der Grundlage von ›Begierden und Neigungen‹ erfolgen, und den moralischen Handlungen dient (also den Handlungen, die eben nur mit ›Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können‹). Aber wer oder was leistet diese ›Hintansetzung‹ der Neigungen? Auf diese entscheidende Frage komme ich gleich zurück. Betrachten wir zunächst Satz [2]. Rekonstruieren wir wieder die Aussagen als solche. Das »derselben« (IV, 457.29) bezieht sich zurück auf die »Handlungen« (IV, 457.27) in (1b), die wir als moralische Handlungen identifiziert haben; das »ihm« (IV, 457.30) ebenso wie das »er« (IV, 457.31) kann sich aufgrund des Kontextes nur auf den ›Menschen‹ aus (1a) beziehen. Ersetzen wir noch den Ausdruck der ›intelligiblen Welt‹ mit dem von Kant häufiger gebrauchten Ausdruck der ›Verstandeswelt‹, so erhalten wir zunächst: (2a) Die Kausalität der moralischen Handlungen liegt im Menschen als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien der Verstandeswelt. Das passt zu dem, was bisher gesagt wurde: Durch den Willen denkt sich der Mensch als Intelligenz zugehörig zur Verstandeswelt. Auch der nächste Satz bereitet zumindest grammatisch keine Schwierigkeiten. Vereinfachen können wir ihn außerdem dadurch, dass wir von einem für die Sek. 5 wichtigen Thema – der Begrenztheit unseres Wissens von der Verstandeswelt – abstrahieren, weil es für die Frage nach der Möglichkeit des Bösen keine Rolle spielt. Wir abstrahieren also von der Wendung »von der er wohl nichts weiter weiß« (IV, 457.31) und erhalten so: (2b) In der Verstandeswelt gibt lediglich die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz.

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(Ich komme weiter unten darauf zurück, worin diese ›Unabhängigkeit‹ der Vernunft besteht.) Der nächste Teilsatz [2c] fährt fort mit einem ›imgleichen‹, was soviel bedeutet wie ›ebenso‹. Es ist unklar, worauf genau sich das bezieht: darauf, dass ›jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen‹? Oder darauf, dass der Mensch weiß, dass jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen? Sachlich ist dies aber nicht entscheidend, und da wir schon bei (2b) vom Aspekt des Wissens abstrahiert haben, wollen wir dies auch hier tun. Es geht also darum, dass ›jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen‹. Mit ›jenen Gesetzen‹ können grammatisch nur die ›Gesetze‹ aus (2a) gemeint sein; in (2b) ist zwar im Singular von ›Gesetz‹ die Rede, aber gemeint ist in beiden Fällen dasselbe, nämlich das moralische Gesetz (oder eben die moralischen Gesetze). Eine Teilaussage von (2c) lautet also: (2ci) Die moralischen Gesetze gehen den Menschen unmittelbar und kategorisch an. In (2c) wird aber zugleich die Begründung geliefert, warum das so ist (›da‹, IV, 457.33). Dabei bezieht sich das ›daselbst‹ (IV, 457.34) ebenso wie das vorangegangene ›darin‹ (IV, 457.32) auf die Verstandeswelt. Abstrahiert man zunächst wieder von der Begründungsbeziehung, so lautet die Aussage: (2cii) In der Verstandeswelt ist der Mensch nur als Intelligenz das eigentliche Selbst. In (2c) wird in Klammern aber auch noch ergänzt: »[…] (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst)«. Zunächst müssen wir zwei Deutungen dieses Satzes ausschließen, die eine klarerweise, die andere etwas weniger klar. Klar ausschließen kann man die vermeintlich elliptische Aussage, dass der Mensch ›daselbst‹ – also in der Verstandeswelt – Erscheinung seiner selbst ist; denn die Verstandeswelt ist ja gerade definiert als die Welt der Dinge an sich, also als die Welt, sofern die Dinge nicht als Erscheinungen in Erwägung gezogen werden. Eine zweite falsche Deutung können wir nur in Abgrenzung zur richtigen ausschließen. Der Gegenbegriff zum Begriff der Verstandeswelt ist der Begriff der Sinnenwelt; dieser taucht zwar erst in [2d] auf, muss aber hier ([2c]) schon mitgedacht werden. Die Aussage lautet demnach, dass der Mensch in der Sinnenwelt nur Erscheinung seiner selbst ist. Aber was bedeutet ›seiner selbst‹? Klarerweise kann die Aussage nicht sein, dass der Mensch in der Sinnenwelt nur Erscheinung seiner selbst als Mensch ist. Vielmehr lautet die Aussage, dass der Mensch auch – wie es im Absatz vorher heißt – ein »Phänomen in der Sinnenwelt« (IV, 457.13) ist; und dies im Unterschied zu dem ›eigentlichen Selbst‹, das er als Intelligenz mit einem Willen, also als Glied der Verstandeswelt ist. Was als Mensch erscheint, ist das menschliche Wesen als Intelligenz; die Aussage lautet also: (2ciii) In der Sinnenwelt ist der Mensch nur Erscheinung seiner selbst (das heißt seiner) als Intelligenz.

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Dennoch ist auszuschließen – und das wäre die besagte zweite falsche Deutung –, dass »Mensch« ein Ausdruck ist, der sich allein auf das erscheinende Selbst bezöge, so dass das eigentliche Selbst »Intelligenz«, das erscheinende Selbst »Mensch« hieße. Auch im Fortgang des Satzes wollen wir den Aspekt der logischen Folgerung zunächst ignorieren. In [2d] stecken wieder mehrere Aussagen. Zunächst identifiziert Kant hier, wie schon mehrmals vorher in der GMS,13 die schon in [2a] erwähnten ›Neigungen‹ mit der Sinnenwelt; er identifiziert sie damit in dem Sinn, dass solche Neigungen zur Sinnenwelt gehören, aber nicht zur Verstandeswelt. Das passt genau zu der zentralen Stelle in der Sek. 4, wo Kant »Begierden und Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig« beschreibt (IV, 453.24) – und zwar in Abgrenzung zur Verstandeswelt, so dass Begierden und Neigungen ausschließlich zur Sinnenwelt gehören. Halten wir das fest: (2di) Begierden und Neigungen gehören nur zur Sinnenwelt. Von diesen Begierden und Neigungen heißt es dann in [2d] weiter, dass sie den Gesetzen seines Willens keinen Abbruch tun. Da das Possessivpronomen »seines« (IV, 457.37) wie auch schon die vorherigen diversen Pronomina nur auf den ›Menschen‹ bezogen sein können, lautet die Aussage also: (2dii) Begierden und Neigungen tun den Gesetzen des Wollens des Menschen als Intelligenz keinen Abbruch. Semantisch bedeutet ›keinen Abbruch tun‹ zunächst: nicht schädigen, nicht beeinträchtigen. Aber was soll es bedeuten, dass die Begierden und Neigungen die Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz nicht beeinträchtigen beziehungsweise nicht schädigen? Mit diesen Gesetzen, die Kant kurz danach in [2f] auch »Vernunftgesetze des Willens« (IV, 458.4) nennt, sind ohne Zweifel wieder die moralischen Gesetze gemeint. Fragen wir also noch einmal: Was bedeutet es, dass die Begierden und Neigungen die moralischen Gesetze nicht beeinträchtigen beziehungsweise schädigen? Ich sehe zunächst zwei mögliche Lesarten: Erstens könnte Kant mit dieser Formulierung nur den apriorisch-kategorischen Grundgedanken seiner radikal anti-subjektivistischen Ethik zum Ausdruck bringen: Moralische Gesetze gelten völlig unabhängig von Begierden, Neigungen und Antrieben (sagen wir hier und im Folgenden kurz: Neigungen). Stimmt das, dann lautet die Aussage (2dii): (2dii)* Moralische Gesetze als Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz gelten völlig unabhängig von Neigungen. Diese, sagen wir: einfache Lesart wird auch dadurch bestätigt, dass im nächsten Teilsatz noch eine Steigerung des Gedankens präsentiert wird: [2e] beginnt mit »sogar« (IV, 458.1). Auf die zweite Lesart von (2dii) komme ich zurück; schauen wir 13

Vgl. IV, 453.24; 453.28; 454.27–455.7.

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zunächst auf [2e]. Dabei fällt auf, dass Vorländer in seiner Ausgabe das »erstere« aus [2e] (IV, 458.1) zu ›ersteren‹ korrigiert. Offenkundig will er durch diesen Plural den Bezug zu den vorher erwähnten ›Neigungen und Antrieben‹ herstellen; belässt man es bei dem Singular, kann ›erstere‹ sich nur auf die ›Sinnenwelt‹ beziehen. Die Variante der Originalausgaben ist nicht überzeugend, zumal etwas später wieder ein Plural gebraucht wird (»ihnen«, IV, 458.3), so dass die vorländersche Variante zwingend scheint; ich folge also der Rekonstruktion Vorländers. Das eigentliche Problem in [2e] besteht jedoch im Bezug des neuerlichen Pronomens »er« (IV, 458.1): Man hat nämlich, so scheint es, keine andere Wahl, als es wieder auf den ›Menschen‹ zu beziehen, so dass der erste Teil der Aussage [2e] lautet: (2ei) Der Mensch verantwortet nicht die Neigungen. Natürlich erinnert dieser Satz direkt an [1a], den wir so rekonstruiert haben: Der Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet ((1a)*). Wenn aber demnach die Neigungen zum Menschen gehören, wie kann Kant dann behaupten, dass der Mensch die Neigungen nicht verantwortet? Wenn sie zu ihm, dem Menschen, gehören, dann verantwortet er sie auch. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, müssen wir also ergänzend lesen: (2ei)* Der Mensch als Intelligenz verantwortet nicht die Neigungen. Und in der Tat ist diese Aussage identisch mit der Aussage in [1a]: Der intelligible Wille (der Wille als Glied der Verstandeswelt) ist nicht verantwortlich für die Neigungen; und diese Aussage [1a] wiederum deckt sich genau mit dem, was auch im zweiten Teil von [2e] ausgesagt wird: (2eii) Der Mensch als Intelligenz schreibt die Neigungen seinem eigentlichen Selbst, das heißt seinem Willen, nicht zu. Damit haben wir insgesamt drei Formulierungen, die, so meine ich, alle den gleichen Gedanken zum Ausdruck bringen, den wir jetzt zusammenfassend deuten können: Der intelligible Wille lässt die Neigungen nicht auf seine Rechnung kommen [1a]; der Wille verantwortet nicht die Neigungen [2e]; dem Willen werden die Neigungen nicht zugeschrieben [2e]. Neigungen, so sagte Kant schon in der Sek. 4, sind »Erscheinungen« (IV, 453.24), also nur »zur Sinnenwelt gehörig« (IV, 453.24). Da der intelligible Wille aber zur Verstandeswelt gehört – und nur zu dieser –, gehören er und die Neigungen zwei verschiedenen Welten an: Die Neigungen gehören zur Sinnenwelt, sie gehören also nicht zum intelligiblen Willen. Der intelligible Wille als solcher hat keine Neigungen und er will auch nichts, wozu Neigungen ihn pflichtwidrig antreiben. Bestätigt wird dies auch dadurch, dass laut [2b] ›in der Verstandeswelt lediglich die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gibt‹. Diese ›reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft‹ ist die praktische Vernunft, die in ihrer Gesetzgebung von allen Neigungen abstrahiert; allerdings ist diese ›Unabhängigkeit‹ der reinen praktischen Vernunft sowohl im

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Sinne eines principium diiudicationis wie auch eines principium executionis zu verstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann aber auch (2dii) anders lesen. Wir hatten gefragt, was es eigentlich bedeutet, dass Begierden und Neigungen den Gesetzen des Wollens des Menschen als Intelligenz keinen Abbruch tun, sie also nicht beeinträchtigen oder beschädigen. In der ersten Lesart sagt Kant damit aus, dass moralische Gesetze als Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz völlig unabhängig von Neigungen gelten (2dii)*. Aber vielleicht soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass das Wollen dieser Gesetze, dass also das moralische Wollen des Willens als Glied der Verstandeswelt durch diese Neigungen nicht beeinträchtigt wird; und das scheint sehr gut zu [2e] zu passen. Die zweite, etwas raffiniertere Lesart von [2d] lautet also: (2dii)** Begierden und Neigungen beeinträchtigen nicht das Wollen des Menschen als Intelligenz. Schön und gut, möchte man sagen. Aber wenn das stimmt, wenn also die moralischen Gesetze nicht durch die Neigungen beeinträchtigt werden und (beziehungsweise oder) deren Wollen ebenfalls nicht durch die Neigungen beeinträchtigt wird; und wenn außerdem stimmt, dass der Mensch als Intelligenz die Neigungen nicht verantwortet und sie seinem eigentlichen Selbst nicht zuschreibt – wer ist denn dann verantwortlich für die Handlungen, die sich aus diesen Neigungen ergeben und die pflichtwidrig sein können und es auch oft genug sind; wer ist verantwortlich für die bösen Handlungen? Erst jetzt, mit dem Schlussteil des ganzen Absatzes [2f], kommt die Passage, die dieses Problem der Möglichkeit des Bösen aufwirft. Doch tut sie dies immerhin in aller Schärfe. Vorher wurde gesagt, dass der Mensch als Intelligenz nicht die Neigungen »verantwortet« (IV, 458.1) und dass der Mensch die Neigungen seinem eigentlichen Selbst – das heißt seinem Willen – nicht »zuschreibt« (IV, 458.2). Daran schließt sich durch ein »wohl aber« (IV, 458.3) der Teilsatz [2f] an. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass die Neigungen als Material eine Quelle des Bösen ausmachen und dass als zweite Quelle noch das akzeptierende Verhalten zu diesen Neigungen hinzutreten muss – also eben die »Nachsicht« (IV, 458.3), die darin besteht, den Neigungen ›Einfluss auf seine Maximen einzuräumen‹. Die entscheidende Frage lautet: Wer trägt diese ›Nachsicht‹ gegenüber den Neigungen, wer hat den ›Einfluss‹ dieser Neigungen auf die Maximenbildung zu verantworten? Es bereitet große Mühe, diese Frage zu beantworten. Und das liegt daran, dass Kant selbst große Mühe hat, diese Frage zu beantworten. Bevor wir uns nun [2f] zuwenden, wollen wir noch kurz die gesamte Passage in der rekonstruierten, aber nun sprachlich als Einheit formulierten Fassung wiedergeben. Die bisher ausgelassenen logischen Beziehungen der Aussagen untereinander, sofern sie begründend sind, gebe ich dabei interpretiert in eckigen Klammern wieder: (1a) »Daher« [das heißt, weil der Mensch – wie im Absatz vorher ausgeführt – zwischen sich als Ding an sich und als Erscheinung unterscheidet] maßt der

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Mensch sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er (der Mensch) denkt durch diesen Willen moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig. (1b) Die Kausalität dieser moralischen Handlungen liegt im Menschen als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien der Verstandeswelt. (2b) In der Verstandeswelt gibt lediglich die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz. (2ci) Die moralischen Gesetze gehen den Menschen unmittelbar und kategorisch an, [»da«, also weil] (2cii) der Mensch in der Verstandeswelt nur als Intelligenz das eigentliche Selbst ist, (2ciii) in der Sinnenwelt hingegen ist der Mensch nur Erscheinung seiner selbst (das heißt seiner) als Intelligenz. (2di) Begierden und Neigungen gehören nur zur Sinnenwelt. (2dii)** [›sodass‹, das heißt, weil die moralischen Gesetze den Menschen unmittelbar und kategorisch angehen, gilt:] Begierden und Neigungen beeinträchtigen nicht das Wollen des Menschen als Intelligenz. (2ei)* Der Mensch als Intelligenz verantwortet nicht die Neigungen. (2eii) Der Mensch als Intelligenz schreibt die Neigungen seinem eigentlichen Selbst, das ist seinem Willen, nicht zu. Nun zu [2f]. Zunächst: Greift das ›wohl aber‹ in [2f] das ›verantwortet‹ auf oder das ›zuschreibt‹? Wird also die ›Nachsicht‹ (IV, 458.3) ›verantwortet‹ oder ›zugeschrieben‹? Diese Frage lässt sich nicht klar beantworten. Man könnte meinen, dass dies kein Problem sei, weil derjenige oder dasjenige, der oder das etwas verantwortet, zugleich derjenige oder dasjenige ist, der oder dem etwas zugeschrieben wird und umgekehrt. Aber so einfach ist es nicht: Wird nämlich die besagte Nachsicht ›zugeschrieben‹, dann muss – da in [2e] das ›zuschreibt‹ sich auf den Willen bezog – aus Gründen der Parallelität die Nachsicht wohl dem Willen zugeschrieben werden;14 wird dagegen die Nachsicht ›verantwortet‹, dann ist es – parallel zum Menschen, der laut [2e] ›die ersteren (sc. Neigungen und Antriebe) nicht verantwortet‹ – der Mensch, der die besagte Nachsicht ›verantwortet‹. Aber – und damit sind wir bei der zweiten Frage – ist der ›Mensch‹ das Subjekt des Satzes oder der ›Mensch als Intelligenz‹? Ist es also der Mensch, der etwas ›verantwortet‹ beziehungsweise zuschreibt, oder der ›Mensch als Intelligenz‹? Diese Frage hängt direkt mit einer weiteren Frage zusammen und kann ohne diese nicht beantwortet werden. Diese dritte Frage ist die entscheidende: Worauf bezieht sich das in IV, 458.3 zweimal gebrauchte Pronomen »er«? Auf den Menschen, oder den Menschen als eigentliches Selbst, also auf den Willen? Dass dies alles andere als klar ist, beweist auch ein Blick auf die englischen Übersetzungen. So übersetzt Gregor [2e–f] folgendermaßen: »indeed, he does not hold himself accountable for the former or ascribe them to his proper self, that is, to his will, though he does ascribe to it the indulgence he Allerdings müsste dann das erste ›er‹ in IV, 458.3 (›… die er gegen sie tragen möchte …‹) durch das Demonstrativpronomen ›dieser‹ ersetzt werden. 14

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would show them if he allowed them to influence his maxims to the detriment of the rational laws of his will« (Gregor 1996, Hervorhebung D. S.). Danach wäre es ›er‹, der Mensch (›he‹), der dem Willen (›his will‹) die Nachsicht zuschreibt (›ascribe‹), die ›er‹, der Mensch (›he‹), gegen die Neigungen tragen möchte, wenn ›er‹, der Mensch (›he‹), ihnen Einfluss auf seine Maximen einräumte. Aber das ist widersprüchlich: Man kann nicht dem Willen die ›Nachsicht‹ zuschreiben, dann aber dem Menschen das ›Einräumen des Einflusses‹, denn in diesem ›Einräumen‹ besteht ja gerade jene ›Nachsicht‹. In der neuen, von Timmermann überarbeiteten Ausgabe der Gregor-Übersetzung scheint mir das besser übertragen zu sein: »[ ]; even to the extent that he does not answer for the former or attribute them to his actual self, i. e. to his will, as opposed to the lenience he would show them if he conceded to them influence on his maxims to the disadvantage of the rational laws of his will« (Gregor / Timmermann 2011). Ähnlich wie Gregor übersetzt auch Beck 1959: »He does not even hold himself responsible for these inclinations and impulses or attribute them to his proper self, i. e., his will, though he does ascribe to his will the indulgence which he may grant to them when he permits them an influence on his maxims to the detriment of the rational laws of his will« (Hervorhebung D. S.). Wood 2002 stellt die beiden möglichen Lesarten nebeneinander: »[…] his will, although he does ascribe to it the indulgence that it would like to bear toward them, if, to the disadvantage of the rational laws of the will, he were to concede them influence on its maxims.« Und: »[…] his will, though he does ascribe to himself the indulgence he would like to bear toward them if, to the disadvantage of the rational laws of the will, he were to concede them influence on his maxims«. Erwägen wir nun die Interpretationsmöglichkeiten von [2f]. Dabei steht das Problem, so meine ich, klar vor Augen. Der Mensch, so sagt Kant zu Beginn unseres Absatzes, maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er denkt dadurch (durch diesen Willen) moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig. Die Kausalität dieser moralischen Handlungen liege im Menschen als Intelligenz und in den moralischen Gesetzen der Verstandeswelt. Nur in dieser Verstandeswelt sei der Mensch als Intelligenz das eigentliche Selbst; in der Sinnenwelt sei der Mensch dagegen nur Erscheinung seiner selbst, das heißt seiner als Intelligenz. Die Begierden und Neigungen gehören nur zur Sinnenwelt und sie tun, so Kant in [2d], den Gesetzen des Wollens des Menschen als Intelligenz keinen Abbruch. Was das genau heißt, ist nicht klar; in einer Lesart bedeutet es, dass die Begierden und Neigungen das Wollen des Menschen als Intelligenz nicht beeinträchtigen, und das scheint auch

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zum Gesamttenor der Passage wie überhaupt von GMS III gut zu passen. Aber wie sollen wir dann die zentrale Frage beantworten, wer die ›Nachsicht‹ gegenüber den Neigungen trägt, und wer den Einfluss dieser Neigungen auf die Maximenbildung zu verantworten hat? Es scheint zunächst nur zwei Möglichkeiten zu geben: Erstens, der sinnliche Wille als Glied der Sinnenwelt trägt die Nachsicht und daher die moralische Verantwortung; zweitens, der intelligible Wille trägt diese Nachsicht. Betrachten wir dies im Detail. Ad 1) Der sinnliche Wille als Glied der Sinnenwelt trägt die Nachsicht und daher die moralische Verantwortung. In dieser Lesart muss [2f] folgendermaßen rekonstruiert werden: (2fia) Der Mensch schreibt dem sinnlichen Willen die Nachsicht zu, die er (der sinnliche Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (der sinnliche Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des sinnlichen Willens) Maximen einräumte. oder: (2fib) Der Mensch schreibt dem sinnlichen Willen die Nachsicht zu, die er (der sinnliche Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (der sinnliche Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des Menschen) Maximen einräumte. Doch diese Lesart scheint von vorneherein überhaupt keinen Sinn zu ergeben, weil der sinnliche Wille als Glied der Sinnenwelt den Naturgesetzen unterliegt und daher negativ wie positiv unfrei ist. Der sinnliche Wille ist das Zentrum der Volitionen, die von Neigungen bestimmt sind; von ihm geht das Material des Bösen aus. Will man das Verhalten zu diesem Material – also die ›Nachsicht‹, die gegenüber den Neigungen ausgeübt wird – als Akt der Freiheit verstehen, kann diese Nachsicht nicht vom sinnlichen Willen ausgehen, weil dieser per definitionem unfrei ist. Ad 2) Der intelligible Wille trägt die Nachsicht. In dieser Lesart muss [2f] folgendermaßen rekonstruiert werden: (2fiia) Der Mensch schreibt dem intelligiblen Willen die Nachsicht zu, die er (dieser intelligible Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (dieser intelligible Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des intelligiblen Willen) Maximen einräumte. oder: (2fiib) Der Mensch schreibt dem intelligiblen Willen die Nachsicht zu, die er (dieser intelligible Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (dieser intelligible Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des Menschen) Maximen einräumte.

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Prima facie scheint nur diese Lesart überhaupt Aussicht auf Erfolg haben zu können; denn wenn man böse Handlungen als freie Handlungen verstehen will, dann muss ihre Quelle in der Verstandeswelt lokalisiert werden, in der allein es Freiheit gibt. Doch widerspricht diese Lesart (in beiden Varianten) allem, was Kant in diesem Absatz über das Verhältnis dieses Willens zu den Neigungen sagt – Kant sagt in [1a] ausdrücklich, dass der intelligible Wille die Begierden und Neigungen nicht verantwortet. Eine solche Interpretation widerspräche auch zahlreichen anderen Stellen aus GMS III, in denen Kant diesen Willen thematisiert. Erinnern wir uns an den oben schon skizzierten »Bösewicht« (IV, 454.21) aus der Sek. 4. Von ihm sagt Kant, dass er sich »mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, […] in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetz[t], als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit« (IV, 454.30; Hervorhebung D. S.). Der Bösewicht ist sich, so Kant, »eines guten Willens bewußt […], der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt, nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht« (IV, 455.4). Und weiter: »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als ein Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (IV, 455.7). Der intelligible Wille selbst kann also jene Nachsicht nicht tragen; denn dieser Wille als Glied der intelligiblen Welt und eigentliches Selbst will ja das Gute, es ist sein Gesetz, sein ›eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt‹ – wieso sollte er als solcher Nachsicht gegenüber den Neigungen zeigen? Man könnte erwidern, dass Kant sehr wohl noch weiß, was er in [1a] oder auch in [2b] und [2f] über die Unabhängigkeit der Vernunft und des Willens von Neigungen gesagt hat; und dass er gerade deshalb in [2f] ja auch mit einem ›wohl aber‹ beginnt: Dem intelligiblen Willen können zwar nicht die Neigungen zugeschrieben werden, das heißt, der intelligible Wille will nichts, was im Streben der Neigungen liegt, ›wohl aber‹ kann ihm die ›Nachsicht‹ zugeschrieben werden. Doch wie müssen wir uns diesen Akt der Nachsicht denken? Wer genau vollzieht ihn? Darauf gibt Kant überhaupt keine Antwort, und vor dem Hintergrund seiner Analytizitätsthese ist auch nicht zu erkennen, wie die Antwort ausfallen könnte. Zwar könnte man argumentieren, dass der negative Aspekt der Freiheit in einem Akt der Nachsicht insofern erhalten bleibt, als die Neigungen selbst nicht zum intelligiblen Willen gehören, und die grundsätzliche Unabhängigkeit von solchen Neigungen dadurch unbeschadet bleibt, dass Nachsicht geübt wird. Doch spätestens beim positiven Aspekt der Freiheit bräche (2fiia) zusammen: Denn Freiheit ist ja nicht gesetzlos, sondern eine »Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen« (IV, 446.20); Freiheit ist für Kant auf keinen Fall einfach nur unbestimmte, zufällige Wahlfreiheit. Aber was wäre dann das Gesetz, auf dessen Grundlage die Nachsicht ausgeübt würde? Eine dritte Interpretationsmöglichkeit besteht darin, dass der Mensch die Nachsicht trägt und daher auch die moralische Verantwortung:

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(2fiii) Der Mensch schreibt sich die Nachsicht zu, die er gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine Maximen einräumte. Das scheint mir, unter einer Voraussetzung, sachlich zunächst die beste Interpretation von [2f] zu sein, auch wenn sie sprachlich das »wohl aber« zu Beginn von [2f] nicht erklären kann. Fragt man nämlich, worauf das »seine« (IV, 458.4) sich bezieht, dann fragt man, wessen Maximen dem besagten Einfluss der Neigungen unterliegen: Ist von den Maximen des Menschen die Rede oder von den Maximen des Willens? Nun können zwar Maximen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen, so dass ein objektives Prinzip (das moralische Gesetz) zugleich ein subjektives Prinzip sein kann. Aber – und das wäre jene Voraussetzung – man könnte vielleicht argumentieren, dass der intelligible Wille als solcher keine Maximen hat, sondern nur Gesetze; erst recht, so könnte man nach dem eben Gesagten feststellen, hat er keine Maximen, die irgendwie durch Neigungen beeinflusst wären. Solche Maximen hat nur der Mensch als Glied der Verstandes- und der Sinnenwelt. Nun spricht Kant auch wiederholt davon, dass der Mensch Glied der Verstandeswelt und der Sinnenwelt ist. Aber wir erfahren in der GMS nichts, und zwar überhaupt nichts dazu, wie genau dieses Verhältnis zu denken ist, wenn es um die Möglichkeit des Bösen geht. Der entscheidende Gedanke soll darin bestehen, »daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch als notwendig vereinigt in demselben Subjekt gedacht werden müssen« (IV, 456.18). Aber Kant sagt fast nichts dazu, wie genau wir uns diese ›Vereinigung‹ denken sollen.15 Wie oben schon bemerkt, findet man, wenn ich recht sehe, zumindest in den einschlägigen Kommentaren zur GMS zu unserer Stelle fast gar nichts: So wird sie von (beziehungsweise in) Horn / Mieth / Scarano 2007; Horn / Schönecker 2006; Ross 1954; Steigleder 2002; Sedgwick 2008 sowie Wolff 1973 gar nicht kommentiert und von Paton 1962 und Timmermann 2007 so gut wie gar nicht; außerdem scheint sich Timmermann der Problematik der Bezüge nicht bewusst zu sein, wenn er paraphrasiert »that man […] has a will that lets nothing stick to it […] that merely belongs to his inclinations« (Timmermann 2007, S. 147; Hervorhebung D. S.). Kaulbach 1988 (159 f.) geht kurz auf die Stelle ein, problematisiert sie aber kaum. Prauss 1983 diskutiert die Stelle mehrmals (20; 34 f.; 57 u. 121), aber nicht im Detail (obwohl das darin zum Ausdruck kommende sachliche Problem für ihn zentral

Eine Analyse des für diese Thematik ebenfalls maßgeblichen § 3 der Tugendlehre würde zeigen, dass das Problem der GMS auch in diesem Spätwerk noch virulent ist. Vgl. Schönecker 2010. 15

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ist). Auch Allison 1990 geht trotz der offenkundigen Bedeutung der Stelle für seine »Incorporation thesis« nicht auf sie ein.16 Letztlich lässt sich das ganze Problem des Bösen in der GMS auf die Schwierigkeit zurückführen, dass Kant den Menschen sowohl als Glied der Verstandeswelt als auch als Glied der Sinnenwelt versteht; dass er den freien Willen des Menschen als Glied der Verstandeswelt und seinen bösen Willen als Glied der Sinnenwelt begreift; dass er aber niemals auch nur zu erklären versucht, wie das Verhältnis dieser beiden ›Willen‹ zueinander und ihr jeweiliges Verhältnis zur ganzen Person zu verstehen ist. Natürlich ist der Mensch für Kant nur eine Person. Aber er bedient sich des Unterschiedes zwischen Verstandeswelt und Sinnenwelt auf eine Weise, die eine ontologische Differenz zwischen diesen ›Welten‹ einbringt, die mit der transzendental-epistemologischen Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung nichts mehr zu tun hat. Sollte aber die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung tatsächlich eine epistemologische sein (was sie, glaube ich, im ursprünglichen Kontext der Kritik der reinen Vernunft auch ist), dann kann sie nicht mehr leisten, was sie leisten soll, nämlich die Zuordnung von Autonomie zur Verstandeswelt und von Heteronomie zur Sinnenwelt. Wie wir gesehen haben, schreibt Kant dort, wo er den Begriff der Heteronomie einführt, dass in heteronomen Handlungen der Wille ›sich nicht selbst‹ bestimmt, sondern die Neigungen den Willen bestimmen. Doch wer lässt dies zu? Wer übt die ›Nachsicht‹ aus? Darauf hat Kant keine Antwort, oder jedenfalls keine Antwort, die irgendwie überzeugend oder auch nur kohärent wäre.

Literaturverzeichnis Allison, Henry E.: Kant’s Theory of Freedom. Cambridge 1990. Beck, Lewis W.: Immanuel Kant. Foundations of the Metaphysics of Moral and What is Enlightenment? Übers. und mit einer Einleitung von L. W. Beck. Indianapolis 1959. Damschen, Gregor / Schönecker, Dieter: Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch. Berlin 2012. Gregor, Mary: Groundwork of the Metaphysics of Morals. – In: The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant (Practical Philosophy). Cambridge 1996. Gregor, Mary / Timmermann, Jens: Groundwork of the Metaphysics of Morals. A German-English Edition. Hg. und übersetzt von M. Gregor / J. Timmermann. Cambridge 2011. Guyer, Paul: Problems with freedom: Kant’s Argument in Groundwork III and its Subsequent Emendations. – In: J. Timmermann (Hg.): Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Cambridge 2009, 176–202. Ich kann hier nicht diskutieren, wie sich das Problem zu Allisons »Incorporation thesis« (Allison 1990) verhält; die zentrale Stelle dafür ist die Religionsschrift (VI, 23 f.). 16

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Horn, Christoph / Schönecker, Dieter (Hg.): Groundwork for the Metaphysics of Morals. Berlin 2006. Horn, Christoph / Mieth, Corinna / Scarano, Nico: Kommentar zu: Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt/M. 2007, 105–313. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit einer Einleitung hg. von B. Kraft / D. Schönecker. Hamburg 1999. Kaulbach, Friedrich: Immanuel Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Interpretation und Kommentar. Darmstadt 1988. Paton, Herbert J.: Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie. Berlin 1962. Ross, William D.: Kant’s Ethical Theory. A Commentary on the ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Oxford 1954. Schönecker, Dieter: Die ›Art von Zirkel‹ im dritten Abschnitt von Kants ›Grundlegung‹. – In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie XXII (1997), 189–202. –: Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg, München 1999. –: Textvergessenheit in der Philosophiehistorie. – In: D. Schönecker / T. Zwenger (Hg.): Kant verstehen / Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte. Darmstadt 22004, 159–181. –: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie. Unter Mitarbeit von S. Buchenau / D. Hogan. Berlin 2005. –: The Transition from Common Rational to Philosophical Rational Moral Knowledge in the Groundwork. – In: K. Ameriks / O. Höffe (Hg.): Kant’s Moral and Legal Philosophy. Cambridge 2009, 93–122. –: Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre §§ 1–3). – In: H. Busche / A. Schmitt (Hg.): Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Würzburg 2010, 235–260. –: ›A free will and a will under moral laws are the same‹. Kant’s Concept of Autonomy and his Thesis of Analyticity in Groundwork III. – In: O. Sensen (Hg.): Kant’s Conception of Autonomy. Cambridge 2012, 225–245. Schönecker, Dieter / Wood, Allen W.: Immanuel Kant: ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Ein einführender Kommentar. Paderborn 42011. Sedgwick, Sally: Kant’s Groundwork of Metaphysics of Morals. An Introduction. Cambridge 2008. Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft. Stuttgart, Weimar 2002. Timmermann, Jens: Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Commentary. Cambridge 2007. Wolff, Robert P.: The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s ›Groundwork of the Metaphysic of Morals‹. New York 1973. Wood, Allen W.: Immanuel Kant: ›Groundwork of the Metaphysics of Morals‹. Hg. und übers. von A. W. Wood. New Haven, London 2002.

Ist »Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit«? Das Ding an sich als Grund der Erscheinung bei Kant

Andree Hahmann

Als Übergang der Logik des Wesens in die Logik des Begriffs deduziert Hegel aus der Kategorie der Wechselwirkung Freiheit als die »Wahrheit der Notwendigkeit«1 und den Begriff als die »Wahrheit der Substanz«2. Die vorausgehende Deduktion von Substanz, Kausalität und Wechselwirkung ist – schon dank der Unterordnung der Kategorien der Relation unter die der Modalität – nicht einfache Erinnerung an die drei Analogien der Erfahrung in Kants Kritik der reinen Vernunft. Sie ist vielmehr der Abschluss von Hegels aufnehmend-aufhebender Verarbeitung von Kants Kategorien und System der Grundsätze des reinen Verstandes, die schon in der Logik des Seins beginnt.3 Aber das kann und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Im Folgenden soll Hegels These zuerst in freier Übertragung auf Kant angewendet und gezeigt werden, wie man damit vielleicht die Vereinbarkeit von Naturkausalität und transzendentaler Freiheit einsichtig machen kann. Auch das wird nicht einfach sein, da es uns zu zwei Aspekten der kantischen Philosophie führt, die seit ehedem auf viel Widerstand und Unverständnis bei den Interpreten gestoßen sind: das kantische Ding an sich und das Faktum der Vernunft.4 Beides liegt in einem gewissen Sinn im Zentrum der kantischen Philosophie. So ist etwa die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung nicht nur eine direkte Folge der Subjektivierung von Raum und Zeit als transzendentalen Formen der Anschauung, sondern kann zugleich als Schlüssel zur Auflösung der dritten Antinomie gelten, womit nach Kants eigener Auskunft eine der Hauptfragen der Kritik der reinen Vernunft beantwortet wird (B XXVII–XXXV). Nicht weniger problematisch erscheint

Hegel: Wissenschaft der Logik, 246. Ebd. 3 Ebd., 249; Enzyklopädie, §158: »Diese Wahrheit der Nothwendigkeit ist somit die Freiheit«. 4 Wenn im Folgenden vom Faktum der Vernunft oder von der Faktum-Lehre die Rede ist, beziehe ich mich auf die von Kant in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft behauptete »That« (V, 3) der Vernunft, wodurch die Objektivität des praktischen Gesetzes als apodiktisch gewisses Vernunftfaktum erwiesen wird. Das Faktum ist also das Bewusstsein des Grundgesetzes der Moralität und dieses Bewusstsein ist zugleich das einzige Faktum der reinen Vernunft, »die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt« (V, 31; siehe auch die Anmerkung zu § 7, V, 32 f. sowie die Vorrede V, 3 f.). 1 2

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die Einführung der Faktum-Lehre in der Kritik der praktischen Vernunft und die damit verbundene Neubestimmung von spekulativer und praktischer Erkenntnis (V, 5 f.). Das hat wiederum direkte Auswirkungen auf das kantische Verständnis von Metaphysik. Denn mit der Faktum-Lehre hat Kant endgültig die »consequente Denkungsart« über jede Form der vorkritischen Metaphysik gestellt und damit den nach-kantischen idealistischen Systemen den Weg geebnet.5 Der Übergang zu den nach-kantischen Systemen kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen konzentriere ich mich darauf darzulegen, wie das Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung verstanden werden muss, um die Auflösung der dritten Antinomie zumindest unter exegetischen Aspekten plausibel werden zu lassen.6 Zwei Dinge gilt es im Hinblick auf diese Fragestellung zu beachten: Zum einen sage ich ›exegetisch‹, da ich nicht beabsichtige, die kantische Theorie der Freiheit für ein common-sense-Verständnis akzeptabel zu machen. Mir liegt vielmehr daran, die kantischen Ausführungen – in ihrer ganzen Härte – einer kohärenten Interpretation zuzuführen, und zwar ohne eine große Anzahl von kantischen Behauptungen dezidiert außer Acht lassen zu müssen. Zum anderen lehne ich die sogenannte epistemologische Deutung der kritischen Philosophie ab. Unter einer epistemologischen Deutung der Kritik der reinen Vernunft verstehe ich nicht nur die von den Neukantianern entwickelte und von Strawson in bewusster Ablehnung der ontologischen Deutung ausdifferenzierte Interpretation der kritischen Philosophie als Erkenntnistheorie.7 Darüber hinaus soll mit ›epistemologische Deutung‹ jeder Interpretationsansatz bezeichnet werden, der behauptet, dass die Gegenstände als solche von sich aus irgendeine Beschaffenheit über die bloße raumzeitliche Bestimmung hinaus aufweisen, die es wiederum ermöglichen könnte, die Gegenstände unabhängig von der Tätigkeit des Verstandes als Gegenstände zu begreifen. Entscheidend für meine Interpretation ist die mehrmals von Kant hervorgehobene Voraussetzung, dass die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Gegenstände der Erfahrung ist.8 5

Zur »consequenten« und noch »nicht-consequenten« Denkungsart bei Kant siehe Ludwig

2010. Ob die kantische Theorie damit auch für die moderne Debatte attraktiv ist, kann und soll hier nicht entschieden werden. Eine Diskussion der kantischen Theorie ausgehend von Erfordernissen, die eine unter heutigen Gesichtspunkten systematisch stichhaltige Position erfüllen muss, bietet in diesem Sammelband Rosefeldt. Siehe auch Ertl 2010. 7 Siehe zum Unterschied zwischen der strawsonschen und der heideggerschen Interpretation der Kritik der reinen Vernunft die gute Darstellung bei Wunsch 2007, 18–83. 8 A 111: »Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«; sowie A 158 / B 197. Wie ist das zu verstehen? Erscheinungen sind als solche in Raum und Zeit, weshalb sie auch den sinnlichen Formen der Anschauung gemäß bestimmt sind. Damit sie allerdings auch als Gegenstände gedacht werden können, müssen sie durch die Kategorien in ihrer Gegenständlichkeit bestimmt werden. Dies kann wiederum nur in einer einheitlichen, notwendigen Erfahrung geschehen. 6

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Ich werde so vorgehen, dass ich zunächst die kantische Konzeption des Dings an sich thematisiere.9 Dann widme ich mich der Auflösung der dritten Antinomie und der dort behaupteten Kausalität der Dinge an sich. Im Anschluss thematisiere ich die kantische Lehre des Vernunftfaktums. Schließlich wird dargetan, in welchem Verhältnis Ding an sich und Faktum stehen. Wir werden sehen, wie das Faktum der Vernunft unsere Erkenntnis in praktischer Hinsicht über den Bereich des Sinnlichen hinaus erweitert und auf diese Weise den Weg zu einer kritischen Metaphysik ebnet.

1. Das Noumenon im negativen Verstand In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft führt Kant das Ding an sich mit dem lapidaren Hinweis ein, dass es etwas geben müsse, was da erscheint, wenn man von einer Erscheinung spricht. Das, was dort erscheint, ist das Ding an sich. Das wirft mehrere Fragen auf. Zunächst wäre nach der Erscheinung als solcher zu fragen: Was versteht Kant unter einer Erscheinung und wieso muss es etwas geben, was erscheint? Dann natürlich die Frage nach dem Ding an sich: Was ist ein Ding an sich und was können wir von diesem Ding wissen? Erscheinung ist für Kant alles, was den subjektiven Formen der Anschauung gemäß ist, das heißt alles, was in Raum und Zeit ist, das heißt auch alles, was überhaupt nur ein Objekt der Erfahrung und folglich ein Objekt der spekulativen Erkenntnis sein kann.10 Bemerkenswert ist, dass auch die innere Erfahrung nur Erscheinungen zum Gegenstand hat. Ich bin mir meiner selbst also bloß als Erschei-

Die notwendigen Bedingungen dieser einheitlichen, allgemeinen und notwendigen Erfahrung werden von Kant in den Grundsätzen des reinen Verstandes herausgestellt. Folglich gelten für alle Gegenstände, die in Raum und Zeit als den Formen der Sinnlichkeit gegeben sind und als solche Gegenstände auch gedacht und mithin erkannt werden können, die Grundsätze des reinen Verstandes. Deshalb sind auch die zweite und dritte Analogie der Erfahrung als Grund der Gegenständlichkeit des Gegenstandes selbst ohne Einschränkung auf alle Gegenstände der Erfahrung, das heißt alle Gegenstände der Sinnenwelt, vorauszusetzen. Siehe hierzu die ausgezeichnete Darstellung Heideggers in seinem zweiten Kantbuch: Die Frage nach dem Ding. Wie die Bestimmung des Gegenstandes insbesondere anhand der Substanzkategorie zu verstehen ist, habe ich im Detail nachgewiesen: Hahmann 2010a. 9 Die unterschiedlichen Ansätze zur Deutung des Verhältnisses von Ding an sich und Erscheinung können leider nicht behandelt werden. An anderer Stelle habe ich mich ausführlich mit der Kant-Literatur auseinandergesetzt: Siehe Hahmann 2010b. Einen guten Überblick bieten auch Rosefeldt 2007 und Ameriks 1992. 10 Kant unterscheidet zwischen bloßer Erscheinung (so etwa B 34: »Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung«) und der Erscheinung als dem empirischen Ding an sich; siehe hierzu Prauss 1974, 45. Letztere müssen aber unbedingt von dem eigentlichen Ding an sich unterschieden werden.

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nung bewusst. Damit ist klar, dass die Konzeption der Erscheinung direkt aus der transzendentalen Ästhetik folgt, weshalb Kant das Ding an sich als einen Schluss aus der Subjektivierung von Raum und Zeit behandelt (A 30 / B 45). Außerdem folgt daraus, dass eine Erscheinung als solche keine inneren Bestimmungen haben kann. Denn in Raum und Zeit kann es nichts geben, was über schlechthin innere Bestimmungen verfügen könnte. Stattdessen handelt es sich bei dem, was erscheint, um einen »Inbegriff von lauter Relationen« (A 265 / B 321). Da innere Bestimmungen aber für eine echte Selbstständigkeit beziehungsweise für Substantialität notwendig sind, können Erscheinungen auch keine Substanzen im strengen Sinn des Wortes sein.11 In Raum und Zeit gibt es folglich nichts, was eine unabhängige Existenz haben könnte und damit auch kein Ding an sich selbst. Aus diesem negativen Begriff eines Dings an sich folgt sogleich eine wesentliche Funktion, die Kant diesem Begriff zuspricht, und zwar soll der Begriff des Dings an sich als eines reinen Verstandesdings die Grenze zwischen Sinnen- und Verstandeswelt markieren.12 Was versteht Kant unter einem Verstandesding? Die Beantwortung dieser Frage macht einen kurzen Blick in die sogenannte Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis notwendig.13 1770 unterscheidet Kant zwischen einer Verstandes- und einer Sinnenerkenntnis und hält die Erkenntnis der Verstandeswelt noch für möglich. In der Kritik der reinen Vernunft dagegen sind Sinnlichkeit und Verstand zwar immer noch Erkenntnisquellen sui generis, aber nicht mehr unabhängig voneinander. Vielmehr sollen sie, soweit es die theoretische Erkenntnis betrifft, notwendig aufeinander angewiesen sein. Daher kann es auch keine spekulative Erkenntnis der noumenalen Welt mehr geben. Für Kant steht fest, »daß die reinen Verstandesbegriffe niemals von transzendentalem, sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauche sein können, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur in Beziehung auf die allgemeinen Bedingungen einer möglichen Erfahrung, auf Gegenstände der Sinne, niemals aber auf Dinge überhaupt […] bezogen werden können« (A 246 / B 303). Kant unterstreicht stattdessen, dass »Verstand und Sinnlichkeit […] bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen« (A 258 / B 314) können. Entsprechend un-

Die Bedeutung der inneren Bestimmung für die Frage nach dem Ding an sich hat Langton in ihrem Buch thematisiert. Leider geht sie über die entscheidenden Unterschiede zwischen vorkritischer und kritischer Philosophie hinweg: Langton 1998. Eine überzeugende Erwiderung auf Langton findet sich bei Ameriks 2003; siehe auch Hahmann 2009c, 196–200. 12 In dieser Bedeutung, das heißt als Grenzbegriff der Erfahrung, haben beispielsweise die Marburger Neukantianer das Ding an sich verstanden. Siehe Cohen 1871. Zuletzt hat Bojanowski 2006 diese Position eingenommen. 13 Hier soll nur angemerkt werden, dass es nicht unumstritten ist, die Inauguraldissertation zur vorkritischen Philosophie zu rechnen. 11

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terscheidet er zwischen zwei Bedeutungen, in denen man von Noumena sprechen kann. Der ersten Bedeutung nach sind darunter Dinge zu verstehen, die Objekte einer nicht-sinnlichen Anschauung sind. Bei einem solchen hätte man es mit einem Noumenon in positiver Bedeutung zu tun. Dies ist aber, wie gezeigt, grundsätzlich ausgeschlossen. Versteht man indes unter Noumenon nur ein Ding, »insofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren; so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande« (B 307). Ein Noumenon im negativen Verstand ist streng genommen überhaupt kein Ding, da die erkenntnistaugliche Anwendung der Kategorien auf den Bereich der Erscheinungen eingeschränkt ist. Aus diesem Grund kann es sich bei den Noumena im negativen Verstand auch nicht um einzelne Dinge oder Objekte handeln. Dennoch wird das Noumenon im negativen Verstand von Kant nicht bloß zugelassen, sondern übernimmt, wie wir sogleich sehen werden, auch eine außerordentlich wichtige Funktion in der zweiten Abteilung der transzendentalen Logik, der transzendentalen Dialektik. Zuvor gilt es aber noch zu beachten, dass Kant auch dann, wenn er die Noumena im positiven Verstand zurückweist, die Möglichkeit von Verstandeswesen überhaupt dezidiert offen lässt, »aber unsere Verstandesbegriffe, als bloße Gedankenformen für unsere sinnliche Anschauung, reichen nicht im mindesten auf diese hinaus« (B 309; siehe auch A 256 / B 312). Wie sieht die Funktion der Noumena im negativen Verstand aus? Durch die Noumena im negativen Verstand soll die Sinnlichkeit auf die Erscheinungen eingeschränkt und damit verhindert werden, dass der Erkenntnisanspruch auf die Dinge an sich selbst erweitert wird. Das Noumenon setzt also der Sinnlichkeit Schranken, das heißt, der Verstand wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern dieser grenzt stattdessen die Sinnlichkeit ein. »Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.« (A 255 / B 310 f.) Wie wichtig diese Funktion ist, wird sich im Folgenden zeigen, wenn Kant in den Antinomien der reinen Vernunft die Erkenntnisansprüche der Vertreter der Antithesis in der dritten Antinomie, die sich in ihren Erkenntnisansprüchen über die Grenzen der Sinnlichkeit und damit der Erscheinungswelt hinwegsetzen, zurechtweist. Außerordentlich bedeutsam ist die Einsicht, dass die Verstandeswelt der Sinnlichkeit, das heißt das Ding an sich der Erscheinung zugrunde liegt, weshalb – zumindest in dieser Hinsicht, also in der für die Auflösung der Antinomien wichtigen Funktion – der Verstand die »Anmaßung der Sinnlichkeit«14, nicht aber die Sinnlichkeit den Verstand einschränkt.15

Wenn hier von einer Anmaßung der Sinnlichkeit die Rede ist, so hat Kant natürlich die Vertreter der Antithesis im Blick, die alles zu Natur machen und daher das Übernatürliche zurückweisen. 15 Was natürlich nicht bedeutet, dass sich der Verstand in seinem spekulativen Erkenntnisanspruch nicht auf die Grenzen der Sinnlichkeit beschränken muss. 14

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2. Eine Kausalität der Dinge an sich In der Auflösung der dritten Antinomie will Kant zeigen, dass sowohl die Thesis, nach der eine Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht die einzige ist, »aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können« (A 444 / B 472), als auch die Antithesis, wonach alles in der Welt lediglich nach Gesetzen der Natur geschieht, für einen je ausgewiesenen Bereich als gültig zu erweisen sind. Man muss jedoch beachten, dass beide nicht in der von ihren Vertretern formulierten Form, sondern nur in einem kritisch revidierten Sinn von Kant aufrecht erhalten werden. Im Folgenden sollen daher auch nicht die von Kant in den einzelnen Antinomien angeführten Beweise diskutiert werden, sondern das Ergebnis der transzendentalen Ästhetik und Analytik der Kritik der reinen Vernunft.16 Was bleibt von der Thesis? Unter einer Ursächlichkeit nach Gesetzen der Natur versteht Kant die »Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt« (A 532 / B 560), worauf ein anderer Zustand mit Notwendigkeit nach einer Regel folgt. Jeder sinnlich erfahrbare Zustand hat als solcher eine zeitlich vorhergehende Ursache. Im Bereich der Erscheinungen ist daher keine Ursache ausfindig zu machen, die nicht selbst wiederum durch eine andere Ursache notwendig gemacht worden wäre. Diese Annahme schließt Freiheit, verstanden als absolute Spontaneität, das heißt ein Vermögen, spontan eine Veränderung hervorzubringen, offensichtlich aus. Es kann im Bereich der Sinnlichkeit keine Freiheit von der Nötigung durch zeitlich vorausgehende Ursachen geben.17 Das ist durch den Beweis der zweiten und dritten Analogie der Erfahrung grundsätzlich ausgeschlossen, andernfalls wäre die Einheit der Erfahrung aufgehoben (A 199 / B 244; A 189 / B 232; B 234 ff.). Doch das ist nicht Kants letztes Wort in dieser Sache. Denn wir sollen gleichfalls über ein Vermögen verfügen, uns unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe selbst zu bestimmen. Wie das? Angenommen, wir sind als Sinnenwesen Teil der Erscheinungswelt und als solcher genauso wie alle anderen Erscheinungen durch Bewegungsursachen determiZu einer detaillierten Analyse der Struktur und der Auflösung der Antinomien siehe Hahmann (im Erscheinen). 17 Aus diesem Grund behauptet Kant (A 549 f. / B 577 f.): »Weil dieser empirische Charakter selbst aus den Erscheinungen als Wirkungen und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß: so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters giebt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen«. 16

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niert, das heißt durch Ursachen, die dem Grundsatz der Kausalität entsprechend an die Ordnung der Zeit gebunden sind und ihre Wirkung notwendig in der Zeit hervorrufen (A 534 / B 562). Hierbei ist es egal, ob ich den inneren oder den äußeren Sinn in Betracht ziehe. So macht Kant den Menschen in der Kritik der praktischen Vernunft gar zu einem automaton spirituale (vgl. V, 97). Darüber hinaus sind wir nun aber unter Voraussetzung der transzendentalen Ästhetik berechtigt, uns zumindest als ein Ding an sich zu denken, insofern die transzendentale Ästhetik die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung durch die Subjektivierung von Raum und Zeit einführt. Ein Ding an sich ist als solches nicht den Gesetzen der Erscheinungswelt unterworfen: Das Ding an sich ist aus den Gesetzen der Erscheinungswelt ausgenommen und daher frei von den Gesetzen der Erscheinungswelt. Wir haben im vorausgehenden Abschnitt gesehen, dass dies das Noumenon im negativen Verstand ist, welches »nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist« (B 307). Auf diese Weise wird der Erkenntnisanspruch der Antithesis auf den Bereich der Erscheinungen eingeschränkt. Gewonnen wird somit ein negativer Begriff von Freiheit; eine Freiheit also, die in der Abwesenheit von zeitlicher Bestimmung besteht. Soweit so gut, doch geht Kant in der Auflösung der dritten Antinomie einen entscheidenden Schritt weiter, indem er dem Menschen als Ding an sich auch eine nicht-zeitliche Kausalität zuspricht, und zwar eine Kausalität aus Freiheit (A 534 / B 562; A 553 / B 581). Bevor wir allerdings klären können, was unter dieser Kausalität aus Freiheit zu verstehen ist und wie sich diese zur Naturkausalität verhält, gilt es, noch einen anderen Punkt in Erinnerung zu rufen. Wir haben gesehen, dass auch dann, wenn das Ding an sich nur als Noumenon im negativen Verstand gedacht werden kann, für Kant dennoch feststeht, dass den Erscheinungen – als Sinnenwesen – Verstandeswesen korrespondieren (B 308 f.). Nur bleiben diese der spekulativen Erkenntnis grundsätzlich verborgen. Denken wir uns selbst nun als ein Verstandeswesen, dann denken wir uns einer Verstandeswelt zugehörig, dem mundus intelligibilis. Als Verstandeswelt hat diese einen ontologisch primären Status, da Kant den letzten Grund der sinnlichen Welt und damit auch den letzten Grund der Gesetze der sinnlichen Welt in der Verstandeswelt sieht.18

Vgl. V, 344; 345. V, 196: »Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben, aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urtheilskraft verschafft durch ihr Princip a priori der Beurtheilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derselben ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen. Die Vernunft aber giebt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urtheilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich.«; V, 255: »[…] den Begriff der Natur auf ein übersinnliches Substrat (welches ihr und zugleich unserm Vermögen zu denken zum Grunde liegt) führen […].«; V, 422: »Die 18

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Noch einmal: Der letzte Grund der zeitlichen Kausalität selbst ist in der Verstandeswelt zu suchen. Die Verstandeswelt liegt also der sinnlichen Welt zugrunde und die Notwendigkeit der Erscheinungswelt gründet auf einem Ding an sich.19 Damit wird noch nichts über die Beschaffenheit eben dieses Dings an sich gesagt, genauso wenig wie über die genaue Art der Begründung der Erscheinungswelt in Möglichkeit einer solchen Vereinigung zweier ganz verschiedener Arten von Causalität, der Natur in ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit mit einer Idee, welche jene auf eine besondere Form einschränkt, wozu sie für sich gar keinen Grund enthält, begreift unsere Vernunft nicht; sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur, wovon wir nichts bejahend bestimmen können, als daß es das Wesen an sich sei, von welchem wir bloß die Erscheinung kennen. Aber das Princip: alles, was wir als zu dieser Natur (Phaenomenon) gehörig und als Product derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken zu müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft: weil ohne diese Art von Causalität organisirte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturproducte sein würden.«; VIII, 207: »Aber daß diese objective Gründe, nämlich die Dinge an sich, nicht im Raume und der Zeit zu suchen sind, sondern in demjenigen, was die Kritik das außer- oder übersinnliche Substrat derselben (Noumenon) nennt, das war meine Behauptung, von der Herr Eberhard das Gegentheil beweisen wollte, aber niemals, auch hier nicht im Schlußresultate mit der rechten Sprache heraus will.«; IV, 453 f.:»Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen.«; IV, 345 f.: »Ich sage aber: das Naturgesetz bleibt, es mag nun das vernünftige Wesen aus Vernunft, mithin durch Freiheit Ursache der Wirkungen der Sinnenwelt sein, oder es mag diese auch nicht aus Vernunftgründen bestimmen. Denn ist das erste, so geschieht die Handlung nach Maximen, deren Wirkung in der Erscheinung jederzeit beständigen Gesetzen gemäß sein wird; […] Aber im ersten Falle ist Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze und ist also frei […].«; A 538 f. / B 566 f.: »Denn da diesen, weil sie an sich keine Dinge sind, ein transscendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transscendentalen Gegenstande außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Causalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird.«; A 545 / B 573: »Denn wenn wir nur in dem, was unter den Erscheinungen die Ursache sein mag, der Naturregel folgen: so können wir darüber unbekümmert sein, was in dem transscendentalen Subject, welches uns empirisch unbekannt ist, für ein Grund von diesen Erscheinungen und deren Zusammenhange gedacht werde. Dieser intelligibele Grund ficht gar nicht die empirischen Fragen an, sondern betrifft etwa bloß das Denken im reinen Verstande […].« (Hervorhebungen A. H.); vgl. Watkins 2005, 333ff; sowie Wood 1984, 74 ff. Die Probleme, die sich daraus für den kantischen Freiheitsbegriff ergeben, diskutiert Lau 2008. Lau legt seiner ansonsten sehr guten Interpretation leider eine methodologische Version der Zwei-Aspekte-Theorie zugrunde. 19 Siehe Anm. 14.

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dieser anderen Welt. Ich möchte erneut unterstreichen, dass Kant an keiner Stelle irgendeine Form der theoretischen bzw. spekulativen Erkenntnis eben dieses Dings an sich oder, wie es in der Kritik der Urteilskraft heißt, des übersinnlichen Substrats der Erscheinungswelt erlaubt (vgl. V, 196). Wir können also zumindest in theoretischer Hinsicht nicht sagen, ob es sich um ein Ding oder viele handelt, ob es Substanz ist oder nicht. Die Unterscheidung in Ding an sich und Erscheinung ermöglicht es folglich nicht nur, die Geltung der Gesetze der Sinnlichkeit einzuschränken, um einen denknotwendigen Bereich für Freiheit zu eröffnen, vielmehr gründet die durch unseren Verstand gestiftete Notwendigkeit der Erscheinungswelt in dem, was den Erscheinungen als übersinnliches Substrat zugrunde liegt: dem Ding an sich, und zwar in seiner besonderen Ursächlichkeit. Hat Kant nicht versichert, dass die Kategorie die Kausalität nur in ihrer schematisierten, das heißt verzeitlichten Form, angewendet werden kann? Haben wir nicht gesehen, dass die Dinge an sich aus dem Bereich der Erscheinungen und damit auch aus dem durch die Zeit als Form der inneren Anschauung bestimmten Bereich ausgeschlossen sind? Diesen Einwänden möchte ich zwei Überlegungen entgegenstellen. Zunächst will ich daran erinnern, dass für Kant im Gegensatz zu modernen Interpreten auch andere Formen von Kausalität – als die durch die schematisierte Kategorie der Kausalität gestiftete – zumindest denkbar sind.20 Das wird jedem Interpreten, der sich mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts beschäftigt hat, unmittelbar einleuchten.21 Dass Kant selbst hier an eine andere Form von Kausalität denkt, deutet er in der Kritik der reinen Vernunft damit an, dass er im Zusammenhang mit dem Ding an sich von einer Kausalität aus Freiheit spricht. Ferner will ich daran erinnern, dass Kant mit diesem Vorgehen weit davon entfernt ist, die Kategorie der Kausalität über den ihr zugestandenen Bereich hinaus anzuwenden, um auf diese Weise die Kausalität der Dinge an sich zu bestimmen. Ganz im Gegenteil wird dadurch, dass wir die Dinge an sich denken müssen, um überhaupt sinnvoll von Erscheinungen sprechen zu können, ein Platz geschaffen, an dem die schematisierte Kategorie der Kausalität eben keine Geltung beanspruchen kann (A 536 f. / B 564 f.). Was ist aber unter der sogenannten Kausalität aus Freiheit zu verstehen, wenn damit keine Bewegungsursächlichkeit gemeint sein kann? Jeder Ursache kommt

Wichtig ist an dieser Stelle, zwischen der bloßen Kategorie und der Kategorie unter ihrem sinnlichen Schema zu unterscheiden. Nur letztere kann überhaupt in einer möglichen Erfahrung aufgrund der Gleichartigkeit mit der inneren Anschauung angewendet werden. Die schematisierte Kategorie ist daher allein in theoretischer Hinsicht erkenntnistauglich. Zugleich ist sie wegen ihres Anschauungsbezugs nicht auf die Dinge an sich applizierbar. 21 Ich habe an anderen Stellen dafür argumentiert, die Form der Kausalität in Anlehnung an Kants vorkritische Position als eine besondere Form einer prästabilierten Harmonie zu begreifen. Siehe Hahmann 2009a; sowie 2010b. 20

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Kant zufolge ein bestimmter Charakter zu, das heißt ein Gesetz. Auf uns selbst angewendet bedeutet es, dass wir einen empirischen Charakter haben, der unsere Handlungen als Erscheinungen bestimmt, indem er diese nach beständigen Naturgesetzen mit anderen Erscheinungen in einen notwendigen Zusammenhang bringt. Als Ding an sich gedacht kann man sich einen intelligiblen Charakter zuschreiben, der selbst wiederum unter keiner sinnlichen Bedingung steht, auch wenn seine Wirkungen in der Sinnlichkeit anzutreffen sind.22 Damit steht der intelligible Charakter nicht unter der Bedingung der Zeit und ist folglich auch kein Gegenstand unserer Erkenntnis. Zugleich ist der intelligible Charakter aus dem Bereich ausgeschlossen, der durch die schematisierte Kategorie der Kausalität bestimmt und nur auf diese Weise theoretisch erkennbar wird (A 539–541 / B 567–569). Von besonderer Bedeutung ist für Kant an dieser Stelle der Unterschied zwischen den Menschen als vernünftigen Akteuren und der leblosen Natur beziehungsweise den Tieren. So ist bei den Tieren kein Grund auszumachen, etwas anderes als ein bloß sinnlich Bedingtes zu denken: »Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft; vornehmlich wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicher Weise von allen empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht.« (A 546 f. / B 574 f.)23 In der menschlichen Vernunft ist also die Quelle der Kausalität aus Freiheit zu verorten. Was die Tiere von uns Menschen als vernünftigen Akteuren unterscheidet, ist, dass wir uns in unserem Handeln Imperativen unterworfen sehen, »welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt« (A 547 / B 575). In der Natur gibt es kein

A 539 / B 567: »Man könnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen«. 23 Aufgrund der menschlichen Vernunftfähigkeit nimmt Kant hier – und auch noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – für den Menschen in Anspruch, sich durch »bloße Apperzeption« erkennen zu können. Dass dies in der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr gilt und auch nicht gelten darf, hat Ludwig überzeugend nachgewiesen (Ludwig 2010). Zu einer ausführlichen Diskussion der systematischen Funktion, die diese Behauptung in der Argumentation der Grundlegung einnimmt, vgl. Ludwig 2008, insbesondere 438 ff. 22

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Sollen. Seinen Grund hat das Sollen hingegen in einem bloßen Begriff. Gründe in der Natur sind keine Begriffe, sondern immer nur weitere Erscheinungen (A 547– 549 / B 575–578). Es handelt sich also um eine ganz andere Art von Gründen, die von dem, was ist, auf etwas anderes verweisen, was sein soll. Wir haben es folglich nicht mit natürlichen Gründen zu tun. In diesem Sinn verortet Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Quelle der Kausalität aus Freiheit in einem intelligiblen Vermögen, welches deshalb nicht den Bedingungen der Zeit unterworfen ist.24 In der Konzeption einer Kausalität aus Freiheit kommt demnach eine intelligible Ursache zum Vorschein, die selbst zwar keine Erscheinung ist und auch nicht sein kann, deren Wirkung aber sehr wohl erfahrbar und daher im Bereich der Erscheinungen anzusetzen ist.25 Intelligibel ist diese Ursache, da es sich bei der Kausalität aus Freiheit nicht um die angewendete Kategorie der Kausalität unter ihrem sinnlichen Schema handeln kann, weil das Schema an die Zeit gebunden ist. Das Ding an sich ist jedoch, wie wir gesehen haben, nicht in Raum und Zeit. Die in einem Ding an sich gegründeten Erscheinungen stehen hingegen in einem durchgängigen wechselseitigen Kausalverhältnis, wie Kant in der dritten Analogie der Erfahrung ausführt. In negativer Hinsicht ist die Kausalität aus Freiheit damit als die Abwesenheit der sinnlichen Bedingungen zu verstehen, insoweit Wirk- oder Bewegungsursächlichkeit notwendig an die Bedingung der Zeit gebunden ist (A 533 f. / B 561 f.). Kann die Kategorie der Kausalität aber in ihrer nicht-schematisierten Form eine positive Bedeutung haben? Welche Freiheit kann man sich zuschreiben, wenn das Handeln durch zeitlich vorausgehende Ursachen determiniert ist? Was nützt es, sich zugleich von einem anderen Standpunkt aus betrachtet als frei zu denken?

3. Die Freiheit der Dinge an sich Bevor wir zur Frage nach der positiven Bestimmung der Kausalität des Dings an sich kommen, soll der Fokus auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ding an sich und Erscheinung gelegt werden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich vor allem infolge der Arbeiten von Prauss und Allison die Deutung durchgesetzt, das Verhältnis zwischen Ding an sich und Erscheinung als eine methodologische Differenzierung zu begreifen, die als Zwei-Aspekte-Theorie bekannt geworden ist.26

Als wesentliche Merkmale der Kausalität aus Freiheit können daher gelten, dass sie erstens nicht zeitlich ist, zweitens intelligible Gründe der Vernunft ausdrückt und drittens ihr eigentlicher Charakter im Sollen liegt. Schließlich wird die Kausalität aus Freiheit von Kant sogar mit dem Wesen der praktischen Vernunft selbst identifiziert. Zur Identifikation von Kausalität aus Freiheit mit Finalursächlichkeit vgl. Guyer 2005, 301. 25 Zu einer detaillierten Diskussion dieses Punktes siehe Hahmann 2010b; vgl. auch Rosefeldt 2007, 201. 26 Vgl. Prauss 1974; Allison 2004. Allison wie Prauss haben infolge der geäußerten Kritik 24

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Demnach soll es sich bei dem kantischen Ding an sich lediglich um die Kurzform von ›Ding an sich selbst betrachtet‹ handeln. Das Ding an sich wäre die Betrachtungsweise desselben Dinges, welches in Raum und Zeit als Erscheinung durch die Kategorien bestimmt wird, dann aber unter Abstraktion von Raum und Zeit gedacht wird. Neben der auch von Prauss bemerkten Tatsache, dass Kant an unzähligen Stellen behauptet, dass wir von dem Ding an sich affiziert werden und dieses zudem als Ursache unserer Vorstellungen gelten muss (A 494 / B 522; A 544 / B 572; A 358; A 359; A 393; IV, 289; 315; 344; 345 f.; 347; 354; IV, 459), verspricht diese Unterscheidung jedoch nur geringen bis überhaupt keinen Nutzen für das hier behandelte Problem: Denn welchen Sinn sollte es haben, Freiheit bloß darauf zu gründen, dass man von den beiden Formen der Anschauung, Raum und Zeit, abstrahiert und sich folglich nur als Ding an sich, das heißt unter Absehung der räumlich-zeitlichen Bestimmungen, betrachtet? Oder wie Van Cleve fragt: Bin ich barfuß, wenn man davon absieht, dass ich Schuhe trage?27 Diese Position kann aber den von Kant selbst formulierten Anforderungen an transzendentale Freiheit nicht gerecht werden, sodass man wohl kaum davon ausgehen darf, darin die kantische Überzeugung wiederzufinden.28 Ist eine kohärente Interpretation zumindest denkbar, die es erlaubt, den Menschen zugleich als determiniert und als frei anzusehen? Ich denke ja. Hierzu fasse ich noch einmal die bis hierhin herausgearbeiteten Punkte zusammen. So hat Kant bereits in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hervorgehoben, dass den Erscheinungen als Erscheinungen etwas zugrunde liegen muss, was da erscheint, nämlich das Ding an sich (B XXVI–VII). Das Ding an sich affiziert uns und erzeugt die Vorstellung der Ausdehnung in uns. Da unsere Erkenntniskraft notwendig auf den Bereich möglicher Erfahrungen eingeschränkt ist, das heißt, die Applizierbarkeit der Kategorien auf das in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltige angewiesen bleibt, können wir zu keiner Erkenntnis über die Quelle dieser Vorstellungen selbst kommen. Die nur mit dem Denken fassbare Quelle der Erscheinungen wird von Kant an anderer Stelle29 auch Verstandeswelt genannt. In dieser Verstandeswelt soll Kant zufolge der letzte Grund der Sinnenwelt liegen. Folglich nehmen die Dinge an sich einen ontologisch primären Status gegenüber der durch unseren Verstand gestifteten Gesetzmäßigkeit der sinnlich erfassbaren Welt ein. Dieser letzte Punkt, der durch die Zwei-Aspekte-Theorie verdeckt wird, ist von ungemeiner Bedeutung. Aus diesem Grund wird auch erkennbar, warum eine methodologische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung nicht hinihre ursprünglichen Positionen modifiziert und weiterentwickelt. Siehe Ameriks 1992; Robinson 1994; Guyer 1987. 27 Vgl. Van Cleve 1999, 421. 28 Zur Untauglichkeit dieser Position, mit der Determinismusproblematik umzugehen, vgl. Irwin 1984, 31–56, insbesondere 38; sowie Van Cleve 1999. 29 Vgl. Anm. 18.

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reichend für ein adäquates Verständnis der Auflösung der dritten Antinomie sein kann. Der menschliche Wille als solcher gehört nach Kant zur Verstandeswelt und ist infolgedessen nicht den Gesetzen der sinnlichen Welt, sondern den Gesetzen der Vernunft, also – wie ich später zeigen werde – dem Sittengesetz, unterworfen (IV, 453 f.). Andererseits muss es als eine notwendige Erfahrungsbedingung gelten, dass alles, was geschieht, durch zeitlich vorausgehende Ursachen bestimmt ist. Die Kritik der reinen Vernunft hat Raum für die Denkbarkeit von Freiheit geschaffen, und zwar nur aufgrund der Voraussetzung der transzendentalen Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Bloß aufgrund dieser Voraussetzung besteht nach Kant kein wirklicher Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit, wie er wohl bestehen müsste, wenn es sich nicht um einen transzendentalen Idealismus, sondern um einen Realismus handeln würde. Für Kant steht hingegen fest, dass Freiheit und Notwendigkeit Bestand haben, und zwar beide in vollem Umfang.30 Diese Möglichkeit ist ausschließlich durch die transzendentale Unterscheidung zwischen Verstandes- und Sinnenwelt ausgewiesen. Ungeachtet der Freiheit der vernünftigen Wesen oder, wie Kant später sagen wird, ihrer Autonomie, lässt er keine Einschränkung des Determinismus gelten. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass die Handlungen derselben vernünftigen Wesen noch vor ihrer Geburt durch zeitlich vorausgehende Ursachen notwendig determiniert und damit potenziell auch vorhersehbar sind. Gleichwohl behauptet Kant, »daß kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen angetroffen werde« (IV, 456). Zur Erklärung dieser kantischen Behauptung ist die methodologische Zwei-Aspekte-Theorie augenscheinlich unbrauchbar. Auch wenn manche Formulierungen daher nahelegen, es käme Kant nur auf die Betrachtungsweise an, so kann damit doch nicht der Kern der Sache getroffen sein. Stattdessen müssen wir einräumen, dass Kant die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung genau so meint, wie er an zahlreichen Stellen versichert: Das Ding an sich gründet die Erscheinung, das heißt, die Gesetze der Sinnenwelt sind in den Gesetzen der Verstandeswelt gegründet.31 Ich komme nun zu den Gesetzen dieser Verstandeswelt. Denn wie auch immer die Kausalität beschaffen ist, mit der das Ding an sich die Erscheinungen gründet, wird theoretisch niemals in Erfahrung zu bringen sein. Doch gibt es neben der theoretischen auch eine praktische Form der Erkenntnis. Denn im Faktum der Vernunft sieht Kant das Mittel, mit dessen Hilfe er die Vernunft, die zuvor in ihrem Gebrauch auf die Sinnlichkeit und damit die Grenzen der Erfahrung eingeschränkt worden Kant kann in diesem Sinne nicht als Kompatibilist verstanden werden, da Kompatibilisten die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus behaupten und zwar häufig, indem sie den Begriff der Freiheit einschränken. Die kantische Freiheit hingegen ist nicht mit dem Determinismus zu vereinbaren, da sie negativ betrachtet als Freiheit von der Notwendigkeit der Bestimmung durch zeitlich vorhergehende Ursachen aufzufassen ist. 31 Siehe Anm. 18. 30

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ist, in praktischer Hinsicht über diese Grenzen hinaus auszudehnen vermag. Wie ist dieser übersinnliche Gebrauch der Vernunft zu verstehen?

4. Das Faktum der Vernunft Schon in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft macht Kant unmissverständlich deutlich, dass alles »Vernünfteln« nun zu Ende ist. Wenn reine Vernunft praktisch wird, dann beweist sie das durch die Tat (V, 3). Die Wirklichkeit der Freiheit offenbart sich auf diese Weise durch das moralische Gesetz. Entgegen seinem Vorgehen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten32 insistiert Kant nun darauf, dass man das »Bewusstsein dieses Grundgesetzes« nicht aus dem »Bewusstsein der Freiheit […] herausvernünfteln kann« (V, 31). Das Bewusstsein des Sittengesetzes gibt hingegen Anlass dazu, den umgekehrten Weg einzuschlagen und die Realität der Freiheit aus dem Faktum der Vernunft zu erschließen.33 Wie das? Der Gebrauch der Kategorien ist, wie gezeigt, in theoretischer Hinsicht notwendig auf die Sinnlichkeit angewiesen und daher auch auf die Erscheinungen eingeschränkt. In Hinblick auf die Objekte der reinen praktischen Vernunft gilt diese Einschränkung jedoch nicht. Mit dem Faktum der Vernunft ist nun ein besonderer Fall gegeben, der beweist, dass reine Vernunft selbst praktisch sein kann. Diese Tatsache ermöglicht es grundsätzlich, den Kategorien eine andere als bloß empirisch ausgewiesene Realität zu verschaffen. Auf diese Weise bestätigt das Faktum der Vernunft den übersinnlichen Gegenstand der Kategorie der Kausalität, und zwar die Freiheit: »Dagegen eröffnet sich nun eine vorher kaum zu erwartende und sehr befriedigende Bestätigung der consequenten Denkungsart der speculativen Kritik darin, daß, da diese die Gegenstände der Erfahrung als solche und darunter selbst unser eigenes Subject nur für Erscheinungen gelten zu lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge an sich selbst zum Grunde zu legen, also nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leer an Inhalt zu halten einschärfte: praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was, dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt.« (V, 6; Hervorhebung A. H.)

Was in der Grundlegung deduziert werden soll und welche Funktion die Deduktion im Beweisgang der dritten Sektion der Grundlegung einnimmt, hat Ludwig 2008 gezeigt. 33 Vgl. V, 29: »Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille«. Zum Verhältnis der zitierten Passage zum Beweisprogramm der Grundlegung vgl. Ludwig 2008, 434 ff., insbesondere 436, Anm. 6. 32

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Was also in der Kritik der reinen Vernunft, und zwar in der Auflösung der dritten Antinomie, als denkbare Möglichkeit herausgestellt wurde, findet mittels des Faktums der Vernunft seine Bestätigung: die Freiheit.34 Damit ist die Kritik an der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturmechanismus als null und nichtig erwiesen. Zugleich ergibt sich daraus eine Bestätigung des transzendentalen Idealismus, nämlich insofern als damit die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung notwendig einhergeht. Das Faktum der Vernunft sichert nicht nur die Anwendung der Kategorien auf das Noumenon in praktischer Hinsicht, sondern bedeutet auch, dass man sich selbst als Ding an sich zu denken hat. »Denn so lange man sich noch keinen bestimmten Begriff von Freiheit und Sittlichkeit machte, konnte man nicht errathen, was man einerseits der vorgeblichen Erscheinung als Noumenon zugrunde legen wolle, andererseits, ob es überall auch möglich sei, sich noch von ihm einen Begriff zu machen, wenn man vorher alle Begriffe des reinen Verstandes im theoretischen Gebrauche schon ausschließungsweise den bloßen Erscheinungen gewidmet hätte.« (V, 6) Das Faktum ist das Bewusstsein des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft (V, 31), was aus nichts anderem »herausvernünftelt« werden kann. Mit diesem Gesetz ist ein synthetischer Satz a priori und zugleich das einzige Faktum der reinen Vernunft gegeben, »die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt« (V, 31). Die »Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen« (V, 35) soll Kant zufolge so deutlich und unüberhörbar sein, dass sie für jeden vernehmbar ist und die Philosophen mit ihren »Vernünfteleien« letztlich keinen Einfluss auf die Gesinnung der Menschen gewinnen können. Durch das Faktum beweist die reine Vernunft, dass sie praktisch sein und den Willen zur Tat bestimmen kann. Das Faktum ist aber mit dem Bewusstsein der Freiheit unzertrennlich verbunden.35 So kommt es, dass wir uns unserer selbst, obwohl doch den Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen, zugleich auch als zu einer anderen, intelligiblen Ordnung gehörig bewusst werden (V, 42). Auch wenn uns der Zugang zur noumenalen Welt auf theoretischem Weg versperrt geblieben ist, so zeigt sich nun, dass das moralische Gesetz als Faktum der reinen Vernunft nicht nur einen begrifflichen Hinweis auf die noumenale Welt gibt, wie er uns im Begriff der Erscheinung gegeben ist, sondern »diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt« (V, 43). Die übersinnliche Natur ist sogar nichts anderes als »eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft« (V, 43). Das Gesetz der Autonomie ist das moralische Gesetz, dessen wir uns als Faktum der reinen Vernunft bewusst

Was Kant noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durch eine Deduktion nachzuweisen suchte, wird jetzt als »Vernünftelei« verworfen und durch das Faktum der praktischen Vernunft selbst ersetzt. 35 Zum Verhältnis von Faktum und Freiheit siehe Ludwig 2010. 34

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sind. Damit ist klar, dass uns durch das Faktum ein Gesetz des mundus intelligibilis zu Bewusstsein gebracht wird.36 Die Tür zur intelligiblen Welt hat Kant ab 1781 in theoretischer Hinsicht zugeschlagen – wenn man die Kritik der reinen Vernunft konsequent durchdenkt und nicht, wie Kant selbst allem Anschein nach noch bis 1787, davon ausgeht, man könne Freiheit theoretisch beweisen – und das, obwohl er selbst noch 1770 in seiner Inauguraldissertation der festen Überzeugung war, dass die noumenale Welt notwendig durch reine Vernunftbegriffe zu erkennen ist, da nur so das Unbedingte in der Reihe der Bedingungen gegeben sein kann. Dieselbe Tür wird von Kant aber nicht bloß einen Spalt geöffnet, der es gestatten würde, sich selbst von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten, vielmehr stößt die Kritik der praktischen Vernunft diese in vollem Umfang auf, jedoch nicht in theoretischer Hinsicht, sondern lediglich in praktischer. Das erklärt, warum die Verstandeswelt nun wieder als die »urbildliche (natura archetypa)« (V, 43) Welt auftaucht, deren Nachbildung die Sinnenwelt sein soll. So geben wir selbst der übersinnlichen Natur in praktischer Hinsicht objektive Realität, da unser Wille dort zur Ursache seiner Objekte wird. Die Gesetze der intelligiblen Welt sind nur unter Voraussetzung der Freiheit des Willens möglich, unter dieser Voraussetzung zugleich aber auch notwendig. Und es zeigt sich, dass der leere Platz, den die theoretische Vernunft für das Unbedingte in der Reihe der Bedingungen freigelassen hat, durch reine praktische Vernunft ausgefüllt wird.37

5. Ergebnis Ich fasse zusammen: Wie können Freiheit und Notwendigkeit nebeneinander und im vollen Umfang in derselben Handlung bestehen? Wenn die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung ernst genommen, das heißt so verstanden wird, wie Kant selbst an vielen Stellen versichert, und nicht so, wie manche Interpreten es gerne sehen würden, sagt Kant das Folgende: Die Naturnotwendigkeit ist die Folge der eindeutigen zeitlichen Bestimmtheit und gilt damit ausschließlich für den Bereich der Erscheinungen. Freiheit bedeutet zunächst Befreiung von dieser Naturnotwendigkeit. Diese Art von Freiheit – die auch als der negative Begriff der Freiheit bezeichnet wird – ist denkmöglich, sobald der

In der Terminologie der Kritik der Urteilskraft allerdings nur des übersinnlichen Substrats in uns, das übersinnliche Substrat außer uns bleibt grundsätzlich unerkennbar (siehe Anm. 18). 37 Wie es nun mit der Freiheit des Willens im Reich des Intelligiblen bestellt ist, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden und würde den gebotenen Rahmen der Untersuchung sprengen. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass die Freiheit des Willens von derjenigen der Willkür zu unterscheiden ist. Siehe dazu und zur Frage nach der Zurechenbarkeit Bojanowski 2007, insbesondere 218–228. 36

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transzendentale Idealismus in Rechnung gestellt wird.38 Damit ist der Begriff der Freiheit aber noch nicht positiv bestimmt. Dazu ist es erforderlich, die Kategorien in ihrem Gebrauch über den Bereich der Sinnlichkeit hinaus zu erweitern. Das ist in theoretischer Hinsicht ausgeschlossen. Dass es in einer anderen, und zwar praktischen Hinsicht möglich ist, wird durch das Faktum der Vernunft gewährleistet. Die Erweiterung der Kategorien in praktischer Hinsicht erlaubt es folglich, im Feld des Übersinnlichen Besitz zu nehmen, indem wir aufgrund der durch das Faktum ausgewiesenen Realität des Freiheitsbegriffs praktisch dogmatisch zu verfahren berechtigt sind (XX, 311; 307 f.). Die Dinge an sich gründen die Erscheinungen, das heißt – und darauf weist Kant mit Nachdruck hin –, sie gründen auch die Gesetze der Erscheinungswelt.39 Die »consequente Denkungsart« (V, 6)40 führt also letztlich dahin, dass die Naturnotwendigkeit im Bereich der Erscheinungen in der Freiheit gegründet liegt, da ein Gesetz der intelligiblen Welt die Freiheit selbst ist.41 Konzentriert sich die Betrachtung aber auf den durch die Applikation der Kategorie der Kausalität selbst erzeugten Mechanismus in der Erscheinungswelt, so wird der abgeleitete Charakter dieser Welt übersehen. Als »natura archetypa« (V, 43) kann hingegen ausschließlich die intelligible Welt, das heißt das Reich der Freiheit, gelten. Und genau diesen Punkt möchte ich Hegel paraphrasierend so verstehen, dass die Wahrheit der Notwendigkeit die Freiheit ist, da die Notwendigkeit der Erscheinungswelt in der Freiheit des Begriffs begründet liegt und somit in dieser enthaltend-aufgehoben42 wird.

Neben diesem von mir dargelegten negativen Begriff von Freiheit finden sich bei Kant noch weitere negative Freiheitsbegriffe. Siehe etwa die Bestimmung der Willkür in der Metaphysik der Sitten: »Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben« (VI, 213). Siehe auch die »Freiheit als Menschenrecht« (VI, 237). 39 Siehe Anm. 18. 40 Ludwig 2010 hat die einzelnen Stationen der Entwicklung der kantischen Moralphilosophie bis 1788 herausgearbeitet. 41 Der dogmatische Vertreter der Thesis der dritten Antinomie schlägt in der Anmerkung zum Beweis ein genau umgekehrtes Verfahren vor, und zwar soll nicht von der Freiheit des vernünftigen Akteurs auf die Realität der intelligiblen Welt geschlossen werden, sondern die Notwendigkeit einer ersten Ursache erlaubt es, auch innerhalb der Welt Freiheit als Erstursächlichkeit vorauszusetzen: »Nun haben wir diese Notwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Erscheinungen aus Freiheit, zwar nur eigentlich insofern dargetan, als zur Begreiflichkeit eines ersten Ursprungs der Welt erforderlich ist, indessen daß man alle nachfolgenden Zustände für eine Abfolge nach bloßen Naturgesetzen nehmen kann. Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln.« (A 448, 450 / B 476, 478). 42 Mit dieser Formulierung möchte ich den Umstand ausdrücken, dass die vorausgehenden Momente der Entwicklung bei Hegel nicht in dem Sinne aufgehoben werden, dass sie 38

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Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 17861 Bernd Ludwig »Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen.« (XX, 335)

Die nahe liegende Frage nach Kants Gründen für seine – durchaus nicht unaufwändige – Neufassung der Paralogismen in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wird seit langem erörtert, ohne dass bislang eine schlüssige Antwort gefunden wäre. Es dürfte nicht zuletzt dem Fehlen einer solchen Antwort geschuldet sein, dass zahlreiche Autoren noch bis in die jüngste Zeit hinein die Fassungen von 1781 und 1787 letztendlich wie zwei unterschiedliche Darstellungen einer einzigen Doktrin behandeln: In postumen Ausgaben dankenswerterweise bereits synchron präsentiert, verschmelzen beide Fassungen so zu einem einzigen, zeitlosen Text, aus dem man sich einerseits beliebig bedienen kann, von dem man andererseits nun aber auch eine konsistente Gesamtinterpretation vorlegen muss, wenn man über das schreibt, was man dann kurzerhand als ›Kants Paralogismen‹ (oder ›the Paralogisms‹) bezeichnet. So heißt es zum Beispiel noch 2009 bei Arthur Melnick: »In discussing the Paralogisms, I focus on the A edition text and use the B edition for clarification and support« (29). Ein solches, im prägnanten Wortsinne idiosynkratisches Vorgehen setzt sich offenkundig darüber hinweg, dass Kant 1787 große Teile des 1781 veröffentlichten Paralogismus-Hauptstücks durch einen völlig neuen Text ersetzt – und damit wieder aus dem Verkehr gezogen2 – hat. Sollte es nun Dieser Beitrag löst eine Ankündigung ein, die Auswirkung von Kants Revision seiner Freiheitslehre auf die »Verbesserungen« in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft herauszuarbeiten (Ludwig 2010, S. 596), um damit die Bedeutung der Revisionsthese für ein angemessenes Verständnis auch und gerade der theoretischen Philosophie Kants zu demonstrieren. Die hierfür sachlich eigentlich gebotene gemeinsame Behandlung von Paralogismen und Deduktion würde allerdings den Rahmen eines Aufsatzes vollends sprengen; die Ausführungen zur Deduktion müssen daher an anderer Stelle erscheinen. – Ich danke C. Beyer für Aufklärungen über aktuelle Intentionalitätsdebatten und Einsicht in ein Manuskript, R. Langthaler für den Hinweis auf die hilfreiche Natorp-Stelle, sowie insbesondere W. Carl, H. Klemme und M. Willaschek für jene Einwände im Vorfeld, die mich zu größerer Klarheit zwangen. 2 Eine »Vergleichung mit der ersten Auflage« sei, so Kant, allenfalls angeraten, um ge1

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tatsächlich der Fall sein, dass Kant die erste Kritik allein um einer besseren Fasslichkeit willen überarbeitet hat (so B XXXVII ff.), dann wäre erwähntes Vorgehen möglicherweise kunstgerecht, wobei allerdings Kants Hinweis, die Erstauflage habe selbst »scharfsinnige Männer« zu »Missdeutungen« veranlasst, hier zur Vorsicht mahnt: Schließlich entscheidet Kants selbstsichere Beteuerung, es sei ausschließlich die Darstellung verbesserungsbedürftig und -fähig gewesen, zunächst einmal noch gar nichts, denn sie muss nicht unbedingt auch eine angemessene Beschreibung des Ergebnisses der Überarbeitung darstellen. Hatten Kants »Verbesserungen« wider Erwarten nun doch inhaltliche Korrekturen im Gefolge, so stellte man sich durch die arglose, synchrone Benutzung der Texte von 1781 und 1787 ohne jede Not und auf eigene Rechnung ein inkonsistentes Textkorpus zusammen – welches dann (mit Kants Göttinger Zeitgenossen G. C. Lichtenberg gesprochen) nur noch dazu taugt, um endlos darüber zu disputieren. Die neuere Diskussion über mögliche inhaltliche Unterschiede der beiden Fassungen hatte Lüder Gäbe 1954 mit seiner Marburger Dissertation Die Paralogismen der reinen Vernunft in der ersten und zweiten Auflage von Kants Kritik angestoßen und dabei versucht herauszuarbeiten, dass Kant im Wesentlichen von einer ›Systemkritik‹ in der ersten zu einer ›Verfahrenskritik‹ in der zweiten Auflage wechselt. Die Gründe dafür bleiben bei Gäbe aber letztlich im Dunkeln. 1993 konnte RolfPeter Horstmann dann einen wichtigen sachlichen Unterschied zwischen beiden Versionen aufzeigen, den er in Gestalt von zwei möglichen Deutungen der Paralogismen-Kritik vorstellte: »Die erste (1) könnte man die ›gegenstandsbezogene‹ Deutung nennen; sie geht dahin, daß die Seele deshalb nicht erkannt werden kann, weil alles, was wir von ihr wissen können, uns keine Einsicht in das erlaubt, was ihr als Gegenstand an Merkmalen zugeschrieben werden kann, obwohl es einen Gegenstand ›Seele‹, ein ›Seelending‹ geben mag. Die zweite (2) mag unter dem Terminus ›handlungsbezogene‹ Deutung durchgehen können; sie geht dahin, daß die Seele deshalb unerkennbar sei, weil sie in gar keiner Weise als Objekt […] gedacht werden kann, sondern vielmehr als Akt, als Handlung betrachtet werden muß, was bedeutet, daß sich die Frage der Erkennbarkeit der Seele als eines Objektes gar nicht vernünftig stellen läßt. Beide Interpretationen, so ist nun zu zeigen, haben Kant attrahiert, und es ist die erste, die Kants Überlegungen in der Ausgabe A leitet, während die zweite die Ausführungen Kants in der Ausgabe B dominieren.« (Horstmann 1993, 416)

gebenenfalls den »kleine[n] Verlust« dessen zu kompensieren, was fortgefallen ist, weil es »nicht wesentlich zur Vollständigkeit des Ganzen gehört, [was] mancher Leser aber doch ungern missen möchte, indem es sonst in anderer Absicht brauchbar sein kann« (B XLII). – In die Kant-Zitate sind hier und im Folgenden ohne erneuten Hinweis Kursivierungen zur Heraushebung der für die jeweilige Argumentation bedeutsamen Phrasen eingefügt, Zusätze beziehungsweise Auslassungen sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

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Ich werde diese – durchaus nicht unkontroverse – horstmannsche Diagnose im Folgenden wieder aufgreifen,3 da sie (wie sich zeigen wird) die Differenz der beiden Fassungen tatsächlich bereits auf den für Kants Verwerfung der ersten Konzeption entscheidenden Punkt bringt. Horstmann selbst bleibt allerdings eine Erklärung für Kants Wechsel der Konzeption schuldig, ja, er mag sich nicht einmal darauf festlegen, dass die spätere Version auch die vorzugswürdige ist: »Welche der beiden Konzeptionen man im Rahmen des Kantischen Unternehmens für tragfähiger hält, hängt daher letztlich davon ab, auf welchen Kant man seine philosophischen Hoffnungen setzt: auf den Kant des Paralogismus-Kapitels der A-Auflage, der die rationalistische Tradition in der Metaphysik zerstören will, ohne mit ihr zu brechen, oder den Kant des gleichen Kapitels in der B-Auflage, der den in dynamischen Prozessen denkenden idealistischen Nachkantianern den Weg bereitet hat, ohne ihn selbst gehen zu wollen.« (Ebd., 425) Es wird sich erweisen, dass Kant die erste Version verwerfen musste, weil es ihm 1781 einfach nicht gelungen war, ›die rationalistische Tradition der Metaphysik zu zerstören, ohne mit ihr zu brechen‹, und dass er in der Schrift von 1787 in einem entscheidenden Punkt mit ihr brechen musste, weil ihm im Frühjahr 1786 deutlich gemacht wurde, dass erst durch einen solchen Bruch eine »consequente Denkungsart der speculativen Critik« (V, 6; vgl. XXIII, 42) und damit auch erstmals eine kritische Freiheitslehre möglich wird.

I. Versichern wir uns zunächst der Tatsache, dass Kant 1781, in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, bei seiner Kritik der rationalen Psychologie ohne jeden Vorbehalt an der schulphilosophischen Überzeugung festhält, dass wir uns »als denkend Wesen« (A 348) notwendig als Substanz denken, als mögliches Objekt, als eine Art intelligibles »Seelending« (Horstmann). Das behauptet Kant freilich bereits ganz unmissverständlich am Beginn des Ersten Paralogismus:

Dabei beziehe ich mich hier allerdings primär auf den negativen Aspekt, dass die Seele 1787 ihren (im noch zu präzisierenden Sinne: metaphysischen) Objektstatus verliert und lasse die Fragen zunächst offen, ob 1) das ›Ich‹ seitdem für Kant gleichsam ohne Rest in seinem Handlungsaspekt aufgehen soll, ob 2) ein solcher Handlungsaspekt möglicherweise auch schon 1781 implicite im Spiel war, und ob 3) Kant 1781 und/oder 1787 speziell das ›Ich‹ als einen einzigartigen ›logischen Gegenstand‹ konzipiert. Vorbehalte, die sich wesentlich gegen die jeweils stärkeren unter diesen Lesarten richten (s. etwa Rosefeldt 2006, Wolff 2006 oder Chotaš 2010), werden hier somit nicht eigens erörtert. – Jüngst hat Melnick 2009 das ›Ich als Handlung‹ neu entdeckt, augenscheinlich ohne Kenntnis der einschlägigen deutschsprachigen Literatur (s. o.). 3

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»Nun ist in allem unserem Denken das Ich das Subject, dem Gedanken nur als Bestimmungen inhäriren, und dieses Ich kann nicht als die Bestimmung eines anderen Dinges gebraucht werden. Also muß jedermann sich selbst nothwendiger Weise als die Substanz, das Denken aber nur als Accidenzen seines Daseins und Bestimmungen seines Zustandes ansehen.« (A 349) Und wenig später heißt es dann sogar: »Man kann den Satz, die Seele [d. i. ›Ich, als ein denkend Wesen‹; B. L.] ist [!] Substanz gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet: dass […] er nur eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realität bezeichne.« (A 350 f.)4 Kant kritisiert im Anschluss den Paralogismus der Substanz allein mit Blick auf die Frage, ob man »aus der bloßen reinen Kategorie einer Substanz« unmittelbar auf einen »empirisch brauchbaren Begriff von einer Substanz« schließen könne (A 349, vgl. A 356). Die kategoriale Konstitution (das heißt: Substanzialität, Einfachheit und Personalität) der Seele, der Apperzeption, des Ich ist dabei unbefragter Ausgangspunkt seiner Argumentation: »Nun ist die bloße Apperception (Ich) Substanz im Begriffe, einfach im Begriffe etc., und so haben alle jene psychologische Lehrsätze ihre unstreitige Richtigkeit. Gleichwohl [!] wird dadurch doch dasjenige keinesweges von der Seele erkannt, was man eigentlich wissen will; denn alle diese Prädicate gelten gar nicht von der Anschauung und können daher auch keine Folgen haben, die auf Gegenstände der Erfahrung [d. i. in Raum und Zeit; B. L.] angewandt würden, mithin sind sie völlig leer.« (A 400) Der kritische Einwand gegen die rationale Psychologie besteht 1781 demzufolge darin, dass diese aus der berechtigten (ja, sogar »notwendigen«, s. o.) Voraussetzung, dass in jedem Gedanken das Ich, das letzte Subjekt, »als die Substanz« »bei allem Denken immer wieder vorkommt«, unberechtigterweise schließt, diese »Substanz« sei dabei immer dieselbe und somit »eine stehende und bleibende Anschauung« (A 350; vgl. A 401) – womit man dann insbesondere die Unsterblichkeitsannahme (also eine zeitbezogene Behauptung) stützen zu können glaubt. Demnach Der Kontext (»Dauer«) zeigt, dass Kant an dieser Stelle mit »Realität« in specie die empirische meint. – Gegenüber genanntem »Satz« finden wir meines Wissens bei Kant vor 1786 keinen einzigen (öffentlichen) Vorbehalt. Noch in den – im Herbst 1785 zum Druck gegebenen – Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft lesen wir: »Das Ich, das allgemeine Correlat der Apperception und selbst blos ein Gedanke, bezeichnet als ein bloßes Vorwort [lies: ›Fürwort‹; B. L.] ein Ding [!] von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subject aller Prädicate, ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjects von dem eines Etwas überhaupt unterschiede, also Substanz [!], von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begriff hat […]« (IV, 542 f.); siehe zwischenzeitlich auch etwa die Prolegomena: »[…] die Seele sich als eine einfache Substanz denken, schon so viel heißt, als sich einen Gegenstand denken (das Einfache), dergleichen den Sinnen gar nicht vorgestellt werden können« (IV, 338). 4

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steht das Wort »Substanz« in der ersten Prämisse des ersten Paralogismus (A 348) zwar für die »völlig leere«, »bloße reine Kategorie« (»die Substanz in der Idee«, s. o., oder den »nackte[n] Verstandesbegriff von Substanz« [A 401]), in der Konklusion desselben muss es jedoch für einen bestimmten, »empirisch brauchbaren Begriff« stehen (vgl. A 402 f.): Weil die Konklusion dasjenige enthalten soll, »was man eigentlich wissen will« (s. o.), wird der von Kant als »Paralogismus« bezeichnete (und prima facie ja formal korrekte) Schluss in der rationalen Psychologie in der Tat zu einem Trugschluss (s. IX, 134). Es ist mit Blick auf das Folgende wichtig, festzuhalten, dass das Fehlen einer Anschauung der Apperzeption (des Ich, der Seele) es hier also ausdrücklich nicht verbietet, eine solche »bloße [!] Apperzeption (Ich)« als Substanz, einfach &c., kurz: als einen Gegenstand aufzufassen, der dann (mangels empirischer Bestimmtheit) allerdings kein empirischer, kein sinnlicher Gegenstand sein kann: Der Fehler der rationalen Psychologie besteht vielmehr gerade darin, dass sie aus dieser »unstreitige[n]«, »bloßen reinen«, »nackte[n]« kategorialen Konstitution der »bloßen Apperzeption« ohne weiteres (d. i. insbesondere: ohne jede Anschauung) solche »Folgen« ableiten will, die auch »von der Anschauung« gelten, also für »Gegenstände der Erfahrung« irgendeine Bedeutung haben können, beziehungsweise »empirisch brauchbar« sind (A 356 und A 365). Von zentralem Interesse in dem für uns gleich wichtig werdenden Kontext der philosophischen Freiheitslehre ist nun eine Bemerkung im dritten Paralogismus der Personalität. Resümierend heißt es dort: »Indessen kann so wie der Begriff der Substanz und des Einfachen, eben so auch der Begriff der Persönlichkeit (so fern er blos transscendental ist, d. i. Einheit des Subjects, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperception ist) bleiben, und so fern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nöthig und hinreichend; aber auf ihn als Erweiterung unserer Selbsterkenntniß durch reine Vernunft, […] können wir nimmermehr Staat machen […].« (A 365) Kant macht hier deutlich, dass auch er – nicht anders als die rationale Psychologie – um gewisser »Folgen« willen an den »Prädicate[n]« Substanz, Einfachheit und Persönlichkeit für die »bloße Apperzeption« festhält – und damit auch an den »unstreitige[n]« »psychologischen Lehrsätzen« (s. o.). Allerdings sind die hier infrage stehenden »Folgen« keine empirischen: Es sind sogar überhaupt keine theoretischen, sondern ausdrücklich praktische. Was ist dann aber genau mit der Bemerkung gemeint, der mit dem »Ich denke« gegebene Begriff der Persönlichkeit könne, »wie der der Substanz und des Einfachen […] bleiben« und sei »so fern […] zum praktischen Gebrauche nöthig und hinreichend«? – Soweit ich es überblicke, ist es diese Frage, der bislang keine angemessene Aufmerksamkeit geschenkt wurde5 – weshalb der entscheidende Grund Kants 5

In einer neueren, gut informierten Paralogismen-Monographie (Zobrist 2010) gibt es

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für eine komplette Neufassung des Kernbestands des Paralogismus-Hauptstücks (und in der Konsequenz dann auch anderer Abschnitte der ersten Kritik) bislang verborgen bleiben musste. Stellt man sich allerdings diese Frage erst einmal, dann sieht man sich allein schon mangels irgendeiner textlichen Alternative zu der Annahme genötigt, dass Kant hier auf jenen Kontext vorausblickt, in dem er zum zweiten (und letzten) Mal auf eine intelligible Selbsterkenntnis durch »bloße Apperzeption« Bezug nehmen wird: In der Auflösung der Freiheitsantinomie – also in der Tat »zum practischen Gebrauche«: »Bei der leblosen oder bloß thierisch belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch […] erkennt sich selbst auch durch bloße Apperception, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft […]« (A 546 f.) Allein der Mensch erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption und ist sich selbst damit (auch) ein bloß intelligibler Gegenstand. Da man nicht ohne Not unterstellen wird, Kant wolle mit diesen beiden Formeln hier nun eine wichtige, aber gleichwohl nirgendwo wieder aufgegriffene Differenzierung markieren, wird man der Passage entnehmen dürfen, dass der Mensch ›durch die bloße Apperzeption sich selbst als bloß intelligiblen Gegenstand erkennt‹ – was auch hier dann zunächst einmal nichts anderes heißt, als dass er von sich »als denkend Wesen« »unstreitig« sagen kann, er sei Substanz, einfach und Person. Das Urteil ›Ich bin ein denkend Wesen‹ wird dabei folglich nicht mehr – wie zuvor im Paralogismus – bloß »problematisch genommen« (d. i., insofern es für jedes mögliche denkende Wesen gültig ist [s. A 347]). Vielmehr folgt hier nun (vermittels jener »psychologischen Lehrsätze«, die auch die kritische Philosophie weiterhin »gelten lassen« will) aus dem assertorischen Urteil des sich selbst reflektierenden Menschen das seinerseits assertorische und reflexive: ›Ich bin Substanz usw.‹. – Und »intelligibel mit Recht […] heißen Gegenstände, so fern sie blos durch den Verstand vorgestellt werden können und auf die keine unserer sinnlichen Anschauungen gehen kann« (IV, 316 Fn.). Fassen wir die bisherigen Befunde zusammen, dann behauptet Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: Der Mensch erkennt sich selbst durch bloße Apperzeption (also ohne sinnliche Anschauung) als einen Gegenstand eigener Art, bezeichnenderweise nicht einmal Einträge wie etwa ›Freiheit‹ oder ›praktische Philosophie‹ im Sachregister; im partiell einschlägigen Buch von Kitcher 2011 etwa vermisst man A 365 im Stellenindex, und selbst in Klemmes sonst nahezu erschöpfender Abhandlung wird die genannte Frage zwar gestreift, aber nicht weiter verfolgt (Klemme 1996, 273; vgl. auch 278 f.).

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einen intelligiblen nämlich. Diese nicht-sinnliche Selbst-Erkenntnis ist zum praktischen Gebrauch nicht nur »nöthig« sondern auch bereits »hinreichend« – und sie ist auch das Einzige, was 1781 von einer vermeintlichen »Erweiterung unserer Selbsterkenntniß durch reine Vernunft« in theoretischer Absicht, das ist von der rationalen Psychologie, noch übrig bleibt.

II. Wofür aber benötigt Kant 1781 dieses ›sich durch bloße Apperzeption als einen intelligiblen Gegenstand erkennen‹ im »praktischen Gebrauche«? Die Antwort auf diese Frage habe ich an anderer Stelle6 ausführlich dargelegt: Kant zieht dieses Lehrstück 1781 und 1785 für seine (in der Grundlegung dann so genannte) »Deduktion der Freiheit« heran, nämlich für die »Auflösung des transzendentalen Problems« der Freiheit (A 542) unter dem Titel: »Die Möglichkeit der Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit« (A 538). Spätestens seit Paul Natorps Zusammenstellung der einschlägigen Belege in der Einleitung zu seiner Edition der Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen der Akademie-Ausgabe (V, 493 ff.) liegt es offen zutage, dass Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (noch) der Auffassung ist, das Problem der transzendentalen Freiheit, der »Imputabilität« von Handlungen (A 448), sei eine Aufgabe für die »Speculation« und von ihm dementsprechend in der transzendentalen Elementarlehre dieser Schrift, genauer: in deren Dialektik, »abgethan« (A 802 f.). Abgesehen davon, dass Kant dieses wiederholt ausdrücklich behauptet (was allerdings nicht immer zur Kenntnis genommen wird),7 kommt es freilich auch indirekt –

S. o. Anm. 1. – Damit die folgenden Überlegungen eigenständig nachvollziehbar bleiben, werde ich in den nächsten Abschnitten den jeweiligen Erfordernissen entsprechend die einschlägigen Resultate der früheren Arbeit (ohne detaillierte Belege und Referenzen im Einzelnen) heranziehen und ggf. auch noch ergänzen. 7 Das dürfte bei der nicht-deutschsprachigen Leserschaft auch den verfügbaren Übersetzungen geschuldet sein. Der einschlägige Satzteil in der wichtigen – und für Zeitgenossen Kants ganz unmissverständlichen – Passage A 801 f. (sc. »[den Begriff der Freiheit in transzendentaler Bedeutung, der] selbst ein Problem für die Vernunft ist, [und den ich] hier, als oben abgethan, beiseite setze«) wird in den von mir exemplarisch konsultierten, gebräuchlichen Übersetzungen zumeist unvollständig und dadurch völlig sinnentstellend übersetzt: Die transzendentale Freiheit »[…] is itself a problem for pure reason« heißt es 1885 kurz, bündig und offenkundig auch beispielgebend bei Meiklejohn. Der Leser kann hier also erstens vermuten, Kant wolle betonen, die Frage nach der transzendentalen Freiheit sei für die (theoretische) Vernunft ein Problem, weil sie für diese möglicherweise unbeantwortbar ist (wobei es Kant hier nur darum geht, darauf hinzuweisen, dass eine Aufgabe für die Vernunft ist – anders als bei der zuvor genannten praktischen Freiheit, die sich bereits in der Erfahrung zeigt). Zwei6

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aber dabei nicht minder deutlich – darin zum Ausdruck, dass er 1) in den »Disziplinen« der Methodenlehre ausführlich erörtert, dass die spekulative Vernunft auf den Kampfplätzen der reinen Theologie und Psychologie den Streit über die »zwei [!] Kardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben«, nicht entscheiden könne (A 741 ff., 769 ff.; vgl. die »zwei [!] großen Zwecke« [A 805]), Kosmologie und transzendentale Freiheit dort jedoch nicht thematisiert; und dass Kant 2) im sich direkt anschließenden »Kanon« sodann entsprechend auch nur die transzendentalen Ideen von Gott und Unsterblichkeit auf ein praktisches Fundament stellt, das heißt, diese als Postulate des Sittengesetzes einführt (A 803). Dabei weist er dann eigens noch einmal darauf hin, dass die dritte der transzendentalen Ideen, die der Freiheit, einer solchen, praktischen Fundierung weder bedürftig noch fähig sei, weil es sich bei der Frage nach der »Imputabilität« (im Unterschied zu der im Kanon thematischen praktischen Frage nach der Möglichkeit von »Vorschriften«, d. i. von Verbindlichkeit, [ebd.]) um eine Frage allein des »speculative[n] Wissen[s]« handele, die »in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung« erfahren habe (A 804). Da Kant später im dritten Abschnitt der Grundlegung den – auch dort ausdrücklich als »speculativ« bezeichneten (s. u.) – Nachweis der »Möglichkeit« der Freiheit des Menschen unverändert aus der Kritik der reinen Vernunft übernimmt (wie wir gleich sehen werden)8, dessen einzelne Bestandteile 1785 aber deutlicher kommen-

tens wird ihm vorenthalten, dass Kant erklärt, er könne dieses Problem hier beiseite setzen, weil er es oben bereits »abgethan« hat (das bedeutet zu Kants Zeiten: vollständig abgehandelt; so auch bei Kant [s. etwa I, 82.2 und VI, 184.2]). – Kemp-Smith tilgt 1929 das redundante »pure« und fügt dann ein aufgrund der falschen Referenz nun allerdings irreführendes »[…] as has been already shown« hinzu (es wurde »oben« ja nicht etwa gezeigt, dass die Freiheit ein Problem ist, sondern es wurde dort vielmehr gezeigt, dass eine kritische Transzendentalphilosophie dieses Problem löst). Guyer/Wood ergänzen 1998 dann nur ein »rather« nach »is« und lassen – wie auch Pluhar 1997 – Kemps Ergänzung wieder weg. – Die französischen Übersetzungen von Tremesaygues/Pacaut 1922 und Renaut 1997 liegen mit »[…] qui est même ici un problème pour la raison« beziehungsweise »[…] mais constitue lui-mème un problème pour la raison« auch nicht besser. – Die italienische von Colli 1995 ist zwar von vorzüglicher Texttreue (»il concetto di libertá transcendentale […] che é esso stesso un problema della ragione], poiché di esso ho giá trattato prima«), lässt durch das unspezifische »trattato prima« (für »oben abgethan«) aber auch nicht deutlich werden, dass Kant hier behauptet, er habe das Problem der transzendentalen Freiheit, welches er in der Folge »beiseite setze«, »oben« bereits abschließend behandelt. 8 Die Innovation der Grundlegung gegenüber der ersten Auflage der ersten Kritik betrifft somit nicht etwa die Freiheitslehre selbst, sondern ausschließlich den um 1784 neu entdeckten Zusammenhang von Freiheit (Imputabilität) und Sittengesetz (Verbindlichkeit), das ist die Lehre von der Autonomie, sowie die darauf basierende Lehre von der Pflicht als möglichem (Handlungs-)Bestimmungsgrund. Diese entscheidende Differenz entgeht etwa noch Förster bei seiner Rekonstruktion der kantischen Entwicklung zwischen 1781 und 1790 (Förster 2011, 122 u. 127).

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tiert als 1781, ziehe ich hier den späteren Text kurz hinzu. Die einschlägige Parallelstelle zur oben aus A 546 zitierten Selbst-Erkenntnis durch bloße Apperzeption beginnt mit der Formel »Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen […]« und endet mit der Einsicht: »Um deswillen muss ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelligenz nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörend ansehen […]« und kann »[a]ls ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen […] die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken«. (IV, 452) Kurz zuvor hieß es bereits: »Indessen er [sc. der Mensch; B. L.] doch nothwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjects noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen und sich also […] in Ansehung dessen […], was in ihm reine Thätigkeit sein mag, (dessen, was gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewußtsein gelangt) sich zur intellectuellen Welt zählen muß, die er doch nicht weiter kennt.« (IV, 451) Was also (er)kennt der Mensch diesen Zitaten zufolge von der intelligiblen beziehungsweise »intellectuellen« Welt? Er weiß, vermittels des unmittelbaren Bewusstseins seiner selbst, dass er selbst in ihr eine nicht-sinnliche Wirklichkeit hat, »zu ihr gehört« beziehungsweise »sich zu ihr zählen muss« – doch sonst »weiter kennt« er sie nicht. Aber genau das war es, was an spekulativer Erkenntnis auch schon 1781 zum praktischen Gebrauche »nöthig und hinreichend« (s. o.) sein sollte. Der einschlägige Anschlusspunkt ist also für 1785 gefunden. Vollends deutlich wird dies, wenn wir uns der Frage zuwenden, wofür Kant dieses Lehrstück 1781 und 1785 heranzieht. Gerade hierin ist nun die Grundlegung erfreulich explizit: »Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann), sondern auch sie practisch, d. i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig.« (IV, 461; Hervorhebung von Kant) Die »Voraussetzung« der Freiheit ist bei allen Vernunftwesen zwar »practisch notwendig«9; doch damit wir deren Freiheit tatsächlich voraussetzen dürfen, bedarf es für Kant (der hierin leibnizschen Vorgaben folgt) zusätzlich10 eines »speculatiDazu A 533 f.; IV, 447 f. – die einschlägigen Argumente von 1781/85 brauchen uns an dieser Stelle noch nicht zu interessieren; s. Anm. 31. 10 Man kann in metaphysischen Angelegenheiten nicht aus der Notwendigkeit direkt auf 9

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ven« Nachweises, dass diese Freiheit auch »möglich« ist.11 Damit ist bei Kant nun freilich nicht die – unkontroverse – logische Möglichkeit gemeint, das ist die bloße Widerspruchsfreiheit des Freiheitsbegriffes selbst (und damit die bloße Denkbarkeit von Freiheit überhaupt), sondern die darüber hinausreichende reale Möglichkeit der Freiheit – und damit die Frage, ob »im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem [Begriff; B. L.] auch ein Object correspondire oder nicht« (B XXVII).12

die Möglichkeit schließen: Skeptizismus und Kritizismus entstehen (für Kant) gerade in Reaktion auf den Dogmatismus, der sich in Widersprüche verstrickt, insofern in dessen Rahmen etwa ein Weltanfang, einfache Teile, absolute Spontaneität und ein schlechthin notwendiges Wesen zwar notwendig (Antinomien, Theses) aber gleichwohl nicht möglich (dito, Antitheses) sind (vgl. XX, 288.34 f.). 11 Es ist wichtig, hierbei mit Kant den Unterschied festzuhalten zwischen dem (für die praktische Philosophie hinreichenden, s. IV, 448 Fn.) Nachweis, dass ›Freiheit (in der Idee) möglich‹ ist, und einer (theoretischen) Erklärung, wie ›Freiheit (als Vermögen) möglich‹ ist (siehe dazu A 448; IV, 456 u. ö.) – ein Unterschied, der bei der substantivierten Rede von der ›Möglichkeit der Freiheit‹ nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt. Während Kant seit 1781 behauptet, der Transzendentale Idealismus habe die erste Aufgabe gelöst, so versäumt er es nicht, dabei zu betonen, dass diese Auflösung nicht darauf angewiesen sei, dass auch die zweite, als solche eben gerade unlösbare Aufgabe, gelöst werde (ebd., vgl. auch V, 49.20 ff.). – Wenn man das beachtet (und den Text zwischen dem ersten und dem letzten Komma nicht einfach wie einen redundanten Einschub ausblendet), erschließt sich unmittelbar der Sinn der andernfalls rätselhaften Bemerkung in der Schlusspassage der Freiheitslehre: »[…] dass wir hierdurch nicht die Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen der Sinnenwelt enthalten, haben dartun wollen« (A 558). Dies ist nämlich nicht etwa ein Hinweis auf ein andernorts noch zu bearbeitendes Desiderat der Freiheitslehre (was auch den übrigen einschlägigen Äußerungen in KrV und Grundlegung geradeheraus widerspräche [s. o.]). Es ist vielmehr eine bloße Wiederholung (s. A 448) der Rechtfertigung einer kritischen Beschränkung ihres Erkenntnisanspruchs: Die Freiheit ist, wie Kant hier (vgl. auch IV, 448 Fn.) betont, »nur als transzendentale Idee« behandelt worden. Und ebendiese Beschränkung war, ist und bleibt unaufhebbar, »weil wir [a] überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität aus bloßen Begriffen die Möglichkeit [lies hier mit A 448: ›wie [!]… möglich‹; B. L.] erkennen können« (eine der zentralen Hume-Lektionen), und weil wir [b] gerade im Falle einer Kausalität aus Freiheit, im Unterschied zu einer NaturKausalität (wie etwa der Sonnenwärme beim Schmelzen von Wachs [s. dazu A 766 u. 448]), selbstredend auch nicht empirisch deren ›Wirklichkeit als verursachendes Vermögen dartun‹ können – tertium non datur. Es muss(te) für eine kritische Freiheitslehre folglich der Nachweis genügen, dass [!] es möglich (und notwendig) ist, die »Freiheit des Willens vorauszusetzen« (IV, 461, s. o.; vgl. A 448). 12 Siehe auch die Unterscheidung zwischen »unmöglich sein« (Unding, sich selbst widersprechender Begriff, nihil negativum) und »nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können« (Gedankending, nicht-widersprechende Erdichtung, ens rationis) in A 290 f.; vgl. auch A 220 f., 244; XX, 325 f.; Undinge wie Gedankendinge sind Begriffe ohne »objektive Realität«, vulgo »Hirngespinste« (etwa: A 314; IV, 327 u. ö.).

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Und dies setzt nun voraus, dass der Mensch sich selbst als Teil auch einer anderen Welt als der durchgängig bestimmten Sinnenwelt erkennen kann, denn nur dann kann er seine eigene Freiheit als absolute Spontaneität (und sich selbst somit als der Zurechnung fähig) denken, ohne damit zugleich unausweichlich in einen »Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt« (s. o.) zu geraten.13 Hierfür hat 1) der Transzendentale Idealismus als solcher (mit Rückgriff auf seine kritische Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt) im Rahmen der dritten Antinomie bereits aufgezeigt (s. A 448 f.), dass man eine absolute Spontaneität unter dem Titel einer transzendentalen Freiheit als grundsätzlich möglich annehmen kann (s. dazu den Beitrag von Heidemann in diesem Band) – und um eines angemessenen Verständnisses des Phänomens einer lückenlosen Naturkausalität willen sogar annehmen muss. Doch ohne den zusätzlichen Nachweis, dass 2) der Mensch als Vernunftwesen (im Unterschied zur gesamten »leblosen oder bloß thierisch belebten Natur« [A 546; s. o.]) auch Teil hat an jener (nicht-sinnlichen) Verstandeswelt, in der allein wir eine transzendentale Freiheit denken können, folgte daraus für die »Möglichkeit« der Freiheit speziell des Menschen selbstverständlich überhaupt nichts. Und dieser zweite geforderte Nachweis soll, wie wir bereits gesehen haben, sowohl 1781 als auch 1785 rein »speculativ«, nämlich mit Rekurs auf die »bloße Apperzeption«, gelingen. Insofern ist folglich »der Begriff der Persönlichkeit (sofern er bloß transzendental ist, d. i. Einheit des Subjects, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperception ist)« für diesen praktischen Zweck nicht nur »nöthig«, sondern auch tatsächlich »hinreichend« (A 365, s. o.): Es ist für die Würdigung des kantischen Arguments dabei wichtig, im Blick zu behalten, dass einerseits die »bloße Apperzeption (Ich)« nur eine »Substanz im Begriffe, einfach im Begriffe usw.« (A 400), also nur eine »Substanz [&c.; B. L.] in der Idee« (A 351) ist; und als einfach wird das »Subjekt der Inhärenz« auch nur »transzendental bezeichnet«, es ist also (nur)

Allein dieser drohende Widerspruch bildet (für Kant) den Kern des philosophischen Freiheitsproblems; vgl. IV, 456.12 ff.; A 448 und die 1781er Überschriften A 538 u. 542. – Die praktische (oder psychologische beziehungsweise komparative) Freiheit des Menschen hingegen, d. i. das ihm mit Verstand und Vernunft gegebene »Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden«, ist eine »zugestandene« (IV, 457) beziehungsweise eine »Erfahrungs«-Tatsache (A 802) und damit – ganz traditionell – Gegenstand der psychologia empirica (vgl. XXVIII, 269.22 ff.), welche Kant allerdings – traditionskritisch – nicht mehr zur Metaphysik, sondern zur Anthropologie gezählt wissen will (s. etwa A 848 f.). – Genauso wenig steht für Kant die Verbindlichkeit des Sittengesetzes für den Menschen jemals in Frage. Sie gilt ihm von den frühen Vorlesungen bis in die letzten Schriften (etwa XXVII, 313, 418; A 807; IV, 454.21 ff.; V, 91 f., 161 f.; VI, 400) als letztendlich unleugbare und vor allem: irreduzible Bewusstseinstatsache. Allerdings wird diesem praktischen »datum« 1787 eine – zuvor ungeahnte – freiheitsepistemologische Bedeutung zuwachsen (s. u.). 13

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ein »transzendentales Subjekt« (A 355). Da es beim spekulativen Nachweis der Möglichkeit der Freiheit des Menschen andererseits auch nur um die Freiheit »als transzendentale Idee« (A 558) beziehungsweise »in der Idee« (IV, 448 Fn.) geht, wird zu diesem »praktischen Gebrauche« zwar die »bloße Apperzeption (Ich)« als bloß intelligibler Gegenstand (als das »Ich, wie es an sich selbst beschaffen sein mag« [IV, 451]), bemüht, nicht aber (wie in der rationalen Psychologie) der fragwürdige Überschritt von einem solchen zu den Gegenständen der Erfahrung (s. A 400).

III. Der Rezensent Hermann Andreas Pistorius hat Kants »Deduktion« der Freiheit des Menschen zwar verstanden – aber sie hat ihn nicht überzeugt (wie man seiner Rezension der Grundlegung entnehmen kann): Als Kritischer Philosoph, so Pistorius, kann man nämlich grundsätzlich nicht (mehr) aus der Vernunft und/oder Apperzeption des Menschen auf dessen wie auch immer geartete Zugehörigkeit zu einer »intelligiblen Welt« (beziehungsweise »intellectuellen Welt«, »Verstandeswelt« [s. o.]) schließen. In der ersten Mai-Nummer der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1786 (die möglicherweise auch schon im April erschienen ist) schreibt er im Rahmen einer Kritik an Kants Auflösung der dritten Antinomie und mit offensichtlicher Bezugnahme auf die oben bemühte Stelle A 546: »Ich frage […], wenn das ganze Seelenwesen des Menschen, seine ganze Vorstellungskraft mit allen ihren Wirkungen für Erscheinungen muss gehalten werden, […] wie man alsdann einen Theil dieses Seelenwesens – und etwas anderes ist doch die Vernunft nicht – für ein Noumenon, oder ein Ding an sich selbst erklären könne! Woher wir bey der vorausgesetzten völligen Unbekanntschaft der intelligibeln Welt und den Dingen an sich selbst es wissen können, daß etwas zu des Menschen subjectiven und scheinbaren Denkkraft gehöriges, nämlich seine Vernunft, und folglich auch Er selbst, insofern er mit Vernunft versehen ist, ein Theil der Verstandeswelt, ein Ding an sich selbst sey? Um dies nur vorauszusetzen, müßten wir ja diese Welt schon insofern kennen, dass wir wüßten, sie enthalte mannichfaltige Dinge oder wirkliche Theile, und woher wollen wir dies bey der undurchdringlichen Kluft, die der Verfasser zwischen beyden Welten setzt, hier in der Sinnenwelt erfahren?« (Bd. 66.1, 111; zit. nach: Gesang 2007, 16 f. [= Rez. von Schulzes Erläuterungen]; vgl. ebd. 37 [= Rez. der Grundlegung, Bd. 66.2, 463]) Wenn mit Kant der Mensch auch sich selbst nur Erscheinung und somit Teil der Sinnenwelt ist, wie sollte er dann noch »etwas« an ihm selbst, wie etwa seine Vernunft – und damit sich selbst (s. »Er selbst«) – als Teil einer intelligiblen Welt erkennen können, ohne dabei das kritische Tabu der Unerkennbarkeit der »Dinge an sich selbst« zu brechen, wenn man sie doch zu »Theilen« einer »Welt« und damit diese

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wie jene als kategorial konstituiert erklärt? Die Freiheitslehre von 1781/85 ist für Pistorius daher der Auftakt für den Rückfall in einen dogmatischen Rationalismus: Sie ruht schlicht auf einer unkritischen Theorie des Subjekts. Kant hat die beiden erwähnten Rezensionen gelesen, ihren Autor als einen »wahrheitsliebenden« (V, 8), »scharfen mir aber wegen seiner sorgfältigen vollkommenen Kennergleichen Beurtheilung (ob er sich zwar nur einen Liebhaber der Metaphysik nennet) […] schatzbaren Recensenten« (XXI, 416) gepriesen und sogar versucht, diesen aus der Anonymität hervorzuholen (s. X, 486).

IV. Im Mai 1787, fast genau ein Jahr nach den beiden genannten Rezensionen – und ein halbes Jahr später als noch am 7. April 1786 ins Auge gefasst (s. X, 441; vgl. III, 555) –, erscheint die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Gleich die ersten, programmatischen Sätze des neu verfassten Teils des Paralogismus-Hauptstücks zeigen, dass Kant Pistorius’ Einwand als einen genuin kritischen verstanden, ihn in die eigenen Auffassungen integriert und schließlich sogar zum leitenden Prinzip seiner (neuen) Paralogismen-Kritik erklärt hat: »Zuvörderst kann folgende allgemeine Bemerkung unsere Achtsamkeit auf diese Schlussart schärfen. Nicht dadurch, daß ich bloß denke, erkenne ich irgend ein Object, sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern [nur; B. L.] wenn ich mir der Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Function des Denkens bestimmt, bewußt bin. Alle modi des Selbstbewußtseins im Denken an sich sind daher noch keine Verstandesbegriffe von Objecten (Kategorien), sondern bloße logische Functionen, die dem Denken gar keinen Gegenstand, mithin mich selbst auch nicht als Gegenstand zu erkennen geben. Nicht das Bewußtsein des bestimmenden, sondern nur das des bestimmbaren Selbst, d. i. meiner inneren Anschauung (so fern ihr Mannigfaltiges der allgemeinen Bedingung der Einheit der Apperception im Denken gemäß verbunden werden kann), ist das Object.« (B 407) Hier haben wir im ersten Satz eine Andeutung der eingangs erwähnten ›Verfahrenskritik‹ (Gäbe), und den neuen Inhalt (Horstmann) haben wir dann in den nachfolgenden Sätzen: Nicht erst die empirische Bestimmbarkeit des vermeintlichen Objekts beziehungsweise Gegenstandes, sondern bereits der Objektcharakter des im »Ich denke« bezeichneten »Ich« wird von Kant nun ohne jeden Vorbehalt verworfen, denn zu Begriffen von einem Objekt würden die Verstandesbegriffe erst in der Anwendung auf eine Anschauung: Ohne eine solche werden sie auch hier – wie Kant nun nachdrücklich betont – nur als »bloße logische« Funktionen (d. i. »For-

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men für das Verhältnis der Begriffe im Denken« [XXIII, 25]) gebraucht14 und sind damit ohne jeglichen existenziellen Import. Ich kann »mich selbst« also überhaupt nicht »durch bloße Apperzeption« als »Substanz, einfach &c.«, d. i., als einen »bloß intelligiblen Gegenstand« (A 546) erkennen – und damit schon gar nicht als einen »Theil der Verstandeswelt« (Pistorius): Als einen Gegenstand erkenne ich nämlich grundsätzlich gar nicht »mich selbst«, sondern allenfalls »mich in der Anschauung meiner selbst« – und mangels einer intellektuellen Anschauung bin ich mir dabei unmöglich ein »bloß intelligibler« Gegenstand, sondern immer nur ein sinnlicher. Das liegt freilich an der Eigenart der Kategorien (und scheint 1787 geradezu den Charakter einer semantischen Wahrheit anzunehmen), denn diese werden von Kant nun ausdrücklich – und erstmals auch unmissverständlich – erklärt als »Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung [nicht etwa: ›dadurch dieser Gegenstand‹! B. L.] in Ansehung einer der logischen Functionen zu Urtheilen als bestimmt angesehen wird« (B 128, vgl. 149, 288, 307 f., 408, sowie XXIII, 25 [R, XLII]).15 Die Paralogismen-Kritik von 1781 war im Lichte des Einwands von Pistorius – so sieht es Kant 1787 nun selbst – also noch gar nicht kritisch, denn sie hielt an einer Theorie des Subjekts fest, welche die alles entscheidende, kritische Lehre

Kant schwankt zwischen Behauptungen wie: (a) ›Die logischen Funktionen sind ohne Anschauungsbezug noch gar keine Kategorien‹ (B 407, s. o.), und (b): ›Die Kategorien haben ohne Anschauungsbezug keinen erkenntnisstiftenden Gebrauch‹ (etwa B 146). Dieser Unterschied betrifft hier freilich zunächst einmal nur die Sprachregelung für den nicht-empirischen Gebrauch der einschlägigen logischen Funktionen: Gemäß (a) würde man dabei dann nicht mehr von ›Kategoriengebrauch‹ sprechen dürfen. Speziell mit Blick auf Kants Rede vom praktischen Gebrauch der Kategorien (s. V, 5 f., 54, 136) wird man daher nur (b) als eine inhaltlich belastbare Formulierung ansehen dürfen. 15 Auf den ersten Blick könnte es scheinen, Stellen wie A 399 (vgl. auch A 381 f.) würden schon 1781 dasselbe ausdrücken: »Ohne eine zum Grunde liegende Anschauung kann die Kategorie allein mir keinen Begriff von einem Gegenstande verschaffen; denn nur durch Anschauung wird der Gegenstand gegeben, der hernach der Kategorie gemäß gedacht wird.« Aber bereits der unmittelbar anschließende Text zeigt (nicht weniger als die 1781er Rede vom »bloß intelligiblen Gegenstand«), dass es Kant hier grundsätzlich noch gar nicht darum gehen kann, zu behaupten, Gegenständlichkeit als solche setze neben den Kategorien auch Anschauung voraus. Thema ist vielmehr, dass die Bestimmbarkeit von Gegenständen gemäß den Kategorien auf Anschauungen angewiesen ist: Die Seele ist zwar Substanz (einfach &c., also ein Gegenstand oder Ding), aber sie lässt sich ohne (sinnliche) Anschauung eben nicht als (zum Beispiel) für sich selbst fortdauernd bestimmen (so im Anschluss A 400). – Der zitierte Satz ist bei adäquater Betonung (auf »Begriff«) freilich eindeutig und äquivalent zu: »[…] ohne Anschauung kann die Kategorie allein mir von einem Gegenstande keinen Begriff verschaffen«, das heißt, ohne Anschauung sind über einen Gegenstand keine Sätze möglich, die über eine bloße Behauptung seiner gleichsam »nackte[n]« Gegenständlichkeit hinausgehen – und ihn damit von anderen Gegenständen unterscheidbar machten (s. A 245; vgl. unten Anm. 17). 14

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von den »zwei Stämme[n] der menschlichen Erkenntniß« (A 15) – die im Grunde zugleich eine von zwei Stämmen der Gegenständlichkeit sein soll (s. A 158) – gar nicht ernst nahm: In der rationalen Seelenlehre gestand sie den bloß »logische[n] Vorstellung[en]« (A 242 f.) von Substanz, Einfachheit, und Identität bereits einen objektiven Gebrauch als Kategorien zu, ohne dabei überhaupt nach einer dafür unverzichtbaren Anschauung Ausschau gehalten zu haben. Sie verstieß damit gegen einen zentralen kritischen Grundsatz, denn das »Subject der Kategorien kann […] dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objecte der Kategorien einen Begriff bekommen…« (B 422). Wie wir oben (in Anm. 4) sahen, fand Kant eine gegenständliche Auffassung der »bloßen Apperzeption (Ich)« noch bis Ende 1785 überhaupt nicht anstößig. Seiner damaligen Überzeugung zufolge hätte es einer Anschauung ja ausdrücklich erst dann bedurft, wenn man, wie die rationale Psychologie, von den »völlig leeren«, »bloße[n] reine[n] Kategorien« in der Seelenlehre auch einen (bestimmenden) empirischen Gebrauch machen, d. i., von den »unstreitigen« allgemeinen Sätzen der Psychologie zum Unsterblichkeitstheorem fortschreiten wollte (s. A 400) – und nur diesen zweiten Schritt wollte Kant 1781 unterbinden. Den ersten Schritt jedoch, den vom »Ich denke« zum »Ich als denkend Wesen bin eine Substanz &c.«, wollte er auch ohne Anschauung »gelten lassen« (A 350). 1787 hingegen könnte die »bloße Apperzeption (Ich)« nur dann überhaupt eine intelligible Substanz, einfach &c. sein, wenn sie uns in einer nicht-sinnlichen Anschauung gegeben wäre. Beiden Fassungen des Paralogismus zufolge können wir das (nicht sinnliche) Ich im »Ich denke« mangels einschlägiger Anschauung nicht mehr als etwas Bestimmtes (zum Beispiel als unsterblich) erkennen, sondern es nur noch denken – und in dieser Hinsicht sind sie beide bereits kritisch. Dem A-Paralogismus zufolge konnten wir aber, indem wir dieses Ich als »Etwas« denken, immerhin noch erkennen, dass es ein Gegenstand ist (den ich bloß denke, und der somit kein sinnlicher sein kann, s. o.): Es »… ist nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedanken, bei dem ich von allem Gegenstande abstrahire, und wird gleichwohl [!] als ein Gegenstand, den ich denke, nämlich Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben, vorgestellt. / Wenn mir jemand überhaupt die Frage aufwürfe, von welcher Beschaffenheit ist ein Ding [!] welches denkt? so weiß ich darauf [!] a priori nicht das mindeste zu antworten […]« (A 398; vgl. A 358 f.). Insofern war der A-Paralogismus also noch definitiv unkritisch: 1781 konnten wir die »Apperzeption (Ich)« noch ohne jede Anschauung vermittels der »bloße[n] reine[n] Kategorie« als einen Gegenstand (beziehungsweise ein Ding) vorstellen (A 400) – und uns selbst dabei sogar als einen »bloß intelligiblen Gegenstand« erkennen (A 546). 1787 hingegen kann irgendetwas bloß Gedachtes unmöglich kategorial konstituiert, also Gegenstand (und a fortiori nicht als ein solcher erkennbar) sein, denn die »logischen Funktionen« gewinnen ausschließlich im Anschauungsbezug den epistemischen Status von Kategorien: Wer B (128) sagt, kann folglich nicht weiterhin

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A (398) sagen, ohne sich geradeheraus zu widersprechen – oder sich mit einer latent ambiguen Verwendung wenigstens eines der drei Wörter ›Gegenstand‹, ›Anschauung‹, ›Kategorie‹ unbemerkt in endlose Reflexionsschleifen zu begeben.

V. Aber weshalb war Kant in seiner Paralogismen-Kritik 1781 noch nicht »consequent«kritisch? Warum ließ er den »psychologischen Lehrsätzen« über die Substantialität, Einfachheit &c. des »Ich als denkend Wesen« ihre »unstreitige Richtigkeit«? Die argumentativen Mittel für deren Zurückweisung lagen doch allesamt schon längst bereit, und somit sollte auch schon damals gar nichts mehr gegen eine »consequente Denkungsart« auch und gerade in der Psychologie gesprochen haben.16 Ja, ausgerechnet im ersten Absatz des Substanz-Paralogismus erinnert uns Kant 1781 sogar noch einmal ganz nachdrücklich an die Botschaft »des analytischen Teil[s] der transzendentalen Logik«, dass »reine Kategorien« ohne unterlegte Anschauung »gar keine objektive Bedeutung haben« und bloß »Funktionen eines Urteils ohne Inhalt« sind – bevor er dann eine höchst überraschende Kehrtwendung vollzieht und aus dem »Ich als denkend Wesen« doch noch eine Substanz macht: »Von jedem Dinge überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, so fern ich es von bloßen Prädicaten und Bestimmungen der Dinge unterscheide.« (A 349) Das ist die propositio major zu dem oben, am Anfang von Abschnitt I, noch unvollständig (sc. propositio minor und conclusio) zitierten Schluss, demzufolge jedermann sich notwendig als Substanz denkt, weil das Ich als das Subjekt des Denkens »nicht als die Bestimmung eines anderen Dinges gebraucht werden« kann. – Hier liefert Kant uns nun unversehens und unfreiwillig selbst geradezu das MusterbeiZumal Pistorius’ Kritik unter anderem im Schlussabsatz des Amphibolie-Anhangs geradezu mit Händen zu greifen ist, wenn Kant schreibt: »Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen und in intelligibele Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff auszuschweifen« (A 289). Ein solcher Fehler könne zwar durchaus entschuldigt, nicht aber gerechtfertigt werden. – Zur Erklärung dieses Fehlers führt Kant dementsprechend an, dass wir, da Apperzeption und Denken jeweils aller möglichen Anordnung der Vorstellungen vorhergehen, den »allgemeinen und in abstracto vorgestellten Gegenstand« von der Art ihn anzuschauen unterscheiden. Für diesen »in abstracto vorgestellten Gegenstand« aber »bleibt uns nur eine Art, ihn bloß durch Denken zu bestimmen übrig, welche zwar eine bloße logische Form ohne Inhalt ist, uns aber dennoch eine Art zu sein scheint [!], wie das Object an sich existire (Noumenon), ohne auf die Anschauung zu sehen, welche auf unsere Sinne eingeschränkt ist«. – Diese an mehreren Stellen in Hinblick auf die Erfahrungsgegenstände im Allgemeinen formulierte kritische Einsicht hat Kant 1781 offenkundig noch nicht davor bewahren können, genau dem genannten ›Schein‹ im besonderen Falle des »Ich denke« selbst doch noch zu erliegen. Pistorius’ »vollkommener kennergleicher Beurteilung« ist das – dankenswerterweise – nicht entgangen. 16

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spiel eines psychologischen Paralogismus, denn der Schluss als solcher zeigt uns schließlich nichts weiter, als dass das »Subjekt des Denkens«, sofern es als ein Ding gedacht wird, nicht als »bloßes Prädikat«, nicht als »bloße Bestimmung«, gedacht werden kann und dann folglich (tertium non datur) »notwendig« als Substanz gedacht werden muss. Wer wollte das bestreiten? – Aber: Wie kommt man damit zu dem, »was man eigentlich wissen will« (vgl. A 400; s. o.)? Wie kann man angesichts der – kurz zuvor sogar noch einmal ausdrücklich betonten – Anschauungsabhängigkeit jedes objektiven Kategoriengebrauchs nun ohne Weiteres voraussetzen, dass das Subjekt des Denkens als ein Ding gedacht werden muss, um damit dann von der bescheidenen logischen Einsicht, dass wir das Subjekt des Denkens nicht als ein Prädikat denken können, zu der anspruchsvollen metaphysischen Behauptung überzugehen, dass dieses qua gedachtes Ding eben auch notwendig eine intelligible Substanz ist (d. i. zum entsprechenden »psychologischen Lehrsatz«)? Wie das für Kant alles bis 1785 noch zusammenpassen sollte, das ist, gelinde gesagt, nicht ganz leicht zu verstehen.17 Aber wir können uns an dieser Stelle einfach damit beruhigen, dass auch Kant selbst es 1787 gar nicht mehr zu verstehen versucht – und wem das nicht genügt, der kann etwa in B 149 und B 411 f. auch noch nachlesen, warum er es nicht mehr versucht. Hier interessiert uns jetzt erst einmal eine ganz andere Frage: Wozu übt Kant 1781 eigentlich diese eher unvermutete, äußerst fragwürdig begründete und prima facie auch ganz unnötige Zurückhaltung gegenüber einem radikalen Bruch mit dem Kernbestand (sc. ›Ich als denkend Wesen bin eine Substanz &c.‹) jeder rationalen Seelenlehre? Nach den Ausführungen in Abschnitten I und II bleibt meines Erachtens kaum noch Raum für Zweifel an der These, dass Kant zwar schon 1781 keinen theoretischen Gebrauch mehr von einer gegenständlich gedachten »bloßen Apperzeption« machen wollte, auf eine solche aber bis 1785 für den »praktischen Gebrauch« nicht verzichten zu können glaubte: Zumindest bis zur Grundlegung war er allen uns heute verfügbaren Anzeichen zufolge noch fest davon überzeugt, auch seine

Kant bietet dafür rätselhafte, sogar eingestandenermaßen »befremdliche«, ja »widersinnige« Konstrukte auf (siehe A 244 f.), wie zum Beispiel das eines unerklärbaren Begriffes mit Bedeutung (vgl. ebd.), eines »hyperbolischen Objekts« (IV, 332), eines »Dinges von unbestimmter Bedeutung« (s. o. Anm. 4) oder eines »transzendentalen Subjekts der Gedanken = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird« (A 346); später heißt es noch, die Frage, was ein »transzendentaler Gegenstand für eine Beschaffenheit habe« bleibe unbeantwortet (A 478 Fn., vgl. A 358 f.: »was für ein Gegenstand es sei […], dass ihm […] diese Prädikate nicht beigelegt werden können«; ähnlich A 245, 253). – Selbst wenn man Kant diese fragwürdigen, unbestimmten »Objekte« »Dinge« oder »Gegenstände« 1781 allesamt schenkte: Sollten diese tatsächlich gänzlich unbestimmt sein, dann wären sie freilich weder als sinnlich noch als nicht-sinnlich (= intelligibel) bestimmt (was Kant 1787 schließlich selbst bemerkt hat [s. u. Abschn. X]) – und damit metaphysisch für überhaupt nichts zu gebrauchen. 17

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kritische Philosophie müsse (und könne) weiterhin an dem, unter anderem seit Leibniz’ Introduktion des Terminus ›Apperzeption‹ unterstellten, Zusammenfallen von psychologischem und moralischem Person-Status, d. i. von Selbstbewusstsein und Zurechnungsfähigkeit,18 festhalten, um so die praktisch-bedeutsame Frage (vgl. »Wichtigkeit [… für] eigentlich nur das Praktische« [A 800]) nach der Freiheit des Menschen, seiner Zurechnungsfähigkeit, »samt ihrer Auflösung« im Rahmen der »Transzendentalphilosophie«, d. i. spekulativ, »befriedigend« behandeln zu können (s. A 535). Und genau für diesen letzten Verdacht gibt es dankenswerterweise sogar eine ganz direkte Bestätigung in der Grundlegung: »Doch kann man hier [sc. bei der Auflösung der Freiheitsfrage; B. L.] noch nicht sagen, daß die Grenze der praktischen Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen Vernunft, daß diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten.« (IV, 456) Nimmt man das in dieser Passage seitens der praktischen Philosophie von der »speculativen Vernunft« geforderte »zu Ende bringe[n] « mit Kants Behauptungen zu Beginn des praktischen Kanon der Kritik der reinen Vernunft zusammen, dass bezüglich der Frage der transzendentalen Freiheit »hinreichende Erörterung« schon »in der Antinomie der reinen Vernunft zu finden« ist, diese Frage eben »bloß das spekulative Wissen« betreffe und bereits »oben abgethan« sei (A 803 f., A 801), dann wird sogleich die latente, systembedingte Nötigung erkennbar, durch die Kant 1781 von der Freiheitsfrage in eine – ex post allzu offenkundige – Inkonsequenz seiSiehe dazu etwa: Discours de Métaphysique, § 34; oder: Nouveaux Essais, II, Kap. 27, § 9. – Leibniz hatte seinerzeit die Apperzeption mit vollem Recht zur notwendigen Bedingung der Handlungslenkung durch Belohnungen und Bestrafungen erklärt, denn ohne das Bewusstsein, dass ich es bin, der Lohn oder Strafe dereinst erfährt, könnten deren Ankündigungen für mich nicht handlungswirksam werden. Leibniz konnte damit sogar Apperzeption und Personalität konsequent aneinander binden, denn für Autoren, die (wie Locke, Leibniz und andere – darunter auch noch Kant bis ins Jahr 1783 [s. u., Text zu Anm. 27]) göttliche Sanktionen als pflichtkonstitutiv behandeln, ist die Apperzeption im Grunde ja auch bereits hinreichende Bedingung der Personalität: Wenn ich nämlich durch jenseitige Belohnungen und Strafen adressierbar bin, dann bin ich jedenfalls nicht allein durch die Natur bestimmt. Mit Kants strikter Unterscheidung von bloß ›pflichtgemäßem‹ Handeln und Handeln ›aus Pflicht‹ seit 1784 (d. i. mit der Idee der Autonomie) gehen Freiheit und Personalität nun aber über die Chance, durch nicht-natürliche Belohnungen und Strafen gelenkt zu werden, begrifflich hinaus, denn Pflichten im emphatischen Sinne (sc. kategorische Ge- und Verbote) hat man nun gerade nicht schon deshalb, weil man für nicht-natürliche Sanktionen- und Verheißungen sensibel ist (das führt Kant zufolge nunmehr eben nur zu zusätzlichen hypothetischen Ge- und Verboten), sondern erst, wenn man darüber hinaus mit einer eigenen Kausalität (mit zugehörigem nicht-natürlichen Kausalgesetz) ausgestattet ist. 18

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ner Paralogismen-Kritik geradezu hineingetrieben wurde. Daran konnte sich selbstredend erst etwas ändern, als Kant die für die Möglichkeit der menschlichen Freiheit vorauszusetzende Teilhabe des Menschen an der intelligiblen Welt auch ohne den spekulativ-dogmatischen Rückgriff auf die »bloße Apperzeption (Ich)« zu begründen vermochte19 – und es musste sich offenbar auch erst etwas ändern, nachdem Kant im Frühjahr 1786 darauf aufmerksam (gemacht) wurde, dass nach seiner kritischen Wende eine nicht-sinnliche »Existenz« beziehungsweise »Wirklichkeit« des Menschen nicht mehr wie selbstverständlich20 bereits aus dessen Selbstbewusstsein folgt – und die Möglichkeit der menschlichen Freiheit sich folglich auch nicht mehr allein »speculativ« aufzeigen lassen kann.

VI. Woher aber dann seit 1787 die Lizenz, den Menschen als Glied (auch) einer intelligiblen – und nicht nur der sinnlichen – Welt zu betrachten, was im Rahmen des Transzendentalen Idealismus für die Selbstzuschreibung von transzendentaler Freiheit und Persönlichkeit schlicht unverzichtbar ist? In Kants Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft finden wir die für uns vermutlich früheste und dabei auch schon ganz und gar unmissverständliche Ankündigung des in Aussicht stehenden Umbruchs: »Was der speculativen Philosophie nicht gelingen konnte, die Vernunft aus dem Felde der Sinnlichkeit auf etwas Reales außer demselben zu bringen, das vermag die practische Vernunft, nämlich eine Existenz, die nicht sinnlich ist, und durch Gesetze, die sich auf ihr gründen, zu geben.« (XXIII, 41)21

Es gibt daher weder Grund noch Anlass, Kants ›substantialistische‹ Rede von Ich und Apperzeption (und damit auch die von »nacktem Verstandesbegriff von Substanz« und »Substanz in der Idee« etc.) zwischen 1781 und 1787 als bloße façon de parler oder gar als irritierendes sprachliches Überbleibsel bereits überwundener vorkritischer Lehrstücke abzutun: In dieser Phase konnte Kants Transzendentaler Idealismus das Freiheitsproblem noch nicht ohne die gegenständliche Auffassung der bloßen Apperzeption lösen. 20 Für Kant war dieser Zusammenhang – soweit wir das heute aus den Texten heraus beurteilen können – bis 1785 weniger der Inhalt eines besonderen, anspruchsvollen (schul-) philosophischen Lehrstücks, als vielmehr der einer eher unschuldigen und unkontroversen Überzeugung, die selbst »im gemeinsten Verstande« jedes »nachdenkenden Menschen« anzutreffen ist (IV, 451 f.; daher gelingt es ihm freilich auch problemlos, die einschlägigen Passagen der Grundlegung von Fachtermini – wie zum Beispiel »Apperzeption« oder »transzendental« – gänzlich freizuhalten). Er hätte 1781 möglicherweise selbst beim Diener Lampe mit Verständnis dafür gerechnet, von einem Pferd abzusteigen, sobald es den »Ich«-Gedanken fassen kann (s. XXV, 859; vgl. XIX, 183). Diese kantische Grundüberzeugung lässt sich von der Grundlegung bis in die 1770er Jahre zurückverfolgen (s. Klemme 1996, 278 ff.). 21 Da Kant dort, wo er die Freiheitsfrage 1781 ausdrücklich »hinreichend erörtert« und 19

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Und die öffentlichen Erklärungen in der Kritik der praktischen Vernunft lassen dann wenig später an Deutlichkeit überhaupt nichts mehr zu wünschen übrig, zum Beispiel: »Allein die Freiheit einer wirkenden Ursache, vornehmlich in der Sinnenwelt, kann ihrer Möglichkeit nach [sc. ›wie möglich‹; B. L., s. o.] keinesweges eingesehen werden; glücklich! wenn wir nur, daß kein Beweis ihrer Unmöglichkeit stattfindet, hinreichend versichert werden können [sc. ›dass möglich‹ – das war Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft; B. L.] und nun [in der Kritik der praktischen Vernunft; B. L.], durchs moralische Gesetz, welches dieselbe postulirt, genöthigt, eben dadurch auch berechtigt werden, sie anzunehmen. [… Und wer dergleichen nicht annimmt, der wird] die herrliche Eröffnung, die uns durch reine praktische Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzes widerfährt, nämlich die Eröffnung einer intelligibelen Welt durch [!] Realisirung des sonst transscendenten Begriffs der Freiheit, und hiemit das moralische Gesetz selbst, welches durchaus keinen empirischen Bestimmungsgrund annimmt, aufheben.« (V, 94; vgl. 43, 105 f., 134 ff.) Es ist nun also nicht mehr bereits das Bewusstsein unserer selbst (Verstand und Vernunft überhaupt), sondern allererst das Bewusstsein unserer Nötigung durch das Sittengesetz (eine reine praktische Vernunft), wodurch sich uns eine »intelligible Welt« eröffnet. Die bis in die Grundlegung reichende Rede von einer »speculativen« Auflösung der Freiheitsfrage finden wir folgerichtig in keinem einzigen der (uns überlieferten) Texte mehr, die Kant seit der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schriftlich verfasst oder mündlich vorgetragen hat. Er betont fortan stattdessen wieder und wieder (s. etwa V, 6.7 f.; VI, 225.17 f.) das irreduzibel praktische Fundament seiner Freiheitslehre: Ohne das Bewusstsein des moralischen Gesetzes bliebe der transzendentale Begriff der Freiheit für uns »transzendent« (s. o.): Das »moralische Gesetz [ist] die ratio cognoscendi der Freiheit« (V, 4 Fn., vgl. V, 133).

damit »abgethan« hat, d. i. im Text zur dritten Antinomie (A 444–451 u. 532–558), an keiner Stelle Gesetze der praktischen Vernunft (beziehungsweise moralische Gesetze, das Sittengesetz und so weiter) herbeizitiert, um mit ihnen die Vernunft »auf etwas Reales« außerhalb der Sinnenwelt zu bringen, sondern dies ausdrücklich spekulativ, mittels der bloßen Apperzeption, vollbringt, kann es sich bei dieser Notiz in der Nähe von A 542 weder um irgendeine Erläuterung der Freiheitslehre von 1781 handeln, noch um die Benennung einer von dieser seinerzeit noch offen gelassenen Frage, sondern allein um das Eingeständnis ihres Scheiterns nebst Vorstellung der Alternative. – Es wäre ohnehin gar nicht zu sehen, wie Kant die transzendentale Freiheit bereits 1781, d. i. noch ohne die erst 1784 entdeckte Verknüpfung von Gesetz und Freiheit im Begriff der Autonomie, auf die moralischen Gesetze auch nur hätte gründen wollen können – das ging offenbar zunächst nur bei Gott und Unsterblichkeit (s. A 631 ff. und den Kanon). – Vgl. auch XIX, 36.4 f., 41.28 f., 42.12 ff. Meines Wissens verfügen wir derzeit über keine früher datierbaren Zeugnisse, die den Umbruch auch nur erahnen ließen.

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Die schlechtweg unübersehbare äußere Folge ist freilich die, dass die Freiheit des Menschen nun erst in einer zweiten Kritik – einer Kritik der praktischen Vernunft 22 – aufgewiesen wird: Die Freiheit verliert also nach sechs Jahren ihren epistemischen Sonderstatus unter den drei transzendentalen Ideen wieder und folgt Gott und Unsterblichkeit nach, bei denen der Nachweis ihrer Objektivität von Kant im Zuge seiner kritischen Beschränkung aller nicht-sinnlichen Erkenntnis bereits 1781 aus der spekulativen Transzendentalphilosophie in ein dezidiert praktisches (s. A 797) »Hauptstück«, den Kanon, ausgelagert wurde: Ihre Gegenstände konnten eben nur mit Rekurs auf das Sittengesetz (das allemal nicht in die Transzendentalphilosophie gehört; A 14 f., vgl. A 801) postuliert werden. 1787 ist die klassische Trias der wolffschen metaphysica specialis also wieder vereint (s. B 7, B 395 Fn.) – und zwar von nun an ausdrücklich unter der Gesetzgebung einer reinen praktischen Vernunft, das heißt, auf dem »Gebiet (ditio)« (s. V, 174) der praktischen Philosophie: »[D]ie Begriffe von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für welche die Speculation nicht hinreichende Gewährleistung ihrer Möglichkeit [!] findet, [sind] in moralischem Gebrauche der Vernunft zu suchen und auf demselben zu gründen.« (V, 7; vgl. auch V, 132 f.) Solange man nicht zu unterstellen bereit ist, Kant wisse hier einfach nicht was er schreibt, liegt bei einer Konfrontation mit früheren Texten die philosophische Kehrtwendung nun offen vor Augen, hieß es doch 1785 im Rückblick auf die »Deduktion der Freiheit« noch ausdrücklich – und sicherlich nicht ohne einen gewissen Stolz darauf, dass gerade seine kritische Transzendentalphilosophie diesen »Stein des Anstoßes für die Philosophie« (A 448) vier Jahre zuvor erstmals (und vermeintlich bereits endgültig) aus dem Weg geräumt hatte: »Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist […] ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann).« (IV, 461; Hervorhebung von Kant) Zwei Jahre nach seinem Erscheinen entpuppt sich der dritte Abschnitt der Grundlegung somit als Kants letztgültige Darstellung seiner vorkritischen, spekulativen Freiheitslehre.

Die Schrift hat in der Sache vermutlich nur noch wenig mit derjenigen zu tun, die Kant im Jahre 1785 unter dem Namen »Kritik der reinen praktischen Vernunft« in Aussicht gestellt hatte (IV, 391). Diese sollte unter anderem das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft nachliefern, um damit dann – so darf man vermuten – die in Grundlegung III ja durchweg nur vorausgesetzte Identität von Spontaneität im Urteilen und absoluter Spontaneität (dem Grund der Zurechnungsfähigkeit) darzulegen. Das Buch von 1787/88 macht zumindest in dieser (durchaus nicht unbedeutenden) Frage offenkundig das glatte Gegenteil: Es vertieft die »unübersehbare Kluft« erst noch einmal (V, 6.7 f.), und vertagt erneut deren Überbrückung (s. V, 90.37 ff.), die – was Kant anscheinend bereits 1787 weiß (s. X, 514 f.), seine Leser aber erst 1790 erfahren werden – der Naturteleologie mit ihrem Organismus-Begriff obliegen wird (s. V, 175 f., 422.8 ff. und XX, 293). 22

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VII. Dieser philosophisch radikale und system-architektonisch folgenschwere Umbruch wird von Kant bereits am Ende des B-Paralogismus (in der Anmerkung zum Übergang zur Kosmologie, B 428 ff.) provisorisch zum Thema gemacht, indem er die neu gewonnene Position in der Freiheitsfrage dort erstmals öffentlich exponiert – nicht ohne dabei den systematischen Fehler seiner alten Position (die er als solche allerdings nicht zu erkennen gibt) stets als Kontrastfolie mitzuführen. Oben wurde die »allgemeine Bemerkung« vom Anfang des B-Paralogismus zitiert: Ohne Anschauung gebraucht man Verstandesbegriffe als bloße logische Funktionen, nicht als Kategorien im strikten Sinne, d. i. nicht als Begriffe von einem Gegenstand. Kant nimmt diesen Gedanken ganz am Ende des Hauptstücks noch einmal präzisierend auf: Durch das »Denken, für sich genommen« »stelle ich mich mir selbst weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes [!] Object überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahire. Wenn ich mich hier als Subject der Gedanken oder auch als Grund des Denkens vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorien der Substanz oder der Ursache, denn diese sind jene Functionen des Denkens (Urtheilens), schon auf unsere sinnliche Anschauung angewandt, welche freilich erfordert werden würde, wenn ich mich erkennen wollte« (B 428 f.). Die Verstandesbegriffe gewinnen hier – erneut im geraden Widerspruch zu Kants Behauptung von 1781 – mangels Anschauung eben noch gar nicht den objektiven Status von Kategorien, sie sind zunächst bloß die logischen Einheitsfunktionen, d. i. »das Verhältnis der Begriffe im Denken« bei jedem überhaupt als Etwas23 Gedachten, die als solche aber (noch) nicht die Einheit irgendeines (noumenalen) Objekts stiften, kurz: »Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird [1781 noch; B. L.] fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objects gehalten.« (B 409, vgl. B 302 Fn.)

Die Kritik an der 1781er Vergegenständlichung dieses »Etwas« zu einem ›transzendentalen Objekt/Gegenstand/Subjekt‹ ist ein zentrales Element der Umarbeitung des PhaenomenaNoumena-Hauptstücks (B 305–09 versus A 249–53). Siehe besonders B 307: »[…] dadurch aber verleitet wird, den ganz unbestimmten Begriff von einem Verstandeswesen, als einem Etwas überhaupt außer unserer Sinnlichkeit für einen bestimmten Begriff von einem Wesen, welches wir durch den Verstand auf einige [eigene? B. L.] Art erkennen können, zu halten«. Das ist freilich Kants (negative) 1787er Antwort auf eine zuvor im Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft noch zögerlich aufgeworfene Frage an den 1781er Paralogismus: »[…] ob wenn ich ein transscendentales Object (Ich) durch lauter Categorien erkenne [!], ohne sonst Eigenschaften von ihm zu haben, ich es dadurch wirklich [!] erkenne [!] oder nur einen negativen Begriff von ihm habe« (XXIII, 38). 23

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Und das heißt, das bloß gedachte Etwas, d. i., der unbestimmte, bloß-logische (und somit uneigentliche) Gegenstand des Denkens kann und darf nicht mehr als ein nicht-sinnlich bestimmter Gegenstand (im eigentlichen Wortsinne) behandelt werden, auch nicht in dem – eben nur vermeintlich außerordentlichen – Falle, dass das bloß gedachte Etwas das »Ich als denkend Wesen« ist. Mit bloß-logischen Erörterungen (d. i. ohne irgendeine Anschauung) kommt man also selbst dann nicht zum Ziel, wenn dieses Ziel eine Erkenntnis (nur) der eigenen »Existenz« (sei diese nun eine sinnliche oder eine intelligible) ist: »Der Satz aber: Ich denke, so fern er so viel sagt, als: Ich existire denkend, ist nicht bloße logische Function, sondern bestimmt das Subject (welches dann zugleich Object ist) in Ansehung der Existenz und kann ohne den inneren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung jederzeit das Object nicht als Ding an sich selbst, sondern bloß als Erscheinung an die Hand giebt. [… In einer empirischen Anschauung also] müßte denn nun das denkende Selbst die Bedingungen des Gebrauchs seiner logischen Functionen zu Kategorien der Substanz, der Ursache &c. suchen, um sich als Object an sich selbst nicht bloß durch das Ich zu bezeichnen, sondern auch die Art seines Daseins zu bestimmen, d. i. sich als Noumenon zu erkennen; welches aber unmöglich ist.« (B 429 f.) Damit hat Kant nicht nur abermals dargelegt, warum der A-Paralogismus eine noch in-»consequente Denkungsart der speculativen Kritik« vorstellte (man achte auf den möglichen Nachklang der Pistorius-Rezension in dem: »sich als Noumenon zu erkennen«!). Er macht damit zugleich sichtbar, dass für den Nachweis unserer intelligiblen Existenz »zum practischen Gebrauche« ein Verweis auf die »bloße Apperzeption« nicht (mehr) hinreichend sein kann. Hinzukommen müssen (fortan) noch jene »practischen data« beziehungsweise »practischen Erkenntnisquellen«, welche die 1787er Vorrede (s. B XXI und XXVII Fn.) – und erstmals diese – den Lesern ja bereits angekündigt hatte: »Gesetzt aber, es fände sich in der Folge nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen: so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre [s. o.: ›entdeckt in sich wirklich ein Vermögen‹, IV, 452; B. L.], ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens [s. o. ›wirklich ein Vermögen‹, ebd.; B. L.] in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann.« (B 430 f.) Das ist freilich die nicht-sinnliche Bestimmung unserer »Existenz« durch das Sittengesetz, welche Kant kurz darauf, in der Kritik der praktischen Vernunft, dann

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ein »Faktum der reinen praktischen Vernunft« nennen wird. Aber in theoretischer Hinsicht wird aus derartigen »erste[n] Data« (V, 91) dann freilich überhaupt nichts mehr folgen: »Aber dieses würde nichts desto weniger alle Versuche in der rationalen Psychologie nicht im mindesten weiter bringen. Denn ich würde durch jenes bewundernswürdige Vermögen [sc. reine praktische Vernunft; B. L.], welches [Akkusativ; B. L.] mir das Bewußtsein [Nominativ; B. L.] des moralischen Gesetzes allererst offenbart, zwar ein Princip der Bestimmung meiner Existenz, welches rein intellectuell ist, haben, aber durch welche Prädicate?24 Durch keine andere, als die mir in der sinnlichen Anschauung gegeben werden müssen.« (B 431) Auch ohne Erkenntnis irgendeines »bloß intelligiblen Gegenstand[es]« kann die intelligible Persönlichkeit des Menschen also »zum praktischen Gebrauche« (A 365), d. i., für die moralische Zurechnungsfähigkeit hinreichend gesichert werden: Nicht bereits im ›Ich denke…‹, aber dafür dann im kategorischen ›Ich soll…‹ wird sich der Mensch seiner übersinnlichen Existenz unmittelbar bewusst – und damit auch seiner Freiheit (vgl. V, 50.18–29). Fortan gibt es für uns somit neben der theoretischen (das heißt bei Kant: durch unsere Anschauung konstituierten) Objektivität von Begriffen auch noch ausdrücklich eine genuin praktische (d. i. durch unser Bewusstsein des Sittengesetzes gestiftete) Objektivität derselben (s. V, 6, 132 ff.; vgl. B XXVI Fn. und XVIII, 679 f. [R 6353]; XXI, 420–422). Pistorius’ 1786er Einwand gegen Kants spekulativen Aufweis der Möglichkeit der Freiheit des Menschen vermittels dessen »bloße[r] Apperzeption« hat sich somit als das Sprungbrett zu einer »consequent«-kritischen Freiheitslehre erwiesen, mit der dann erstmals eine »consequent«-kritische Paralogismen-Kritik überhaupt möglich wurde. Dass diese am Ende wiederum eine »consequent«-kritische Neufassung des gleichermaßen um die Apperzeption kreisenden zweiten Deduktions-Abschnittes zur Folge haben musste, versteht sich damit fast schon von selbst – wäre aber ein eigenes, neues Thema.25

Das ist gleichsam die Gretchenfrage für die kritische Denkungsart: Denn wenn das Faktum eine Bestimmung meiner Existenz durch nicht-sinnliche Prädikate ermöglichte, dann wäre es definitiv eine intellektuelle Anschauung und damit der Einstiegspunkt für den Rückweg zur dogmatischen Philosophie. – Die kritische Bedeutung dieses Unterschieds ist zumindest Fichte definitiv entgangen: Wie sonst hätte er sich unter Berufung ausgerechnet auf das Faktum zu einem Kantianer mit intellektueller Anschauung erklären können (s. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Sect. 6, Abs. 5 f.) – wovon ihn dann sogar Kant nicht mehr abzubringen vermochte (dazu XII, 370, vgl. 241)? 25 Hier sei nur exemplarisch auf die §§ 24–25 hingewiesen, welche (nach den allgemeinen Hinweisen auf die nun erstmals »consequent« bestimmten Grenzen reinen Kategoriengebrauchs in §§ 22–23) im Wesentlichen die Funktion haben, Elemente einer »consequent«-kritischen Apperzeptions-Lehre vorzustellen, womit sie – in Antizipation des B-Paralogismus – bereits der 1781/85er Freiheitslehre jede Grundlage entziehen (B 158 Fn., s. u.). Die Über24

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VIII. Es ist uns nicht überliefert, wodurch Kant sich letztlich veranlasst sah, die Überarbeitung der Kritik der reinen Vernunft wenige Zeilen nach der zuletzt zitierten Passage kurzerhand einfach abzubrechen,26 die gesamte zweite Hälfte der Schrift (A 405–856), trotz der tiefgreifenden Revisionen sowohl in der Epistemologie des »unbedingt Praktischen« (V, 29.28), als auch in der Architektonik seiner Kritik(en), völlig unüberarbeitet wieder in Druck zu geben – und stattdessen ein Buch mit dem Titel Kritik der praktischen Vernunft zu schreiben. Dass eine inhaltliche Überarbeitung auch der zweiten Hälfte durchaus anstand (und von Kant bereits punktuell vorbereitet war [s. XXIII, 41 ff.]), zeigt sich freilich nicht nur bei der Freiheitsfrage selbst, d. i. hinsichtlich der Auflösung der dritten Antinomie, sondern ungleich direkter auch in einem anderen, eng verwandten Kontext: In der Lehre vom höchsten Gut. Diese steht in der Methodenlehre, genauer: im praktischen »Kanon der reinen Vernunft« und sollte 1781 ausdrücklich das Motivationsproblem beim sittlichen Handeln lösen und zudem sogar verpflichtungskonstitutiv sein (A 811 ff. und A 634; vgl. noch 1783: XXVIII, 1283 f.). Beides aber war 1785 mit der Autonomielehre der Grundlegung für Kant unhaltbar geworden – und er hatte das 1786 auch schon öffentlich dargelegt.27

arbeitungen in B 66 ff., B 288 ff., B 302, und B 305 ff. dienen gleichermaßen der Anpassung an die Grundlagen der neuen Apperzeptionslehre (vgl. auch die Vorredenpassagen B XXI und B XXVII). – Die damit nahe liegende Frage, inwieweit man angesichts der Leugnung jeder spekulativen Selbsterkenntnis bei Kant nach 1787 überhaupt noch eine gehaltvolle (nichtempirische) Theorie des Selbstbewusstseins erwarten kann, liegt weit außerhalb des Rahmens dieses Aufsatzes (s. dazu demnächst Heidemann [im Erscheinen]). 26 Zwei Vorverweise auf eine verbindliche Darlegung der bis dahin bloß skizzierten Freiheitslehre (das »in der Folge« zu Beginn des eben zitierten B 431-Absatzes und ein weiteres »Im folgenden« in B 432) gehen definitiv ins Leere. Sie sind für die Leser im Sommer 1787 sogar schlicht unverstehbar, denn im gesamten Buch ist von einer separat erscheinenden Kritik der praktischen Vernunft keine Rede. Man muss also davon ausgehen, dass Kant Teile der uns vorliegenden Überarbeitung des Textes noch unter der Annahme niedergeschrieben hat, er werde die zweite Hälfte so umgestalten, dass sie eine »Kritik der praktischen Vernunft« als »Zusaz« (s. X, 471; vgl. III, 556) in sich aufnehmen kann. – Zum äußeren Entstehungskontext der zweiten Kritik siehe die Materialien bei Klemme 2010. 27 S. VIII, 139.22 ff. Die Gründe sind dabei bereits dieselben wie dann 1787/88 (vgl. V, 109.21 ff., 129.27 ff.). – Die Inhalte des »Kanon der reinen Vernunft« (A 797–831), Gott, Unsterblichkeit und Vernunftglaube, hätten bei einer vollständigen Überarbeitung der Kritik der reinen Vernunft unter Voraussetzung der Existenz der Kritik der praktischen Vernunft ohnehin sämtlich in erstgenannter Schrift gestrichen werden müssen: Ausdrücklich als praktisch deklariert, waren sie bereits 1781 »der transzendentalen Philosophie fremd« (A 797, 801) und finden folglich erst 1787/88, ganz im Sinne der neuen ›2-Kritiken-Architektur‹ (und nun selbstverständlich auch Autonomielehren-verträglich), in der Dialektik einer Kritik der praktischen Vernunft ihre gleichsam natürliche Heimat (s. u.).

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Den Wiederabdruck irgendeiner Passage der unangetasteten zweiten Hälfte kann man somit grundsätzlich nicht mehr ohne Weiteres als hinreichenden Beleg dafür nehmen, dass Kant die darin vorgetragene Auffassung auch 1787 noch gelten lassen wollte. Zu den besonders fragwürdigen Passagen gehört sicherlich die oben aus A 546 herangezogene Behauptung: Der Mensch »erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption« und »ist sich selbst ein bloß intelligibler Gegenstand«. Selbstredend: Sogar bei dieser Passage wird man es sich ›irgendwie‹ so zurechtlegen können, dass Kant sie letztendlich doch ganz bewusst in einem Buch hatte stehen lassen wollen, in welchem es an früherer Stelle jetzt allerdings heißt: »Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntniß seiner selbst unerachtet aller Kategorien, welche das Denken eines Objects überhaupt durch Verbindung des Mannigfaltigen in einer Apperception ausmachen.« (B 158; vgl. auch etwa B XXVIII, B 306 f., B 407 und B 411 f. ) Doch der Preis für solche Assimilierungsversuche wäre hoch, denn ohne die fragwürdige hermeneutische Maxime, dass Kants Sätze (und die darin vorkommenden Ausdrücke) nicht unbedingt das bedeuten sollen, was Leser, die sich (sei es 1787 oder 2012) gründlich bis zu ihnen vorgearbeitet haben, annehmen müssen, dass sie bedeuten, käme man dabei sicherlich am Ende nicht aus.28 Der Versuch, den kritischen Kant zum philosophischen Starrkopf zu erklären, machte ihn also auch gleich noch zu einem enigmatischen Schriftsteller. Dass Kant selbst tatsächlich in dem Bewusstsein schreibt, der Kritischen Philosophie 1787 noch einmal eine neue Richtung zu geben, zeigt sich an mehreren Stellen in den Texten seit dieser Zeit, zumeist allerdings nur in verklausulierter und stilisierter Form. Am Ende der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft heißt es etwa: »Öftere Beobachtung hat mich überzeugt, daß, wenn man dieses Geschäfte zu Ende gebracht hat, das, was in der Hälfte desselben in Betracht anderer Lehren außerhalb mir bisweilen sehr bedenklich schien, wenn ich diese Bedenklichkeit nur so lange aus den Augen ließ und blos auf mein Geschäft Acht hatte, bis es vollendet sei, endlich auf unerwartete Weise [!] mit demjenigen vollkommen zusammenstimmte, was sich ohne die mindeste Rücksicht auf jene Lehren, ohne Parteilichkeit und Vorliebe für dieselbe von selbst gefunden hatte.« (V, 106)29

Im vorliegenden Falle kommt freilich hinzu, dass man bei Bedarf die hier einschlägige Änderung der inhaltlichen Position von 1787 gegenüber der von 1781 auch unmittelbar an der Ersetzung einschlägiger Passagen des Phaenomena/Noumena-Hauptstücks ablesen kann (s. o. Anm. 23). 29 Vgl. auch den ›Heureka-Duktus‹ im Vorlauf zur anonymen Referenz an Pistorius (V, 5.24–6.17: »hier allererst«, »vorher«/»jetzt« etc.); ganz ähnlich auch der Vorredenentwurf XXI, 421 f. (s. dazu die hilfreichen Hinweise von Klemme 2003 in seiner Ausgabe der Kritik der praktischen Vernunft, 220 ff.). 28

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Die Kritik der reinen Vernunft stellt sich also 1787 (am »Ende«) als der angemessene transzendentalphilosophische Rahmen selbst für eine solche Freiheitslehre heraus, die – was 1781 freilich noch niemand (und schon gar nicht Kant selbst!) antizipieren konnte – ihre Grundlage erst jenseits der Spekulation, in einem »Faktum der reinen praktischen Vernunft«, findet. Man muss hierfür nämlich nur einen bis dahin unerkannt gebliebenen (und bloß vermeintlich »unstreitigen«) Restbestand der schulphilosophischen Psychologie endgültig eliminieren: Die spekulative Einsicht in eine »bloß-intelligible« Existenz des Menschen durch »bloße Apperzeption«. Und das gelingt bereits nach Wunsch, wenn man dafür die Paralogismen-Kritik von 1781 durch eine »consequente« Berücksichtigung der Zwei-Stämme-Lehre noch einmal radikalisiert, wodurch sie sich dann sogar erheblich vereinfacht30 und entsprechend verkürzt. Der Transzendentale Idealismus erweist sich damit »auf unerwartete Weise« erneut als ein philosophisches Erfolgsprojekt – wobei Kant seinen Lesern verschweigt, dass er dabei nicht ganz ohne eine auch für ihn selbst unerwartete Nachjustierung (vgl. V, 7.4 ff.) ausgekommen ist: Die Transzendentalphilosophie allein kann seit 1787 schließlich nicht mehr »eine befriedigende Antwort« (vgl. A 535) auf die Frage nach der Freiheit des Menschen liefern. In einem Brief an Kiesewetter legt Kant am 20. April 1790 die drei Jahre zuvor neu eingeführte Arbeitsteilung zwischen erster und zweiter Kritik, zwischen Spekulation und reiner praktischer Vernunft bezüglich der Freiheitsfrage in erfreulicher Klarheit dar: »Wegen Ihrer letzten Fragen merke ich nur an: daß […] die Möglichkeit der Freyheit, wenn sie vor [!] dem moralischen Gesetze betrachtet wird (in der Critik der reinen Vernunft), nur [!] den transscendentalen Begrif der Caussalität eines Weltwesens überhaupt bedeutet (ohne [!] darunter besonders die durch einen Willen anzeigen zu wollen), so fern sie durch keine Gründe in der Sinnenwelt bestimmt wird und daß daselbst [!] nur [!] gezeigt wird, daß sie keinen Wiederspruch enthalte. Nun wird [zufolge der Kritik der praktischen Vernunft; B. L.] durchs moralische Gesetz jene transscendentale Idee realisirt und an dem Willen [!], einer Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen), gegeben [!], weil das moralische Gesetz keine Bestimmungsgründe aus der Natur (dem Inbegriffe der Gegenstände der Sinne) zuläßt und der Begriff der Freyheit, als Caussalität, wird bejahend erkannt, welcher ohne einen Cirkel zu begehen mit dem moralischen Bestimmungsgrunde reciprocabel ist« (X, 154 f.; vgl. bereits B XXVIII f. und V, 15). Kurz: Das unleugbar gegebene Bewusstsein einer nicht-sinnlichen Nötigung durch das Sittengesetz postuliert unsere Freiheit und begründet (seit 1787) damit sowohl

So können zum Beispiel die ersten drei Paralogismen nun weitgehend gemeinsam und »in einem ununterbrochenen Zusammenhange« (B 406) behandelt werden, während 1781 gerade dafür, dass Substantialität, Einfachheit und Personalität im eingeschränkten Sinne »bleiben« (A 365, s. o.) konnten, noch drei jeweils spezifische Erörterungen nötig waren. 30

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1) die Notwendigkeit als auch 2) die Möglichkeit,31 unseren eigenen Willen als genau jene Art von absoluter Spontaneität zu denken, deren 3) grundsätzliche Möglichkeit die kritische Spekulation (bereits 1781) »rechtfertigen« und gegen alle naturalistischen beziehungsweise empiristischen Einwände immunisieren konnte, indem sie uns »hinreichend versichert«, »daß kein Beweis ihrer Unmöglichkeit stattfindet« (V, 94, s. o.; vgl. V, 48 f., 105). Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft hatte noch alle drei Nachweise der Spekulation zumuten wollen – und diese zumindest mit dem zweiten (was Pistorius nicht entgangen war) dogmatisch überfordert. Damit die zweite Auflage mit Kants eigenen Beschreibungen der neuen, seit 1787 gegenüber 1781 nun ausdrücklich reduzierten Aufgaben für eine Kritik der reinen Vernunft (beziehungsweise für die spekulative Transzendentalphilosophie) architektonisch wie inhaltlich grundsätzlich in Übereinstimmung ist, muss in deren zweiter Hälfte also zumindest noch ein 1781er Textblock von knapp 15 AA-Seiten konsequent ausgeblendet werden: Der Abschnitt »Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit« mitsamt den vorbereitenden Bemerkungen über die Notwendigkeit der transzendentalen Freiheit für die praktische.32 Dieser Block behandelt vom ersten bis zum letzten Satz unübersehbar »besonders« die »Caussalität […] durch einen Willen«, d. i. die Willkür, »eine Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen)« und damit definitiv nicht (mehr) »nur den transscendentalen Begriff der

Vgl.: Wir werden »[…] durchs moralische Gesetz, welches dieselbe [sc. unsere Freiheit; B. L.] postuliert, genötigt, eben dadurch auch berechtigt […] sie anzunehmen« (V, 94; s. o.). – Bis 1785 lieferte die »bloße Apperzeption« die hier in Frage stehende Berechtigung (s. o.). Und die Nötigung resultierte seinerzeit daraus, dass der Mensch als ein vernünftiges Wesen »allen [!] seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung« eine absolute Spontaneität zugrunde legen muss (IV, 461); vgl. 1781: »[D]ie Aufhebung der transzendentalen Freiheit [würde] zugleich alle [!] praktische Freiheit vertilgen« (A 534; vgl. A 548; analog A 802); vgl. auch die Annahme eines »schlechthin ersten Anfang[s]« in dem (von Kant dort ohne jede sittliche Konnotation diskutierten!) »völlig freien« Aufstehen vom Stuhl (A 459). Die »Notwendigkeit« einer spontaneitas absoluta für Denken und Handeln vor jeder sittlichen Betrachtung (vgl. IV, 343 ff.) nahm Kant ganz schulkonform von den 1770er Jahren (s. etwa XXVIII, 269) bis 1785 an: Wie hätte er auch sonst noch in der Grundlegung ohne »Zirkel« »aus der Freiheit […] aufs sittliche Gesetz« schließen können? (IV, 453). – Vgl. genau gegen dieses schulphilosophische Dogma dann nach 1787 besonders deutlich: XXVII, 503.29 ff. und 505.3 ff. mit V, 97.32 ff.; sowie V, 96.19 ff., 101 und VI, 223.18–23 (s. dort insbesondere das zweifache »sofern«!): Die Voraussetzung transzendentaler Freiheit ist für Kant fortan ausschließlich in Hinblick auf die Erfüllbarkeit kategorischer Gebote notwendig (dazu Brandt 2007, 378 ff.), denn weder das »allervernünftigste Weltwesen« noch ein »denkender Automat« bedürften dergleichen für ihre reflektierte Zwecksetzung und rationale Mittelwahl (VI, 26 Fn.), geschweige denn für ihr Selbstbewusstsein (V, 101). 32 Also von A 533 / B 561: »Es ist überaus merkwürdig […]« bis A 557 / B 585: »[…] ungestört stattfinden können«. – Dort werden die soeben genannten Punkte 1) und 2) abgehandelt (s. o. Anm. 31); im Einleitungsabschnitt des Kanon wird das alles später dann noch einmal kurz als »oben abgethan« rekapituliert. 31

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Caussalität eines Weltwesens überhaupt« (s. o.). Sein Gegenstand fällt im Sinne der neuen Konzeption von 1787 ff. somit definitiv in die Domäne der praktischen Vernunft (vgl. V, 15.8 ff., 49). Dieser 1781er Textabschnitt ist folglich, genau wie der von Kant ohnehin nicht zur spekulativen Transzendentalphilosophie gerechnete (s. o. Anm. 27) praktische »Kanon der reinen Vernunft«, seit Ende 1787 obsolet: Unter den Titeln einer »Analytik…« und einer »Dialektik der Kritik der reinen praktischen Vernunft« bilden nämlich die erheblich erweiterten (und nun selbstredend auch »consequent«-kritischen) Neufassungen genau dieser beiden Lehrstücke die Elementarlehre einer Kritik der praktischen Vernunft. Sie stehen damit (auch das ist »consequent«) jetzt außerhalb jenes Buches, das Kant immer schon als eine »Kritik der [reinen] speculativen [!] Vernunft« konzipiert hat und mitunter auch so bezeichnet.33 Auch wenn die Vorgängerversionen kurz zuvor noch einmal in Druck

So etwa IV, 491; B XXII; V, 16, 45, 141, 482. – Aus der Perspektive der bereits vorliegenden zweiten Kritik stellt es sich prima facie so dar, als habe Kant die Überarbeitung der ersten Kritik in genau jenem Moment umgehend abgebrochen (vgl. o. Anm. 26), als ihm klar wurde, dass die neue Behandlung der Freiheit des menschlichen Willens angesichts ihrer Abhängigkeit vom Sittengesetz nun nicht weiterhin innerhalb einer transzendentalen Dialektik stattfinden konnte. Zwar hätte Kant daraufhin seine neue Freiheitslehre einfach zu Gott und Unsterblichkeit in den praktischen Kanon verlagern können – was aber kaum ihrer philosophischen Bedeutung angemessen gewesen wäre. So war es also nur konsequent, den entsprechend erweiterten Kanon in eine Kritik der praktischen Vernunft zu transformieren und als separates Buch zu publizieren (für die hiermit entstandene Notwendigkeit einer separaten Kritik der teleologischen Urteilskraft [s. o. Anm. 22]). – Diese durchaus übersichtliche Rekonstruktion des Umbaus der Systemarchitektur dürfte zwar post festum den sachlichen Kern angemessen (und bei Berücksichtigung aller einschlägigen inhaltlichen Äußerungen Kants seit dem »Aprilmonat 1787« wohl auch alternativlos) beschreiben, sie lässt allerdings die Frage unbeantwortet, warum Kant die am Ende doch recht einfachen, notwendigen Anpassungen in der ersten Kritik nicht mehr vorgenommen hat. Wir sollten somit eher davon ausgehen, dass Kant bei Abbruch der Überarbeitung der ersten Kritik über Aufbau und Gesamtinhalt der zweiten noch keine Klarheit gewonnen hatte: Brauchte das neue Buch nun vielleicht seinerseits Analytik und Dialektik (vgl. IV, 391.20 ff.)? Gehört nicht eigentlich auch die Lehre vom Höchsten Gut dort mit hinein? Hängen diese beiden Fragen jetzt vielleicht zusammen? Bedarf es am Ende auch eines praktischen Gegenstücks zur Ästhetik? Wohin mit der Lehre vom »intelligiblen Charakter«? Ist diese überhaupt noch ohne weiteres mit der erst 1784 entdeckten AutonomieLehre vereinbar? Was könnte Gegenstand einer Methodenlehre sein? Und so weiter und so fort ad infinitum. Möglicherweise hat Kant also 1786/87 den Kanon und die Auflösung der Freiheitsantinomie aus gutem Grund gar nicht angerührt: Er hätte ja erst nach wesentlichen Fortschritten mit der zweiten Kritik wissen können, was am Ende in der ersten noch alles zu tun ist. Und im Falle, dass der dafür benötigte Aufschub nicht möglich war (vermutlich hatte der Verleger bereits gedrängelt [s. X, 441]), blieb der einfache Wiederabdruck von A 405–856 tatsächlich die nächstliegende, aber gleichwohl höchst unglückliche, Wahl. – Es bleibt hier allerdings noch die Frage offen, warum Kant in der als Letztes verfassten Vorrede dann zwar die einschlägigen inhaltlichen Innovationen vorträgt (B XXI f., XXVIII f.), die architektonische 33

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gegangen sind: Sie waren – nicht anders als die zu dieser Zeit von Kant bereits definitiv ausrangierten Versionen von Paralogismen und Deduktion – nur die ersten öffentlichen, dabei aber unvermerkt in dogmatische Gefilde zurückführenden, Gehversuche auf dem bis dahin noch gänzlich unerschlossenen Terrain einer neuen »Denkungsart der speculativen Critik«. – Das wirft nun auch ein unerwartetes Licht auf die im Sommer 1787 in Druck gegebene zweite Kritik: Sie sollte die erste Kritik also nicht etwa planvoll ergänzen. Vielmehr »enthält [sie] manches[,] welches die Mißverständnisse der34 [Kritik] der theoretischen heben kann« (X, 484; vgl. V, 5.24 ff.). Und das heißt, wie wir jetzt erkennen können, im Klartext: Sie musste um der »consequenten Denkungsart der speculativen Critik« willen einfach noch zwei weitere von den (»missgedeuteten«) 1781er Lehrstücken ersetzen: Eines davon (das über die menschliche Freiheit) hatte sich erst kurz zuvor als überholt erwiesen, das andere (über Gott und Unsterblichkeit) schon 1785.

IX. Die Verschärfung der Paralogismen-Kritik wirft – wie oben angedeutet – bereits in der B-Deduktion ihren Schatten voraus. Hier soll jetzt nur noch eine dortige Bemerkung zum Begriff der »Intelligenz« den Anlass bieten, den Kreis vorläufig zu schließen. In § 25 heißt es – in uns nun bereits aus B 431 (s. o.) vertrauter Weise: »[D]ie Bestimmung meines Daseins* kann nur der Form des inneren Sinnes gemäß nach der besonderen Art, wie das Mannigfaltige, das ich verbinde, in der inneren Anschauung gegeben wird, geschehen […]« (B 158), und an »Daseins« hängt dabei eine höchst aufschlussreiche Fußnote: »Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin, eben so vor dem Actus des Bestimmens giebt, wie die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein als eines selbstthätigen Wesens nicht bestimmen; sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar. Doch macht diese Spontaneität, daß ich mich Intelligenz nenne.« (B 158) Kant verrät uns hier freilich nicht, dass er sich mit der Betonung, der Mensch könne mangels intellektueller (Selbst-)Anschauung sein »Dasein als eines selbstthätigen Wesens nicht bestimmen«, sondern stelle sich die Spontaneität seines Bestimmens nur vor, sein Dasein bleibe ein Dasein in der Erscheinung, und er nenne sich nur »Intelligenz«, ausdrücklich auch noch von einem erstmals 1785 vorgestellten Lehrstück distanziert: Er hatte nämlich im dritten Abschnitt der Grundlegung mit der Konsequenz einer zweiten Kritik (die im April ja schon in Arbeit ist!) dagegen nicht einmal andeutet (siehe dazu unten Abschnitt XI). 34 Ein Schelm, der hier an einen genitivus subjectivus denkt!

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vermeintlichen Erkenntnis, dass der Mensch sich »als Intelligenz« auch als »zur Verstandeswelt gehörig« ansieht (IV, 452; s. o.), nicht nur (wie schon 1781) die »Möglichkeit« der Freiheit sichern wollen (in der dritten Sektion). Unter dem Titel: »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?« ging es ihm dann (in der vierten Sektion) darüber hinaus noch um eine Erklärung des nötigenden Charakters des Sittengesetzes für den Menschen (s. IV, 417.3–6). Diese Aufgabe stellte sich dort, weil aus der – zuvor als praktisch »notwendig« und spekulativ »möglich« erwiesenen – »Voraussetzung« der intelligiblen Freiheit des Menschen (IV, 453; s. o.) zwar bereits durch bloße »Zergliederung« (d. i., »analytisch« [IV, 447]) folgte, dass sein freier Wille ein solcher Wille ist, dem das Sittengesetz zum Gesetz seiner Kausalität dient. Der Satz hingegen, dass der menschliche Wille als ein intelligibler und zugleich sinnlich-affizierter unter einer Nötigung durch dieses Sittengesetz, d. i. unter einem kategorischen Imperativ, steht (während ein schlechterdings guter Wille mit dem Gesetz notwendig in Übereinstimmung wäre), ist synthetisch (ebd.): Ein kategorischer Imperativ ist für einen von der Sinnlichkeit »affizierten Willen« nämlich nur dadurch »möglich«, dass die Idee eines »reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt«35 und das »moralische Sollen« folglich als »ein eigenes notwendiges Wollen« (IV, 455.7) »gedacht werden« kann (s. IV, 417.6). Diesem reinen Willen muss dabei dann allerdings auch eine gesetzgebende Autorität über das kontingente, sinnlich-induzierte Wollen innewohnen, und das hierfür vorauszusetzende Unterordnungsverhältnis wird nun mit einem erneuten Rekurs auf den Menschen als Intelligenz ausbuchstabiert: »Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt«, und da diese »den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz [!] zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits [!] wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen […] ansehen müssen« (IV, 453 f.).

Die in IV, 454.21 genannte »Deduktion« ist folglich die des (IV, 391.25 ff. und 431.36– 432.4 bereits angekündigten) Vernunft-Begriffs (der Idee) eines reinen Willens, jenes »Dritten«, welches »die Möglichkeit [!] eines Kategorischen Imperativs begreiflich [!] mach[t]« (IV, 447); siehe dazu in IV, 454.12–37 besonders die ausdrücklich angeführte Analogie des ›möglich‹-Machens synthetischer Sätze [!] a priori durch die Deduktion der Verstandes-Begriffe [!], sowie den Hinweis auf einen »Willen [selbst beim ärgsten Bösewicht!; B. L.], der von den Antrieben der Sinnlichkeit frei ist« als Bestätigung der »Richtigkeit dieser Deduktion«. – Die seit Paton vieldiskutierte Deduktion des kategorischen Imperativs hingegen gibt es in Kants Grundlegung definitiv nicht – nicht einmal ›in gewissem Sinne‹. 35

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Um die hier stillschweigend bemühte Erkenntnis seiner selbst als einer von der Sinnenwelt »ganz« abgesondert existierenden Intelligenz zu erläutern, wird später dann im schlechtesten Wortsinne herum-»speculiert«: »Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältniß zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Causalität, begabt denkt, als wenn er sich wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt und seine Causalität äußerer Bestimmung nach Naturgesetzen unterwirft.« (IV, 457) Diese Passage zeigt freilich nicht mehr, als bloß ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen am Ende einer philosophischen Sackgasse: Der Mensch nimmt sich in der Sinnenwelt wahr, betrachtet sich aber auch als Intelligenz in einer intelligiblen Welt – und damit hat er sich dann bereits einer Doppel-Existenz in zwei gleichsam separaten »Welten« vergewissert, sodass er in der ersten den Gesetzen der zweiten (in der er sich nun aber nicht nur bloß-gedacht, sondern in die er sich damit auch gleich noch – ohne jede Anschauung – als Intelligenz gesetzt hat) unterworfen sein kann… Von einer solchen Schlussfolgerung dürfte letztendlich (und das gewiss nicht nur unter den strengen Vorgaben des Transzendentalen Idealismus) rein gar nichts zu retten sein. Pistorius etwa findet in diesen Passagen nur die »abstruseste Metaphysik«, für welche Kant zwar »in die tiefsten Gruben der Speculation« hinabgestiegen sei, wohin er, Pistorius, ihm aber nicht »nachklettern« werde, weil dort keine lohnende »Ausbeute« locke: Kant bedient sich »…seines problematischen Freiheitsbegriffes, versetzt uns aus der Sinnen- in die Verstandeswelt, und holt aus dieser uns seinen sonstigen Prinzipien nach, völlig unbekannten Welt, die Gründe zur Möglichkeit und Nothwendigkeit seines kategorischen Imperativs herüber« (AdB, 66.2, S. 462; s. Gesang 2007, 37). Auch Kant selbst lässt 1787 dann (wie wir erleichtert feststellen dürfen) an seiner konsequent-unkritischen Verzweiflungstat aus dem Jahre 1785 kein gutes Haar mehr: Der B-Paralogismus schließt (bevor der Text dann zur Kosmologie überleitet) »consequent« mit einer vorbehaltlosen Verurteilung genau ebendieser eigenen, letztendlich noch durch-und-durch cartesianischen Denkungsart contre cœur von 1781/85: »Der dialektische Schein in der rationalen Psychologie beruht auf der Verwechselung einer Idee der Vernunft (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stükken unbestimmten Begriffe eines denkenden Wesens überhaupt[:] Ich denke mich selbst zum Behuf einer möglichen Erfahrung, indem ich noch von aller wirklichen Erfahrung abstrahire, und schließe daraus, daß ich mich meiner Existenz auch außer der Erfahrung und den empirischen Bedingungen derselben bewußt werden könne. Folglich verwechsele [!] ich die mögliche Abstraction [!] von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein [!]

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einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst und glaube das Substantiale in mir als das transscendentale Subject zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen als der bloßen Form der Erkenntniß zum Grunde liegt, in Gedanken habe.« (B 426 f.) Man lasse sich hier von dem »Schein in der rationalen Psychologie« nicht in die Irre führen: Was mit ungebrochen schulkritischem Gestus daherkommt, erweist sich bei etwas genauerem Hinsehen als ein höchst beeindruckendes Dokument kritischer Selbstverständigung und stillschweigender Selbstkritik: Denn genau das, was Kant hier (wie auch schon in B 421) 1787 nun als den Kardinalfehler der rationalen Psychologie kritisiert, hatte er selbst im Jahre 1781 von dieser noch bedenkenlos als »unstreitig« übernommen und wollte es weiterhin (de facto: bis 1785) »gar wohl gelten lassen« – wenn auch nicht mehr, wie diese, zum »empirischen Gebrauche«, sondern eben nur noch zum »praktischen«.

X. Die »Verwechselung« der soeben benannten Art wurde bereits zuvor, in einer B-Ergänzung zum Phaenomena-Noumena-Hauptstück, auf kritische Begriffe gebracht: »Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Object unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahiren [!], so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Object einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellectuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung.« (B 307, Hervorhebung von Kant; vgl. B 149). Der kurze Weg in die transzendentale Verwirrung von 1781 lässt sich mit dieser Terminologie nun leicht nachzeichnen (vgl. B 428 f.): Durch den inneren Sinn werde ich mir im »Ich denke« meiner empirisch bestimmten Existenz bewusst. Abstrahiere ich nun von der sinnlichen Anschauung, dann bleiben von der kategorialen Bestimmtheit des durch »Ich« bezeichneten Gegenstandes nur jene logischen Funktionen (»das Verhältnis der Begriffe im Denken«) übrig, durch die ich mich als Etwas denke. Begehe ich nun einen transzendentalen Fehler (vgl. A 71 f.), indem ich das (zutreffende) verneinende Urteil: »Dieses Etwas ist nicht (als) sinnlich (bestimmt)« mit dem unendlichen Urteil: »Dieses Etwas ist (als) nicht-sinnlich (bestimmt)« verwechsle, dann wird mir das bloß gedachte Etwas36 (ein »Noumenon im negativen

Genauer freilich: ›das als Etwas bloß-Gedachte‹ (vgl. die Deutung dieses »Etwas« als »transscendentales Subject« in A 355 mit B 427; s. o.). 36

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Verstande«) unter der Hand (und dabei ohne jede Anschauung!) zum bloß intelligiblen Gegenstand (zum »Noumenon in positiver Bedeutung«): Ich denke mich also nicht nur als »Substanz, als einfach &c.«, sondern die »psychologischen Lehrsätze«: »Ich als denkend Wesen bin eine Substanz, bin einfach &c.« gewinnen ihre vermeintliche »unstreitige Richtigkeit«37 – und den Wörtern »Gegenstand«, »Ding«, »Objekt«, »objektiv« und so weiter wird damit unvermeidlich eine die ›zwei-Stämme-Lehre‹ des Transzendentalen Idealismus untergrabende Mehrdeutigkeit zuteil: Der A-Paralogismus ist mit der zentralen Grundannahme der Kritischen Philosophie eben schlicht unvereinbar. Von 1787 an wird Kant die Vernunft-Idee einer »Intelligenz« beim Menschen also nicht mehr unmittelbar mit Denken und Selbstbewusstsein identifizieren und als dadurch von der Sinnenwelt »abgesondert« begreifen, sondern er wird sie entweder an die »einschränkende Bedingung« des inneren Sinnes knüpfen (so B 159) – oder aber mit dem Bewusstsein des Sittengesetzes verbinden (s. etwa V, 56 f., 162; VI, 226): Diesem allein verdanken wir seit 1787 die »herrliche Eröffnung« (V, 94) jener nicht-sinnlichen, intelligiblen Welt, ohne die auch der Transzendentale Idealismus die »objektive praktische Realität« (V, 48) unserer sittlichen Freiheit nicht retten könnte – und zwar ganz ohne dass wir dafür bereits zuvor irgendetwas (und schon gar nicht uns selbst) als einen bloß intelligiblen Gegenstand in einer nicht-sinnlichen Welt erkannt haben müssten (vgl. VIII, 416) – ganz im Gegenteil: Den Begriff, welchen die praktische Vernunft »von ihrer eigenen Causalität als Noumenon macht, braucht sie nicht theoretisch zum Behuf der Erkenntniß ihrer übersinnlichen Existenz zu bestimmen und also ihm so fern Bedeutung geben zu können. Denn Bedeutung bekommt er ohnedem, obgleich nur zum praktischen Gebrauche, nämlich durchs moralische Gesetz« (V, 49 f.). Und diejenigen »intelligiblen Gegenstände«, auf die uns die »Vernunft nach Anleitung jenes Gesetzes« hernach führen wird (nämlich Freiheit, Gott und Unsterb-

Kant geht also 1781 (stillschweigend) von der »logischen Einheit des Gedankens« (»Etwas«), das heißt vom ›Ich denke X als einen Gegenstand‹ unmittelbar über zu ›X ist ein Gegenstand, den ich denke‹ (vgl. A 389, s. o.) – was er dann wiederum als ›X ist ein Gegenstand im Denken‹, ›… ein Gegenstand in der Verstandeswelt‹, ›… ein bloß intelligibler Gegenstand‹ und so weiter durchdekliniert. Genannten Übergang vollzieht Kant mitunter innerhalb eines einzigen Satzes: »Ich sage nur, daß ich etwas ganz einfach [das heißt im gegebenen Kontext: durch die reine Qualitätskategorie als einfach; B. L.] denke [!], weil ich wirklich nichts weiter als blos, daß es Etwas sei [!], zu sagen weiß.« (A 400 – man achte hier auch auf den Wechsel von Klein- zur Großschreibung bei »etwas«; gleich darauf folgt dann die eingangs herangezogene Passage »Nun ist [!] die Apperzeption (Ich) Substanz im Begriffe […]«). – Ob und, wenn ja, in welchem Sinne, ein solcher Übergang überhaupt möglich sein soll, wurde gut 100 Jahre später zum zentralen Thema in der Debatte über ›Intentionale Gegenstände‹ (s. Beyer 2011, 100 ff.). Kant wäre bis 1786 in dieser Debatte ein Paläo-Meinongianer gewesen. 37

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lichkeit [s. V, 4]), haben dann eben auch nur eine Bedeutung in Hinblick auf dieses Gesetz selbst (V, 70): Das Übersinnliche kann, darf und muss jetzt also nicht mehr vorgestellt werden als eine »Welt« im gegenständlichen Sinne, d. i. als eine Pluralität von »Dingen« an sich: Die Verstandeswelt einer kritischen Philosophie enthält grundsätzlich keine »mannichfaltigen Dinge oder wirklichen Theile« (auf diesen Hinweis Pistorius’ hatte Kant seinerzeit prompt reagiert) und schon gar keine Seelen-Substanzen – weder »nackt« noch »in der Idee«. Und wir benötigen dergleichen auch gar nicht, denn »zum praktischen Gebrauche« (A 365) reicht es bereits völlig hin, wenn wir uns in der Nötigung durch das Sittengesetz der Realität des Übersinnlichen bewusst sind (s. V, 134 ff.) und dieses in Hinblick auf seine »Gesetzmäßigkeit« als eine »Welt« denken können (s. V, 45.22–29; vgl. die »Typik«: V, 67 ff.). Für eine theoretische Exploration des Übersinnlichen hingegen ist die menschliche Vernunft überhaupt nicht zu »gebrauchen« – und das war schon 1781 (vgl. o. Anm. 16) der grundsätzliche, kritische Einwand gegen den schulphilosophischen Dogmatismus.38

Vgl. dagegen etwa jüngst Kitcher: »[Kants] analysis of cognition does not imply the existence of thinkers. It implies that cognizers can understand themselves as existing as thinkers independently of the particular form of intuition. On Kant’s reading of Descartes, the Second Meditation presents an imaginative exercise that shows how humans can think of themselves as ›continuing‹, atemporal, and spontaneous thinkers. It is thus useful for this larger purpose in writing the Critique, because it makes the possibility of immortality intelligible« (Kitcher 2011, 196 f.). – Die kritische (und bis 1787 ausschließlich bei der Freiheitsdeduktion noch nicht konsequent berücksichtigte) Dichotomie von ›sich als etwas erkennen‹ (vermittels Anschauung) und ›sich als etwas bloß denken‹ (per Abstraktion) wird hier – gut cartesianisch – einfach wieder dogmatisch unterlaufen (sc. »understand [?] themselves as existing [!] independently of the particular form of intuition« – und dabei »atemporal[ly] ›continuing‹ [?]«). Und im letzten Satz des obigen Zitats wird dann konsequenterweise sogar Kants kritische Grenzbestimmung der theoretischen Vernunft wieder geschleift: Gerade die »possibility of immortality« war für Kant seit 1781 definitiv kein Thema der theoretischen Philosophie mehr: Die (logische) Möglichkeit, sich eine unsterbliche Seele zu denken (sc. »think«, d. i. die Widerspruchsfreiheit ihres Begriffs) steht ohnehin außer Frage, und alles was für uns darüber hinaus noch an der Unsterblichkeit »understand[able]« oder »intelligible« sein mag (d. i. ihre reale Möglichkeit), kann und soll fortan gerade nicht mehr von irgendwelchen spekulativen (d. i. nicht-empirischen, nicht-analytischen, theoretischen) Erkenntnissen über die Seele (beziehungsweise über einen »thinker«) abhängen, weil wir über solche mangels intellektueller Anschauung schlicht nicht verfügen (dazu A 384 ff.). Und bei Wesen mit allein sinnlicher Anschauung führt schließlich die »imaginative exercise« einer UnsterblichkeitsVer(sinn)bildlichung naturgemäß zu Meditationen gänzlich anderer Art als der cartesischen (s. etwa VIII, 327–39) – oder eben zum dogmatischen »Schwärmen ins Überschwengliche« (V, 57; vgl. A 289). Kants eigene, positive Behandlung der Unsterblichkeit findet dementsprechend seit spätestens 1781 ohne jede Bezugnahme auf die Apperzeptionslehre statt: zunächst in einem ausdrücklich praktischen Kanon der reinen Vernunft und später in einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft (s. V 132f; vgl. A 384 f., B 425). 38

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Vor diesem Hintergrund sticht am Ende die geradezu anrührende Schlichtheit von Kants gleichsam monistischem Cartesianismus aus der Zeit vor 1787 besonders deutlich ab: Im »Ich denke« sollte das Pronomen (»Vorwort«) »Ich« einen (unbestimmten) Gegenstand bezeichnen, der in einer bloß-intelligiblen Welt existiert, gerade so, wie es etwa im ›Ich liege‹ einen (empirisch bestimmten) Gegenstand in der bloß-sinnlichen Welt bezeichnet. Im ›Ich stehe frei vom Stuhl auf‹ (vgl. A 450) bezeichnete »Ich« dann jenen Gegenstand, der beiden Welten zugleich angehört, weil in ihm der zweite die Erscheinung des ersten ist (so in etwa Prolegomena § 53; bes. IV, 345.20 ff.; vgl. auch IV, 457.15 ff.). – Aus konsequent-kritischer Perspektive waren das freilich nur noch die allerletzten Träume eines Geister-Sehers, dem es im kritisch-dogmatischen Halbschlaf zwar schon längst dämmerte, dass er mangels intellektueller Anschauung niemals bestimmte Geister wird sehen können, der aber erst vollends aufwachen musste, um sich einzugestehen, dass er ohne reine praktische Vernunft nicht einmal wüsste, dass es das »herrliche« Geisterreich überhaupt gibt.

XI. Als Nachgeborene – und von Kant selbst bereits durch seine zweite Auflage der ersten Kritik Belehrte – fragen wir uns heute vielleicht (und dabei dann in skeptischer Einstellung): Sollte es denn tatsächlich möglich gewesen sein, dass dem bereits kritischen Kant bis über die zweite Hälfte des Jahres 1785 hinaus die elementare Einsicht, dass »die mögliche Abstraction von meiner empirisch bestimmten Existenz« nicht schon das »Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst« ist (B 426, s. o.), noch nicht zu Gebote gestanden hat? Bedurfte er im Mai 1786 tatsächlich der deutlichen Einhilfe durch die »sorgfältige, vollkommene und kennergleiche Beurteilung« eines »Liebhabers der Metaphysik« (s. o.), um diese Einsicht zu erlangen – und das gerade noch rechtzeitig für eine Berücksichtigung in der bereits in Angriff genommenen und für den Herbst des Jahres avisierten Neuauflage seiner Kritik der reinen Vernunft? Wer jemals Kants Vorlesungen studiert hat, dürfte sich darüber zumindest nicht mehr wundern, denn dort wird deutlich, dass Kant sich mit größter Souveränität in einer philosophischen Welt bewegte, die uns heute – nicht zuletzt dank seiner radikalen Interventionen – zutiefst fremd geworden ist: In der Welt der LeibnizWolff’schen Schulphilosophie. Es bleibt also vielmehr die Frage, warum wir uns mitunter mit der Einsicht so schwer tun, dass insbesondere Philosophen von der Größe Kants geradezu unausweichlich in einen permanenten Prozess der Selbstkritik verwickelt sind: Philosophische Größe zeigt sich schließlich nicht zuletzt dort, wo es gelingt, sich Schritt für Schritt von den unbefragten, vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der eigenen Zunft und Zeit (in diesem Falle: von der »Täuschung«, dass psychologische und moralische Personalität zusammenfallen [s. V, 101]) zu befreien.39 39

In dem Privatissimum, das Reich in den 1980er Jahren samstäglich in Marburg über

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Genannte Schwierigkeit dürfte gerade in Bezug auf Kant nun aber maßgeblich dadurch vergrößert werden, dass dieser seine eigenen Lernprozesse stets im Verborgenen gehalten hat.40 Sei es, weil er glaubte, es sei unschicklich oder zumindest ungeschickt (›Wer einmal irrt, dem traut man nicht …‹), eigene Fehler einzugestehen, sei es, weil er sich für seine abgelegten Überzeugungen nicht mehr interessierte beziehungsweise in herausragendem Maße der wohlbekannten menschlichen Neigung erlag, sich die früheren Überzeugungen im Lichte der je gegenwärtigen zurechtzulegen – oder weil er gar die innere Evolution seines Transzendentalen Idealismus im Vergleich mit der kritischen ›Revolution der Denkart‹ als Ganzer für letztlich unbedeutend hielt. Wie freimütig Kant insbesondere die Konsequenzen des Pistorius-Einwands (als eines genuin kritischen) bereits nach kurzer Zeit in seine früheren Schriften hineinliest, zeigt unter anderem ein Brief an Schütz vom 25. Juni 1787: Die Kritik der praktischen Vernunft, heißt es dort, sei nun im Manuskript so gut wie abgeschlossen und werde demnächst »besser, als alle Controversen mit Feder und Abel […] die Ergänzung dessen, was ich der spekulativen Vernunft absprach, durch reine praktische, und die Möglichkeit derselben beweisen und faßlich machen, welches doch der eigentliche Stein des Anstoßes ist, der jene Männer nöthigt, lieber die unthunlichsten, ja gar ungereimte Wege einzuschlagen, um das spekulative Vermögen bis aufs Uebersinnliche ausdehnen zu können, ehe sie sich jener ihnen ganz trostlos scheinenden Sentenz der Kritik unterwürfen« (X, 490; vgl. X, 514). An der Möglichkeit einer Ausdehnung des »spekulative[n] Vermögen[s] bis aufs Übersinnliche« hatte Kant selbst aber bis zum Erscheinen der zweiten Auflage der ersten Kritik (kaum zwei Monate zuvor) öffentlich noch nicht den geringsten Zweifel geäußert. Wie hätte er es denn auch können? Zumindest das Freiheitsproblem wurde auch von ihm bis hin zur Grundlegung ganz traditionell als eine Aufgabe für die »speculative Philosophie« behandelt. Freilich: Kant versah die infrage stehende »Ausdehnung« auch seinerzeit schon mit einer besonderen, kritischen Einschränkung, denn die Spekulation konnte mit dem Verweis auf die »bloße Apperzeption«

die Entwicklung des vorkritischen Kant hin zu seiner Kritik der reinen Vernunft gab, gehörte es zur Standardübung, bei einer jeden der von Kant in dieser Schrift vorgebrachten Kritiken nach deren Adressaten zu fragen. Mit der Antwort: »Kant selbst!« war man stets auf der sicheren Seite, auch dann, wenn die kritisierte Position dem Inhalte nach ganz offensichtlich eine genuin schulphilosophische war: Reich lieferte nötigenfalls die einschlägige ›vorkritische‹ Kant-Stelle freudig nach. – Sollten die als ›kritisch‹ bezeichneten Schriften mit einem Schlage frei von Stellen solcher Art sein, so läge uns damit fraglos das erste der für eine Heiligsprechung Kants erwarteten Wunderzeichen vor. 40 Falls ich nichts übersehen habe, findet sich der einzige auf uns gekommene Anlauf zu einer transparenten, öffentlichen Selbst-Korrektur Kants in einer Fußnote der sogenannten »Ersten Einleitung« in die Kritik der Urteilskraft (XX, 200) – in einem Textstück, das es dann nicht bis in die Druckschrift von 1790 geschafft hat.

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eben nur zeigen, dass die Freiheit des Menschen als eine intelligible möglich ist. Zu erklären, wie sie möglich ist, musste auch seinerzeit schon der Kritischen Philosophie zufolge notwendig »unbegreiflich« (IV, 463) bleiben – allein schon mangels einer einschlägigen Anschauung: Man kann sich ins Übersinnliche weder »hineinempfinden«, noch kann man dort »hineinschauen« (und deshalb gibt es keine rationale Psychologie). Gleichwohl hält Kant noch in der Grundlegung daran fest, dass man sich selbst zumindest »hineindenken« und sogar dahin »hinausgehen« kann, insofern man nämlich in sich »wirklich« ein »nicht-sinnliches Vermögen« »findet« (IV, 458, 452). Und diese vermeintliche Erkenntnis jenes »bloß intelligiblen Gegenstandes« (A 546), für den das »Ich« im »Ich denke« als Pronomen stehen soll, fiel ausdrücklich in den Bereich der »Speculation« – genau genommen »findet« ihn auch schon der »gemeinste Verstand« (s. o. Anm. 20). Nach welcher Art von »Ergänzung« hätte Kant also bis 1785 eine »reine praktische Vernunft« überhaupt auf die Suche schicken sollen? Er hatte der »Speculation« schließlich vor 1787 noch gar nichts von demjenigen »abgesprochen«, was man seiner Auffassung nach an Erkenntnis des Übersinnlichen für eine kritische Freiheitslehre voraussetzen musste, was also »zum praktischen Gebrauche nöthig und hinreichend« (A 365) war. Nimmt man den Brief an Schütz dem philosophischen Inhalt nach ernst, so hat Kant die alten »Controversen mit Feder und Abel« allein durch das Zusammenspiel von radikalisierter Paralogismenkritik und neuer Freiheitslehre, das heißt erstmals 1787, auf ihren kritischen Punkt – und dann sogleich auch zu einem konsequenten Abschluss – bringen können. Dem polemischen Duktus zufolge muss das genannte Desiderat hingegen schon 1781 als ein solches benannt (sc. »was ich der speculativen Vernunft absprach«) und seitdem Gegenstand der gelehrten Auseinandersetzungen gewesen sein. Bereits unmittelbar nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft will Kant somit auch deren erste Auflage nur noch durch das Visier seiner gerade erst gewonnenen Erkenntnisse sehen (und gesehen wissen): Er findet in ihr, im Unterschied zu seinen Kritikern bis 1787, sowie zu allen Lesern der niemals überarbeiteten zweiten Hälfte, nur noch das, was gemäß der »consequenten Denkungsart« schon immer in ihr hätte stehen müssen: Dass nämlich die Spekulation für die Freiheit des Menschen »doch wenigstens Platz verschafft, wenn Sie ihn gleich leer lassen mußte«, einen Platz, den dann erst eine reine praktische Vernunft »durch practische Data« ausfüllen kann (B XXI f.). Und in genau diesem Sinne stellt er das Buch seit dem »Aprilmonat 1787« in Werken, Briefen, Aufzeichnungen und insbesondere in den einschlägigen Passagen der zweiten wie der dritten Kritik dar.41 Ja, in der Vorrede zur Neuauflage teilt er entsprechend völlig unbeirrt mit, seine Kritik der reinen Vernunft sei im Lichte aller Einwände allenfalls hinsichtlich der Darstellung verbesserungsbedürftig und -fähig gewesen: Die Inhalte habe er

Zum Beispiel V, 15, 49; XX, 202; V, 168 f., 175; VI, 225.20 ff.; XX, 296; XXI, 419 f. – Das kann zweifelsohne die oben in Anm. 11 erwähnte Fehldeutung von A 558 provozieren. 41

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schließlich bereits im Vorfeld der Erstauflage langer Prüfung unterworfen, und im Gliederbau der reinen speculativen Vernunft sei ohnehin »alles Organ«: »[J]ede noch so kleine Gebrechlichkeit« hätte sich daher »im Gebrauche unausbleiblich verraten« (B XXXVIII). Ganz gleich, was Kant sich hierbei in Blick auf seine Überarbeitungen im Einzelnen (und auf die bereits in Arbeit befindliche Kritik der praktischen Vernunft) auch gedacht haben mag: Bezüglich der ersten Hälfte des Buches hat er seine Worte durch die Tat dementiert (wie sich exemplarisch an den Paralogismen gezeigt hat). Mit seiner – ohnehin nur schwer zu ertragenden – notorischen Rechthaberei hat er hier nun aber nicht bloß kurzfristig und zum Schaden der eigenen Sache seine Kritiker irregeführt und verärgert,42 er macht es auch den weiterhin wohlwollenden unter seinen Lesern damit nicht einfacher: Diesen wird nun abverlangt, sich selbst ein inhaltlich begründetes Urteil darüber zurechtzulegen, in welchen Teilen die zweite Hälfte des Textes von 1781 tatsächlich bereits auf dem Stand von Kants Einsichten im Jahre 1787 war (bezüglich der ersten Hälfte genügt es freilich zunächst einmal, Kants Textrevisionen einfach als solche ernst zu nehmen). Ohne irgendein einschränkendes Urteil in dieser Sache wird – so lässt sich nun absehen – jede Intensivierung der Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft als Ganzer durch eine Nötigung zu immer neuen hermeneutischen Epizyklen belohnt werden, die eine Konsistenz retten sollen, welche es nie gab – und auch niemals geben wird. Es muss sich freilich erst noch zeigen, welche Urteile hier im Einzelnen zu fällen sind, damit die Beschäftigung mit Kants Kritiken am Ende weniger um die philosophisch fruchtlose Assimilierung von Textbeständen aus unterschiedlichen kantischen Entwicklungsphasen kreist, als um Kants ureigenes Anliegen: Die erst 1787 in einem zweiten Anlauf erreichte, »consequente Denkungsart der spekulativen Critik«. Ein seinerseits in der Sache konsequenter und dabei minimalistischer – aber gleichwohl bereits die gebotene Ehrfurcht vor den überlieferten Texten empörender – Vorschlag wurde oben in VIII schon einmal zur Diskussion gestellt.

So zum Beispiel ausgerechnet Pistorius, der 1787 eine inhaltliche Reaktion auf die Kritiken von »Feder, Reimarius und anderen, als auch in unserer Bibliothek« erwartet hatte. Es sieht ganz so aus, als habe er für seine Rezension der zweiten Auflage von dieser nur noch die Vorrede sowie die dort ausdrücklich als »Vermehrung« deklarierte »Widerlegung des Idealismus« gelesen, weil er von einem – zwar völlig zu Unrecht, aber angesichts der Vorrede eben alles andere als grundlos – für belehrungsresistent, ja »arrogant« gehaltenen Kant nichts Neues mehr erwartet hat (s. AdB, 81.2, S. 343 ff. [= Gesang 2007, 72 f.]): Die Tatsache, dass zahlreiche gewichtige Einwände gegen die erste Auflage durch die zweite gegenstandslos geworden sind, hat Kant seinen Lesern gegenüber offenkundig höchst erfolgreich verborgen. 42

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Bernd Ludwig

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Spontaneität und Selbsterkenntnis Kant über die ursprüngliche Einheit von Natur und Freiheit im Aktus des ›Ich denke‹ (1785–1787)1

Heiner F. Klemme

1. Problemstellung In einer wichtigen Passage des Abschnitts über die »Paralogismen der reinen Vernunft« in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) behauptet Kant, dass das »Ich denke […] ein empirischer Satz« ist und »den Satz, Ich existiere, in sich« (B 422 Anm.)2 enthält. Dieser »Existentialsatz« (B 423 Anm.) ist, wie zu zeigen sein wird, zentral für Kants Verhältnisbestimmung von Natur und Freiheit. Wir können nach Kant unsere im Aktus des ›Ich denke‹ bewusste Existenz nicht nur als Erscheinung erkennen, indem wir das Mannigfaltige unserer im inneren Sinn gegebenen Vorstellungen durch Urteilsakte verknüpfen. Wir können diese Existenz auch durch die Kausalität aus Freiheit in einer Weise bestimmen, die uns in praktischer Hinsicht als noumenale Wesen zu erkennen gibt. Kant argumentiert zunächst konditional für die Wirklichkeit noumenaler Selbsterkenntnis: Sollten wir »Veranlassung« haben, uns aufgrund bestimmter apriorischer Gesetze, die unsere Existenz betreffen, »völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen« (B 430). Dass wir eine entsprechende Veranlassung haben, begründet Kant wenige

Frühere Fassungen dieses Beitrags wurden auf Tagungen an den Universitäten Göttingen und Bonn sowie an der Universität Turin und auf Einladung der North American Kant Society als Mary Gregor Lecture 2012 in Chicago vorgetragen. Ich danke allen, die durch ihre Hinweise und Kritik zur Verbesserung des Textes beigetragen haben, insbesondere aber Susan Meld Shell, Falk Wunderlich und Saneyuki Yamatsuta. 2 Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der ersten und zweiten Auflage (A und B), alle anderen Schriften Kants unter Verweis auf den Band und die Seitenzählung der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (u. a.), Berlin 1900 ff. zitiert. Mit Ausnahme der folgenden Werke werden die Schriften Kants auch nach dem Textbestand der Akademie-Ausgabe zitiert: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Vorländer 1994); Kritik der reinen Vernunft (Timmermann 1998); Kritik der praktischen Vernunft (Brandt/Klemme 2003). 1

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Seiten später mit dem Hinweis auf unser »Bewußtsein des moralischen Gesetzes«, das uns mit der Spontaneität unserer Vernunft »ein bewundernswertes Vermögen« »offenbart« (B 431), mittels dessen wir unsere rein intellektuell gedachte Existenz durch dieselben Prädikate bestimmen können, mit denen wir auch die Gegenstände unserer Erfahrung bestimmen. Mit diesen Ausführungen stellt Kant eine Verbindung her zwischen dem Existentialsatz ›Ich denke‹ und seinen in der Ende 1787 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft 3 entwickelten Lehren vom Faktum der reinen praktischen Vernunft und von den »Kategorien der Freiheit« (V, 65).4 Während uns unser Bewusstsein des Moralgesetzes dazu berechtigt, uns selbst als Wesen zu verstehen, die aufgrund ihrer »absoluten Spontaneität der Freiheit« (V, 99) in der empirischen Welt wirken können, ohne als Dinge an sich selbst den Naturgesetzen zu unterliegen, beschreiben die »Kategorien der Freiheit« die Art und Weise, in der wir unsere »freie Willkür« (V, 65) zum Handeln bestimmen. Dabei erweisen sich die logischen Funktionen des Denkens als gemeinsamer Grund der Bestimmung unserer selbst als eines zugleich in der Sinnen- und Verstandeswelt existierenden Wesens: Werden die logischen Funktionen auf die uns in Raum und Zeit gegebenen Vorstellungen angewandt, werden sie zu Kategorien der Natur; bestimmen wir mit ihnen den Gebrauch, den wir von der freien Willkür machen, werden sie zu Kategorien unserer Freiheit. Dass die logischen Urteilsfunktionen der gemeinsame Grund unserer verstandesmäßigen Erkenntnis von Gegenständen in Raum und Zeit einerseits und unserer Willensbestimmungen andererseits sind, erklärt sich dadurch, dass sie Ausdruck ein und derselben Spontaneität sind. Kant bezieht sich auf diese Spontaneität mit dem Begriff »Verstand« und behauptet, dass dieser Verstand (den er auch die in theoretischer Hinsicht gebrauchte Vernunft nennt) nichts anderes als reine praktische Vernunft ist, wenn er (bzw. sie) zur Bestimmung unserer freien Willkür gebraucht wird.5 Es gibt nicht zwei ›Vernünfte‹, sondern Verstand (theoretische Vernunft) und praktische Vernunft bezeichnen die beiden einzigen Weisen, in denen wir von unserem Verstand einen konstitutiven Gebrauch machen können. Wenn nun aber die Bestimmung eines Gegenstandes unserer Erfahrung wie die unserer freien Willkür im Urteil gemäß der logischen Funktionen erfolgt, dann liegt auch eine formale Übereinstimmung zwischen den beiden Perspektiven der Natur und der Freiheit vor, unter denen wir eine Handlung beschreiben können. Zur Genese und zum Beweisziel der im Dezember 1787 publizierten zweiten Kritik siehe Klemme 2010. 4 Siehe hierzu u. a. Klemme 1996, 375–403 (und die dort angegebene Literatur) sowie Stolzenberg 2008 und 2010. Eine (im Detail jedoch nicht unkontrovers argumentierende) Monographie mit einer umfassenden Sichtung der Sekundärliteratur zu den »Kategorien der Freiheit« hat Zimmermann 2011 vorgelegt. 5 »Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewusstsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt« (V, 121). 3

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Vor dem Hintergrund dieser durch die Urteilsfunktionen gestifteten und gerechtfertigten formalen Analogie einer zugleich durch die Gesetze der Natur und der Freiheit erklärbaren Handlung wird, wie zu zeigen sein wird, auch Kants These in § 6 der Kritik der praktischen Vernunft einsichtig, wonach wir uns des Moralgesetzes bei Gelegenheit der Bildung von Maximen bewusst werden. Die Maximen sind aufgrund ihrer formalen Gestalt gewissermaßen die Scharnierstelle zwischen Natur und Freiheit – einer Natur allerdings, die aus der Perspektive der Freiheit betrachtet unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Hinsichten als zweckmäßig erscheint. Schon Jahre vor der Publikation der Kritik der Urteilskraft (1790) ist Kant demnach klar geworden, dass wir auch die Natur aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten müssen, wenn es uns gelingen soll, das ›Ich denke‹ einerseits zum Gesetzgeber einer Natur zu erklären, die nach naturkausalen Gesetzen operiert, und andererseits diese Natur zugleich als einen Ort zu begreifen, an dem der Mensch aus Freiheit handeln kann. Es muss eine positive Antwort auf die Frage geben, wie wir uns so auf eine immer auch naturkausal determinierte Welt beziehen können, dass wir in der Lage sind, uns in dieser Welt als ein Vernunftwesen zu realisieren und darzustellen. Während Kant in der dritten Kritik diese Frage durch Verweis auf die zwischen Natur und Freiheit vermittelnde reflektierende Urteilskraft und den Begriff der Zweckmäßigkeit zu beantworten versucht, weist er mit seinem auf dem Existentialsatz gründenden Modell der Selbsterkenntnis von 1787 auf eine Einheit von Natur und Freiheit hin, die dieser Vermittlungsleistung durch die reflektierende Urteilskraft nicht bedarf, weil diese Einheit bereits durch den Akt des Denkens ursprünglich und durch kein anderes Vermögen vermittelt in formaler Hinsicht gesichert ist: Wir sind unter den Bedingungen des Transzendentalen Idealismus berechtigt, unser Dasein als durch ein Gesetz bestimmbar zu begreifen, das wir uns durch unsere Vernunft selbst gegeben6 haben, ohne in einen Widerspruch mit der durchgängigen Naturkausalität zu geraten, weil die Form der Freiheit und die Form der Natur ihren Grund in denselben urteilsfunktionalen Leistungen des denkenden Subjekts haben. Die ursprüngliche Einheit von Natur und Freiheit besteht in der Einheit ihrer logischen Form. Läge ein Widerspruch zwischen der Form unserer Willensbestimmung und der Naturbestimmung vor, wäre ausgeschlossen, dass wir eine Handlung zugleich als das Produkt beider Bestimmungsleistungen begreifen könnten. Dies würde bedeuten, dass wir unmöglich auch nur eine einzige unter den Naturgesetzen stehende Handlung als das Produkt unserer Freiheit begreifen könnten.7 Die moralische Welt wäre mit Notwendigkeit eine bloß gedachte. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werde ich Kants Position praktischer Selbsterkenntnis in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) umreißen und auf drei Kritikpunkte eingehen, die einer der wichtigsten Rezensenten kantischer Schriften, der Theologe und Pfarrer Hermann Andreas Pistorius8, 6 7 8

Siehe V, 97–98. Diese Möglichkeit wird von Kant aber selbstverständlich behauptet; vgl. V, 65. Seine Rezensionen sind abgedruckt in Gesang 2007 sowie teilweise in Landau 1991. Zur

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formuliert hat und auf die Kant sowohl in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wie in der Kritik der praktischen Vernunft eingeht. Die hiermit eingenommene entwicklungsgeschichtliche Perspektive auf Kants Schriften ist kein Selbstzweck. Waren einige ältere Forscher davon überzeugt, Revisionen und Erweiterungen kantischer Positionen vornehmlich durch Verweis auf Kants Genialität9 erklären zu können, aufgrund derer ihm selbst einsichtig werden musste, was vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht besteht, wird man heute die zentrale Bedeutung externer Kritik für Kant nicht leugnen können. Die Kritiker der Kritischen Philosophie weisen den Urheber des Kritizismus auf Mängel hin, die dieser zwar nicht als Kritik am Kritizismus, wohl aber an seiner Darstellung des Kritizismus akzeptieren kann. Die vernünftigen Kritiker werden von Kant nicht (oder jedenfalls nicht immer) als Nörgler und Besserwisser abgetan, sondern ganz im Gegenteil als Mitarbeiter am Projekt der einen Vernunftkritik ernst genommen. Ohne ihre Einwürfe und verwunderten Nachfragen hätte Kant oft keinen Anlass gehabt, genau die Texte zu schreiben, über deren philosophischen Gehalt wir noch heute reflektieren. Eine Klärung der Problemstellung der kantischen Philosophie kann also nur im Kontext ihrer Entwicklungsgeschichte gelingen – einer Entwicklungsgeschichte allerdings, die nicht auf die Historisierung des Projekts einer »Vernunfterkenntnis aus Begriffen« (A 713 / B 741) zielt, sondern ihren systematischen Kern erfassen möchte. Als Leser der kantischen Schriften hoffen wir, noch nicht gehobene Schätze der Rationalität zu finden, die unter der Staubschicht einer Jahrhunderte umfassenden und nicht selten ermüdenden Kant-Rezeption immer noch schlummern könnten. Im zweiten Teil werde ich, ausgehend vom Begriff der Spontaneität, schrittweise den Bedeutungsumfang des Existentialsatzes ›Ich denke‹ zu erläutern versuchen, soweit dies für unsere Thematik sinnvoll erscheint.10 Besonderes Gewicht wird hierbei auf die Beziehung zwischen Natur und Freiheit gelegt werden, wie sie Kant mit seiner These, dass wir uns bei Gelegenheit der Bildung von Maximen des Moralgesetzes bewusst werden, und mit seiner Lehre von den Kategorien der Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft zumindest andeutet. Im dritten Teil möchte ich schließlich mit den Bordmitteln der Kritischen Philosophie einen Einwand gegen die kantische Interpretation des Existentialsatzes formulieren, der unsere Fortdauer über das Leben hinaus und damit das zeitliche Ende aller Dinge betrifft. Kant behauptet, dass wir aus Gründen der zweckmäßigen Ordnung der Natur zu der Annahme unserer Fortdauer berechtigt sind; er bringt

Bedeutung von Pistorius für Kant siehe auch Allison 1990, 29, 41; Klemme 1996, 282–283, 373, Klemme 2003 und 2010; sowie Gesang 2007, VII–XLV; Shell 2009, 253, 155 und Ludwig 2010. 9 In diese Richtung weisen die Ausführungen von Henrich 1975, 62–64, 99. 10 So werde ich im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehen auf Kants Ausführungen zum Verhältnis von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis in der »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der zweiten Auflage der ersten Kritik. Siehe dazu die konzise Darstellung von Carl 1998.

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aber keine Gründe bei, warum unsere Fortdauer nicht schon direkt aus dem Begriff unserer durch das Bewusstsein des Moralgesetzes verbürgten intelligiblen Existenz folgt. Bevor ich mit der Diskussion von Kants Konzeption praktischer Selbsterkenntnis in der Grundlegung beginne, seien einige Themen genannt, die ich nicht aufgreifen werde, weil sie für das Verständnis dieser Konzeption nicht unmittelbar relevant sind: Erstens werde ich nicht über das (wie ich es nennen möchte) analytische und das synthetische Modell11 rationaler Selbsterkenntnis sprechen, das Kant in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts vertreten hat. Das analytische Modell, das er erstmals in seiner Vorlesung über Anthropologie aus dem Wintersemester 1772/73 vorstellt (vgl. XXV, 10 ff.), besagt, dass wir durch die bloße Analyse der Vorstellung ›Ich‹ substantielle Wesensaussagen über dieses Ich treffen können. Das synthetische Modell ist uns aus der Rationalen Psychologie bekannt (vgl. XXVIII, 265 ff.). Es besagt, dass wir uns als eine immaterielle Seelensubstanz erkennen können, wenn wir die syllogistische Methode auf das Ich anwenden. Kant weist dieses Modell erst im Paralogismuskapitel der ersten Kritik zurück. Zweitens werde ich nicht über die Inhalte empirischer Psychologie und Anthropologie sprechen, also nicht über diejenigen Weisen der Selbst- und Welterkenntnis, die den Bedingungen unserer Rezeptivität unterliegen.12 Mein Interesse gilt nicht diesen konkreten Bestimmungen unseres Selbst; mein Interesse gilt vielmehr dem Modell von Denken und Erkennen, das ihnen zugrunde liegt, also Kants Konzeption des Existentialsatzes ›Ich denke‹. Unter Selbsterkenntnis soll hier die Erkenntnis der Art und Weise verstanden werden, wie ich gemäß des Transzendentalen Idealismus in der phänomenalen und/ oder noumenalen Welt existiere.13 Aus diesem Grund werde ich drittens auch nicht über Fragen moralischer Motivation14, des Gewissens, der moralischen Gefühle und des Charakters sprechen, die auf der Schnittstelle zwischen intelligibler und empirischer Selbstbestimmung angesiedelt sind.

2. Selbsterkenntnis in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Im Abschnitt »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bestimmt Kant das Verhältnis von Natur und Freiheit aus der Perspektive eines Subjekts, das sich selbst als Intelligenz und

Siehe Klemme 1996; Ameriks 2000 und Klemme 2010b. Zu Kants Anthropologie siehe u. a. Sturm 2009. 13 Einen alternativen Begriff speziell der moralischen Selbsterkenntnis verwendet Bernecker 2006, der ihn auf die Erkenntnis unserer Maximen bezieht. In diesem Sinne verwendet Kant den Begriff der »moralischen Selbsterkenntnis« in der Tugendlehre von 1797: »Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang« (VI, 441). 14 Siehe dazu unter anderem die Beiträge in Klemme u. a. 2006. 11

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als sinnliche Natur erkennt. Ausgehend von der Frage, wie es möglich ist, dass der Mensch unter der Vernunftidee der Freiheit handeln kann, wo er sich doch zugleich als ein »Stück der Natur« (IV, 456) begreifen muss, beschreibt Kant zunächst die Aufgabe der spekulativen Philosophie. Diese muss zeigen, »daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch als notwendig vereinigt in demselben Subjekt gedacht werden müssen« (IV, 456). Um dies zu gewährleisten, muss die spekulative Philosophie den dialektischen Widerspruch aufheben, in den sie bei ihrer Reflexion über Natur und Freiheit gerät. Wären beide Perspektiven nicht vereinbar, wäre auch die praktische Vernunft nicht zu retten. Denn die letztere erhebt den »Rechtsanspruch« (IV, 457), frei und den determinierenden Ursachen der Natur nicht unterworfen zu sein. Dieser Anspruch ist nach Kant seinerseits begründet, weil wir aufgrund unserer doppelten Bürgerschaft in der intelligiblen und phänomenalen Welt ein und dieselbe Handlung »zugleich« (IV, 457) durch zwei verschiedene Typen von Kausalität erklären können. Kant begründet diese doppelte Bürgerschaft durch unser Selbstbewusstsein. Dass sich der Mensch »aber auf diese zweifache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig)« (IV, 457). Als »Intelligenz« denke ich mich als eine »frei wirkende Ursache«, als »das eigentliche Selbst« und handle »nach Prinzipien einer intelligiblen Welt« (IV, 457 f.). Wie gelange ich von der Erkenntnis meines Selbst als Intelligenz und Natur zum Kategorischen Imperativ? Warum soll ich nach den »Prinzipien einer intelligiblen Welt« handeln, wenn ich mich auch den Gesetzen der Sinnenwelt unterwerfen könnte? Im Abschnitt »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?« verweist Kant auf den zwischen den beiden Welten bestehenden ursächlichen Zusammenhang: »Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen.« (IV, 454)

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Ich unterwerfe mich als Mensch deshalb dem Moralgesetz, weil ich als Intelligenz Ursache der Gesetze der Sinnenwelt bin. Was genau meint Kant hiermit? Weil Kant den Gesetzesbegriff auf den Begriff des zur Verstandeswelt gehörigen Willens bezieht, dieser Wille aber zugleich den Bedingungen der Sinnenwelt unterliegt, scheint Kant an dieser Stelle zum Ausdruck bringen zu wollen, dass ich, indem ich meinen Willen durch das Moralgesetz bestimme, in der Sinnenwelt nach dem Gesetz der Verstandeswelt tätig werde. Nur weil wir uns nach Kant als Verstandeswesen als nach einem Gesetz in der Sinnenwelt handelnd vorstellen, das wir uns selbst gegeben haben, maßen wir uns einen Willen an, »der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört« (IV, 457). Mit seiner These, dass die »Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt« enthält, beruft sich Kant also nicht auf eine ominöse Eigenschaft der noumenalen Welt, die wir entdecken, wenn wir über diese Welt nachdenken. Seine These lautet vielmehr, dass wir uns einer Spontaneität bewusst sind, die uns dazu berechtigt, uns als verantwortliche Autoren unseres Wollens und Handelns in der Welt zu begreifen.15 Doch mit dem Verweis auf die Natur unseres »eigentlichen Selbst« (IV, 461) scheint Kants Argument noch nicht vollständig zu sein. Warum sollte mich mein »eigentliches Selbst« interessieren, wenn es so angenehm ist, die Neigungen und Wünsche zu befriedigen? Kant beantwortet diese Frage im Abschnitt »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« nicht mit Verweis auf die Würde16 oder die Autonomie des Menschen als Vernunftwesen, sondern mit dem Hinweis

In der Tugendlehre drückt Kant diesen Gedanken wie folgt aus: »Der Mensch nun als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt« (VI, 418). Eine weitere Stelle, die diese Interpretation der Grundlegung unterstützt, allerdings die grundlegende Funktion der Verstandeswelt für die Sinnenwelt in einem weiteren, nicht auf menschliche Handlungen eingeschränkten Sinn versteht, findet sich in den Prolegomena: »Die Sinnenwelt ist nichts als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich nicht das Ding an sich selbst und bezieht sich also notwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht blos als Erscheinung, sondern als Dinge an sich selbst erkannt werden können« (IV, 354; vgl. 315). 16 Schönecker und Wood meinen, dass Kant mit seinem Hinweis auf das »eigentliche Selbst« die Frage beantwortet sehen möchte, warum man moralisch sein sollte. Weiter führen sie aus: »Doch das ist in Wahrheit keine Antwort, weil sich an diese Antwort die Ursprungsfrage in veränderter Form sofort wieder anschließt – wieso nämlich soll der Mensch sein sinnlich motiviertes Wollen den Einschränkungen seines rein vernünftig motivierten Wollens unterwerfen? Die Antwort darauf muss lauten: weil der Mensch als vernünftiges Wesen Zweck an sich und wertvoll ist. Kant gibt eigentlich diese Antwort. Aber anstatt zu klären, was es heißt, daß etwas wertvoll ist und wie Werte erkannt werden, verharrt er in einem ihm unangemessenen und philosophisch unplausiblen Ontologismus« (Schönecker/Wood 2002, 204–205; siehe ausführlicher Schönecker 2006, 311–318). Diese Antwort wäre in der Tat Kant »unangemessen und philosophisch unplausibel« – wenn er sie denn gegeben hätte. Zum Würdebegriff bei Kant siehe umfassend Sensen 2011. 15

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auf das durch die Vernunft bewirkte Interesse an dieser Vernunft und ihrem Gesetz selbst.17 Konziser kann man einen Begriff nicht definieren: »Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache wird« (IV, 459 Anm.). Das Moralgesetz »interessiert« uns unmittelbar, »weil es für uns Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet« (IV, 461). Wie immer man das Verhältnis zwischen der im Abschnitt »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?« gegebenen »Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft, mit ihr auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs« (IV, 447), und der Beweisführung im Abschnitt »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« beurteilen mag, es wäre sicherlich ein Fehler, die letzteren nur deshalb nicht so wichtig zu nehmen, weil Kant in ihr keine »Deduktion« durchführt.18 Das Gegenteil ist der Fall. Kant scheint im Abschnitt »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« auf etwas hinweisen zu wollen, ohne das der Sinn der Deduktion unverstanden bliebe.19 Und dies ist der Begriff einer Vernunft, die selbsttätig und gewissermaßen grundlos sich selbst als Ding an sich selbst über eine Sache erhebt, die zur Erscheinung gehört.20 Ich bin mir meiner selbst als Intelligenz und als sinnlich affiziertes Wesen bewusst. Doch nur weil ich als Vernunftwesen ein praktisches Interesse an eben dieser Vernunft und an ihrer Selbstgesetzgebung nehme, ziehe ich vernünftigerweise das eine dem

In der Grundlegung schreibt Kant: »Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse denken.« Ich nehme nach Kant ein nicht weiter begründbares Interesse an »Gründen, die für jedes vernünftige Wesens als ein solches gültig sind« (IV, 413 Anm.). – Zu Kants Begriff »Vernunftinteresse« allgemein siehe Pascher 1991 und Hutter 2003. 18 Es ist symptomatisch für die unterschätzte Bedeutung dieses Abschnitts, dass er in dem von Horn und Schönecker herausgegebenen Sammelband 2006 zur Grundlegung nicht kommentiert wird. 19 Auf diesen Zusammenhang hat bereits Henrich aufmerksam gemacht: »Die ›Grundlegung‹ hat wirklich ihr Beweisversprechen am Ende und de facto auf eine Deduktion nach schwächerer Form zurückgenommen, die nicht ohne eine Prämisse geführt werden kann, die aus dem sittlichen Bewusstsein selber kommt« (1975, S. 91). Vgl. dagegen Allison 2011, der gegen Henrich meint, dass Kant sehr wohl ein logisch von unserem moralischen Bewusstsein unabhängiges Argument für die Geltung des Moralgesetzes oder der Freiheit geben wollte; vgl. Allison 2011, 330, Anm. 56. 20 »Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei […]« (IV, 459 f.). 17

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anderen vor.21 Die Verstandeswelt ist der Grund der Sinnenwelt, weil die Vernunft selbst die eine der anderen Welt unterordnet. Man kann dies das Prinzip der Selbstbezüglichkeit, der Selbstermächtigung, der Selbsterhaltung, der Selbstrealisierung oder auch der Selbstaneignung22 der reinen Vernunft nennen: Die reine Vernunft selbst zeigt uns im Begriff des Interesses an, dass wir sie (und ihr Gesetz) durch den Gebrauch unserer unter dem Moralgesetz stehenden freien Willkür23 in der empirischen Welt verwirklichen sollen.24 In Aufnahme einer hegelschen Formulierung hätte Kant auch schreiben können: Die reine praktische Vernunft ist »der freie Wille, der den freien Willen will«.25 Das Vernunftgebot, nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, ist gewissermaßen grundlos, weil es keiner Begründung fähig ist.26 Warum die reine Vernunft dies

Die subjektive Grundlage für dieses Interesse nennt Kant »das moralische Gefühl« (IV, 460; vgl. VI, 399–403). 22 Auf die Bedeutungsnuancen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Historisch betrachtet ist der stoische Begriff der oikeiosis einschlägig; siehe dazu Henrich 1982; Santozki 2006, 172 ff.; Brandt 2007 und Forschner 2008 sowie Hossenfelder 1998; Steigleder 2002 und Uleman 2010, 111, 140 ff. 23 Vgl. die Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft, wonach die »freie Willkür […] ein reines praktisches Gesetz a priori zum Grunde liegen hat« (V, 65). 24 Allison unterscheidet zwischen einer (von ihm selbst vertretenen) normativen und einer (von Ameriks und Schönecker vertretenen) metaphysischen Interpretation des »eigentlichen Selbst« (vgl. Allison 2011, 351–354). Diese Unterscheidung ist, wie sich hier zeigt, jedoch nicht alternativlos: Mit der Idee einer unter dem Moralgesetz stehenden Willkür betreten wir nicht nur (wie Allison meint) Sellars ›Raum der Gründe‹, wir befinden uns mit ihr auch in der intelligiblen Welt. Das metaphysische Verständnis unserer eigenen Existenz als Ding an sich (Intelligenz) und als Erscheinung (vgl. IV, 457) hat zugleich eine normative Bedeutung, weil wir uns im Bewusstsein einer Kausalität aus Freiheit (und nicht etwa deshalb, weil wir eine ominöse Eigenschaft namens Würde erkennen) als durch das Moralgesetz verpflichtet erkennen: »Die Kausalität derselben [sic. der Handlungen, die der Mensch »auf seine Rechnung kommen läßt«; H. F. K.] liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien einer intelligiblen Welt, von der er wohl nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gebe, imgleichen, da er selbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, sodaß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens als Intelligenz keinen Abbruch tun kann, so gar, daß er die ersteren nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i. seinem Willen nicht zuschreibt« (IV, 457 f.; vgl. V, 65). 25 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 27, 79; auf dieses Hegel-Zitat verweist auch Uleman 2010, 1. 26 Henrichs Kritik, dass Kant »nicht die Spur eines Vorschlags an[bietet], wie sich die Subordination des sinnlichen unter die intelligible Welt als die Subordination des sinnlich affizierten Willens unter den intelligiblen Willen denken läßt« (Henrich 1975, 97), ist insofern unberechtigt, als aus ihr nicht deutlich wird, was eigentlich von Kant genau gefordert wird. 21

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will, warum wir also ein Interesse daran nehmen und nehmen sollen, als allein verantwortliche Autoren unserer Handlungen aufzutreten, diese alles entscheidende Frage kann durch keine Deduktion beantwortet werden. Dass die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch spontan und autonom ist und vor ihrem Richterstuhl nur bestehen kann, was nicht den Gesetzen der empirischen Welt unterliegt, ist allerdings eine Einsicht, die auch nicht rechtfertigungsbedürftig ist. Wer begründet sehen möchte, warum er sich selbst als Autor seiner eigenen Handlungen begreifen soll, stellt eine Frage zu viel.27 Aus diesem Grund wird sie von Kant auch nicht zugelassen. Wer sich dem »Willen nach« nicht »als frei« (IV, 455) betrachtet, kann von den Argumenten, wie sie die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beibringt, nicht erreicht werden. Wer sich selbst nicht als Grund der Existenz von raumzeitlich bestimmbaren Ereignissen (Handlungen) zu erkennen vermag, für den wird der Begriff einer Vernunft, die unmittelbar durch das Moralgesetz den Willen zu bestimmen vermögend ist, unverständlich bleiben. Weil sich alle Menschen »dem Willen nach als frei« (IV, 455) denken, haben wir Menschen diese (logisch mögliche) Option jedoch nicht.28 Weil wir Vernunftwesen sind, nehmen wir auch ein Interesse an unserer Autonomie – an einer Autonomie jedoch, die der Mensch aus eigenem Entschluss verwirklichen muss. Ihren Zweck findet die Autonomie in sich selbst, ihr objektives Spiegelbild im Begriff der Würde und ihre subjektive Grundlage im moralischen Gefühl.29 Dementsprechend schreibt Kant: »Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind« (IV, 455). 28 Uns Menschen steht es normativ betrachtet also nicht frei, dem Prinzip der Autonomie zu folgen oder auch nicht. Wer das Prinzip der Autonomie zurückweist, zahlt einen Preis dafür, der darin besteht, sich selbst nicht als Subjekt seines eigenen Wollens begreifen zu können. Diesen Preis kann keiner zahlen wollen, weil und insofern er vernünftig ist. Obwohl Kant also keine ›Letztbegründung‹ für das Moralgesetz gibt, hängt es nicht von unserem Belieben ab, ob wir das Prinzip der Autonomie akzeptieren. Seine Akzeptanz ist durch die Vernunft selbst gesichert. Den gegenteiligen Eindruck erweckt Guyer: »If that ideal [das der Autonomie; H. F. K.] does not seem moving to you, then he [sic. Kant; H. F. K.] has nothing more to say to you. He can tell you that if you base your morality upon what you take to be the commands of God or the natural desire of either yourself or all human beings for happiness or on any other inclination, then you are allowing your will to be determined heteronomously rather than determining it autonomously – but that will not move you unless you are already committed to the supreme importance of autonomy. Kant’s moral philosophy is a brilliant account of what it takes to achieve autonomy, but in the last analysis its force must rest on the intrinsic appeal of autonomy as an ideal for human life« (Guyer 2007, 171). 29 »Und hierin liegt eben das Paradoxon, daß bloß die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur, ohne irgend einen anderen dadurch zu erreichenden Zweck oder Vorteil, mithin die Achtung für eine bloße Idee dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte« (IV, 439). Die »vernünftige Natur« bestimmt ihren Willen durch ein Gesetz, durch das diese Vernunftnatur erhalten bleibt beziehungsweise in der empirischen Welt dargestellt wird, weil sie ein Interesse daran nimmt. 27

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Wir können an dieser Stelle unsere Überlegungen zur Konzeption praktischer Selbsterkenntnis in der Grundlegung zunächst abschließen und uns auf diejenigen zeitgenössischen Einwände von Pistorius30 gegen Kant konzentrieren, die uns Auskunft über die Motive zu geben erlauben, aus denen heraus Kant seine Position von 1787 entwickelt hat. Erstens: Wenn wir uns als einen Gegenstand in der empirischen Welt nur als Erscheinung erkennen, welchen Status hat dann »unsere individuelle Existenz«? In seiner Antwort auf diese Frage stellt Pistorius auch einen Zusammenhang mit der Idealismusproblematik her: »Es ist nun eben so ungewiß und problematisch, ob wirklich ein für sich bestehendes Subject existirt, dessen Modificationen unsere Vorstellungen und Gedanken sind, als es ungewiß und problematisch ist, ob unsern äußern Sensationen wirklich Objecte entsprechen.«31 Das kantische Ich ist nach Pistorius »ganz leer« und kann nicht als Grund von bestimmten Schlussfolgerungen dienen. Zweitens: Wenn die Freiheit unsere Fähigkeit bezeichnet, einen Zustand von selbst zu beginnen, jedoch der Zeit nach nicht bestimmt werden kann, woher stammt dann ihr Begriff? Wie kann es Veränderungen geben, die nicht in der Zeit stattfinden? »Woher erhält er [sic. der Begriff der Freiheit; H. F. K.] allein diese objective Gültigkeit, daß er sich auf die Verstandeswelt anwenden, daß das, was er bezeichnet, nämlich die transcendentale Freyheit, sich als eine Eigenschaft der Dinge an sich selbst, oder der Glieder dieser uns ganz unbekannten Welt prädicieren läßt?«32 Und schließlich drittens: Wenn wir die intelligible Welt nach Kant prinzipiell nicht erkennen können, wie können wir dann begründen, dass der Mensch als Vernunftwesen »ein Theil der Verstandeswelt, ein Ding an sich selbst sey?«33 Pistorius ist sich sicher: Eine derartige Begründung gibt es nicht. Wie reagiert Kant auf Pistorius’ Einwände, unsere empirische Existenz in bloßen Schein verwandelt, die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs nicht nachgewiesen und eine Erkenntnis unserer selbst als Dinge an sich nicht bewiesen zu haben? Kant sucht

Hiermit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es weitere wichtige Rezensionen von Kants Schriften gegeben hat, in denen ähnliche Kritikpunkte vorgebracht wurden. Siehe u. a. Landau 1991 und Klemme 2010a. 31 Allgemeine deutsche Bibliothek, Band 66, 1. Stück, Mai 1786, 94 f., zitiert nach Landau 1991, 326 f.; vgl. Klemme 2003, 221; Gesang 2007, 4. Es handelt sich hier um Pistorius’ Rezension von Johann Schulzes Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft (Königsberg 1784). Pistorius verweist im Rahmen dieser Rezension auch auf seine Rezension der Grundlegung, die 1786 in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erschienen ist (vgl. Landau 1991, 354–367). 32 Allgemeine deutsche Bibliothek, 1786, 110, zitiert nach Landau 1991, 341; vgl. Klemme 2003, 222 und Gesang 2007, 16. 33 Allgemeine deutsche Bibliothek, 1786, 111, zitiert nach Landau 1991, 367; vgl. Klemme 2003, 222 und Gesang 2007, 17. 30

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eine Schwachstelle in Pistorius’ Argumentation, die so geartet ist, dass durch ihre Aufdeckung die eigene Position gestärkt wird. Und Kant wird fündig. Ähnlich wie er Hume in den Prolegomena mit einem Tu-quoque-Argument34 zu widerlegen versucht, weist er 1787 die Einwände von Pistorius mit Verweis auf Annahmen zurück, die auch dieser nicht in Zweifel zieht. Pistorius hat Recht: Das Ich ist eine »ganze leere« Vorstellung, aber nur deshalb kann sie auch zugleich als Erscheinung und als Ding an sich selbst bestimmt werden. Pistorius hat auch Recht, dass unsere Freiheit nicht direkt bewiesen35 werden kann. Aber weil Pistorius nicht bezweifelt, dass es notwendig geltende moralische Verbindlichkeiten gibt, muss er zugestehen, dass wir autonome Subjekte sind. Und wenn er dies zugesteht, muss er auch akzeptieren, dass wir uns in praktischer Hinsicht als Wesen erkennen können, die nicht den Bedingungen von Raum und Zeit unterliegen. Obwohl Kant weder in der ersten noch in der zweiten Kritik den Namen von Pistorius erwähnt, ist dieser zweifellos der primäre Adressat von Kants Ausführungen zum Begriff theoretischer und praktischer Selbsterkenntnis.

3. Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis 1787 Unsere Erörterung von theoretischer und praktischer Selbsterkenntnis in den Schriften von 1787 findet ihren Ausgangspunkt im Existentialsatz ›Ich denke‹. Wie gelangen wir vom Vollzug des Denkens zur Existenz des Denkenden? Zunächst ist daran zu erinnern, dass Kant den Verstand als Vermögen der »Spontaneität der Begriffe« (A 50 / B 74) definiert. Ohne den Begriff der Spontaneität unseres Denkens würde sein Projekt einer kritischen Fundierung und Rechtfertigung der Metaphysik als Wissenschaft scheitern. Denn der entscheidende Gedanke, der ihn zur Überwindung zugleich des neuzeitlichen Dogmatismus und Skeptizismus führt, besteht darin, nach den unsere Erfahrung ermöglichenden Leistungen des Subjekts zu fragen (vgl. IV, 260 f.). Diese Leistungen dokumentieren sich in Urteilshandlungen des Verstandes. Analysieren wir diese Urteilshandlungen, dann werden wir auf eine bestimmte Anzahl von Titeln und Momenten geführt. Sind erst einmal die logischen Funktionen des Urteils gefunden, kann nach den Bedingungen gefragt werden, unter denen sie Erkenntnis stiften. Objektive Bedeutung haben diese logischen Funktionen genau dann, wenn sie auf ein Mannigfaltiges unserer Sinnlichkeit bezogen und als apriorische Bedingungen der »Möglichkeit der Erfahrung« (A 96) nachgewiesen werden. Erst dann steht fest, dass die logischen Funktionen Kategorien der Erfahrungseinheit sind.36 Wenn aber die Kategorien a priori »von allen Gegenständen der Erfahrung« (B 161) gelten, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie das urteilende Etwas sei34 35 36

Siehe dazu Klemme 2012b. Siehe dazu auch Ludwig 2010. Siehe u. a. A 79 / B 104 f.

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nerseits beschaffen ist. Erschöpft sich unser Wissen über dieses Etwas in dem Wissen darum, dass es zu urteilen befähigt ist? Oder lassen sich aus den epistemischen Leistungen des urteilenden Etwas weitergehende Aussagen über seine Beschaffenheit im Sinne beispielsweise der rationalen Psychologie treffen? Was urteilt, das denkt. Was ohne zu denken nicht erkennen kann, ist seinem Wesen nach »diskursiv« (A 68 / B 93) verfasst. Und wenn die Urteilshandlungen dieses diskursiv verfassten Etwas Bedingungen der Möglichkeit einer jeden Erkenntnis37 sind, dann muss es sich bei diesem Etwas um ein Subjekt handeln, das auch vermögend ist zu urteilen. Kant nennt dieses Vermögen Spontaneität. Und weil es sich um die Spontaneität eines Subjekts handelt, das sich seiner selbst im Aktus des Urteilens bewusst ist, handelt es sich um die Spontaneität der transzendentalen Apperzeption – eine Spontaneität die nach § 17 im Satz ›Ich denke‹ ausgedrückt wird.38 Wenn ich den Aktus des ›Ich denke‹ vollziehe, erkenne ich mich dann als ein denkendes Etwas? Ist das Bewusstsein der Spontaneität eine Form der Selbsterkenntnis? Kant beantwortet diese Fragen negativ: Das bloße Bewusstsein des Denkens kann als eine unbestimmte empirische Selbstwahrnehmung, auch als ein »Gefühl des eigenen Daseins« (IV, 334 Anm.) beschrieben werden, nicht aber als eine Form der Selbsterkenntnis. Denn die im bloßen Denken vollzogene Bezugnahme auf sich selbst wäre zirkulär, würde sie als ein Akt der Erkenntnis eines Objekts gedeutet. Ihr fehlt, um als Erkenntnis zu gelten, der Bezug auf das Andere des diskursiven Denkens, nämlich auf Anschauung. Beziehe ich mich im bloßen Denken auf mich selbst, nehme ich die logischen Funktionen dieses Denkens immer schon in Anspruch, ohne etwas über sie hinaus erkennen zu können. Im denkenden Bezug auf mich selbst erkenne ich mich als denkend, nicht aber als ein Objekt. Der Übergang vom Selbstbewusstsein zur Selbsterkenntnis kann nicht rein logisch durch das Denken und im Denken vollzogen werden. Er kann auch nicht dadurch vollzogen werden, dass wir eine intellektuelle Anschauung von uns selbst behaupten. Gäbe es diese Anschauung, wäre unsere Erkenntnis nicht diskursiv verfasst. Wenn die logischen Funktionen des Denkens als solche keine Selbsterkenntnis stiften und wir auch keine intellektuelle Anschauung von uns selbst haben können, muss ein dritter Weg zur Selbsterkenntnis führen. Diesen Weg betreten wir nach Kant, wenn wir auf die Bedingungen achten, unter denen der Aktus des ›Ich denke‹ vollzogen wird. Wenn nach Auskunft des § 16 das ›Ich denke‹ alle meine

Wir müssen nach Kant den Erkenntnisbegriff also in einem sehr weiten Sinne fassen, wie dies in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft der Fall ist. 38 Dieser Satz bringt nach § 17 der B-Deduktion zum Ausdruck, »daß alle meine Vorstellungen in irgendeiner gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen, und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann« (B 138). Und in § 24 der Kritik schreibt Kant, dass »der Verstand, als Spontaneität, den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß« (B 150) bestimmt. 37

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Vorstellungen begleiten können muss, damit sie meine Vorstellungen sind, bedeutet dies eben auch, dass ich diesen Aktus nicht vollziehen könnte, wenn mir nicht etwas zum Denken gegeben wäre. Ohne gegebene Vorstellungen bin ich nicht nur weltlos. Ich bin dann auch nichts, weil ich mir selbst nicht außerhalb »der Erfahrung und den empirischen Bedingungen derselben bewußt werden« (B 426 f.) kann. Wird mir aber etwas in meiner Sinnlichkeit zum Denken gegeben, dann existiere ich auch. Das cartesianische ›Ich denke, also bin ich‹, ist kein unvollständiger Syllogismus, sondern muss als ein Akt der Selbstwahrnehmung, als eine »unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung« (B 422) verstanden werden. Da uns Vorstellungen nur insofern gegeben werden, als wir durch Dinge in Raum und Zeit affiziert werden, steht ein jedes (synthetisches) Erkenntnisurteil in der Mitte zwischen Rezeptivität und Konstitution. Der repräsentationale Bezug auf Natur ist zugleich ein diese Natur konstituierender Akt. Descartes’ Strategie, die Gewissheit der eigenen Existenz im reinen Denken zu sichern, erweist sich nach Kant als Irrweg: Erstens schließe39 ich im Denken nicht auf meine Existenz und zweitens kann ich mir dieser nur bewusst werden, wenn es eine durch meine Rezeptivität verbürgte äußere Welt gibt. Entscheidend ist für Kant dabei zunächst nicht, wie mir etwas gegeben wird, entscheidend ist, dass mir etwas zum Denken gegeben werden muss, damit ich mir meiner selbst als existierend bewusst werden kann. »Eine unbestimmte Wahrnehmung«, schreibt Kant im Abschnitt über die Paralogismen, »bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden [ist], und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst, (Noumenon) sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satze, ich denke, als ein solches bezeichnet wird« (B 423 Anm.). Weil mir »etwas Reales« gegeben werden muss, damit ich mich als existierend wahrnehmen kann, handelt es sich bei dieser in kategorialer Hinsicht noch unbestimmten Existenz des denkenden Subjekts um eine von den gegebenen Vorstellungen übertragene Existenz. Im engeren Sinne des Wortes existiere weder ich, noch die Empfindung an und für sich. ›Ich‹ und ›Empfindung‹ bezeichnen vielmehr zwei Seiten ein und desselben Ich-Bewusstseins. Mit der Konzeption einer im Denken präsenten, kategorial aber noch unbestimmten Existenz trägt Kant erstens dem Umstand Rechnung, dass dasjenige, was tätig ist, nicht nichts sein kann, ohne zweitens seine Auffassung revidieren zu müssen, dass der Vollzug von Denk- und Urteilsakten zu unterscheiden ist von synthetischen Aussagen über die Natur unseres denkenden Selbst. Mit dieser Konzeption bezeichnet Kant – ähnlich wie vor ihm schon Crusius, der in seinem Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten 1745 von einem »blossen Seyn in Gedanken«

Zu der auch im 18. Jahrhundert kontrovers diskutierten Frage, ob dies Descartes als einen Schluss oder als eine Einsicht versteht, die im Vollzug des Denkens gegeben ist, siehe Klemme 2009. 39

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und einem »inesse intellectui«40 spricht – die Möglichkeit verschiedener Perspektiven epistemischer Selbstbestimmung in einem Modell, das, wie wir sehen werden, eine ursprüngliche Einheit von Natur und Freiheit zu denken erlaubt.41 Drittens schließlich hat Kant deutlich gemacht, dass der Existentialsatz ›Ich denke‹ nicht nur die eigene sondern auch die Existenz der äußeren Gegenstände verbürgt. Wer wie Descartes den Satz »Ich bin« (B 274) äußert, kann dem Satz ›Es gibt eine äußere Welt‹ seine Zustimmung nicht verweigern, weil der eine den anderen voraussetzt: Ich bin mir meiner selbst als existierend bewusst, weil ich Akte des Denkens vollziehe, die voraussetzen, dass mir etwas in meiner äußeren Anschauung zum Denken gegeben wird. Akte der Spontaneität beziehen sich auf etwas, das mir im Raum gegeben wird.42 Ich denke, also bin ich mir als ein existierendes Subjekt nur deshalb bewusst, weil es Gegenstände im Raum gibt, die mich affizieren. Im Bewusstsein meiner selbst im Aktus des ›Ich denke‹ bin ich mir zugleich meiner Rezeptivität und Spontaneität bewusst. Ich bin mir bewusst, durch Vorstellungen affiziert worden zu sein, ohne die ich nicht denken könnte. Weil diese Vorstellungen durch Gegenstände im Raum ›verursacht‹43 worden sind, ist meine eigene Existenz auch raum-zeitlich bestimmbar. Zugleich bin ich mir aber auch bewusst, nicht bloß als ein raumzeitlich bestimmbares Wesen zu existieren. Schließlich bin ich mir bewusst, diese Vorstellungen durch die auf der Spontaneität meines Denkens beruhenden logischen Funktionen aufeinander zu beziehen. Ich selbst bin es, der durch die Spontaneität des Verstandes den inneren Sinn affiziert.44 Die Spontaneität der transzendentalen Apperzeption ist als ein empirische Selbsterkenntnis und Natur ermöglichendes Vermögen selbst nicht Natur, steht also nicht unter den kausalen Bedingungen der Gegenstände unserer Erfahrung. An einer viel diskutierten, bereits in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft abgedruckten Textpassage verwendet Kant – meiner Einschätzung nach terminologisch unglücklich – den Ausdruck der Erkenntnis, um die Differenz zwischen Spontaneität und Natur zum Ausdruck zu bringen:

§§ 46 f.; siehe Klemme 1996, 384, Anm. 19. Kitcher (2011, 193–200) sieht das Motiv für die Einführung einer im Akt des Denkens bewusst werdenden Existenz primär darin, dass durch sie die Unsterblichkeit der Seele, die in der Kritik der praktischen Vernunft als ein Postulat eingeführt wird, verständlich wird. 42 In der Formulierung der »Widerlegung des Idealismus« von 1787 ausgedrückt lautet Kants These: »Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir« (B 275). 43 Hinter dieser harmlos klingenden Formulierung versteckt sich ein ganzes Bündel äußerst schwieriger Probleme (Stichwort: doppelte Affektion), die mit Kants Lehre vom Transzendentalen Idealismus verbunden sind und an dieser Stelle nicht erörtert werden können. 44 Kant weist gelegentlich darauf hin, dass ich nicht nur durch gegebene Gegenstände affiziert werde, sondern dass ich im inneren Sinne auch durch den Verstand affiziert werde; vgl. B 153–156. 40 41

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»Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, andererseits aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft« (A 546 f. / B 574 f.).45 Die Selbsterkenntnis »durch bloße Apperzeption« ist auf die Einsicht (oder besser: auf das Bewusstsein) beschränkt, dass wir aufgrund unserer Spontaneität und Intelligibilität niemals nur Natur sind. Keinesfalls stellt sie einen Beitrag zur rationalen Psychologie dar.46 Wie gelangen wir nun von der Selbstwahrnehmung zur Selbsterkenntnis? Wie kann es uns gelingen, uns selbst als ein Objekt kategorial zu erkennen? Damit aus einer möglichen eine wirkliche Selbsterkenntnis wird, sind die logischen Urteilsfunktionen auf Anschauungen anzuwenden. Da ich mich allerdings immer nur als Objekt des inneren oder des äußeren Sinnes anschauen kann, vermag ich mich auch nur als Erscheinung zu erkennen. Die Modalitäten dieser unserer empirischen Selbsterkenntnis brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. Für die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Natur viel aufschlussreicher ist die praktische

Lockes These, dass das Denken prinzipiell auch eine Eigenschaft der Materie sein könnte, findet ihr Analogon in Kants Hinweis auf unser Unwissen über die noumenale Welt. Könnten wir aus dem bloßen Denken Rückschlüsse auf die substantiellen Eigenschaften des Ich ziehen, wäre die rationale Psychologie eine Wissenschaft und kein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen, wie Kant in beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft zu zeigen versucht. Wir können zwar sagen, dass das Ich eine einfache Seelensubstanz ist etc., aber dies bedeutet eben nicht, dass wir sie als eine solche erkannt haben. »Indessen kann« – so Kant am Ende seiner Ausführungen zum dritten Paralogismus der Personalität – »so wie der Begriff der Substanz und des Einfachen, ebenso auch der Begriff der Persönlichkeit […] bleiben, und sofern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nötig und hinreichend, aber auf ihn als Erweiterung unserer Selbsterkenntnis durch reine Vernunft, welche uns eine ununterbrochene Fortdauer des Subjekts aus dem bloßen Begriffe des identischen Selbst vorspiegelt, können wir nimmermehr Staat machen, da dieser Begriff sich immer um sich selbst herumdreht und uns in Ansehung keiner einzigen Frage, welche auf synthetische Erkenntnis angelegt ist, weiterbringt« (A 365 f.). 46 Wenn Kant der rationalen Psychologie die Kompetenz abspricht, unsere Selbsterkenntnis zu erweitern, meint er eine Form der Erkenntnis, die über diesen im Aktus des ›Ich denke‹ bereits vorliegenden Erkenntnisstand hinausgeht. Gesucht wird eine Form der epistemischen Selbstbezüglichkeit, durch die Auskunft darüber gewonnen werden kann, was denn das, was denkt, seinem Wesen nach ist, das heißt, was es als etwas Wirkliches konstituiert. Es liegt nahe, sich in dieser Absicht mit den logischen Funktionen auf sich selbst zu beziehen. Doch das kann nicht gut gehen. 45

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Selbstbestimmung, die Kant am Ende des überarbeiteten Abschnitts über die Paralogismen der reinen Vernunft thematisiert. Das vollständige Zitat lautet wie folgt: »Gesetzt aber, es fände sich in der Folge, nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir innewerden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen, dienen kann.«47 Dass ich meine Existenz intellektuell bestimmen kann, wird mir durch das »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« »offenbart« (B 431). Hätte uns, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft schreibt, das »Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft« den Begriff der Freiheit »nicht aufgedrungen« (V, 30), hätten wir ihn niemals in die Wissenschaft eingeführt. Aus dem bloßen Bewusstsein unserer Spontaneität als ›Ich denke‹ folgt nicht (wie Kant noch in den siebziger Jahren meinte) unmittelbar, dass wir auch frei sind. Dass diese Spontaneität einen freiheitsnomologischen Sinn hat, erschließt sich uns erst durch das Bewusstsein des Moralgesetzes. Das Bewusstsein des Moralgesetzes impliziert eine Spontaneität unserer Vernunft, die in dieser Welt objektive Realität erhalten soll – und auch erhalten würde, wenn wir es denn wollten.48 Mit der Berufung auf dieses Bewusstsein hat Kant dem eigenen Anspruch nach die zentralen Einwände von Pistorius ausgeräumt. Mit dem Bewusstsein des Moralgesetzes haben wir erstens den Ursprung des Begriffs der Freiheit gefunden, und mit der Freiheit ist zweitens gesichert, dass wir als »intelligible Wesen« (V, 105) in der Verstandeswelt existieren, deren Kausalität die der

B 430 f. Kant beruft sich auf das Bewusstsein des gemeinen Menschen zur Bestätigung seiner These, »daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Beweggründe, d. i. Glückseligkeit) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings […] gebieten« (A 807 / B 835). Ist die Welt den sittlichen Gesetzen gemäß, nennt sie Kant »eine moralische Welt« (A 808 / B 836). 48 Siehe Kant, A 808 / B 836: »Die Idee einer moralischen Welt hat daher objektive Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligiblen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.« 47

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Freiheit ist. Mit dem Begriff der Freiheit erkennen wir uns als das, was »unser eignes Subjekt« (V, 105) ausmacht. Nur wenn und weil wir uns als intelligible Wesen erkennen, sind und bleiben wir ›unbedingt‹ bei uns selbst: »Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dürfen [sic. müssen; H. F. K.], um das Unbedingte und Intelligibele zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogar mit Bestimmung der Art, wie es als ein solches tätig sein konnte, erkennt.« (V, 105 f.) Damit deutet sich bereits an, wie laut Kant das Problem der Grundlegung, nämlich verständlich zu machen, wie die beiden kausalen Perspektiven auf uns selbst in »demselben Subjekt« vereinigt gedacht werden können, gelöst werden kann. Den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wie ich mich als eine intelligible Existenz erkennen kann, wo ich doch immer auch ein »Stück der Natur« (IV, 456) bin, stellt nach dem Theoriebestand von 1787 der Begriff der logischen Urteilsfunktionen dar. Sie stellen das gemeinsame Merkmal sowohl der intelligiblen wie der empirischen Selbstbestimmung dar. Die logischen Funktionen des Urteils sind Gedankenformen sowohl der sinnlichen wie der übersinnlichen Natur. Sie differenzieren sich als Kategorien der Natur und der Freiheit erst dann aus, wenn wir sie zur Bestimmung jener Existenz anwenden, die uns im bloßen Denken gegeben ist. Dieselben logischen Funktionen also, mittels derer ich Gegenstände der Erfahrung bestimme, dürfen verwendet werden zur Bestimmung des Gebrauchs, den ich von meiner freien Willkür mache. Je nachdem, ob ich meine Handlung aus der Perspektive der »Kategorien der Natur« (V, 65) oder aus derjenigen der Kategorien der Freiheit beschreibe, steht die Handlung unter der Kausalität der sinnlichen oder der übersinnlichen Natur. Die Pointe dieses Gedankens besteht darin, dass ich aufgrund des Bewusstseins des Moralgesetzes ein und dieselbe Handlung »zugleich« aus diesen beiden Perspektiven49 zu beurteilen berechtigt bin, obwohl wir unsere Freiheit nicht anschauen können. Kant schreibt in der zweiten Kritik: »Man wird hier bald gewahr, daß in dieser Tafel die Freiheit, als eine Art von Kausalität, die aber empirischen Bestimmungsgründen nicht unterworfen ist, in Ansehung der durch sie möglichen Handlungen, als Erscheinungen in der Sinnenwelt, betrachtet werde, folglich sich auf die Kategorien ihrer Naturmöglichkeit beziehe, indessen daß doch jede Kategorie so allgemein genommen wird, daß der Bestimmungsgrund jener Kausalität auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit als Eigenschaft eines intelligiblen Wesens angenommen werden kann […]« (V, 67). In der Kritik der Urteilskraft bringt Kant zum Ausdruck, dass der Begriff der Freiheit »der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist und eben dadurch die Verknüpfung der beiden anderen mit der Natur, aller drei aber unter einander zu einer Religion möglich macht« (V, 474). 49

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»Indessen würde ich doch diese Begriffe [sic. die Kategorien; H. F. K.] in Ansehung des praktischen Gebrauchs, welcher doch immer auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist, der im theoretischen Gebrauche analogischen Bedeutung gemäß, auf die Freiheit und das Subjekt derselben anzuwenden befugt sein, indem ich bloß die logischen Funktionen des Subjekts und Prädikats des Grundes und der Folge darunter verstehe, denen gemäß die Handlungen oder Wirkungen jenen Gesetzen gemäß so bestimmt werden, daß sie zugleich mit den Naturgesetzen, den Kategorien der Substanz und der Ursache allemal gemäß erklärt werden können, ob sie gleich aus ganz anderem Prinzip entspringen.« (B 431 f.)50 Aus diesem Zitat wird ersichtlich, warum Kant in der Anmerkung zum § 6 in der Kritik der praktischen Vernunft schreibt, dass wir uns des »moralischen Gesetzes […] unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen)« (V, 29). Wir werden uns des Moralgesetzes bei Gelegenheit der Bildung von Maximen »unmittelbar bewußt«, weil wir uns bei dieser Gelegenheit bewusst werden, diese Maximen daraufhin überprüfen zu können, ob sie sich zu der Form der reinen praktischen Vernunft qualifizieren. Mit diesem zwischen intelligibler und phänomenaler Welt vermittelnden Maximenbegriff hat Kant den Gegenstand der Anwendung der Kategorien der Freiheit gefunden. Hierbei sind zwei Punkte bemerkenswert: Erstens gehört es nicht zum Begriff der Maxime, dass dasjenige Wesen, welches nach Maximen handelt, sich des Moralgesetzes bewusst wird. Wir können uns sehr wohl Wesen vorstellen, die die Fähigkeit haben, nach Maximen zu handeln, sich des Moralgesetzes aber schlicht deshalb nicht bewusst werden, weil ihre Willkür nicht unter dem Moralgesetz steht. Als solche sind Maximen »Willensmeinungen des Individuums« (V, 66), die moralisch unbestimmt sind. Der Mensch jedoch wird sich des Moralgesetzes bewusst, wenn er Maximen bildet, weil seine »freie Willkür« (V, 65) unter dem Moralgesetz steht. Zweitens muss eine Fähigkeit, damit sie ihre Wirkung zeigt, auch wahrgenommen werden. Wer die Fähigkeit hat, nach Maximen zu handeln, handelt nicht notwendigerweise nach Maximen. Wir können uns also Menschen vorstellen, die zwar die Fähigkeit haben, nach Maximen zu handeln, diese aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen. Sie handeln dann nicht nach Grundsätzen und sind charakterlos.51 Nehmen wir Im Anschluss heißt es: »Dieses hat nur zur Verhütung des Mißverstandes, dem die Lehre von unserer Selbstanschauung, als Erscheinung, leicht ausgesetzt ist, gesagt sein sollen.« (B 432; vgl. V, 105) – Noch im Rostocker Manuskript der Anthropologie bezieht sich Kant auf diese Lehre: »Das Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit was er an sich selbst ist kann durch keine innere Erfahrung erworben werden und entspringt nicht aus der Naturkunde vom Menschen sondern ist einzig und allein das Bewußtsein seiner Freiheit welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ also nur durch den höchsten praktischen Vernunft kund wird« (zitiert nach der von Wilhelm Weischedel besorgten Ausgabe von Kants Schriften, Bd. XII, 429 Anm.). 51 Siehe beispielsweise die Ausführungen in der Nachschrift von Kants Anthropologiekolleg von 1775/76: »Der Charackter macht den Werth eines Menschen an und für sich selbst 50

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Kants Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft beim Wort, würde dies bedeuten, dass diese Menschen auch kein Bewusstsein des Moralgesetzes haben können, eben weil sie faktisch keine Maximen bilden. In jedem Fall stellen Maximen den ersten Gegenstand der Anwendung der Kategorien der Freiheit dar.52 Wir können unsere Maximen als Produkt unserer Naturgeschichte und als Erkenntnisgegenstand der Kategorien der Natur begreifen, wir können sie und die aus ihnen resultierenden Handlungen aber zugleich als durch Freiheit verursacht begreifen. Bilden wir Maximen, dann können wir aufgrund unseres Bewusstseins des Moralgesetzes nicht anders als anerkennen, dass sie eine Form haben können und sollen, wie sie vom Moralgesetz gefordert wird. Indem wir uns durch unsere Maximen zum Handeln bestimmen, stiften wir mit den logischen Urteilsfunktionen Einheit unter dem »Mannigfaltigen der Begehrungen« (V, 65). Diese Funktionen müssen als »modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Kausalität«, verstanden werden, weil wir durch sie den Gebrauch unserer unter dem Moralgesetz stehenden »freien Willkür« bestimmen (V, 65). So wenig also, wie es Kategorien der Natur ohne ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit geben würde, würde es Kategorien der Freiheit geben, wenn wir nicht über Begehrungen verfügen würden, deren moralische Qualität wir in Gestalt von Maximen überprüfen, in die diese Begehrungen als unsere Handlungsmotive aufgenommen werden. Weil die logischen Urteilsfunktionen der Ursprung von Kategorien der Natur wie der Freiheit sind, erklärt sich, warum Kant der Naturgesetzformel so große Bedeutung beimisst: Die Form der Kausalität der Natur und der Freiheit sind, was die Merkmale der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit betrifft, identisch. Und dies ist auch der Grund, warum Kant 1787 die terminologische Unterscheidung zwischen einer sinnlichen Natur und einer übersinnlichen Natur einführt: Ihre Formen stimmen überein. Das moralische Gesetz »soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft), die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu tun« (V, 43).

aus und ist das Principium der freien Handlungen aus Grundsätzen. Es giebt Menschen, die einen guten, einen bösen, auch gar keinen Charackter haben. Es gibt keinen Menschen der nicht ein gutes oder böses Hertz haben sollte, aber es giebt Menschen, die gar keinen Charackter haben. Also muß bey einem Menschen, ehe noch ein guter oder böser Charackter gebildet wird, ein Charackter überhaupt gebildet werden […]. Beim weiblichen Geschlecht sieht man, daß es ihrer Natur schon nicht so angemessen ist einen Charackter überhaupt zu haben. Das männliche ist aber mehr zum Grundsatz berufen, obgleich viele gleichfalls keinen Charackter haben, so ist doch der Charackter ihrer Natur angemessener« (XXV, 630 f.). 52 Aus diesem Grund setzt die »Tafel der Kategorien« mit dem Maximenbegriff ein. Der Begriff der Maxime ist der Ausgangspunkt der Anwendung der Kategorien der Freiheit – wer nicht über diese Fähigkeit verfügt, kann sein Wollen nicht daraufhin überprüfen, ob es dem Kriterium des Moralgesetzes entspricht.

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Vor dem Hintergrund des kantischen Verständnisses unserer logischen Urteilsfunktionen kann dieser Anspruch auch nicht überraschen: Wenn die Kategorien der Natur wie der Freiheit beide aus der Anwendung der logischen Funktionen auf ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit oder unserer freien Willkür resultieren, handelt es sich um dieselben Formen des Denkens. Gelingt es uns also, eine Weise der gesetzlichen Selbstbestimmung unserer Existenz auszuweisen, die allein durch das Denken geschieht und deren Begriffe objektive Bedeutung haben, obwohl ihnen keine gegebenen Anschauungen entsprechen, dann können wir uns so erkennen, wie wir an uns selbst beschaffen sind. Genau dies gilt für die Bestimmung unserer »freien Willkür« (V, 65) durch reine praktische Vernunft. Unsere »Willensbestimmung« (V, 66) ist ein Akt, der keinen Zeitbedingungen unterliegt, obwohl er sich auf Begehrungen bezieht, die immer auch in der Zeit gegeben sind. An einer Stelle in seiner Kritik der praktischen Vernunft verdeutlicht Kant den gemeinsamen Grund der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft dadurch, dass er den reinen Verstand genau dann Vernunft nennt, wenn er zur Bestimmung unseres Willens verwendet wird: »Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnis) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist.« (V, 55)53 So wenig wie es zwei verschiedene Typen von logischen Urteilsfunktionen gibt, können wir zwischen zwei verschiedenen Vermögen von Spontaneität54 unterscheiden. Vielmehr differenziert sich die eine Spontaneität des reinen Verstandes gemäß ihres jeweiligen Gebrauchs zu einer Spontaneität des Verstandes als dem Grund der sinnlichen Natur und einer Spontaneität der Vernunft als dem Grund der übersinnlichen Natur aus.55 Die hiermit zum Ausdruck gebrachte Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft darf allerdings nicht, wie O’Neill (1989, IX, 24, 51, 55–59) und Kitcher (2011, 248) meinen, so verstanden werden, als ob Kant die Ansicht vertreten würde, dass der kategorische Imperativ, also dasjenige Prinzip, das das Verhältnis von reiner Vernunft und »freier Willkür« (V, 65) bestimmt, auch das oberste Prinzip des theoretischen Gebrauchs unserer Vernunft (unseres Verstandes) wäre. 54 Die gegenteilige Position (Kant unterscheidet zwischen zwei Arten von Spontaneität) vertritt Allison 1996, 132 f. Zu Kants diversen Begriffen von Freiheit und Spontaneität siehe auch Ameriks 2003, 227 f. 55 Unberührt hiervon bleibt unsere Fähigkeit, uns für oder gegen die Gebote der reinen praktischen Vernunft zu entscheiden – eine Fähigkeit, die Kant 1787 der »freien Willkür« (V, 65) zuschreibt. Es ist auffällig, dass Kant die freie Willkür nicht als ein Vermögen der Spontaneität beschreibt. Vielleicht liegt der Grund darin, dass unsere Entscheidung für oder gegen die moralischen Gebote grundlos, zufällig, gesetzlos ist. Genau dies trifft auf die Spontaneität des Verstandes nicht zu; sie ist der Grund der Gesetzlichkeit der Natur und der Freiheit. 53

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Das Problem der Grundlegung, wie Natur und Freiheit als in einem Subjekt »notwendig vereinigt« (IV, 456) gedacht werden können, scheint damit beantwortet worden zu sein: Wir können Natur und Freiheit als in einem Subjekt notwendig vereinigt denken, weil es nur eine Spontaneität und einen Typus logischer Urteilsfunktionen gibt, die wir zur Bestimmung der im Aktus des Denkens bewussten Existenz in der Absicht verwenden, uns selbst als Ding an sich selbst und als Erscheinung zu erkennen. Wir sind berechtigt, den Kategorien der Freiheit eine objektive Bedeutung zuzusprechen, weil an die Stelle der Anschauung, die den Kategorien der Natur eine objektive Bedeutung gibt, das Moralgesetz tritt. Seine Wirklichkeit ist uns unmittelbar im Bewusstsein präsent, sobald wir eine Fähigkeit ausüben, die Kant allen Menschen zuschreibt: nach Maximen zu handeln.

4. Die Dauer meiner Existenz Wir könnten unsere Überlegungen zum Existentialsatz ›Ich denke‹ an dieser Stelle abschließen, wenn sich zum Schluss nicht noch eine Frage aufdrängte: Wenn das Bewusstsein meiner Existenz einen Akt des Denkens voraussetzt, ich diesen aber nicht mehr vollziehen kann, weil mir nichts mehr zum Denken gegeben wird, bedeutet dies dann nicht, dass ich nicht mehr existiere? Kant beantwortet diese Frage erwartungsgemäß aus zwei verschiedenen Perspektiven: Mit den Mitteln des bloßen Denkens können wir in der Tat nur unser »Dasein im Leben« (B 420) begründen. Das Urteil ›Ich will‹ impliziert das Urteil ›Ich denke‹, und das Urteil ›Ich denke‹ setzt voraus, dass mir etwas zum Denken gegeben wird.56 Doch für die reine praktische Vernunft ist dieses Ergebnis nicht bindend. Sie bestimmt nach Kant unser »Verhalten« so, »als ob unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung,

Dieser zentrale Unterschied zur Position von Fichte wird von Stolzenberg zumindest insofern nicht deutlich herausgestellt, als er Kant die Position zuschreibt, dass das ›Ich will‹ alle meine Begierden begleiten können muss. Stolzenberg schlägt vor, das fundamentale Prinzip der Kantischen Ethik als ein »original and pure practical self-consciousness« (2008, 422) zu verstehen. Dieser Vorschlag scheint jedoch erstens zu unterschlagen, dass die reine praktische Vernunft nach Auskunft der zweiten Kritik identisch mit dem Verstand ist, der die freie Willkür bestimmt, und zweitens, dass der Aktus ›Ich denke‹ nur vollzogen werden kann, wenn mir Vorstellungen zum Denken gegeben werden. Ein Selbstbewusstsein, das ausschließlich und damit unabhängig vom ›Ich denke‹ durch Akte des Wollens hervorgebracht würde, gibt es bei Kant nicht; vgl. dagegen Stolzenberg (2010, 264 f., Anm. 15) mit Kritik an Klemme (1996, 398, Anm. 48). In dem von Stolzenberg als Beleg für seine These angeführten Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant zwar von dem »Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft« (V, 29), das er mit dem Bewusstsein unserer »Freiheit« beziehungsweise mit dem »unbedingt praktischen Gesetz« identifiziert. Dass diese Identifikation jedoch ein dem ›Ich denke‹ analoges ›Ich will‹ begründet, scheint mir das Zitat nicht zu belegen. 56

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mithin über dieses Leben hinaus reiche« (B 421). Wie macht die reine praktische Vernunft das? Unser Bild einer zweifachen Erkenntnisperspektive unseres Selbst aus Natur und Freiheit würde wesentlich bereichert, wenn die Natur als ein nach Zwecken geordnetes Ganzes begriffen werden könnte. Und genau diesen Schritt vollzieht Kant 1787 im Abschnitt über die Paralogismen in der Absicht, jenseits der Postulatenlehre einen in praktischer Hinsicht hinlänglichen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu geben.57 Seine Argumentation stellt sich wie folgt dar: Die Vernunft macht es sich zu einem notwendigen Grundsatz, dass wir bei lebendigen Wesen nichts Unzweckmäßiges antreffen. Alles in einem Organismus dient einem Zweck, alles hat »seine Bestimmung im Leben« (B 425). Übertragen wir diesen Grundsatz auf den Menschen, besagt er, dass wir nichts in ihm antreffen, was nicht einen bestimmten Zweck hat. Welchen Zweck hat aber »das moralische Gesetz in ihm« (IV, 425)? Weil wir uns im Bewusstsein des Moralgesetzes berufen fühlen, Handlungen zu vollziehen, die aus der Perspektive dieses Lebens sinnlos, weil nutzlos erscheinen müssen, hat das Moralgesetz einen über dieses Leben hinausführenden Zweck. Im Bewusstsein des Moralgesetzes wollen wir »Bürger« (B 426) einer besseren Welt sein. Aus dieser Zweckbestimmung des Moralgesetzes in uns folgt, dass unsere Existenz über unseren irdischen Tod hinaus fortdauert. Die reine Vernunft »berechtigt« uns, »unsere eigene Existenz über die Grenzen der Erfahrung und des Lebens hinaus zu erweitern« (B 425). Dieselbe Vernunft, die nach der Kritik der Urteilskraft die reflektierende Urteilskraft anweist, Formen in der Natur, die aus der Perspektive des Verstandes als zufällig erscheinen, durch den Begriff der Zweckmäßigkeit als notwendig existierend zu beurteilen, berechtigt uns, uns selbst als Endzwecke einer sinnlichen Natur zu bestimmen, die ihre eigene Bestimmung in einer übersinnlichen Natur findet. Was ist von dieser Argumentation zu halten? Während Kant in der Regel dafür kritisiert wird, zu viel behauptet und zu wenig bewiesen zu haben, möchte ich ein Argument gegen seine Interpretation des Existentialsatzes ›Ich denke‹ anführen, das von der gegenteiligen Prämisse ausgeht: Kant hat zu wenig behauptet, weil er tatsächlich mehr bewiesen hat. Was meine ich damit? Wenn ich nach Kant aufgrund meines Bewusstseins des Moralgesetzes berechtigt bin, die Kategorien der Freiheit zur Bestimmung meines Wollens anzuwenden, dann steht fest, dass ich als ein intelligibles, zur rationalen Selbstbestimmung fähiges Wesen existiere. Ich habe mich als ein raum- und zeitlos existierendes Wesen erkannt, als ein Wesen, das nicht vergehen kann. Trifft dieses Argument zu, dann ist Kants aus der zweckmäßigen Ordnung der Welt geführtes Unvergänglichkeitsargument entbehrlich. Kant hätte einen direkten Beweis aus der reinen praktischen Vernunft für unsere Fortdauer führen können. Warum er auf diesen Beweis verzichtet hat, erscheint zunächst rätselhaft. Doch vielleicht führt uns die folgende Überlegung auf eine plausible Erklärung: Liegt der 57

Siehe dazu die Ausführungen von George 1995.

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rationalen Psychologie daran, die Unsterblichkeit der Seele im Sinne der cartesianischen Substanzmetaphysik als einen Beweis der reinen spekulativen Vernunft zu führen, begründet Kant sein Unvergänglichkeitsargument auf der reinen praktischen Vernunft. Würde die reine praktische Vernunft jedoch nur die Fortdauer unserer intelligiblen Existenz beweisen, wäre dies für die Zwecke der Moralphilosophie viel zu wenig. Denn Kants Unsterblichkeitsbeweis aus der reinen praktischen Vernunft zielt nicht auf den Beweis einer reinen Seelensubstanz. Kant verlangt nach einem Beweis, der die Fortdauer unserer rationalen und unserer nicht-rationalen Natur aufzeigt. Es soll eine Existenzweise sein, die unser moralisches Streben und Hoffen zu vollenden erlaubt. Und genau aus diesem Grunde muss ein Argument beigebracht werden, dass die Fortdauer unserer (wenn man so sagen möchte) gesamten Existenz begründet, und nicht eine Befreiung unseres Selbst aus den Schlingen unserer sinnlichen Existenz. Der moralische Fortschritt muss auch nach dem Tod möglich sein. Der entscheidende Begriff ist der des Lebens.58 Es verbürgt, dass unser Streben nach dem Tod nicht beendet sein wird. Und weil der Begriff des Lebens nach Kant nur durch den Begriff der Zweckmäßigkeit erklärt werden kann, muss der Beweis für unsere Fortdauer aus derjenigen Perspektive geführt werden, aus der heraus wir den Begriff des Lebens nur verstehen können. Dies ist die Perspektive einer durchgängig zweckmäßig organisierten Welt. Kants paradox anmutende Konzeption unserer über die Zeit hinaus fortdauernden Existenz wird in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft mit Händen greifbar. Mit der Begrifflichkeit seiner politischen Philosophie59 argumentierend möchte Kant in ihr zeigen, dass wir verpflichtet sind, in eine Tugendgemeinschaft unter der Herrschaft Gottes zu treten. Unter seiner Herrschaft allein können wir hoffen, das radikale Böse in uns zu überwinden und in den status civilis unserer moralischen Existenz einzutreten. Wenn unser moralisches Streben mit dem irdischen Leben nicht abgeschlossen ist, ist die direkt aus dem Existentialsatz ›Ich denke‹ gefolgerte unzeitliche Existenz nicht hinreichend. Wenn wir uns als moralische Subjekte zum Handeln bestimmen, bedürfen wir einer Konzeption der Selbstexistenz, in der unser Naturbezug niemals vollständig aufgegeben wird. Würden wir mit unserem Tod zu reinen Vernunftwesen, würden wir mit Notwendigkeit nach dem Moralgesetz handeln. Wir würden mit einem Schlag in die bedürfnislose Welt platonisch-plotinischer Geistwesen fallen – ein Gedanke, dem Kant nichts abgewinnen konnte. Träfe dieser Gedanke nämlich zu, dann müssten wir alle Hoffnung fahren lassen, unsere Gesinnung dem moralischen Gesetz in einem »ins

»Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Princip zum Handeln, einer endlichen Substanz sich zur Veränderung, und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder Ruhe als Veränderung ihres Zustandes zu bestimmen. Nun kennen wir kein anderes inneres Princip einer Substanz, ihren Zustand zu verändern, als das Begehren und überhaupt keine andere innere Thätigkeit als Denken mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde und Willen« (IV, 544; vgl. V, 9). 59 Siehe dazu Klemme 1999. 58

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Unendliche gehenden Progressus« (V, 122; vgl. 123 und 123 Anm.) angemessen zu machen. Weil wir das höchste Gut dann weder in dieser noch in der anderen Welt erreichen könnten, würde das moralische Gesetz selbst »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein« (V, 114). Pistorius zeigt sich übrigens in seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft mit Kants Ich-Konzeption auch deshalb unzufrieden, weil ihn der Gedanke einer intelligiblen und zeitlich nicht bestimmbaren Existenz60 nicht überzeugt. Seiner Ansicht nach wird der Mensch, solange er sittlich strebt, niemals eine reine Intelligenz sein können, gerade weil unser Streben immer in der Zeit stattfindet, die Zeit aber eine Eigenschaft nur der Erscheinungswelt ist. »Läßt sich nun das Fortschreiten von einem Zustande zum andern ohne den Zeitbegriff schlechterdings nicht denken, und gehört der Zeitbegriff blos zur Sinnen- und Erscheinungswelt, so wird der sittliche Mensch, in sofern er sittlich bleiben soll, nie eine reine Intelligenz werden, nie aus der Welt der Erscheinungen herauskommen; und hieraus folgt, daß er auch jene transcendente Freiheit, wir mögen sie als negativ oder positiv betrachten, nie haben kann, d. i. sie nie wirklich erreicht, ob er sich gleich derselben auf eine unbestimmte Weise nähern kann.«61 Wir wissen nicht, ob Kant diese erst 1794 erschienene Rezension gelesen hat. Aber in seinem ebenfalls 1794 zum Druck gebrachten Aufsatz über Das Ende aller Dinge stellt Kant Überlegungen an, die sich wie eine direkte Replik auf Pistorius lesen: Obwohl die Zeit keine Eigenschaft der Dinge an sich selbst ist, impliziert der Gebrauch unserer reinen praktischen Vernunft ein Verständnis der noumenalen Welt, in der Veränderungen möglich sind. Denn wir müssen als Glieder dieser Welt »unsre Maxime so nehmen, als ob bei allen ins Unendliche gehenden Verändrungen vom Guten zum Bessern unser moralischer Zustand der Gesinnung nach (der homo Noumenon, ›dessen Wandel im Himmel ist‹) gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre« (VIII, 335). Wäre unsere zur intelligiblen Welt gehörige moralische Gesinnung (übrigens ja schon in diesem Leben) nicht veränderlich, müssten wir alle Hoffnung auf das Erreichen unseres moralischen »Endzwecks« (VIII, 335) fahren lassen. Wie diese zeitlose Veränderung jedoch möglich ist, bleibt nach Kant notwendig unverstanden. Wir sollten, hätte Kant auch schreiben können, als gute Philosophen nicht so tun, als ob wir das Unlösbare lösen könnten. Wir sollten als Philosophen (um eine Formulierung von Georg Simmel aufzunehmen) keine »Abenteurer des Geistes«62, sondern vielmehr Kritiker der Vernunft sein. Als Vernunftkritiker aber wissen wir, so Kant im Aufsatz über Das Ende aller Dinge, dass »wir uns unver-

61

Siehe beispielsweise V, 97–99 und 123 f. Allgemeine deutsche Bibliothek, Band 117, 1. Stück, 1794, 93, zitiert nach Gesang 2007,

62

Simmel: Philosophische Kultur, 18.

60

89.

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meidlich in Widersprüche verfangen, wenn wir einen einzigen Schritt aus der Sinnenwelt in die intelligible thun wollen« (VIII, 333 f.). Wer alles erklären will, steht nach Kant am Ende mit leeren Händen da, weil er sich des einzigen Mittels beraubt hat, mit dem er erklären kann, warum das Unlösbare unlösbar ist. Und dieses Mittel ist die den Transzendentalen Idealismus begründende Methode der Vernunftkritik. Die Vernunftkritik weist den Dogmatismus in seine Grenzen, indem sie den Skeptizismus ernst nimmt und domestiziert. So wenig wie wir den Begriff der Freiheit seiner Möglichkeit nach erklären oder uns verständlich machen können, warum die Vernunft ein Interesse für sie in uns bewirkt, können wir uns einen Begriff von einer Welt machen, in der wir uns moralisch vervollkommnen können, ohne den Bedingungen von Raum und Zeit zu unterliegen. Wie vielleicht kein zweiter Philosoph hat Kant unser Unvermögen, die ersten oder letzten Begriffe unserer Erkenntnis zu erklären, mit unseren im Urteil erhobenen Geltungsansprüchen zu versöhnen versucht, so dass unser Bewusstsein des moralischen Gesetzes den Begriff der Freiheit auch dort zu tragen verspricht, wo die begriffliche Analyse in Aporien führt.

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Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie

Geert Keil

1. Einleitung »Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (B 564 / A 536). Diesem von Kant behaupteten Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus möchte ich in diesem Beitrag ein eigenes gegenüberstellen: Wenn Freiheit noumenale Kausalität erfordert, ist Freiheit nicht zu retten. Die von Kant vorgeschlagene Auflösung der Freiheitsantinomie gehört zu denjenigen Theoriestücken, die auch für den transzendentalen Idealismus aufgeschlossene Philosophen schwer zu verteidigen finden. Dies gilt insbesondere für die Lehre von der nichtzeitlichen Verursachung. Nach dieser Doktrin hebt die »Causalität der Vernunft im intelligibelen Charakter […] nicht zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen« (B 579 / A 551). In diesem Beitrag wird nicht Kants Auflösung der Freiheitsantinomie im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, wie das Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus allererst motiviert ist. Ich werde zunächst (Abschnitt 2) eine Reihe von Gründen dafür anführen, dieses Junktim zu lösen. Kant konstruiert in der dritten Antinomie ein idiosynkratisches Vereinbarkeitsproblem, das auf angreifbaren kausalitätstheoretischen und metaphysischen Vorannahmen beruht. In den Abschnitten 3–5 versuche ich zu zeigen, dass die transzendental-idealistische Auflösung der Freiheitsantinomie nur nötig wird, weil Kant für Freiheit Erstverursachung fordert, die Gesetzesauffassung der Kausalität für einen analytischen Bestandteil des Kausalbegriffs hält, das Kausalprinzip mit dem Determinismusprinzip identifiziert und mit der Auszeichnung des Kausalprinzips als synthetischen Satz a priori zugleich den deterministischen Charakter des ›Naturmechanismus‹ erwiesen zu haben glaubt. Danach (6–7) werde ich die Frage erörtern, ob die noumenale ›Kausalität aus Freiheit‹ im Sinne von Akteurskausalität beziehungsweise Substanzkausalität rekonstruiert werden kann. Abschließend (8) werde ich tentative Überlegungen dazu anstellen, ob zumindest einige transzendental-idealistische Elemente eine alternative Rolle in der Freiheits- und Handlungstheorie spielen können.

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2. Gründe, das Junktim zwischen Freiheit und transzendentalem Idealismus zu lösen Ich möchte zunächst fünf Gründe dafür anführen, das von Kant hergestellte Junktim aufzulösen. (i) Kant konstruiert in der dritten Antinomie ein idiosynkratisches Vereinbarkeitsproblem. Die Problemstellung der dritten Antinomie ist nicht in dem Sinn idiosynkratisch, dass sie keinerlei Verankerung in den Vorläuferdebatten der Schulmetaphysik hätte. Sie unterscheidet sich aber stark von dem, was Hume als das »reconciling project with regard to the question of liberty and necessity«1 beschrieb und erst recht von dem, was heute als das Problem der Vereinbarkeit zwischen Willensfreiheit und Determinismus diskutiert wird. Diese Eigenwilligkeit ist am Wortlaut von Thesis und Antithesis noch nicht abzulesen, wohl aber aus den beiden Beweisen und den beiden Anmerkungen. Der Verteidiger der Thesis fordert für die transzendentale Freiheit »einen ersten Anfang«, eine »Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen«, »d. i. eine absolute Spontaneität von Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist« (B 474 / A 446). Mit anderen Worten, er fordert für Freiheit Erstverursachung: etwas, was Ursache ist, seinerseits aber keine Ursache hat. Diese Forderung bezeichnet eine innere Spannung, deren Herkunft Kant schon in der unbeschränkten Geltung des allgemeinen Kausalprinzips verortet. Die dritte Antinomie ist ja als eine der kosmologischen Antinomien von den Eigenheiten der menschlichen Freiheit unabhängig und wird für das Vereinbarkeitsproblem lediglich spezifiziert. Die »Nothwendigkeit eines ersten Anfangs der Reihe von Erscheinungen« muss nach Kant in jedem Falle »in so fern dargethan« werden, »als zur Beschaffenheit eines Ursprungs der Welt erforderlich ist« (B 476 / A 448). Die Forderung nach Erstverursachung ist also kosmologisch motiviert. Das allgemeine Kausalprinzip heißt bei Kant in der kürzesten Formulierung: »Alles, was geschieht, hat seine Ursache« (B 13 / A 9). Die innere Spannung dieses Prinzips besteht darin, dass einerseits eine »Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen« (B 474 / A 446) gefordert wird, andererseits das erste Glied einer vermeintlich vollständigen Ursachenreihe wieder verursacht sein muss, denn dem Kausalprinzip zufolge hat jedes Ereignis eine Ursache. Es werden also zwei miteinander unvereinbare Arten von Unbedingtheit gefordert, und diese Forderung ist antinomisch. In moderner Terminologie: Kein einzelnes Glied einer Kausalkette ist eine kausal hinreichende Bedingung, alle Glieder 1

Hume: Enquiry VIII, Teil 1.

Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen?

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zugleich wären eine, sind aber wegen der unendlichen Fortsetzbarkeit der Reihe nicht gegeben. Dieses antinomisch konstruierte Kausalprinzip, das unverursachte Verursachung zugleich fordert wie ausschließt, wird in der Tat nicht durch das Freiheitsproblem erzeugt. Kant möchte in der dritten Antinomie grundsätzlich klären, »ob das Konzept einer unverursachten Ursache überhaupt widerspruchsfrei denkbar ist«.2 Mein unorigineller Einwand gegen diese Konstruktion ist, dass Erstverursachung eine von vornherein unvernünftige Bedingung sowohl für Freiheit als auch für Verursachtsein ist. Auch ein Verteidiger einer starken, inkompatibilistischen Freiheitsauffassung wäre deshalb schlecht beraten, sich auch nur die Problemstellung der dritten Antinomie mit ihrem antinomisch konstruierten Kausalprinzip zu eigen zu machen. Ein kantischer Gegeneinwand könnte lauten, dass die Auflösung der Antinomie ja gerade die Einsicht enthält, dass das Erstverursachungsmodell im Bereich der Erscheinungen auf einer illegitimen Totalisierung einer Vernunftidee beruht, so dass es nach Klärung der dialektischen Situation keinen sachlichen Dissens zu meinem Einwand gebe. Doch, es bleiben sogar zwei Dissense: Erstens lässt sich das Erstverursachermodell auch ohne transzendentalen Idealismus kritisieren, nämlich mit Gründen, die auch Nichtidealisten verstehen und akzeptieren können. Zweitens hält Kant für die noumenale Kausalität am Erstverursachermodell fest, während es meines Erachtens auch dort unverständlich ist, und zwar aus kausalitätstheoretischen Gründen. Das eben Gesagte lässt sich separat als zweiten Grund dafür formulieren, das Junktim zwischen transzendentalem Idealismus und Freiheitsrettung zu lösen: (ii) Erstverursachung ist kausalitätstheoretisch unverständlich. Erstverursachung scheint nicht mit dem zu vereinbaren zu sein, was wir sonst über Kausalität denken, und zwar weder mit dem Kausalbegriff, der unserer alltäglichen kausalen Urteilspraxis zugrunde liegt, noch mit dessen Elaborierung in den verschiedenen philosophischen Kausalitätstheorien. Die Philosophie der Gegenwart kennt etwa ein halbes Dutzend von Theorien oder Theorienfamilien der Kausalität: Regularitätstheorien, nomologische Theorien, probabilistische Theorien, Prozess- und Transfertheorien, kontrafaktische Theorien und interventionistische Theorien. Das Erstverursachungsmodell lässt sich, wenn ich recht sehe, in keine dieser Theorien plausibel integrieren. Keine dieser Theorien erfordert, dass man, um die Ursache eines gewöhnlichen Ereignisses anzugeben, geklärt haben muss, was zum Zeitpunkt des Urknalls geschah, oder dass man alternativ das Vermögen annehmen muss, »mitten im Lauf der Welt« (B 478 / A 450) eine neue Kausalreihe »schlechthin anzufangen« (B 474 / A 446). Dem von Kant angenommenen Klärungsbedarf, also der Frage, wie sich der Begriff einer ersten Ursache widerspruchsfrei denken lasse, liegt ein eher krudes 2

Bojanowski 2006, 13.

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Verkettungsmodell der Kausalität zugrunde. Dass nach einer »vollständigen Reihe der von einander abstammenden Ursachen« (B 474 / A 446) gesucht wird, liegt nicht schon im Begriff einer vollständigen Bedingung oder im »Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe« (ebd.), sondern in der Art der gesuchten Vollständigkeit. Nach Kant gilt allgemein »der Satz, daß zu allem Bedingten ein schlechthin Unbedingtes müsse gegeben seyn« (XX, 290), wobei er das Unbedingte als »die Totalität aller Bedingungen« versteht (XX, 326). Im dynamischen Fall ist diese Totalität die der »vollständigen Reihe der voneinander abstammenden Ursachen«. Es ist instruktiv, dieses Verkettungsmodell mit neueren Bedingungsanalysen der Kausalität zu vergleichen, in denen nach »hinreichenden« Bedingungen für das Eintreten einer Wirkung gesucht wird. In Mackies ingeniöser INUS-Analyse werden Ursachen als Kombinationen von notwendigen und hinreichenden Bedingungen definiert: Eine Ursache ist ein nicht hinreichender, aber notwendiger Teil eines Bedingungskomplexes, der insgesamt hinreichend, aber nicht notwendig ist.3 Kürzer: Eine Ursache ist ein notwendiges Element, das eine Menge von Bedingungen zu einer hinreichenden komplettiert. Wird nun ein Ereignis E als Ursache im Sinne einer INUS-Bedingung ausgezeichnet, so wird damit nicht bestritten, dass zuvor etwas anderes geschehen musste, damit E eintreten konnte. In einem gewöhnlichen singulären Kausalurteil wird überhaupt nichts darüber behauptet, wie E in die Welt gekommen ist. Freilich wird man annehmen, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen ist, aber diese Annahme gehört nicht zu den Wahrheitsbedingungen des Kausalurteils. Wird ein singulärer Kausalsatz wie ›Die Todesursache war eine Vergiftung‹ für wahr gehalten, so ist die kausale Vorgeschichte der Vergiftung in der Beschreibung des verursachenden Ereignisses allenfalls in dem Sinn ›aufgehoben‹, dass sie pragmatisch impliziert oder präsupponiert ist. Das Gift musste produziert und dem Opfer verabreicht werden, der Täter musste geboren werden, passend sozialisiert werden, ein Motiv ausbilden et cetera, aber nichts davon macht es falsch, dass das verursachende Ereignis des Vergiftens als INUS-Bedingung eine Bedingungsmenge zu einer kausal hinreichenden komplettiert hat. Das Hinreichen wird nicht wie im Verkettungsmodell durch eine vollständige Reihe vorausgehender Kettenglieder gewährleistet, sondern durch einen Zusammenhang, den ein allquantifizierter Konditionalsatz ausdrückt: Immer wenn unter bestimmten Randbedingungen eine Verabreichung von Gift stattfindet, ist sie tödlich. Ein INUS-Bedingungskomplex ist in dem Sinn hinreichend, dass für das Eintreten der Wirkung keine weiteren Bedingungen mehr erfüllt werden müssen, er ist aber nicht ›unbedingt‹ in Kants Sinn einer unverursachten Erstursache, die eine Reihe von Bedingungen zu einer ›vollständigen‹ abschlösse. Ob sich kausal hinreichende Bedingungskomplexe überhaupt spezifizieren lassen, ist freilich umstritten. Im Extremfall wird das kausale Hinreichen wie bei Laplace allein durch einen Momentanzustand des gesamten Universums und die Synthese aller Bewegungsgesetze gewährleistet. Auch im laplaceschen Determinis3

Vgl. Mackie 1965, 245.

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mus ist aber die Vollständigkeit eines kausal hinreichenden Bedingungskomplexes eine synchrone, keine diachrone. Meine obige Formulierung, dass schon die Idee der Erstverursachung »kausalitätstheoretisch unverständlich« sei, mag zu stark sein. Das Erstverursachermodell scheint vor allem kausalitätstheoretisch unnötig zu sein, insofern das Hinreichen einer Kausalbedingung auch außerhalb des Verkettungsmodells expliziert werden kann. Kausalitätstheoretisch unverständlich ist erst Kants positive Ausarbeitung des Modells einer außerzeitlichen Erstverursachung. (iii) Erstverursachung ist freiheitstheoretisch unnötig. In der jüngeren Willensfreiheitsdebatte werden zwei Modelle der libertarisch aufgefassten Freiheit4 unterschieden: das Modell des So-oder-Anderskönnens in gegebenen Umständen und das Ursprungsmodell, demzufolge Akteure erste Quellen ihrer Handlungen sind. Diejenigen Inkompatibilisten, die ihre Position auf das Ursprungsmodell gründen statt auf das Anderskönnen, nennt man source incompatibilists. Manche Kritiker libertarischer Freiheitsauffassungen definieren den Libertarismus sogar über das Ursprungsmodell und dessen unerfüllbare Ansprüche. Außer Frage steht, dass das Anderskönnen leichter zu verstehen und zu verteidigen ist als das Ursprungsmodell. Das Anderskönnen erfordert, sofern es nicht von vornherein kontrakausal aufgefasst wird, eine indeterministisch konzipierte Ereigniskausalität, aber immerhin keinen ersten Beweger. Außer Frage steht auch, dass Kant das Anderskönnen gern vertreten und zur Freiheitsrettung eingesetzt hätte. Da er aber die »Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muß« (VI, 49 f.), für mit dem Determinismus unvereinbar und den Determinismus für wahr hielt, musste er sich dies versagen. Im Reich der Erscheinungen behält der Inkompatibilismus das letzte Wort: Wie das Anderskönnen »mit dem Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben […], zusammen bestehen könne: das ist’s, was man einsehen will, und nie einsehen wird« (ebd.). − Falls gezeigt werden könnte, dass das libertarische Sooder-Anderskönnen durchaus in die empirische Welt passt, entfiele der Hauptgrund dafür, die Freiheitsrettung auf das Ursprungsmodell zu gründen.5

›Libertarisch‹ oder ›libertarianisch‹ nennt man diejenige Freiheitsauffassung, nach der (a) die Freiheit mit dem Determinismus unvereinbar ist (Inkompatibilismus) und (b) die Freiheit wirklich und der Determinismus falsch ist. 5 Für eine libertarische Freiheitskonzeption, die mit den Naturgesetzen verträglich ist und die auf Erstverursachung sowie auf Akteurskausalität verzichtet, habe ich argumentiert in Keil 2007, bes. 81–153. 4

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(iv) Unbedingte moralische Pflichten kann es auch ohne transzendentale Freiheit geben. Mit der transzendentalen Freiheit, also der Fähigkeit, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, steht und fällt nach Kant auch die praktische Freiheit. Er ist der Auffassung, dass ein Freiheitsbegriff, der auf Erstverursachung von vornherein verzichtet, zu schwach ist, um die Rolle zu erfüllen, die der Freiheit für die Moral zukommt. Diese Abhängigkeit versteht sich nicht von selbst. Stellen wir einmal zusammen, welche Fähigkeiten ein moralisches Wesen nach Kant besitzen muss: Es muss fähig sein, die kategorische Geltung des Sittengesetzes zu erkennen, entsprechende verallgemeinerungsfähige Maximen zu bilden, sie sich anzueignen und danach zu handeln. Dafür ist im Konfliktfall eine »Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen« (IV, 457) erforderlich. Ungünstig sozialisierte und disponierte Menschen, die bislang »noch so böse gewesen« (VI, 41) sind und das Sittengesetz fälschlich anderen Triebfedern untergeordnet haben, müssen fähig sein, sich in Sekundenschnelle und aus eigener Kraft »zu bessern« (VI, 41), indem sie die falsche Unterordnung der guten Maxime unter die böse »durch eine einzige unwandelbare Entschließung« (VI, 47 f.) umkehren. Das ist viel verlangt. Gegen die letztere Forderung wenden Psychotherapeuten und Bewährungshelfer ein, dass sie über Menschenkraft gehe. Gegen die gesamte Konstruktion wenden Vertreter nichtkantischer Moraltheorien ein, dass für eine wohlverstandene Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit weniger anspruchsvolle Vermögen genügen. Diese Einwände mache ich mir nicht zu eigen. Dass kompatibilistische Standardrechtfertigungen der moralischen Verantwortlichkeit und der Handlungszurechnung nicht die von Kant angesetzten Vermögen erfordern, ist unkontrovers und für mein Klärungsziel irrelevant. In der Sache sehen sich schwächere Moral- und Freiheitsbegriffe der Aufgabe gegenüber, das ›Sollen impliziert Können‹-Argument zu entkräften. Nach Kant ist es selbst für denjenigen, der bisher »noch so böse gewesen« ist, »nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können« (VI, 41). »Denn wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können« (VI, 50). Da die meisten Kompatibilisten in Kontakt mit unserer tatsächlichen moralischen Zurechnungs- und Urteilspraxis bleiben möchten, vermeiden sie es, das Prinzip ›Sollen impliziert Können‹ rundheraus zu leugnen. Es bleibt ihnen deshalb nur, ihm eine determinismusverträgliche Interpretation zu geben. Dies geschieht mithilfe der sogenannten konditionalen Analyse des Könnens, der zufolge ›Er hätte anders handeln können‹6 nichts anderes bedeutet als ›Er hätte anders gehandelt, wenn er sich dazu entschieden hätte‹. ›Können‹ werde unter anderem im Sinn von ›fähig sein‹ gebraucht, und dieser Sinn sei der freiheitsrelevante. Es komme allein Vgl. Moore 1912, 102–115. Der Grundgedanke der konditionalen Analyse des Könnens findet sich schon bei Augustinus, später dann bei Hobbes, Leibniz, im britischen Empirismus und bei Schopenhauer. 6

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darauf an, ob anders zu handeln allgemein im Bereich der Fähigkeiten der Person lag. Wenn jemand, dem ein Fehlverhalten vorgeworfen wird, zurückfragt, ob er überhaupt anders hätte handeln können, darf man ihm aus kompatibilistischer Sicht also antworten: Ja, denn anders zu handeln lag im Bereich deiner Fähigkeiten. Anderes hat es leider unmöglich gemacht, dass du anders handelst, nämlich die Naturgesetze gemeinsam mit den gegebenen Bedingungen. Es war naturgesetzlich unmöglich, dass du anders handelst, doch da es in einem anderen Sinn von ›können‹ möglich war, warst du verantwortlich und wirst bestraft. – Würde nicht ein jeder, der nicht über Kompatibilismus in Büchern gelesen hätte, diese Antwort für einen schlechten Scherz halten? Sollen impliziert nicht irgendein Können. Wenn jemand hätte anders handeln sollen, als er tatsächlich gehandelt hat, hätte anders zu handeln in der gegebenen Situation nicht naturgesetzlich unmöglich sein dürfen. Insofern enthält unsere Praxis des moralischen Aufforderns und Tadelns ein starkes Prima-facie-Argument für den Inkompatibilismus. Ich akzeptiere im Folgenden den anspruchsvollen kantischen Moralbegriff und die dafür erforderlichen Vermögen, eingeschlossen das libertarische Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen, das die konditionale Analyse des Könnens nicht einfängt. Es bleibt die Frage, ob diese Vermögen auch transzendental-idealistisch konzipierte Ersturheberschaft erfordern, also das Ursprungsmodell der libertarischen Freiheit. Wenn man zeigen könnte, dass das Modell des So-oder-Anderskönnens für einen wünschenswert starken Moralbegriff genügt, entfiele neben dem kausalitätstheoretischen auch das freiheitstheoretische Hauptmotiv für Kants Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus. Ich fasse den vierten Grund für die Lösung des Junktims zusammen: Moral setzt Freiheit voraus, kantische Moral setzt starke Freiheit voraus, nämlich ein So-oderAnderskönnen unter gegebenen Bedingungen. Ob sie damit auch eine noumenale »Kausalität durch Freiheit« im Sinne des transzendentalen Idealismus voraussetzt, ist eine andere Frage. (v) Das Problem der Vereinbarkeit der Freiheit mit dem Determinismus muss nicht aufgelöst werden, weil für die Determinismusannahme eine Rechtfertigung fehlt. Dieser fünfte Grund, das Junktim zwischen Freiheitsrettung und transzendentalem Idealismus zu lösen, zielt ins Herz der Freiheitsantinomie, denn ihrem Wortlaut zufolge ist es ja die deterministisch aufgefasste »Kausalität nach Gesetzen der Natur«, die der Freiheitsannahme entgegen steht und aus Kants Sicht die transzendentalidealistische Auflösung nötig macht. Sollten wir hingegen nicht in einer deterministischen Welt leben, stehen der Freiheit zwar metaphysische Doktrinen entgegen, aber nicht etwas, was in unserer Welt der Fall ist. Unter ›Determinismus‹ verstehe ich die naturphilosophische oder metaphysische Auffassung, dass Naturgesetze gemeinsam mit singulären Bedingungen den Weltlauf alternativlos festlegen, so dass es zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft gibt. In der Standardversion des laplaceschen Determinismus spielt die

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Rolle der singulären Bedingungen ein Gesamtzustand des Universums, die Rolle der Naturgesetze eine Synthese aller Bewegungsgesetze.7 Ob sich anstelle dieser Determinanten auch andere einsetzen lassen, zum Beispiel der Inbegriff der aristotelischen Naturen der Dinge und andere Arten von Naturgesetzen, ist umstritten und bedarf der Klärung. Kant spricht gelegentlich vom »Prädeterminismus« und versteht darunter das Prinzip, dass »willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben« (VI, 49). Da man das, wovon Kant den Prädeterminismus an diesen Stellen absetzt – nämlich die nichtzeitliche Bestimmung eines Willens durch vernünftige Gründe – in der Regel nicht ›Determinismus‹ nennt, übernehme ich Kants Wortgebrauch nicht. Was Kant »Prädeterminismus« nennt, firmiert sonst unter ›Determinismus‹. An anderen Stellen nennt Kant den Determinismus auch den »Mechanismus der Natur«.8 Dass Kant der Sache nach den laplaceschen Determinismus vertreten und ihn auf die Ätiologie menschlicher Handlungen angewandt hat, kommt besonders deutlich in der Bemerkung zum Ausdruck, man könne bei vollständiger Kenntnis der Motive und weiterer Randbedingungen das zukünftige Verhalten eines Menschen »wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis« ausrechnen.9 Alle Interpreten, die in Abrede stellen, dass Kant den Determinismus für wahr hielt, haben die Gretchenfrage zu beantworten, wie sie es mit der Sonnenfinsternis-Stelle halten. Kant spezifiziert an dieser Stelle den universalen zu einem psychologischen Determinismus. Ob dieser zu seinen anderen handlungs- und freiheitstheoretischen Auffassungen passt, ist mit Recht umstritten.10 An anderen Stellen bleibt der Determinismus unspezifiziert, umfasst aber ausdrücklich »Handlungen als Erscheinungen«, die »durch und durch Vgl. Laplace: Philosophischer Versuch, 2. 8 »[Man kann] alle Notwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Kausalität den Mechanismus der Natur nennen […].« (V, 97) 9 »Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart […] so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte […].« (V, 99; ähnlich B 577 f. / A 549 f.) 10 Nach Allison ist der psychologische Determinismus mit Kants Freiheitslehre unvereinbar, weil er der »Inkorporationsthese« widerspricht, derzufolge die Triebfedern, die ein Mensch in sich vorfindet, nur wirksam werden, wenn er sie in seine Maxime aufnimmt und sich so selbst zum Handeln bestimmt (vgl. Allison 1990, 39, 40, 52, 55, 65 und 241). Westphal argumentiert etwas vorsichtiger als Allison, dass wir nach Kant zumindest nicht wissen können, ob der psychologische Determinismus wahr ist (vgl. Westphal 2004, 229–243). Der klarste Textbeleg für die freiheitstheoretische Relevanz der Inkorporationsthese ist dieser Passus aus der Religionsschrift: »die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche 7

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mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange« stehen und »Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung« sind (B 567 / A 539). In Anbetracht der zentralen Rolle, die der Determinismusannahme für Kants Kausalitätsauffassung und für die Freiheitsantinomie zukommt, ist es verwunderlich, wie wenig argumentativen Aufwand Kant für deren Begründung betreibt. Offenbar hat er das Determinismusprinzip mit dem allgemeinen Kausalprinzip identifiziert. Dies geschieht nach meiner Interpretation, weil Kant stillschweigend ein zusätzliches kausalitätstheoretisches Prinzip annimmt, das er für einen analytischen Bestandteil des Begriffs einer Ursache hält. Sehen wir uns die Zusammenhänge etwas genauer an.11

3. Kausalität, Determinismus und der nomologische Charakter der Kausalität Als Gründe, auf die sich die Annahme des universalen Determinismus stützen könnte, kommen in Frage: (i) (ii) (iii) (iv) (v)

Der Determinismus ist ein empirisches Faktum. Kant hat ihn bewiesen. Er ist ein synthetischer Satz a priori. Er ist Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung. Er ist eine regulative Idee, die aller Naturforschung zugrunde liegt.

Dies sind fünf mögliche Gründe, die einander zum Teil überlappen und die, wenn ich recht sehe, die von Kant überhaupt erwogenen Gesichtspunkte erschöpfen. Der erste Grund kommt nicht ernsthaft in Betracht. Ein synthetischer Satz über die Totalität des Weltgeschehens ist kein Gegenstand der Erfahrung. Eine Analyse der logischen Form der Determinismusthese kommt zum selben Ergebnis: Die Determinismusthese hat die Form einer kombinierten All- und Existenzbehauptung (›Zu jedem Ereignis gibt es eine deterministische Ursache‹ oder ›Alles, was geschieht, ist deterministisch verursacht‹). Aussagen dieser Form lassen sich empirisch, also durch Beobachtung und Experiment, weder verifizieren noch falsifizieren.12 Zum einen könnte jede vermeintliche Bestätigung noch unentdeckte Falsifikationsinstanzen haben, zum anderen könnte jede vermeintliche Falsifikationsinstanz eine deterministische Ursache haben, die wir noch nicht gefunden haben. Aus Kants Sicht impliziert schon der Notwendigkeitscharakter der Determinismusthese, dass sie nicht aus der Erfahrung stammen kann.13 sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« (VI, 23 f.). 11 In den folgenden Abschnitten 3–6 rekapituliere und präzisiere ich Überlegungen aus Keil 2000, 329–358 und Keil 2001a, 562–571. 12 Vgl. Stegmüller 1970, 170. 13 »[Es ist] nothwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich be-

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Ein empirischer Nachweis scheidet also aus. Was die Gründe (ii)–(v) betrifft, so möchte ich zur Abkürzung der Diskussion den blinden Fleck benennen, den sie gemeinsam haben: Sie gelten ausnahmslos für das Kausalprinzip, nicht für das Determinismusprinzip. Auf Besonderheiten der Gründe (iv) und (v) gehe ich unten im Abschnitt 5 ein. Das allgemeine Kausalprinzip lautet in Kants Formulierung: KP

»Alles, was geschieht, hat seine Ursache.« (B 13 / A 9)

Hier ist eine kleine Komplikation zu beachten, weil Kant von dieser allgemeinen Fassung des Kausalprinzips in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft noch eine metaphysische Fassung unterscheidet, die das Prinzip auf »äußere« Ursachen physischer Ereignisse einschränkt.14 Das letztere Prinzip meint er in den Anfangsgründen bewiesen zu haben. Für beide Prinzipien gilt aber, dass Kant Verursachtsein nicht von deterministischem Verursachtsein unterschieden hat. Für beide gilt auch die logische Eigenart kombinierter All- und Existenzaussagen, die eine empirische Überprüfung unmöglich macht. Dem Prinzip KP gibt Kant eine bestimmte kausalitätstheoretische Interpretation, die er als alternativlos ansieht und die es mit dem Determinismusprinzip äquivalent macht. Um diese Interpretation explizit zu machen, müssen wir das fehlende Zwischenstück interpolieren. Es handelt sich um die Annahme, die bei Davidson als das »Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität« firmiert: PNKDavidson

Zwei Einzelereignisse sind Ursache und Wirkung voneinander, wenn sie unter irgendeiner Beschreibung ein ausnahmsloses Naturgesetz instantiieren.15

stimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori bei sich führt« (IV, 455). 14 Das Kausalprinzip in den Anfangsgründen hat den Wortlaut: »Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache« (IV, 543). Kants Erläuterung dazu lautet: »Aus der allgemeinen Metaphysik wird der Satz zum Grunde gelegt, daß alle Veränderung eine Ursache habe; hier soll von der Materie nur bewiesen werden, daß ihre Veränderung jederzeit eine äußere Ursache haben müsse« (ebd.). Westphal nennt das erstere das »transzendentale«, das letztere das »metaphysische« Kausalprinzip und beklagt die Vernachlässigung dieses Unterschieds sowohl in der Forschungsliteratur als auch in den Analogien der Erfahrung (vgl. Westphal 2004, z. B. 244). Mehr als eine Begründung des metaphysischen Kausalprinzips, also der durchgängigen Kausalität im Reich der physischen Ereignisse, ist nach Westphal nicht zu haben, allerdings nur im Rahmen eines uneingeschränkten Realismus (vgl. ebd., 267). Eine transzendental-idealistische Begründung habe Kant nicht geliefert, das metaphysische KP »remains unproven within Kant’s Critical corpus« (ebd., 223). Zusammenfassend: »Kant’s transcendental idealism fails to show that causality is a transcendentally ideal condition for the possibility of self-conscious human experience, because it fails to justify the metaphysical causal thesis« (ebd., 248). 15 Vgl. Davidson 1980, 208; sowie 1993, 312.

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Während das allgemeine Kausalprinzip etwas über die Welt sagt, sagt das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität etwas über den Begriff der Kausalität. Davidsons Formulierung ist freilich unkantisch. Bei Kant finden sich die Formulierungen, dass in dem »Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse […], der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel« enthält, dass er ohne diese Annahmen »gänzlich verloren gehen würde« (B 5). Gleichlautend: »der Begriff der Ursache […] erfordert durchaus, daß etwas A von der Art sei, daß ein anderes B daraus notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folge« (B 124 / A 91, vgl. IV, 315). Und unter Verwendung des Gesetzes- statt des Regelbegriffs: »der Begriff der Causalität [enthält] jederzeit die Beziehung auf ein Gesetz« (V, 89); »Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt […]« (IV, 446). Das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität ist nach Kant also analytisch im allgemeinen Kausalprinzip enthalten. Es besagt: PNKKant

Kausalität impliziert Gesetzmäßigkeit. A ist Ursache von B, wenn B aus A »notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folgt«.

Um nun einzelne Naturphänomene zu erklären oder vorauszusagen, sind noch besondere kausale Gesetze erforderlich, also Gesetze der Form BKGe

Immer wenn etwas der Art A geschieht, geschieht danach notwendig etwas der Art B.

Die besonderen Kausalgesetze lassen sich nicht a priori deduzieren, denn hier »muß Erfahrung dazu kommen«.16 Dass gleichwohl »das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nach Gesetzen der Causalität […] als nothwendig erkannt werden« kann, und zwar »nach empirischen Gesetzen der Kausalität« (B 279 f. / A 227), lässt sich mit Rang so erläutern, »daß kausale Gesetze bei gegebenen Antecedensdaten einen Vernunftschluß a priori auf zu erwartende Wirkungen gestatten«.17 Man kann sagen, dass Kant mit dieser Auffassung das deduktiv-nomologische Modell der wissenschaftlichen Erklärung vorwegnimmt. Das besondere Kausalgesetz im Explanans ist ein empirischer Satz, dessen Wahrheit nur aufgrund von Erfahrung erwiesen werden kann. Doch wenn er wahr ist, lässt sich das Explanandum logisch aus dem Explanans deduzieren.18 »Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können [aus den Gesetzen, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht] nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesammt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen« (B 165). 17 Rang 1990, 27. 18 Die »Möglichkeit, aus irgend einem gegebenen Dasein (einer Ursache) a priori auf ein 16

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Was nun das allgemeine Kausalprinzip betrifft, so ist der Gesetzesbezug bei Kant manchmal explizit, manchmal implizit. Während der oben zitierte Wortlaut des KP über Naturgesetze nichts sagt, lautet die Antithesis der Freiheitsantinomie: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur« (B 473 / A 445). Nennen wir den ersten Satz die gesetzesneutrale und den zweiten die gesetzesimplizierende Fassung des allgemeinen Kausalprinzips: KPgn Alles, was geschieht, hat seine Ursache. KPgi Alles, was geschieht, geschieht nach strengen Naturgesetzen. Eine weitere Formulierung des KPgi aus den Prolegomena lautet, »daß alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen vorher bestimmt« ist (IV, 295). Äquivalent sind das KPgn und das KPgi unter einer bestimmten kausalitätstheoretischen Annahme, nämlich der des PNK. Weil Kant, wie gesehen, das PNK als analytisch im Kausalbegriff enthalten ansieht, fusioniert er es mit dem gesetzesneutralen KP und erhält so das gesetzesimplizierende KP. Wenn das PNK wahr ist, lassen sich die rechten Hälften der Sätze KPgn und KPgi füreinander substituieren: Dass jedes Ereignis »seine Ursache hat«, impliziert unter Zuhilfenahme des PNK, dass es »nach strengen Naturgesetzen geschieht«. Damit erhält Kant auch das Determinismusprinzip, denn dieses ist mit dem KPgi identisch. Die exegetische Schwierigkeit besteht darin, dass Kant sowohl das allgemeine KP als auch das gesetzesimplizierende KP und zudem die einzelnen empirischen Kausalgesetze als »Gesetz« oder »Gesetze der Kausalität« oder als »Gesetze der Natur« bezeichnet, wobei Singular und Plural frei konvertiert werden. Kants sorgloser Umgang mit dem Numerus ist insofern misslich, als die Pluralform eigentlich ein verlässliches Erkennungszeichen der einzelnen kausalen Gesetze sein müsste, denn das allgemeine Kausalprinzip, ob gesetzesimplizierend oder nicht, gibt es nur einmal. Aufschlussreiche Formulierungen finden sich in der Freiheitsantinomie. Im Beweis der Thesis kommt der Ausdruck »Gesetz« oder »Gesetz(e) der Natur« in enger Folge siebenmal vor, davon fünfmal im Plural und zweimal im Singular. Die vorherrschende Formulierung lautet, dass »alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht«. Welche Gesetze sind hier gemeint? Wenn man die Pluralform ernst nimmt, müssten es die einzelnen empirischen Kausalgesetze sein. Nun sagt Kant aber in der Auflösung der Antinomie: »Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen steht schon als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest und leidet keinen Abbruch.« (B 564 / A 536)

anderes Dasein (die Wirkung) zu schließen«, ergibt sich nur, wenn es solche »empirischen Gesetze der Kausalität« gibt (B 280 / A 228).

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Kant bezieht sich offenkundig auf die zweite Analogie der Erfahrung und behauptet, dass dort von »unwandelbaren Naturgesetzen« die Rede sei. Der Wortlaut der zweiten Analogie ist aber: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung« (B 232). Diese Formulierung enthält zwar den Gesetzesbegriff, von Gesetzen im Plural ist aber nicht die Rede. Zudem wird das »Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung«, das er auch »das Gesetz der Kausalität« nennt, nur erwähnt, während man seinen Wortlaut nicht erfährt. Vermutlich bietet Kant deshalb keinen separaten Wortlaut, weil er mit diesem »Gesetz« nichts anderes im Sinn hat als das allgemeine Kausalprinzip in seiner gesetzesimplizierenden Fassung. Eine separate Begründung des PNK hat Kant nicht für erforderlich gehalten, weil er es schon als analytisch im Kausalbegriff enthalten ansah. Worin sollte eine kausale Verknüpfung sonst bestehen, wenn nicht in einer strengen, das heißt allgemeinen und notwendigen Regularität? Es spricht wenig dafür, dass Kant eine nicht gesetzesimplizierende und damit nichtdeterministische Lesart des allgemeinen Kausalprinzips auch nur erwogen hat. In den Prolegomena bezeichnet er es als »gänzlich einerlei«, ob man das Kausalprinzip gesetzesimplizierend oder gesetzesneutral ausdrückt, fügt dann aber hinzu, es sei »indessen doch schicklicher, die erstere Formel zu wählen« (IV, 296 f.). Kant ist sich der analytischen Verbindung zwischen Kausalität und Gesetzmäßigkeit sicherer als aller naturphilosophischen oder naturwissenschaftlichen Belege, die man zur Plausibilisierung anführen könnte. Dies zeigt sein desperater Zug, in moralischen Kontexten zur nomologischen Stützung eines Kausalurteils in Abwesenheit passender Naturgesetze das Sittengesetz einzusetzen. Der Grund für diesen Zug ist allein, dass eine nichtnomologische Kausalität »sich widerspricht«.19 Desperat ist der Zug, weil die Analogie zwischen beiden Gesetzesarten schwächer ist, als kausalitätstheoretisch erforderlich wäre. Was Naturgesetze als Modalitätsquelle für den universalen Determinismus so geeignet macht, ist der Umstand, dass man ihnen nicht zuwiderhandeln kann. Dem Sittengesetz hingegen soll man nicht zuwiderhandeln. Kant ist sich dieser entscheidenden Disanalogie beider Gesetzesarten bewusst,20 setzt aber gleichwohl das Sittengesetz in das PNK ein und macht beide derart zu einer Karikatur ihrer selbst.

»Sich als ein frei handelndes Wesen, und doch von dem einem solchen angemessenen, Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht« (VI, 35; vgl. IV, 446 f.). 20 Die »Vernunft […] giebt […] auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit, sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden« (B 830 / A 802). »Eben darum daß unsre freyheit nicht unter einem ihr eigenthümlichen Gesetze steht, ist ihr Einflus unsicher. Die freyheit ist bey uns blos ein Vermögen, keine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft« (XIX, 265 [R 7178]). 19

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Was die zweite Analogie der Erfahrung betrifft, so haben Lovejoy und Strawson argumentiert, dass Kant ein non sequitur unterlaufen sei. In Lovejoys Fassung besagt der Einwand: Kants Einsicht in den Zusammenhang von subjektiver Ordnung der Wahrnehmungen und objektiver Ordnung der Ereignisse »has no relation to the law of universal and uniform causation«, denn die Nichtumkehrbarkeit einer einzelnen Folge »is not equivalent to a proof of the necessary uniformity of the sequence […] in repeated instances of a given kind of phenomenon«.21 Deshalb nennt Lovejoy die zweite Analogie »one of the most spectacular examples of the non sequitur which are to be found in the history of philosophy«.22 Diesen starken Worten haben Buchdahl, Beck und Allison entgegengehalten, dass der Non-sequitur-Einwand auf die Kritiker zurückfalle, die nämlich Kant ein Beweisziel unterstellten, das dieser nicht verfolgt habe. Kants Beweisziel in der zweiten Analogie sei nicht Humes Prinzip same cause – same effect gewesen, sondern nur das Prinzip every event – some cause.23 Nun gibt es aber in der zweiten Analogie eine Reihe von Stellen, an denen Kant sich ausdrücklich auf strenge Regularitäten verpflichtet. Als ein Indiz dafür kann die Verwendung des Wortes »jederzeit« gelten. Unerheblich für das PNK ist dabei, ob die »allgemeine Regel«, deren Anwendung eine Sukzession von Wahrnehmungen zu einer objektiven Folge von Ereignissen ordnet, selbst schon ein striktes Kausalgesetz sein muss, oder ob sie, wie in der Forschungsliteratur erwogen, die Existenz eines solchen lediglich voraussetzt. In Anbetracht der Analytizitätsthese ist fraglich, wie stark Kants Problembewusstsein hinsichtlich des Unterschieds der beiden Prinzipien every effect – some cause und same cause – same effect ausgeprägt war. Der Textbefund spricht dafür, dass Kant mit seiner Entscheidung für das gesetzesimplizierende Kausalprinzip beide Grundsätze »in einen zusammengefaßt« hat.24

4. Die gesetzesskeptische Herausforderung In der Sache spricht gegen das PNK und die Determinismusthese der folgende Umstand: Ob es die erforderlichen einzelnen Kausalgesetze, die singuläre Kausalsätze subsumieren, überhaupt gibt, ist eine offene und in der jüngeren Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften immer häufiger verneinte Frage. Die durch Cartwrights provozierend betiteltes Buch How the Laws of Physics Lie populär gewordene gesetzesskeptische These besagt, dass kein uneingeschränkt wahrer ›Immer wenn, dann‹-Satz über empirische Ereignisfolgen je präsentiert worden ist, und dass auch wenig dafür spricht, dass es solche Gesetze überhaupt gibt. Alle Kandi21 22 23 24

Lovejoy 1967, 308. Ebd, 303. Vgl. bes. Beck 1978, 126. Rang 1990, 25.

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daten für solche Gesetze würden nämlich durch Gegenbeispiele falsifiziert: »there are no exceptionless quantitative laws in physics […]. In fact our best candidates are known to fail«.25 Ein Hauptgrund dafür ist das Problem der Kräfteüberlagerung. Newtons Gravitationsgesetz besagt und impliziert nicht, dass jeder Körper, der aus einem Meter Höhe auf den Boden fällt, mit einer bestimmten Geschwindigkeit unten ankommt. Die meisten Körper fallen aufgrund von Kräfteüberlagerungen schneller oder langsamer, und manche werden aufgehalten, bevor sie unten ankommen. Das Gravitationsgesetz wird durch diese Fälle nicht falsifiziert, denn es sagt überhaupt nichts darüber, was tatsächlich geschieht. Es ist kein Sukzessionsgesetz, sondern ein Koexistenzgesetz, das eine Aussage über das synchrone Verhältnis physikalischer Größen trifft. Es sagt etwas darüber, wie die Gravitationskraft, die zwischen zwei Körpern besteht, sich zu ihren Massen und ihrem Abstand verhält. Ein solches Gesetz subsumiert keine singulären Kausalsätze. Es gehört nicht zu den Gesetzen, von denen im PNK und im KPgi die Rede ist oder sein muss. Sukzessionsgesetze hingegen − Kant nennt sie ›dynamische‹ Gesetze − sind keine wahren Allsätze darüber, was tatsächlich immer geschieht, sondern sagen allenfalls etwas darüber, was geschehen würde, wenn keine anderen als die vom Gesetz postulierten physikalischen Kräfte anwesend wären.26 Um die Darstellung der Gesetzesskepsis abzukürzen, zitiere ich Russells bündige Feststellung: »Alle Kausalgesetze sind Ausnahmen unterworfen, wenn die Ursache nicht den Zustand des ganzen Weltalls umfaßt«.27 Laplace hat in seiner Illustration der Determinismusthese das Überlagerungsproblem vorweggenommen, denn er spricht von einem Supergesetz, das sämtliche Bewegungsgesetze synthetisiert und so »in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms« subsumiert.28 Leider kennt niemand auch nur näherungsweise dieses fingierte Supergesetz. Das ist ein Problem, denn nach Popper soll der physikalische Determinismus, anders als die theologische Prädestinationslehre, »wie ein Ergebnis des Erfolgs der empirischen Naturwissenschaft aussehen, oder wenigstens so, als

Cartwright 1983, 46. Diese Darstellung provoziert viele naheliegende Einwände. Für eine ausführliche Erläuterung und Verteidigung der gesetzesskeptischen These vgl. Keil 2000, 174–240; für eine Präzisierung vgl. Keil 2005. 27 Russell 1926, 302 f. 28 »Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen« (Laplace: Philosophischer Versuch, 1 f.). 25 26

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werde er durch sie gestützt«.29 Davon kann bei Laplace keine Rede sein. Die Figur des laplaceschen Dämons illustriert die Determinismusthese lediglich, trägt aber nicht zu ihrer Begründung bei. Wenn man von der Wahrheit des Determinismus schon überzeugt ist, könnte man die Karikatur des gesuchten Supergesetzes mechanisch erzeugen, indem man die Beschreibungen zweier beliebiger Weltzustände F und G als Vorder- und Nachsatz in das Gesetzesschema ∀x (Fx → Gx) einsetzt und damit ex hypothesi etwas Wahres sagt. Dass man damit etwas Wahres sagen würde, wird bei Laplace nicht begründet, sondern postuliert. Indem man die Existenz des Supergesetzes einfach postuliert, genießt man, wie Russell einmal in anderem Zusammenhang sagte, alle Vorteile des Diebstahls gegenüber ehrlicher Arbeit. Nun wird man keinem aufgeklärten Verteidiger der Determinismusthese und am wenigsten Kant die Auffassung unterstellen, der Determinismus ließe sich durch Experimente empirisch belegen. Die Welt ist nur einmal da und besitzt keine Replay-Taste. Solange eine gleiche Distribution von Elementarteilchen nicht ein zweites Mal vorkommt, lässt sich das unterschiedliche Verhalten eines Systems bei der Wiederholung eines Experimentes stets den minimal verschiedenen Anfangs- oder Randbedingungen zuschreiben. Nehmen wir nun um des Argumentes willen an, die Determinismusthese ließe sich auf eine weniger direkte Weise zumindest plausibilisieren. Dann wäre es immer noch eine offene Frage, ob mit einer solchen Plausibilisierung etwas für die Begründung des Prinzips vom nomologischen Charakter der Kausalität gewonnen wäre. Die mit dem PNK verbundene Identifizierung von Kausalprinzip und Determinismusprinzip hat nämlich einen hohen Preis, den die laplacesche Formulierung, man müsse »den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten«, sichtbar macht: Wenn als Reaktion auf das Überlagerungsproblem allein komplette Weltzustände als Ursachen zählen, kennen Menschen kein einziges wahres singuläres Kausalurteil. Alle gewöhnlichen Kausalurteile wie ›Ursache der Erwärmung des Steins war die Sonneneinstrahlung‹ oder ›Der Bruch des Fensters wurde durch einen Steinwurf verursacht‹ wären dann falsch. Für Kants Identifizierung von Kausalprinzip und Determinismusprinzip ergibt sich folgendes Dilemma: Entweder sind Ursachen komplette Weltzustände – dann sind alle gewöhnlichen Kausalurteile falsch. Oder sie sind etwas anderes – dann sind singuläre Kausalurteile keine Instanzen eines deterministischen Gesetzes. Ich fasse meine Diagnose zum in der Auflösung der Freiheitsantinomie hergestellten Junktim zusammen: Die transzendental-idealistische Auflösung der Antinomie wird bei Kant nur nötig, weil die nichtidealistischen Annahmen, die der Antinomie zugrunde liegen, nicht stimmen. Bei diesen Annahmen handelt es sich um begriffliche, metaphysische und kausalitätstheoretische. Kant hielt den Determinismus für wahr und das PNK für einen analytischen Bestandteil des Kausalbegriffs, daher identifiziert er das Kausalprinzip mit dem Determinismusprinzip. Deshalb muss er 29

Popper 2001, 37.

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meinen, dass gewöhnliche Naturkausalität und Freiheit miteinander konfligieren. Um die Freiheit zu retten, muss er die Geltung der gewöhnlichen Naturkausalität auf das Reich der Erscheinungen einschränken. Da er aber am Kausalprinzip festhält, muss es für intelligible Zusammenhänge eine eigene Art von noumenaler Kausalität geben, und da Kausalität gesetzesimplizierend ist, muss es sogar entsprechende Gesetze geben.

5. Warum hat Kant die Herausforderung übersehen? Kommen wir zu der Frage, warum Kant die immensen theoretischen Schwierigkeiten einer deterministischen Interpretation des Kausalprinzips nicht aufgefallen sind oder warum er sie unterschätzt hat. Man sollte vorausschicken, dass er mit dieser Unterschätzung nicht allein war. Keiner seiner Zeitgenossen verfügte über eine Begründung für das PNK. Auch in Humes Regularitätstheorie findet sich nichts dergleichen. Für das Ausbilden der Erwartung, gleiche oder ähnliche Effekte auf ähnliche Ursachen zu erwarten, genügt nach Hume eine begrenzte Gleichförmigkeit, und mehr Regularität biete die Natur auch nicht.30 Humes Regularitäten sind also von ausnahmslosen deterministischen Verlaufsgesetzen weit entfernt. Deshalb ist es auch freiheitstheoretisch erstaunlich, dass Hume stets als klassischer Kompatibilist geführt wird. Um ein Kompatibilist zu sein, muss man zwar nicht notwendig den Determinismus für wahr halten – sogenannte agnostische Kompatibilisten tun es nicht –, aber man muss seine Vereinbarkeitsbehauptung auf den Determinismus beziehen und nicht auf etwas ungleich Schwächeres. Zurück zu der Frage, warum Kant die Begründungsbedürftigkeit des PNK und der deterministischen Interpretation des Kausalprinzips nicht erkannt hat. Ich möchte vier Gründe für diesen dogmatischen Schlummer anführen. (i) Kant hat sich offenbar nicht hinreichend vor Augen geführt, dass die Merkmale der Notwendigkeit und der strengen Allgemeinheit auch für die einzelnen empirischen Kausalgesetze gelten müssen, die nicht a priori erkennbar sind, deren Existenz aber dem PNK zufolge erforderlich ist. Die Behauptung lautet schließlich für jede einzelne kausale Sukzession, dass die Wirkung der Ursache »notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folge« (B 124 / A 91). Ob es solche ausnahmslosen empirischen Kausalgesetze gibt, hängt aber davon ab, wie die Welt beschaffen ist. Keinerlei Deduktion kann hier einen Nachweis im Bereich der empirischen Phänomene ersetzen, oder besser: eine empirische Falsifikation von Gesetzeskandidaten übertrumpfen. Der Determinismus mag für die Totalität des Weltgeschehens, die kein Gegenstand der Erfahrung ist, unbeweisbar sein, aber dem PNK zufolge implizieren auch einzelne Kausalurteile deterministische Naturgesetze, mithin muss es solche empirisch wahren Allsätze geben. »Such a uniformity in every particular, is found in no part of nature« (Hume: Enquiry VIII, Teil 1). 30

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(ii) Ein zweiter Grund könnte sein, dass Kant die Analogien der Erfahrung, in denen er das gesetzesimplizierende Kausalprinzip nachgewiesen zu haben meint, als regulative Prinzipien auffasst. In den Worten von Beck: »the Analogies are regulative principles, not constitutive; they tell us where to look for causes and substances, and do not guarantee that we will discover them in specific cases«.31 Unkontrovers ist, dass die Wahrheit des allgemeinen Kausalprinzips nicht garantiert, dass wir zu jedem singulären Kausalurteil der Form ›A war die Ursache von B‹ ein empirisches Kausalgesetz finden. Es ist aber zweierlei, ob man kein Gesetz findet oder ob es keines geben muss. Der Hinweis auf den regulativen Charakter der Analogien der Erfahrung ändert nichts daran, dass unter der Annahme des PNK für jedes singuläre Kausalurteil ein empirisches Kausalgesetz existieren muss, welches es auch sei, und ob man es kennt oder nicht. Nur für erfahrungstranszendente Gegenstände sind die Analogien bloß regulativ, für Erfahrungsgegenstände hingegen konstitutiv. Dass man ein empirisches Kausalgesetz nicht oder noch nicht kennt, entfernt solche Gesetze nicht aus dem Bereich möglicher Erfahrung. Deshalb ist der regulative Charakter der Analogien der Erfahrung für unseren Zusammenhang irrelevant. Mit der Annahme des PNK und des gesetzesimplizierenden Kausalprinzips verpflichtet sich Kant auf die Existenz strenger und ausnahmsloser Sukzessionsgesetze. (iii) Ein dritter Grund für seine Unterschätzung der gesetzesskeptischen Herausforderung ist, dass Kant mit einer zu starken Entgegensetzung von naturgesetzlicher Ordnung und völligem Chaos arbeitet. Er ist der Auffassung, dass in einer indeterministischen Welt, die unverursachte Ursachen enthält, der »Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist« (B 475 / A 447). Der strengen Regelmäßigkeit des »Mechanismus« der Natur ist er sich so sicher, dass er sie sogar in den Begriff der Natur einbaut: »Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach nach nothwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen« (B 263 / A 216). Dazu passt, dass Kant den »Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit« (IV, 456) nicht als einen zwischen Doktrinen, sondern zwischen Begriffen auffasst, nämlich zwischen dem »Begriff der Natur« und dem der Freiheit (ebd.). In der Sache erscheint die Befürchtung, dass jedes Abgehen vom deterministisch verstandenen Kausalprinzip einheitliche Naturerfahrung unmöglich machen würde, als übertrieben. Freilich darf es in der Welt nicht völlig chaotisch zugehen, aber es steht nicht Ordnung gegen Chaos, wie Kant suggeriert, sondern es stehen ausnahmslose Regularitäten gegen begrenzte, störbare Regularitäten, und die Behauptung muss lauten, dass letztere für die Einheit der Erfahrung – und übrigens auch für die Möglichkeit planvollen und erfolgreichen Handelns – genügen. Offenbar genügen sie, denn es ist ja weniger eine philosophische These als vielmehr ein schwer zu leugnender Befund, dass es keine empirisch wahren Sukzessionsgesetze 31

Beck 1978, 135.

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über tatsächliche Ereignisverläufe gibt und dass gleichwohl leidlich erfolgreich Naturwissenschaft betrieben wird. Auch in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts ist wiederholt behauptet worden, dass die Annahme des Determinismus, wiewohl unbeweisbar, eine unerlässliche Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Forschung sei. Andernfalls würden wir vor dem Unerklärlichen kapitulieren, und diese Haltung sei mit dem Geist wissenschaftlicher Erkenntnissuche unvereinbar. Ich bestreite, dass diese Argumentationslinie eng mit dem Determinismus zusammenhängt. Sich nicht mit im Prinzip Unerklärlichem abzufinden ist eine vernünftige Haltung, aber dass allein deterministische Kausalerklärungen als Erklärungen zählen, ist eine begründungsbedürftige Zusatzbehauptung. Zum Geist wissenschaftlicher Forschung dürfte die Annahme gehören, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht und dass es keine Wunder gibt. Dieses Erfordernis ist indes viel schwächer als der universale Determinismus.32 (iv) Ein vierter Grund könnte sein, dass Kant sich mit seinen Gesetzesmerkmalen der Allgemeinheit und Notwendigkeit an einer völlig anderen als der hier zugrunde gelegten ereigniskausalistischen Auffassung orientiert, nämlich an einer substanzkausalistischen. Auf diesen Grund werde ich im Abschnitt 7 gesondert eingehen.

6. Kausalität aus Freiheit, Akteurskausalität und »timeless agency« Oben habe ich behauptet, dass Erstverursachung kausalitätstheoretisch unverständlich sei. Mein Argument, dass sie in keine der in der Gegenwartsphilosophie vertretenen Kausalitätsauffassungen plausibel integrierbar sei, ist freilich unzureichend, denn die genannten Standardtheorien orientieren sich am Paradigma der Ereigniskausalität und ignorieren damit die Eigenheiten der von Kant in der Auflösung der Antinomie skizzierten ›Kausalität aus Freiheit‹. Kants Rede vom Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, legt eher eine akteurskausalistische Interpretation nahe, denn der Träger eines kausalen Vermögens ist kein Ereignis, sondern eine ›handelnde Substanz‹. Es lassen sich mit Blick auf Kant zwei Interpretationen der Agens- oder Akteurskausalität unterscheiden. Nach der ersten handelt es sich um eine Kausalitäts-

Beiseite bemerkt: Auch nichtdeterministische Interpretationen der Quantenmechanik berufen sich nicht auf Wunder, sondern halten es für eine erforschbare physikalische Tatsache, dass gewisse Phänomene der Quantenwelt keinen deterministischen, sondern nur probabilistischen Gesetzen unterliegen. Der Indeterminist verbietet dem Deterministen auch nicht das Weiterforschen, also die Suche nach sogenannten verborgenen Parametern, aber er hält es für unklug, sein gesamtes wissenschaftliches Weltbild an die Annahme zu binden, dass es solche verborgenen Parameter geben muss, welche die prima facie indeterministische Quantenwelt wieder deterministisch machen. 32

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art sui generis, die zur gewöhnlichen Naturkausalität zwischen Ereignissen noch hinzukommt. Nach der zweiten Interpretation gibt es bei Kant überhaupt keine Ereigniskausalität, weil Kausalität von vornherein nach dem Modell von Substanzen aufgefasst wird, die ihre Vermögen verwirklichen. Der Fall, in dem Personen aus Freiheit handeln, wäre dann nur ein Spezialfall dieser Substanzkausalität. Dass Kant ein Substanzkausalist in diesem zweiten Sinn war, hat in der jüngeren Forschung mit Nachdruck Eric Watkins vertreten. Akteurskausalität im ersten Sinn unterscheidet sich von der Ereigniskausalität zunächst durch die angenommenen Relata der Kausalbeziehung. Im Fall von Ereigniskausalität sind beides Ereignisse, im Fall von Akteurskausalität ist das zweite Relatum ein Ereignis, das erste hingegen eine handelnde Person, also etwas von einem Ereignis ontologisch Verschiedenes. In einer in der analytischen Ontologie verbreiteten Terminologie: Personen sind Kontinuanten, nämlich beharrende Substanzen. Ereignisse, Zustände und Prozesse sind Okkurrenten, die auf andere Weise in der Zeit ausgedehnt sind als Kontinuanten.33 Während Kontinuanten zeitlich persistieren und jederzeit vollständig vorhanden sind, lassen sich Okkurrenten in zeitliche Phasen zerlegen, die einander ablösen. Vertreter von Prozessontologien leugnen diesen Unterschied und fassen auch vermeintliche Kontinuanten als Okkurrenten auf: Alles fließt, es gibt keine beharrenden Substanzen. Für humesche Kompatibilisten ist eine Handlung dann frei, wenn sie auf besondere Weise verursacht wird, nämlich durch vorausgehende mentale Ereignisse. Diese Freiheitsrettung durch eine ereigniskausalistisch konzipierte Theorie der mentalen Verursachung nennt Kant einen »elenden Behelf«.34 Die Attraktivität der Akteurskausalität für die Auflösung der Freiheitsantinomie besteht darin, dass sie sich zwanglos mit einem emphatischen Freiheitsbegriff im Sinne des Erstverursachermodells verbinden lässt. Unter den Akteurskausalisten der Gegenwartsphilosophie hat dies in markanter Form Chisholm getan: »Each of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause those events to happen.« 35 Auch Kant erläutert transzendentale Freiheit im Sinne des Erstbewegermodells: Sie ist das Vermögen, »mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen der Causalität nach von selbst anfangen zu lassen« (B 478 / A 450). Vom intelligiblen Subjekt kann man »ganz richtig sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt« (B 569 / A 541).

Die Terminologie geht zurück auf Johnson 1921, 199. »[D]ie Handlungen des Menschen, ob sie gleich durch ihre Bestimmungsgründe, die in der Zeit vorhergehen, nothwendig sind, dennoch frei nennen, weil es doch innere, durch unsere eigene Kräfte hervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungen sind), ist ein elender Behelf, womit sich noch immer einige hinhalten lassen« (V, 96). 35 Chisholm 1982, 32. 33 34

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Die größte theoretische Schwierigkeit der Akteurskausalität ist das sogenannte Datiertheitsproblem. Es wurde einflussreich von Broad formuliert36 und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Handlungen sind wie andere Ereignisse etwas, was zu einer bestimmten Zeit vorkommt. Die Nennung der Ursache für eine Handlung sollte erklären, warum die Wirkung zu diesem bestimmten Zeitpunkt eintritt und nicht zu einem beliebigen anderen. Der bloße Verweis auf die handelnde Person kann dies aber nicht erklären. Die Person war schon zuvor da und wird auch nachher noch da sein. Sie ist eine beharrende Substanz, die den Veränderungen, die an oder in ihr stattfinden, zugrunde liegt und sie überdauert. Die Nennung der Person beantwortet deshalb nicht die Frage, warum zum fraglichen Zeitpunkt eine Wirkung eintritt. Also können Personen nicht im Wortsinne Ursachen von etwas sein. Dies schließt nicht aus, dass sie es im elliptischen oder metonymischen Sinn sein können: Die Ursache von Caesars Tod war nicht Brutus, aber es mag ein von Brutus ausgeführter Dolchstoß gewesen sein, also ein gewöhnliches Ereignis. Für unbelebte Substanzen gilt analog: Die Ursache des Grübchens im Kissen37 war nicht die Kugel, sondern der Aufprall der Kugel. Unter den vielen Einwänden gegen die Annahme einer eigenen Akteurskausalität dürfte der Datiertheitseinwand der stärkste sein.38 Kant war sich des Datiertheitsproblems bewusst. Seine Haltung zu diesem Problem ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Lehre von der intelligiblen Kausalität in der Auflösung der Freiheitsantinomie. Bevor der transzendentale Idealismus ins Spiel kommt, erkennt Kant die kausalitätstheoretische Auflage an, dass sowohl Wirkung als auch Ursache datierte Begebenheiten sein müssen: »In der Erscheinung ist jede Wirkung eine Begebenheit, oder etwas, das in der Zeit geschieht; vor ihr muß nach dem allgemeinen Naturgesetze eine Bestimmung der Causalität ihrer Ursache (ein Zustand derselben) vorhergehen, worauf sie nach einem beständigen Gesetze folgt. Aber diese Bestimmung der Ursache zur Causalität muß auch etwas sein, was sich eräugnet oder geschieht; die Ursache muß angefangen haben zu handeln, denn sonst ließe sich zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge denken. Die Wirkung wäre immer gewesen, so wie die Kausalität der Ursache.« (IV, 343 f.) Dass die Ursache datiert sein muss, gilt nach Kant aber nur, solange die Antinomie nicht aufgelöst ist. Für die »Causalität der Vernunft« gilt das Erfordernis nicht, weil »Gründe der Vernunft allgemein, aus Principien, ohne Einfluß der Umstände der

»[I]n so far as an event is determined, an essential factor in its total cause must be other events. How could an event possibly be determined to happen at a certain date if its total cause contained no factor to which the notion of date has any application? And how can the notion of date have any application to anything that is not an event?« (Broad 1952, 215) 37 Kants Beispiel, vgl. B 248 / A 203. 38 Zu den weiteren Einwänden vgl. Keil 2000, 358–373. 36

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Zeit oder des Orts Handlungen die Regel geben« (IV, 345). Wegen des außerzeitlichen Charakters vernünftiger Gründe kann »man sich an vernünftigen Wesen oder überhaupt an Wesen, so fern ihre Causalität in ihnen als Dingen an sich selbst bestimmt wird, ohne in Widerspruch mit Naturgesetzen zu geraten, ein Vermögen denken […], eine Reihe von Zuständen von selbst anzufangen. Denn das Verhältnis der Handlung zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis« (IV, 346; vgl. B 584 / A 556). Kants Bemerkung, in der Sache wohlbegründet, kommt einem Themenwechsel gleich. Die nichtzeitliche Beziehung der objektiven Vernunftgründe zur Handlung ist überhaupt keine Kausalbeziehung, sondern sie ist die Beziehung der Rechtfertigung oder vernünftigen Begründung einer Handlung. Kausalbeziehung und Begründungsbeziehung bestehen aber von vornherein nicht zwischen denselben Relata. Was eine Handlung als vernünftig, nachvollziehbar, begründet, prudentiell oder moralisch geboten erscheinen lässt, ist der Gehalt eines Grundes, nicht sein Erwogenwerden, also die mentale Episode des praktischen Überlegens. Die Rede, dass Gründe eine Handlung »bestimmen«, hat ja eine kausale und eine nichtkausale Lesart: Einerseits kann eine datierte mentale Episode des Überlegens, vernünftigen Entscheidens oder Inkorporierens in eine Maxime gemeint sein, andererseits eine zeitlose Leistung des propositionalen Gehalts des Grundes. Ontologisch fassen wir Gründe in der Regel so auf, dass sie semantische Identitätsbedingungen haben und keine raumzeitlichen oder kausalen: Wenn zwei Personen ›aus demselben Grund‹ etwas tun, teilen sie einen Grund mit demselben Gehalt, wiewohl zwei numerisch verschiedene kausale Episoden stattfinden. Propositionale Gehalte sind in der Tat nichts Zeitliches oder Räumliches, und eben deshalb ist die Bestimmung durch Vernunftgründe keine Verursachungsbeziehung.39 Die Unterscheidung zwischen Rationalisierungs- und Kausalbeziehung trifft die Auflösung der Freiheitsantinomie ins Mark. Wenn die nichtzeitliche Art der ›Determination‹ einer Handlung durch den intelligiblen Charakter, die Kant anführt, gar keine kausale ist, dann ist auch »Kausalität durch Freiheit« keine Kausalität und konfligiert schon deshalb nicht mit der Naturkausalität. Versucht man das fragliche Verhältnis als kausales zu verstehen, sind die Paradoxien der Lehre von der nichtzeitlichen Verursachung unausweichlich. Kant behauptet ja, dass das ›Anfangen‹ einer Reihe von Begebenheiten kein zeitliches Anfangen ist, wiewohl das in Gang Gesetzte eine gewöhnliche Begebenheit in der Welt der Erscheinungen ist. Das ist nicht leicht zu verstehen. Bennett hat gegen Woods Verteidigung der »timeless Wie schmal der Grat ist, auf dem die transzendental-idealistische Auflösung der Antinomie sich bewegt, zeigt Kants Einwand gegen Wolff und Baumgarten, dass die Vernunftbestimmtheit der Handlung allein den Naturmechanismus nicht aufhebe: »Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur« (XXVII, 503). 39

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agency«40 eingewandt, dass ein »making to begin«, das kein »happening« ist, ein Selbstwiderspruch sei.41 Offenbar wird die Begrifflichkeit des Anfangens, Beginnens und Entspringens in Kants Freiheitslehre mehrdeutig verwendet. Die Rede vom nichtzeitlichen »Vernunftursprung« einer Handlung42 ist so lange unproblematisch, wie sie nicht in einem theoretisch anspruchsvollen Sinn kausal interpretiert wird. In einem vortheoretischen Sinn fangen wir Handlungen an und sind deren vernünftige Ursprünge, aber diese Redeweisen rechtfertigen es nicht, kausale Verhältnisse zwischen Zeitlichem und Nichtzeitlichem anzunehmen. Kant ist die begriffliche Misslichkeit, nichtzeitliche Verhältnisse als kausale auszugeben, präsent, sonst hätte er das Datiertheitsproblem nicht selbst aufgeworfen. Dass die Ursache etwas Datiertes sein muss, weil es andernfalls »zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge« gäbe (IV, 343), lässt er aber nur für die Kausalität zwischen Erscheinungen gelten. In der Auflösung der Antinomie setzt er als erstes Relatum der Kausalbeziehung und Subjekt der freien Handlung nicht mehr die Person ein, sondern den »intelligiblen Charakter der reinen Vernunft«: »jede Handlung unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligibelen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt« (B 581 / A 553). Solche Formulierungen überschreiten die Grenzen des Sinns weiter, als selbst um der innovativen Lösung eines schwierigen Problems willen akzeptabel wäre. Kant kann nicht plausibel machen, mit welchem Recht man das nichtzeitliche Verhältnis zwischen Intelligiblem und Erscheinendem noch eine Instanz der Kausalbeziehung nennen kann. Während seine nomologische Auffassung der Kausalität in der Exposition der Antinomie zu eng ist, ist sein Kausalbegriff in der Auflösung der Antinomie zu weit. Rosefeldt verteidigt die Lehre der nichtzeitlichen Verursachung durch den Hinweis auf die von Kant konstatierte kontrafaktische Abhängigkeit des empirischen Charakters vom intelligiblen: »Denn ein anderer intelligibeler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben haben« (B 584 / A 556). Deshalb gilt auch von einer kausal determinierten bösen Handlung, die »unausbleiblich nothwendig« war, dass der Täter »sie hätte unterlassen können«, denn sie gehört »mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, […] zu einem einzigen Phänomen eines Charakters, den er sich selbst verschafft« (V, 98).

Wood verteidigt Kants Abkehr von der »commonsense conception of free agency«: »It is […] obvious that this theory does not leave intact our commonsense conception of our free agency. As countless critics of Kant have observed, we surely do think of our moral agency as situated in time. We suppose that our free choices are made in the temporal flow, reacting to the course of events as it unfolds. We believe that we are free ›at the point in time when we act,‹ and not timelessly, as Kant’s theory requires« (Wood 1984, 97). 41 Bennett 1984, 102. 42 »Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser Tat fragen« (VI, 41). 40

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Die entscheidende Frage ist hier, wie man die Annahme zu verstehen hat, dass man sich seinen Charakter »selbst verschafft«. Handelt es sich um eine zeitlich situierte mentale Episode der willentlichen Bekräftigung von Neigungen oder Aneignung von Maximen, so ist dem Datiertheitseinwand Rechnung getragen und die kausale Interpretierbarkeit gewahrt, allerdings unter Preisgabe der zeitlosen noumenalen Kausalität. Die Unterlassbarkeit, die für die Zurechnung erforderlich ist,43 wird lediglich von der »unausbleiblich notwendigen« empirischen Handlung auf die Annahme der handlungsleitenden Maxime verschoben. Soll es sich bei dieser Aneignung hingegen nicht um einen zeitlichen Vorgang handeln,44 so hat dies unter anderem die Konsequenz, dass man allen von Kant und seinen Interpreten verwendeten Handlungsverben einen neuen, unüblichen Sinn beilegen muss. Sich etwas anzueignen, zu verschaffen, es anzunehmen, zu inkorporieren, sich zur Maxime zu machen – all diese Aktivitäten (?) bezeichnen dann ein nichtzeitliches Verhältnis des intelligiblen Subjekts zu seinen Zuständen und Eigenschaften. Freilich kann man den Begriff der Handlung mit Baumgarten so definieren, dass er diese Fälle synchroner Aktualisierungen umfasst,45 aber warum sollte man es tun? Ein plausibler Grund wäre, dass man mit der Beibehaltung des Handlungsvokabulars dessen Ambiguität ausbeuten kann, und sei es ungewollt: Die Konnotation eines psychisch realen Vorgangs kommt für die Zurechenbarkeit und für die kausale Interpretierbarkeit der Aneignung auf, die nichtzeitliche Lesart als »intelligibele That« (VI, 31) enthebt die Aneignung der Naturnotwendigkeit und macht sie für Kant mit dem Determinismus kompatibel.

7. Substanzkausalität Kant als Akteurskausalist im Sinn der Gegenwartsphilosophie einzuordnen ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen spielen bei modernen Akteurskausalisten wie Chisholm, Taylor, O’Connor und Clarke gewöhnliche Personen die Rolle des kausalen Urhebers, keine intelligiblen Instanzen. Deshalb vertritt auch keiner dieser Autoren die idiosynkratische Lehre der »timeless agency«. Zum anderen ist umstritten, ob Kant die noumenale Kausalität als zusätzliche Kausalitätsart neben der gewöhnlichen Ereigniskausalität auffasst. Verschiedene Interpreten vertreten

»Die Gesinnung, d. i, der erste subjective Grund der Annehmung von Maximen […] muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden« (VI, 25). 44 »Diese Aneignung des Charakters durch den Menschen darf dabei nicht als zeitliches Abfolgeverhältnis, sondern soll als eines der ontologischen Fundierung verstanden werden« (Rosefeldt 2012, 90). 45 »[A]nders als der Begriff der Zustandsveränderungen ist der Begriff der Verwirklichung (actuatio) eines Akzidens in einer Substanz kein wesentlich zeitlicher«, also ist die »intelligible Tat als zeitlose Handlung […] kein begrifflicher Widerspruch« (Rosefeldt 2012, 89). 43

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die Auffassung, dass schon die gewöhnliche Naturkausalität bei Kant keine Relation zwischen Ereignissen sei. Die »Kausalität nach Gesetzen der Natur«, der in der Antinomie die noumenale ›Kausalität aus Freiheit‹ gegenübergestellt wird, fasse Kant von vornherein substanzkausalistisch auf. Nach dieser Lesart ist noumenale Kausalität lediglich eine Unterart der Substanzkausalität. Ich referiere diese Interpretation anhand der umfassenden und sorgfältigen Studie von Watkins. Nach Watkins gibt es eine weitgehende Kontinuität zwischen Kants vorkritischer und seiner kritischen Kausalitätsauffassung. Kant übernehme und transformiere die substanzkausalistische Begrifflichkeit der schulmetaphysischen Tradition, insbesondere die Begriffe ›Substanz‹, ›Handlung‹, ›Kraft‹, ›Natur‹ und ›Aktivität‹. Kombiniert werden sie wie folgt: »causality occurs if one substance determines the states of another by actively exercising its causal powers according to their natures and circumstances«.46 Der aktive Pol einer kausalen Dynamik ist also eine Substanz. Substanzen haben Eigenschaften und Vermögen. Wenn eine Substanz handelt, dann verwirklicht sie ihre Vermögen und wirkt dadurch auf sich selbst oder auf andere Substanzen derart ein, dass sich deren Zustände verändern. Für die nomologische Kausalitätsauffassung eröffnet sich die Möglichkeit, dass der Notwendigkeitscharakter der Naturgesetze nicht aus ausnahmslosen Regularitäten stammt, sondern aus den Naturen der beteiligten Substanzen. Auch der Determinismus kann seine nomische Kraft dann aus dieser Quelle beziehen: »the laws of nature, from which the necessity of determinism derives, are contingent upon the nature of things«.47 Die Vereinbarkeit der Freiheit mit der Naturnotwendigkeit wird dadurch möglich, dass Substanzen durch das Ausüben ihrer kausalen Vermögen ihre Naturen in begrenztem Umfang selbst bestimmen können: »by exercising its causal powers, a substance might be able to choose (some aspect of) its own nature, which influences in turn which laws of nature hold and thus which laws are necessary in accordance with them«.48 Da nun zu den bestimmbaren Naturen auch »the natures that we freely choose for ourselves (which we typically call our character)«49 gehören, wird der Notwendigkeitscharakter des Determinismus im Falle freier Handlungen auf charakteristische Weise transformiert: »the necessity of determinism does not ultimately conflict with, but rather depends on, the contingency of our free will«.50 Eine Würdigung der exegetischen Angemessenheit von Watkins’ Rekonstruktion würde weit mehr Raum erfordern als hier zur Verfügung steht, wobei über die philosophische Kohärenz und Vertretbarkeit dieser substanzkausalistischen Metaphysik noch gar nichts gesagt wäre. Insbesondere die Auffassung, dass eine Substanz fähig sei, sich ihre eigene Natur zu wählen und damit die Naturgesetze zu 46 47 48 49 50

Watkins 2005, 13. Ebd., 15. Ebd., 361. Ebd., 15. Ebd.

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bestimmen, erscheint rätselhaft. Ich beschränke mich auf einige Hinweise, die das Referierte mit meinen eigenen Klärungs- und Kritikzielen verknüpfen. (i) Zum Textbefund: Es wäre ein Leichtes, Watkins’ Textbelegen für die substanzkausalistische Interpretation die zahllosen Stellen zur Seite zu stellen, die sich besser oder überhaupt nur ereigniskausalistisch lesen lassen. So ist das allgemeine Kausalprinzip bei Kant für Ereignisse formuliert (»alles, was geschieht«, »was sich ereignet«, »Veränderungen«, »Begebenheiten«); in seiner gesetzesimplizierenden Fassung fixiert es ausdrücklich zeitliche Verläufe;51 die Notwendigkeitsbehauptung wird ausdrücklich nicht auf die Substanzen selbst bezogen, sondern auf dynamische Verhältnisse zwischen ihren Zuständen.52 Ein Kausalprinzip auf substanzkausalistischer Grundlage, das eine auch nur entfernt äquivalente Aussage wie das KP machte, hat Kant nicht formuliert. Wie es lauten könnte, ist nicht zu sehen. Viele der Stellen, an denen Zustände einer Substanz als zweites Relatum der Kausalbeziehung ausgegeben werden, lassen sich auch so deuten, dass dort vom Eintreten von Zuständen die Rede ist, also von datierten Veränderungen.53 Es bleiben andere Redeweisen übrig, die ereigniskausalistisch keinen Sinn ergeben, so Kants häufige Rede von »handelnden Ursachen«. Offenbar gibt es bei Kant, wie in der Literatur verschiedentlich bemerkt worden ist, eine unaufgelöste Spannung zwischen zwei Modellen von Kausalität: einem substanzkausalistischen und einem ereigniskausalistischen.54 Aus dem Umstand, dass Kant den Unterschied beider Modelle nicht thematisiert, wird man schließen dürfen, dass er beide Modelle für unproblematisch miteinander vereinbar hielt. Sein Sprachgebrauch hinsichtlich der Relata der Kausalbeziehung ist allgemein nicht besonders sorgfältig. Allein in der zweiten Analogie der Erfahrung können Geschehnisse, Begebenheiten, »Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen […]« (B 564 / A 536); »daß eine jede Begebenheit, also auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei« (V, 94); »die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt« (V, 97). 52 »Also ist es nicht das Dasein der Dinge (Substanzen), sondern ihres Zustandes, wovon wir allein die Nothwendigkeit erkennen können, und zwar aus anderen Zuständen«; die »Nothwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der Erscheinungen nach dem dynamischen Gesetze der Causalität« (B 279 f. / A 227 f.). 53 Vgl. zu dieser Diskussion über Zustände versus Zustandsveränderungen als kausale Relata Van Cleve 1973, 73; Allison 1983, 223; Allison 1996, 87; Thöle 1991, 162–164. Textbelege lassen sich für beide Interpretationen finden, so dass es »scheint, daß Kant beides zulassen will, ohne darauf zu reflektieren, daß Kausalität in beiden Fällen etwas anderes bedeuten muß« (Rang 1990, 33). 54 So zum Beispiel Willaschek 1992, 39. Watkins räumt ein, dass es in Kants Ausführungen zur Kausalität Inkonsistenzen gibt, sucht sie aber – wenig überzeugend – durch die jeweilige dialektische Situation wegzuerklären (Watkins 2005, 347–349). 51

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Handlungen, Dinge, Zustände, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erscheinungen kausale Relata sein.55 (ii) Systematisch erscheint es fruchtbar, das substanzkausalistische und das ereigniskausalistische Modell zwei grammatischen Formen singulärer Kausalsätze zuzuordnen, die man mit Pardey56 die aristotelische und die humesche Form nennen kann: In Kausalsätzen der aristotelischen Form (›Brutus tötete Caesar‹, ›Der Ofen erwärmte das Zimmer‹, ›Die Kugel drückte eine Grube ins Kissen‹) werden zwei Gegenstandsausdrücke durch ein zweistelliges Prädikat verknüpft, nämlich durch ein Handlungsverb. Es entsteht die Beschreibung eines Veränderungsvorgangs, der auch nicht in Phasen aufgeteilt wird. Sätze der aristotelischen Form eignen sich besonders gut für Handlungsbeschreibungen. In Kausalsätzen der humeschen Form (›Der Steinwurf hat den Bruch des Fensters verursacht‹, ›Ursache des Todes war eine Vergiftung‹) bezeichnen die singulären Terme nicht Gegenstände oder Personen, sondern Ereignisse; es werden zwei Ereignisse genannt, die durch ein blasses Kausalverb wie ›verursacht‹, ›bewirkt‹ oder ›ist die Ursache von‹ verknüpft werden, das nur die Kausalrelation selbst bezeichnet. Im humeschen Modell ist Kausalität eine Relation zwischen zwei Veränderungen. Im aristotelischen Modell ist nur von einer Veränderung die Rede, aber was genau Kausalität in diesem Modell sein soll – ob eine Relation oder etwas anderes –, wird selten erklärt. Auch in Watkins’ Rekonstruktion von Kants Auffassung wird nota bene nicht gesagt, was eine Ursache ist, sondern nur, dass »causality occurs if one substance determines the states of another«.57 Plausiblerweise geht jede ›Handlung‹ einer Substanz mit einem Verursachungsvorgang einher, aber man wüsste gern genauer, was an solchen Vorgängen der aktiven ›Bestimmung eines Zustands‹ die kausale Komponente ist und wie sie sich zu anderen Komponenten oder Aspekten solcher Vorgänge verhält. Sätze der aristotelischen und solche der humeschen Form werden in unterschiedlichen Kontexten und zu verschiedenen Zwecken benutzt. Sie ineinander zu überführen ist keine triviale Aufgabe, denn aristotelische Sätze enthalten Informationen, die humesche Sätze nicht enthalten, und umgekehrt.58 Humesche Sätze tragen der Eigenart von Handlungen nicht Rechnung, weil sie den Akteur zur Bühne eines kausalen Geschehens degradieren. Aristotelische Sätze weisen eine komplementäre Unzulänglichkeit auf. Sie tragen dem aktiven Vollzugscharakter des Handelns Rechnung, bestimmen aber den kausalen Aspekt falsch, indem sie das Vollziehen und das Verursachen miteinander kurzschließen. Ein Akteur verursacht aber nicht, was er tut, sondern er tut es eben. Dabei kann der Substanzkausalist an die voranalyAuch bei Hume, der als entschiedener Ereigniskausalist gilt, ist der Textbefund uneinheitlich. Hume spricht von Kausalbeziehungen zwischen objects, things, matters of fact, impressions und events. 56 Vgl. Pardey 1998. 57 Watkins 2005, 13. 58 Vgl. dazu Keil 2000, 373–383. 55

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tische Auffassung, dass die handelnde Person einen nicht mit ihren mentalen Einstellungen zusammenfallenden kausalen Beitrag leistet, nicht einmal anknüpfen, denn wenn Urheber (»handelnde Ursachen«) im Wortsinne Ursachen wären, müsste die Person der kausale Beitrag sein, statt ihn zu leisten, und das ist absurd. (iii) Gegen die substanzkausalistische Interpretation der noumenalen Kausalität lässt sich einwenden, dass das bloße Vorhandensein eines Vermögens, »eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen«, auch aus substanzkausalistischer Auffassung nichts in Bewegung setzt und keine Zustandswechsel bewirkt. Dafür ist die Ausübung des Vermögens erforderlich, und diese Ausübung ist etwas Okkurrentes, auch wenn das Vermögen selbst und die Substanz ontologisch von anderer Art sind. Das Datiertheitsproblem verschwindet also nicht, denn worin auch immer das fragliche Vermögen genau besteht: Es auszuüben ist ein Geschehen in Raum und Zeit. Wenn eine Handlung nicht irgendwann und irgendwo ausgeführt wird, wird sie überhaupt nicht ausgeführt. Watkins sieht das Datiertheitsproblem durch den Umstand gelöst, dass bei Kant neben dem empirischen und dem intelligiblen Charakter der handelnden Substanz ja noch Begleitumstände und »veranlassende Gelegenheitsursachen« (B 582 / A 554) im Spiel sind, nämlich »mitwirkende andere Ursachen nach der Ordnung der Natur« (B 578 / A 550). Da Broad nur gefordert habe, dass die Ursache irgendeinen datierten Faktor enthalte,59 sei dem Einwand Rechnung getragen.60 Dies ist ein Zug von zweifelhaftem Wert; fast möchte man von einem elenden Behelf sprechen. Der Einbezug der »veranlassenden Gelegenheitsursachen« mag die substanzkausale Ursache – besser nun: den ontologisch hybriden Bedingungskomplex − vor dem Datiertheitseinwand bewahren, aber das Motiv der Freiheitsrettung durch eine noumenale Kausalität wird dadurch konterkariert. Wenn die einzigen datierten Elemente der »handelnden Ursache« die ereignisförmigen Begleitumstände sind, dann sind diese auch der Sitz des im engeren Sinn kausalen Anteils des Bedingungskomplexes. Gerade diejenigen Elemente, die die ansonsten nichtzeitliche »Ursache« zu einer machen, die ihren Namen verdient, weil sie dafür verantwortlich sind, dass die Handlung überhaupt ausgeführt wird, sind dann nicht in der Hand des Akteurs. Das kann Kant nicht gelegen kommen. Sobald man die »timeless agency« nur halbherzig verteidigt und zugesteht, dass Akteurs- oder Substanzkausalität als Kausalitätsart erst dadurch verständlich wird, dass ein Teil der Ursache zeitlich situiert ist, zerfällt die ›Kausalität aus Freiheit‹ in ihre noumenalen und empirischen Teile. Dieser Zug ergibt auch freiheitstheoretisch keinen Sinn. Ist man unter dem Druck des Datiertheitseinwands mit Ursachen zufrieden, Vgl. Broad 1952, 215 (s. o. Anm. 36). Vgl. Watkins 2005, 41. Rosefeldt argumentiert ähnlich, dass Ursachen für Kant allgemein keine hinreichenden Bedingungen seien und dass die nichtzeitliche intelligible Tat ein notwendiges Element einer nur als ganzer kausal hinreichenden Bedingungsmenge sein könne (Rosefeldt 2012, 103–107, mit Textbelegen, die Kants punktuelle Nähe zur INUS-Analyse dokumentieren). 59 60

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die nicht in der Hand des Akteurs liegen, kann man gleich bei der Ereigniskausalität bleiben. (iv) Es ist unklar, wie im Rahmen einer substanzkausalistischen Metaphysik der Kausalität der universale Determinismus begründet werden soll. Einige der auslegungsfähigen Formulierungen Kants zum analytischen Zusammenhang zwischen Kausalität und Gesetzmäßigkeit, die ich oben im Sinne des Bezugs auf deterministische Sukzessionsgesetze interpretiert habe, lassen bei näherer Betrachtung die Art der erforderlichen Gesetze offen. Nach Kant können Substanzen »auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein«, wobei jede dieser Weisen »ihre Regel haben [muß], die Gesetz ist«.61 In der Auflösung der Freiheitsantinomie nennt Kant das zwischen der Substanz und ihrer Wirkung Vermittelnde ihren »Charakter«, der als »Gesetz ihrer Causalität« fungiert: »Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« (B 567 / A 539). Kant nimmt also substanzspezifische kausale Gesetze an, in denen sich der modus operandi handelnder Substanzen in verschiedenen Arrangements ausdrückt. Die Frage ist nun, wie man von diesen substanzspezifischen Gesetzen zum universalen Determinismus kommt. Kant muss der Auffassung sein, dass die modale Kraft der Konjunktion aller dieser substanzspezifischen Gesetze äquivalent mit dem von Laplace fingierten Supergesetz ist, das gemeinsam mit einem Momentanzustand des Universums den Weltlauf alternativlos festlegt.62 Wie diese Äquivalenz gewährleistet werden soll, ist aber nie gezeigt worden. Die Stoiker haben eine Begründung des Determinismus auf diese Weise versucht, kamen aber immer nur bis zu einer konditionalen Notwendigkeit: »Denn wenn der Stein aus einer gewissen Höhe losgelassen wird und kein Hindernis im Weg ist, kann er sich unmöglich nicht nach unten bewegen«.63 Diese Notwendigkeit, die in der Natur des Steins liege, reicht für einen durchgängigen Determinismus nicht aus, denn dafür müsste auch determiniert sein, ob der Stein losgelassen wird und ob sein Herunterfallen verhindert wird. Doch in der Natur welcher Substanzen sollten diese Determinationen liegen? Legt man einen aristotelischen Substanzbegriff zugrunde, so besteht nicht die gesamte physische Welt aus Substanzen, sondern nur ausgezeichnete Teile derselben.

»[D]er Verstand sagt: Alle Veränderung hat ihre Ursache (allgemeines Naturgesetz) […]. Nun sind aber die Gegenstände der empirischen Erkenntnis […] noch auf mancherlei Art bestimmt […], so daß spezifisch-verschiedene Naturen, außer dem, was sie, als zur Natur überhaupt gehörig gemein haben, noch auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein können; und eine jede dieser Arten muß (nach dem Begriffe einer Ursache überhaupt) ihre Regel haben, die Gesetz ist, mithin Notwendigkeit bei sich führt« (V, 183). 62 Ähnlich Rosefeldt 2012, 93: »Die speziellen Naturgesetze in einer Welt ergeben sich dann aus der Summe der empirischen Charaktere der die Welt bildenden Substanzen. Insofern gilt die Determinismusthese […]«. 63 So das Referat der stoischen Lehre bei Alexander v. Aphrodisias: De fato, 181–182, zitiert nach: Long/Sedley 2000, 465. 61

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Schon aus diesem Grund werden die artspezifischen modi operandi der Substanzen unterbestimmt lassen, was insgesamt in der Welt geschieht. Damit ist nicht gesagt, dass es für Kants substanzspezifische Gesetze keinen systematischen Ort in der Naturwissenschaft gäbe. Am besten wird man solche Gesetze als Restriktionen auffassen, die den Raum dessen einschränken, was geschehen kann, nicht hingegen alternativlos festlegen, was tatsächlich geschieht. Dass kein Ding um den Preis seiner Zerstörung ein anderes Verhalten zeigen kann, als seinen definierenden Eigenschaften entspricht, erlaubt nicht das tatsächliche Geschehen abzuleiten. In der Sache dürfte eine solche aristotelisch abgeschwächte Auffassung der Naturnotwendigkeit der Wahrheit näher kommen als der mechanistische Determinismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Kant war von den hochallgemeinen Gesetzen der newtonschen Mechanik beeindruckt, lässt deren Verhältnis zu den substanzspezifischen Gesetzen aber ungeklärt. Er hat das mit den letzteren verbundene Potential, die modale Kraft von Naturgesetzen auf nichtdeterministische Weise zu rekonstruieren, nicht ausgeschöpft, weil er aus welchen Gründen auch immer von der Wahrheit des »Prädeterminism« (VI, 49) überzeugt war. Die dialektische Situation ist gründlich verfahren, denn ohne Determinismus, den Kant nicht hätte vertreten müssen, gibt es keine Freiheitsantinomie und ohne Antinomie keine Notwendigkeit einer transzendental-idealistischen Auflösung durch die Lehre von der noumenalen Kausalität. Gibt man den Determinismus auf, fällt die antinomische Konstruktion in sich zusammen. Das ist eine gute Nachricht, denn wenn Freiheit noumenale Kausalität erforderte, wäre Freiheit nicht zu retten.

8. Epilog: Eine alternative Rolle für die transzendentale Idealität? Abschließend möchte ich noch einige konstruktive Überlegungen anstellen. Vielleicht ist die Pointe transzendental-idealistischer Elemente für die Freiheits- und Handlungstheorie an anderer Stelle zu suchen als Kant mit seinem Junktim angenommen hat. Das Vermögen, eine Handlung anzufangen, scheint durchaus nichtempirische, nichtphänomenale Aspekte aufzuweisen, die in den ›Körperbewegung plus x‹-Analysen des kausalistischen Mainstreams der analytischen Handlungstheorie verfehlt werden. Hier denke ich in erster Linie an die Schwierigkeit, den Punkt des Beginns einer Handlung in der Welt der Erscheinungen dingfest (oder ereignisfest) zu machen. Die Schwierigkeit kommt in folgender Bemerkung Wittgensteins zum Ausdruck: »Tun scheint selbst kein Volumen in der Erfahrung zu haben. Es scheint wie ein ausdehnungsloser Punkt, die Spitze einer Nadel. Diese Spitze scheint das eigentliche Agens. Und das Geschehen in der Erscheinung nur Folge dieses Tuns. ›Ich tue‹ scheint einen bestimmten Sinn zu haben, abgelöst von jeder Erfahrung.«64

64

Wittgenstein 1960, § 620.

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Wittgenstein diskutiert an dieser Stelle den Punkt des Umschlags von der volitiven Vorbereitung zur Handlung selbst. Dieser Umschlagspunkt scheint insofern etwas Nichtempirisches zu sein, als er keine Ausdehnung in der erfahrbaren Welt der Erscheinungen hat. Dies gilt, wenn ich recht sehe, phänomenologisch, ontologisch und begrifflich. Ich kann dazu nur noch skizzenhafte Bemerkungen anschließen, deren Ausarbeitung einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muss: (i) Phänomenologisch oder introspektionspsychologisch lässt sich das Nichterscheinen des Beginns einer Handlung durch die eindrückliche Beschreibung illustrieren, die William James vom morgendlichen Aufstehen in einem ungeheizten Zimmer gegeben hat: »We think how late we shall be, how the duties of the day will suffer; we say ›I must get up, this is ignominious,‹ etc.; but still the warm couch feels too delicious, the cold outside too cruel, and resolution faints away and postpones itself again and again just as it seemed on the verge of bursting the resistance and passing over into the decisive act.«65 Kant hatte seinen Diener Lampe, welcher Anweisung hatte, nicht eher wegzugehen, als bis Kant aufgestanden war. Wenn man mit sich allein ist, ist die Lage schwieriger. Man muss sein eigener Lampe sein. Das schlechte Gewissen wird immer größer, man versucht, sich einen Ruck zu geben, aber der Ruck kommt nicht. James fragt als Psychologe: »Now how do we ever get up under such circumstances?« Und seine introspektive Antwort lautet: »If I may generalize from my own experience, we […] suddenly find that we have got up«.66 In dem Augenblick, in dem wir die Entscheidung fällen, finden wir uns schon im Aufstehen begriffen. Der Moment, an dem wir uns gegen einen inneren oder äußeren Widerstand zum Handeln aufraffen, hat »kein Volumen in der Erfahrung«, wie Wittgenstein sagt. Der vermeintliche mentale Steuerungsimpuls oder Willensruck bereitet den Handlungsbeginn nicht vor, er ist der Handlungsbeginn.67 Dieser phänomenologische Befund hat eine ontologische Grundlage: (ii) Es handelt sich um das schon von Zenon dramatisierte Problem, den Zeitpunkt einer Veränderung dingfest zu machen. Ein moderner Zenon würde argumentieren, dass der für das Aufstehen erforderliche Ruck zu jedem untersuchten Zeitpunkt entweder schon stattgefunden hat oder noch aussteht, mithin könne er überhaupt nicht stattfinden. Ein moderner Aristoteles würde ihm antworten, dass Veränderungen Zeit brauchen, also ihrer Natur nach nicht in ausdehnungslosen Zeitpunkten vorkommen können, sondern nur in Zeitintervallen.68 James: Principles, 524. Ebd. 67 »Moving an arm is not then the result of an act of will: it is an act of will« (Danto 1965, 148). 68 So auch Kant in der zweiten Analogie: »Also geschieht jeder Übergang aus einem Zustande in den andern in einer Zeit, die zwischen zwei Augenblicken enthalten ist […]« (B 253 / A 208). 65 66

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Plausiblerweise ist die Rede vom ›Anfang‹ einer Handlung systematisch mehrdeutig. Wird das spontane Anfangen einer Handlung als punktueller Beginn vorgestellt, so ist es kein Teil der Erscheinungswelt, denn in einem ausdehnungslosen Punkt kann nichts geschehen und auch nichts verursacht werden. Wird das Anfangen der Handlung hingegen als das Ausüben eines Vermögens vorgestellt, so handelt es sich um einen Vorgang in Raum und Zeit. Dagegen könnte man argumentieren, dass das Anfangen dann eine frühe Handlungsphase und mithin Teil der Handlung sei, so dass man deren genuinen Anfang erneut verfehlt habe. Doch wenn eine Frage, wie Kant sagen würde, an sich ungereimt ist, verleitet sie zu ungereimten Antworten. Es ist ein Kategorienfehler, etwas in der Welt der Erscheinungen zu suchen, was mathematisch punktförmig konstruiert ist. Die Suche nach einem mentalen Impuls, der als punktuelle Ursache der Handlung fungieren kann, ist zum Scheitern verurteilt.69 (iii) Was den Handlungsbegriff betrifft, so scheint er insofern ein transzendentalideales Element zu enthalten, als das Moment der Aktivität oder des Selbsttuns analytisch zum Handlungsbegriff gehört, sich aber einer begrifflichen Analyse beharrlich entzieht. Auch dies lässt sich am Beispiel des Rucks illustrieren, dessen es zum morgendlichen Aufstehen bedarf. Für jede Handlung braucht es einen kleinen Ruck, und für manche braucht es einen großen wie bei Kants oben erwähntem Intensivtäter, der bisher »bis zur Gewohnheit als anderer Natur« böse gewesen ist und nun »durch eine einzige unwandelbare Entschließung« sein Leben ändern und die Ordnung seiner Maximen umkehren muss (VI, 41 u. 47 f.). Nach Kant ist nun der erste Grund der Annahme einer Maxime »unerforschlich, weil er uns selbst zugerechnet werden muss« (VI, 43). Fragt die zur Besserung aufgeforderte Person nämlich, wie man es denn anstellt, sich einen Ruck zu geben, dann wird man ihr antworten müssen, dass alles, was dazu geschehen muss, dass der Ruck stattfindet, wiederum etwas ist, was sie tun muss. Sie muss sich diesen Ruck geben, und wenn sie fragt, was sie denn dazu tun soll, hat sie die Pointe der Aufforderung nicht verstanden. Wer da sagt ›Es muss ein Ruck durch mich gehen‹, wird lange warten. Eine Analyse des Rucks würde darauf hinauslaufen, den Begriff des Selbsttuns in begriffliche Komponenten zu zerlegen. Analysieren kann man aber nur etwas, was Komponenten hat. Alles Analysieren kommt dort an ein Ende, wo man auf Einfaches, nicht weiter Zerlegbares stößt. Irgendwann biegt sich unser Spaten zurück, weil wir einen Begriff oder ein Phänomen nicht mehr als aus Komponenten zusammengesetzt auffassen können. Es spricht viel dafür, dass der Begriff des Tuns zu den primitiven, nichtanalysierbaren Grundbegriffen unserer deskriptiven Metaphysik gehört. Das Moment von Aktivität oder Spontaneität, in dem das Ausführen einer Handlung über ihr bloßes Vorkommen hinausgeht, scheint nicht weiter analysierbar zu sein. Dafür spricht auch die lange Reihe gescheiterter ›Körperbewegung plus x‹-Analysen in der analytischen Handlungstheorie.

69

Vgl. dazu Keil 2001b, 466–473.

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Noch einmal: Alles, was ein Akteur dazu beitragen kann, dass seine Tat geschieht, müsste wiederum in Begriffen des Tuns, Vollziehens oder Ausführens beschrieben werden. Also kann man gleich dabei bleiben, dass der Handelnde eben etwas tut. Man kann nicht nur dabei bleiben, man sollte es auch, denn wenn man, um etwas zu tun, immer zuerst etwas anderes tun müsste, könnte es niemals dazu kommen, dass jemand etwas tut. (Dies war Ryles Argument gegen die Lehre von der Handlungsverursachung durch Willensakte.) Die begriffliche Irreduzibilität des Selbsttuns dürfte auch den kleinen wahren Kern des Modells der Akteurskausalität bilden. In ereigniskausalistischen Analysen des Handlungsbegriffs geht das Moment der Aktivität oder Spontaneität verloren, ohne das keine Körperbewegung eine Handlung ist. Es gibt mithin ein gewisses handlungstheoretisches Analogon der kausalitätstheoretisch unakzeptablen Idee der Erstverursachung. Wir sind erste Urheber unserer Handlungen, insofern alles, was in uns geschehen muss, damit die Handlung stattfindet − Maximenwahl, Unterordnung der Triebfedern, Willens- und Absichtsbildung, Entscheidung – wiederum »unsere eigene That« ist (VI, 31). Alle diese handlungsvorbereitenden mentalen Aktivitäten sind zurechenbare Handlungen. Ein bloßes Analogon der Erstverursachung nenne ich diesen Zusammenhang, weil man ihn besser ohne das kausale Idiom ausdrückt. Das Datiertheitsproblem für das substanzkausalistische Erstbewegermodell bleibt bestehen. In einem voranalytischen Sinn fangen wir Handlungen an und sind deren erste Urheber, aber diese Redeweisen rechtfertigen es nicht, kausale Verhältnisse zwischen Persistierendem oder gar Nichtzeitlichem und Okkurentem anzunehmen. Der Akteur spielt eine besondere und irreduzible Rolle, die in einer ereigniskausalen Analyse nicht eingefangen wird. Die Beziehung des Akteurs zu seiner Handlung ist sui generis – die Handlung muss vollzogen werden, sie ist seine und niemand anderem als ihm zurechenbar −, aber diese Besonderheiten sind keine kausalen Besonderheiten. Das Ausführen oder Vollziehen einer Handlung sollte nicht in der Terminologie des Verursachens beschrieben werden. Was der Akteur dazu tut, dass seine Handlung geschieht, tut er eben, aber er verursacht es nicht.

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Die positive Verteidigung Kants der Urteilsund Handlungsfreiheit, und zwar ohne transzendentalen Idealismus Kenneth R. Westphal

§ 1 Einleitung Aus Gründen, die ich an anderer Stelle herausgearbeitet habe,1 bin ich kein Vertreter des transzendentalen Idealismus Kants. Zum Glück muss davon hier nicht die Rede sein. Meine These lautet, dass Kant die Möglichkeit des freien menschlichen Urteilens und Handelns hinreichend gerechtfertigt hat, und zwar ohne den transzendentalen Idealismus heranzuziehen. Darum ist meine These neutral gegenüber den Fragen, ob, wie oder inwiefern der transzendentale Idealismus vertretbar ist.2 Zu meiner These gehören zwei methodologische Überlegungen: Einerseits müssen wir die Frage berücksichtigen, ob bzw. inwiefern Kant weitere, darunter vielleicht stärkere Beweisgründe anführt, als ihm gewöhnlich durch seine Kommentatoren und Kommentatorinnen zugeschrieben werden. Andererseits müssen wir auch die Frage berücksichtigen, ob bzw. inwiefern Kant eine gut bekannte These auf andere Weise rechtfertigt, als er sich vornimmt.3 Zur philosophischen Auswertung eines Textes gehören mindestens drei Grundfragen:

Siehe Westphal 2004. Auch von wohlwollenden Kommentatoren wurde gegen meine Rekonstruktion und Verteidigung von Kants transzendentalem Beweis des Realismus (sans phrase) eingewandt, dass ich ihm einen transzendentalen Realismus unterstellte – ganz entgegen seiner vierfachen Unterscheidung zwischen den empirischen und transzendentalen Bedeutungen von ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ und seiner damit verbundenen Ablehnung des transzendentalen Realismus (A 369 f., vgl. A 491–493 / B 519–521). Dieser Vorwurf scheitert daran, dass Kant diese vierfache Unterscheidung nur auf Grund des transzendentalen Idealismus rechtfertigt und rechtfertigen kann (wenn er sie überhaupt rechtfertigen kann). Diese vierfache Unterscheidung ist keine unabhängige bzw. selbstständige Prämisse, auf deren Grundlage andere Ansichten zu bewerten wären. Der Vorwurf unterstellt Kant eine grobe petitio principii, die Kant allerdings nicht begeht, und vernachlässigt, wie ich Kants Beweise und Beweisarten für den transzendentalen Idealismus streng intern kritisiert habe. Diese Gegner setzen gerade das noch voraus, was ich schon kritisiert und m. E. widerlegt habe. 3 Ich verwende das Wort ›Rechtfertigung‹ (und dergleichen) um mich auf tatsächliche, erfolgreiche kognitive Rechtfertigung zu beziehen. ›Begründen‹ unterscheidet nicht zwischen 1 2

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1. Was beabsichtigt ein(e) Philosoph(in) nachzuweisen? 2. Wie und inwiefern hat ein(e) Philosoph(in) das Beabsichtigte schlüssig nachgewiesen? 3. Mit Blick auf die eigenen Prämissen, Prinzipien, Analysen und Ausführungen – darunter auch Argumente bzw. Beweise – was genau hat ein(e) Philosoph(in) eigentlich, sei’s auch unabsichtlich, nachgewiesen? Der dritten Frage zufolge müssen wir immer die Möglichkeit berücksichtigen, dass ein(e) Philosoph(in) in der Tat anderes und dies auch besser nachweist, als sie/er vorhatte. In meinem Buch habe ich dafür argumentiert, dass Kant mehrfach bessere und philosophisch wichtigere Ansichten gerechtfertigt hat, als er selbst beabsichtigt hat – so stark sind die Argumente Kants.

§ 2 Warum die Kritik der reinen Vernunft den durchgehenden Kausaldeterminismus physischer Ereignisse überhaupt nicht gerechtfertigt hat Kant befürwortet mehrfach den durchgehenden Kausaldeterminismus im ganzen Bereich der physischen, das heißt raumzeitlichen Gegenstände und Ereignisse. Er behauptet oftmals auch, ihn nachgewiesen zu haben. Aber hat er den universalen Kausaldeterminismus – diesen Ausdruck verwende ich im Folgenden als Abkürzung des vorigen – wirklich nachgewiesen? Eine Reihe von Überlegungen, die ich hier nur kurz zusammenfassen möchte, spricht deutlich dagegen.

§ 2,1 Das Prinzip des universalen Kausaldeterminismus wird weder in der Kritik der reinen Vernunft noch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft gerechtfertigt Das einzige Kausalprinzip, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft überhaupt erwägt – und daher auch das einzige Kausalprinzip, um dessen Nachweis er sich dort bemüht –, ist das allgemeine Prinzip, dass jedes Ereignis eine zureichende Ursache hat. Das Problem ist, dass dieses Prinzip für die Analogien der Erfahrung prinzipiell nicht ausreicht: Die Grundsätze der Analogien der Erfahrung fordern das differenziertere Prinzip, dass jedes physische (das heißt raumzeitliche) Ereignis eine äußerliche und zwar physische Ursache hat. Ich unterscheide diese zwei Kausalprinzipien terminologisch als das ›allgemeine‹ bzw. das ›spezifische‹ Kausalprinzip. Das spezifische Kausalprinzip formuliert Kant nur in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, wo er bestätigt, dass sich dieses Prinzip gar nicht transzendental rechtfertigen lässt und darum eines besonderen metaphysischen Beweises ›erfolgreicher‹ und ›erfolgloser‹ Rechtfertigung. ›Belegen‹ ist auch zu schwach, weil sich ein Erkenntnisanspruch auch dann ›belegen‹ lässt, wenn er zur Erkenntnis nicht hinreicht.

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bedarf, den Kant dort auch zu liefern versucht.4 Das zweite Hauptproblem ist, dass sein Beweis des spezifischen Kausalprinzips in den Anfangsgründen scheitert. Sein Beweis muss die Möglichkeit des Hylozoismus grundsätzlich, und zwar aus kritisch-metaphysischen Gründen, zurückweisen, obwohl Kants Ablehnung des Hylozoismus letztlich auf eine bloß empirische Unwissenheit in Bezug auf die Wahrheit des Hylozoismus hinausläuft. Eine solche Rechtfertigung gestattet weder Kants Transzendentalphilosophie noch seine kritische Metaphysik. Aber ohne das spezifische Kausalprinzip zu rechtfertigen ist Kant gar nicht imstande, auch den universalen Kausaldeterminismus durch seinen transzendentalen Idealismus oder durch seine kritische Metaphysik zu rechtfertigen (Westphal 2004, §§ 30–58). Andererseits ist das spezifische Kausalprinzip tatsächlich transzendental zu rechtfertigen, und zwar indem man Kants kognitive Semantik der singulären Gegenstandsbezogenheit heranzieht (Westphal 2004, §§ 7, 8, 36, 62, 63). Aber diese Beweisart rechtfertigt nicht den universalen Kausaldeterminismus. Die wesentlichen Gründe dafür werden weiter unten thematisiert (§§ 2,3–5). Zuerst soll eine Passage aus der ersten Erfahrungsanalogie berücksichtigt werden.

§ 2,2 Obwohl Kant behauptet, den durchgehenden Kausaldeterminismus durch die transzendentale Analytik gerechtfertigt zu haben, hat er ihn dort nicht bewiesen Bekanntlich behauptet Kant in der ersten Analogie der Erfahrung Folgendes: »Veränderung kann daher nur an Substanzen wahrgenommen werden, und das Entstehen oder Vergehen schlechthin, ohne daß es bloß eine Bestimmung des Beharrlichen betreffe, kann gar keine mögliche Wahrnehmung sein, weil eben dieses Beharrliche die Vorstellung von dem Übergange aus einem Zustande in den andern und vom Nichtsein zum Sein möglich macht, die also nur als wechselnde Bestimmungen dessen, was bleibt, empirisch erkannt werden können. Nehmet an, daß etwas schlechthin anfange zu sein, so müßt ihr einen Zeitpunkt haben, in dem es nicht war. Woran wollt ihr aber diesen heften, wenn nicht an demjenigen, was schon da ist? Denn eine leere Zeit, die vorherginge, ist kein Gegenstand der Wahrnehmung; knüpft ihr dieses Entstehen aber an Dinge, die vorher waren und bis zu dem, was entsteht, fortdauern, so war das letztere nur eine Bestimmung des ersteren als des Beharrlichen. Eben so ist es auch mit dem Vergehen: denn dieses setzt die empirische Vorstellung einer Zeit voraus, da eine Erscheinung nicht mehr ist«.5 Nach Jahrzehnten mühsamer Erforschung der kritischen Philosophie Kants mitsamt der diesbezüglichen Sekundärliteratur habe ich keinen schlüssigen Beweis für 4 5

IV, 543.22–25, vgl. Kritik der Urteilskraft, V, 181.15–31. A 188 / B 231 (Hervorhebung K. R. W.); vgl. A 206, 542 f. / B 251, 570 f.

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die von mir hervorgehobene These Kants gefunden. Das mag überraschen, doch bin ich nicht der einzige Kantforscher, der in dieser Sache mit leeren Händen dasteht.6 Der Fehler Kants in dem angeführten Argument ist, dass die Unmöglichkeit einer menschlichen Erfahrung von einer »leeren Zeit« die Unmöglichkeit unseres, obzwar nur gelegentlichen, Gewahrwerdens eines Etwas, dass »schlechthin anfange zu sein«, gar nicht ausschließt. Es könnte uns beispielsweise jetzt in der Mitte dieses Zimmers ein ganz unerwarteter, geräuschloser, wärmeloser, in jeder anderen Hinsicht wirkungsloser Farbenblitz begegnen. Obwohl wir ihn unvermeidlich für irgendwie verursacht halten, und obwohl wir dieses Vorkommnis einigermaßen datieren und im Raum – eben hier in diesem Zimmer – lokalisieren, wäre weder logisch noch transzendental und auch nicht kritisch-metaphysisch auszuschließen, dass es, ganz ohne Ursache, einfach passiert ist – genauso wie ein zufällig auftretender humescher Sinneseindruck (der auch nach Hume unabhängig von einem Gemüt existieren kann).7 Vollständig kann ich diese Pointe hier nicht rechtfertigen, aber zu ihrer Plausibilisierung lässt sich dieses anführen: Sie ist zum einen eine Konsequenz der Grundbestimmung der kritischen Philosophie, dass die Funktionsweise des menschlichen Gemüts nur für die Form, aber nicht für die Materie der Erfahrung Verantwortung trägt. Zum anderen ist sie eine Konsequenz des Rechtfertigungsfallibilismus Kants in Bezug auf empirische Erkenntnisurteile (A 766 f. / B 794 f.). Wie Kant ausdrücklich bestätigt, entspricht dem der eigentlich transzendentale Schluss, dass wir keine Erkenntnis solcher unverursachten sinnlichen Vorkommnisse erlangen können.8 Dieser Schluss ist aus Gründen, die nun zu erläutern sind, echt transzendental.

§ 2,3 Der transzendentalen Analytik zufolge musste Kant den universalen Kausaldeterminismus nicht beweisen Dass Kant den Kausaldeterminismus nicht transzendental beweisen musste ist eine grundlegende Pointe, die gewöhnlich durch ungenaue Berücksichtigung von Kants Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien sowie ihrer jeweiligen Gebrauchsweise und ihrer Bereiche verloren geht. Konstitutiv ist nämlich

Vgl. Harper 2007, 730 f. Kants Pointe bezüglich einer leeren Zeit ist jedoch in der Auflösung der kosmologischen Idee vom Belang: »[...] so müßte eine Wahrnehmung der Begrenzung durch schlechthin leere Zeit, oder leeren Raum, möglich sein, durch welche diese Weltenden in einer möglichen Erfahrung gegeben wären. Eine solche Erfahrung aber, als völlig leer an Inhalt, ist unmöglich. Also ist eine absolute Weltgrenze empirisch, mithin auch schlechterdings unmöglich« (A 521 / B 549). 8 A 200–202 / B 245–247; III, 172.2–20. Weitere Beispiele solcher tranzendental bzw. metaphysisch möglichen, beobachtbaren aber unverursachten Vorkommnissen sind in Westphal 2004, §§ 56 f. erwähnt. 6 7

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das spezifische Kausalprinzip in Bezug auf jede Instanz der apperzeptiven menschlichen Erfahrung, worin es jemandem bloß erscheint, dass etwas vor, während oder nach etwas anderem geschehe. Kants transzendentalen Beweis dieser These habe ich an anderer Stelle als schlüssig verteidigt.9 Der Kürze halber bezeichne ich diese als Kants ›transzendentale Kausalthese‹. Sie besagt, dass einem Menschen in jeder Instanz der Apperzeption genügend kausal wechselwirkende physische Substanzen und Ereignisse bewusst sind, um sich von ihnen unterscheiden zu können und sich selbst wie auch diese (wenn auch vielleicht nur ungenau) zu differenzieren und zu identifizieren. Diese transzendentale Kausalthese lässt aber offen, ob diesem Menschen in diesem Raum-Zeit-Abschnitt vielleicht auch andere, nicht verursachte Ereignisse zu Bewusstsein kommen. Woran liegt das? Wir müssen, so wie Kant selbst es an anderen Stellen tut (VI, 324; VII, 415; XVIII, 225, 390, 528), zwischen distributiver und kollektiver Allgemeinheit unterscheiden. Der transzendentalen Kausalthese hat Kant zwar eine distributive, aber keine kollektive Allgemeinheit zugestanden. Welchen raumzeitlichen Umfang die apperzeptive Erfahrung eines jeden Menschen hat, bleibt transzendental ganz und gar unbestimmt, weil dieser Umfang transzendental schlicht unbestimmbar ist. Dieser Fall entspricht demjenigen der transzendentalen Affinität des Sinnesmannigfaltigen.10 In beiden Fällen ist ein Minimalgrad der Affinität des Sinnesmannigfaltigen einerseits, sowie der erkennbaren Kausalität zwischen raumzeitlichen Individuen andererseits, transzendental-konstitutiv notwendig, und das obwohl dieser Grad in keinem Fall a priori und auch nicht transzendental bestimmt werden kann. Kants Transzendentalbeweisen zufolge müssen wir Menschen (wenn auch in ›subpersonaler‹ Weise) imstande sein, eine ausreichende Affinität innerhalb des uns vorkommenden Sinnesmannigfaltigen sowie ausreichende Kausalverhältnisse unter uns vorkommenden Gegenständen und Ereignissen zu identifizieren, sodass wir zu einer einheitlichen Apperzeption gelangen können. Das hat Kant m. E. folgerichtig bewiesen, und das ist schon viel.11 Aber das macht uns keineswegs allwissend in Bezug auf uns vorkommende Ereignisse. Über diesen transzendentalen Minimalgrad hinaus kann der von uns erkennbare Umfang der Kausalität unter raumzeitlichen Individuen nur empirisch bestimmt werden, und zwar unter dem regulativen Gebrauch des spezifischen Kausalprinzips in der Nachforschung der Natur – ganz gleich, ob es sich um alltägliche, forensische oder naturwissenschaftliche Kausalrelationen handelt. Kant hat zu Recht den Analogien der Erfahrung auch eine regulative Funktion zugeschrieben (A 132, 179 f. / B 171, 222). Diese regulative Funktion des spezifischen Kausalprinzips spiegeln auch Kants Anmerkungen zur Antinomienlehre wider.12 Demzufolge ist der univerSiehe Westphal 2004, bes. §§ 62 f. Siehe Westphal 2004, §§ 15–29. 11 Dieser Schluss reicht dazu hin, die globale Wahrnehmungsskepsis zu widerlegen. 12 A 494–496, 509, 521–523, 628 f., vgl. 663 f., 669 f. / B 522–524, 537, 549–552, 656 f., vgl. 691 f., 697 f. 9

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sale Kausaldeterminismus aus transzendentalen Gründen nicht zu bejahen. Insofern kann uns der universale Kausaldeterminismus aus transzendentalen Gründen auch nicht unserer Handlungsfreiheit berauben.

§ 2,4 Kants kognitive Semantik und das spezifi sche Kausalprinzip Kurz gesagt genügt das allgemeine Kausalprinzip für Kants Transzendentalanalyse deshalb nicht, weil Kant sich mit dieser Analyse sowohl von der Monadologie als auch vom Okkasionalismus abgrenzen oder diese sogar widerlegen muss, obwohl beide das allgemeine Kausalprinzip ganz entschieden bejahen. Kant ist sich dieser Sachlage bewusst (A 206 / B 251 f.). Nicht explizit, aber implizit gelingt es Kant in seiner Transzendentalanalyse, aufgrund seiner aufschlussreichen Theorie der singulären kognitiven Gegenstandsbezogenheit das allgemeine vom spezifischen Kausalprinzip abzugrenzen und das spezifische Kausalprinzip zu beweisen. Der transzendentalen Ästhetik mitsamt dem Amphibolie-Kapitel entstammt diese für die Erkenntnistheorie fundamentale Einsicht: Beschreibungstheorien der ›Referenz‹ – bzw. Theorien der ›Referenz‹ durch begriffliche Inhalte (Intensionen) eines Satzes bzw. einer Aussage – sind für menschliche Erkenntnis von raumzeitlichen Individuen prinzipiell ungenügend, weil diese Theorien nicht bestimmen können, ob einer Beschreibung mehrere Gegenstände, nur einer oder kein Gegenstand entsprechen.13 Um solche Erkenntnis zu erlangen, ist es unter anderem erforderlich, dass man das angeblich erkannte Individuum bzw. die angeblich erkannten Individuen in Raum und Zeit lokalisiert und es von seiner bzw. sie von ihrer Umgebung differenziert. Menschliche Erkenntnis von raumzeitlichen Individuen setzt Prädikation anhand des lokalisierten Individuums bzw. der lokalisierten Individuen voraus. Also genügen bloße Beschreibungen (usw.) keineswegs zur Zuschreibung (Prädikation). Sie genügen darum auch nicht zur Erkenntnis, die darüber hinaus hinreichende Rechtfertigung fordert. Als Korrolar zu dieser kognitiven Semantik der singulären Gegenstandsbezogenheit folgt darüber hinaus, dass wir genau dann imstande sind, das allgemeine Kausalprinzip kognitiv auf raumzeitliche Individuen zu beziehen, wenn wir imstande sind, das spezifische Kausalprinzip kognitiv auf sie zu beziehen. Auf diese Weise sind Kants Grundsätze in den Analogien der Erfahrung schlüssig und durch eine echte Transzendentalanalyse zu untermauern (Westphal 2004, §§ 8, 62).14 Hier geht es ausdrücklich um theoretische Erkenntnis. Moralische bzw. transzendentale Erkenntnisse müssen andere Bedingungen der Gegenstandsbezogenheit zur Identifizierung von einzelnen Personen bzw. Erkenntnisvermögen erfüllen. 14 Es ist wichtig zu betonen, dass Kants Analyse sich nicht auf einen Begriffs- bzw. Verifikationsempirismus stützt. Stattdessen hat er das Hauptziel des Verifikationsempirismus erfüllt, aber durch eine kognitive Semantik, die sich zwangslos mit Begriffen a priori – wie auch mit Kants Art der Transzendentalanalyse – verträgt. 13

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Umgekehrt hat Kants kognitive Semantik der singulären Gegenstandsbezogenheit zur Folge, dass in nicht rein formalen, sondern substantiven Bereichen bloß logischen Möglichkeiten gar kein kognitiver Status zukommt (Westphal 2011b). Innerhalb der nicht rein formalen, sondern substantiven Bereiche, das heißt innerhalb des Bereichs der Empirie wie auch der Moral, reichen bloß logische Möglichkeiten nicht dazu hin, die kognitive Rechtfertigung eines gegebenen empirischen bzw. moralischen Anspruchs zu unterminieren. Diese These gehört zu Kants tiefgreifendem Anti-Cartesianismus (Westphal 2007). Zur Rechtfertigung bzw. zur Bewertung eines gegebenen substantiven Anspruchs gehören bestimmte Beweisgründe, seien dies nun Beweisgründe dafür oder dagegen. Genau darum stellt die kausaldeterministische Behauptung, dass eine jede menschliche Entscheidung bzw. Handlung, soweit wir wissen, kausal vollkommen bestimmt ›sein könnte‹, eine unbegründete, kognitiv leere Anmaßung dar.

§ 3 Die naturwissenschaftliche Weltauffassung Der universale Kausaldeterminismus in Raum und Zeit ist für die neuzeitliche ›naturwissenschaftliche Weltauffassung‹ grundlegend. In Bezug auf kausale Theorien des Geistes (›philosophy of mind‹) bleibt sie ebenso aktuell wie in der noch heikleren Debatte um menschliche Handlungsfreiheit und Kausaldeterminismus. Aber es lässt sich fragen: Inwieweit ist diese Weltauffassung eigentlich naturwissenschaftlich? Dabei geht es nicht um den zunehmenden Rekurs vieler Natur- und Sozialwissenschaften auf statistische Ergebnisse, und auch nicht um den Wandel zur nicht-klassischen, also nicht-deterministischen Mechanik. Auch wenn wir besondere Verwendungsbereiche berücksichtigen müssen, lässt sich Folgendes doch mit Recht fragen:

§ 3,1 Wie bzw. inwieweit ist die These des universalen Kausaldeterminismus kognitiv gerechtfertigt? Logisch wahr (bzw. falsch) ist diese These nicht; ihre Verneinung erzeugt keinen logischen Widerspruch (und auch keine logische Wahrheit). Transzendental bzw. kritisch-metaphysisch ist sie nicht gerechtfertigt worden (§ 2). Auch empirisch ist sie nicht gerechtfertigt worden, und zwar aus prinzipiellen Gründen: Weil sie ein Allsatz ist, bezieht sie sich auf alle raumzeitlichen Phänomene als solche, und nicht nur auf diejenigen, die wir (sei es auch als Spezies) beobachten, oder auf diejenigen, die wir bisher beobachtet haben. Empirisch ist diese These als Allsatz nicht zu rechtfertigen. Kant bietet eine aufschlussreiche Analyse dieses Umstands an: Die These des universalen Kausaldeterminismus ist ein materiales Prinzip, das beansprucht, alle raumzeitlichen Vorkommnisse einzubeziehen; es beansprucht kollektive und nicht nur distributive Allgemeinheit. Genau darum gilt dieses Prin-

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zip als Vernunftidee im Kantischen Sinn: Es handelt sich um ein Prinzip, das durch menschliche Erfahrung nicht beweisbar ist, sondern dem man sich bestenfalls annähern kann – und zwar durch kausale Erforschung je eines Ereignisses samt den es erklärenden naturwissenschaftlichen Gesetzen und Ursachen. Insofern beraubt uns die These des universalen Kausaldeterminismus nicht unserer Freiheit. Umgekehrt: Was wird gefordert, um den Kausaldeterminismus in Bezug auf je eine Instanz (distributiv) zu rechtfertigen? Nichts weniger als eine lückenlose Kausalerklärung des einzelnen Ereignisses, die seine bestimmten, zureichenden Ursachen erschließt. Nur eine solche Kausalerklärung liefert die eigentlichen Beweisbzw. Rechtfertigungsgründe der Behauptung des Kausaldeterminismus in diesem Fall. Nur eine solche Kausalerklärung reicht dazu hin, jede angebliche ›Kausalität aus Freiheit‹ in Bezug auf dieses Ereignis auszuschließen. Solche hinreichenden Kausalerklärungen sind durch die Naturwissenschaften in vielen Forschungsbereichen geliefert worden. Aber bisher hat niemand eine echte, zureichende Kausalwissenschaft des menschlichen Handelns begründet. Bisher hat niemand eine ausreichende, lückenlose, rein kausale Erklärung auch nur einer einzigen menschlichen Handlung aufgewiesen. Das ist keine ›nicht wissenschaftliche‹ bzw. ›unwissenschaftliche‹ Aussage, obwohl sie der ›naturwissenschaftlichen Weltauffassung‹ zutiefst zuwiderläuft. Die eigentlich wissenschaftliche Einstellung ist es, die Bejahung der These des universalen Kausaldeterminismus genau nach den wissenschaftlichen Ergebnissen hinreichender Kausalerklärungen zu bemessen: Nur bis zu diesem Grad ist der Kausaldeterminismus gerechtfertigt und erkannt worden. Darüber hinaus aber nicht – alles weitere ist Erwartung oder sogar Anmaßung. Die Verfechter des Kausaldeterminismus in Bezug auf menschliche Handlungen vertreten keine kognitiv gerechtfertigte These. So betrachtet sind angeblich kausale Theorien des menschlichen Handelns nur pseudowissenschaftlich. Bestenfalls sind sie eine bloße Hypothese.15 Die Sachfrage bezüglich unserer Handlungsfreiheit lässt sich hypothetisch stellen: Einmal angenommen, dass menschliche Handlungen durchgehend kausal determiniert sind – ist es möglich, dass sie zugleich freie Handlungen sind? Aber wie wir eine solche Frage sinnvoll untersuchen oder auch nur präzise formulieren können, ohne zuerst zu wissen, ob bzw. wie sich menschliche Handlungen durchgehend (oder auch nur weitgehend) kausal erklären lassen, verstehe ich offen gestanden nicht. Auch in diesem Fall sollten Philosophen und Philosophinnen die Voraussetzungen der eigenen Fragestellungen sehr genau prüfen und unserer Unwissenheit in der Sache Rechnung tragen. Diese Sache erfordert Nachforschungen, nicht Vorentscheidungen. Wie Earman (1986) en detail herausgearbeitet hat, ist der genaue Gehalt der Lehre des Kausaldeterminismus selbst sehr schwierig zu fassen. Earman findet die Diskussionslage zur Willens- und Handlungsfreiheit höchst unbefriedigend, obwohl Aber sie ist damit noch lange nicht eine naturwissenschaftliche Hypothese; siehe Westphal 2011b. 15

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er behauptet, dass eine geeignete Lösung des Problems der Willens- und Handlungsfreiheit damit verträglich sein muss, dass eine kausal erklärende Wissenschaft menschlichen Handelns »möglich [...] ist«16. Seine Behauptung nimmt also weit im Voraus genau das an, was nur aufgrund einer noch zu entwickelnden, vollständig kausal erklärenden Naturwissenschaft, die das menschliche Handeln zum Gegenstand hätte, gerechtfertigt werden könnte.17 Naturwissenschaftlich gesehen ist seine (exemplarische) Behauptung extrem übereilt; sie ist gar keine Tatsachenerkenntnis. Und was ist daran unbefriedigend? Die oben genannten Rechtfertigungsarten der These des Kausaldeterminismus sind noch nicht vollständig. Es lässt sich schließlich noch fragen: Ist diese These pragmatisch zu rechtfertigen? Allerdings – aber nicht zugunsten des Kausaldeterminismus in Bezug auf menschliches Handeln. Erstens sind wir von Peirce darauf hingewiesen worden, dass wir in der wissenschaftlichen Erforschung der Natur wie auch der Gesellschaft nicht von Universalien, sondern von bloßen Allgemeinheiten – nicht »universals« sondern »generals« – Gebrauch machen müssen. Die Begründung dafür ist zum einen, dass wir prinzipiell keine Universalaussage (das heißt keinen Allsatz) vollständig durch empirische Belege rechtfertigen können; zum andern liegt sie auch darin, dass wir im Voraus nicht entscheiden (und umso weniger mit kognitiver Rechtfertigung bestimmen) können, ob es sich bei angeblichen Ausnahmefällen bloß um empirische Unwissenheit in Bezug auf eine Universalie oder um eine nicht vollkommen erkannte Allgemeinheit oder um ein rein statistisches Phänomen handelt. Ebensowenig wissen wir, ob und in welchem Maß sich die von uns bisher belegten Tendenzen weiter bestätigen lassen. Zweitens lässt sich das Prinzip des universalen Kausaldeterminismus sehr gut methodologisch begründen – dann aber als pragmatische, genauer als regulative Voraussetzung der kausalen Untersuchung der Natur bzw. der Gesellschaft überhaupt, nicht aber als kognitiv gerechtfertigte, konstitutive Tatsache. Hierin ähnelt der Fall Reichenbachs (1977) Induktionsregel (»straight rule«): Eine solche einfache Uniformitätsregel wird von jeweils einer Art induktiver Verfahren vorausgesetzt; also ist die Induktionsregel für eine induktive Art der Untersuchung jeweils dadurch grundlegend, dass sich die Untersuchung gar nicht formulieren lässt, ohne Reichenbachs Induktionsregel heranzuziehen. Ganz analog lässt sich eine kausale Untersuchung jeweils nur unter der Voraussetzung der These des universalen Kausalprinzips zutreffend formulieren. Wenn es also überhaupt möglich ist, durch kausale und erklärende Untersuchung der Natur bzw. der Gesellschaft Kausalverhältnisse zwischen Begebenheiten zu identifizieren, lassen sich diese nur durch Methoden und Verfahren darstellen, denen dieses Prinzip zugrunde liegt. Insofern ist dieses Prinzip ein regulatives Prinzip der kausalen Erforschung der Natur bzw. der Gesellschaft und sogar des menschlichen Handelns. So wird es zuletzt von Kant selbst als Earman 1986, 245–247. Hierbei übergehe ich der Einfachheit halber Fragen nach ausreichenden Informationen über einzelne Handlungsinstanzen. 16 17

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regulatives Prinzip aufgestellt. Das geschieht in den Prinzipien der Analogien der Erfahrung,18 aber der Gedanke findet sich schon vor Kant genauso bei Laplace.

§ 3,2 Universaler Kausaldeterminismus als regulatives Prinzip schon bei Laplace Nach dem Vorbild der deterministischen klassischen Mechanik beansprucht das neuzeitliche mechanistische Weltbild eine durchgängig mechanistische Erklärung der gesamten Natur einschließlich des Menschen als eines Naturwesens zu liefern. Es handelt sich also um eine Auffassung von der Welt, die auf dem angeblichen Gesetz des zureichenden Kausalgrundes beruht. In einer berühmten Passage hat Laplace diese Auffassung so zusammengefasst: »Wir müssen daher den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines vorigen Zustandes und die Ursache des noch folgenden ansehen. Gäbe es einen Verstand, der für einen gegebenen Augenblick alle die Natur belebenden Kräfte und die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Wesen kennte und zugleich umfassend genug wäre, diese Data der Analysis zu unterwerfen, so würde ein solcher die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms durch eine und dieselbe Formel ausdrücken; für ihn wäre nichts ungewiß; vor seinen Augen ständen Zukunft und Vergangenheit.«19 Damals wie heute wird diese Auffassung weitgehend assertorisch verstanden, als Bejahung der de-facto-Wahrheit des durchgehenden Kausaldeterminismus im gesamten Raum-Zeit-Bereich. Auch Kant hat diese Weltauffassung mehrfach befürwortet. Darum ist es wichtig zu betonen, dass Laplace selbst sich nicht dogmatisch ausgedrückt hat: Seine Aussage ist subjunktiv, kontrafaktisch und qualifiziert. Der von Laplace vorgestellte »Verstand« ist subjunktiv formuliert; das Weltall, von dem dieser Verstand Kenntnis haben soll, ist auch subjunktiv formuliert. Aber am Wichtigsten ist, dass Laplace ausdrücklich schreibt – wie die deutsche Übersetzung richtig wiedergibt – dass wir den gesamten Weltzustand so »ansehen [...] müssen« (»Nous devons donc envisager«). Laplace schreibt nicht, dass wir Naturbegebenheiten so »ansehen müssen«, weil sie allesamt so beschaffen sind. Assertorisch äußert er sich nur in Bezug auf gegenwärtige Ereignisse, indem er (unmittelbar vor der

Vgl. A 179 f. / B 222, wo Kant erklärt, warum diese Prinzipien als »Analogien« gelten. Laplace: Versuch, 3 f. – »Nous devons donc envisager l’état présent de l’univers, comme l’effet de son état antérieur, et comme l’effet de son état antérieur, et comme la cause de celui qui va suivre. Une intelligence qui pour un instant donné, connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée, et la situation repective des êtres qui la composent, si dáilleurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l’analyse, embrassereit dans la même formule, les mouvemens des plus grands corps de l’univers et ceux du plus léger atome: rien ne serait incertain pour elle, et lávenir comme le passé, serait présent à ses yeux« (Laplace: Essai, 3 f.). 18 19

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zitierten Passage) schreibt, es sei »evident«, dass sie von den vorangehenden hervorgebracht worden sind. Bewiesen worden ist der universale Kausaldeterminismus indessen durch die bloße Aussage des ›Gesetzes‹ des zureichenden Kausalgrundes nicht – tatsächlich ist ›Gesetz‹ eine Fehlbezeichnung eines Prinzips, das zwar eine notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen – auch der alltäglichen oder sogar der forensischen – Kausaluntersuchung von Begebenheiten jeglicher Art ist. ›Gesetz‹ dürfte dieses Prinzip aber erst dann heißen, wenn es in jedem Fall durch nachgewiesene, lückenlose Kausalerklärungen gerechtfertigt worden ist. Im Original hat Laplace hier zu Recht das Wort »principe«, nicht ›Gesetz‹, verwendet; hierin hat sich der Übersetzer Langsdorf geirrt, und zwar zugunsten des mechanistischen Weltbilds, aber nicht zugunsten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Das Prinzip des zureichenden Grundes (»principe de la raison suffisante«) ist ein regulatives Prinzip der Kausaluntersuchung jeglicher Art, das sich nur von Fall zu Fall als gerechtfertigt erweisen lässt, aber kein erwiesenes, assertorisch zu bejahendes konstitutives Prinzip des Weltalls. So hat schon Laplace die Sachlage dargestellt.20 Das Prinzip des zureichenden Kausalgrundes für ein Gesetz des zureichenden Kausalgrundes zu halten ist ein wichtiges Beispiel der transzendentalen Subreption. Eine solche Subreption besteht in der Missdeutung eines regulativen Prinzips als eines konstitutiven, wobei wir wegen unzulänglicher Ausübung unserer Urteilskraft das, was notwendig zu unserer Vorstellungsart gehört, einem angeblich erkannten Gegenstand als sein Charakteristikum beilegen.21 Ich habe die hier hervorgehobene, prima vista wissenschaftsmethodologische Subreption ohne Weiteres als eine transzendentale Subreption bezeichnet, weil man nach Kants Analyse die erste aufgrund der zweiten begeht. Insofern es für den menschlichen Verstand aufgrund der Kategorie und des Schemas der Kausalität grundlegend ist, gegenwärtige Vorkommnisse als Wirkungen der vorangehenden und als Ursachen der nachfolgenden zu betrachten, und wir diese Vorkommnisse als solche kausal zu untersuchen und zu verstehen bestrebt sind, müssen wir das Prinzip des universalen Kausaldeterminismus voraussetzen. Aber wir neigen dabei auch unvermeidlich dazu, dieses Prinzip als konstitutives Gesetz misszuverstehen. Genau das zeigt sich bei Earman exemplarisch. Dass Laplace das Prinzip des zureichenden Kausalgrundes nicht als ein Faktum, noch weniger als ein erkanntes ›Gesetz‹, sondern als methodologisches, regulatives Prinzip (»principe«) aufstellt, wird durch die Betrachtung der Aufgabe seiner Schrift untermauert. Wozu erwähnt er das Prinzip des zureichenden Kausalgrundes gleich am Anfang seines Essai philosophique sur les probabilités? Ohne vorauszusetzen, dass die Natur Regelmäßigkeiten aufweist, ist es zwecklos, auch nur statistische Naturforschung zu betreiben. Aber die hierzu nötige Voraussetzung ist nicht nur das Prinzip des zureichenden Kausalgrundes, sondern darüber hinaus dasjenige, Dies hätte ich in meinem Buch ausdrücklich anmerken sollen (Westphal 2004, 241). Zum Thema »transzendentale Subreption« siehe A 509, 582 f., 619 f., 643 f. / B 537, 610 f., 647 f., 671 f. 20 21

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dass ›normalerweise‹ Instanzen einer Ereignisart auch Instanzen einer Ereignisart als Ursachen haben. Laplace vertritt allerdings die These des universalen Kausaldeterminismus und hat zu ihrer Rechtfertigung innerhalb der Physik sehr bedeutsame Ergebnisse beigetragen. Insofern stellt die kausaldeterministische Weltauffassung ein naturwissenschaftliches Forschungsprogramm dar. Das Prinzip des zureichenden Kausalgrundes bleibt dabei ein methodologisches, regulatives Prinzip derartiger Naturforschung, aber als solches ist es keine naturwissenschaftlich begründete Tatsachenerkenntnis. Laplace hat eine subtilere Haltung eingenommen als gewöhnlich erkannt wird. Eine weitere Subtilität wird erforderlich, sobald wir versuchen, das Kausalprinzip auf die menschliche Psychologie zu beziehen.

§ 3,3 Psychologie und kausal erklärende Naturwissenschaft Earman (1986, 249) möchte »eine ausführlichere, detailliertere Phänomenologie der ›freien Wahl‹« haben, als uns bisher vorliegt. Wünschenswert wäre so eine Phänomenologie allerdings, aber in dieser Debatte wird sie doch belanglos bleiben – besonders dann, wenn diese ›Phänomenologie‹ durch Kausaldeterministen rein introspektiv verstanden wird (so wie bei Earman). Auch bei einer noch so ausführlichen phänomenologischen Beschreibung einer freien Wahl wird das Beschriebene durch Deterministen als eine bloße Menge von Gemütszuständen betrachtet, die durch vorangehende Zustände oder Ereignisse in irgendeiner, kausal zureichenden Weise hervorgebracht worden sind. Eine solche Vermutung gründet sich in der Tat auf den bloßen Begriff oder sogar das Schema der Kausalität. Insofern ist eine solche Vermutung nicht zu vermeiden. Aber so lange, bis die Hypothese durch bestimmte, positive Evidenzen auch angemessen belegt worden ist, ist sie für die Debatte um Willens- und Handlungsfreiheit und Kausaldeterminismus prinzipiell ungenügend. Die bloß logische bzw. ›begriffliche‹ Möglichkeit, dass eine solche Vermutung wahr sein könnte, ist kognitiv transzendent. Einen Wahrheitswert können wir einer substantiellen, nicht aus logischen Gründen wahren Vermutung nur dann zuweisen, wenn sie durch empirische Evidenzen auf konkrete, von uns lokalisierte Phänomene bezogen wird. Also werden solche bloßen Kausalvermutungen durch Kants kognitive Semantik der singulären Gegenstandsbezogenheit entkräftet. Diese kognitiv-semantische Abgrenzung unserer vermeintlichen Kausalurteile über die Gesamtheit der menschlichen Entscheidungen wird durch Kants Abgrenzung des raumzeitlichen Bereichs als des Bereichs kognitiv legitimer Kausalurteile noch untermauert. Es ist ein entscheidendes, wenn auch nur wenig beachtetes Korollar der Analogien der Erfahrung, über das Kant selbst erst während der Arbeiten an den Anfangsgründen Klarheit gewinnt, dass wir legitime Kausalurteile nur in Bezug auf raumzeitliche Ereignisse fällen können. Die drei Prinzipien des menschlichen kausalen Urteilens, die Kant in den Analogien beweist, sind so eng miteinander verbunden, dass wir nur dann auf der Grundlage eines der drei Prinzipien ur-

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teilen können, wenn wir die zwei anderen miteinbeziehen. Der Grund dafür ist, dass unsere Kausalurteile diskriminierend sind: Wir können ein Kausalvorkommnis jeweils nur dadurch richtig und gerechtfertigt identifizieren, dass wir es von anderen kausal möglichen Szenarien richtig und gerechtfertigt unterscheiden, wobei die damit ausgeschlossenen Szenarien auch die anderen zwei Prinzipien kausaler Beurteilung instanziieren würden.22 Nun ist das Kausalprinzip der dritten Erfahrungsanalogie ausdrücklich auf räumliche, ausgedehnte Substanzen und Ereignisse eingeschränkt. Weil die drei Kausalprinzipien im Analogienkapitel in ihrem Gebrauch sehr eng miteinander zusammenhängen, lassen sich also alle drei Prinzipien nur in Bezug auf raumzeitliche Vorkommnisse gebrauchen. Das ist zwar keine offenbare, aber doch grundlegende Feststellung Kants im Analogienkapitel (Westphal 2004, §§ 36– 38, 61). Dieser Feststellung zufolge lässt sich die menschliche Psychologie gar nicht kausal beurteilen, jedenfalls solange damit die introspektive oder die alltägliche gemeint ist. Der Grund liegt in der hier ganz fehlenden räumlichen Dimension, denn »[...] die reine innere Anschauung, in welcher die Seelen-Erscheinungen construirt werden sollen, ist die Zeit, die nur Eine [sic] Dimension hat« (IV, 471.19–22). Diese eine und einzige Dimension ist also eine rein zeitliche, nicht eine räumliche. Innerhalb der so verstandenen Psychologie sind wir nicht imstande, die zur kausalen Beurteilung nötigen kontrafaktischen Abhängigkeitsverhältnisse unter Ereignissen zu bestimmen oder sie sogar zu formulieren. Darum können wir in diesem Bereich auch keine gerechtfertigten Kausalurteile fällen.23 Wie weit reicht bzw. trägt nun Kants These, dass die menschliche Psychologie von uns gar nicht kausal beurteilt werden kann? Sehr weit: Auch die heutige experimentelle Psychologie mitsamt ihren Gehirnscans stößt in der Regel nur auf Gelegenheitsursachen, aber nicht auf zureichend bestimmende Ursachen des jeweils untersuchten psychischen Ereignisses. Solche Kausalergebnisse der experimentellen Psychologie bzw. der Neurowissenschaften sind höchst wichtig und interessant, aber in Bezug auf das Thema der Willens- und Handlungsfreiheit dürfen wir sie weder missdeuten noch überschätzen. Auch dann, wenn unter Umständen sehr kleinteilige neuro-psychologische Korrelationen gefunden werden sollten, wäre es noch ein weiterer und abenteuerlicher Schritt, die zur kausaldeterministischen Erklärung nötigen Identitätsbedingungen herauszuarbeiten Siehe Guyer 1987, 168, 212–214, 224 f., 228, 239, 246, 274 f.; Westphal 2004, §§ 36–38. 23 Die von mir herausgearbeitete kritische Rechtfertigung dieses Ergebnisses wird weder von McCarty (2006, 65 f.) noch von Sturm (2001; 2009, 254) zur Kenntnis genommen. (Sturm erhellt den von Kant kritisierten Begriff der empirischen Psychologie.) Gegen die empirische Untersuchung unserer Psychologie bzw. Neurophysiologie argumentiere ich nicht – nur gegen unbegründete kausal erklärende, deterministische Anmaßungen. 22

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und zu rechtfertigen. (Solche Identitätsbedingungen sind schon in den physikalischen Wissenschaften höchst kompliziert, wie Earman anmerkt.) Es ist keine Missachtung heutiger neurowissenschaftlicher Ergebnisse, wenn man eingesteht, dass sie keine zureichenden Ursachen erschließen, die uns im Hinblick auf philosophische Freiheitsfragen belehren. Die heutigen Vertreter einer kausalen Theorie der Erkenntnis, des Geistes oder der sprachlichen Bedeutung in der Philosophie sollten die kritische Feststellung Kants beachten, dass kausale Beschreibung keineswegs zur kausalen Zuschreibung hinreicht, ebenso wie kausale Zuschreibung keineswegs zur kausalen Erklärung hinreicht. Echte Fälle von zureichender Ursächlichkeit müssen wissenschaftlich erforscht und nachgewiesen, nicht bloß vorausgesetzt werden – insbesondere nicht, indem man sich auf den gesunden Menschenverstand oder philosophische Voraussetzungen beruft.24 Wir dürfen kein Forschungsprogramm als Forschungsergebnis missdeuten. Aber genau das wird weitgehend, wenn auch stillschweigend, in der Formulierung des angeblichen Problems der Willens- und Handlungsfreiheit getan, wie sich exemplarisch bei Earman zeigt. So gestellt ist schon das Problem irreführend. Aus diesem Grund sind die üblichen Lösungsversuche im Voraus zum Scheitern veurteilt. Das ist es auch, was an der oben genannten Haltung etwa von Earman unbefriedigend bleibt. Zwar zieht Earman (1986, 248 f.) daraus den richtigen Schluss, aber nicht aus den erhellendsten Gründen, die uns die kritische Philosophie Kants erschließt. Zur positiven Verteidigung unserer Willensund Handlungsfreiheit sollen nun drei kritische Gründe angeführt werden.

§ 4 Drei kritische Günde der Befürwortung menschlicher Freiheit Der vorige Befund (§ 3) lässt sich nun durch Berücksichtigung von Kants Analyse der Autonomie untermauern und erweitern. Zur positiven Verteidigung der Freiheit der menschlichen Urteilskraft hat Kant etwas theoretisch Wichtiges durch den Nachweis beigetragen, dass die Autonomie der menschlichen Urteilskraft nicht auf bloß kausale Ereignisse reduziert werden kann. Zuerst besinnen wir uns, dass die Urteilskraft insofern autonom ist, als jeder von uns fähig ist, ein eigenes Urteil zu fällen, anstatt darauf angewiesen zu sein, fremde Urteile, Ratschläge, Empfehlun-

Einen solchen Fehler begeht McCarty (2009, 65–67) in gröbster Weise. Aber solche Fehler sind dadurch weit verbreitet, dass sich Vertreter kausaler Theorien des Geistes bzw. der Erkenntnis (z. B. auch Davidson, Goldman, Prinz und die meisten analytischen ›Naturalisten‹) mit vagen kausalen Beschreibungen zufrieden geben, die keineswegs zur kausalen Zuschreibung ausreichen. Darum sind solche ›Kausaltheorien‹ nur pseudowissenschaftlich. Das Vorbild solcher vermeintlich kausalen Theorien des Geistes ist der Empirismus von David Hume, der sich auf hoffnunglos grobe Kausalansprüche stützt (Westphal, im Erscheinen). 24

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gen oder gar Befehle lediglich zu übernehmen. Drei Thesen Kants zur Autonomie sollten dabei berücksichtigt werden.

§ 4,1 Kants analogische Zuschreibung von Verstand, Vernunft und Freiheit bei anderen Personen In Bezug auf jede menschliche Handlung lautet der vorige Befund (§§ 2 und 3) so: Nur durch naturwissenschaftliche Kausaluntersuchung lässt sich ermitteln, ob bzw. inwiefern eine jede menschliche Handlung zureichend kausal erklärbar ist. In Bezug darauf hat Kant etwas Wichtiges angemerkt. In seiner »Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie« unterscheidet er zwischen unserer Erkenntnis physikalischer Ereignisse, unserem Gedanken von Gott und unserem Erkennen anderer Personen und schreibt im Hinblick auf Letzteres: »Wenn ich die Causalität des Menschen in Ansehung gewisser Producte, welche nur durch absichtliche Zweckmäßigkeit erklärlich sind, dadurch bestimme, dass ich sie als einen Verstand desselben denke: so brauche ich nicht dabei stehen zu bleiben, sondern kann ihm dieses Prädicat als wohlbekannte Eigenschaft desselben beilegen und ihn dadurch erkennen. Denn ich weiß, dass Anschauungen den Sinnen des Menschen gegeben und durch den Verstand unter einen Begriff und hiemit unter eine Regel gebracht werden; dass dieser Begriff nur das gemeinsame Merkmal (mit Weglassung des Besondern) enthalte und also discursiv sei; dass die Regeln, um gegebene Vorstellungen unter ein Bewußtsein überhaupt zu bringen, von ihm noch vor jenen Anschauungen gegeben werden, u.s.w.: ich lege also diese Eigenschaft dem Menschen bei als eine solche, wodurch ich ihn erkenne«. (V, 484.7–19) Hier spricht Kant von einem besonderen praktischen Erkennen einer Person. Den Erörterungen des § 2 zufolge verträgt sich diese Stelle jedoch vollkommen mit der Erkenntnistheorie Kants in der Kritik der reinen Vernunft. Ich meine: Hier hat Kant den Kern der Sache getroffen, auch wenn er die Ansicht nicht – jedenfalls nicht offensichtlich – weiterentwickelt hat. Ungeachtet der oben genannten transzendentalen Subreption (§ 3,2) hat Kant uns hier die nötige, zugleich erwartungsgemäße, äußere »Ellenbogenfreiheit« zum Handeln verschafft.25 Freie Handlungen sind normalerweise zweckmäßige Handlungen, die der Zwecksetzung einer Person entsprechend gestaltet und vollzogen werden. So erkennen wir uns für gewöhnlich gegenseitig, auch wenn eine solche praktische Erkenntnis nur insofern eine kausal erklärende Erkenntnis darstellt, als wir einer Person die eigene Kausalität aufgrund der eigenen Zwecksetzung unterstellen. Demgemäß sind wir nur dann dazu beDas heißt: Kant hat mehr zur Analyse menschlicher Urteils- und Handlungsfreiheit beigetragen als nur eine Unterscheidung unter Gesichtspunkten wie Dennetts »physical«, »design« und »intentional stances«. Zum Bild der »Ellenbogenfreiheit« siehe Dennett 1984. 25

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rechtigt, nach möglichen Kausalursachen je einer Handlung zu suchen (das heißt: nachzuforschen), wenn die Handlung nicht hinreichend rational gerechtfertigt werden kann – also in möglichen pathologischen Fällen. Im Hinblick auf eine normale, nicht pathologische Handlung nach Ursachen zu fragen wäre gleichbedeutend damit, eine Person als bloßes Tier zu betrachten und sie damit zu erniedrigen.26

§ 4,2 Die Ausübung der Urteilskraft ist normativ, nicht bloß kausal, beschaffen Ein nicht empirisch reduzierbares ›Sollen‹ kommt nicht erst in der Moralphilosophie (A 547 f. / B 575 f.), sondern schon in der Erkenntnistheorie vor.27 Weil sie kognitive Rechtfertigung konstitutiv einbezieht, ist Erkenntnis normativ beschaffen. Es ist eine Hauptaufgabe der kritischen Erkenntnistheorie Kants herauszustellen, wie wir überhaupt (zumeist auf ›subpersonaler‹ Ebene) dazu fähig sind, die uns vorkommenden Vorstellungen (seien es sinnliche oder begriffliche), so wie sie sich de facto zueinander verhalten, so in einem Urteil zusammenzufügen, wie sie sich zueinander verhalten sollen, um gerechtfertigte empirische Erkenntnis eines Gegenstands möglich zu machen (B 219). Das gilt sowohl von alltäglichen Wahrnehmungen unserer Umgebung als auch von expliziten kognitiven Urteilen, die auf Evidenzen und die für sie relevanten Schlussprinzipien gegründet sind. Die eigene Urteilskraft ist darin autonom, dass sie sich durch Betrachtung normativer Überlegungen bezüglich der Bewertung und Verwendung von Belegen und Schlussprinzipien selbst reguliert. Das ist Auto-nomie im wörtlichen Sinn: nämlich die Selbstregulierung des eigenen Denkens und Urteilens im Hinblick auf die Einschätzung und den legitimen Gebrauch von Beweisgründen aller Art, darunter z. B. Rechtfertigungsgrundsätze und Belege.28 Dieser Aspekt der Autonomie zeigt, dass die rationale Urteilskraft gegenüber bloß kausalen Prozessen unserer Neuro-physio-psychologie autonom ist. Dass die menschliche Urteilskraft hierin gründet, bestreite ich keineswegs; die Pointe ist, dass sich die normativen Bedingungen der rationalen Urteilskraft nicht rein kausal auslegen lassen. Nehmen wir an, die Beurteilung, als ein physiologischer oder psychologischer Prozess verstanden, sei irgendein kausaler Prozess. Dann hat sie trotzdem nur insofern als Beurteilung zu gelten, als sie auf normative Überlegungen und Maßstäbe, und nicht bloß auf die ihr korrespondierenden kausalen AnteAlso stimme ich mit den Ergebnissen der Analyse von Geert Keil (im vorliegenden Band) weitgehend überein, versuche sie aber durch andere, echt kritische Überlegungen Kants zu untermauern. 27 Zur Bedeutung des moralischen Sollens für die Freiheitslehre Kants siehe den Beitrag von Heiner Klemme zu diesem Band; auch wichtig ist hierzu Wolff 2009. 28 Rüdiger Bittner hat mir im Gespräch (Bielefeld 2007) großzügig zugestanden, dass diese Deutung der Autonomie seine Einwände gegen die Autonomielehre Kants entkräftet. 26

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zedenzien, in der richtigen – d. h. gerechtfertigten – Weise reagiert. Ein Urteil ist auf seine eigenen Beweisgründe normativ bezogen, nicht bloße Wirkung der ihnen korrespondierenden Ursachen. Nehmen wir an, Rechtfertigungsprozesse sind kausale Prozesse: Dann haben sie trotzdem nicht deshalb als Rechtfertigungsprozesse zu gelten, weil sie kausal strukturiert sind, sondern weil sie hinreichende normative Bedingungen erfüllen, welche die angemessene Funktionsweise, angemessene Schlussfolgerung und angemessene Einschätzung definieren oder zumindest miteinbeziehen, um rationale Rechtfertigung möglich zu machen. Insofern ist die für Erkenntnis notwendige kognitive Rechtfertigung nicht rein kausal verständlich zu machen. Diesem Befund entspricht übrigens die oft vernachlässigte Feststellung von Dretske (1981, 27–39), dass sich Informationsverhältnisse keineswegs auf Kausalverhältnisse reduzieren bzw. durch diese ersetzen lassen.

§ 4,3 Die Ausübung der Urteilskraft ist zum verantwortlichen Handeln erforderlich Verantwortliches Handeln – im Unterschied zum bloßen Sichverhalten – ist nur durch das Ausüben der eigenen Urteilskraft möglich, da verantwortliches Handeln auf Rechtfertigungsgründen anstatt auf bloßen Entschuldigungen bzw. Entlastungen beruht. Dieser Aspekt der Autonomie offenbart die Spontaneität der Urteilskraft, welche sich in der Beurteilung in der folgenden Weise zeigt: Wir handeln verantwortlich nur insofern wir zu Recht beanspruchen, hinreichende Gründe dafür zu haben, so zu handeln, wie wir handeln. Dies gilt auch dann, wenn wir aus Gewohnheit oder Neigung handeln, aber nur sofern wir sie (die Gewohnheit bzw. die Neigung) als angemessenen, nämlich als einen uns in den jetzigen Umständen erlaubten Handlungsgrund beurteilen. Ansonsten verzichten wir auf rationale Überlegungen und verlassen den von Sellars so bezeichneten »Raum der Gründe«.29 In solchen Fällen schaffen wir uns, wie McDowell30 sehr treffend formuliert, bloße Entschuldigungen oder Entlastungen, aber keine Rechtfertigungen für das eigene Verhalten.31 Also ist Kants sogenannte ›Aufnahmethese‹ in der Religionsschrift (VI, 23 f.) – dass keine Neigung zur Triebfeder des Handelns wird, ohne im Urteil der Person darüber, wie sie handeln will, als Handlungsgrund in die eigene Maxime aufgenommen zu werden32 – nichts weiter als die praktische Entwicklung seiner

Sellars 1963, 169. McDowell 1994, 13. 31 Ausführlich zum Thema siehe Westphal 2011a. 32 Allison (1990, 40, 51, 126) spricht in diesem Zusammenhang von Kants »Incorporation Thesis«. In Kants Worten: »[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel 29 30

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Analyse menschlicher Urteilskraft im Hinblick auf das Entscheiden.33 Aus oben genannten Gründen sind unsere Entscheidungen und Handlungen nicht kausal sondern rational zu verstehen, bis sie sich aufgrund von bestimmten, aufgezeigten empirischen Evidenzen in genügendem Maß als pathologisch erweisen.34

§ 5 Schlusswort Zusammengenommen bilden diese Überlegungen einen differenzierteren, stärkeren Beweis der These Kants in der Grundlegung (IV, 447 f. und Anm.). Denn wären wir Menschen rein kausal beschaffen, wären wir gar nicht imstande, dies zu erkennen – und zwar deshalb, weil wir nicht imstande wären, irgendetwas zu erkennen. Sind wir Menschen dagegen überhaupt imstande, etwas zu erkennen – sei es theoretisch oder praktisch –, ist unsere Urteilskraft frei, und zwar einerseits im negativen Sinn frei vom durchgängigen Kausaldeterminismus, wie auch andererseits, im positiven, transzendentalen Sinn dazu frei kognitive Urteile zu fällen. Und sind wir in diesem Sinn transzendental frei, sind wir auch imstande, äußerlich frei zu handeln. Der Kausaldeterminismus steht dem ebenso wenig entgegen wie das Prinzip (nicht: ›Gesetz‹) des zureichenden Grundes, weil beide unsere Kausaluntersuchungen regulieren; konstitutiv bzw. kollektiv-allgemein betrachtet, bleiben sie kognitiv unbestimmt. Das vermeintliche Gesetz des zureichenden Kausalgrundes ist nicht assertorisch zu bejahen, außer in eben den Einzelfällen, wo es bloß distributiv, durch lückenlose Kausalerklärung eines bestimmten Ereignisses gerechtfertigt worden ist. Der Gedanke, dass unsere angeblich freien Entschlüsse und Handlungen dennoch ›irgendwie‹ zureichend bzw. vollkommen kausal beschaffen sein müssten, ist eine bloße – und zwar transzendente – Vermutung. Sie hat keinen kognitiven Status, bis hinreichende positive Belege durch erfolgreiche Kausalerklärungen für sie beigebracht worden sind. Dass auch die Moraltheorie Kants uns in praktische Kenntnis der menschlichen wie der eigenen Freiheit setzt, bejahe ich freilich. Zuletzt bedanke ich mich für die freundliche und freiwillige Aufmerksamkeit des Lesers!35

gemacht hat, nach der er sich verhalten will) [...]« (VI, 23 f.). McCarty (2009, 64, 71–87) versteht diese These nicht, weil er Kants Urteilslehre außer Acht lässt. 33 McCarty (2009, 73 f.) vernachlässigt diesen Umstand gänzlich. 34 Zum nahe liegenden Thema des »empirischen Charakters« bei Kant siehe den Beitrag von Tobias Rosefeldt zu diesem Band. 35 Dieser Beitrag entstand während eines Forschungsaufenthaltes in Göttingen Anfang 2011, auf freundliche Einladung von Bernd Ludwig und mit großzügiger Förderung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Für ihre Hilfe bei der sprachlichen Verbesserung des Beitrags danke ich Bernd Ludwig, Andree Hahmann und besonders Mario Brandhorst sehr herzlich.

Die positive Verteidigung Kants der Urteils- und Handlungsfreiheit …

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Literaturverzeichnis Allison, Henry: Kant’s Theory of Freedom. Cambridge 1990. Dennett, Daniel: Elbow Room. The Varieties of Free Will Worth Wanting. Oxford 1984. Dretske, Frederick I.: Knowledge and the Flow of Information. Cambridge/Mass. 1981. Earman, John: A Primer on Determinism. Dordrecht 1986. Guyer, Paul: Kant and the Claims of Knowledge. Cambridge 1987. Harper, William: Comments on Westphal. – In: Dialogue 46, 4 (2007), 729–736. Hume, David: A Treatise of Human Nature. Hg. von D. F. Norton / M. J. Norton. Oxford 2000. Keil, Geert: Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie. – In diesem Band. Laplace, Pierre Simon de: Essai philosophique sur les probabilités. Paris 31816. –: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit. Hg. u. übersetzt von K. Chr. Langsdorf. Heidelberg 1819. McCarty, Richard: Kant’s Theory of Action. Oxford 2009. McDowell, John: Mind and World. Cambridge/Mass. 1994. Sellars, Wilfrid: Science, Perception and Reality. London 1963. Sturm, Thomas: Kant on Empirical Psychology. How not to Investigate the Human Mind. – In: E. Watkins (Hg.): Kant and the Sciences. Oxford 2001, 163–184. –: Kant und die Wissenschaften vom Menschen. Paderborn 2009. Reichenbach, Hans: Wahrscheinlichkeitslehre. – In: H. Reichenbach: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Hg. von A. Kamlah / M. Reichenbach. Bd. VII. Braunschweig 1977. Rosefeldt, Tobias: Kants Kompatibilismus. – In diesem Band. Westphal, Kenneth R.: Kant’s Transcendental Proof of Realism. Cambridge 2004. –: Consciousness and its Transcendental Conditions. Kant’s Anti-Cartesian Revolt. – In: S. Heinämaa / V. Lähteenmäki / P. Remes (Hg.): Consciousness. From Perception to Reflection in the History of Philosophy. Dordrecht 2007, 223–243. –: Urteilskraft, gegenseitige Anerkennung und rationale Rechtfertigung. – In: H.-D. Klein (Hg.): Ethik als prima philosophia? Würzburg 2011a, 171–193. –: Kant’s Cognitive Semantics, Newton’s Rule Four of Philosophy and Scientific Realism. – In: K. Deligiorgi (Hg.): Proceedings of the joint meeting of the UK Kant Society and the Hegel Society of Great Britain (2010). Sonderband des Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 63 (2011b), 27–49. –: Hume, Empiricism and the Generality of Thought. (Im Erscheinen) Wolff, Michael: Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung einiger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral. – In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57, 4 (2009), 511–549.

Woran scheitert Kants Theorie der Freiheit? Mario Brandhorst

1. Die Suche nach »Vermögen« Gestatten Sie mir, mit etwas Autobiographie zu beginnen. Als ich ein junger Student in Tübingen war, traf auf mich in etwa das zu, was Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse über die »jungen Theologen des Tübinger Stifts« sagt. »Kant« – so setzt Nietzsches ironischer Rückblick am Ende des folgenden, 19. Jahrhunderts ein – war »stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urtheilen a priori, entdeckt zu haben«.1 Man war »[…] ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: – denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht ›real-politisch‹. – Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, – alle suchten nach ›Vermögen‹. Und was fand man nicht Alles – in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man ›finden‹ und ›erfinden‹ noch nicht auseinanderzuhalten wusste!« (ebd.). Wie schon Hegel, Hölderlin und Schelling las ich Kant. Ich las ihn zwar nicht im Tübinger Stift und nach über 200 Jahren auch nicht mehr versteckt, bei Kerzenlicht oder gar unter der Decke. Doch wie die »jungen Theologen des Tübinger Stifts« nahm ich Kant sehr ernst, suchte Antworten auf seine Fragen und folgte ihm ins Labyrinth der Freiheit des Willens. Mich faszinierte die Frage, wie die von Kant behauptete Idealität von Raum und Zeit die Freiheit des Willens ermöglichen könnte. An die Möglichkeit von Willensfreiheit wollte ich vor allem deshalb glauben, weil mir die mögliche Determiniertheit des menschlichen Denkens und Handelns als eine ernste Bedrohung erschien. Wie Kant hielt ich traditionelle Appelle an »comparative« und »psychologische« Freiheit (V, 96) angesichts dieser Bedrohung für eine Ausflucht. Der bloße Hinweis auf ein Verständnis von Freiheit, das zwar mit dem Determinismus vereinbar sein würde, diesem aber das letzte Wort über das menschliche Denken und Handeln einräumen müsste, konnte mir nicht genügen. Ich stimmte Kant daher zu, wenn ich las, dass »praktische Freiheit« die »transscen1

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, I, 11.

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Mario Brandhorst

dentale Idee der Freiheit« voraussetzt (B 561 f.). Kants hehrer Begriff von Freiheit als »absolute Selbstthätigkeit« (B 446) schien mir der einzig richtige zu sein. Entsprechend war die »Möglichkeit der Causalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnothwendigkeit« (B 566), um deren Nachweis Kant sich in der Kritik der reinen Vernunft bemüht, nach meinem Verständnis der Königsweg, weil sie versprach, drei Sätze miteinander in Einklang zu bringen, die einander auszuschließen scheinen: (1) Als Naturgeschehen ist unser Denken und Handeln lückenlos determiniert. (2) Als Naturgeschehen ist unser Denken und Handeln deshalb nicht frei. (3) Wir sind (möglicherweise) frei.2 Die Antwort auf die Frage, wie diese Sätze zugleich wahr sein können, legt sich durch die Formulierung dieser Sätze nahe: Menschliches Denken und Handeln muss einerseits ein Naturgeschehen und als solches auch lückenlos determiniert sein; doch es muss andererseits Ausdruck einer Freiheit sein, die kein determiniertes Naturgeschehen ist. Das würde heißen: Der Mensch ist nicht nur ein Teil der natürlichen Ordnung, sondern verfügt (möglicherweise) zugleich über transzendentale, absolute Freiheit, deren Wirkung sich in der Naturordnung manifestiert. So glänzte es verlockend im Gebüsch – und so ging ich wie schon die von Nietzsche karikierten jungen Theologen des Tübinger Stifts »in die Büsche« und begab mich auf die Suche nach »Vermögen«.

2. Ein Traum verfliegt Um es vorweg zu nehmen: Gefunden habe ich nichts. Es glänzte zwar verlockend, doch »Vermögen« fand sich nicht. Das mag heute kaum noch überraschen, und schon Nietzsche sah es so. Er schreibt wie zuvor mit dem Gestus des Selbstgewissen, des Späteren, Nüchternen und Überlegenen: »Man kann dieser ganzen übermüthigen und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung behandelt; genug, man wurde älter, – der Traum verflog.«3

Diese Art von Überlegung hat Wood dazu veranlasst, Kants Intention als den Nachweis der »Kompatibilität von Kompatibilismus und Inkompatibilismus« zu bezeichnen; vgl. Wood 1984, 74. Wie Wood zu Recht bemerkt, entzieht sich Kant der klaren Zuordnung zu den Parteien. Er ist weder als Kompatibilist noch als Inkompatibilist genau genug beschrieben. 3 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, I, 11. Im Antichrist erscheint das Tübinger Stift ein weiteres Mal als Symbol der engen Verflechtung von (protestantischer) Theologie und (deutscher) Philosophie: »Man hat nur das Wort ›Tübinger Stift‹ auszusprechen, um zu be2

Woran scheitert Kants Theorie der Freiheit?

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Ich glaube, dass wir Kants Freiheitslehre nur noch als einen solchen »Traum« ansehen können. »Ernst nehmen« müssen wir aber sowohl das Bedürfnis, auf das Kant mit seiner Freiheitslehre reagiert, als auch die Gründe, die sie schließlich scheitern lassen. Das erst erlaubt es zu verstehen, warum der Traum ein Wunschtraum ist: Es erlaubt uns zu verstehen, warum der Traum einem echten Bedürfnis entspricht, vielleicht sogar diesem Bedürfnis entspringt – und warum der Traum am Ende doch verfliegt. Das erklärt den Titel dieses Beitrags: Er zielt darauf ab, Gründe für das Scheitern von Kants Freiheitslehre sichtbar werden zu lassen. Dabei geht es mir allerdings nicht um Gründe der Art, wie sie sowohl bei der Kritik als auch bei der Verteidigung Kants fast immer im Mittelpunkt stehen: Gründe für das Scheitern von Kants Freiheitstheorie werden nämlich in der Regel dort gesucht, wo sich Kant auf seine Lehre des transzendentalen Idealismus beruft, um die Möglichkeit einer transzendentalen, erstursächlichen Freiheit verständlich zu machen. Weil diese Lehre ebenso rätselhaft wie unglaubwürdig zu sein scheint, konzentriert sich die Kritik auf den Gehalt und die Begründung dieser Lehre. Dementsprechend meinen Kants Verteidiger vor allem zeigen zu müssen, dass die Lehre des transzendentalen Idealismus entweder dem Realismus der Kritiker viel näher steht als es zunächst den Anschein hat, oder diesem überlegen ist, wo ein Unterschied besteht. Dabei gerät allzu leicht aus dem Blick, dass sich auch dann, wenn man Kant die Lehre des transzendentalen Idealismus zugesteht, kritische Fragen einstellen. Um es klar zu sagen: Die kritische Prüfung der Lehre des transzendentalen Idealismus ist richtig und wichtig. Wie bekannt ist, will Kant zeigen, dass die Möglichkeit der Freiheit durch diese Lehre – und nur durch sie – ausgewiesen werden kann. Kants selbst nennt sie den »Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik« (B 518): Diese Metapher drückt aus, dass der transzendentale Idealismus eine Tür öffnet – aber auch, dass die Tür ohne ihn verschlossen bleiben würde. Dementsprechend konzentriert sich die Kritik zu Recht auch auf die Fragen, wie Kants idealistische Lehre zu deuten ist, welche Überzeugungskraft sie hat, und was genau sie dazu beitragen kann, die Möglichkeit einer »Causalität durch Freiheit« zu erklären. Doch entsteht dabei auch leicht der Eindruck, dass Kants Freiheitstheorie mit der idealistischen Lehre, die sie voraussetzt, entweder steht oder fällt. Wenn man seine Strategie nur von der Seite der Prämissen her betrachtet, unterstellt man vielleicht schon, dass die Konklusionen folgen. – Aber das ist nicht so, und wie ich nun zeigen möchte, gibt es Gründe für das Scheitern von Kants Freiheitstheorie, die auch dann bestehen bleiben, wenn man Kant die Lehre des transzendentalen Idealismus in der anspruchsvollsten Lesart zugesteht. Mir scheint: Selbst mit diesen greifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist – eine hinterlistige Theologie …« (Der Antichrist, 10). Auch Kant hat darin wieder einen Auftritt: Nietzsche wirft ihm vor, den Mythen der »wahren Welt« und der Moral als »Essenz der Welt« Vorschub geleistet und so mit einer »verschmitzt-klugen Skepsis« einen »Schleichweg zum alten Ideal« geöffnet zu haben (ebd.). – Auch diese Diagnose scheint mir richtig und wichtig zu sein.

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äußerst starken Annahmen über den Raum, die Zeit, die Kausalität und das Selbst scheitert diese Theorie als Theorie der Freiheit. Auch wenn dieses Ergebnis vor allem negativ ist, hat es zugleich eine klärende Wirkung. Es wirft ein Licht auf die Frage, welches Verständnis von Freiheit den Namen verdient; so trägt es auch dazu bei, das weit verzweigte Begriffsfeld der Freiheit zu klären. Es kann uns vor philosophischen Abgründen warnen, die wir als solche vielleicht nicht erkennen. Schließlich kann uns ein Verständnis der Gründe des Scheiterns der Theorie vor weiteren Träumen und den mit ihnen verbundenen Ängsten bewahren, wenn wir das Muster der Täuschung durchschauen. – Zwei Thesen sollen dazu einen Beitrag leisten. Die erste These lautet: Es gelingt Kant nicht, die traditionelle Vereinbarkeitsthese zu untergraben. Wie wir sehen werden, lässt sich Kant von Bildern und Gedanken leiten, die zwar eine starke assoziative Wirkung auf uns haben, aber der kritischen Prüfung nicht standhalten können. Seine Thesen über Freiheit sind oft unbegründet und als Argumente zirkulär. Wie sich zeigt, schlagen damit auch Kants Versuche fehl, für die Annahme transzendentaler Freiheit zu argumentieren. Weder seine Kritik der »comparativen« Freiheit noch seine Verteidigung der »transscendentalen« (V, 96 f.) überzeugen, und beide Einwände hängen zusammen. Die zweite These habe ich schon angedeutet. Sie lautet: Kants Freiheitstheorie scheitert, doch die tieferen Gründe für dieses Scheitern sind nicht da zu finden, wo man sie zunächst vermutet. Diese Gründe liegen nämlich nicht in Kants Metaphysik des transzendentalen Idealismus, auch wenn dieser zweifellos mit großen Schwierigkeiten behaftet ist und sich aus meiner Sicht nicht überzeugend verteidigen lässt. Sie liegen vielmehr in Kants Begriff und Konzeption von Freiheit. Diese Konzeption von Freiheit – so behaupte ich – ist in sich nicht stimmig. Genauer gesagt: Kants Konzeption ist insofern in sich nicht stimmig, als sie keinerlei Grundlage dafür bietet, die postulierte Art der Kausalität als Kausalität »aus Freiheit« (B 560) anzusehen. Das gilt zumindest dann, wenn ›Freiheit‹ den moralisch belastbaren Sinn haben soll, den Kant diesem Wort durchgängig zuschreibt. Damit wird gleichzeitig fraglich, ob Kant sein kritisches Ziel erreicht und die Möglichkeit der Freiheit nachweist.

3. Zur Interpretation des transzendentalen Idealismus Meine Ausführungen werden sich nun weitgehend von der Geistesgeschichte lösen. Sie werden auch die Exegese Kants nur so weit führen, bis die begriffliche Untiefe, auf die es ankommt, deutlich genug sichtbar wird. Dazu sind – wie ich hoffe – keine sehr kontroversen Annahmen über den Text oder Kants Intentionen nötig. Das, worauf sich meine Kritik an der Theorie stützt, wird meines Erachtens von Kant selbst deutlich gesagt – und anderes ebenso deutlich nicht gesagt. Dennoch will ich eine interpretatorische Vorbemerkung machen. Kants transzendentaler Idealismus ist zweifellos eine sehr originelle und ambitionierte Metaphy-

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sik, und als Metaphysik ist er vor allem dies: Idealismus. Es wäre überflüssig, das eigens hervorzuheben, wenn Kant nicht immer wieder so gelesen werden würde, als wäre sein transzendentaler Idealismus am Ende entweder gar keine Metaphysik oder als Metaphysik kein Idealismus.4 Nun ist Kant Realist – und das zumindest in zweierlei Hinsicht. Erstens hält er ausdrücklich an der Existenz einer subjektunabhängigen Wirklichkeit fest, die er als »Ding an sich« der »Erscheinung« gegenüberstellt. Er meint sogar, diese Annahme machen zu müssen, denn »sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint« (B XXVII). Zweitens ist Kant Realist, weil er nicht nur an der transzendentalen Differenz, sondern auch an der »empirischen Realität« (B 44, B 52) von Raum und Zeit festhält. Ein Gegenstand, der in Raum und Zeit erscheint, ist »also Erfahrung und nicht Erdichtung, Sinn und nicht Einbildungskraft« (B XL). Das »Ding an sich« ist ausdrücklich nicht als raumzeitlich bestimmt zu denken, doch wird die »Erscheinung« deswegen nicht »bloßer Schein« (B 69–71). Die folgende Passage verdeutlicht Kants Strategie: »Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriffe und sage: Alle Dinge als äußere Erscheinungen sind neben einander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung.« (B 43) Wir können also nicht von Dingen überhaupt, ohne Bezug auf den Menschen und seine sinnliche Anschauung, sagen, sie seien »neben einander im Raum«. Fassen wir aber den Begriff des Dings von vornherein so, dass er diesen Bezug beinhaltet, dann gilt der Satz »allgemein und ohne Einschränkung«. Abstrahieren wir dagegen von diesem Bezug, dann gilt der Satz nicht nur nicht »allgemein und ohne Einschränkung«, sondern überhaupt nicht: »Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden. Gehen wir von der subjectiven Bedingung ab, unter welcher wir allein äußere Anschauung bekommen können, so wie wir Gegen eine metaphysische Lesart der Unterscheidung zwischen ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ wendet sich Allison 1990 und 2004. Eine Kritik an Allison, die den transzendentalen Idealismus zwar metaphysisch deutet, aber wie Allison als Unterscheidung zwischen zwei Arten von Eigenschaften derselben Dinge versteht, liefert Langton 1998. Eine andere Form der Unterscheidung, die Langtons Lesart aber im Hinblick auf die Struktur von Dingen und Eigenschaften verpflichtet bleibt, entwickelt Allais 2004 und 2007; vgl. Rosefeldt 2007. Dass Kants transzendentaler Idealismus wirklich Idealismus ist, betont zu Recht Van Cleve 1999. Nach meiner Auffassung sind Ding an sich und Erscheinung für Kant nicht schlicht derselbe Gegenstand, sondern numerisch verschieden; und wir müssen ernst nehmen, was Kant über Erscheinungen sagt: Sie sind zwar nicht »bloßer Schein« (B 69 f.), aber dessen ungeachtet wirklich »bloße Vorstellungen« (B 518 f., B 565 u. ö.). 4

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nämlich von den Gegenständen afficirt werden mögen, so bedeutet die Vorstellung vom Raume gar nichts.« (B 42) Entsprechendes gilt für die Zeit. Erscheinungen sind also wesentlich subjektiv, auch wenn das nicht bedeutet, dass die Dinge in Raum und Zeit Einbildung und »bloßer Schein« sind. Dementsprechend werden sie von Kant konsequent und ausdrücklich als »bloße Vorstellungen« (B 565) charakterisiert. Es sind zwar nicht die Vorstellungen eines empirischen Ich, denn das führte zum »empirischen« oder »materialen« Idealismus (B 519, vgl. B 69–71 u. B 274). Es sind aber, wenn man so reden will, ›Vorstellungen des transzendentalen Ich‹, und deshalb ist das Ergebnis als ›transzendentaler Idealismus‹ auch treffend bezeichnet: »Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der That sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind« (B 565). Beide Momente zusammengenommen genügen, um Kants »transscendentalen« Idealismus vom »materialen« oder »dogmatischen« (B 274) etwa George Berkeleys zu unterscheiden. Der Unterschied ist für Kant von zentraler Bedeutung: Berkeley kennt weder die transzendentale Differenz zwischen ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹, noch akzeptiert er die Existenz einer subjektunabhängigen Wirklichkeit in irgendeinem Sinn – in Berkeleys Welt ist alles, was existiert, entweder Subjekt oder Idee eines Subjekts.5 Dennoch hat Strawson ganz recht, wenn er den vom Unterschied geblendeten Leser daran erinnert, dass Kant genauso wie Berkeley auch ein Idealist ist: »Als transzendentaler Idealist steht Kant Berkeley näher als er selbst einräumt«.6 Natürlich hat Kant gute Gründe dafür, eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu betonen.

4. Kants Konzeption von Freiheit Wie weit Kant mit seinen Thesen über das Verhältnis von ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ geht und wie wichtig sie ihm sind, zeigt sich wohl nirgends so klar und so folgenreich wie in den Abschnitten über die Freiheit. Einerseits ist Kants Freiheitstheorie ein entscheidendes Motiv für seine Lehre des transzendentalen Idealismus; andererseits kann diese Theorie ohne die Lehre des transzendentalen Idealismus

Und so sagt Berkeley auch ganz unmissverständlich, was Kant so nicht sagen würde: »It is indeed an opinion strangely prevailing amongst men, that houses, mountains, rivers, and in a word all sensible objects have an existence natural or real, distinct from their being perceived by the understanding« (Berkeley: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, Part I, §4). 6 Strawson 1966, 22. Kants Nähe zu Berkeley wurde ihm schon früh von Rezensenten vorgeworfen; einen aufschlussreichen Überblick der Problematik gibt Beiser 2002, Kap. 2–7. 5

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nicht als die radikale, originelle und in der Geschichte der Philosophie einmalige Leistung gewürdigt werden, die sie tatsächlich ist. Kant selbst betont, wie eng beide Lehren zusammenhängen und wie wichtig ihm dieser Zusammenhang ist. »Es sind nämlich zwey Angeln« – so heißt es im Anhang zur Preisschrift –, um welche die Vernunftkritik »sich dreht«: »Erstlich die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, welche in Ansehung der theoretischen Prinzipien aufs Übersinnliche, aber für uns Unerkennbare, blos hinweiset, indessen daß sie auf ihrem Wege zu diesem Ziel, wo sie es mit der Erkenntniß a priori der Gegenstände der Sinne zu thun hat, theoretischdogmatisch ist; zweytens, die Lehre von der Realität des Freyheitsbegriffes, als Begriffes eines erkennbaren Übersinnlichen, wobei die Metaphysik doch nur praktisch-dogmatisch ist.« (XX, 311) In einer dazu passenden Notiz von 1797 schreibt Kant pointiert: »Das System der Critik der reinen Vernunft dreht sich um 2 Cardinalpuncte: als System der Natur und der Freyheit, deren eines auf die Nothwendigkeit des Andern führt. – Die Idealität des Raumes und der Zeit und die Realität des Freyheitsbegrifs, von deren einem man analytisch zu dem Anderen unvermeidlich geführt wird.« (XVIII, 679) Wenn Kant hier von einer »analytischen« Relation spricht, ist weniger an analytische Sätze und Urteile als an Kants Begriff der analytischen Methode zu denken. Die Verbindung zwischen der »Idealität« von Raum und Zeit und der »Realität« des Freiheitsbegriffs ist dann nicht im engeren Sinn begrifflich, sondern voraussetzungslogisch. Das ergibt sich aus Kants Begriff der analytischen Methode, denn: »Analytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist, ist ganz was anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze: sie bedeutet nur, daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich.« (IV, 276) Das bedeutet: Nehmen wir die Möglichkeit der Freiheit als gegeben an, führt uns das notwendig auf die Idealität von Raum und Zeit als deren Bedingung; nehmen wir dagegen die Idealität von Raum und Zeit als gegeben an, dann folgt auch die Möglichkeit der Freiheit. Ebenso führt das »System der Critik der reinen Vernunft« von der Natur auf die »Nothwendigkeit« der Freiheit und von der Freiheit auf die »Nothwendigkeit« der Natur. Wie haben wir nun Kant zufolge Freiheit im transzendentalen Sinn zu verstehen? Ihre Kennzeichen sind die Begriffe ›von selbst‹, ›spontan‹, ›unbedingt‹, ›erster Anfang‹ und ›absolut‹. So beschreibt Kant Freiheit als »absolute Selbstthätigkeit« (B 446) und als »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (B 561). ›Absolute‹ Selbsttätigkeit ist dabei implizit ›relativer‹ Selbsttätigkeit entgegengesetzt, der ein »comparativer«, beispielsweise von Hobbes, Locke oder Hume entlehnter Freiheitsbegriff entspricht.7 ›Relative‹ Selbsttätigkeit ist mit kausaler Determiniert-

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heit der Tätigkeit direkt vereinbar; ›absolute‹ Selbsttätigkeit ist es nicht. Derselbe Kontrast wird von Kant mit den Ausdrücken ›unbedingt‹ und ›bedingt‹ markiert: »Da heißt nun die Bedingung von dem, was geschieht, die Ursache und die unbedingte Causalität der Ursache in der Erscheinung die Freiheit, die bedingte dagegen heißt im engeren Verstande Naturursache« (B 447). Freiheit ist entsprechend »ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen« (B 473) – also ohne dabei ihrerseits ein Element in der »Reihe von Folgen« zu sein. Das ist auch der Sinn der Rede vom »ersten Anfang« (B 477–479). Entscheidend ist nun die Verbindung von Freiheit und Unabhängigkeit von der zeitlichen Ordnung, die es erlaubt, Freiheit und – wie Kant hier noch ohne zu zögern hinzufügt – Vernunft als ein Vermögen anzusehen, »eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so daß in ihr selbst nichts anfängt« (B 582). Das handelnde Subjekt hätte demnach nicht nur einen »empirischen«, sondern auch einen »intelligibelen«, Raum, Zeit und Naturgesetz enthobenen Charakter. So kann es auch eine Ursache sein, die nicht als Wirkung von einer weiteren Ursache abhängt: »In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen unterworfen sein: daß alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe« (B 567 f.). Hier zeigt sich die Bedeutung der transzendentalen Differenz von Ding an sich und Erscheinung. Kant schließt in folgender Weise: »Absolute« Freiheit ist nur möglich, wenn das Subjekt in seinem Handeln nicht durch Ursachen der vergangenen Zeit determiniert wird. Das ist nur möglich, wenn das Subjekt über einen Charakter verfügt, der von der Zeit unabhängig und insofern nicht ›empirisch‹, sondern ›intelligibel‹ ist. Das ist nur möglich, wenn wir zwischen dem Subjekt als Ding an sich und als Erscheinung in der Weise unterscheiden, wie der transzendentale Idealismus es vorsieht. Setzen wir nun den intelligiblen Charakter und mit ihm die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung voraus, wird »absolute« Freiheit möglich: »Dieses handelnde Subject würde nun nach seinem intelligibelen Charakter unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst« (B 567).

Vgl. Hobbes: Leviathan, Pt. II, Ch. XXI; Locke: An Essay Concerning Human Understanding, Bk. II, Ch. XXI; sowie Hume: A Treatise of Human Nature, Bk. II, Pt. 3, Sec. 1 f. und An Enquiry Concerning Human Understanding, Sec. 8. In der Vorlesung Metaphysik der Sitten Vigilantius von 1793 / 1794 unterscheidet Kant in diesem Zusammenhang zwischen ›absoluter‹ und ›respectiver‹ Spontaneität: »Gesetzt nun, daß jede Handlung, die der Mensch unter Gebrauch seiner Vernunft vornimmt, in der vorigen Zeit zugleich gegründet wäre, so würde sie ja nicht nach absoluter, sondern nur respectiver Spontaneität geschehen; denn zunächst lag sie in der Vernunft, diese war also determinirt in der vorigen Zeit, also wäre nicht unbedingte Selbstthätigkeit dabey vorhanden« (XXVII, 505). 7

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Erst diese Unterscheidung ermöglicht es Kant, die Vereinbarkeit von Freiheit und kausaler Bedingtheit derselben Handlung zu behaupten. Die »intelligibele Ursache« wird »in Ansehung ihrer Causalität nicht durch Erscheinungen bestimmt«, obwohl »ihre Wirkungen erscheinen und sie durch andere Erscheinungen bestimmt werden können«: »Sie ist also sammt ihrer Causalität außer der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur, angesehen werden.« (B 565) Das ist der Kern von Kants Freiheitsauffassung, und sie ist eindeutig idealistisch: Kant behauptet die »Nothwendigkeit der Natur« für das menschliche Handeln in der Erscheinung, hält das für vereinbar mit einer erstursächlich verstandenen Freiheit, und beruft sich zur Erklärung der Vereinbarkeit auf eine »intelligibele Ursache«, die als »Causalität außer der Reihe« auf die Erscheinungen wirkt. – Wie kaum zu übersehen ist, stützt sich Kants Freiheitstheorie auf eine äußerst ehrgeizige Metaphysik, die nicht nur scharf zwischen empirischer und intelligibler Kausalität unterscheidet, sondern die intelligible für raum- und zeitlos, absolut selbsttätig und explanatorisch fundamental hält.8

5. Philosophisches Bergsteigen Ich komme damit zur ersten kritischen Frage, die sich im Hinblick auf Kants Freiheitsauffassung stellt. Um diese Frage sichtbar zu machen, bediene ich mich eines Bildes, das Robert Kane in seinen Werken zur Willensfreiheit populär gemacht hat.9 Kane zufolge muss der Verteidiger einer Freiheit, die sich nicht oder nicht in der gewöhnlichen Weise in die kausale Ordnung der Natur einfügt, zwei wichtige Fragen beantworten. Die erste Frage ist die der Motivation: Warum genügt die Freiheit, die wir als Teil der kausalen Ordnung der Natur zweifellos haben und die durch den Determinismus in keiner Weise gefährdet ist, nicht aus, um Freiheit und moralische Verantwortlichkeit zu begründen? Womit wird die These einer Unvereinbarkeit begründet? Dies ist das Problem des Aufstiegs: Wie kommen wir auf den Berg des Inkompatibilismus, wenn wir im Tal schon eine robuste »psychologische«, »comparative« Freiheit haben? Die zweite Frage ist die der Einlösung des Erhofften: Wie kann eine Lücke oder ein Freiraum im kausalen Geflecht uns das sichern, was wir verteidigen Vgl. zur Interpretation des transzendentalen Idealismus und der Wirkungsweise der »intelligibelen Ursache« neben der Einleitung der Herausgeber (S. 8–24), Rosefeldt 2007 und seinen Beitrag zu diesem Band. 9 Kane 2005, 33 f. 8

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wollen: nämlich Freiheit und moralische Zurechenbarkeit? Bloße Indeterminiertheit reicht dazu ganz offensichtlich nicht aus: Sie würde unser Wollen und Handeln statt der Naturnotwendigkeit nur dem Zufall anheimfallen lassen, wenn ein solcher Vorgang überhaupt etwas mit uns zu tun haben würde. Kant spricht hier vom »Ungefähr« und hält es für unmöglich: »Denn hätte die Handlung nicht ihre Bestimmung vermöge dieses Gesetzes der Nothwendigkeit in der vorhergehenden Ursache, so müßte es ein Ungefähr seyn, und dies ist unmöglich« (XXVII, 503). – Doch selbst wenn es möglich ist, hilft das bloße »Ungefähr« nicht weiter: Wir müssen vielmehr sicherstellen, dass wir Kontrolle, im Bewusstsein von Gründen, über unser Urteilen, Wollen und Handeln haben. Im Bild gesprochen: Wenn der Aufstieg gelingt, schließen Freiheit und Determinismus sich aus. Doch das führt uns noch längst nicht zur Freiheit: Wir müssen auch einen sicheren Abstiegsweg finden, der uns ins Tal führt, wo wir uns mit guten Gründen für frei und moralisch verantwortlich halten und diese Gründe auch angeben können. Im folgenden Abschnitt werde ich fragen, welche Gründe Kant gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese anführt. Wie sich zeigt, sieht Kant in vielen dieser Gründe zugleich Gründe, die uns zumindest das Recht geben sollen, uns für frei zu halten. Wir müssen fragen, wie belastbar diese Gründe sind.

6. Der Aufstieg Welche Art von Unvereinbarkeit behauptet Kant? Wie wird die Behauptung von Kant selbst begründet? Nehmen wir die erste und zweite Kritik und die Grundlegung zusammen, lassen sich wenigstens acht konkrete Motive benennen, die ich nun erläutern will.

6.1 Bilder Das vielleicht eindringlichste dieser Motive ist eine Reihe von Bildern, mit denen Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die »psychologische« oder »comparative« Freiheit als die »Freiheit eines Bratenwenders« verspottet, »der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet« (V, 97). Dazu gesellen sich das Bild eines geworfenen Körpers, einer Uhr und eines Automaten, der materiell oder – hier verweist Kant auf Leibniz – geistig sein könnte (vgl. V, 96 f., 101; XXVII, 505). So suggestiv diese Bilder und die darin enthaltenen Unterstellungen auch sein mögen – sie taugen nicht als Argument. Natürlich nennt niemand Uhren oder Automaten frei oder macht sie für ihre Bewegungen verantwortlich. Doch hat auch niemand – nicht einmal La Mettrie – behauptet, das Handeln des Menschen gleiche in jeder erdenklichen Hinsicht den Bewegungsabläufen derartig starrer Maschinen. Auch wenn menschliches Wollen und Handeln determiniert ist, bleibt es Wollen

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und Handeln, geht oft auf Überlegung zurück und reagiert auf Gründe. Wenn der Vergleich also diese Merkmale leugnet, verfehlt er einfach den Gegenstand, nämlich das Wollen und Handeln, indem er dessen besondere Merkmale leugnet. Nun hat Kant selbst die Bilder wohl nicht so verstanden: Er verweist sogleich darauf, dass man »alle Nothwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Causalität den Mechanismus der Natur nennen« kann, »ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein müßten. Hier wird nur auf die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen […]« (V, 97). – Wenn der Vergleich aber nur darauf abzielt, dass unser Handeln nach der Voraussetzung determiniert ist und das auch für Uhren und Automaten gilt, ist er zwar richtig, aber offenkundig zirkulär – denn es ist ja gerade die Frage, ob Determiniertheit für sich genommen im Widerspruch zu Freiheit und moralischer Zurechenbarkeit steht. Diesen Widerspruch setzt der Vergleich dann nur voraus, ohne ihn zu begründen.

6.2 Begriffliche Wahrheit Um eine solche Begründung zu liefern, scheint Kant sich auch auf die Bedeutung von ›Freiheit‹ zu stützen. Es liegt demnach im Freiheitsbegriff, sich der Vereinbarkeit mit dem »Mechanismus der Natur« zu widersetzen.10 Dass Kant so denken könnte, legt erstens die eingangs genannte Gleichsetzung von transzendentaler Freiheit mit »Unbedingtheit«, »Spontaneität« und »absoluter Selbstthätigkeit« nahe, die sein gesamtes kritisches Werk durchzieht und von ihm kaum je begründet wird: Sie scheint Kant so selbstverständlich zu sein, wie es begriffliche Wahrheiten nun einmal sind. – Zweitens sieht Kant im Verweis auf den »comparativen Begriff von der Freiheit« nicht viel mehr als eine »Ausflucht«: Verschiedene Arten der Verursachung zu unterscheiden, die sich gleichwohl ausnahmslos dem »Naturgesetze« fügen, ist für Kant »ein elender Behelf, womit sich noch immer einige hinhalten lassen und so jenes schwere Problem mit einer kleinen Wortklauberei aufgelöset zu haben meinen« (V, 96). Hier deutet der Vorwurf der »Wortklauberei« darauf hin, dass der »comparative Begriff der Freiheit« nicht das trifft, was wir mit ›Freiheit‹ meinen und so die Bedeutung des Freiheitsbegriffs verfehlt. – Drittens wird Kants Verständnis des Freiheitsbegriffs dort sehr deutlich, wo er die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung hypothetisch fallen lässt: »Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu gerathen: weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung, nämIch danke Tobias Rosefeldt für die Anregung, hier zwischen sprachlichen Bildern und sprachlichen Wahrheiten zu unterscheiden. 10

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lich als Ding überhaupt (als Sache an sich selbst), genommen habe und ohne vorhergehende Kritik auch nicht anders nehmen konnte.« (B XXVII) Wenn Kant behauptet, in einen »offenbaren Widerspruch zu gerathen«, sobald er die »Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung« – nämlich als Ding an sich – nimmt, legt er sich auf einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff fest. Ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff würde es ja gerade erlauben, die »Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung« zu nehmen, und das hätte zur Folge, dass sich hier kein Widerspruch ergäbe. Und wenn Kant sagt, dass sich hier nicht nur ein Widerspruch, sondern ein offensichtlicher Widerspruch ergibt, dann deutet das darauf hin, dass Kant eine begriffliche These aufstellt. Sie hat ein Echo in der dritten Antinomie, wo Kant die These verdichtet: »Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (B 564). Hier zeigt sie sich in einem unvermittelten Schluss: Wäre das Ding an sich ebenfalls in Raum und Zeit und dem Naturgesetz nach determiniert, dann wäre unser Handeln »der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei«. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Das ist sehr schwer zu entscheiden, und es hängt glücklicherweise nicht allzu viel davon ab. Zunächst trifft es zu, dass Kants Verständnis von Freiheit viel für sich zu haben scheint und unser Freiheitsbegriff ein solches Verständnis auch nahelegt. Doch selbst dann, wenn man das zugesteht, bleibt ein entscheidender Unterschied zwischen dem, was ein Begriff uns nur nahelegt und dem, was er im engeren Sinn ›enthält‹, bestehen: Wenn ein Begriff etwas nahelegt, bleibt der Begriff beim Verlust dessen, was er uns nahelegt, fundamental intakt, was bei begrifflichen Wahrheiten nicht zutrifft. Ein Beispiel, das mit der Freiheit zusammenhängt, kann diesen Unterschied illustrieren: Wer bestreitet, dass die Moral in einem bestimmten, metaphysisch anspruchsvollen Sinn objektiv ist, verfügt im Großen und Ganzen noch über denselben – und insofern intakten – Begriff der Moral; wer dagegen bestreitet, dass die Moral es mit solchen Dingen wie Handlungen, Regeln, Erwartungen oder dem menschlichen Gut zu tun hat, der hat nicht mehr denselben (und vielleicht keinen) Moralbegriff mehr. Zweifellos sind diese Grenzen oft fließend – und eben das ist der Punkt, auf den es ankommt: In Bezug auf kausale Kategorien ist gar nicht ausreichend klar, was der Freiheitsbegriff uns bloß nahelegt und was in einem belastbaren Sinn zu seiner Bedeutung gehört, um darauf eine Theorie zu gründen. Zweitens wäre selbst dann, wenn Kants Analyse zutreffen sollte, nicht viel gegen die Vereinbarkeitsthese gewonnen. Wie wir sahen, hält Kant den »comparativen« Freiheitsbegriff für eine »Ausflucht«, für eine »Wortklauberei«, für etwas, das uns nur blendet und möglicherweise genau zu diesem Zweck erfunden worden ist. Er ist für ihn ein »elender Behelf« im Angesicht der blanken Not, die mit dem Verlust des moralischen Gesetzes und der moralischen Verantwortung über uns hereinbrechen würde. – Das ist zweifellos stark überzeichnet und setzt erneut die Unhaltbarkeit der Vereinbarkeitsthese voraus, statt sie zu beweisen. Richtig ist aber, dass der »comparative« Begriff ein erworbener und reflektierter ist, gegen den sich in

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unserem Denken und Fühlen viel sträubt.11 Das zeigt allerdings nicht, dass wir mit ihm reflektiert nicht zufrieden sein können – und noch viel weniger, dass wir mit ihm nicht zufrieden sein müssen. Interessanterweise scheint Kant selbst das zu akzeptieren. Diesen Eindruck erweckt er zum Beispiel dann, wenn Kant den Freiheitsbegriff, den er gegen den »comparativen« in Stellung bringt, als »transscendentalen« markiert und so zugleich implizit den »comparativen« als Freiheitsbegriff anerkennt. Im Rahmen des logisch Möglichen sind beide: sowohl der Freiheitsbegriff, der Erstverursachung, absolute Selbsttätigkeit, Spontaneität fordert, als auch der, für den das nicht gilt. – Die Frage ist dann, welchen Freiheitsbegriff wir akzeptieren, welche Freiheit wir wollen und brauchen. Das sind die wirklich wichtigen Fragen – aber es sind keine Fragen mehr, die sich durch bloße Begriffsanalyse beantworten ließen. Dies ist wieder etwas, das Kant akzeptiert oder akzeptieren könnte. Es erklärt vielleicht den Wechsel in Kants Strategie, der gleich im folgenden Satz dazu übergeht, die Frage, welcher der beiden Freiheitsbegriffe der angemessene ist, von substantiellen Kriterien abhängig zu machen. Er schreibt: »Es kommt nämlich bei der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß, darauf gar nicht an, ob die nach einem Naturgesetze bestimmte Causalität durch Bestimmungsgründe, die im Subjecte, oder außer ihm liegen, und im ersteren Fall, ob sie durch Instinct oder mit Vernunft gedachte Bestimmungsgründe nothwendig sei […].« (V, 96) Demnach ist es ganz gleichgültig, ob wir uns Determiniertheit des Denkens und Handelns als geistigen oder als materiellen Automatismus vorstellen, ebenso wie es ganz gleichgültig ist, ob wir uns den entsprechenden geistigen Automatismus als ein Räderwerk der Instinkte und Triebe oder als ein Räderwerk von vernünftig zu nennenden Denkprozessen und Entscheidungsabläufen zurechtlegen wollen. Nichts davon reicht Kant zufolge für die Freiheit aus, »die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß«. Den entscheidenden Makel des »comparativen« Freiheitsbegriffs sieht Kant dementsprechend darin, dass mit ihm »kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich ist« (V, 96 f.). In der Kritik der reinen Vernunft schreibt er entsprechend: »Die transscendentale Idee der Freiheit macht zwar bei weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs dieses Namens aus, welcher großen Theils

So fragt Keil in seinem Beitrag zu diesem Band zu Recht: »Würde nicht jeder, der nicht über Kompatibilismus in Büchern gelesen hätte, diese Antwort für einen schlechten Scherz halten?« (S. 229). Nach meiner Erfahrung: nicht jeder, aber sehr viele. Als intuitiv einsichtig oder als implizit von uns anerkannt kann weder der Inkompatibilismus noch der Kompatibilismus gelten. 11

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empirisch ist, sondern nur den der absoluten Spontaneität der Handlung als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben, ist aber dennoch der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art von unbedingter Causalität einzuräumen.« (B 476) Hier macht Kant die substantielle Annahme, dass Freiheit im Sinn der »absoluten Spontaneität der Handlung« der »Grund« der Zurechnung sei. Das mag nun wahr sein oder nicht – es ist sicherlich keine durch das bloße Verstehen der Wörter gestützte begriffliche Wahrheit mehr. Tatsächlich hat Kant für die These auch ein Argument, das den Befund unterstreicht und auf das ich zurückkommen werde. Hier halte ich fest, dass Kant in der zitierten Passage kein überzeugendes Argument auf rein begrifflicher Grundlage liefert und das in Wirklichkeit auch nicht beansprucht. Außerdem hat sich gezeigt, dass die Reichweite von Argumenten auf rein begrifflicher Grundlage hier ohnehin nicht sehr groß ist und diese Grundlage schwankt. 6.3 Bedingung der Vernünftigkeit Ein drittes und besser ausgeführtes Motiv findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785, wo Kant das Merkmal der Vernünftigkeit des Menschen heranzieht, um daraus auf die Berechtigung der Annahme seiner Freiheit zu schließen. Es handelt sich um ein transzendentales Argument, weil im Ausgang von etwas, das als gegeben gilt, die Frage der Bedingung der Möglichkeit gestellt wird, um so auf die Rechtfertigung der Annahme, dass die Bedingung erfüllt ist, zu schließen. Dieses Thema kehrt in Variationen wieder, wird aber schließlich von Kant selbst verworfen. Die Schlüsselprämisse des ersten Arguments dieser Form lautet, dass der Mensch sich nicht konsistent als Vernunftwesen begreifen kann, ohne sich als solches auch als transzendental frei anzusehen. Nun begreifen wir uns als Vernunftwesen – wenn die Schlüsselprämisse zutrifft, müssen wir uns also auch als frei verstehen. So schreibt Kant: »Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muss) ist Freiheit.« (IV, 452) Dahinter steht der Gedanke, dass die Vernunft keine äußeren Ursachen hat und aufgrund ihrer Natur auch nicht haben kann. Dementsprechend meint Kant, man könne sich »unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben« (IV, 448).

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Das aber überzeugt auch nicht, wie Kant später eingesehen hat, und es bleibt obendrein unausgewiesen.12 Tatsächlich gibt es hier gar keinen Widerspruch, wenn man ›Vernunft‹ von ›Freiheit‹ trennt. Ein Wesen ›vernünftig‹ nennen heißt, sehr grob gesagt, ihm bestimmte Fähigkeiten zuzusprechen und die konkrete Ausübung dieser Fähigkeiten an bestimmten Normen des Vernünftigen zu messen. Das sagt aber nicht das Geringste darüber aus, wie diese Fähigkeiten oder ihre Ausübung im Allgemeinen oder im konkreten Fall zu erklären und in die Natur einzuordnen sind. ›Vernunft‹ und ›Natur‹ sind ganz verschiedene begriffliche Kategorien und einer Konzeption der Vernunft, die sie in die natürliche Welt einordnet, steht aus begrifflicher Sicht deshalb auch nichts entgegen. Kant selbst gibt das ab 1787 zu, ja er betont es. In der Vorlesung Metaphysik der Sitten Vigilantius heißt es: »Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur« (XXVII, 503). Kant gibt dort auch gleich ein drastisches Beispiel: Schlägt ein Mensch »den andern todt«, dann »kann er den Todtschlag übrigens auf die feinste Art einleiten, ausführen und verdecken: so kann doch selbst seine Vernunft, als den Gesetzen der Natur unterworfen, ohne alle Freiheit gedacht werden« (XXVII, 502). Tatsächlich ist es aus Kants eigener Sicht nur konsequent, das zu sagen. Denn was immer Vernunft seiner Auffassung nach ist, sie ist immer auch eine empirische, psychologisch reale Größe der philosophischen Anthropologie. Wenn sie aber das ist, hat sie auch als psychologische Größe Ursachen und ist ein Teil der natürlichen Ordnung – und wenn sie das ist, fehlt uns bis jetzt jedes Merkmal, das die Vernunft selbst oder uns als vernünftige Wesen zudem und zwingend als etwas einer ›intelligiblen Welt‹ oder ›Verstandeswelt‹ Zugehöriges auswiese. – Gewiss: Normen der Vernunft sind etwas anderes als Beschreibungen unserer Psychologie, und Gründe sind nicht Ursachen. Fasst man die Rede von der ›Verstandeswelt‹ dementsprechend als Rede von Gründen, nicht Ursachen auf und sieht man Normen als Standards und Maßstäbe, nicht als Beschreibungen von empirischen Tatsachen an, dann hat es einen guten Sinn, von einer ›Verstandeswelt‹ zu sprechen und sie von einer ›Sinnenwelt‹ zu unterscheiden – etwa so, wie man im Anschluss an Wilfrid Sellars einen ›Raum der Gründe‹ von einem ›Raum der Ursachen‹ unterschieden hat.13 Außerdem hat es dann einen guten Sinn zu sagen, dass die Fähigkeit der Vernunft uns als solche in eine andere, nämlich ›intelligible‹ Ordnung der Dinge versetzt. Das alles ist aber vollkommen damit vereinbar, dass uns Vernünftigkeit auch ohne transzendentale Freiheit zukommt. Kants Argument wäre demnach nur dann zu retten, wenn man ›Vernunft‹ bereits in seinem Sinn versteht. Dann würde die Vernunft tatsächlich gleichsam eine Brücke in die Verstandeswelt sein: Sie hätte eine empirische und eine metaphysische Seite. Das würde uns zu Bürgern zweier Welten machen, wobei die metaphysi12 13

Vgl. zur Chronologie Ludwig 2010 und seinen Beitrag zu diesem Band. Vgl. Sellars 1997, 76.

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sche Seite der Vernunft und unserer selbst als vernünftiger Wesen fundamental und keiner kausalen Bestimmung durch die Natur ausgesetzt wäre. Dann aber würde sofort fraglich, ob wir wirklich in diesem Sinn vernünftig sind, und das Argument für Freiheit drohte wieder zirkulär zu werden.

6.4 Praktisches Sollen Ein viertes Motiv findet sich in der Kritik der reinen Vernunft und in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Es verbindet den Begriff der Freiheit mit dem Begriff des praktischen Sollens. Kant schreibt: »Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind« (IV, 455). – Man kann diese Passage als eine bloße Erläuterung lesen, die den Gedanken des Sollens mit dem Gedanken der Freiheit des Willens verbindet. Doch es mag auch die stärkere These gemeint sein oder zumindest im Hintergrund stehen, dass der Gedanke des Sollens die Freiheit des Willens voraussetzt. Das würde heißen: Ohne uns dem Willen nach als frei zu denken, könnten wir uns auch nicht als Adressaten eines Sollens denken. Damit muss noch nicht ein moralisches Sollen gemeint sein: Die Verbindung von Freiheit und Sollen reicht weiter und auch dann, wenn ein ›vernünftiges Sollen‹ gemeint ist, kann dieses Sollen sowohl hypothetisch als auch kategorisch sein. Dieses Argument – soweit es sich dem Anspruch nach um ein solches handelt – ist ebenfalls nicht schlüssig. Wenn wir in dem genannten Sinn davon sprechen, dass eine Handlung hätte geschehen sollen, dann weisen wir gewöhnlich darauf hin, dass es gute, vielleicht sogar zwingende Gründe für diese Handlung gab, doch entweder die Einsicht in diese Gründe ganz fehlte oder, obwohl die Einsicht gegeben war, diese doch nicht handlungsleitend wurde. In anderen Fällen drückt dieses Sollen einen substantiellen, etwa prudentiellen oder moralischen Maßstab aus, der nicht so eng und so eindeutig mit Gründen zusammenhängt. In jedem Fall setzt die Beurteilung einer Handlung nach einem Maßstab nicht transzendentale Freiheit voraus. Was Kant im Sinn zu haben scheint, ist jedoch etwas mehr, und etwas für die Idee des praktischen Sollens Entscheidendes. Wenn wir jemandem sagen, dass er anders hätte handeln sollen, dann setzen wir in aller Regel voraus, dass die Person auch anders hätte handeln können, und das ist eine Aussage nicht über Maßstäbe, sondern über konkrete Fähigkeiten des Adressaten in der gegebenen Situation. So erscheint der Gedanke in der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant Bedingungen des moralischen »Tadels« beschreibt: Zu ihnen zählt Kant die Vernunft, »wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen« (B 583). – Hier wird sehr deutlich, warum die Determiniertheit des Wollens und Handelns wenigstens prima facie eine Gefahr für die Fähigkeit, anders handeln

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zu können, darstellt: Determiniertheit scheint diese Fähigkeit entweder ganz zu untergraben oder zumindest ihre Ausübung in der gegebenen Situation objektiv, nämlich kausal, unmöglich zu machen. Ob es aber so ist, hängt ganz entscheidend von der Lesart des ›hätte anders handeln können‹ ab. Wenn wir etwa die konditionale Lesart heranziehen, ist ›hätte anders handeln können‹ ohne Weiteres mit der Determiniertheit des Wollens und Handelns vereinbar, weil es nur besagt, dass die Person etwas anderes hätte tun können, wenn sie etwas anderes gewollt hätte. Das ist normalerweise nicht der Fall, wenn die Person gefesselt ist oder sich im freien Fall befindet – aber es ist normalerweise sehr wohl der Fall, wenn die Person etwas ungehindert, überlegt, und weil sie selbst es will, tut. – Die Frage ist natürlich, ob diese Freiheit ausreicht, um moralische Zurechenbarkeit zu ermöglichen. Die Antwort auf diese Frage lautet aus meiner Sicht: nein. Das liegt aber – so meine ich – nicht an der angeblichen Determiniertheit des Wollens und Handelns; es liegt vielmehr daran, dass die konditionale Analyse zu undifferenziert ist, um der Komplexität der Entschuldigungs- und Ausnahmekriterien zu genügen, die unsere Praxis der moralischen Zurechnung anerkennt. Ich komme darauf zurück. Der Punkt, um den es mir an dieser Stelle geht, ist lediglich der, dass Kant nicht erklärt, warum der relevante Sinn von ›hätte anders handeln können‹, der sich aus dem ›hätte anders handeln sollen‹ ergibt, nicht mit dem Determinismus vereinbar ist. Genauer: Kant erklärt nicht, sondern setzt voraus, dass der Sinn von ›hätte anders handeln können‹, der durch die These des Determinismus untergraben zu werden droht, der relevante Sinn für unser Verständnis des praktischen Sollens und mit ihm für unser Verständnis von Freiheit und unsere Praxis moralischer Zurechnung ist. Dafür mag sich ein unabhängiges Argument finden lassen – doch bei Kant selbst findet es sich nicht. Deshalb ist auch dieses Argument, wenn man es als Argument gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese verstehen will, zirkulär.

6.5 Praktische Freiheit Ein fünftes Motiv hängt eng mit diesem zusammen, führt aber auch darüber hinaus. Es betrifft Kants Behauptung, »praktische Freiheit« setze »transscendentale Freiheit« voraus. Dieses Argument findet sich in der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant schreibt, »die Aufhebung der transscendentalen Freiheit« würde »zugleich alle praktische Freiheit vertilgen« (B 562). »Freiheit im praktischen Verstande« ist dabei »Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« (ebd.). Warum sollte die praktische Freiheit, in diesem Sinn verstanden, die transzendentale voraussetzen? Kant geht von der Beobachtung aus, dass das menschliche Wollen anders als das Wollen von Tieren nicht durch rein »sinnliche Antriebe« determiniert ist. Das ist keine ganz unproblematische Voraussetzung für Kant, der später sogar behauptet, dass das menschliche Handeln in der Erscheinung nicht nur kausal determiniert, sondern durch sinnliche Antriebe, nämlich »Begierden und

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Neigungen« determiniert sei (IV, 453). Dies wirft wie vorher die Frage auf, welche Rechtfertigung sich dafür geben lässt, das Bewusstsein der Freiheit im praktischen Überlegen als Evidenz für eine transzendentale Freiheit anzusehen. Sehen wir von dieser Komplikation ab, ist Kants Gedanke der Sache nach richtig und wichtig: Wir verfügen über einen Willen, der nicht ausschließlich und auch nicht unmittelbar durch »Begierden und Neigungen« determiniert ist. Die Frage ist: Was hat das mit transzendentaler Freiheit zu tun? Hier scheint Kant nun erneut das Merkmal der Vernünftigkeit und den Gedanken des praktischen Sollens bemühen zu wollen, die aber wie gezeigt für sich genommen kein Argument für diesen Schluss an die Hand geben. Kants Einsicht bleibt davon unberührt: Menschliches Wollen ist tatsächlich nicht durch bloße »Begierden und Neigungen« determiniert, sondern kann sich im Bewusstsein von Gründen von der bloßen Bestimmung durch Antriebe lösen. Wir können uns zu Begierden und Neigungen im Überlegen verhalten und erst der Gang der Überlegung bestimmt im Normalfall unsere Handlung. – Es kommt eine weitere wichtige Einsicht hinzu: Dass wir dazu fähig sind, Begierden und Neigungen zu reflektieren und erst der Gang des Überlegens unser Handeln bestimmt, ist zugleich eine Bedingung des Sollens; hätten wir diese Fähigkeit nicht, gäbe es für uns auch kein ›vernünftiges Sollen‹. Anders gesagt: Es gibt im Normalfall keine kausale Verknüpfung, die »Begierden und Neigungen« unmittelbar in Handeln überträgt. Wir sind zur Reflexion fähig, können aus Einsicht in Gründe und Grundsätze handeln, worin sich Vernunft in einem genuin praktischen Sinn manifestiert. Sollensansprüche sind Ansprüche an die Vernunft, und wenn sie Handeln betreffen, ist die Vernunft, die betroffen ist, praktisch. Praktisches Sollen setzt also praktische Vernunft beim Adressaten voraus. Praktische Vernunft hat aber nur das Wesen, das nicht unmittelbar durch »Begierden und Neigungen« determiniert ist – so verstanden ist »praktische Freiheit« tatsächlich ein ganz entscheidendes Merkmal der Form des menschlichen Handelns, und Kant hebt dieses Merkmal zu Recht hervor. Mehr noch: Praktische Freiheit in diesem Sinn »kann durch Erfahrung bewiesen werden« (B 830), wie Kant im Kanon behauptet. Wie aber kann dann die »Aufhebung der transscendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen« (B 562)? Das ist genau dann nicht plausibel, wenn die Vernunft auch ein Teil der Naturordnung sein kann – was sie Kant selbst zufolge in jedem Fall ist, selbst wenn er natürlich meint, dass die Vernunft noch viel mehr als das ist. Die Antwort wird deshalb wieder lauten müssen, dass Kant die Vernunft so wie bald darauf in der Grundlegung als ein Vermögen versteht, das uns so wie eine Brücke direkt in eine Verstandeswelt führt. Mit dieser Annahme – und nur mit ihr – ist es möglich, aus der Tatsache, dass die Vernunft uns erlaubt, »Begierden und Neigungen« im Überlegen zu reflektieren, anstatt einfach von ihnen getrieben zu sein, zu schließen, dass ohne transzendentale Freiheit auch keine praktische Freiheit möglich sein würde. Wenn das so ist, dann setzt Kant aber wieder voraus und begründet nicht, dass ohne sein Verständnis von Vernunft nur die Kausaldetermination des Handelns

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durch »Begierden und Neigungen« übrig bleiben würde. Das ist aber nicht nur unbegründet, sondern falsch, denn die Vernunft und mit ihr die »praktische Freiheit« ist selbst ein Teil der natürlichen Ordnung. Wie so oft ist die Alternative ›entweder Vernunft im transzendental freien Sinn oder Kausaldetermination durch Begierden und Neigungen‹ irreführend, denn sie ist keineswegs ausschließlich. – Auch dieses Argument ist somit hinfällig. Es beruht auf dem wesentlich metaphysischen Verständnis von Vernunft, das Kant hier wohl noch stillschweigend voraussetzt, und operiert mit verzerrten Alternativen.14 So bleibt es auch dann, wenn man die Alternativen für ausschließlich hält, noch zirkulär.

6.6 Autonomie Dieses Problem begegnet uns auch beim sechsten Motiv, das für Kant besonders wichtig ist, weil es die Frage der Freiheit des Willens mit seiner Moraltheorie verknüpft.15 Kant argumentiert wieder mit seiner zu scharfen Dichotomie: Entweder sind wir vernünftig und damit transzendental frei, oder wir unterliegen der Kausaldetermination durch Begierden und Neigungen. Er gibt der Unterscheidung dabei aber eine neue Wendung: Nur im Fall des vernünftigen und freien Handelns ist unser Handeln ein Ausdruck von Autonomie, also von Selbstgesetzgebung, während im zweiten Fall Heteronomie, also Fremdgesetzgebung, das Schicksal des Menschen sein würde. Kant meint nun, »nur durch Entwickelung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit« zeigen zu können, »daß eine Autonomie des Willens demselben unvermeidlicher Weise anhänge, oder vielmehr zum Grunde liege« (IV, 445). Und er schließt: »Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Princip derselben zugleich einräumen« (ebd.). Dies ist nicht der Ort, um Kants Moraltheorie zu diskutieren. Mir scheint, dass Sittlichkeit zweifellos »Etwas« und nicht »eine chimärische Idee ohne Wahrheit« ist – ob das aber auch auf Kants Verständnis von Sittlichkeit zutrifft, ist eine andere Frage. – Hier kommt es mir darauf an, dass Kants Schluss vom Moralgesetz auf transzendentale Freiheit, der durch den Begriff der Autonomie vermittelt ist, keineswegs zwingend ist und zudem ein falsches Bild der Autonomie zeichnet. Zunächst ist klar, dass der Determinismus keine inhaltlichen Aussagen darüber impliziert, was ein Wesen will und wollen kann. So folgt aus dem Determinismus auch nicht, dass niemand ein moralisches Wollen ausbilden könnte. Es folgt nicht Deshalb ist es wichtig anzumerken, dass Kant die Passagen der Kritik der reinen Vernunft, die diesem Verständnis verpflichtet sind, 1787 nicht mehr revidierte, sondern unverändert in den Druck gab. So besteht die Möglichkeit, dass auch die Passagen zur praktischen Freiheit nicht mehr dem Stand der Theorie von 1787 entsprechen; vgl. Ludwigs Beitrag zu diesem Band, S. 179–184. 15 Ich danke Pauline Kleingeld und Tobias Rosefeldt für ihre Hinweise zu diesem Punkt. 14

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einmal, dass niemand einem kategorischen Imperativ unterliegt: Es gibt keinen unmittelbaren begrifflichen Widerspruch zwischen den Thesen: (1) Eine Person soll etwas auch dann tun, wenn sie weder eine mittelbare noch eine unmittelbare »Neigung« dazu hat; und (2) Das Subjekt ist in seinem Wollen und Handeln kausal determiniert. Wenn ›Autonomie‹ also verlangt, (1) dem kategorisch gebietenden Sittengesetz entsprechend zu handeln und (2) zu diesem Handeln durch die entsprechende Einsicht und nicht durch andere, fremde »Begierden und Neigungen« motiviert zu sein, dann stellt der Determinismus nicht zwangsläufig eine Bedrohung der Autonomie dar. Selbst wenn es – wie ich glaube – keinen kategorischen Imperativ im kantischen Sinn gibt, kann ein determiniertes Wesen nicht nur moralisch sein wollen, sondern in diesem Wollen auch selbstbestimmt sein. Es wird dann Grund dazu haben, moralisch zu handeln. Es wird auch aus diesem Grund handeln können und damit das tun können, was es selbst will. Selbst dann, wenn es keinen Grund dazu hat, der Moral um der Moral willen zu folgen, kann ein vernünftiges Wesen ein Adressat von moralischen Pflichten und Erwartungen sein.16 Nun ist die inhaltliche Seite nur die eine Seite der Autonomie. So mag man sich fragen: Bleibt es nicht bei Fremdbestimmung, wenn unser Wollen und Handeln sich, sei es direkt, sei es mittelbar, aus »Begierden und Neigungen« herleiten lässt? Wir wissen: Wenn »Begierden und Neigungen« unmittelbar kausal wirksam wären, wir nicht Gründe abwägen und nachdenken, sondern dem kausalen Geschehen nur hilflos zuschauen könnten, dann wäre das tatsächlich Fremdbestimmung in einem furchtbaren Sinn. Und wir wissen auch: Dass es (in der Regel) nicht so ist, sichert die praktische Freiheit, und diese Freiheit wird nicht vom Determinismus bedroht. – Bleibt aber nicht dennoch der Eindruck, wir seien fremdbestimmt, solange wir durch »Begierden und Neigungen« und nichts weiter als praktische Freiheit zum Handeln bestimmt sind? Genau das legt Kant nahe, wenn er schreibt, dass überhaupt kein Gegenstand den Willen beeinflussen dürfe, weil andernfalls die praktische Vernunft »fremdes Interesse bloß administrire« (IV, 441). Hier zeigt sich die Radikalität seiner Autonomiekonzeption. Ich lasse offen, ob diese Form der Autonomie verständlich ist oder erstrebenswert wäre. Mich interessiert das Wort ›fremd‹ in »fremdes Interesse«. ›Fremd‹ ist ein Interesse, das die Vernunft ›bloß administriert‹, in Kants Konzeption ja zunächst nur der Vernunft selbst. Dann ist aber gerade die Frage, ob daraus Heteronomie, also Fremdgesetzgebung, folgt – und warum es uns beunruhigen sollte, wenn es so wäre. So wie bei der Freiheit müssen wir uns fragen: Welche Art von Selbstbestimmung ist uns wichtig? Welche Art von Selbstbestimmung wollen wir? Dabei ist ein Perspektivenwechsel nötig: »Begierden und Neigungen« sind ein Teil von uns, und viele sind ein Bestandteil des Ich, zählen zu dem, was uns ausmacht und sind so ein Teil der praktischen Identität.17 Nur dann, wenn wir uns Ich führe diese Konzeption moralischer Pflicht und ihr Verhältnis zu Gründen in Brandhorst (im Erscheinen) weiter aus. 17 Williams spricht in diesem Zusammenhang von ›kategorischen Wünschen‹ und ›grund16

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selbst vorab mit der Vernunft identifizieren, folgt aus der unvermeidlichen Abhängigkeit unseres Wollens und Handelns von den »Begierden und Neigungen«, dass uns »eigentlich die Natur das Gesetz« gibt (IV, 444) und wir dadurch fremdbestimmt sind. Das ist der entscheidende Fehler: Es gibt keinen Grund dafür, ›Selbst‹ und ›Vernunft‹ gleichzusetzen, und das zu tun verzerrt sowohl das Phänomen als auch den Wert der Selbstbestimmung. Als Argument ist die Gleichsetzung in jedem Fall zirkulär: Wenn wir die Vernunft zum Selbst erklären, kann es uns nicht überraschen, dass die Bestimmung des Handelns durch »Begierden«, »Neigungen« und »Gegenstände« Fremdbestimmung sein würde und nicht mit Selbstbestimmung vereinbar ist. Aber bleibt es nicht bei Fremdbestimmung in einem kausalen Sinn, selbst wenn wir diesen Einwand akzeptieren? Wir wollen sagen: Wenn unser Wollen und Handeln von Ursachen abhängt, die sich nicht nur der Kontrolle entziehen, sondern sogar in eine Zeit zurückreichen, in der wir noch gar nicht existierten, dann sind wir in allem Wollen und Handeln kausal fremdbestimmt. – Das ist tatsächlich die Folge des Determinismus – aber es ist nach wie vor eine offene Frage, ob Fremdbestimmung in diesem Sinn eine Bedrohung für Freiheit, Moral und Verantwortung darstellt.

6.7 Das Bewusstsein moralischer Pflicht Dieses Motiv ist im späteren Werk Kants entscheidend und stellt, wie es scheint, einen bewussten strategischen Neuansatz dar. Zugleich führt es Motive der ersten Kritik und der Grundlegung weiter und sichert sie ab. 1785 hatte Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung versucht, die Annahme der transzendentalen Freiheit direkt durch den Verweis auf Vernunft zu rechtfertigen. In der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 – die in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 schon ihre Schatten vorauswirft – ist davon nicht mehr die Rede. Stattdessen führt Kant gleich zu Beginn einen neuen Beweis und beruft sich dabei auf das Bewusstsein moralischer Pflicht. Kant erklärt nun nicht mehr die Vernunft, sondern das moralische Gesetz zur »ratio cognoscendi der Freiheit«, die Freiheit dagegen zur »ratio essendi des moralischen Gesetzes« (V, 4, Anmerkung). Die These ist also, dass wir ohne das Bewusstsein des moralischen Gesetzes nicht zur Annahme der Freiheit berechtigt wären, dieses Bewusstsein selbst aber die Freiheit verbürgt. In beiden Hinsichten wird das Bewusstsein moralischer Pflicht nun zentral: »Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.« (Ebd.) legenden Projekten‹, die das Leben eines Menschen tragen (Williams 1976). Auch die Arbeiten Frankfurts zur Autonomie (Frankfurt 1988, 1999 und 2004) sind hier einschlägig.

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Was spricht für diesen Zusammenhang? Zunächst gibt es keinen unmittelbaren und zwingenden Grund zu der Annahme, dass moralisches Denken sich nicht genauso wie anderes Denken in die Naturordnung einpassen ließe. Wie zuvor im Fall des vernünftigen Denkens sieht Kant es sicherlich selbst so: Was immer die Moral sonst sein mag, sie ist in jedem Fall auch ein Datum der philosophischen Anthropologie und als solches zum Beispiel psychologischen, soziologischen, ethnologischen und historischen Erklärungen zugänglich. Weshalb also weist die Moral zugleich und zwingend über die Sinnenwelt hinaus? – Kant hätte hier auch im Hinblick auf seine Kritik am früheren Appell an die Vernünftigkeit des Menschen als Merkmal der Freiheit höchst misstrauisch werden müssen. Sicher ist zunächst: Sofern sich hinter diesem neu gestalteten Motiv nur die vorherigen verbergen, gelingt Kant kein wirklicher Neuansatz. Moral bezieht sich auf Vernunft – aber Vernunft ist nicht ohne petitio als ein Beleg für transzendentale Freiheit zu deuten. Moral bezieht sich auf praktisches Sollen – aber auch praktisches Sollen ist ohne petitio kein Beleg für transzendentale Freiheit. Moral bezieht sich schließlich auf praktische Freiheit – doch auch die praktische Freiheit ist ohne petitio nicht als Beleg für transzendentale Freiheit geeignet. – Was am Verweis auf Moral führt uns weiter? Die zwei wichtigen Momente, die im moralischen Denken im Vergleich zum bloßen praktischen Sollen, das sich auch in hypothetischen Imperativen ausdrückt, hinzutreten, sind das der Allgemeingültigkeit und der Kategorizität der moralischen Gebote. Anders als bloßes praktisches Sollen sieht Kant moralische Pflichten als Pflichten für jedes vernünftige Wesen an, und er meint, es sei vernünftig, dieser Verpflichtung entsprechend zu handeln, auch wenn es dafür keinen Anhaltspunkt in den »Begierden und Neigungen« gibt. So heißt es in der Metaphysik der Sitten Vigilantius: »Du sollst z. E. so und so handeln, dies setzt doch voraus, daß ich die Pflicht und Verbindlichkeit kenne, nach der ich handeln muß: diese Pflicht ist ihrer Natur nach absolut, unbedingt und nothwendig: was aber nothwendig ist, muß gewiß möglich seyn.« (XXVII, 506) Möglich – so der implizite Schluss – ist es aber nur durch Freiheit. Wie auch in der Kritik der praktischen Vernunft geht Kant sogar noch weiter, indem er hinzufügt: Hätten wir kein Bewusstsein moralischer Pflicht, gäbe es für uns auch kein Bewusstsein der Freiheit. Nach Kants eigenem Urteil wäre die einzig vernünftige Reaktion dann, die Freiheitsannahme zurückzuweisen: »Ohne Kenntniß der Pflicht selbst sich der Freiheit einmal bewußt zu werden, würde sogar unmöglich seyn, man würde Freiheit für absurd erklären« (XXVII, 506). – Das Gewicht von Freiheit und Verantwortung ruht ab jetzt allein auf dem kategorisch gebietenden, universalen Moralgesetz. Nun ist es keineswegs selbstverständlich, dass die Moral diese Merkmale hat. Ich selbst glaube: Die Moral ist weder allgemeingültig noch kategorisch in diesem Sinn.

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Dementsprechend halte ich das kantische Moralverständnis für ein philosophisches Konstrukt. Soweit das moralische Denken für dieses Verständnis wirklich eine belastbare Grundlage darstellt – und es tut das gewiss zu einem Teil – bedarf das moralische Denken selbst der Revision.18 – Doch der Punkt, auf den es ankommt, ist ein anderer: Selbst wenn man Kant diese Annahmen zugesteht, folgt nicht sofort ein Beleg für transzendentale Freiheit. Wenn die Moral in der Vernunft verankert sein sollte, kann sie für alle vernünftigen Wesen gültig sein, ohne dass diese Wesen auch über transzendentale Freiheit verfügen. Klarer ist das noch beim Merkmal der Kategorizität: Auch wenn die Moral für Menschen selbst dann verbindlich sein sollte, wenn sie keine Grundlage in »Begierden und Neigungen« hat, führt uns das nicht schon auf die transzendentale Freiheit. Es handelt sich vielmehr um einen moralischen Maßstab, dem das Wollen und Handeln entweder genügt oder nicht, und beides ist unabhängig von jeder Frage der Freiheit. Wenn man nun einwendet, hier impliziere in jedem Fall das ›Sollen‹ ein ›Können‹, ist wiederum erst die Frage, welches ›Können‹ das ist.19 ›Können‹ im Sinn der transzendentalen Freiheit wäre als diese Bedingung erst auszuweisen – sie kann folglich nicht ohne petitio als Bedingung moralischer Pflicht vorausgesetzt werden. Außerdem stellt sich die tiefere und verstörende Frage, mit welchem Recht ich mich immerhin dann für frei halten darf, wenn ich an die enge Verknüpfung von Sollen und Können einerseits und von Können und Willensfreiheit andererseits glaube. Wer garantiert mir denn, dass das Moralgesetz nicht eine bloße Fata Morgana ist, deren Täuschung ich nur nicht erkenne? Das Moralgesetz wäre dann etwas, das für mich zwar zu gelten scheint, aber aufgrund der mangelnden Freiheit für mich in Wirklichkeit gar nicht gilt. – Die Möglichkeit dieser skeptischen Haltung scheint mir Kant mit seiner These vom Faktum schlicht abzuweisen, anstatt gegen sie zu argumentieren. So spricht er von einem »Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist« (V, 47). Soweit ich sehe, ist das die zentrale Prämisse – und sie bleibt eine bloße Behauptung. Der Sache nach ist sie schlicht falsch. Im Wesentlichen zeigt sich also noch einmal dasselbe Bild: Kant setzt implizit voraus, dass das moralische Gesetz entweder für sich genommen, oder aber auf dem Weg des Sollens, der praktischen Freiheit und der Vernunft die transzenden-

Vgl. Williams 1985, Kap. 1 u. 10. Williams kontrastiert »das Ethische« mit dem »Moralsystem«, das er für eine spezifisch moderne Ausprägung des Ethischen hält. Dieses »Moralsystem« ist Williams zufolge zwar unhaltbar, aber zugleich tief in der Moral selbst verwurzelt. Kant gab dem Moralsystem den »reinsten, tiefsten und durchdringendsten Ausdruck« (Williams 1985, 174). – Eine realistische Alternative dazu gab es in der Antike, wie Williams 1993 zeigt. Wie Williams glaube ich, dass eine Rückbesinnung auf die Ethik der Antike in mehr als einer Hinsicht einen ethischen und theoretischen Fortschritt darstellen würde. 19 So argumentiert auch Parfit 2011, Bd. I, Kap. 11, 258–263. Wie viele andere ist Parfit zugleich Kompatibilist und Verfechter einer objektiven, von »Begierden und Neigungen« unabhängigen, in diesem Sinn als kategorisch zu bezeichnenden Moral. 18

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tale Freiheit voraussetzt. Nur wenn es diesen Zusammenhang gibt, kann das Bewusstsein des moralischen Gesetzes die ratio cognoscendi der Freiheit sein. Kants Argument für diesen Schluss ist aber auch noch in der zweiten Kritik im besten Fall zirkulär. Ein unabhängiges Argument gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese oder für die positive Freiheitsthese findet sich auch hier nicht. Der Appell an das Bewusstsein des moralischen Gesetzes wirkt dogmatisch und ist sachlich völlig unglaubwürdig.

6.8 Kontrolle der Bestimmungsgründe Das ist anders beim letzten Motiv, das als einziges wirklich Erfolg verspricht – wenn auch nur als Argument gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese. Es findet sich ebenfalls in der Kritik der praktischen Vernunft, wird in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erneut bemüht und kann als die Begründung für die Verwendung der eingangs genannten Bilder verstanden werden. So meint Kant, dass die »Bestimmungsgründe« des Handelns sich in einer deterministischen Welt in jedem Fall der Kontrolle des Handelnden entziehen: Denn es sind »immer Bestimmungsgründe der Causalität eines Wesens, so fern sein Dasein in der Zeit bestimmbar ist, mithin unter nothwendig machenden Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subject handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt sind« (V, 96). In der Metaphysik der Sitten Vigilantius erläutert Kant den Gedanken am Beispiel des Diebstahls: »Der ganze Gang der Sache in ihrer Verknüpfung ist Natur-Mechanismus, ohnerachtet die Handlung von vielem Gebrauch der Vernunftgründe abhing. Es lagen die Gründe der Handlung in der vergangenen Zeit, und er wurde dadurch zur Handlung selbst geleitet. – Die Gründe der Handlung, die ihn nach und nach bestimmten, lagen offenbar nicht in seiner Gewalt, denn er konnte sie nicht ungeschehen machen: insofern handelte er also nicht frey, da er blos unter dem Natur Mechanismo stand.« (XXVII, 504) Entsprechend heißt es in der Religionsschrift, die zu dieser Zeit erschien: Die Frage ist, »wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird« (VI, 49 f., Anmerkung). Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn das Handeln mit allen Bestimmungsgründen, die es notwendig machen, in der Gewalt des Subjekts sein können soll, dann

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muss das Subjekt über transzendentale Freiheit verfügen. So sagt es Kant in der Vorlesung: »Alle Handlungen stehen also unter dem Prinzip des Determinismus: nur man kann sie nur dann praedeterminiert nennen, wenn die Gründe der Handlung in der vorigen Zeit anzutreffen sind; das Gegentheil aber muß man annehmen, wenn die Gründe der Handlung nicht praedeterminiert sind, sondern der Handelnde Urheber und vollständige Ursache seiner Handlung ist. Im ersteren Fall ist die Handlung nicht in seiner Gewalt, in letzterem Fall bestimmt sich der Handelnde lediglich allein selbst zur Handlung ohne Zutritt äußerer Ursachen.« (XXVII, 504) Der Gedanke lautet: Freiheit verlangt Kontrolle durch Selbstbestimmung. Jede Bestimmung durch Ursachen in der vorherigen Zeit wäre Kontrollverlust durch Fremdbestimmung, denn sie würde dieses Handeln der Gewalt des Handelnden entziehen. Handeln, das der Handelnde nicht in seiner Gewalt hat, ist aber sicher nicht frei. Dieses Argument ähnelt dem von Peter van Inwagen formulierten ›Konsequenzargument‹ für den Inkomaptibilismus. Für unsere Zwecke genügt van Inwagens informelle Darstellung: »Wenn der Determinismus wahr ist, dann sind unsere Handlungen die Folgen der Naturgesetze und der Ereignisse in der fernen Vergangenheit. Es hängt aber nicht von uns ab, was geschah, bevor wir geboren wurden, und es hängt auch nicht von uns ab, welche Naturgesetze es gibt. Also hängen auch die Folgen dieser Dinge (einschließlich unserer gegenwärtigen Handlungen) nicht von uns ab.«20 Wir können nach dieser Voraussetzung also nicht anders handeln, als wir tatsächlich handeln. Wenn Freiheit darin besteht, anders handeln zu können oder diese Fähigkeit einschließt, dann sind Freiheit und Determinismus nicht miteinander verträglich. Ist dieses Argument schlüssig? Es ist in jedem Fall ernst zu nehmen, denn es trifft etwas von dem, was uns zögern lässt, die Vereinbarkeit von Determiniertheit und Freiheit – insbesondere die Vereinbarkeit von Determiniertheit und moralischer Zurechnung – einfach anzuerkennen. Dennoch hat auch dieses Argument Schwächen. Zunächst ist nicht klar, ob das Schlussprinzip wirklich gilt, denn während Ursachen unseres Handelns in der Vergangenheit sicher nicht in unserer Gewalt sind, ist es zumindest ungewöhnlich, das auch von gegenwärtigen Handlungen oder Handlungsmöglichkeiten zu sagen. Das deutet darauf hin, dass der Sinn, in dem unsere Handlungen ›von uns abhängen‹ oder ›in unserer Gewalt sind‹, ein anderer sein könnte als der, in dem die »nothwendig machenden Bedingungen der vergangenen

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Van Inwagen 1983, 56; vgl. 16, 222 u. Bojanowski 2006, 200, 283 f.

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Zeit« unseres Handelns zweifellos nicht ›von uns abhängen‹ und nicht ›in unserer Gewalt sind‹. Der Sinn der Ausdrücke ›etwas hängt von uns ab‹ oder ›etwas ist in unserer Gewalt‹ ist in der Konklusion also nicht mit Sicherheit derselbe wie der Sinn, den diese Ausdrücke haben, wenn sie in den Prämissen erscheinen. Sollte das so sein, wäre das Argument fehlschlüssig, weil die Bedeutung der Ausdrücke ›etwas hängt von uns ab‹ und ›etwas ist in unserer Gewalt‹ über Prämissen und Konklusion hinweg nicht konstant bleibt. Ein zweiter Einwand geht darüber hinaus, indem er zugesteht, dass das Argument schlüssig ist – und wenn es schlüssig ist, hat der Determinismus zur Folge, dass unser Handeln nicht von uns abhängt, weil die Bedingungen, die es notwendig machen, ebenfalls nicht von uns abhängen. Anders formuliert: Wenn der Determinismus wahr ist, haben wir unser Handeln nicht in unserer Gewalt, weil wir die Bedingungen, die es notwendig machen, auch nicht in unserer Gewalt haben. – Doch was genau würde das zeigen? Zunächst nur, dass es einen Sinn gibt, in dem dieser Schluss gilt. Doch ist das der einzige Sinn? Und ist es der relevante? Wieder ist die entscheidende und nicht durch das Argument selbst zu beantwortende Frage, um welchen Sinn von ›etwas hängt von uns ab‹ oder ›etwas ist in unserer Gewalt‹ es uns in unserem Freiheitsverständnis und in der Praxis der Zurechnung geht. Schließlich können wir noch einen Schritt weiter gehen und bestreiten, dass unser Freiheitsverständnis und unsere Praxis der Zurechnung überhaupt etwas damit zu tun haben, dass wir voraussetzen, jemand hätte anders handeln können. Diese radikalste Antwort könnte man auch dann noch geben, wenn das Konsequenzargument schlüssig wäre und keine alternative Interpretation von ›hätte anders handeln können‹ und ›etwas in seiner Gewalt haben‹ zu finden sein würde. Es ist weder klar, dass die Fähigkeit, anders handeln zu können, eine notwendige, noch, dass sie eine hinreichende Bedingung für Freiheit und moralische Verantwortung darstellt.21 Auch dieses letzte Argument ist also wenig überzeugend. Es ist Kant nicht gelungen, die traditionelle Vereinbarkeitsthese zu untergraben. Wie sich gezeigt hat, sind damit auch seine Versuche gescheitert, für die Annahme transzendentaler Freiheit zu argumentieren. Dass Kants Argumente gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese scheitern, zeigt nicht, dass es keine anderen, besseren Argumente gegen sie gibt. Umgekehrt zeigt die traditionelle Vereinbarkeitsthese selbst dann, wenn sie sich verteidigen lässt, nicht, dass es keine transzendentale Freiheit gibt oder geben kann. Sie zeigt vor allem nicht, dass eine solche transzendentale Freiheit nicht wünschenswert wäre – und solange nicht gezeigt ist, dass die Idee einer solchen transzendentalen Freiheit gar nicht klar verständlich ist, werden wir weiter für diese Wunschträume anfällig sein. – Kant verteidigt energisch das Recht, Freiheit als möglich, sogar als wirklich zu denken. Jetzt müssen wir fragen: Was genau denken wir, wenn wir das tun? Dafür argumentierte schon früh Frankfurt 1969. Eine Verteidigung von Frankfurts These, die sich auf eine sensible Analyse der Entschuldigungs- und Ausnahmekriterien der moralischen Praxis stützt, entwickelt Wallace 1994; vgl. auch Dennett 1984, Kap. 6. 21

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7. Der Abstieg Nehmen wir an, die transzendentale Freiheit wäre tatsächlich eine Bedingung für die moralische Praxis; nehmen wir an, ohne sie gäbe es keinen kategorischen Imperativ, keine moralische Pflicht, keine moralische Zurechnung, keine Verfehlung und Schuld. Die Frage ist: Wie könnte diese Bedingung erfüllt sein? Hier liegt die tiefere, ihrem Wesen nach rein begriffliche Herausforderung für Kants Freiheitstheorie. Ich glaube, dass Kants Theorie an ihr scheitert. Und ich glaube, dass Kants Theorie nicht deshalb an ihr scheitert, weil sie durch die Lehre von der Idealität von Raum und Zeit ganz anders auf die Herausforderung reagiert als viele Theorien der Freiheit vor und nach ihr. Eher scheint sie mir trotz der Tatsache zu scheitern, dass sie diesen Theorien insofern weit überlegen ist, als sie für ›erste Ursachen‹ einen möglichen Ort findet. – Meine These lautet: Bei Kant selbst ist keine Antwort auf die entscheidende Frage zu finden, wie ein ›spontaner‹, ›absoluter‹, ›unbedingter‹, ›erster Anfang‹ überhaupt Freiheit des Wollens und Handelns sein könnte. Auf diese Frage hat es bisher überhaupt noch keine gute Antwort gegeben, und das hat weder empirische, noch metaphysische, sondern begriffliche Gründe. Wie schon gesagt ist klar, dass bloße Indeterminiertheit nicht weiterhilft. Offenbar muss die ›kausale Lücke‹ an der richtigen Stelle, im Entscheidungsprozess des Handelnden sein. Doch was füllt nun diese ›Lücke‹? – Das Bild, das sich uns aufdrängt, ist das einer Entscheidung, die im Bewusstsein von Gründen getroffen wird, aber durch den gegebenen psychischen und physischen Zustand des Handelnden nicht determiniert wird. – Doch welche Art von Ereignis würde das sein? Und was wäre ein Anhaltspunkt dafür, dieses Ereignis als eine freie Entscheidung zu werten? Konzentrieren wir uns auf den Moment der Entscheidung: »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe« (B 478) – was macht diese Handlung frei? Wir wollen sagen: die Tatsache, dass ich nicht determiniert war, sondern selbst frei entscheiden konnte und das auch tat. – Aber wie ist dieses Entscheiden vor sich gegangen? Es gab eine Zeit davor – doch was zu dieser Zeit geschah, bestimmte nicht die Handlung. Es gab eine Zeit danach, in der neue Ereignisfolgen begannen. Was aber geschah im Augenblick der Entscheidung? Sie geschah, so viel ist klar – aber wie kam die Entscheidung zustande, wenn sie keine bestimmenden Ursachen in der Zeit davor hatte? Zu sagen: ›Ich traf doch diese Entscheidung‹ hilft uns nicht weiter – denn wir wollen eben wissen, was das ist: ›die Entscheidung treffen‹. – Sowohl von innen als auch von außen betrachtet gibt es den Moment des Umschlags, in dem die Entscheidung fällt. Was genau trennt die Entscheidung jetzt noch vom bloßen Ungefähr? Was trennt sie als Geschehen jetzt von einem bloßen Widerfahrnis? – Wenn sie uns dagegen eingebettet in den Kontext der Entscheidung nicht mehr als Widerfahrnis erscheint: Was trägt Indeterminiertheit dann zur Freiheit der Entscheidung bei?

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Wie es scheint, rückt Freiheit umso weiter aus dem Blickfeld, je näher wir dem Moment der Entscheidung selbst kommen. Je mehr Details wir wahrnehmen, desto unschärfer wird unser Verständnis des Merkmals der Freiheit. Je mehr wir über die Abläufe, deren Bestandteile und Beziehungen wissen, desto zweifelhafter werden Wirkungsweise, Spielraum, Grad und Grenze dieser Freiheit. Wenn wir den Moment des Umschlags wirklich isolieren könnten: Was wäre diese Entscheidung, wenn nicht ein undeterminiertes und insofern zufälliges Widerfahrnis? Nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit hätte es, weil es nicht determiniert war, entweder so oder so ausgehen können. – Nun ist es so ausgegangen, wie es ausgegangen ist. Dafür aber kann man der Voraussetzung zufolge weder in mir, noch in meinen Überzeugungen oder dem Gang meines Überlegens eine bestimmende Ursache ausfindig machen. Wie kann ich dann für dieses Geschehen in mir verantwortlich sein? Es geschah in mir – aber ich war nicht daran beteiligt, es war überhaupt kein Tun. Wie kann das Geschehen dann überhaupt Freiheit sein? Und selbst wenn wir es als freies Handeln anerkennen: Wie kann Indeterminiertheit dieser Art die Bedingung dafür sein, dass ich für das Handeln, das durch das Geschehen verursacht wird, moralisch verantwortlich bin? Diese Beschreibung verdeutlicht noch einmal, worin die erhoffte Freiheit bestünde: Der Urheber der Entscheidung und Tat muss ich sein, und dabei darf die Entscheidung keine bloß determinierte Wirkung der vorausgehenden Zustände und Ereignisse sein – weder solcher in mir, noch in meiner Umwelt. Diese Beschreibung verdeutlicht zugleich, warum Kants Theorie der Freiheit tatsächlich die richtige Form hat, um das Problem zu lösen: Sie scheint dem Dilemma entkommen zu können. Kant schreibt uns – genauer: uns in Bezug auf unseren »intelligibelen Charakter« (B 568) – »transscendentale Freiheit« zu, die uns befähigt, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« (B 562). – Wir sind also dabei die Akteure, und wir fangen eine Reihe von Begebenheiten in dem Sinn »ganz von selbst« an, dass es für diese Reihe keine bestimmende Ursache in der vorigen Zeit gibt. Es gibt dann auch keine ›Lücke‹ im Lauf der Ereignisse, die erst gefüllt werden müsste und dabei vom Zufall eingenommen zu werden droht. Das ist das Raffinierte seiner Konstruktion. Aber löst Kant sein Versprechen auch ein? Nehmen wir an, »dieses tätige Wesen« wäre »in seinen Handlungen von aller Naturnothwendigkeit, als die lediglich in der Sinnenwelt angetroffen wird«, unabhängig. Warum wäre dieses »Wesen« nicht nur von der Naturnotwendigkeit »unabhängig«, sondern dadurch auch »frei« (B 569)? Kant behauptet hier in einem Atemzug, ein solches »tätiges Wesen« wäre von aller Naturnotwendigkeit »unabhängig und frei« (ebd.). Das ist aber nicht dasselbe. Was führt von ›Unabhängigkeit‹ zu ›Freiheit‹? Man überliest die Stelle leicht, doch an ihr wird etwas Wichtiges deutlich. Kant stellt nie in Frage, dass die Wirkung des »intelligibelen Charakters«, die als solche Wirkung ex hypothesi von der Naturnotwendigkeit unabhängig wäre, als eine freie Handlung anzusehen sein würde. Hier ist die erste Frage, wie Kant sich diese Wirkung vorstellt. Mein »intelligibeler Charakter« kann nur dann die Last der Ver-

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antwortung für die Beschaffenheit meines »empirischen Charakters« tragen, wenn mein empirischer Charakter, der die Handlungen in der Erscheinung bestimmt, tatsächlich von meinem intelligiblen Charakter bestimmt wird – und wenn es sinnvoll ist zu sagen, dass es sich bei beiden um zwei Seiten meines Charakters handelt. Andernfalls wäre Verantwortung für mein Handeln in der Erscheinung nicht mir zuzuschreiben, sondern nur einer anonymen transzendentalen Instanz. Es bleibt letztlich unklar, ob und wie das möglich ist. Auch die Frage der Gründe und des Entscheidens stellt sich hier wieder. Wie ist es möglich, einem Wesen, das wir außerhalb von Raum und Zeit denken sollen, Gründe, Bewusstsein von Gründen und die Fähigkeit zur Entscheidung und Handlung zuzuschreiben? Selbst wenn wir ein solches Wesen individuieren können, folgt daraus nicht, dass solche Zuschreibungen möglich und sinnvoll sind. Tatsächlich fällt auf, dass Kant den Begriff des »Charakters« – und damit auch den Begriff des »intelligibelen Charakters« – in rein kausalen Begriffen, nicht aber in psychologischen Begriffen bestimmt: »Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« (B 567). Auch die »transcendentale Idee der Freiheit« macht Kant zufolge »bei weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs« der Freiheit aus, der »großen Theils empirisch ist«: Sie hebt einzig und allein das Merkmal der »absoluten Spontaneität« hervor (B 476). Von ›Motiv‹, ›Grund‹ oder ›Überlegung‹ ist hier genauso wenig die Rede wie von ›Entscheidung‹ und ›Handlung‹. Dann ist aber zu fragen, ob das von Kant beschriebene Freiheitsverständnis den begrifflichen Anforderungen genügt, die an Freiheit geknüpft sind. Diese Bedingungen gelten nicht nur für die Frage ihrer Wirklichkeit oder Erkennbarkeit. Sie betreffen schon ihre Möglichkeit. Diesen Eindruck einer inhaltsleeren Abstraktion verstärkt ein Brief an Kiesewetter vom 20. April 1790. Wieder erläutert Kant sein Verständnis von Freiheit in rein kausalen Begriffen und setzt es ausdrücklich vom »Willen« ab. Er schreibt Kiesewetter, »daß die Möglichkeit der Freyheit, wenn sie vor dem moralischen Gesetze betrachtet wird (in der Critik der reinen Vernunft), nur den transscendentalen Begrif der Caussalität eines Weltwesens überhaupt bedeutet (ohne darunter besonders die durch einen Willen anzeigen zu wollen), so fern sie durch keine Gründe in der Sinnenwelt bestimmt wird und daß daselbst nur gezeigt wird, daß sie keinen Wiederspruch enthalte« (XI, 154 f.). Durch das moralische Gesetz werde nun »jene transscendentale Idee realisirt und an dem Willen, einer Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen), gegeben«; »Freyheit, als Caussalität« werde »bejahend erkannt« (XI, 155). – Vom moralischen Gesetz einmal abgesehen stellt sich die Frage: Was genau führt von der Freiheit »als Caussalität« zur Willensfreiheit? Was genau geschieht, wenn wir »Freiheit« als eine besondere Art von Kausalität auf den »Willen« beziehen? Was würde einen undeterminierten, nicht einmal als ein zeitliches Geschehen zu beschreibenden kausalen Vorgang zu einer freien Tat machen?

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Zunächst kann Kant dem Einwand entgehen, Handeln und Entscheiden sei seiner Auffassung nach unverursacht und damit bloßer Zufall. Einerseits ist es Erscheinung und damit durch Naturursachen determiniert; andererseits ist es Wirkung des intelligiblen Tuns. Doch das verschiebt das Problem nur. Denn inwiefern ist die »intelligibele Ursache« frei? Das traditionelle Dilemma ergibt sich aus der Schwierigkeit, ein bloß indeterministisches Geschehen als mein Tun zu beschreiben, weil es vielmehr so aussieht, als stoße mir etwas zu, oder als geschehe nur etwas in mir. Dieses Problem erbt Kant, solange er zwischen mir als Ding an sich einerseits und meinem Tun andererseits begrifflich unterscheidet. Unterscheidet er dagegen beides nicht, entkommt er auch nicht dem Einwand: Auch wenn von mir nicht mehr gesagt werden könnte, dass mir die intelligible Tat nur zustößt, lautet die Folgerung nicht, dass ich nun von aller Naturnotwendigkeit »unabhängig und frei« (B 569) bin. Sie lautet vielmehr, dass ich selbst nichts weiter als ein unverursachtes, sich jenseits von Raum und Zeit entfaltendes ›Geschehen‹ bin. – Bis jetzt ist noch nichts sichtbar geworden, was diesen Schluss zu vermeiden erlaubte. Wenn diese Überlegungen richtig sind, ist es Kant nicht gelungen, dem ›Dilemma der Willensfreiheit‹ zu entkommen. Er hat nicht zeigen können, inwiefern transzendentale Verursachung eine moralisch belastbare Form von Freiheit sein würde – und es ist auch nicht zu sehen, wie sich das auf der Grundlage der Theorie Kants verständlich machen ließe.

8. Rückblick und Ausblick Ich habe zu zeigen versucht, warum Kants Freiheitstheorie scheitert. Sie scheitert – so habe ich argumentiert – weil Kants Freiheitskonzeption in sich nicht stimmig ist. Genauer: Sie ist insofern in sich nicht stimmig, als sie keinerlei Grundlage dafür bietet, die postulierte Art der Kausalität als Kausalität aus Freiheit zu verstehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn ›Freiheit‹ den moralisch belastbaren Sinn haben soll, den Kant dem Begriff durchweg zuschreibt – und der Einwand trifft nicht nur die Annahme der Wirklichkeit der Freiheit, sondern stellt schon ihre Möglichkeit infrage. Außerdem hat sich gezeigt, dass Kants Argumente gegen die traditionelle Vereinbarkeitsthese nicht überzeugen und es ihm nicht gelingt, für die Annahme »transscendentaler« Freiheit zu argumentieren. Was bedeutet das für unser Verständnis von Freiheit? Was bedeutet es für den Gedanken der moralischen Zurechenbarkeit? Ich muss mich auf einen Ausblick beschränken. Zunächst scheint mir Kant einen entscheidenden Schritt zum Verständnis von Freiheit und Zurechenbarkeit voran gekommen zu sein, als er den Begriff der »praktischen Freiheit« beschrieb. Diese »praktische Freiheit« ist mehr als traditionelle Handlungsfreiheit, also die Fähigkeit, ungehindert das tun zu können, was man tun will – denn über »praktische Freiheit« verfügt ein Wesen nur dann, wenn es vernünftig nachdenken und sich auf diese Weise zu seinen unmittelbaren

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›sinnlichen Antrieben‹ verhalten kann. Entscheidend für die Freiheit, die wir haben, ist die »freie Willkür (arbitrium liberum)«, »welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann« (B 830). Moralisch belastbare Freiheit setzt zumindest »praktische Freiheit« in diesem Sinn voraus. Es wäre aber ein Missverständnis, sie deshalb nicht zugleich als etwas Natürliches, nach Naturgesetzen Beschreibbares zu verstehen. Willkür und Vernunft sind nicht nur Ursachen, sondern auch Wirkungen, wie alles in der Natur. Kant selbst meinte, wenn »unsere Absicht aufs Thun oder Lassen« gerichtet sei, könnten wir diese »bloß speculative« Frage »bei Seite setzen«: »Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an […].« (B 831) Ich meine, es geht uns auch im »Speculativen« nichts an, weil praktische Freiheit nicht transzendentale voraussetzt und dennoch sowohl für Moral als auch für moralische Zurechnung ausreicht. – Aber das ist natürlich nur ein weiteres Stück Autobiographie.

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»Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)« – wie das? Reinhard Brandt

Zusammenfassung Der kategorische Imperativ »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)«1 wurde erst spät in die »Rechtslehre« der Metaphysik der Sitten von 1797 eingefügt. Er nimmt die Empörung gegen die unmenschlichen Despoten in Europa auf und fordert die Bürger auf, aus dem Zustand tyrannischer wiewohl legaler Unterjochung in den rechtlichen Zustand der Republik zu wechseln, in dem der Mensch seiner Pflicht entsprechend nicht zum bloßen Mittel degradiert wird. Mit diesem Gedanken überschreitet Kant das Konzept seines bisherigen Natur- oder Vernunftrechts in zweierlei Hinsicht. Er macht den Menschen selbst zum Ursprung seiner Qualität eines Rechtswesens durch die Pflicht, eben dies zu sein. Zweitens ergänzt er das duale Schema von Natur- und Zivilzustand und stellt ihm die Alternative von Despotie und Republik an die Seite: Exeundum est e statu despotico; wie dies allerdings im Rahmen der kantischen Ablehnung des Widerstandsrechts zu bewerkstelligen ist, erfahren wir nicht. Aber wir können hoffen, dass die Naturgeschichte zur Republik schreiten wird und so dem Menschen bei seiner Pflicht, ein rechtlicher Mensch zu sein, beisteht.

Vorbemerkung »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)«, lautet die erste der drei bekannten Formeln Ulpians2 in Kants Rechtslehre der Metaphysik der Sitten von 1797. Es folgt die Pflicht neminem laede, danach das suum cuique tribue; sie werden zusammengefasst unter dem neuen Titel einer »Allgemeinen Eintheilung der Rechtspflichten«.

VI, 236.24. Band-, Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf die Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften (Berlin 1900 ff.). Die erste und zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV) werden nach der Ausgabe Timmermann 1998 mit A und B zitiert. – Bernd Ludwig und Philipp Hirsch (Göttingen) danke ich für eine kritische Lektüre meines Manuskripts. 2 Vgl. Krüger/Mommsen 1882, 3: »Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere.« 1

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Zur Erläuterung der ersten Rechtspflicht heißt es in der typischen Umständlichkeit und Brisanz: »Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ›Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‹ Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).« (VI, 236.24–30) Die erste Rechtspflicht steht in einem vermutlich späten Textstück; es enthält Sonderbarkeiten, mit denen sich der kritische Leser zu beschäftigen hat. 1. Die Rede vom »rechtlichen Menschen« begegnet in der Rechtslehre nur hier,3 und die Formulierungen »rechtliche Ehrbarkeit« und »honestas iuridica« kommen in den gesamten kantischen Schriften sonst nicht vor. 2. Ebenfalls nur hier gibt es den Imperativ, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie zugleich Zweck zu sein. 3. Diese Pflicht soll im Folgenden aus dem Recht der Menschheit in unserer Person erklärt werden, aber die Erklärung findet sich nicht. 1 und 2 gehören zusammen; der Begriff des »rechtlichen Menschen« nimmt den des »rechtlichen Zustandes« vom Übergang aus dem Natur- in den Zivilzustand auf und ergänzt oder besser: korrigiert ihn, denn die Despotie macht mich zum bloßen Mittel, obwohl sie legal ist und offiziell zum »rechtlichen Zustand« gehört. Die Despoten brauchen ihre Bürger in Krieg und Frieden als bloßes Schlacht- und Lastvieh, wie es im Streit der Fakultäten (1798) heißt (vgl. VII, 89). Die Signalwörter finden wir auch versteckt im »Völkerrecht« der »Rechtslehre«. Dort zählen die kriegführenden Fürsten die Menschen zu den Landesprodukten: »Dieser Rechtsgrund aber […] gilt zwar freilich in Ansehung der Thiere, die ein Eigenthum des Menschen sein können, will sich aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staatsbürger, anwenden lassen, der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)4« (VI, 345.30–35). Die erste Rechtspflicht gehört einerseits in die Systematik der drei Rechtspflichten und begründet das gesamte Rechtssystem, aber sie formuliert auch die Notwendigkeit des Ausgangs aus der Despotie hin zur Gründung einer Republik, in der allererst ermöglicht wird, ein rechtlicher Mensch zu sein. 3. Wenn diese Pflicht aus einem vorgängigen Recht zu erklären ist und nicht umgekehrt das Recht aus der Pflicht als deren Voraussetzung abgeleitet wird, liegt dann der gesamten kritischen Rechtslehre ein vorkritisches Recht zugrunde? Die erste der drei ulpianischen praecepta juris gehörte bei Kant bis zur Rechtslehre der Metaphysik der Sitten von 1797 zur Ethik, nicht zum Recht. Was veran3 4

Jedoch XX, 458.24; XXI, 462.27; XXIII, 359.22; 462.21. Zu der Formulierung »Zweck an sich« s. unten Kapitel 14.

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lasste die neue Verortung, und wie wird aus dem ethischen honeste vive eine originäre Rechtspflicht? Die Tafel der drei praecepta lässt sich in ihrer formalen Struktur und Vollständigkeit gut rekonstruieren, aber inhaltlich gerät man in größte Schwierigkeiten; denn wie ist die Mittel-Zweck-Relation in der ersten Rechtspflicht genau zu verstehen, und worauf zielt sie innerhalb der Rechtslehre selbst? Die zweite und dritte Formel lassen sich nach kantischer Anweisung verorten: Das neminem laede bezieht sich auf das innere und äußere Mein und Dein des Naturzustands, das suum cuique ist die Folgepflicht des Übertritts in den Zivilzustand, in dem jedem das Seine bestimmt und geschützt werden kann. Aber wo ist der Referenzort der ersten Rechtspflicht in der Rechtslehre? Unsere Antwort wird lauten: Sie bildet die Grundlage des gesamten, sowohl des Privaten wie auch Öffentlichen Rechts. Damit übertrumpft sie die Absegnung des Öffentlichen Rechts als eines rechtlichen Zustandes, denn die legale Despotie ist ein Zustand höchsten öffentlichen Unrechts. Ihm stellt sich die erste Rechtspflicht wie einem neuen Naturzustand entgegen; sie fordert damit auf, den Weg zum Recht erneut zu begehen, denn erst in der Republik kann der Mensch das Gebot erfüllen, ein rechtlicher Mensch zu sein. Hiermit folgt Kant einem bis in die Antike zurückreichenden Muster: Der eigentliche Staat löst die Herrschaft der Despoten des Anfangs ab. Sodann: Die Pflicht soll »im folgenden« aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden. Wir fragten schon: Wo geschieht dies? Und woher stammt das Recht selbst, aus dem sich die Pflicht erklären lässt? Muss es nicht umgekehrt so sein, dass die Pflicht aus dem kategorischen Imperativ stammt und ihrerseits die Grundlage des besagten Rechts ist, etwa auch als ratio cognoscendi gegenüber der zu fordernden ratio essendi? Die erste Rechtspflicht betrifft das Innere (VI, 237.10), aber in der Pflicht selbst wird der Alteritätsbezug betont, es geht um das »Verhältniß zu Anderen«, wir sollen uns »anderen nicht zum bloßen Mittel« machen, wir sollen »für sie zugleich Zweck« sein. Also geht es doch um ein juridisches Außenverhältnis. Die These der folgenden Ausführungen lautet: Die erste Rechtspflicht wird von Kant unter der Voraussetzung des kategorischen Imperativs und »der Vernunftnotwendigkeit des Rechts überhaupt«5 eingeführt als die Grundlage des Rechts, das in den beiden Bereichen des neminem laede und suum cuique als Privat- und Öffentliches Recht abgehandelt wird. Die erste Rechtspflicht ist dabei der Ort der Selbstkonstitution des Menschen als eines Rechtswesens. In der Diktion der Kategorientafel: Die erste Rechtspflicht setzt selbst die Substanz des Menschen als eines Rechtswesens; hieran können das neminem laede und suum cuique wie Kausalität und Wechselbeziehung anschließen. Auf den speziellen Referenzbereich der ersten Rechtspflicht geht Kant ausführlich im ungefähr gleichzeitig verfassten6 zweiten

Oberer 2004, 204. Zur Datierung der »Erneuerten Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei« (VII, 79.1 f.) s. Brandt 2003b, 15 f.; 119 f. 5 6

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Abschnitt des Streits der Fakultäten ein, aber auch in einem kaum beachteten Kapitel des Öffentlichen Rechts der Rechtslehre, wie wir schon zitierten (VI, 345.30–35). In der Despotie werden Bürger legal als bloße Mittel, als Last- und Schlachttiere, verwendet; nur die Republik genügt der Rechtspflicht, gegen andere den Wert7 eines Zwecks an sich (!) zu behaupten. Die erste Rechtspflicht sprengt damit die traditionell konzipierte Rechtslehre, so wie sie es schon mit ihrer neuen Terminologie tut. Das neminem laede dürfte demnach die eigentliche Selbst-Dimension der Rechtsperson nicht erfassen, sondern nur das mit ihr verbundene innere Mein oder Dein. Die anschließende Frage der Präzedenz entweder der ersten Rechtspflicht oder aber des Rechts der Menschheit in unserer Person soll erörtert werden, wir gelangen jedoch nicht zu einer eindeutigen Lösung.

1. Recht und Ethik Einige Hinweise zur Genealogie der zwei Stämme der praktischen Philosophie, Recht und Ethik, oder auch: Ethik und Recht. Aristoteles kündigt am Ende der Nikomachischen Ethik eine Schrift zur Politik an; die Menschen, so heißt es, bedürften zur eigenen Ausbildung ihrer Natur einer sittlichen Ordnung, die Menge jedoch müsse durch Zwangsgesetze gelenkt werden, »denn die Vielen beugen sich eher dem Zwang als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns«.8 Daher die Dopplung von Tugendlehre und Zwangsrecht, Ethik und Politik. Aristoteles wendet sich gegen den Idealstaat Platons, in dem das Äußere vom Inneren gerade nicht getrennt werden soll, sondern als isomorph entwickelt wird. Die Grundlage ist ein einfaches anthropologisches Muster, das bis zu Kant und in die Gegenwart hinein zur Orientierung dient: Die politisch-rechtliche Seite ist die der Äußerlichkeit, des möglichen physischen Zwangs, der physischen Kollision; die ethische Seite ist die der Binnendimension des Menschen, seiner Planung, seines Charakters, seiner Kenntnis, aber auch der Kooperation mit anderen. Es ist die Dualität von Körper und Geist, die hier einen Ausdruck findet, so wie im Mittelalter in der Dualität von Staat und Kirche. In der Universitätstradition gehören die beiden getrennten Disziplinen des jus und der ethica, auch philosophia moralis genannt, zur Standardausrüstung der Lehrbücher. Aber die Lage ist komplizierter. Christian Wolff publiziert 1740 sein Jus naturae, dessen erstes Kapitel den Titel trägt »De obligatione & Jure Hominum universali in genere«; der Titel des zweiten Kapitels lautet »De officiis hominis erga Der »Werth eines Menschen« wird in anderen Zusammenhängen auch als Würde bezeichnet (u. a. IV, 434 f.); Wert und Würde des freien Menschen stehen im Kontrast zum variablen Preis, s. sehr überzeugend Sensen 2009; auch Hirsch 2012, 20, 81 f.; Klemme 2011 klärt die Differenz von ethischer Würde und Recht der Menschheit in unserer Person. 8 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1180a4 f. 7

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seipsum & cum iis connexis juribus«. Hier hätte Kants erste Rechtspflicht ihren Ort. § 968 führt das »honeste vive« ein, in § 969 folgt ohne systematische Auswirkungen die Nennung und Kommentierung der drei »juris praecepta« des Ulpian. In der – im Jus naturae nicht berücksichtigten – Philosophia moralis sive ethica (1750) lehrt Wolff, wie der Mensch seine Handlungen frei, »in statu naturali«, »sui juris« (§ 1), nach den Vorschriften des Naturgesetzes lenken kann. Bei Kant finden wir die tradierte Dualität einerseits in der Dopplung von Rechtsund Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, andererseits auch in der Dopplung von ethischem und rechtlichem Gemeinwesen in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (1797). Nun gibt es in der hier angeführten Tradition weitere praktische Disziplinen wie etwa die aus der aristotelischen Politik ausgegliederte Ökonomie. Kant hat sich einerseits hierfür nicht interessiert, andererseits der Zweiteilung von Recht und Ethik eine apriorische Begründung gegeben, die eine Hinzufügung anderer praktischer Disziplinen als gleichgearteter Wissenschaften ausschloss. Eine scheinbar robuste Grundlage von Recht und Ethik bildet die vollständige Disjunktion von Außen und Innen, von Raum und Zeit (vgl. VI, 214.19–30; 219.17–30 u. ö.).9 Wie in der theoretischen Philosophie sind mit diesem Dualismus auch hier in der praktischen Philosophie vielfache Formen der Interaktion zwischen beiden Sphären vorgegeben, aber ein Drittes oder Viertes anzufügen ist in Kants System nicht möglich. Der kategorische Imperativ, der wenigstens ab 1788 die Grundlage der gesamten reinen praktischen Philosophie sein soll, ist naturrechtlich inspiriert10 und bildet in seiner Zweistufigkeit von Maxime und Gesetz die beiden Phasen von Naturzustand und Zivilzustand ab.11 Schon 1767 spricht Kant von einer »Metaphysik der Sitten« (X, 74.17–18; auch 97.31), aber 1785 (GMS) und 1788 (KpV) scheint eine selbstständige Rechtslehre vergessen zu sein; beide Werke konzentrieren sich auf die Ethik und ihre Triebfeder, die Achtung, ohne gesondert herauszustellen, dass zum Freiheitsgesetz auch der Sollensbereich des Rechts gehört, in dem die Triebfeder des moralischen Handelns nicht die Achtung vor dem Gesetz sein muss.12 Dass wiederum schon zu Beginn der sechziger Jahre die systematische Beziehung von Recht und Ethik ein Gegenstand der Reflexion war, zeigt eine Herder-Mitschrift: »Die

Diese Dopplung bestimmt in dieser Reihenfolge die beiden Teile der »Transzendentalen Ästhetik« in der KrV (noch nicht in der Dissertation von 1770 [II, 398–406]). Die Vollständigkeit ergibt sich durch die Alternative, sich im Fall des inneren Sinns »durch die eigene Tätigkeit des Gemüts« (B 67; VI, 152–156) oder im Fall des äußeren Sinns von etwas Anderem affizieren zu lassen. 10 Dies ist immer bemerkt worden, auf einige Autoren verweist Metzger 1966, 58–62, bes. Anm. 2. 11 Scholz 1972, 178–179: Gesetze als allgemeingültige Befehle der Staatsgewalt. Maximen können also diesen Status noch nicht haben und gehören als private Vorsätze in den Naturzustand. Ausführlich Brandt 2010, 91–104. 12 Die Präsenz auch des Rechts in der GMS und der KpV zeigt Gregor 1963, 18 ff. 9

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Ethik […] ist der allgemeinen praktischen Philosophie untergeordnet, dem Recht, der Wissenschaft der äußerlichen Pflichten nebengeordnet.« (XXVII, 13.1–3)13 1797 wird die Einheit und Differenz von Recht und Ethik zum Gegenstand einer komplizierten Reflexion innerhalb der Metaphysik der Freiheit, deren Verwicklungen wir uns nach einer methodischen Vorbemerkung zuwenden werden.

2. Methodische Vorbemerkung Das Buch der MdS weist, wie besonders Bernd Ludwig gezeigt hat, erhebliche editorische Mängel auf. Es war schon allgemein anerkannt, dass ein Teilstück des § 6 (VI, 250.18–251.36) nicht in das Buch gehört,14 andere Stücke sind an falscher Stelle eingerückt.15 Bei der Interpretation bestimmter Thesen und Beweise der Rechtslehre ist es unabdingbar nötig, sich kritisch gegen die gängigen Ausgaben zu verhalten. Es soll hier auf eine zweite mögliche Irrtumsquelle bei der Interpretation der MdS hingewiesen werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Schrift insgesamt gewissermaßen als work in progress publiziert wurde; einzelne Teile sind in diesem Fall durchaus am richtigen Ort, sie sind jedoch in unterschiedlichen Phasen verfasst und in ihren Auffassungen nicht miteinander kompatibel. In VI, 220.32–33 heißt es: »Die Ethik hat freilich auch ihre besondern Pflichten (z. B. die gegen sich selbst) […]«, aber die gegen sich selbst gerichtete erste Rechtspflicht (VI, 236.24–30) ist eine juridische, nicht ethische Pflicht. Wir werden auf andere Inkongruenzen stoßen, die die Hypothese nahe legen, dass es sich bei dieser ersten Rechtspflicht um einen späten Gedanken handelt, dem die übrigen Teile der Rechtslehre nicht mehr angepasst wurden. Wenn ich richtig sehe, ist bislang keine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der MdS publiziert worden.

Zur Lehrtradition der beiden Disziplinen, in die sich Kant stellt, vgl. Höffe 1999a, 1–5. Ludwig 1988, 60 f. 15 Ludwig 2010, 1, Anm. 2 klammert überzeugend VI, 218.17 f. (»mithin…macht.«) als irreführend aus. Der Satzteil hat sicher zur Verunklärung der Beziehung von Recht und Moral beigetragen. Sucht man nach einem sachlichen Motiv, das zu seiner Niederschrift geführt hat, dann könnte es der Gedanke sein, dass das Gesetz nicht nur objektiv eine Handlung zur Pflicht macht, sondern der Gesetzgeber darüber hinaus die Pflicht hat, einen möglichen Zwang zu benennen. Der Bestimmungsgrund der Willkür im Recht unterliegt einer Pflicht im Gegensatz zur Triebfeder bei der Ausführung eines hypothetischen Imperativs. Vielleicht ist der Satzteil »mithin…macht« der Reflex dieser Schwierigkeit einer Triebfeder-Pflicht, die aber nicht die Pflicht selbst sein muss. – Den ludwigschen Ausführungen stimme ich im Übrigen völlig zu. 13 14

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3. Die Rechtslehre als Teil der kritischen Moralphilosophie Die viel befolgte sogenannte »Unabhängigkeitsthese« besagt nach Julius Ebbinghaus, dass die Möglichkeit der sittlichen Freiheit »in keiner Weise die Voraussetzung für die Gültigkeit des von Kants Rechtslehre vorausgesetzten negativen Freiheitsbegriffs« ist. So bedeute »die Eingeschränktheit der Kantischen Rechtslehre auf den negativen Begriff der Freiheit der menschlichen Willkür zugleich die Unabhängigkeit dieser Rechtslehre von der kritischen Philosophie überhaupt und ihrem transzendentalen Idealismus«.16 Klaus Reich schreibt schon 1936: Das strikte Recht bestehe aus nichts anderem als der Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges: »Der Rationalismus der Rechtslehre […] verführt daher auch gewiß nicht zu dem Ansatz einer reinen praktischen Vernunft, zu der Annahme, daß die reine Vernunft vermöge des Gesetzes der Sitten selbst unmittelbar praktisch sei. D. h. also, die rein rationale Rechtslehre führt gewiß nicht auf das Prinzip der Autonomie des Willens.«17 Diese Äußerung ist äquivok; isoliert man die rationale Gesetzesordnung äußerer Handlungen, kann sie der Verwaltungsmodus nur vernünftiger Wesen mit nur instrumenteller Vernunft sein; von einer reinen praktischen Vernunft kann dann nicht die Rede sein. Bezieht man sich dagegen auf die Rechtslehre Kants von 1797, bildet sie klar einen Systemteil der Metaphysik der Sitten auf der Grundlage der reinen praktischen Vernunft. Sie gehört zur Moral. Wenn die reine praktische Vernunft nicht die Grundlage der Rechtslehre ist, dann gibt es in der letzteren keine Pflicht, sondern nur die Klugheitsempfehlung, sich doch bloß an das rationale Freiheitsprinzip zu halten, weil mit ihm das Problem des konfliktfreien Zusammenlebens am besten gelöst werde. Dann aber schlägt die rationale Rechtslehre in eine empirische um: Rational ist sie vielleicht, aber als Rechtslehre qualifiziert sie sich durch den empirischen Zweck und Erfolg.18 Der gesetzliche Zwang, der dem Gesetzes-

Ebbinghaus 1988, 296 f. Vgl. Oberer 2010. Scholz 1972, XVII: Reich und Ebbinghaus leugnen »jede Abhängigkeit der Rechtslehre von der Möglichkeit der Idee der Freiheit«. Höffe stellt die Abhängigkeit der Rechtslehre vom kategorischen Imperativ noch einmal klar (Höffe 1999b). Zu der Vorstellung der Abhängigkeit des Naturrechts nicht von der Philosophie, sondern dem positiven Recht vgl. Höffe 2001, 21. 17 Reich 2001, 156 f. Zu Reichs Interpretation s. auch Ludwig 1988, 100 f., Anm. 32. 18 Zu Kants Auffassung der empirischen Rechtslehre als der einzigen Alternative zu seiner eigenen s. Naucke 1996. Naucke erläutert Kants Einbeziehung der Phaedrus-Fabel zur Kennzeichnung der empirischen Rechtslehre: »Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phaedrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat« (230). Es gibt nach Kant, wie Naucke zeigt, neben der so gekennzeichneten empirischen und der in der kritischen Philosophie begründeten apriorischen Rechtslehre keine weitere 16

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übertreter angedroht wird, entspricht dann dem Zweck, den sich alle setzen; das quantum et quale des Zwanges wäre also modifizierbar. Schon hier ist ersichtlich, dass wir uns nicht mehr in der Metaphysik der Sitten bewegen, sondern in einem rationalen System der theoretischen Vernunft. Reich schreibt: »So ist es wenigstens verständlich, wie man dem Irrtum, daß eine reine Rechtslehre auf eine Kritik der praktischen Vernunft habe hinführen können, verfallen kann.«19 Nicht eine beliebige, sondern die kantische reine Rechtslehre führt auf eine Kritik der praktischen Vernunft hin, weil sie eine auf den kategorischen Imperativ aufbauende Pflichtenlehre ist. Es gibt keine zwei praktischen Pflichtbegriffe, den einen kategorischen der Ethik und den anderen hypothetischen des Rechts. Es gibt nicht zwei Adressaten der Metaphysik der Sitten, einerseits die Verwaltungszombies und andererseits die Personen, die Zweck an sich selbst sind und die die formalen Gesetze, denen sie unterworfen sind, in der Idee selbst geben. Die Teufel, die Kant 1795 ins Gespräch bringt (VIII, 366.15–29), sind keine autonomen Vernunft-, sondern nur vernünftige oder Verstandeswesen (VIII, 366.16 f.), ganz im Sinn einer Rechtslehre ohne Fundierung in der reinen praktischen Vernunft. Die Personqualitäten, an die Kant zum Beispiel in seinem Eherecht (VI, 277.9–280.8) und Strafrecht (VI, 331.20–332.10) appelliert, sind Kindermärchen für den Teufel als eines bloßen animal rationale (V, 434.22 f.). Die Unabhängigkeitsthese formuliert neu, was Fichte 1796 in seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre gelehrt hatte. In dieser Phase seiner Gedankenbildung meinte Fichte, die Versuche der kantianisierenden Rechtslehrer, das Recht in der Moral, das heißt Ethik zu begründen, seien gescheitert; das Recht gehe nicht auf eine Pflicht zurück und gebiete nie kategorisch, sondern immer nur hypothetisch.20 Die Unabhängigkeitsthese versagt schon vor diesem nicht leugbaren Faktum, dass Kant die Rechtslehre nicht als Hypothese anführt; sie versagt vor dem Begriff einer Rechtspflicht, denn Pflichten kann es nur auf dem einen gemeinsamen Fundament der reinen praktischen Vernunft geben. Wie dies in den einzelnen Schritten konsequent durchführbar ist, ob das System der Metaphysik der Sitten konsistent ist, ist eine andere Frage; vielleicht sind Rechtslehre und Ethik nicht in einer einheitlichen Metaphysik der Sitten zu vereinbaren. Rechtslehre. Auch eine »rein rationale« Rechtslehre muss empirisch sein, weil sie nur in einem hypothetischen Imperativ praktisch werden kann. 19 Reich 2001, 158. 20 Fichte spricht davon: »diejenigen ausführlich zu widerlegen, welche die Rechtslehre vom Sittengesetze abzuleiten versuchen« (Fichte: Grundlage des Naturrechts, 320). Statt einer derartigen Ableitung behauptet Fichte die Unabhängigkeit des Rechts vom Sittengesetz, wie sie später auch Ebbinghaus und Reich vertreten werden. – Zum Zusammenhang von Recht und Ethik vgl. auch Höffe 2001, 105–162. Im ersten Kapitel seines Buches (»Moral«, 36–104) bringt Höffe einen Vergleich von Aristoteles und Kant, wobei er allerdings den Gesetzesbegriff des kategorischen Imperativs wie üblich durch eine Universalisierung ersetzt und dadurch das wesentliche Element des Kontrastes ausblendet.

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Wer die Unabhängigkeitsthese für falsch hält, nimmt damit nicht an, die Rechtslehre sei ein Teil der Transzendentalphilosophie; das ist sie so wenig wie die KpV; behauptet wird dagegen, dass die Ergebnisse der KrV vorausgesetzt sind und benutzt werden können, so zum Beispiel in der Konstruktion eines intelligiblen Besitzes oder in der für die gesamte Rechtslehre fundamentalen Trennung von »homo phaenomenon« und »homo noumenon«.21 Der homo noumenon ist die Menschheit oder ihre Idee in der Person eines jeden; ohne diesen Vernunftgrund zerfällt die Rechtslehre in eine verunglückte Sammlung von Klugheitsregeln. Es ist schwer, einen sachlichen Grund für die Unabhängigkeitsthese in Kants Schrift selbst zu finden (die Fichte noch nicht vorlag). Einer könnte sein, dass die Tatsache, dass die Triebfeder im Recht offenbleibt, als so gravierend angenommen wird, dass die Verbindung mit der reinen praktischen Vernunft völlig gekappt wird. Für diese letztere ist dann entscheidend, dass sittlich nur »aus Achtung« gehandelt wird; mit dem Verzicht auf dieses Attribut würde Kant die Rechtslehre aus dem Bereich der reinen praktischen Vernunft ausschließen. Wir können vorerst nur konstatieren, dass dies nicht der Fall ist, dass die Rechtslehre 1797 zur Pflichtenlehre der reinen praktischen Vernunft gehört und alle Pflichten, die aufgeführt werden, sich an Vernunftwesen wenden, nicht an nur technisch-vernünftige Zombies. Nur Personen sind die Adressaten des Rechts, und die Personqualität macht das Recht überhaupt zu einer Pflicht und restringiert seine Möglichkeiten. Es ist das Verdienst von Ebbinghaus und Reich, die Aufmerksamkeit auf die problematische Beziehung zwischen der äußeren und inneren Reglementierung des Menschen, zwischen Zwangsmöglichkeit und Gesinnung, Bürger und Mensch, Recht und Ethik hingewiesen zu haben. Die Meinung, die Rechtslehre sei in der Intention Kants unabhängig vom System der Transzendentalphilosophie, lässt sich, wie gezeigt, nicht aufrechthalten. Die Einbindung allein in den Einleitungen der Metaphysik der Sitten und der Rechtslehre dokumentieren das Gegenteil. So bleibt die Möglichkeit, dass Kant mit dem Verzicht auf eine Triebfeder aus reiner praktischer Vernunft in der Rechtslehre einen nicht intendierten Systembruch vollzieht und damit die These der Unabhängigkeit nicht Kant interpretiert, sondern ihn kritisiert – was faktisch jedoch weder bei Ebbinghaus noch bei Reich der Fall ist. Unabhängig von der speziellen Frage, wie sich nun Rechts- und Tugendlehre zueinander verhalten, hat Ebbinghaus nach der skurrilen Untauglichkeitsthese von Arthur Schopenhauer22 Mut bewiesen, indem er die kantische Rechtsphilosophie in einer Zeit ernst nahm, in der so niedere Dinge wie Recht und Unrecht weder in der Philosophie des Seins noch in der dominierenden Praxis Beachtung fanden. Die bürgerliche äußere Gesetzgebung ist eine Errungenschaft der Neuzeit gegenüber Antike und Mittelalter, der Kant nicht entgegenwirkt, sondern die er vertieft und konsolidiert. Die Grenze wird allerdings neu gezogen: Das sittliche Menschoder Personsein der Bürger begrenzt und bestimmt die Möglichkeit der äußeren 21 22

Ju 1990, 99. Zu Schopenhauers Diagnose der Altersschwäche s. Hirsch 2012, 1.

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Gesetzgebung. Der paradoxe Imperativ ›Sei ein rechtlicher Mensch!‹ verknüpft die beiden Dimensionen des Innen und Außen, des bloß Rechtlichen der Zwangsgesetze mit der Zweckhaftigkeit der sittlichen Person. Hobbes hätte gefragt: Quis judicabit? Seine Antwort: Der Herrscher, denn dessen Wille wird zum Maß des wirklichen Rechts; damit aber kann das faktische Recht, durch das Menschen als bloße Mittel fungieren, praktisch keiner Rechtspflicht widersprechen. Bei Rousseau setzt zwar der allgemeine Wille das rechtlich Mögliche fest, aber er ist mitbestimmt durch das allgemeine Interesse und das (möglichst homogene) Interesse aller, und damit wird eine allgemeine Instrumentalisierung aller durch alle möglich. Die erste Rechtspflicht schließt dagegen diese totalitäre Freiheitsselbstvernichtung aus; sie stellt den Bürger unter die sittliche Nötigung, wirklich rechtlicher Mensch zu sein und damit in Krieg und Frieden Zweck an sich für alle anderen zu bleiben. Es sollen noch einige Argumente gegen die Unabhängigkeitsthese genannt werden. Subjektive Vermögen des Menschen sind einerseits der Verstand, andererseits der Wille, bezogen auf Natur und Freiheit. Die KrV zeigt, dass und wie der Verstand Erkenntnis der Natur qua Erscheinung gewinnen kann. Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft dienen der kritischen Grundlegung der Erkenntnis der äußeren Natur, der Physik. Die Psychologie, die Beobachtungen der inneren Natur des Menschen zu sammeln versucht, ist einer analogen Behandlung nicht fähig;23 andernfalls wäre Kants Schrift zweiteilig ausgefallen, wenn auch unter dem einheitlichen Dach der durch die KrV vorgegebenen einheitlichen Prinzipien einer wissenschaftlichen Behandlung. Die KpV erweist die objektive praktische Realität der Freiheit durch den kategorischen Imperativ. Durch diesen Grundsatz werden die Begriffe des Guten und Bösen bestimmt und die Triebfeder der unbedingten Achtung ermöglicht. Auf die KpV folgt die Metaphysik der Sitten jetzt mit zwei Teilen, der Rechts- und der Tugendlehre. Die auf die Kritik jeweils folgende Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten stellen sicher, dass der Notwendigkeitsanspruch der kritisch restringierten Natur- und Freiheitslehre (hier: Recht, Tugend) gegründet ist. In beiden Bereichen kann also legitim von allgemeingültigen und notwendigen Gesetzen gesprochen werden, wobei selbstverständlich gilt, dass die jeweiligen Wissenschaftler beziehungsweise Gesetzgeber selbst nicht die philosophische Grundlegung ihrer Notwendigkeitsbehauptungen kennen müssen. Hier trennen sich die Aufgaben: Der Philosoph begründet das Recht der Menschen qua Personen in der kritischen Philosophie, während der Jurist das derart begründete und restringierte Recht übernimmt und in seinen Notwendigkeitsbehauptungen anwendet. Eines darf nicht geschehen: Die aus der Arbeitsteilung folgende Trennung darf weder den Naturlehrer, Newton, noch den Juristen zu der Behauptung verführen, ihre Disziplinen und Gesetze seien unabhängig von ihrer kritischen und transzendentalphilosophischen Begründung. Vgl. IV, 471.11–37 (»Vorrede« der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft). 23

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In der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« und der »Einleitung in die Rechtslehre« erfährt der Leser, dass und wie Recht und Ethik in der reinen praktischen Vernunft begründet sind und wie ihre Differenz systematisch bestimmt ist. In der ersten Einleitung werden die Begriffe angeführt, die beiden Teilen der Metaphysik der Sitten gemein sind. Der Katalog der gemeinsamen Prinzipien und Begriffe soll hier nicht erörtert werden. Er setzt außer Zweifel, dass Recht und Ethik Teile des kritischen Systems sind und die Transzendentalphilosophie voraussetzen. Beide Pflichtarten sind im kategorischen Imperativ der reinen praktischen Vernunft begründet; auch die Pflichten, die sich nur auf äußere Handlungen beziehen, kennen eine »Idee« der Pflicht, »welche innerlich ist« (VI, 219.18 f.; 220.5), die nun ihrerseits entweder zur Triebfeder wird oder aber als Rechtspflicht die Art der Triebfeder offen lässt. Jede bloße Rechtspflicht muss den Ethik-Test bestehen und sich dazu qualifizieren, auch als Zweck von der jeweiligen Person gewollt werden zu können (VI, 390.30–391.7 u. ö.). In der ersten Rechtspflicht als einer Selbstpflicht unterwirft der homo noumenon den homo phaenomenon, ermöglicht durch die kritische Philosophie. Kant unterstellt, dass der Mensch über reine praktische Vernunft verfügt und aus ihr die Rechtspflicht unmittelbar erkennt; sie ist ein spezielles Pflichtgesetz, das die Freiheit als real erweist und sie bestimmt, auch wenn der Mensch im Einzelfall einer äußeren Nötigung folgt. Diese Begründung war Fichte 1796 noch nicht zugänglich. Die schon zu Kants Zeiten vagabundierende Verkürzung des Vernunftwesens Mensch zu einem bloß vernünftigen Wesen (im Sinn von VI, 26 u. ö.) durch die Juristen (VI, 345.2) verkennt, dass der Mensch »im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)« (VI, 345.34 f.). Die Rede vom »Zweck an sich selbst«24 seit der Grundlegung (IV, 433.28 u. ö.) ist nur sinnvoll unter der Bedingung der Trennung von Ding an sich und Erscheinung, homo noumenon und homo phaenomenon. Auch in unserem Text VI, 236.37 f. ist mit der Formulierung »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck« nicht die durch die Naturprodukte realisierte Mittel-Zweck-Beziehung gemeint (»Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« [V, 376.11–13])25, sondern der Kontrast des bloßen Mittels zum Zweck an sich selbst.

Die Formulierung ist eine Parallelbildung zu »ens a se«: »Daß das Daseyn irgend eines Dinges als Zweck an sich selbst seyn müsse, und nicht alle Dinge bloß als Mittel seyn können, ist in dem System der Zwecke eben so nothwendig, als in der Reihe der wirkenden Ursachen ein Ens a se. Ein Ding, das an sich selbst Zweck ist, ist ein Bonum a se.« (XXVII, 1321.12–15; Naturrecht Feyerabend). 25 Während die Urteilstafel als System zeitlos ist, sind die organisierten Produkte der Natur empirisch entstanden und können problemlos Teile enthalten, die in früheren Zeiten Mittel und Zweck waren, danach jedoch funktionslos wurden und trotzdem mitgeführt werden – gegen Kant. 24

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Und es gibt einen anderen Durchblick aus dem Intelligiblen zum Recht: Es ist der Enthusiasmus, der die Ablösung der Despotie durch die Republik hymnisch begrüßt. Im Streit der Fakultäten spricht Kant von einem »Enthusiasm der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht« (VII, 86.33 f.). Hier wird das Recht zwar nicht durch die Achtung vor dem Gesetz realisiert, sondern ein Analogon der reinen praktischen Vernunft wird zur Triebfeder, nicht als steter Impuls, aber doch als sympathetischer erster Einklang.26 Nie könnte das Recht eine solche Seelenbewegung auslösen, wenn es eine bloße Verwaltungsregel äußerer Freiheit wäre und nicht in sich mit dem Höchsten im Menschen, der Idee der reinen praktischen Vernunft, der Freiheit und Autonomie, verbunden wäre. 1792 weist Kant auf die Differenz von vernünftigen Wesen und Vernunftwesen hin und wiederholt diese Unterscheidung 1797 (VI, 26; 418; 434). Zu den nur vernünftigen Wesen kann man die schon erwähnten Teufel von 1795 (VIII, 366.15– 367.7) zählen; sie sind dezidiert keine möglichen Bürger des kantischen Staats, die als Vernunftwesen und Personen über einen Wert als Menschen verfügen. Nur von diesen Wesen ist in der MdS die Rede. Dies ist besonders festzuhalten, weil der Bürger als Untertan von der Differenz von vernünftigem Wesen und Vernunftwesen nichts zu erfahren braucht; er soll nur jedem legalen Gesetz gehorchen. Als Gesetzgeber jedoch, als der er nach Kant daneben auf Grund des Autonomieprinzips zu denken ist, hat er die Gesetze so zu konzipieren, dass sie sich an Personen wenden und ihrem Personenstatus gerecht werden. Wesen, die äußerlich frei sind27 und das Prinzip der Übereinstimmung der Freiheit eines jeden mit der aller anderen als beste Verwaltungsregel ihres Überlebens und ihres Glücks entdeckt haben, können drakonische Strafgesetze erlassen, um endlich die Kriminalität aus der Welt zu schaffen und die Freiheit eines jeden noch Lebenden im Einklang mit der aller anderen durchzusetzen. Die Strafe der kantischen Rechtslehre bezieht sich dagegen ausschließlich auf Personen als Vernunftwesen, die dadurch bestimmt sind, dass ihre Handlungen zurechenbar sind (u. a. VI, 26.10 f. u. ö.).28 Strafen können daher nicht durch einen externen Zweck bestimmt werden; auch der Verbrecher wird nicht zum bloßen Mittel, »ein anderes Gute zu befördern« (331.23; 26).29 Die nur vernünftigen Wesen kennen nur hypothetische Imperative, die Kant schon 1790 (V, 172.14–173.36) aus der reinen praktischen Vernunft herausgenommen und der theoretischen Philosophie zugeschlagen hatte; sie halten einen kate-

Die mit Einschränkung hohe Bewertung des Enthusiasmus geht auf vorkritische Überlegungen zurück; s. II, 221.37–222.1; 251.32; 267.10. 27 Im Sinn des jeweiligen Fehlens von Hindernissen, womit Hobbes und Hume sich begnügen. 28 Ju 1990, 131: »Denn die Strafbefugnis des Staats setzt die Unantastbarkeit des Menschenrechts des Bestraften als zurechnungsfähiger Person voraus. Ohne diese Voraussetzung würde die Strafe völlig sinnlos sein«. 29 Davon kann bei Fichte keine Rede sein (Fichte 1962, 327); es muss nur das Strafgesetz vorher bekannt sein. 26

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gorischen Imperativ für einen schlechten Witz. Vernunft ist ihnen nur bekannt als causa instrumentalis, nicht als causa originaria (XXIII, 383.3 f.). Die instrumentelle Vernunft bedarf keiner kritischen Grundlegung, die sich nur auf die Notwendigkeitsprätention der reinen praktischen Vernunft bezieht, »auf den reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen), dessen Princip a priori durch reine Vernunft gegeben ist« (VIII, 379.15–17).

4. Die drei Rechtspflichten in der Literatur Nach unserer skizzierten These ist die erste Rechtspflicht der archimedische Punkt innerhalb der Rechtslehre, auf dem alle Rechte und Pflichten ruhen, und zweitens verweist sie auf eine Wende weg vom legalistischen Staatskonzept hin zum republikanischen. Andererseits sind die Rechtspflichten ein Textblock, dessen Fehlen man nicht bemerken würde; auf sie wird nicht vorher verwiesen, und es findet sich kein eindeutiger Rückbezug. In der Literatur wird vor allem versucht, das Bezugsfeld der ersten Rechtspflicht auszumachen. Mary Gregors Laws of Freedom (1963) klärt vorbildlich das Verhältnis von Moral und deren beiden Teilen, Recht und Ethik, und geht dann im Hauptteil der Schrift auf die Tugendlehre ein. Die Rechtspflichten werden in keinem gesonderten Abschnitt behandelt, sondern fließen in die allgemeine Erörterung ein, und hier ist wichtig, dass die rechtstheoretischen Teile der GMS als integrierende Gedanken der Rechtslehre von 1797 gesehen werden. So auch die Mittel-Zweck-Beziehung der ersten Rechtspflicht. Die gedankliche Basis entstammt, wie Gregor ausführt,30 der Bestimmung des Menschen als eines Zwecks an sich, und zwar nicht wiederum als Zweck des Handelnden wie in der Ethik, sondern als »oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen« (IV, 430.29–431.1). Hiermit ist auch für die Rechtslehre festgelegt, dass der Wille jedes vernünftigen Wesens die Freiheit jedes anderen als allgemein gesetzgebend einschränkt (IV, 431.14–18). Die erste Rechtspflicht fordert also den Menschen auf, sich als rechtlich autonom zu behaupten. Gertrud Scholz untersucht in ihrer einflussreichen und klugen Dissertation Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie (1972) das Verhältnis des kategorischen Imperativs und des Rechtsprinzips besonders nach den Einleitungen in die MdS und in die Rechtslehre, klammert jedoch die Rechtspflichten aus ihrer Untersuchung aus, obwohl sie in das im Titel angegebene Themengebiet gehören. Ein kurzer Hinweis von Gertrud Scholz auf die erste Rechtspflicht soll später noch erwähnt werden. Die Monographie von Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1984), ist akademisch gründlich und scharfsinnig und bildet zu Recht die meist frequentierte Schrift zur Orientierung über Kants Rechtsphilosophie. Kersting erörtert den uns 30

Gregor 1963, 40 f.

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interessierenden Bereich der ulpianischen Rechtspflichten in einem gesonderten Kapitel, »Kants Interpretation der Ulpianschen Rechtsregeln«.31 Ihn interessiert der Transfer der Tafel aus der Ethik in die Rechtslehre, und er sieht in der Neuplatzierung eine Konsolidierung des rechtlichen Selbsterhalts durch die Aufstellung der »inneren Bedingungen der äußeren Freiheit« in der ersten Rechtspflicht.32 Das ist sicher korrekt, jedoch auch entscheidend mangelhaft, denn Kersting erwähnt mit keinem Wort die Innovation der ersten Rechtspflicht durch die Pflicht, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie zugleich Zweck zu sein – wie lässt sich dieser neue Gedanke im Milieu der Rechtslehre verstehen? Kersting hat sich diese Frage in der Wohlgeordneten Freiheit nicht mehr gestellt. Beachtet man sie, wird sogleich klar, dass ihre Untersuchung und Beantwortung für die erste Rechtspflicht und damit die Rechtslehre überhaupt unumgänglich notwendig sind. Die erneute Untersuchung von 2004, Kant über Recht, konstatiert, dass nicht nur das äußere Mein und Dein, sondern auch das innere Meine zum Imperativ des exeundem est e statu naturali hätte einbezogen werden müssen, untersucht jedoch nicht die erste Rechtspflicht auf diese Frage hin. Auch hierauf werden wir zurückkommen. Die akribische Dissertation von Gau-Jeng Ju, Kants Lehre vom Menschenrecht und von den staatsbürgerlichen Grundrechten (1990), ist wenig bekannt geworden und wurde auch erst in der Endphase der vorliegenden Arbeit zur Kenntnis genommen. Ju kommt in vielen Punkten zu demselben Ergebnis, wie aus meinen eingefügten Verweisen hervorgeht. Bei Ju fehlt jedoch die Berücksichtigung der politischen Verhältnisse, wie sie Kant besonders im Streit der Fakultäten darstellt; in den zeitgenössischen Despotien wird nach Kant der Bürger in Krieg und Frieden als bloßes Mittel verwendet; es ist nicht gut möglich, dass Kant ebendies bei der Formulierung der ersten Rechtspflicht nicht im Blick hat und dass die Tyrannis seine Philosophie des Menschenrechts nicht beflügelte. Die oben zitierten Ausführungen zum Krieg in der Rechtslehre sind ein direkter Beleg für diese Stoßrichtung der Rechtspflicht. Bernd Ludwig kann die Rechtspflichten aus seinem Interessenbereich der Textordnung ausschließen, weil ihre Stellung im Textkorpus gesichert scheint. Otfried Höffe widmet ein Kapitel seiner Publikation von 2001, »Königliche Völker«, den drei ulpianischen Imperativen (147–162). Es ist die bisher gründlichste Studie zu unserem Thema; die Übereinstimmungen mit der hier vorgelegten Studie werden vermerkt werden. Der grundsätzliche Unterschied: Höffe bemerkt die neue Position der ulpianischen Formeln in der Rechtslehre, er sieht jedoch keinen Zusammenhang der Innovation mit dem Zeitgeschehen, das Kant im Streit der Fakultäten kennzeichnet. Wird man auf diesen Zusammenhang aufmerksam, so gewinnt die erste Rechtspflicht eine politische Dimension der Abwendung vom Despotismus und Hinwendung zur Republik. 31 32

Kersting 1993, 213–222. Ebd., 219, Anm. 227.

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Hariolf Oberer (2004) setzt ein mit der richtigen These der »Substantialität« des Subjekts der lex justi, der ersten Rechtspflicht.33 Überzeugend ist auch die Rekonstruktion der Abfolge der drei Formeln. Oberer versucht dann nachzuweisen, dass Kants Konzeption eines Staats mit Zwangsgesetzen mit der ersten Rechtspflicht kollidiert.34 Er übersieht dabei meines Erachtens zweierlei: Kants Rechtslehre ist erstens die eines historischen Prozesses vom provisorischen zum peremtorischen Weltbürgerrecht, wie schon vor etlichen Jahren gezeigt wurde.35 Der Rechtsimperativ besagt also, sich in diesen – auch zögerlichen – Prozess zu integrieren. Zweitens ist die erste Rechtspflicht gegen die Despotie gerichtet; Oberers Desiderat wird also von Kant selbst thematisiert; dies wenigstens versucht unser Beitrag zu zeigen. Philipp-Alexander Hirsch zeigt minutiös, dass die Vorstellungen der »Einleitung in die Rechtslehre« von 1797 schon in den Vorlesungsnachschriften Feyerabend von 1784 und Mrongovius II von 1784–1785 zu finden sind: »Der Untersuchung liegt die Hypothese zugrunde, daß der Rechtsbegriff der Metaphysik der Sitten bereits 1784 ausgearbeitet und in einem Guss mit der kritischen Moralphilosophie konzipiert war, welche Kant 1785 in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten niederlegte.«36 Hirsch stellt heraus, dass der Begriff des Rechts schon 1784 eindeutig zur Moral gehört, die Recht und Ethik unter sich befasst. Beides gehört zur kritischen Philosophie, setzt die transzendentale Freiheit voraus, basiert auf dem kategorischen Imperativ und gehört damit zur Pflichtenlehre. Das Recht lässt die Triebfeder des rechtlichen Handelns offen, die Ethik verlangt dagegen das Handeln aus Achtung vor dem Gesetz. Hiermit wird zugleich ein Konsens der neueren Forschung festgeschrieben. Nun klammert Hirsch die erste Rechtspflicht aus seiner Untersuchung praktisch aus; sie wird nur kursorisch und nebenbei besprochen.37 Ihre nähere Betrachtung zeigt – gegen Hirsch –, dass Kant in den späten neunziger Jahren noch zu einer Revision seines Rechtsbegriffs gelangte; des weiteren gibt es andere, seit langem bekannte Änderungen in der späten Rechtslehre sowohl im Privatrecht wie auch im Öffentlichen Recht vom ersten provisorischen Besitz bis zum globalen ewigen Frieden. Die von Hirsch untersuchten Theorieteile von 1784/1785 und 1797 bilden jedoch einen überraschend festen Block inmitten von anderen Lehrbereichen, die sich ändern und besondere Impulse durch die Französische Revolution und ihre ideologische Begleitung erfahren. Dass Kant das honeste vive »einmal als Prinzip der Ethik und einmal als innere Rechtspflicht ausweist, betrifft nur die Systematik«.38

Oberer 2004, 204. Ebd., 207 ff. 35 Brandt 1974, 190 f. 36 Hirsch 2012, 2. Hirsch will vom Rechtsbegriff nur im Hinblick auf die Einleitung sprechen. – Die Untersuchung von Phillipp-Alexander Hirsch ist als Magisterarbeit bei Bernd Ludwig (Göttingen) entstanden. 37 Ebd., 2012, 58–62. 38 Ebd., 2012, 121. 33 34

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Diese Meinung halte ich für falsch und will versuchen, etwas anderes zu zeigen: Die erste Rechtspflicht von 1797 wird zu einem Drehpunkt der Rechtslehre; mit ihr weist Kant aus der legalen Despotie hin zur rechtlich notwendigen Republik. Für die Orientierung in der kantischen Moralphilosophie und damit auch in der ins Unendliche strebenden Sekundärliteratur scheint es mir wichtig zu sein, an folgende unabdingbare Punkte zu erinnern: Rechtlich zu handeln ist eine moralische, unbedingte Pflicht. Es gibt nur eine Quelle derartiger Pflichten, die reine praktische Vernunft mit den näheren Zuordnungen des kategorischen Imperativs, der transzendentalen Freiheit, der kritischen Philosophie (Trennung von Ding an sich und Erscheinung). Wenn in einer sonst sorgfältigen Publikation zum Problem der Instrumentalisierung und Würde (2010) von Peter Schaber trotz der durchgehenden Orientierung an Kant die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich und homo phaenomenon und homo noumenon gar nicht erwähnt wird, stimmt dies bedenklich. Nach Kant wenigstens ist keine Pflicht, weder die gegen andere noch sich selbst, ohne diese Unterscheidung denkbar. »Die juridische Gesetzgebung kann eine äußere sein, d. h. sie kann vom Willen eines anderen ausgehen.«39 Aber nur dann, wenn »ein natürliches Gesetz vorausgeh[t], welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete« (VI, 224.35–37). Das natürliche Gesetz wird gedacht als Vernunftgesetz, also in der eigenen Vernunft qua kategorischer Imperativ liegend. »Die juridische Gesetzgebung« kann in der kantischen Moralphilosophie am Ende nur in der reinen praktischen Vernunft, also in jedermanns Vernunft begründet sein. In ihr treffe ich also notwendig auf meinen eigenen autonomen Willen; andernfalls geht mich die Gesetzgebung als freies Wesen nichts an, sondern begegnet mir in der Sphäre von Angst und Gewalt. Die juridische Gesetzgebung unterscheidet sich hierin noch nicht von der ethischen; sie hat jedoch nur äußere Handlungen zum Gegenstand, deren Maximen freiheitskompatibel sein sollen, wie immer die Triebfeder beschaffen sein mag. Ein Beispiel ist etwa das Setzen von Anführungszeichen bei der Benutzung fremder Texte – das Plagiatsverbot hat, wenn auch auf einem Umweg, seinen Ursprung im Willen des Plagiators und kann nicht als juridisch »vom Willen eines anderen ausgehen«.

5. Die drei ulpianischen Formeln bei Kant vor 1797 Zur Vergewisserung der Ausgangslage im Hinblick auf die drei praecepta juris sollen die Textzeugen kurz in chronologischer Abfolge vorgestellt werden. Die Vorlesungsnachschrift Praktische Philosophie Powalski (1776–1777) flicht die ulpianischen Formeln ein (XXVII, 1; 144.1–31) und zählt das honeste vive zur Ethik, die beiden anderen Axiome zum Recht, wobei gelten soll: »Man kann den Saz suum cuique tribue auch negative neminem laede ausdrücken«. »Es liegt in der 39

Scholz 1972, 11.

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Menschheit außer dem Zwang zu Pflichten des strengen Rechts noch ein Trieb in uns, der uns treibt Handlungen zu thun, wozu wir gar nicht können gezwungen werden. Der Trieb ist das Intereße an der Achtung und Ehre des andern für uns.« Das ist die klassische Trennung von Recht und Ethik. In der Ethikvorlesung Kaehler von 1777 wird zu den ulpianischen Formeln gesagt: »Der erste Satz: honeste vive kann angesehen werden als ein gemeines [sc. allgemeines; R. B.] principium der Ethic. Denn der BewegungsGrund seine Verbindlichkeit zu erfüllen, ist nicht aus Zwang, sondern aus dem innern BewegungsGrunde genommen.«40 Auch hier erscheint die Trennung wie die von Politik und Ethik bei Aristoteles. Im Kapitel »De Obligatione« heißt es dagegen, dass wir in der Ethik einem »Selbstzwang« unterliegen, einer necessitatio interna. »Wir haben obligationes internas erga nosmet ipsos […], innerlich ist er nicht frei, sondern ist durch die nothwendigen und wesentlichen Zwekke der Menschheit gebunden.«41 Hier wird also die Ethik schon mit den Zwecken der Menschheit verbunden, während die Rechtsgesetze zweckfrei bleiben; die Rede vom Selbstzwang wird nicht näher erläutert.42 1797 wird Kant auf die erst durch die kritische Philosophie ermöglichte Differenz von homo noumenon und homo phaenomenon rekurrieren; sie ermöglicht das Selbstverhältnis, das im Selbstzwang vorausgesetzt wird. 1777 ist bereits bindend, dass der Mensch Person ist, die der »Menschheit in seiner eigenen Person«43 selbst-verpflichtet ist. Es gibt »Rechte der Menschheit«, die die Würde der Menschen ausmachen.44 Die Grundlage der »Rechte der Menschheit« wird nicht untersucht; wir erfahren nicht, ob und wie sie Pflichten generieren können. Aus der Zeit um 1784–1785 stammt Mrongovius II. Dort heißt es: Bei den Tugendpflichten »lege ich noch den andern eine neue Pflicht auf; statt daß ich bey den Rechtspflichten bloß meine Pflicht thue. Zu den Tugendpflichten hat der andre kein Recht. Honeste vive, neminem laede, suum cuique tribue sind Formeln des Ulpians und auch klassische der practischen Philosophie. Honeste vive ist das Princip der Ethic, neminem laede des Rechts in statu naturali, und suum cuique tribue auch des Rechts, aber im statu civili.« Es folgen Erläuterungen der ulpianschen Formeln (XXVIIII, 631.27–633). Die vorausgesetzte einheitliche Grundlage von Recht und Ethik wird nicht näher ausgeführt.

Kaehler 2004, 76. Vgl. den weitgehend gleichlautenden Text der Vorlesung Mrongovius (XXVII, 1431.28–1432.15), für die das Datum 1781 angegeben wird. In beiden Texten findet sich schon die Rede von der »Menschheit in unserer eigenen Person«. Zu den Vorlesungen Mrongovius, Moral Mrongovius II und Naturrecht Feyerabend vgl. Hirsch 2012, 10 ff. und die Angaben von Lehmann in der Akademie-Ausgabe XXVII. 41 Kaehler 2004, 48; zu den »wesentlichen Zwecken der Menschheit« vgl. 181; 202. 42 Aber er ist eingeführt, gegen Ju 1990, 50. 43 Kaehler 2004, 67. 44 Ju 1990, 48–51. 40

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Im Naturrecht Feyerabend von 1784 steht: »Honeste vive, Neminem laede und suum cuique tribue, sind die 3 Hauptsätze der praktischen Philosophie, die diese nun in drey Theile theilen. […] Honeste vive sey tugendhaft, zeigt die Moral an, Honestas heißt Ehrbarkeit. Ehre ist kein Gewinst nämlich die inre Ehre. Tugend ist die herrschende Maxime der Handlungen bloß aus Pflicht. […] Sie können nicht erzwungen werden, denn sie beruhen auf den Gesinnungen.« (XXVII, 1336.22–30) Nun beginnt die Vorlesung nicht mit den ulpianischen Vorschriften, sondern mit einer Bestimmung der Würde des Menschen als eines der Natur enthobenen Zwecks an sich selbst. Der Mensch gehört in das »System der Zwecke« (XXVII, 1319.18; 1321.13), kann aber ohne Widerspruch von anderen freien Wesen nicht bloß als Mittel benutzt werden, sondern ist immer zugleich Zweck: »[E]r muß auch wollen« (XXVII, 1319.22 f.). Kant greift einmal auf Überlegungen zurück, die ihren Niederschlag in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen fanden,45 zum anderen auf die neue Freiheitslehre der GMS. Die technischen und pragmatischen Imperative bleiben in den immer nur relativen Bestimmungen der Natur, der kategorische Imperativ führt dagegen zur objektiven Realität des Zwecks an sich. »Unter welcher Bedingung kann ein freyes Wesen Zweck an sich selbst seyn? Daß die Freiheit sich selbst ein Gesetz sey. Es [das frei handelnde Wesen] muß sich stets als Zweck und nie [bloß] als Mittel betrachten lassen. Die Gesetze sind entweder Naturgesetze, oder Gesetze der Freiheit. Die Freiheit muß, wenn sie unter Gesetzen seyn soll, sich selbst die Gesetze geben.« (VI, 1322.25–29)46 Hieraus resultieren die beiden Moralbereiche des Rechts und der Ethik. Zur letzteren gehört, wie wir sahen, die Pflicht des honeste vive. Ein Übergang ins Recht ist nicht in Sicht. In der Vigilantius-Nachschrift von 1793/1794 heißt es, Ulpian zähle die »tria praecepta stoicorum als Grundgesetze des Rechts auf: 1. honeste vive. Dies ist das Princip der Ethic […]. Es enthält dieser Ausdruck des Ulpians also den ganzen Complexum der ethischen Pflichten, die er dadurch von den rechtlichen abschneidet« (XXVII, 527.10–29). Eine auffällige, später eingegliederte Rechtspflicht im Hinblick auf die Menschheit (»ein unverletzliches Heiligthum«) lautet, der Mensch könne seine Substanz nicht zu einer Sache machen, »worüber er anderen die Erlaubniß giebt, sie als eine genießbare Sache zu behandeln. […] Er kann ferner vermöge seiner Causalität oder durch Freiheit wirkende Kraft sich nicht zum Leibeigenthum von andern machen d. i. seine Freiheit und Persönlichkeit so ganz aufgeben, daß der andere ihn als Sache behandeln kann« (XXVII, 602.10–20). 45 46

Vgl. Brandt 2010, 224–237. Siehe auch Ju 1990, 51–61.

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An diesen Gedanken wird die Revision von 1797 anschließen, dabei aber die alte römisch-rechtliche Opposition von Person und Sache verschiedentlich, zum Beispiel in der ersten Rechtspflicht, durch die neue von Mittel und Zweck ersetzen. Aktiviert wird die Differenz von homo phaenomenon und homo noumenon: »Man kann nämlich, da in der Moral die Zurechnung unserer Handlungen durch das Vernunft-Princip bestimmt wird, dieses jederzeit gegen das Sinnenwesen oder den Menschen als Phänomen in Verhältniß setzen und dem zu Folge annehmen, das Sinnenwesen gehöre dem Vernunftwesen an. Das Sinnenwesen ist dem noumeno als intellectuellem Wesen seiner Gewalt nach so abhängig, daß es derselben subordinirt, und die Substanz des Sinnenwesens ihm von ersterem nur anvertraut ist« (VI, 602.31–38). Diese metaphysische Dependenz gilt gleichermaßen im Recht wie in der Ethik. Auch die Pflichten gegen sich selbst sind immer »von dieser zweyfachen Natur, nachdem sie nämlich auf das Recht der Menschheit, oder auf den Zweck der Menschheit in einer Person, Bezug nehmen« (VI, 603.34–36).47 Die Lehre vom Selbstzwang wird also vertieft auf der Grundlage der kritischen Philosophie und ihrer Dichotomie von noumenaler und phänomenaler Welt, die im kategorischen Imperativ des Rechts und der Ethik vorausgesetzt wird. Aus der Phase der Entstehung der publizierten Rechtslehre und der neuen Platzierung wird folgende Reflexion im Opus postumum stammen: »Honeste vive handle der angebohrnen Pflicht nicht entgegen, der Pflicht gegen die Menschheit in deiner eigenen Person – Mache dich nicht selbst zum bloßen Mittel Also dienen obige classische Formeln zum Princip der Eintheilung der Rechtspflichten überhaupt« (XXI, 462.1–5). Hier finden wir die Inversion der älteren Pflicht, die wir aus der GMS kennen, nämlich andere nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern zugleich als Zweck an sich zu behandeln (IV, 429.10–12); spiegelbildlich wird jetzt gesagt, ich solle mich nicht zum bloßen Mittel machen (lassen).48 Diese Inversion ermöglicht offenbar die Überführung des honeste vive aus der Ethik in die Rechtslehre von 1797. In der veröffentlichten Form wird die Pointe verändert; es heißt jetzt nicht mehr, man solle nicht sich selbst zum bloßen Mittel machen, sondern: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel«. »Anderen«: Dies ist jetzt eine äußere Rechtsbeziehung; vorher war die Selbstbeziehung vielleicht noch eine Tugendrelation.49 In der KpV schreibt Kant noch: »Eben um dieser willen [sc. »der Autonomie seiner Freiheit«] ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung

Ju 1990, 61–78; Kersting 1984, 102–109. Außer an der zitierten Stelle und in der ersten Rechtspflicht der MdS kommt diese Formulierung sonst nicht vor, in den Druckschriften also einzig in der ersten ulpianischen Formel 1797. 49 Zur Datierung vgl. Adickes 1920, 52. 47 48

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der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.« (V, 87.21–27) Jetzt, 1797, wird dieses »leidende Subjekt« kategorisch aufgefordert, seine Unterwerfung zu beenden und ein rechtlich-freier Mensch zu sein. Einige Formulierungen der »Vorarbeiten zur Tugendlehre« im Band XXIII der AA nähern sich der ersten Rechtspflicht, nennen jedoch nicht die wesentlichen Charakteristika. »Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehört also noch nicht in die Tugendlehre weil sie auch nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey: Es ist aber die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte.« (XXIII, 390.31–36; auch VI, 341.8–10) So wenig wie es bei Kant die Formulierung »rechtlicher Mensch« in der Rechtslehre außerhalb der ersten Rechtspflicht gibt, so wenig auch die invertierte Mittel-ZweckFormel. 1797 restituiert Kant somit den klassischen Ulpian und zieht die drei Formeln zurück in die Rechtslehre. In der ersten Rechtspflicht betritt er zugleich völlig neues Terrain. Kant sprengt offenbar den bisherigen Rahmen seiner Rechtsphilosophie und öffnet den Gedanken für einen neuen Ansatz. Worin liegt er?

6. Die Systematik der Rechtspflichten Zunächst zur formalen Ordnung. Kant sucht sie folgendermaßen als systematische Einheit darzustellen und zu begründen: »Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.« (VI, 237.9–12)50 Gibt es eine Mehrzahl von inneren Rechtspflichten, die hier unter dem Titel des honeste vive zusammengefasst werden? Grammatisch ist das notwendig. Wie auch immer, jedenfalls hat Kant erst jetzt diese Möglichkeit einer systematischen Einheit der drei Pflichten entdeckt, die nun notwendig in die Rechtslehre gehört. Wie die Ableitung genau aussehen soll, muss wohl dunkel bleiben. »Auffallend an dieser Bestimmung Kants ist vor allem die Ableitungsbeziehung, die Kant zwischen den drei Rechtspflichten herstellt. Doch obwohl Kant von einer ›Subsumtion‹ spricht,

50

Zu den Schwierigkeiten Pippin 1999, 68–70.

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bleibt das genaue logische Ableitungsverhältnis unklar.«51 Wir können umgekehrt sagen: Kants Rekonstruktion der Rechtspflichten besagt, dass sie vollständig sind und keine weiteren empirisch aufgefunden oder eine von ihnen gestrichen werden können. Diese Vollständigkeit ist angewiesen auf einen Nachweis in Anlehnung an den einfachen Syllogismus; die Versatzstücke sind vorgegeben durch das »innen« der ersten Rechtspflicht. So viel ist ersichtlich: Die Substanz des Rechtssubjekts ist bei der Pluralität dieser Subjekte verletzbar und bedarf des Verbots dieser kausalen Einwirkung, und dies wiederum ist nur realisierbar in einem wechselseitigen Bestimmungs- und Sicherungssystem des suum cuique.52 Die Einordnung in »innere« darf die erste Rechtspflicht nicht aus dem Recht ausgliedern und zurück in die Ethik führen; also muss sie sich auf eine paradoxe Innerlichkeit des grundsätzlich äußerlichen Rechts beziehen. Bevor wir auf diese substantielle Frage eingehen, soll der jetzt angeführte formale Aspekt durch zwei andere Gesichtspunkte ergänzt werden. Die drei Schritte folgen, wie angedeutet, der Kategorie der Relation,53 und sie bilden sowohl unter dem einen wie dem anderen Aspekt eine divisio metaphysica (im Gegensatz zur zweiteiligen divisio logica54). Die kategoriale Zuweisung bedeutet, dass die erste Formel das rechtliche Subjekt verpflichtet, sich als rechtliche Person zu etablieren, also in sich Rechtssubstanz zu sein; die Läsion bezieht sich auf die einseitige Kausalität; und das suum cuique tribue ist ein System des Seinen, das gegen jeden anderen bestimmt und geschützt wird, also ein System der Wechselbeziehung. Die »Allgemeine Eintheilung der Rechtspflichten« hat mit den drei klassischen Formeln im Zeitalter des Klassizismus den Anschluss an die Antike gefunden und mit der systematischen Kompaktheit auch den Status der Unausweichlichkeit erreicht. Dem dient die Anrufung der Antike durch die lateinische Sprache der drei Formeln. Auch dieser letzte Begriff ist ein terminus technicus, den Kant ebenfalls bei den verschiedenen Formulierungen des römisch gedachten kategorischen Imperativs benutzt. Er will untersuchen, »ob nicht vielleicht der bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe« (IV, 420.18–20).55

Hirsch 2012, 62. Höffe 2001, 157. Ähnlich Oberer 2004, 204 f. 53 Schon angedeutet in der Vigilantius-Nachschrift XXVII, 602.10–25; aufgenommen u. a. bei Kersting 1993, 213. 54 Vgl. XVI, 612–623. 55 Zur Stufung der formula entsprechend der rechtlichen Abfolge von Natur- und Zivilzustand s. Brandt 2010, 95–104. Für die Rezeptionsgeschichte der Rechtslehre ist es nicht unwichtig zu bemerken, dass es sich hier ausschließlich um die römische handelt (im Gegensatz zur Ästhetik unter dem Einfluss Winckelmanns). Im 19. Jhdt. wird ein Gegensatz zwischen griechischer und römischer Antike wirksam, der dazu führt, dass die römische Zivilisation abgewertet wird und sich die deutsche Kultur ganz an der griechischen Tradition zu orientieren sucht. 51

52

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Die systemische Ordnung ist neu, denn zuvor lokalisierte Kant die Formeln in der Ethik, kam dann jedoch zu einem Riss innerhalb des Systems: Die erste Pflicht sollte eindeutig zur Ethik gehören, die zwei folgenden dagegen zum Recht. So lauteten die oben angeführten Dokumente. »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck« (VI, 236.27 f.); es ist nicht überflüssig, darauf zu verweisen, dass es nicht heißt: ›Mache andere nicht zu bloßen Mitteln, sondern erhalte sie zugleich als Zweck‹. Mit einer derartigen Formulierung würden wir uns im Einklang mit vielen Formulierungen seit der GMS (IV, 430 f.)56 finden. Es würde ein Subjekt angesprochen, das im Vollbesitz seiner rechtlichen Freiheit ist und nun über seine sittlichen Handlungsgrenzen gegenüber anderen belehrt wird. Davon ist hier jedoch nicht die Rede. Hier (und in den publizierten Schriften nur hier) wird der spiegelbildlich andere angesprochen, das wirkliche oder potentielle Opfer des Unrechts, das sich nicht zum bloßen Mittel abwürdigen lassen, sondern sein Dasein als das eines Zwecks geltend machen soll. Welchen Sinn hat diese Innovation? Die erste Rechtspflicht gehört zu den praecepta iuris und wird 1797 nicht mehr zur Ethik gezogen. So haben wir es zwar mit einem inneren Selbstverhältnis (gegenüber anderen) zu tun, aber nicht mit einer Tugendpflicht derart, dass die Pflicht selbst auch die Triebfeder sein soll, also ein Handeln aus Achtung vor dem Gesetz verlangt wird. Die Triebfeder ist wie bei allen Rechtsforderungen beliebig, sie kann etwa in der Angst vor einer sonst ungünstigen öffentlichen Meinung bestehen. Kann ich rechtlich zur Erfüllung des »Sei ein rechtlicher Mensch« gezwungen werden? Ein Zwang zur Erfüllung des zweiten und damit des dritten praeceptum juris ist sicher möglich, so wie es beim »Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt« (VI, 305.31 f.) formuliert wird: Es ist nicht nötig, »die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht (Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi« (VI, 307.23–26). Hier kann also das exeundum erzwungen werden. Nun entspricht grundsätzlich der ersten Rechtspflicht keine Zwangspflicht; die Person, die bloß als Mittel gebraucht wird, hat kein Widerstands- oder Zwangsrecht. Welchem Rechtsgesetz unterliegt jedoch der Sklave, dessen Eigentümer ihn als bloßes Mittel, als bloße Sache gebraucht, der also deklariert, dass er außerhalb der Rechtsgesetze steht? Kann Kant zugestehen, dass es zwar kein Widerstandsrecht gibt, wohl aber das physische Faktum des Widerstands, von dem in der Rechtslehre nicht gehandelt wird? Dieser physische Widerstand hebt ipso facto den Zustand der Rechtlosigkeit auf – exit e statu naturali – und macht den Menschen durch Tötung des Herrn wieder zur Person, die der ersten Rechtspflicht unterliegt.57 Aber andere Personen können durch den Gebrauch von Menschen als bloßen Mitteln nicht deren Rechtspflicht, rechtliche Menschen zu sein, suspendieren; diese können also nicht durch die Umstände zu 56 57

Gregor 1963, 40 f. Anders Oberer 1991, 14: Die Form des Gesetzes lasse keinen Fremdzwang zu.

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bloß physischen Objekten regredieren und tun und lassen, was sie animalisch wollen. Interpretieren wir jedoch die erste Rechtspflicht im Licht der dritten, des eben erläuterten suum cuique und des damit verbundenen exeundum, dann entsteht im Bereich des »Sei ein rechtlicher Mensch« und der Erläuterung, dass Personen als bloße Mittel gebraucht werden, die Möglichkeit, eben dies auf den Naturzustand zu beziehen, in dem sich der ›andere‹ und die angesprochene Person befinden. Dann aber kann der zur bloßen Sache oder zum bloßen Mittel Gemachte sich darauf berufen, im rechtlosen Naturzustand zu sein und den Opponenten rechtens dazu zu zwingen, mit ihm in den Status des suum cuique und des öffentlichen republikanischen Rechts zu treten. Noch ist nicht geklärt, was dazu nötigt, dem neminem laede und suum cuique eine erste Rechtspflicht voranzustellen. Die Antwort auf diese Frage führt meines Erachtens ins Zentrum der kantischen Innovation. Das Läsionsverbot bezieht sich auf das innere und äußere Mein und Dein; im ersten Fall etwa die angeborene Ehre, im zweiten Fall alles Erwerbbare. Nun besteht, so Kants Überlegung, die Rechtsperson nicht nur aus dem je Meinen, das lädierbar ist und das bestimmt und geschützt werden kann (2 und 3), sondern zunächst aus dem rechtlichen Ich, das durch den bloßen Mittelgebrauch als solches vernichtet wird. Der Untertan des Despoten ist rechtlich ausgelöscht, wiewohl noch lebender, nach fremden Direktiven agierender ichloser Mensch. Diese Bestimmung eines bloßen Mittels geht über die punktuelle Verletzung des inneren Meinen, etwa der Ehre, hinaus, indem sie den Menschen insgesamt seiner Persönlichkeit entkleidet und zum bloßen Instrument eines fremden Willens macht.58 Diese Dimension wird durch die Läsion und die zweite Rechtspflicht, sich den Rechtsläsionen zu entziehen, nicht erreicht und muss deswegen den beiden anderen Geboten als Selbstkonstitution vorangestellt werden. Dabei ist der Imperativ: »Sei ein rechtlicher Mensch« die Schöpfung, die vom angesprochenen Subjekt selbst vollzogen werden soll. Die beiden nachfolgenden Imperative erzählen die weitere Schöpfungsgeschichte der reinen rechtlichen Vernunft. Soviel zur inneren Ordnung der drei Rechtspflichten. Im Folgenden soll nur die erste Pflicht betrachtet werden, zunächst im Hinblick auf die Begriffe von Mittel und Zweck, sodann bezüglich der vorgeblichen Erklärung dieser (und nur dieser) Rechtspflicht aus dem Recht der Menschheit in unserer Person.

Vgl. dazu schon XX, 66.1–10; 91.10–94.14; dazu Brandt 2010, 224–237: »Epilog und Anfang: Kant als Rebell gegen die Gesellschaftsordnung«. – Die begriffliche Vorgabe des Sklaven, der nur als denkbegabtes Mittel gebraucht wird, stammt von Aristoteles: Politik, 1253b14–1255b15. 58

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7. Der Inhalt der ersten Rechtspflicht Die Pflicht, sich selbst anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern zugleich Zweck zu sein, klingt wie die spiegelbildliche Pflicht der GMS: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (IV, 429.10–12). In der GMS richtet sich der Imperativ an den Handelnden, in der MdS dagegen an Personen, die sich von anderen zum bloßen Mittel machen lassen (könnten) und nun aufgefordert werden, für sie Zweck zu sein, wir paraphrasieren: den Rechtszustand, in dem sie zu bloßen Mitteln gemacht werden, nicht zu erdulden, sondern selbst als Mitgesetzgeber tätig zu werden. In der Erläuterung der Formel der GMS begegnet die Beobachtung, die Bedeutung der Formel falle in die Augen, »wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigenthum anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter der Rechte der Menschen, sich der Person anderer bloß als Mittel zu bedienen, gesonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen« (IV, 430.3–9). 1785 formuliert Kant ein wichtiges Präludium unserer Formel, ohne sie als Rechtspflicht des Betroffenen selbst in Anschlag zu bringen, sie ist vielmehr dessen Anspruch. »Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten […]: nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zu Befriedigung der mancherlei Neigungen betrachtet wird,59 steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen selbst mit höheren Wesen, die ihm an Naturgaben sonst über alle Vergleichung vorgehen möchten, deren keines aber darum ein Recht hat, über ihn nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten.« (VIII, 114.20–29) Dies also zeichnet den Menschen in der Schöpfung aus: Von niemandem, auch von Gott nicht, als bloßes Mittel gebraucht zu werden und in dieser Mittel-Verrechnung zu verschwinden. Warum interessieren uns diese Äußerungen? Unter anderem deswegen, weil sie selbst und ähnliche Formulierungen die Grundlage kantianisierender Rechtslehren bildeten, gegen die sich Kant 1797 wendet: Zwecke haben in der Rechtslehre von 1797 ein offizielles Hausverbot. Und die erste Rechtspflicht, die von der Zweckset59

Zu dieser Vernunft als causa instrumentalis siehe Kapitel 3.

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zung handelt? Bevor wir diese vertrackte Frage zu beantworten suchen, machen wir einen Umweg und sehen uns einen Text an, der vom Recht auf der Grundlage der Mittel-Zweck-Relation handelt.

8. Nicht-kantische Rechtslehren auf der Grundlage der GMS Friedrich Bouterwek verfasste schon 1797 eine Rezension der Rechtslehre,60 in der es hieß, es ergebe sich aus dem allgemeinen Freiheitsgesetz »die Nützlichkeit des längst von Hrn. Kant vorgeschlagenen Grundsatzes: ›Behandele die Menschheit nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst‹, wenn der Unterschied zwischen Sachen und Personen festgesetzt werden soll. Daß aber Hr. Kant auf diesen Grundsatz nicht, wie es in Naturrechtssystemen nach Kantischen Ideen geschehen ist, das Naturrecht in seinem ganzen Umfange gründen würde, hat Rez. fast zuversichtlich erwartet […]« (XX, 446.31–36). Kant benutzt tatsächlich in der Rechtslehre selbst die Differenz von Sache und Person, wobei die letztere durch die Qualität des rechtlichen Handelns ausgezeichnet ist; jede Rechtsbeziehung zwischen Personen setzt diese Qualität der Zuschreibbarkeit voraus.61 Die Mittel-Zweck-Beziehung begegnet nur marginal. Bouterwek weist auf kantianisierende Rechtslehren hin, in denen die Beziehung der empirischen Reflexionskraft und ihrer Mittel-Zweck-Beziehung zur fundamentalen Bestimmung diente.62 Auf diese Rechtsbücher soll nicht näher eingegangen werden, weil sie weder systematisch stringent noch historisch einflussreich sind. Zur Kontrastierung eines gleichen Versuchs mit der kantischen ersten Rechtspflicht soll jedoch eine anonyme Rezension von Gottlieb Hufelands Lehrsätzen des Naturrechts (1790)63 dienen. Dort heißt es: »Denn da die Sittlichkeit nur durch Freyheit oder praktische Vernunft möglich ist, so ist der Mensch und jedes vernünftige Wesen, um seiner praktischen Vernunft willen, nicht bloß als Mittel oder Sache zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern als Zweck an sich selbst, als eine Person da, und hiedurch bestimmt eben das formale Princip der Sittlichkeit den höchsten Zweck, worauf alle unsere Handlungen so wohl in Ansehung unserer selbst, als anderer gehen sollen, indem es uns, vermöge seiner bloßen Analyse, gebietet: handele so, daß

60

Vgl. Kants Antwort VI, 356–372 und die Erläuterungen VI, 524 f.; XX, 445–467 und

488 f. Dazu VI, 223.24–34. Kersting 1983, 50–69: »Die Rechtsbegründung bei den frühen Kantianern«. 63 Hufeland setzt mit der Pflichtenlehre der kantischen GMS ein, schwenkt jedoch §§ 70 ff. in die wolffsche Tradition der Vollkommenheit ein, aus der Pflichten und Rechte des Naturrechts abgeleitet werden. 61

62

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du die Menschheit so wohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst.«64 Und dann in Anwendung auf das Recht: »Da Zwang, an sich betrachtet bloß deshalb unerlaubt ist, weil dadurch ein vernünftiges Wesen als bloßes Mittel behandelt wird; so ist von selbst einleuchtend, daß das höhere Gesetz, welches den Zwang gebietet, und hiedurch für rechtmäßig erklärt, kein anderes sein kann, als das allgemeine formale Princip: verhindere jeden, der dich oder einen andern Menschen, als ein bloßes Mittel behandelt.«65 Genau dies tut Kant 1797; er verbannt zwar die Mittel-Zweck-Relation aus der Rechtslehre und versucht, das Privatrecht auf dem Läsionsverbot und das Öffentliche Recht auf dem Prinzip des suum cuique zu entfalten, alles bezogen auf äußere Handlungen unter Abstraktion von den Zwecken der Handelnden. Die erste Rechtspflicht scheint sich dieser Konzeption in den Weg zu stellen und die MittelZweck-Relation in die Fundamente des Rechts zu holen. Jetzt wird es systematisch und historisch kompliziert. Können wir die Handlungsbewertung als eines bloßen Mittelgebrauchs meiner selbst (oder auch eines anderen Menschen?) in der Rechtslehre an prominenter Stelle belassen, oder müssen wir eingestehen, dass dann Kants Befreiung des Rechts von der Zweckbestimmung der Handlungen misslungen ist? Die Rechtslehre setzt 1797 systematisch in der »Allgemeinen Eintheilung der Rechtspflichten« nicht mit dem Verbot der Läsion ein, die zweckfrei als bloße äußere Handlung definiert wird, sondern mit dem Verbot, sich zum bloßen Mittel zu machen, sondern für andere zugleich Zweck zu sein. Nun scheint sich diese Rechtspflicht nicht von der parallelen Pflicht in der Hufeland-Rezension zu unterscheiden, außer durch eine Ergänzung, die der Rezensent vornimmt: »Verhindere jeden, der dich oder einen andern Menschen, als ein bloßes Mittel behandelt«. Müsste Kant nach dem Umzug der Pflicht aus der Ethik in die Rechtslehre nicht ebenso formulieren und ergänzen: ›oder einen andern Menschen‹? Die Pflicht würde dann als Verbindlichkeit aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person und der Person jedes anderen folgen – aber damit wiederum Kants Systematik der drei Rechtspflichten zerstören. Die Verhinderung des bloßen Mittelgebrauchs müsste gesetzlich geschehen und damit die eigene Person nicht privilegieren, wie es bei Kant geschieht; aber auch die Feststellung der Missbrauchshandlung als solcher müsste nach sicheren Kriterien geschehen – ist das Subjekt im Hinblick auf sich selbst anders gestellt als andere? Wenn ich die Missbrauchshandlung im Spektrum des Privatrechts fasse, liegt eine klar erkennbare Läsion vor; damit aber ist das Subjekt als Opfer nicht mehr ausgezeichnet, sondern befindet sich in derselben

Anonymus 1792, 517. Man sieht schon hier: Das Recht wird ermöglicht als Mittel, sittliche Zwecke zu realisieren; dieser Gedanke findet sich bei Kant nicht, s. Scholz 1972, XVII. 65 Anonymus 1792, 523. 64

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Lage wie jeder andere, und die Selbstständigkeit des honeste vive neben der zweiten und dritten Rechtspflicht ließe sich nicht halten. Die erste Rechtspflicht bedeutet dagegen die Selbstermöglichung meiner selbst als eines Rechtswesens gegenüber allen anderen. In den früheren Formulierungen des honeste-vive-Prinzips wendete sich die Vorschrift an einzelne Individuen, so etwa in der vagen Präzisierung des unnatürlichen Lasters und sexuellen Missbrauchs seiner selbst. Im Bereich der Rechtspflicht ist es dagegen misslich, beim sexuellen Missbrauch eine Vielzahl von Akteuren anzunehmen (»Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel«); man sucht entsprechend nach einer anderen Form der Verwendung von Personen als bloßen Mitteln. Hier bietet sich eine Überleitung aus dem Bereich des Privatrechts in den des Öffentlichen Rechts beziehungsweise des Politischen an, den Kant tatsächlich vollzieht.

9. Der Ort des honeste vive in der Rechtslehre von 1797 Der ursprüngliche Wortlaut des honeste vive könnte dazu einladen, die erste Rechtspflicht auf die Ehre zu beziehen, von der unter dem Titel des inneren Meinen in der Rechtslehre gehandelt wird (VI, 238.1–3; 21 f.). Aber die erste Rechtspflicht in ihrer neuen Formulierung kann nicht gut ihre Bedeutung darin erschöpfen, dass sie nur dem Topos der Ehre eine allgemeine Fundierung gibt. Und umgekehrt gibt es dort, wo Kant von der Ehre spricht, keinen Rückgriff auf die neue erste Rechtspflicht und ihre eigentümliche Formulierung. Es lassen sich benennen im Privatrecht das Eherecht, im Öffentlichen Recht das Strafrecht und das Recht des Menschen als bloßen Materials im Krieg. Im »Eherecht« (VI, 277–280) wird von der »Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person« (VI, 277.19) gesprochen, auch: »In diesem Act macht sich ein Mensch selbst zur Sache« (VI, 278.8), aber die Diktion der ersten Rechtspflicht ist nicht präsent; entsprechend wird hier keine besondere Referenz liegen. Im Strafrecht wird gesagt, der Mensch könne nie bloß als Mittel zur Förderung eines anderen Gutes behandelt werden (VI, 331.20–29). Aber es wäre wohl allzu zynisch, dem Opfer der menschheitswidrigen Justiz die Rechtspflicht vorzuhalten, sich nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern Zweck an sich zu sein. Im Krieg ist der Fall anders; das ist unsere These, die schon genannt wurde. Aber in der Ökonomie der Schrift ist es nicht gut denkbar, dass sich die erste Rechtspflicht gezielt nur auf dieses besondere Problem des Öffentlichen Rechts bezieht. Gibt es einen anderen Referenztext? Die zweite und dritte ulpianische Formel werden von Kant an verschiedenen Stellen auf das nachfolgende Privat- und Öffentliche Recht verwiesen;66 aber damit entsteht zugleich der Verdacht, dass es eine analoge einfache Zuständigkeit der ersten Rechtspflicht nicht gibt, denn die mögSiehe z. B. Hirsch 2012, 62: »Folglich bezeichnet ›neminem laede‹ das Prinzip des Rechts im Naturzustand und ›suum cuique‹ dasjenige im bürgerlichen Zustand«. Bedenken formuliert Höffe 2001, 157. 66

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lichen Bereiche sind schon vergeben. Die neue Formel, sich nicht durch andere als bloßes Mittel brauchen zu lassen, sondern für sie zugleich Zweck zu sein, wird an keiner Stelle aufgenommen. Nie charakterisiert Kant den status naturalis wörtlich als einen Zustand, in dem Menschen einander als bloße Mittel gebrauchen oder gebrauchen können, und nie sagt Kant, dass daraus der Imperativ erwächst, diesen Zustand zu verlassen. Nach Gertrud Scholz ist jedoch der Referenzpunkt der notwendige Ausgang aus dem Naturzustand: »Ich bin nicht zum Rechthandeln gegen den anderen verbunden, wenn dieser mir nicht Sicherheit gibt, er werde auch mein Recht nicht verletzen. Denn ohne solche Sicherheit recht handelnd, würde ich Gefahr laufen, zum Spielball fremder Interessen, zum bloßen Mittel im Dienst der Zwecke anderer zu werden. Und das wäre ein Verstoß gegen die ›innere‹, d. h. die Rechtspflicht gegen mich selbst. Sie besteht darin, ›im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten‹, und wird durch den Satz ausgedrückt: ›Mache dich Anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‹«67 Nun klingt es zunächst überzeugend, die lex justi der ersten Rechtspflicht derart auf den zu verlassenden Naturzustand zu beziehen68 und großzügig darüber wegzusehen, dass die Rede vom rechtlichen Menschen und von der Mittel-Zweck-Beziehung nicht aufgenommen werden. Wir können auch zugestehen, dass dieser Umbruch vom Natur- zum Zivilzustand außer dem Kriegsrecht der einzige Referenzpunkt in der Rechtslehre ist, auf den sich das neue honeste vive beziehen könnte, wiewohl der Wortlaut dazu keine Handhabe gibt.69 Kersting verschärft in der Publikation von 2004 die Position von Scholz; der einschlägige Abschnitt trägt den Titel »Das Recht der Menschheit ist ein Recht auf eine Republik«.70 Kant begehe einen schwerwiegenden Fehler, weil er nicht das innere, sondern erst das äußere Mein und Dein zum Ausgangspunkt des exeundum mache, denn bestimmungs- und schutzbedürftig sei schon das meum internum unabhängig vom Privatrecht des erwerbbaren äußeren Mein und Dein. Dies ist die logische Konsequenz der vorsichtigeren Interpretation von Gertrud Scholz. Aber warum, so muss man vorsichtig fragen, sagt Kant das nicht selbst? Die Antwort ist eindeutig, er begeht keinen, sondern meidet einen Fehler: Kant will nicht zu Hobbes zurückkehren, sondern Locke weiterführen. Wenn bereits die Gefährdung des inneren Meinen, also auch meines Leibes, mich gemäß der ersten Rechtspflicht in den status civilis nötigt, dann verdankt sich alle bürgerliche Ausstattung dem Staat, der damit notwendig totalitär wird – seine Scholz 1972, 63 f. Dazu auch Kersting 2004, 51–54. Das von Kersting formulierte Desiderat, auch für das innere Mein und Dein eine neutrale Instanz der Bestimmung und des wirksamen Schutzes zu haben, bleibt bestehen. 69 Dies ist auch gegen Pippin 1999 einzuwenden. 70 Kersting 2004, 51. 67 68

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Bürger können gegen ihn nichts geltend machen außer ihrem nackten Leben, wie Hobbes es wollte. Jedes äußere Mein und Dein verdankt sich dann der potestas des Staats. Man sieht: Die Voranstellung eines provisorischen Besitzes, der allererst zum Übergang in den Zivilzustand nötigt, ist eine wohldurchdachte Option. Sie scheint schon im Aufbau der drei ulpianischen Formeln zu liegen, die das honeste vive über das neminem laede bis zum suum cuique führen. Aber hier ist zu beachten, dass sich das Subjekt der drei Formeln auf dessen inneres Mein und Dein beschränken könnte. Hier ist die erst durch das »Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« (VI, 246.4) ermöglichte Erweiterung des Mein und Dein zum äußeren Mein und Dein noch nicht in Sicht, das suum muss nicht, aber kann auf das Innere beschränkt sein und sich nur auf den »Werth als den eines Menschen« (VI, 236.26) und das neminem laede beziehen. Auch die Ableitung des suum cuique aus der inneren ersten Rechtspflicht und dem Verbot der Läsion (nach VI, 237.9–12) gelingt, wenn man das suum auf das jeweilige Innere beschränkt. Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass Kant zwar das provisorische äußere Mein und Dein des Privatrechts als die notwendige und hinreichende Bedingung des Übergangs in den status civilis nimmt (VI, 312.22–33 u. ö.), aber doch dabei den Rechtsstatus der Personen voraussetzt und auch das innere Mein und Dein unter die staatliche Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit zieht. Aber das innere Mein und Dein für sich mit der Notwendigkeit zu markieren, sich in die Institution zu begeben, die dieses Mein und Dein gesetzlich bestimmt und schützt, ist sicher gegen Kants gut begründete Absicht. Damit ist zugleich die Aporie gezeigt, in die man kommt, wenn man nach einem Referenzort der ersten Rechtspflicht sucht. Wählt man den Übergang zum Zivilzustand, dann genügt diese Rechtspflicht für die Notwendigkeit des exeundum, wie es Kersting wohl auch beabsichtigt, und man kann nicht auch noch das Privatrecht geltend machen, wie Scholz es will. Also: Nur wenn wir die erste Rechtspflicht aus dem Übergang fernhalten, können wir das Privatrecht in seiner Begründungsfunktion für das suum cuique erhalten. Es ist dagegen suggestiv, die in §§ 41 und 42 gebrauchte Formulierung vom »rechtlichen Zustand« (im Gegensatz zum nicht-peremtorisch-rechtlichen Naturzustand) als überholt anzusehen und zu vermuten, dass sie in der ersten Rechtspflicht ersetzt wird durch die neue Rede vom rechtlichen Menschen. Der Imperativ »Sei ein rechtlicher Mensch« ist – das ist unsere These – indifferent gegen die Unterscheidung von status naturalis und status civilis und wendet sich an den Menschen als solchen, ob er nun gedacht wird in der alten Schablone der beiden status oder in der neuen der drohenden Beraubung seines Menschenwerts durch den Missbrauch als ein bloßes Mittel, wo immer und wann immer dies geschieht – auch im status civilis des zur Despotie degenerierten Staats. Ist dies korrekt, dann gibt Kant in der ersten Rechtspflicht die Orientierung an den beiden Zuständen von Natur und Staat auf und ersetzt die Rede vom »rechtlichen Zustand« (§§ 41 und 42) durch die Formulierung vom »rechtlichen Menschen«. Die erste Rechtspflicht wendet sich dann auch an den Menschen, der in einem Staat »seinen Wert als den eines Menschen«

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verliert. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann braucht der besondere Referenzort des honeste vive nicht im Übergang zum Öffentlichen Recht zu liegen, sondern es ist jeder Zustand überhaupt. Im status civilis wäre es der Zustand der Despotie, in der der Mensch auf legale Weise seinen Wert verliert und zum bloßen Mittel gemacht wird. Obwohl Bürger eines Staats, ist er rechtlos. Im offiziell rechtlichen Zustand ist der rechtliche Mensch nicht verwirklicht – das ist die revolutionäre Botschaft dieser ersten ausbuchstabierten Rechtspflicht. Die interne Funktion der ersten Rechtspflicht innerhalb der Systematik der drei ulpianischen Formeln bleibt erhalten, denn das Läsionsverbot (neminem laede) bedarf eines positiven Grundes. Dieser liegt im substanziellen Selbst des Menschen, mit dem dieser nicht ontologisch ausgestattet ist, sondern Subjekt und Gegenstand des Imperativs ist, eben dieses Selbst zu sein, sich dazu zu machen; das also zu realisieren, was jeder vor allem Handeln und Leiden paradoxerweise schon ist und nun aus sich selbst verwirklichen soll. Der Zweck steht dem »bloßen Mittel« gegenüber, das er als Person nicht ist. Wird der Mensch zum bloßen Mittel gemacht, wird er in der Idee als Mensch und Person vernichtet. Dies zu verhindern, ist der Inhalt nicht einer Seinsbehauptung, sondern einer Pflicht der Selbstbehauptung, ist nicht Gegenstand der theoretischen, sondern der reinen praktischen Vernunft. Sie findet sich nicht vor, sondern erzeugt sich selbst in der und durch die Rechtspflicht, die alles Recht überhaupt ermöglicht. So ungefähr muss die erste Rechtspflicht charakterisiert werden. Die erste Rechtspflicht ist dann die Grundlage der Ermöglichung von 2 und 3, sie ist jedoch mehr gegenüber dem bisherigen Rechtsbestand: Sie stellt sich gegen Perversionen des Staats, durch die er auf legale Weise die Menschen zu bloßen Mitteln machen kann.

10. Die Würde des Menschen bei Kant und im Grundgesetz Am Beginn des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« (vom 23. Mai 1949). Worin besteht genau die hier angesprochene Würde des Menschen? Worin ist sie begründet? Worin liegt der Verpflichtungsgrund aller staatlichen Gewalt? Das Grundgesetz gibt hierauf klugerweise keine Antwort, sondern stellt nur die Unantastbarkeit und gleichzeitige Schutzbedürftigkeit der Würde des Menschen fest. Es ist zum Topos in der Literatur geworden, hier auf Kant zu verweisen.71 Und der genauere Ort wäre die erste Rechtspflicht, mit der wir uns befassen. »Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten«.

Siehe zuletzt Härle 2010. Härle verlässt allerdings Kants rein vernunftrechtliche Argumentation zugunsten einer theologischen Fundierung der menschlichen Würde. 71

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Der Mensch hat in der Rechtslehre nicht nur einen relativen, sondern einen absoluten Wert; dieser absolute Wert ist nach der GMS identisch mit seiner Würde. Die Würde des Menschen besteht in der »Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein« (IV, 440.11–13). So auch VI, 223.29–31: Kant schreibt, »[…] daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.« Und er fügt die Begründung hinzu: »[…] denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt« (VI, 331.25–28). In der Tugendlehre steht: »Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht zugleich seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er sich selbst für keinen Preis weggeben kann« (VI, 462.18–27). Das ist also die alte Differenz von pretium und dignitas, die alles, was es gibt, in zwei Klassen aufteilt: Die Welt, in der alles gegen alles vertauscht und gekauft und verkauft werden kann, und die Gegenwelt, in der sich bestimmte Dinge dem Kommerz und der Verwendung als bloße Sachen entziehen. Jeder Mensch hat einen »rechtmäßigen« Anspruch: Hier wird angedeutet, dass die Würde-Zuschreibung für Tugend- und Rechtslehre gilt. In unserem Zusammenhang: »Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen acquirirt ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten« (XIX, 538.20–23; R 7862). Das Grundgesetz appelliert an die staatliche Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und gegen Dritte zu schützen. Nun gibt es sowohl bei Kant wie auch im Grundgesetz eine polare Spannung. Einerseits ›gibt es‹ die Würde und den Wert des Menschen, die nur ihm und nicht etwa beliebigen Tieren und Mineralien zukommen; andererseits unterliegt das so Unantastbare und Unanfechtbare der Gefahr der Vernichtung. Es ist deswegen Gegenstand des Schutzes, oder auch des Imperativs, das zu sein, was jeder ist: »rechtlicher Mensch«. Die Unantastbarkeit der wiewohl schutzbedürftigen Würde könnte in ihrer Paradoxie so ausgelegt werden, dass sie dem Menschen als einem Gottesgeschöpf gegeben ist. Kants Rechtslehre schließt diese theologische Begründung der Unantastbarkeit aus und verlegt sie in den Menschen als ein sich selbst konstituierendes Rechtssubjekt. Der Mensch ist als Vernunftwesen Vollstrecker dieser seiner Natur, der er widerspricht, wenn er

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nicht autonom handelt. Die Begründung der dem Menschen zugeschriebenen und zugleich aufgegebenen Würde liegt in der reinen praktischen Vernunft. Inhalt und Voraussetzung der Würde und des Werts des Menschen ist die Freiheit und ihre sittliche Realisierung. Der Verfassungstext kann ohne Theologie oder Philosophie auf diese Alternative nicht eingehen, sondern setzt das Gegebensein der Würde voraus. Der freiheitliche, säkularisierte Staat ruht auf Voraussetzungen, die er selbst nicht vorweisen kann, sondern sich im Konsens der Bürger zu eigen macht. Dazu gehört natürlich eine Folgelast. Vom einzelnen Bürger wird implizit gefordert, »seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten«. Vom Staat und der Staatsgesellschaft wird explizit gefordert, mit der Kultivierung und Zivilisierung der Bürger die politisch-soziale Substruktur zu schaffen, die die Würde als Wirklichkeit ermöglicht. Eine Garantie gibt es nicht, sondern nur die unhintergehbare, sich immer erneuernde Aufgabe.

11. Die erste Rechtspflicht als originäre Rechtsgrundlage Eine reflexive Grundlage der Rechtlichkeit des Menschen derart, dass die Selbstkonstitution des Rechtswesens in einer ersten Freiheitspflicht verankert ist, findet sich wohl erstmals bei Rousseau, und in dessen Contrat social dürfte die Quelle der Inspiration für Kant liegen. »Renoncer à sa liberté c’est reconcer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs. Il n’y a nul dédommagement possible pour quiconque renonce à tout. Une telle renonciation est incompatible avec la nature de l’homme, et c’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à ses actions.«72 Ein ursprünglicher Imperativ, der dem Menschen die Pflicht auferlegt, seine Freiheit zu erhalten, wird nicht genannt, aber Rousseaus Formulierungen bieten ein Äquivalent: Die Moralität macht ihre Selbstverwirklichung zur Pflicht! Bei Hobbes gab es keine originäre Rechtspflicht, sondern eine Todesvermeidungsklugheit, deren Notwendigkeit im faktischen physischen oder psychischen Selbst-Zwang liegt; die nachfolgende Verwendbarkeit als eines bloßen Mittels des Leviathans muss in Kauf genommen werden; sie ist das Ergebnis einer scheinbar freien Güterabwägung, tatsächlich eines unentrinnbaren psychischen Mechanismus. Bei Locke unterliege ich als Gottesgeschöpf der Erhaltungspflicht inklusive der dazu nötigen Freiheitserhaltung. Rousseau und Kant suchen den archimedischen Punkt des Rechts und der Rechtspflichten in einer moralischen Selbstkonstitution des Menschen. Die zweite Rechtspflicht lautet neminem laede. In ihr wird die Bestimmung dessen vorausgesetzt, was überhaupt zum nemo-Kreis zählen kann. Es sind nicht die 72

Rousseau: Oeuvres, III 356.

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Stühle, die ich zersägen kann, und nicht die Tiere, die der Jäger zum Erhalt des Wildbestandes tötet, sondern diejenigen Wesen, die qua Gattung die erste Rechtspflicht erfüllen können – ›qua Gattung‹, also inklusive der Ungeborenen und der Sterbenden und Toten, deren Wert oder Würde die Lebenden zu wahren haben.

12. Mittel und Zweck Die von Kant benutzte wechselseitige Beziehung von Mittel und Zweck wird von ihm zuerst in der GMS näher ausgeführt, sie wird in der Teleologie der KdU eingesetzt und findet sich in vielen Variationen in den darauf folgenden Texten. Zweck ist »der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird«, heißt es in der KdU (V, 220.1–3); »[…] die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck« (V, 426.7–9). Der Handwerker stellt sich einen Stuhl vor und realisiert den Gegenstand dieser Vorstellung dadurch, dass er eine zur Erzeugung des Artefakts geeignete Kausalreihe in Gang setzt, die am Schluss zu dem von ihm vorweg imaginierten Produkt führt. Vestigium hominis video; die bloße geometrische Figur im Sand könnte noch das Zufallsprodukt von Wind und Wellen sein, wenn sie keine geometrische Beweisfigur wäre, die nur ein Mensch gemäß seiner begrifflich angeleiteten Einbildungskraft erzeugen kann (V, 370.32). Das Modell kann problemlos verwendet werden für Akte, bei denen keine Artefakte produziert, sondern Zustandsänderungen oder neue Relationen bewerkstelligt werden. Diese Akte können in der Dichtung, der Rhetorik, der wissenschaftlichen Erkenntnis vollzogen werden. Die reflektierende Urteilskraft verfährt so, dass sie Naturprodukte nach dem Vorbild der technischen Erzeugung von Zwecken interpretiert. Die Definition eines Naturprodukts lautet: »Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (V, 376.11–13). Es gilt also auch für die Glieder von Pflanzen und Tieren, dass sie nicht bloß Mittel sind, sondern immer und notwendig zugleich Zweck. Was unterscheidet den biologischen Organismus und seine Glieder vom politischen Organismus, der nach dem Vorbild des ersteren benannt wurde (V, 375.29–37)? Das Postulat jedes Gliedes, für die anderen nicht bloß Mittel, sondern auch Zweck zu sein, gilt idealiter für beide, den biologischen und den rechtlichen Organismus. Es wird dabei jedoch erstens angenommen, dass die Mittel, die die Naturprodukte zur Erzeugung ihrer eigenen Glieder verwenden, in ihrer Funktion nicht ersetzbar sind; wenn allerdings andere funktionsgleiche Glieder an die Stelle der ursprünglichen treten, erfährt die organische Reproduktion keine Einbuße. Auf diese Weise kann ein Naturprodukt Schäden heilen.73 Die einzelnen Glieder sind in ihm ersetzbar, nicht dagegen die Menschen im Staat. 73

Siehe Brandt 2009, 393–496.

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Diese Unersetzbarkeit des Individuums wird ausgedrückt durch das beigefügte »an sich«74; der Mensch ist in rechtlicher Beziehung für jeden anderen »Zweck an sich« und soll diesen Status gemäß der ersten Rechtspflicht gegen alle anderen behaupten. Zweitens wird nur vom rechtlichen Individuum gefordert, es müsse »im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden« (VI, 345.34).75 Für die Teile eines Naturprodukts gilt diese Autonomieforderung natürlich nicht. Der Mensch ist Zweck an sich, weil er zwar als Mittel und Zweck fungieren kann, diese Funktion jedoch unter der Bedingung seiner eigenen Freiheit und Mit-Gesetzgebung steht. Für diese Konzeption gibt es in der politischen Philosophie kein Vorbild. Der Mensch zeichnet sich gegenüber der Organnatur durch die beiden Bestimmungen aus, vernünftig und Vernunftwesen zu sein (VI, 26.8–11 u. ö.). Die erste bezieht sich auf die technisch-instrumentelle Handlungsmöglichkeit, die zweite auf die moralische Ebene der Verantwortung. Wenn der Mensch seinen Status dadurch verliert, dass er zum bloßen Mittel gemacht wird, ist die Beraubung nicht der instrumentellen Vernunft des animal rationale, sondern des Status des für sein Handeln verantwortlichen Wesens gemeint; erst damit betreten wir die Ebene des kategorischen Gebots, ein rechtlicher Mensch zu sein und sich als solcher zu behaupten. Organe sind Systeme der egalitären76 kooperativen Erhaltung. Die Mittel-ZweckRelation überschreitet einerseits die reine Kausalbeziehung der Grundsätze in der KrV (A 189–211), sie unterschreitet andererseits die Bestimmung der reinen praktischen Vernunft, weil sie mit einem Imperativ nichts zu tun hat. Die reflektierende Urteilskraft interpretiert die lebendige Natur so, als ob Glieder der Naturprodukte in einem Mittel-Zweck-Bezug stünden, die Wurzel des Baumes zur Blüte und vice versa. In der reinen praktischen Vernunft der Rechtslehre wird dieses harmonische Verhältnis der Wechselseitigkeit jedoch aufgelöst, Mittel und Zweck stehen einander jetzt wie der mundus sensibilis und intelligibilis gegenüber. Im ersteren mögen immer Erscheinungen in einer Mittel-Zweck-Beziehung verbunden sein, in der zweiten sind die Ebenen heterogen: Der Mensch soll mit kategorischer Notwendigkeit nicht in das teleologische Kontinuum der Natur gestoßen werden, er ist mehr: jenseits der beiden Ebenen (der kausalen und der finalen) qua Zweck an sich. Wir sagten schon, dass die Mittel-Zweck-Relation in Naturorganen eine funktionale Größe ist, keine individuelle. Die einzelne Knospe kann wie jedes andere Glied des pflanzlichen oder tierischen Organs durch Surrogate ersetzt werden, wenn nur der Funktionskreis intakt bleibt. Das Individuum im Gliederbau ist hier nur Statthalter für eine bestimmte gleichbleibende Aufgabe. Daher erlaubt es die organische Es fehlt in unserem Text VI, 236.28 und muss sinngemäß ergänzt werden. Dies gilt nicht mehr für den Verbrecher, der zwar qua Person nicht als bloßes Mittel behandelt werden darf (VI, 331.20–29), aber seine Eigenschaft, als »mitgesetzgebendes Glied« (VI, 345.34) zu gelten, verloren hat. 76 Das Vorbild kann also nicht mehr der kooperative Körper in der Fabel des Menenius Agrippa sein! 74 75

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Natur, dass alte Glieder abgeschnitten und neue Glieder aufgepfropft werden. Mit dem Schritt von der Natur zur Freiheit gilt die Rechtspflicht: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck«. Das heißt: Zweck an sich, den es im mechanischen und finalen Naturgeschehen nicht gibt, wohl aber unter der Bedingung des homo noumenon. Der Mensch erfüllt nicht nur seine natürlichen Funktionen als ersetzbares Glied eines organischen Systems, sondern ist darüber hinaus Zweck an sich, das heißt als Individuum nicht ersetzbar. Die Rechtspflicht besagt, sich als derartigen Zweck an sich zu behaupten. Im Hinblick auf die Analogie zwischen Naturprodukten und Rechtspflicht ist auf ein von Kant nicht erörtertes Problem zu verweisen. Wie steht es mit den Grenzbereichen des Organ- und Menschseins? Gehört das absterbende Blatt noch zum Organismus, für den gilt, dass alles in ihm Mittel und zugleich Zweck ist?77 Und im Bereich von Recht und Ethik: Gehört ein Embryo in jeder Phase seiner Entstehung so zu den Personen wie jeder Mensch, der im Moment schläft? Oder debil et cetera ist?

13. Das Bezugsfeld der ersten Rechtspflicht Kants erste Rechtspflicht wird nicht als conditio sine qua non des contrat social eingeführt wie Rousseaus rechtliches Grundprinzip. Der Leser erfährt nicht, dass alle Formen der Vergesellschaftung bis auf eine einzige am Einspruch dieses Grundprinzips scheitern. Wie bei Rousseau nur der pacte fondamental die rechtlich notwendige Freiheit erhält und drei andere Formen der Vergesellschaftung an dieser Bedingung scheitern,78 so wird bei Kant nur die Republik dem Desiderat der ersten Rechtspflicht gerecht, aber das ist nicht aus dem Text der Rechtslehre und ihrer Lehre vom status civilis ersichtlich. Die These der folgenden Ausführungen ist, dass Kant mit der ersten Rechtspflicht auf eine Neugründung des legalen Staats zielt, weil in dem traditionellen status civilis die schwersten Verletzungen der Menschenrechte auf legale Weise möglich sind. An die Stelle der Despotie muss in dieser zweiten Staatsphase die Republik treten. Wir wenden uns zeitgleichen Schriften Kants zu und verlassen damit die Rechtslehre, aber in der Sache bleiben wir auf deren Terrain. Die erste Rechtspflicht ist jedenfalls so formuliert, dass sie für die einschlägigen Probleme ihre Gültigkeit behält. Zunächst noch einmal die Passage, die wir schon oben aus dem »Völkerrecht« der MdS zitierten:

Dazu Brandt 2009, 393–496. Dazu Rousseau: Oeuvres, III 352–360: Rechtlich nicht möglich ist die Staatsbildung durch ein ›Recht‹ des Patriarchen, des Stärkeren oder die Versklavung, so bleibt nur ein pacte fondamental von Freien und Gleichen. 77 78

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»Dieser Rechtsgrund aber […] gilt zwar freilich in Ansehung der Thiere, die ein Eigenthum des Menschen sein können, will sich aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staatsbürger, anwenden lassen, der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst) […]« (VI, 345.30–35). Wie die Lage in der legalen Despotie generell aussieht, erfahren wir im Streit der Fakultäten; für die Natur sei der Mensch eine Kleinigkeit – »Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn theils thierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, theils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.« (VII, 89.10–15)79 Von einer »Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung« spricht Kant nur hier. Beide Formen der tierischen Behandlung der Bürger sind eindeutig identifizierbar als Handlungen, durch welche Menschen als bloße Mittel belastet und geschlachtet werden. Beide Formen sind legal, denn die Belastung durch Steuern geschieht nach bestimmten korrekt erlassenen Gesetzen, und das Ritual des Schlachtens der Bürger geschieht zwar nicht durch die Armeen des eigenen, sondern des provozierten fremden Staats, und vice versa. Das eine hängt am anderen, denn der Krieg der Fürstenstaaten wird nur durch das Steueraufkommen der Bürger ermöglicht.80 Kant schreibt: »Welcher Monarch (aus eigener Machtvollkommenheit) aussprechen darf: es soll Krieg seyn, und es ist alsdann Krieg, der ist ein unbeschränkter Monarch […] und das Volk ist nicht frey sondern unterjocht, denn welche Lasten kann der Grosbrittanische Monarch nun nicht den Schultern seiner Unterthanen selbstbeliebig auflegen? So große auf unabsehbare Zeit drückende, und selbst die Moralität des Volks direct untergrabende, daß an das Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren gar nicht zu denken ist und, obgleich der Flor und Anwachs der Künste den Verfall noch eine ziemliche Zeit hinhalten kann, gleichwohl der Einsturtz mit Gewisheit voraus zu sehen ist.« (XIX, 606.1–22)

Dazu Herding und Reichardt 1989, 8–11 mit Radierungen, auf denen der dritte Stand als ein Lasttier dargestellt wird, auf dem Adel und Klerus, die keine Steuern zahlen, das Geld verprassen; vgl. auch XIX, 610–612. 80 Die Zusammenstellung von Kriegsführung und Steuerlasten findet sich auch bei Forster 1966, 162: »Aus den Verfassungen der europäischen Reiche vom ersten Range, wie sie jetzt bestehen, wie sie strebend nach Vergrößerung und Erweiterung ihrer Macht auf schlaue Bündnisse und berechnete Kriege untereinander, auf stets wachsende Heere und Steuern in ihrem Innern ihre Dauer gründen […]«. 79

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Und: »[…] ausser der Republik ist kein Heil, sondern immerwährender Krieg, nicht in immerwährenden Gefechten, sondern immerwährenden Drohungen zu Bekämpfungen, wenn irgend einer in Zurüstungen und Besteurung des Bürgers zu Kriegsrüstungen nachließe« (XIX, 603.17–20). Und im Ewigen Frieden: »Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. […] wozu kommt, daß zum Tödten oder getödtet zu werden, ein Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt« (VIII, 345.1–11). Gegen die Naturteleologie in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) endet die Rechtslehre wie auch die Friedensschrift mit dem Imperativ an die Menschen. Nicht an den Frieden zu glauben, sondern auf ihn hinzuwirken, »das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt. – Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein« (VI, 354.18–21, auch VIII 386.27–33). Auf den Frieden hinzuwirken ist hiernach eine Rechtspflicht jedes Menschen. Nur die Republik kann die Massaker ohne Ende nach Prinzipien beenden. Es wird ersichtlich, dass sich die Schlachtrituale der Fürstenkriege dem dualen Schema von neminem laede und suum cuique tribue nicht fügen; dass die Staaten selbst als Rechtsbrecher fungieren, obwohl sie den status civilis besetzt halten. Die erste Rechtspflicht, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen (VI, 236.27 f.), versucht hier ebenso zu intervenieren wie der Imperativ, zum Frieden hinzuwirken. Es ist die monumentale Aufgabe, die jeder Mensch und die Menschheit im Ganzen zu bewältigen haben. Hier liegt, so wird man vermuten dürfen, der Grund, warum Kant die erste Rechtspflicht 1797 neu konzipierte und aus der Ethik in das Recht holte. Der Fortschritt zum Besseren bedeutet eine »Entwicklung der moralischen Anlage im menschlichen Geschlechte […], welche jenen [wohl: Fortschritt; R. B.] als Zweck an sich selbst (nicht in der Qualität eines bloßen Mittels zu anderen Zwecken) zum Grunde hat« (XIX, 612.8–11). Dies ist das Milieu, in das die erste Rechtspflicht derselben Zeit gehört. Ein Vorteil dieser Beziehung liegt darin, dass in den beiden Bereichen der Verwendung der Bürger als bloßer Mittel im Frieden und im Krieg ein genauer Nachweis, dass die Fürsten die Bürger missbrauchen, nicht geführt werden muss: Die Lage ist völlig evident und würde wohl von niemandem bestritten, sondern nur als politisch notwendig beschönigt werden. Wie schon in einigen Überlegungen der Antike, stoßen wir auf zwei Phasen der Vergesellschaftung. Die erste bringt zwar ein Volk zur Einheit, gerät jedoch in eine

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ausweglose Despotie; die zweite dagegen rettet den Staat aus seiner pathologischen Missbildung und führt die eigentliche rechtliche Republik ein.81 Verknüpfen wir die Texte, dann ruft die erste Rechtspflicht dazu auf, dem Missbrauch des Menschen als eines bloßen Mittels nicht stattzugeben. Der Text zeigt auch gut, wie schwierig es ist, präzise Angaben zur verbotenen Instrumentalisierung zu machen, wenn auch eine unmenschliche Belastung durch Steuern oder andere Leistungen zur Verwendung der Bürger als bloßer Mittel zählt, nicht nur das Dahinschlachten von Armeen durch die kriegführenden Monarchen. Warum sollten hier die Arbeitsbedingungen in der privat geführten Industrie ausgenommen sein? Die Rechtspflicht besagt, »seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten«. Wieder hilft ein Blick in den Streit der Fakultäten; dort wird vom »Enthusiasm der Rechtsbehauptung«82 (VII, 86.33) gesprochen. Um genau diese Behauptung des Werts als eines Menschen und des Rechts geht es in der ersten Rechtspflicht. Wir können ergänzen: ›Im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung‹, denn Kant ist der Meinung, dass erstens ein Widerstandsrecht in sich widersprüchlich ist und zweitens jeder status quo die beste Grundlage einer Verbesserung ist, während der Widerstand den status civilis in den status naturalis zurückwirft. Die geforderte Selbstbehauptung des Menschen als einer Rechtsperson muss Leerstellen im Gesetzestext suchen und nutzen; sie darf kein Gebot sein, sich dem Treiben der Despoten tätig zu widersetzen. Aber dies ist die Botschaft der ersten Rechtspflicht: Du bist als Bürger verpflichtet, dich dem Verschleiß als eines bloßen Mittels entgegenzustellen, soweit es die bürgerlichen Gesetze ermöglichen.

Vgl. z. B. Lukrez: De rerum natura V, 1136 ff. »Ergo regibus occisis subversa iacebat / pristina maiestas soliorum et sceptra superba«. 82 Eine nur hier von Kant gebrauchte Wendung. Kant ist einer Darstellung von Wieland aus dem Jahr 1790 im Neuen Teutschen Merkur verpflichtet: Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich. Gleich zu Beginn werden die Untertanen als Lasttiere aufgeführt, »daß der allzu straff gespannte Bogen plötzlich bricht« wird von Kant aufgenommen (Wieland: Unparteiische Betrachtungen, 485; vgl. Kant VIII, 367.6–7); »eine Revolution, […] von welcher die Weltgeschichte noch kein Beispiel hat« (Wieland: Unparteiische Betrachtungen, 486); »daß eine große Nation […], indem sie sich in die unverjährbaren Rechte des Menschen und des Bürgers wiedereinsetzt, sich eine Staatsverfassung gebe, die auf der festen Grundlage dieser Rechte ruht […], – dies hat die Welt noch nie gesehen; […]. Kein Wunder also, daß von dem ersten Augenblick einer so großen, nie erhörten, nie für möglich gehaltenen Revolution an, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit Europens auf dieses erstaunliche Schauspiel geheftet war, sondern daß unter so vielen Millionen auswärtiger Zuschauer, die kein unmittelbares Interesse dabei hatten, dennoch nur wenige waren, die in den ersten Tagen sich nicht durch einen beinahe unfreiwilligen Instinkt gedrungen gefühlt hätten, Anteil an der Sache zu nehmen, […].« (Wieland: Unparteiische Betrachtungen, 486; Kant u. a. VII, 85.11). Zum Echo dieser Beurteilung bei Hegel vgl. Ritter 1965, 23 ff. 81

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»Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll […] im Bewußtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Thier nach dem formalen Princip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses [sc. das Volk; R. B.] mit gesetzgebend ist: d. i. das Recht der Menschen, welche gehorchen sollen muß nothwendig vor aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorhergehen, und dieses ist ihm ein Heiligthum, das über allen Preis (der Nützlichkeit) erhaben ist, und welches keine Regierung, so wohlthätig sie auch immer sein mag, antasten darf« (VII, 87.25–32; auch Refl. 7779, XIX, 514.9–16). Dort der Preis der Nützlichkeit von Sachen, hier der Wert des Menschen als einer rechtlichen Person. Wenn unsere Vermutung korrekt ist, dann wendet sich die erste Rechtspflicht nicht ausschließlich oder primär gegen hin und wieder anzutreffende rechtswidrige Handlungen anderer Menschen, etwa im außerehelichen Geschlechtsverkehr: ›Prostituiere dich nicht!‹ Auch ›Mache dich nicht zum Leibeigenen‹ ist durch die Rechtspflicht abgedeckt, aber es ist kaum möglich, dass Kant diese speziellen Fälle jetzt, 1797, unvermittelt an die Spitze der Rechtslehre stellt und in den späteren Ausführungen hierauf nicht mehr in seiner Diktion anspielt. Desgleichen enthält die erste Rechtspflicht ein Verbot, sich einem Gott (einer Kirche) so zu unterwerfen, dass der Gläubige als bloßes Mittel benutzt wird und sich nicht als bürgerlicher Mitgesetzgeber behauptet. Mit dieser Implikation stellt sich die Rechtslehre gegen eine lange Tradition, in der Gott sich als omnipotenter Schöpfer, Gesetzgeber, Richter und Exekutor über alle Rechtsvorstellungen und Rechtspflichten der Menschen hinwegsetzen konnte. Kant, so unsere These, wendet sich gegen einen dem Despotismus inhärenten, legalen Missbrauch der Bürger als bloßer Sachen im Krieg und im Frieden. Kant spricht vom Einzelnen, zielt jedoch zugleich auf die Menschheit im Ganzen. Der Imperativ, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie zugleich selbst Zweck (an sich) zu sein, stellt, wie wir sahen, eine Inversion des ursprünglichen Imperativs dar, andere nicht bloß als Mittel zu gebrauchen, sondern sie immer als Zweck zu achten (IV, 429.10–12). Diese Verkehrung macht aus der ersten Rechtspflicht des Einzelnen ein weltgeschichtliches Projekt aller. Der Einzelne, der als Adressat erscheint, ist das Glied der Menschheit, die zu ihrer eigenen sittlichen Bestimmung, der rechtlichen Autonomie, gelangen soll: Kein Krieg, keine Leibeigenschaft! Dass wir hier mit unserer Interpretation nicht in ein extravagantes Abseits geraten, zeigt sich nicht nur an den zitierten Texten, sondern auch am Ende der Rechtslehre: Der Einzelne ist Adressat der weltgeschichtlichen Aufgabe, den Frieden zu verwirklichen. Dies Ende ist das Echo der ersten Rechtspflicht, die nicht nur persönlich-statisch ist, sondern eine gesamtgeschichtliche Dynamik gewinnt, von den Despotien zur Republik zu schreiten. Die alte Geschichte huldigt dem Menschenopfer wie Thoas in der goethischen Iphigenie (1787). Iphigenie bringt die Menschlichkeit nach Tauris, und analog soll

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die Republik bei Kant endlich die Unterdrückung und das widermenschliche Dahinschlachten von Menschen in den Kriegen der Adligen beenden. Das Recht wird durch keinen Rechtsbruch verwirklicht, sondern durch Reform, pari passu mit der Vorsehung oder Natur, die die Entwicklung der Menschheit in die gleiche Richtung leitet, aus der Unterdrückung zur Freiheit.

14. Gibt es ein Recht des zivilen Ungehorsams? 1804 wird Friedrich Schiller im Wilhelm Tell das Widerstandsrecht im Drama verteidigen: »Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last – er greift / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ewgen Rechte, / […] Der alte Urstand der Natur kehrt wieder.«83 Kant ist anderer Meinung. »Sei ein rechtlicher Mensch« konnte vermutlich in den sechziger Jahren noch nicht formuliert werden. Damals beklagte Kant die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Leibeigenschaft und Feudalherrschaft. Der Imperativ, sich nicht zum bloßen Mittel machen zu lassen, nimmt den Gedanken einer Selbstverschuldung aus der Aufklärungsschrift von 1784 auf und sucht die Rettung in der Selbsttätigkeit der unterworfenen Opfer. Wie immer es möglich sein soll – die Ermöglichung der Freiheit liegt in der substanziellen Freiheitshandlung der Rechtssubjekte. Aus ihr entspringt der freiheitliche Rechtsstaat, oder es gibt ihn nicht. Ein Aufstand gegen die legale Herrschaft ist durch die erste Rechtspflicht nicht legitimiert. Die Regenten bleiben Rechtssubjekte und werden keine outlaws oder bêtes, die man umbringen kann, wie Locke und die französischen Revolutionäre meinten. Es ist zu unterstellen, dass der Mensch oder Bürger, an den sich die erste Rechtspflicht wendet, seinen Status als den eines rechtlichen Menschen im Fall der Verletzung nicht einklagen kann. Er kann die Missachtung seines Werts oder seiner Würde nicht vor Gericht bringen: Jede Klage der steuerlich überlasteten, in den Krieg zur Schlachtung getriebenen Bürger würde abgewiesen, weil alles legal ist. Die Despotie ist ein geschlossenes Rechtssystem. Werfen wir einen kurzen Blick auf einen parallelen Fall, in dem Lohnabhängige im kantischen Staat sich zum Status eines Aktivbürgers »empor arbeiten« möchten (VI, 315.21). Kant legt der Gesetzgebung auf, eben dies zu ermöglichen und fordert, dass, »welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie84 stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustand zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen« (VI, 315.17–22). Damit greift er

Schiller: Wilhelm Tell II 2 (Vs. 1276–1282). Handelt es sich um die Aktiv- oder Passivbürger? Das Stimmrecht haben natürlich nur die ersteren, aber vor der Aufteilung der Bürgerschaft in diese zwei Teile wird vom Staatsbürger überhaupt gesagt, er verfüge über die gesetzliche Freiheit, »keinem anderen Gesetz zu 83 84

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durch das formale Recht in die sozialen Verhältnisse derart ein, dass jedem lohnabhängigen (männlichen, mündigen) Passivbürger eine Klagemöglichkeit gegen Gesetze gewährt werden muss, die verhindern, dass er Aktivbürger werden kann. Wie dies im Einzelnen möglich sein soll, ist eine andere Frage. Die erste Rechtspflicht besagt dagegen implizit, dass die Beraubung der Menschenwürde im Frieden und im Krieg durch den Staat legal ist und eine gerichtliche Klage nicht vorgesehen ist. Wenn wir auf der Suche nach der eigentlichen Referenz der ersten Rechtspflicht erfolgreich waren, dann macht Kant die Teilnahme an der Überführung von despotischen in republikanische Staaten zu einer Rechtspflicht ersten Ranges. Der Friedensimperativ an die Menschen tritt der Naturteleologie zur Seite. Die Natur führt durch das Interesse am Kommerz zu einem Interesse der republikanischen Legislative an der friedlichen Lösung von Konflikten zwischen Staaten. Könnte man mit einer zügigen Erfüllung dieses Naturziels rechnen, dürften in Kürze die Schlachten zwischen den Staaten und die tierische Belastung in den Staaten ihr Ende finden. Kant stellt flankierend die Rechtspflicht auf, sich nicht zum Mittel – sc. in den Feudalstaaten – zu machen, also auf die Einrichtung einer gewaltenteiligen, am Frieden natürlicherweise interessierten Republik hinzuwirken. Wie dies möglich sein soll, wird nicht gesagt. Zur pflichtgemäßen Erfüllung des »Sei ein rechtlicher Mensch« gibt es in der kantischen Theorie keine Alternative. Der Mensch kann nicht damit rechnen, dass im großen Zeitenumlauf Recht und Unrecht einander ablösen und wir in langen oder kurzen Phasen beides erleiden, denn beides ist uns zuschreibbar. Wir wissen, dass wir die Republik als den einzigen rechtlichen Zustand verwirklichen sollen; das ›Wie?‹ lässt sich sicher in negativer Hinsicht angeben: Nicht durch Rebellion. Kant hat nicht die Möglichkeit, von der John Locke Gebrauch machte: Wenn die Regierung ihre Rechtsgrundlage zerstört, kann sie durch Aufruhr beseitigt werden. Eine andere Meinung war ihm vertraut durch Rousseaus zweiten Diskurs; das Volk habe jederzeit »das Recht, der Abhängigkeit zu entsagen«.85 Also gäbe es ein Menschenrecht dieser »Entsagung« und damit des zivilen Ungehorsams? Es finden sich keine Indizien, dass sich die kantische Rechtslehre gegen diese Lösung stellen könnte. Sie muss sie befürworten, wenn sie konsequent sein will. Aber dies wird nicht für sich thematisiert. »Sei ein rechtlicher Mensch« und: Sei ein gehorsamer Untertan jedes Staats im status civilis – Kant schildert dramatisch die rechtliche Situation des Untertans in der Diktatur, die rechtlich ausweglos ist.86 Kants Freiheitsgesetzgebung stellt sich

gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat« (VI, 314.7 f.); die Aufteilung in Aktiv- und Passivbürger folgt erst VI, 314.17–315.22. S. auch VI, 345.32–346.2. 85 Rousseau 1959 ff., III 185. 86 Oberer 2004 votiert kühn, aber falsch für das Individuum, das gegen den Staat der ersten Rechtspflicht mit Zwangsrecht folgt.

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dar als Kompass jeder rechtlichen Lage; in Wirklichkeit sind wir jedoch im Konflikt von Despotie und Rechtlichkeit in einer Aporie – im Bild: Wir befinden uns auf dem Nord- oder Südpol, wo der Kompass versagt und der sittliche Mensch in ein nicht auflösbares Dilemma gerät.87 Was soll ich tun? Kant weiß es nicht, und er macht dieses Nichtwissen nicht zum Thema. Soll sich der Bürger in einem Staat, den er als rechtswidrig, also als Nicht-Staat beurteilt (»Gesetz und Gewalt ohne Freiheit [Despotism]«, VII, 330) zur Wehr setzen? Das wäre ein Aufruf zur Gewalt gegen die zeitgenössischen Monarchien, denen Kant die »Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst« (VII, 89.14–15) testiert. Der Ausweg ist die Vorsehung: Sie wird am Ende zur Realisierung des Rechts führen. Die Menschen der Zwischenzeit sind für sie im Grenzfall pures Mittel und Werkzeug (s. VIII, 20.12–24; VII, 92 f.), zur Sklaverei verdammt und zur Freiheit verpflichtet.88

15. Die Pflicht, die sich aus einem Recht erklären lassen soll Der kategorische Imperativ verweist in seiner Zweistufigkeit von bloß subjektiver Maxime und allgemeinem Gesetz auf die Zweistufigkeit des Naturrechts zurück. Dadurch entsteht zwischen Ethik und Recht eine Homologie, wie wir sie aus Platons Politeia kennen, die die Polis zum Abbild der einzelnen menschlichen Psyche macht. Wir sind immer zugleich Mensch und Bürger; diese Einheit in der Differenz sucht Kant theoretisch zu gestalten. Die Rechtspflicht »Sei ein rechtlicher Mensch« werde, so heißt es, aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden. Eine wohlüberlegte Formulierung, wie eine parallele Reflexion dokumentiert: »Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen acquirirt ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten.« (XIX, 538.20–23; R 7862) Zuerst ist zu erkunden, wo sich die angekündigte Erklärung findet: »wird im folgenden […] erklärt werden« – aber wo? Der einzige seriöse Kandidat ist wohl das angeborene Recht: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.« (VI, 237.29–32) Hier wird allerdings nicht die angekündigte Erklärung geliefert, sondern nur die Freiheit auf ihren ursprünglichen Rechtsgrund bezogen. In der gesamten Rechts-

87 88

Vgl. dazu Brandt 2010, 118 ff. Zur Problematik auch Klemme 2011, 48–53.

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lehre findet sich jedoch nicht eine andere Passage, in der wir die Erklärung finden könnten. Im übrigen wird in den Vorarbeiten zur Rechtslehre89 formuliert: »Die äußere Freyheit ist die Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d. i. nicht blos als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu dürfen (genöthigt werden zu können).« (XXIII, 341.18–22) Diese für die erste Rechtspflicht entscheidende Mittel-Zweck-Beziehung fehlt nun gerade in VI, 237.29–32, und die Vorarbeit bringt die Unabhängigkeit nicht als eine kategorische Abwehrpflicht des Menschen: ›Sei frei unter Rechtsbedingungen!‹ Bei der Lektüre des Satzes »Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti)« (VI, 236.28–30) wird man fragen: Wie soll diese Erklärung denn aussehen? Wie kann man aus einem Recht eine Pflicht herleiten? Sicher ist dies nicht möglich bei Abwehrrechten des äußeren Mein und Dein, die ich gegen ebenbürtige Prätendenten verteidigen oder auch aufgeben oder an andere übertragen kann. Das hier gemeinte Recht ist dagegen ein singuläres Vorrecht, ein Geburtsprivileg, das mich als solches verpflichtet. Adel ist angeboren, und er verpflichtet. Die Abfolge, in der wir von der Rechtspflicht zum Recht der Menschheit vordringen, lässt sich mit einer Reflexionsfigur der KpV deuten, gemäß der die Rechtspflicht als kategorischer Imperativ die ratio cognoscendi ist, die mich auf ihre ratio essendi verweist. Diese ratio essendi, der Seinsgrund also, erscheint in der Rechtslehre als Recht der Menschheit in unserer eigenen Person (VI, 236.29 f.). Ich soll kategorisch das mir erteilte Privileg gegen eine Beraubung durch andere verteidigen, es gegen sie ›behaupten‹. Aber woher kommt seinerseits das Recht der Menschheit in unserer Person, das als ratio essendi meiner ersten Rechtspflicht fungiert? Es gibt zwei Richtungen unserer Frage, eine historische und eine systematische. Historisch werden wir zur stoischen Philosophie geführt. »Iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur« formuliert das Corpus iuris civilis das stoische Fundamentalrecht.90 Wir haben als Menschen einen angeborenen Wert, der die Pflicht bei sich führt, ihn zu erhalten. In dieser Pflicht ist die gesamte Rechtslehre enthalten. In einer früheren Reflexion steht: »Die Verbindende kraft alles Rechts liegt nicht so wohl in dem, was einer Persohn eigen ist, als vielmehr in dem Rechte der Menschheit. Daher haben alle Menschen die Verbindlichkeit, das Recht eines jeden eintzelnen zu unterstützen. Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er

Der Herausgeber Lehmann vermutet, dass es sich um »Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht« (XXIII, 337) handelt, aber diese nähere Bestimmung ergibt sich nicht zwingend. 90 Krüger/Mommsen 1882, 3. 89

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ist in die Menschheit aufgenommen acquirirt ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten.« (XIX, 538.17–22)91 Die Rechtslehre handelt von dem äußeren Verhältnis von Personen untereinander, wobei jede Person jedoch sich als solche selbst konstituieren soll und als derart gegen sich selbst verpflichtetes Wesen auf die Rechtsbühne tritt. Es gibt also keinen gnädigen Gott, der die Menschen zu Personen schuf und ihnen damit eine privilegierte Rolle in der Schöpfung zuwies; es gibt keinen Urvertrag wie bei Rousseau, durch den wir aus Tieren zu rechtlichen Menschen werden, auch keine déclaration des hommes, in der sich die Menschen aus dem Sumpf der bloß natürlichen Begegnungen zu Personen heraus deklarieren; Kant greift auf das stoische Naturrecht zurück, gemäß dem die Natur von einem göttlichen, wiewohl materiellen Geist durchwoben ist und einzig der Mensch als logos-Wesen an dieser Sonder-Natur schon bei seiner Geburt teilhat. Aber ist diese Position mit der kritischen Philosophie verträglich? Kant spricht von einer »Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person«. Es gibt also eine substantielle Begründung unserer Selbstbehauptung in einem vorgängigen Recht. Wie soll dies noch möglich sein? Kommt nicht der Pflicht der Primat gegenüber dem Recht zu, so dass dies letztere seine objektive praktische Realität von dem kategorischen Imperativ herleitet? Erinnern wir uns der vierteiligen KpV. In der dreiteiligen »Analytik« wird die Sittlichkeit auf der Grundlage des kategorischen Imperativs dargestellt, und dann folgt überraschend die Erklärung, dies könne alles eine Chimäre sein (V, 114.6–9). Erst die »Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« (V, 114.11 f.) mit den Postulaten von Gott und Unsterblichkeit weist die Wirklichkeit der Moral nach. Und schon in der Analytik der KpV ist der kategorische Imperativ der Quell der Begriffe des Guten und Bösen und der Triebfeder in der Form des Gefühls der Achtung, er trägt das gesamte Gebäude. Der Imperativ ermöglicht die Bedingungen seiner Befolgung, auch Gott und Unsterblichkeit. In der Rechtslehre lesen wir: »Die Frage war, warum soll ich mein Versprechen halten? Denn daß ich es soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen […]. Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahirenden) Vernunft, und die Lehre der Möglichkeit der Abstraction von jenen Bedingungen, ohne daß dadurch der Besitz derselben aufgehoben wird, ist selbst die Deduction des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag« (VI, 273.15–27). Deduziert wird die objektiv-praktische Realität des genannten Begriffs.

Die Reflexion gehört in den Bereich der societas inaequalis, aber sie formuliert ihre Zuständigkeit so, dass sie sich auf das Recht der Menschheit überhaupt bezieht. 91

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Könnte es sein, dass sich das Begründungsverhältnis innerhalb der ersten Rechtspflicht umkehrt und die Pflicht die ratio essendi des Rechts wird? Dann brauchen wir keine vorkritische Grundlegung des Rechts in einem Privileg der stoischen logos-Natur, sondern schieben alle Last der Begründung dem kategorischen Imperativ zu; er ist dann der Grund eines Rechts der Menschheit in unserer Person. Weil dieses Recht für die Rechtspflicht notwendig ist, können wir seine objektivpraktische Realität annehmen. Genau so argumentiert Kant in einer Vorarbeit zur Tugendlehre: »Die Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen) gründet sich aber auf die Persönlichkeit des Subjects und die freye Willkür der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit wornach in Handlungen die auf sie selbst gehen durch sich selbst genöthigt wird und moralisch gezwungen nach der Analogie mit dem Zwange eines Anderen und diese Verbindlichkeit gegen sich selbst kann also auch das Recht der Menschheit in unserer Person heißen welches aller anderen Verbindlichkeit vorgeht. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehört also noch nicht in die Tugendlehre weil sie an sich nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey: Es ist aber die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu den Sachen gezählt werden müßte. Wenn also die Befugnis über Gegenstände nach Willkühr zu verfügen das Recht überhaupt heißt so wird die über seine eigene Person durch das Recht der Menschheit in uns selbst eingeschränkt seyn welchem wir keinen Abbruch thun dürfen und dessen Hochachtung nicht zur Tugendlehre sondern zur Rechtslehre als bloße Einschränkende Bedingung gehört.« (XXIII, 390.22–391.5) Es gäbe also keine Pflichten, sondern wir müssten zu den Sachen gezählt werden, wenn es kein Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gäbe. Dieses vorgängige Recht der Menschheit leitet sich jedoch aus der Pflicht ab, die es ermöglicht. Wenn diese Selbstzeugung und Letztbegründung der Moral und damit des Rechts und der Ethik Kants Intention ist, wird gut verständlich, warum der VI, 236.29 f. angekündigte Gedanke nicht gebracht wird: Die erste Rechtspflicht lässt sich nicht aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklären, ohne zugleich zu sagen, dass dieses Recht nur aus der Rechtspflicht erklärbar ist. Kant hat darauf verzichtet, diesen Zirkel in den Grundlagen der Moralphilosophie als einen nicht vitiösen zu thematisieren. Das Versprechen, das nicht einlösbar ist, verdeckt die Unerklärbarkeit der originären Rechtspflicht. Die Adressaten sind Menschen als verantwortungsfähige Personen, also als Wesen, die nicht nur über eine pragmatisch verwendbare Freiheit verfügen, sondern über Würde, die es allen zur Auflage macht, sie als Zweck an sich zu respektieren. Die Teufel der Friedensschrift können ihre Konflikte optimal regeln, indem sie Gesetze erlassen, gemäß denen die Freiheit eines jeden mit der aller anderen übereinstimmt. In diese Verwaltungsformel der Freiheit passen jedoch zum Beispiel

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Strafgesetze, die die Strafe nach dem Grad der Abschreckung bemessen und so den Täter als bloßes Mittel benutzen. Kant braucht die Unterscheidung von bloß vernünftigen und Vernunftwesen; zu den ersteren gehören die mit technischer oder pragmatischer Vernunft (Verstand) ausgestatteten Teufel, zu den letzteren gehören Menschen als Personen. Die Grundlage dieser Auszeichnung ist das uns zustehende Recht der Menschheit. Aber dieses Recht ist kein vorkritisches Gottesgeschenk und keine Naturgabe, sondern eine praktisch notwendige Kreation der Rechtspflicht selbst. Die erste Rechtspflicht, die sich aus dem Recht der Menschheit in unserer Person erklären lassen soll, ist janusköpfig: Die Pflicht ist der subjektive Aspekt, in dem sich die Person selbst konstituiert; das fundierende Recht ist der objektive Aspekt, den die Person jedem anderen, der sie bloß als Mittel gebrauchen will (und sei es die Person selbst), als ihren Würdestatus entgegen hält. So gelangen wir zu einem Wechselspiel von innerem Gebot: ›Sei ein rechtlicher Mensch! Sei für andere nicht ein bloßes Mittel!‹ und außengerichtetem Verbot: ›Benutze keine Person als bloßes Mittel!‹ Die beiden Seiten der Rechtspflicht bedingen sich gegenseitig als Aspekte einer Sache, als causa sui der reinen praktischen Vernunft.

Epilog Die erste Rechtspflicht vereint die kantischen Rechtsvorstellungen in dem einen Imperativ: Der Mensch soll sich dem Recht unterwerfen und »rechtlicher Mensch« in der Selbstbehauptung als ein Zweck an sich sein. Erst dadurch konstituiert sich die Person als das Wesen, von dem die Rechtslehre handelt. Die praktische Philosophie kann die spekulative Spitze, die hiermit gefunden ist, schwerlich übertreffen. In dem Gebot, sich jeder Instrumentalisierung zu entziehen und die eigene Freiheit zu behaupten, vereinen sich die beiden Gesichtspunkte, die Kant nennt: Die rechtliche Abwehr der politischen und der sozialen Unterwerfung, gegen die Deformation des Menschen zum Schlacht- und zum Lasttier. Hiermit wird der Adressat des honeste vive geändert. Die Tugendpflicht wendet sich an den Einzelnen, die Rechtspflicht zugleich an eine Gesellschaft im Übergang zur Republik, so wie das parallele exeundum est e statu naturali – dazu ist kein Individuum in der Lage, sondern nur eine Menge von Menschen, die sich zur Rechtsgesellschaft konstituieren will. Der Einzelne soll dazu bei Kant wie bei Hobbes seine tätige Mithilfe leisten und kann notfalls dazu gezwungen werden. Die Rechtspflicht führt vom Singular zum Plural, ›Seid rechtliche Menschen‹, wie es nur in der Republik möglich ist. Beim Last- wie beim Schlachtvieh der Despoten beziehen sich die Steuern und die Kriege auf Kollektive von Untertanen, und nur im kollektiven ›Empört euch‹ ist die Überwindung des Zustands des Unrechts möglich. Wie das zu bewerkstelligen ist, sagt Kant nicht; die Vorsehung wird behilflich sein. Die erste Rechtspflicht wird notwendig an das Individuum gerichtet, weil dieses sich durch diese Pflicht zur Rechtsperson qualifiziert und jeder Pluralität vorangeht.

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Die frühen Notizen der Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen sind sozial orientiert, die späten Lehren der Rechtslehre ganz politisch. Kant nimmt an, dass die menschliche Geschichte als Geschichte der Unterwerfung endet, wenn nicht eine wirkliche Republik gegründet wird und der Aktiv-Bürger die Gesetze beschließt, denen er selbst unterworfen ist, also die politische Freiheit realisiert ist. Die erste Rechtspflicht greift tiefer; sie wendet sich gegen alle Formen der Unterwerfung und Unterdrückung. Sie ist wie die genannten Bemerkungen an die Opfer der politischen und sozialen Gewalt gerichtet; man mache die Gegenprobe und setze als Adressaten von 1765 die Aristokraten und Gutsbesitzer und 1797 die Monarchen ein – es ist abwegig von ihnen zu fordern, sich nicht von andern zu bloßen Mitteln machen zu lassen, sondern sich als Zweck zu behaupten. Die erste Rechtspflicht wendet sich an die ›leidenden Subjekte‹ der drohenden sozialen und militärischen Vernichtung. Trotzdem kann und muss sie allgemein formuliert werden, weil sie die Konstitution des Menschen als eines Rechtssubjekts betrifft.

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Alternative zu Kant? Freiheit nach Hegel in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts

Susanne Brauer

Im vorliegenden Artikel gehe ich auf G. W. F. Hegels Begriff der Freiheit ein, wie er ihn in seinen Grundlinien zur Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse1 von 1821 im Rahmen einer Willenstheorie entwickelt hat. Am Beispiel der Familie, die Hegel für eine sittliche Institution hält, möchte ich zeigen, inwiefern er Freiheit nicht losgelöst von gesellschaftlichen Kerninstitutionen denken kann, die zugleich einen Anspruch auf Vernünftigkeit erheben. Diesem Zusammenhang liegt die These zugrunde, dass Freiheit nicht ohne Relationalität, das heißt zwischenmenschliche Beziehungen bestimmter Art, für Hegel zu denken ist. In meiner Schlussbetrachtung werden sowohl Kritiken an Hegels Freiheitsbegriff als auch Unterschiede zu Kants Konzeption von Autonomie zur Sprache kommen.2

1. Der Begriff der Freiheit Hegel führt Freiheit in R § 4 als die »Substanz« und die »Bestimmung« des Willens ein und schränkt zugleich ein, was im Rahmen einer einführenden Bemerkung ausgesagt werden kann: »Daß der Wille frei und was Wille und Freiheit ist – die Deduktion hiervon kann […] allein im Zusammenhange des Ganzen stattfinden« (R § 4 A).3 Trotz dieser Einschränkung verweist Hegel hier auf zwei grundlegende Aspekte seiner Willens- und Freiheitstheorie. Zum einen nimmt er an, dass der Wille im Wesentlichen Freiheit ist (»Substanz«). Zum anderen verweist er auf den Gegenstand des Willens, der den Willen bestimmt (»Bestimmung«). Dieser den Willen bestimmende Gegenstand ist wiederum Freiheit. Beide Momente von »Substanz« und »Bestimmung« zusammengenommen führen Hegel zu einer Charakteri-

Im Folgenden wird die Abkürzung »R« verwendet. Für Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes wird im Folgenden die Abkürzung »EG« verwendet. Nach den »§«-Zeichen bedeutet »A«: Hegels Anmerkung zum Hauptparagraphen; »R«: Hegels Randnotiz; »Z«: Zusätze seiner Schüler. 2 Die folgenden Ausführungen basieren auf Brauer 2007. Der Artikel ist im Rahmen eines Fellowships am Lichtenberg-Kolleg der Universität Göttingen 2011 entstanden. 3 Zu Hegels Auffassung von philosophischer Beweisführung, die in der Durchführung das zu Beweisende als Resultat präsentieren muss, vgl. R § 2 und Ilting 1974, 169. 1

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sierung des »freie[n] Willen[s], der den freien Willen will« (R § 27). Nichts anderes zu wollen als sich selbst, »sich auf nichts als auf sich selbst« zu beziehen, heißt, dass »damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem hinwegfällt« (R § 23, vgl. auch EG § 469 Z). Sich lossagen von allem, was nicht zum eigenen Willen gehört, sondern ein Fremdes ist, bedeutet, die intellektuelle Fähigkeit zu besitzen, von allem Gegebenen, sei es innerliches Gefühl, Trieb oder äußerliche Natur, soziale Konventionen et cetera, abstrahieren und sich distanzieren zu können (R § 5). Sich im Denken Abstand zum faktisch Vorhandenen schaffen, ist der erste Schritt zur Selbstbestimmung und ermöglicht, in ein Selbstverhältnis zu treten. In Beziehung auf sich selbst erreicht man eine Form der Allgemeinheit, die auch die Kreativität des Handelns begründet, insofern die Handelnde in der Lage ist, jederzeit ihren Willen zu ändern.4 Die Fähigkeit der Distanzierung zum Gegebenen und das Eintreten in ein bestimmtes Selbstverhältnis spielen im Übergang von Natur zum Geist eine entscheidende Rolle. Die »Allgemeinheit«, die der Wille im Denken erzielt, weil er sich durch nichts als sich selbst bestimmen lässt, birgt zugleich die Gefahr, in eine »Furie des Zerstörens« zu entarten, welche vor keiner »bestehenden gesellschaftlichen Ordnung« Halt macht (R § 5 A). Auch ist die Freiheit, die damit erreicht wird, nur eine »Freiheit der Leere« (R § 5 R), die den Wollenden letztlich handlungsunfähig macht. Denn um handeln zu können, muss ein Mensch etwas wollen, das heißt, sein Wollen muss bestimmt sein (vgl. R § 6). Diese Bestimmung des Willens soll laut R § 4 wiederum das sein, was der Wille im Wesentlichen ist: Freiheit. Die Identität von Gegenstand und Grundlage des Willens drückt aus, dass Freiheit für Hegel SelbstBestimmung ist. Wenn aber das, was der Wille will, wiederum das sein soll, was der Wille ist, dann kommt dieser Prozess des Sich-durch-sich-selbst-Bestimmens nur dann zu einem inhaltlich konkreten und bestimmten Wollen, wenn das Wollen sich das Gegebene in einem Prozess zu eigen macht. Der Wille muss das, was ihm äußerlich gegeben ist, in ein Innerliches überführen, zu seinem Zweck machen. Entsprechend wird der Wille als die Zwecktätigkeit definiert, die die Differenz von Subjekt/Innerlichkeit und Objekt/Äußerlichkeit übergreifen kann (R § 28). Frei ist der Wille, weil er sich in einem Anderen auf sich selbst bezieht, im Fremden sein Eigenes findet, im Anderen sich seiner selbst bewusst wird (Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug). An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass Hegels Freiheitskonzeption, die er im Rahmen einer Willenstheorie entwickelt, grundlegend auf einer Relationalität aufbaut, einer Bezugnahme auf sich und auf andere, die eine Einheit bilden soll. Hegel macht die Aneignungsbewegung am Beispiel des

Vgl. auch Hegels These, theoretisches und praktisches Vermögen seien keine zwei getrennten Vermögen (EG § 481, R § 4 R). Entsprechend ist auch der Wille nicht etwas anderes als Geist, sondern »praktischer Geist« (R § 4 A). Der Wille ist eine Form von Zwecktätigkeit, die Intelligenz, Denken und Vorstellungsfähigkeit voraussetzt. Umgekehrt muss nach dem anti-modularen Ansatz Hegels auch das Selbstbewusstsein einen voluntativen Charakterzug haben. Zu Hegels holistischer »Philosophy of Mind« vgl. Halbig 2002, Kapitel 3. 4

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Eigentums deutlich. Eigentum ist die erste Form, in der der Wille »wirklicher [freier; S. B.] Wille« ist (R § 45). Denn das Material, das einem Menschen als Äußerliches gegenübersteht und ihm ein bloß Gegebenes zu sein scheint, eignet er sich als das an, was durch ihn als sein Eigentum bestimmt ist und ihm so die Möglichkeit eröffnet, im Anderen bei sich selbst zu sein. Ein ähnlicher Gedankengang kann auch in Bezug auf Normen erörtert werden. Normen besitzen erst dann legitime Autorität über einen Menschen, wenn er sie eingesehen und sie implizit oder explizit akzeptiert und sich »angeeignet« hat. Dieses Recht auf subjektive Einsicht (R § 107 Z) und damit das Recht, dass die individuelle Besonderheit in gesellschaftlichen Institutionen und vom Staat berücksichtigt wird (R §§ 154, 185, 206 A), nennt Hegel »subjektive Freiheit« (R §§ 132, 140).5 Subjektive Freiheit besteht jedoch nicht in reiner Willkürlichkeit (R § 15). Vielmehr ist ein Wille (bei Kant wie bei Hegel) erst dann frei, wenn er allein Gründen folgt. Man kann nichts wollen, ohne gleichzeitig davon überzeugt zu sein, dass es richtig ist, in dieser Weise zu handeln. Die Handelnde weiß, dass ihr Handeln auf der Basis von Gründen (und nicht auf der von Ursachen) steht. Sie ist rational motiviert und würde anders entscheiden, wenn sich ihre Gründe als nicht triftig herausstellen würden. Anderen gegenüber kann sie ihre Handlung vertreten und sie geht davon aus, dass die von ihr angeführten Gründe allgemein gelten und andere ihr Handeln als gerechtfertigt ansehen müssen. Erst wenn ein Mensch in der Lage ist, sein Handeln mit Gründen zu rechtfertigen, die von anderen als triftige Gründe anerkannt werden, kann von vernünftiger Selbstbestimmung gesprochen werden. Hier wird also die Art der Bezugnahme oder der Beziehung zu anderen bereits charakterisiert: Es ist eine Beziehung des sich mit Gründen Erklärens und Rechtfertigens. Praktische Richtigkeit muss jedoch nicht automatisch eine moralische Richtigkeit beinhalten. Ein durchgehender Skeptizismus gegenüber den Gründen, die in einer kulturellen gesellschaftlichen Praxis gelten, wäre jedoch aus Hegels Sicht unangemessen. Menschen dürfen darauf vertrauen, dass, wenn die Gründe, mit denen sie ihr Handeln rechtfertigen, von anderen vernünftigen Wesen anerkannt werden und sich diese Anerkennung in der Praxis als stabil (und damit kohärent) erweist, diese Gründe gute und allgemein gültige Gründe sind. Ich werde diesen Punkt später noch einmal aufgreifen. Der Rationalitätsanspruch des Willens zeigt sich im Gang der Grundlinien unter anderem darin, dass der Wille vom »natürlichen« (R § 11) zum »reflektierenden Willen« (R § 21) fortschreitet. Dieser Übergang wird durch einen RationaDie Rücksichtnahme auf die Befriedigung subjektiver Besonderheit ist nach Ritter der kritische Wendepunkt von der vormodernen zur modernen Gesellschaft (Ritter 1975, 222). Hegel führt diesen Wendepunkt in der Vorrede mit einem ironischen Unterton ein: »Es ist der große Eigensinn […], der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Eigensinn ist das Charakteristische unserer Zeit« (R, 27). Vgl. auch R §§ 107, 132, 140. 5

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lisierungsprozess von Trieben, Neigungen und Impulsen geleistet (»Reinigung der Triebe« [R § 19] und »Reflexion« [R § 20]). In diesem Prozess lernt der Mensch den Drang, Triebe sofort zu befriedigen, zurückzuhalten und sich zu kultivieren, um langfristige Ziele verfolgen und »Glückseligkeit« (R § 20) erreichen zu können. Triebe und Neigungen, kurz: der »natürliche Wille«, sollen nicht unterdrückt, sondern (durch Erziehung) kultiviert und gebildet werden. In der »bürgerlichen Gesellschaft« beispielsweise ist der »natürliche Wille« als Moment der »Besonderheit« und der »Willkür« weiterhin vorhanden, jedoch in der Form der Allgemeinheit vermittelt (R § 182). Entgegen der These, Hegel postuliere wie Kant eine Opposition von Vernunft und Trieb,6 stellt Hegel Triebe, Empfindung, Reflexion und Denken in ein Kontinuum (EL § 20 A), das es ermöglicht, Triebe, die ihrem Inhalt nach zwar vernünftig, ihrer Form (der Unmittelbarkeit) nach aber unvernünftig sind (R § 11), in eine rationale Form zu überführen und zum »vernünftige[n] System der Willensbestimmungen« (R § 19) zu machen. Der freie Wille ist nach Hegel an eine Zielvorgabe gebunden: seine Freiheit zu wollen. Ein Ziel zu wollen bedeutet für rational Handelnde ebenfalls die Bedingungen für die Verwirklichung dieses Ziels zu wollen.7 Die Bedingungen für Freiheit sieht Hegel in sozialen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Einrichtungen, die er unter drei Institutionen zusammenfasst: die Familie, die »bürgerliche Gesellschaft« und der Staat.8 Diese These möchte ich anhand der Familie im Folgenden weiter erläutern. Die Familie ist aus meiner Sicht besonders interessant, weil sie die Institution ist, in der am offensichtlichsten Bestimmungen der Natur und Forderungen der Sittlichkeit aufeinandertreffen. In der Transformation der Natur zum Geist liegt genau die Aufgabe der Familie – und dies macht auch ihre Brüchigkeit und zeitlich begrenzte Lebensdauer aus.

2. Die Familie zwischen den Koordinaten von Freiheit, Vernünftigkeit und Anerkennung Für Hegel zählt also die Familie neben Staat, Ständen und Korporationen zu den »sittlichen Institutionen« einer sozio-politischen Ordnung. Das bringt einige Beweislast für die Familie mit sich: Da Hegel den Sittlichkeitscharakter einer Institution an ihrer Vernünftigkeit festmacht, die sich darin zeigt, dass die Institution Freiheit

Vgl. Patten 1999, 52 ff. Vgl. Neuhouser 2000, 78 und Wildt 1982, Anm. 125. 8 Zu Hegels Auswahl der Institutionen vgl. Honneth: »Die modernen Lebensverhältnisse werden am Leitfaden der bislang entwickelten Maßstäbe auf eine Weise normativ rekonstruiert, daß an ihnen diejenigen Interaktionsmuster zutage treten, die als unverzichtbare Bedingungen der Verwirklichung individueller Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder gelten können. Insofern ist auch klar, daß bei Hegel nur ein Teil dessen, was zur sozialen Realität moderner Gesellschaften gehört, unter den normativen Titel ›Sittlichkeit‹ fällt« (Honneth 2001, 91 f.). 6 7

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verwirklicht, muss überprüft werden, inwiefern dies auch auf die Familie zutrifft (R §§ 262, 263). Zu diesem Zweck wird zunächst allgemein erläutert, wie der geforderte Zusammenhang von Freiheit, Vernünftigkeit und Institution auszusehen hat. Zwei Thesen können mit Blick auf die Freiheit in der Familie formuliert werden: Erstens kann die Familie als empirisches Mittel zur Erlangung von Freiheit angesehen werden. Zweitens kann sie als konstitutive Bedingung für Freiheit betrachtet werden. Das heißt, in der Familie zu leben bedeutet für den Menschen im Sinne einer vernünftigen Selbstbestimmung frei zu sein. Ein solcher Zusammenhang müsste jedoch gegen den Einwand verteidigt werden, dass Hegels institutionelle Konzeption der Freiheit individuelle Freiheit gefährdet, statt beweist. Hierbei wird der Begriff der Anerkennung zentral. Er stellt gleichsam die konzeptionelle »Scharnierstelle« zwischen Freiheit und institutioneller Vernünftigkeit dar.9 Die Form der Anerkennung, die Hegel für die Familie konzipiert, ist die Liebe. Die Nachweise, dass Liebe eine angemessene Form der Anerkennung ist und dass der Mensch auch in der Familiengemeinschaft seine Eigenständigkeit und Berechtigung behält, werde ich jedoch hier nicht mehr führen können. Ich komme nun zur Ausführung der ersten These.

3. Die Familie als Mittel der Freiheit Sittliche Institutionen repräsentieren für Hegel die formalen Bedingungen für individuelle Freiheit10 in der folgenden Weise. Es ist eine empirische Tatsache, dass ein Mensch andere Menschen braucht, um ein freies und rationales Handlungssubjekt zu werden. Menschen sind keine Lebewesen, die als autonome Personen, welche im vollen Besitz ihrer intellektuellen und voluntativen Fähigkeiten sind, geboren werden, sondern sie wachsen zu solchen Personen durch aufwendige Pflege, Fürsorge und Förderung seitens anderer Menschen innerhalb bestimmter sozialer Institutionen (Elternhaus, Schule) und Praktiken (Fürsorge, Erziehung, Bildung) heran. Die Familie kann diesbezüglich als ein Mittel zur Freiheit aufgefasst werden. Exemplarisch zeigt sich dies in der Erziehung der Söhne (und im eingeschränkten Maße auch der Töchter) zu rechtlichen Personen, moralischen Subjekten und guten Staatsbürgern. Auch »versorgt« die Familie den Staat mit neuen Mitgliedern und gewährleistet dessen Bestand.11

Zur These, die Grundlinien als eine Theorie der Anerkennung zu lesen, vgl. Honneth 2001; Pippin 2000a, 168; Siep 1979, 287; Williams 1997. 10 Patten, Neuhouser und andere rücken den Menschen und damit die individuelle Freiheit ins Zentrum ihrer Interpretation der Grundlinien. Dagegen berücksichtigt Siep auch eine holistische Perspektive in Hegels Rechtsphilosophie, die die Handlungsfähigkeit, Selbsterkenntnis und Freiheit eines Gemeinwesens in den Blick nimmt (Siep 2003, 150). 11 Wenn man der These von Patten und Neuhouser folgt, dass die sozio-politische Ordnung (als »Staat« im weiten Sinne), ein sich selbst reproduzierender Organismus ist und damit die Bedingung, nur durch sich selbst bestimmt zu sein, besser erfüllt als der einzelne 9

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Diese empirischen Beobachtungen reichen aber noch nicht aus, um die sittliche Notwendigkeit der Institutionen für erwachsene Personen zu begründen. Ohne Zweifel werden in der Familie psychologische, körperliche und soziale Voraussetzungen für die Ausbildung individueller Freiheit geschaffen.12 Wenn die Familie aber nur eine empirische Bedingung für die Entstehung von Freiheit ist, könnte der Mensch auf ein Leben in der Familie verzichten, sobald er ein rationales, autonomes Subjekt geworden ist. Tatsächlich verlassen die erwachsen gewordenen Kinder ihre Herkunftsfamilie (R § 177). Hegel konstatiert jedoch eine »sittliche Pflicht« zur Heirat und damit zur Gründung einer neuen Familie (R § 162 A). Wie kann diese Pflicht begründet werden, wenn die Familie für den Menschen nur eine Anfangsbedingung für dessen Freiheit ist und bei der Erreichung dieses Ziels für den Menschen überflüssig wird? Diese Frage leitet die Überprüfung der zweiten These ein, nämlich die Familie als konstitutive Bedingung von Freiheit zu betrachten.

4. Die Familie als konstitutive Bedingung von Freiheit Gegen die Auffassung, gesellschaftliche Institutionen als bloße Mittel für individuelle Freiheit zu verstehen, welche dann anderenorts ausgelebt werden würde, stellt Hegel die These auf, Familie, Einrichtungen der »bürgerlichen Gesellschaft« und Staat seien das »Reich der verwirklichten Freiheit« (R § 4). Als sittliche, das heißt vernünftige gesellschaftliche Institutionen sind sie der Ort, an dem individuelle Freiheit sowohl entsteht als auch verwirklicht wird.13 Damit sind sie Be-

Mensch, leistet die Familie durch den Nachwuchs einen indirekten Beitrag zur Freiheit des Staates (Neuhouser 2000 und Patten 1999, Kapitel 6). Die Freiheit des »Staates« im weiten Sinne, der die Institutionen der Familie und der »bürgerlichen Gesellschaft« umfasst (R § 262), ist an die subjektive Freiheit der Menschen nach Patten in folgender Weise gekoppelt: Die Institutionen stellen eine minimale, sich selbst erhaltende, soziale Struktur dar, die den Erwerb von Fähigkeiten und Selbstbeziehungen ermöglichen, welche der Mensch für die Ausübung seiner subjektiven Freiheit benötigt (Patten 1999, 40 f.). Weil die sozio-politische Ordnung, welche die subjektive Freiheit fördert, stabil funktioniert und sich selbst reproduziert, ist sie nach Patten vernünftig (Patten 1999, 183). Den Mangel an Selbstständigkeit der Familie sowie der »bürgerlichen Gesellschaft« sieht Patten darin, dass sie die Bedingungen ihrer Existenz nicht selbst produzieren können (ebd., 180). Daher sind sie nur als Teil der sozio-politischen Ordnung vernünftig. Gegen dieses Argument, die Institutionen seien deshalb vernünftig, weil sie stabil sind, hatte sich bereits früher Pinkard gewandt (Pinkard 1994, 329). Hegels Berücksichtigung der institutionellen Praxis (und damit ihrer praktischen Konsistenz) ist darin begründet, dass sich die logischen Implikationen eines kommunalen Selbstverständnisses erst in der Rekonstruktion existierender Institutionen erweist (ebd.) 12 Vgl. Neuhouser 2000, 46. 13 Auf diesen Umstand macht Blasche aufmerksam: »Vom Begriff des freien Willens her wird die Sittlichkeit als geschichtlich gewordene und entwickelte gegenwärtige lebendige In-

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standteil und Vollzug des guten und gelingenden Lebens und in ihnen zu leben, bedeutet für den Menschen, sich auf vernünftige Weise selbst zu bestimmen. Mit Hegel gesprochen sind Institutionen »das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit« (E § 486), das »Dasein des freien Willens« (R § 29) oder »objektive Freiheit« (R § 258 A, E § 538).14 Wenn die Familie berechtigterweise zu diesem »Reich der verwirklichten Freiheit« (R § 4) gehören soll, muss ihre Existenz eine andauernde, konstitutive Bedingung für Freiheit sein und nicht nur ein Mittel zur Erreichung derselben. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich ein Selbstverständnis von sich als einem freien Wesen nur in einem sozialen Kontext aufbaut. Denn der Mensch bedarf, um ein inhaltlich konkretes Selbstverständnis zu erlangen und sich affirmativ zu etwas bestimmen zu können – kurz: um einen Lebensplan zu entwerfen – gewisser Orientierungsraster, Zielangebote und »Bedeutungshorizonte«.15 Um ein stabiles und inhaltlich konkretes Selbstverständnis auszubilden und die oben genannten Fähigkeiten zu entwickeln, muss der Mensch also in bestimmten Interaktionen mit anderen stehen.16 »[T]he crucial feature of human life is«, so Charles Taylor, »its fundamentally dialogical character«17: »there is no such thing as inward generation [of identity; S. B.], monologically understood […]. Discovering my identity doesn’t mean that I work it out in isolation but that I negotiate it through dialogue, partly overt, partly internalized with others.«18 Anerkennungsbeziehungen tragen demnach zur Stabilität eines Selbstbezuges bei (der Mensch erfasst sich im anderen als Selbst) und geben dem eigenen Selbstverständnis die erforderliche Bestätigung in der Welt. Diese Formen der Anerkennung müssen institutionalisiert werden, um für alle Menschen verlässlich zugängig zu sein. Indem Institutionen einen Raum für stabile Anerkennungsbeziehungen schaffen, stellen sie eine konstitutive Bedingung für die Freiheit des Menschen dar. Eine teraktion definiert, die – von aller durch die Bedürfnisse definierten Zweckstruktur ›frei‹ – in ihrem Vollzug zugleich ihren letzten Zweck erfüllt« (Blasche 1975, 317). 14 Nach Patten genießt ein rational Handelnder »objektive Freiheit«, wenn er sich durch nichts außer guten Gründen bestimmen lässt (Patten 1999, 35). Patten rückt damit den Ausdruck »objektive Freiheit« in die Nähe des kantischen Begriffes von Autonomie als vernünftige Selbstgesetzgebung. 15 Diese Position wird nachdrücklich von Taylor vertreten: »So the culture which lives in our society shapes our private experience and constitutes our public experience, which in turn interacts profoundly with the private. So that it is no extravagant proposition to say [as Hegel does; S. B.] that we are what we are in virtue of participating in the larger life of our society – or at least being immersed in it, if our relation to it is unconscious and passive, as is often the case« (Taylor 1999, 88). 16 Vgl. Patten 1999, 195. 17 Taylor 1994, 32. 18 Taylor 2000, 47.

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Gesellschaft, die über solche Institutionen verfügt, ist sittlich zu nennen, da sie die notwendigen sozialen Voraussetzungen (Anerkennungsbeziehungen) für individuelle Freiheit zuverlässig (da institutionalisiert) bereitstellt.19 Die spezifische Gestaltung von Anerkennungsbeziehungen kann von Institution zu Institution variieren. Die Anerkennungsfunktion der Familie besteht nach Axel Honneth darin, die natürliche Bedürftigkeit des Menschen und seine Individualität anzuerkennen.20 Dadurch kann das Familienmitglied die nötige Selbstachtung und ein Selbstwertgefühl gewinnen, welche es zur Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, braucht. Denn es kann nur dann Ziele verfolgen, einen Lebensplan entwerfen und umsetzen, kurz: ein glückliches Leben führen, wenn es Vertrauen darin besitzt, dass seine Pläne und die von ihm gesteckten Ziele es wert sind, realisiert zu werden. Auf diese Weise leisten familiale Anerkennungsverhältnisse einen unverzichtbaren Beitrag für die Voraussetzungen (Selbstachtung, Selbstwertgefühl), die für eine Verwirklichung der individuellen Freiheit notwendig sind. Da es, wie oben ausgeführt, zum hegelschen Begriff der Freiheit gehört, auch die Bedingungen der Freiheit zu wollen, will der Mensch vernünftigerweise Mitglied in diesen Institutionen sein. Die Mitgliedschaft ist also vom philosophischen Standpunkt aus nicht das bloße Resultat eines (unfreiwilligen) Sozialisationsprozesses, sondern aus Freiheitsüberlegungen konzeptionell notwendig. Mit Blick auf eine Begründung der sittlichen Notwendigkeit der Familie stellt sich jedoch das Problem, dass es durchaus denkbar wäre, Selbstachtung und Selbstwertgefühl auch in anderen, nicht-familialen Formen von Gemeinschaft auszubilden. Diesem Einwand könnte man mit dem Hinweis begegnen, dass Kinder in den meisten Fällen de facto in Familien aufwachsen und die Familie aus diesem empirischen Grund notwendig ist. Gegen diese Argumentation spricht jedoch, dass Hegel es für Erwachsene zur sittlichen Pflicht erklärt, eine Familie zu gründen – und zwar nicht aus Gründen der menschlichen »Reproduktion«. Die Fortpflanzung stellt weder einen Hauptzweck der Familie dar (R § 164), noch braucht es Kinder, damit eine Familie existiert: »Frau und Mann machen eine vollkommen selbständige Familie« (R § 172 R). Die Frage ist also noch nicht restlos beantwortet, warum Hegel die Teilnahme am Familienleben zur notwendigen (wenn auch nicht hinreichenden) Bedingung des guten Lebens, in welchem der Mensch seine Freiheit verwirklicht, zählt. Anders ausgedrückt: Was findet der Mensch in der Familie, was sie für ihn, der bereits im Vollbesitz seiner intellektuellen und voluntativen Fähigkeiten ist, unerlässlich zum Ausleben seiner Freiheit macht? Die hegelsche Antwort auf diese Frage würde lauten: Die Mitgliedschaft in einer Familie bedeutet, sich auf vernünftige Weise selbst zu bestimmen. Damit würde aber nur die Beweislast verschoben: Auch haben moralische Entscheidungen autonomer Menschen nur Bestand, wenn sie innerhalb gesellschaftlicher Praktiken Akzeptanz erfahren (vgl. Quante 1997, 70). Denn es ist einem Menschen nur dann faktisch möglich, seine Freiheit zu genießen, wenn andere seine Ansprüche anerkennen und sich entsprechend rücksichtsvoll verhalten. 20 Vgl. Honneth 1998 und 2001. 19

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Denn in welchem Sinne handelt es sich bei der Ehe beziehungsweise Familie um eine vernünftige Selbstbestimmung – und nicht um die Wahl einer kontingenten Lebensform?21

5. Vernünftigkeit als Konvergenz zwischen Allgemein- und Einzelwillen in Anerkennungsbeziehungen Die Vernünftigkeit der Selbstbestimmung eines Menschen zeigt sich für Hegel darin, dass der Mensch sich nicht durch etwas Unmittelbares (natürliche Impulse, Triebe, natürliche Eigenschaften et cetera), sondern durch Gründe bestimmen lässt.22 Der Mensch demonstriert damit die Fähigkeit, eine allgemeine Perspektive und einen rationalen Standpunkt einnehmen zu können, von dem aus er seine Handlung rechtfertigen kann. Seine Handlungsgründe besitzen Allgemeingültigkeit, insofern andere rationale Wesen in seiner Situation ebenfalls so gehandelt hätten. Wegen dieser Gründe wird der Mensch von anderen als ein sich rational selbstbestimmendes Handlungssubjekt anerkannt.23 Sie akzeptieren das Subjekt als Mitglied einer Institution, deren Praxis es folgt und sich so im Sinne der Allgemeinheit engagiert. Gegen die These, dass Gründe durch intersubjektive Anerkennung Allgemeingültigkeit erhalten können, lässt sich einwenden, dass das, was intersubjektiv aner-

Neuhouser hält die Familie für vernünftig, weil sie Freiheit realisiert und Bestandteil des guten und gelingenden Lebens ist (vgl. Neuhouser 2000, 169, 268). Er zählt auf, wie die Familie zur Verwirklichung von Freiheit des Menschen beiträgt: »[The family] provides its members with particular identities that enable them to freely subordinate their private wills to the requirements of the collective good; it furnishes the social order with the human individuals it needs in order to be a self-sustaining whole; and it subjectively forms children into persons, moral subjects, and citizens […] in institutionalizing monogamous sexual love it enables its adult members to express […] drives in a way that is consistent with actualization of freedom« (Neuhouser 2000, 169). Abgesehen von seiner Bemerkung zur Kompatibilität von Monogamie und Freiheit, steht die Familie bei Neuhouser aber nicht als Vollzug von Freiheit im Vordergrund, sondern in ihrer Funktion, Mittel zur Erlangung von Freiheit bereitzustellen. Damit hat er den konstitutiven Zusammenhang von Familie und Freiheit, auf den Honneth hinweist, noch nicht erfasst. 22 Die These, dass Selbstbestimmung auf vernünftige, durch Gründe geleitete Weise geschieht, kann mit einem Argument von Wildt gestützt werden: Jedes Wollen stellt implizit einen Anspruch auf Rationalität. Daher obliegt es dem wollenden Menschen, sich die rationalen Implikationen seines Wollens anzueignen (Wildt 1982, 393). Der Mensch will, dass seine Handlungsgründe Allgemeingültigkeit besitzen. 23 Wie Honneth bemerkt, ist Anerkennung das Muster der Vergesellschaftung, auf das alle Sphären der sozio-politischen Ordnung aufbauen (Honneth 1998, 174). Die in dieser Arbeit vertretene These, dass über Anerkennungsbeziehungen die Vernünftigkeit der individuellen Freiheit sichergestellt wird, ist bei Honneth aber nicht zu finden. 21

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kannt wird, noch nicht in einem »objektiven« Sinne vernünftig sein muss. Eine Gemeinschaft kann sich irren, und eine Einzelne kann auch gegen die vorherrschende Meinung Recht haben. Diesen Beobachtungen hätte Hegel zustimmen können. Gleichwohl kann aus seiner Sicht kein Standpunkt der Vernünftigkeit eingenommen werden, der die historischen Bedingungen eines gesellschaftlichen Norm- und Wertsystems überschreitet. Die Vernünftigkeit von Gesellschaftsformen – und damit die Vernünftigkeit der in ihnen geltenden Handlungsgründe und Verhaltensnormen – erweist sich erst retrospektiv in der philosophischen Rekonstruktion vergangener Gesellschaftsformen als vernünftig. Unterdessen kann der Mensch aber darauf vertrauen, dass die Gründe, die in einer Gesellschaftsform Anerkennung finden, auch wirklich anerkennungswürdig sind – solange keine praktischen Inkonsistenzen und Widersprüche Zweifel an den bestehenden Normen und Wertorientierungen entstehen lassen. Die Identität zwischen der Allgemeingültigkeit von Gründen (Seite des allgemeinen Willens) und den Gründen, die der Mensch für sein Handeln hat (Seite des einzelnen Willens), kann auch als eine Forderung an die Institution formuliert werden. Die Übereinstimmung von »Allgemeinwille« und »Einzelwille«24 muss erbracht werden, ohne den Anspruch, dass der Mensch die Institution als seine Selbstbestimmung erfahren kann, zu verletzen.25 »Die allgemeine Sache« muss »seine [des Menschen; S. B.] eigene besondere Sache« werden (R § 261 A; vgl. auch EG § 537). Es gehört zur moralischen Freiheit des Menschen, dass ihm seine Interessen und sein Wohl im Handeln sowohl Zweck als auch Pflicht sind (EG § 509). So kann er eine Handlung nur als die seinige anerkennen, wenn er die Bestimmungen seines Handelns selbst gesetzt und gewollt hat (EG § 503), und wenn er weiß, dass die Handlung von ihm bestimmt wurde. Dass die Berücksichtigung der partikularen Interessen und Bedürfnisse in Institutionen notwendig ist, wird vor allem in der Familie deutlich. Hier sind die Momente der »Allgemeinheit« und »Besonderheit« noch ungetrennt (R § 181), weil das allgemeine Interesse der Familie darin besteht, einen Raum zu schaffen, in dem der Besonderheit ihrer Mitglieder (ihren körperlichen, emotionalen und intellektuellen Bedürftigkeiten und Eigenschaften) Rechnung getragen werden kann. Die »Ehe [ist] dann Grund und Boden, von welchem aus – indem das Privatsein sein Recht erlangt hat, Interesse für die individuelle Persönlichkeit – Tätigkeit ausgeübt wird« (R § 162 R). Die Identität von »allgemeiner« und »besonderer« Sache ist gewährleistet, wenn der Mensch die »Gewißheit« hat, dass seine besonderen Interessen und Bedürfnisse in den Institutionen berücksichtigt werden. Diese »Gewißheit« wird zur »Wahrheit«

»Die Einigkeit (Wille als in sich allgemein) – daß Ich – denkend – d. i. als Allgemeines – das Allgemeine will – und dieses Wollen des Allgemeinen bin – Im Empirischen – Ehe, Staat – sind die einzigen großen sittlichen Ganzen« (R § 142 R). 25 Es besteht die Aufgabe, in der Institution die besonderen Interessen und Zwecke der Menschen mit dem »Zweck des Guten«, also dem allgemein Vernünftigen und Erstrebenswerten, in Übereinstimmung zu bringen (EG § 509). 24

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erhoben (R § 153), indem der Mensch von anderen Anerkennung als Mitglied einer Institution erfährt. Das Recht des Menschen, sich in den Institutionen befriedigt zu finden, wird selbst zu einem Ausweis institutioneller Vernünftigkeit. Eine Berücksichtigung dieses Rechts besteht darin, dass die Institutionen durch die »eigene Wahl« des Menschen »vermittelt« sind (R § 262). Dadurch kann sich der Mensch in affirmativer Weise auf seine Lebenswelt beziehen. Die für ein Gemeinschaftsleben zentrifugalen Kräfte der Subjektivität, nur die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu wollen, werden also nicht dadurch im Zaum gehalten, dass der individuelle Freiheitsraum durch die Willkür anderer beschränkt wird (EG § 539). Das bedeutete eine zufällige Einschränkung subjektiver Freiheit. Dass der Mensch einen »Gemeinsinn« entwickelt und sich in seinem Handeln auf die Anerkennung anderer – und damit implizit auch auf das Wohlergehen anderer – ausrichtet, erweist sich aus konzeptionellen Gründen als notwendig. Denn die intersubjektive Anerkennung der Handlungsrationalität eines Menschen ist eine notwendige Bedingung für seine Existenz als vernünftiges, sich durch allgemein gültige Gründe bestimmendes und damit freies Wesen.26 Der Mensch braucht die Bestätigung seines Selbstbildes durch andere, weil er nur durch das Sich-Finden in einem anderen ein stabiles Selbstverhältnis aufbauen kann.27 Weil Formen der Anerkennung nur zuverlässig in Institutionen ihren Platz haben können, besteht für den Menschen keine Möglichkeit, außerhalb von Institutionen zu leben. Dass der Mensch (aus sittlicher Perspektive) in der Institution »Familie« leben muss, geht somit nicht auf die anthropologische Tatsache zurück, dass der Mensch de facto in Familien lebt. Vielmehr impliziert Hegels Konzeption der Freiheit eine institutionelle Struktur: Der Mensch ist durch die Teilnahme an Institutionen frei, weil es ihm nur in Interaktion mit anderen Menschen möglich ist, sein Handeln nach allgemein gültigen Gründen zu bestimmen.28 Freiheit ist nur retrospektiv feststellbar, weil der Mensch erst nach der Tat sich für seine Tat mit Gründen rechtfertigen, die Tat erklären und sich dadurch ausdrücklich mit ihr identifizieren kann. Das bedeutet aber nicht, dass für jede Handlung explizit Gründe anzugeben sind, sondern nur, wenn diese von anderen verlangt werden. 27 Der andere muss ein angemessenes Gegenüber repräsentieren und wie der Mensch ebenfalls durch Subjektivität und Willen gekennzeichnet sein. Dieses Argument wird bei der Abwägung, ob Beziehungen zwischen Eltern und Kind sowie zwischen den Eheleuten angemessene Verhältnisse der Anerkennung darstellen, wieder aufgegriffen. 28 Siep unterscheidet zwischen zwei »Stufen« im Anerkennungsprozess (Siep 1979, 53 f.). Die erste Stufe betrifft das Verhältnis zwischen zwei Subjekten (Ich-Du), während die zweite Stufe die Anerkennung zwischen Individuum und Gemeinschaft beziehungsweise Einzelund Allgemeinwille bezeichnet (Ich-Wir). Siep stellt sich die Frage, wie die beiden Stufen miteinander verknüpft werden können und ob der Übergang vom »Ich« zum »Wir« allein durch Zweierbeziehungen beschritten werden kann. Eine Asymmetrie zwischen »Ich« und »Wir« hält er dabei für unvermeidlich. Gegen diese These wird hier zu zeigen versucht, dass eine Verbindung der beiden Stufen dadurch hergestellt werden kann, dass für die Handlungsgründe eines Menschen Allgemeingültigkeit gefordert wird, die auf der »Wir«-Stufe, das 26

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6. Einwand gegen Hegels institutionelle Konzeption der Freiheit Individuelle Freiheit wird realisiert, indem der Mensch Mitglied sittlicher Institutionen ist, er in diesen Institutionen lebt und sich mit den ihm zugeteilten gesellschaftlichen Rollen identifiziert (R § 147).29 Mit dieser institutionellen und auf dem Konzept der Anerkennung aufbauenden Theorie der Freiheit hat Hegel viel Widerspruch geerntet. Denn er scheint Freiheit mit einem gelungenen Sozialisationsprozess gleichzusetzen, in dem Menschen lernen, in ihrem Verhalten und ihren Überzeugungen den gesellschaftlichen Erwartungen und institutionellen Rollenvorstellungen zu entsprechen und gesellschaftlich akzeptabel zu werden.30 Damit argumentiert Hegel zirkulär: Einerseits ist ein Mensch erst dann frei, wenn die Institutionen, in denen er lebt, seinem Selbstverständnis entsprechen; andererseits kann ein menschliches Wesen sein Selbstverständnis nur in Anpassung an diese Institutionen entwickeln. Ein unabhängiger Maßstab, an dem die Vernünftigkeit von Institutionen gemessen werden könnte, fehlt.31 Die Forderung nach solchem unabhängigen Maßstab würde aber nach Hegel verkennen, was Institutionen sind: Sie sind keine Entitäten der objektiven Welt, die dem Menschen wie die (erste) »Natur« vorgegeben sind, sondern Resultate von Versuchen von Gemeinschaften, ihr Zusammenleben selbst zu bestimmen.32 Zwar findet sich der Einzelne empirisch immer schon in einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung vor und bedarf dieser auch, um Handlungsfähigkeit zu erlangen.33

heißt in intersubjektiven Verhältnissen eruierbar ist. Damit stellen die zwei »Stufen« nicht zwei verschiedene »Typen« von Anerkennung dar, sondern die Anerkennung zwischen »Ich« und »Du« besitzt Aspekte der Allgemeinheit: Rationalitätsanspruch des Handelnden, Anerkennung als Mitglied, Orientierung am Gemeinwohl. Die beiden »Stufen« können auf einer intersubjektiven Ebene zusammengefasst werden. 29 Vgl. Neuhouser 2000, 272 und Pippin 2001, 3. 30 Bereits Ritter hat auf die Spannung zwischen individueller Freiheit und »objektiven Einrichtungen« aufmerksam gemacht (Ritter 1975). 31 Pinkard hält mit Blick auf die Vernünftigkeit der Institutionen fest, dass Hegel kein metaphysisches oder transzendentales Prinzip bemüht, um diese nachzuweisen (Pinkard 1994, 301). Vielmehr zeigt sich die Richtigkeit von Institutionen daran, dass sie den Menschen ermöglichen, ein Selbstverständnis und ein Selbstbewusstsein zu unterhalten, welches sie nicht von der sozialen Welt, in der sie leben, entfremdet. Institutionen passen demnach zum Selbstbild rational Handelnder in der Moderne. Mit dieser These, die zweifellos auf Hegel sowohl in der Phänomenologie als auch in den Grundlinien zutrifft, hat Pinkard aber das Zirkelproblem noch nicht gelöst. 32 Institutionen gehören somit zur »Welt des Geistes«, die »aus ihm selbst hervorgebracht« sind (R § 4). 33 Der Punkt von gleichzeitiger Handlungsbeschränkung und -ermöglichung durch die Ordnungsstruktur sozialer Praktiken kann mit Brandom illustriert werden, der einen Vergleich zwischen Handlungsfähigkeit beziehungsweise -kreativität und Sprachfähigkeit beziehungsweise -kreativität zieht. »Creative self-cultivation is possible only by means of the discipline

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Institutionen werden aber nur durch das Handeln und Selbstverständnis von Menschen konstituiert und können sich entsprechend ändern.34 Sie existieren nur als »Produkte« von Menschen, und weil sie diesen zur Gewohnheit geworden sind, in der Form einer »zweiten Natur« (R § 146).35 Damit ist aber das Problem einer argumentativen Zirkularität noch nicht gelöst, weil Hegel wiederum Freiheit als die gelungene Identifikation des Menschen mit institutionellen Rollen interpretiert. Ernst Tugendhat, um hier einen fast klassischen Hegel-Kritiker zu nennen, hält es für ausgeschlossen, die Freiheit des Menschen an eine Forderung der Identifikation mit der Gemeinschaft zu knüpfen.36 Selbst wenn ein Staat gut und vernünftig ist, wäre es nach Tugendhat falsch, eine bedingungslose Staatstreue zu fordern. Dabei »wird übersehen, daß ein Staat gar nicht gut oder vernünftig, geschweige denn freiheitlich sein kann, wenn er von seinen Bürgern ein bedingungslos affirmatives Verhältnis fordert«37, weil er damit die Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger preisgibt. Tugendhats Kritik kann mit vier Argumenten begegnet werden. Erstens vollzieht sich die Identifikation mit Institutionen nicht »automatisch«, sondern gesellschaftliche Einrichtungen können durchaus kritisch hinterfragt werden. Dies geschieht in Hegels Philosophie beispielhaft beim Zusammenbruch der antik-griechischen und der römischen Gesellschaft.38 Zweitens ist es ein konstitutiver Bestandteil institutioneller Vernünftigkeit, dass der Anspruch des Menschen auf die Berücksichtigung seiner Subjektivität und Besonderheit in den Institutionen eingelöst wird. Die Übereinstimmung der Bedürfnisse des Menschen mit den Zwecken der Allgemeinheit muss auch im Bewusstsein der Menschen verankert sein (R §§ 261 A, 264).39 Drit-

of the social practices which constrain one, just as the production of a poem requires not only submission to the extringencies of a shared language, but the stricter discipline of the poetic tradition as well« (Brandom 1979, 196). 34 Zur Veränderung von Institutionen aufgrund einer Wechselwirkung von allgemeinem und individuellem Willen im Anerkennungsprozess vgl. Siep 1979, 234 ff. Weber hält fest, dass in der Rechtsphilosophie der praxisimmanente Ursprung sittlicher Prinzipien und Normen mit der sittlichen Bewusstseinsgenese zusammenfällt (Weber 1986, 120 f.). 35 Die Festigkeit und Widerständigkeit von Institutionen für den einzelnen Menschen, die ihm als Notwendigkeit gegenübertreten, sowie deren »Gemachtheit« durch den Menschen kommt im Ausdruck der »zweiten Natur« zum Tragen (R § 4). 36 Tugendhat 1979, 321–357. Zur Kritik an Tugendhats Hegelkritik vgl. auch Siep 1981. 37 Tugendhat 1979, 353. 38 Lamb weist darauf hin, dass Hegel, obgleich er kein explizites Widerstandsrecht formuliert, durchaus in seiner Sozialphilosophie in der Lage ist, Kritik an bestehenden Gesellschaftsordnungen zuzulassen: »Hegel did not believe that a tradition-bound Sittlichkeit was the alpha and omega of moral commitment and his social philosophy can accommodate civil disobedience, since it is only in the highest state, the community of free persons, that civil disobedience would be out of place« (Lamb 1986, 152). 39 »Diese Gesinnung […] ist das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) […] enthalten ist, womit

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tens sollen die Institutionen durch »Wahl« »vermittelt« werden (R § 262). So steht es der Frau frei, den Mann ihrer Wahl zu heiraten, und dem Mann, sich seinen Beruf und Stand auszusuchen. Viertens basiert die Identifikation mit der Gemeinschaft auf Gründen, die dem Menschen als seine Gründe einsichtig sein müssen. Nicht jedes Gesellschaftsmitglied muss die rationale Einsicht in die Notwendigkeit der Institutionen besitzen – Zutrauen und patriotische Gesinnung reichen für Hegel im Normalfall aus. Die kritische Reflexion der Legitimität der Institutionen muss aber grundsätzlich möglich sein. Diese Reflexion kann allerdings nicht außerhalb historisch-kultureller Praktiken stattfinden. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls darauf hinzuweisen, dass in Hegels Konzeption ein Mensch nur dann »konkrete Freiheit« (R § 260) erreicht hat, wenn er sowohl im »subjektiven« als auch im »objektiven« Sinne frei ist.40 Im »subjektiven« Sinne ist er frei, wenn er die Bestimmungen der institutionellen Praktiken, in denen er lebt und handelt, als seine eigenen Bestimmungen erfahren kann (R § 268). Er weiß dementsprechend, was er zu tun hat (R § 150) und ist auch motiviert, es zu tun. Im »objektiven« Sinne ist er frei, weil er erst in diesen Institutionen nach allgemein gültigen Gründen handeln und damit seine Freiheit unter Beweis stellen kann. Seine Abhängigkeit von der Anerkennung anderer ist keine Abhängigkeit, die seine individuelle Freiheit gefährden oder der These Hegels widersprechen würde, wonach »alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem hinwegfällt« (R § 23): Denn der Mensch hängt in Anerkennungsbeziehungen als freies und rationales Wesen letztlich von dem eigenen Anspruch auf Vernünftigkeit ab. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Relationalität, das heißt Anerkennungsbeziehungen zwischen Menschen, ist für Hegels Begriff der Freiheit konstitutiv, weil es sich dabei um Bezugnahme auf Gründe handelt, die die Vernünftigkeit im freien Handeln gewährleisten. Zum Abschluss sollen nun einige Punkte in Vergleich zu Kants Autonomiekonzeption hervorgehoben werden, die zum einen die Nähe der beiden Konzeptionen von Freiheit als vernünftige Selbstbestimmung deutlich machen als auch auf Unterschiede hinweisen, wie die Vernünftigkeit zustande kommt.

dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin.« (R § 268). 40 »The fully free agent – the agent who enjoys what Hegel terms ›concrete‹ or ›absolute‹ freedom«, so Patten, »is free in both the subjective and the objective senses. His determinations are ›his own‹ both in the subjective sense that they are grounded in his reflectively endorsed commitments and evaluations and in the objective sense that they are prescribed by reasons.« (Patten 1999, 35). Gegen Pattens These ist einzuwenden, dass nicht jede Verpflichtung einer Reflexion darüber bedarf, ob ihr nachzukommen ist oder nicht. Alltägliche Handlungen wie beispielsweise der Kauf eines Bustickets sind eher durch Habitus denn durch Reflexion geprägt. Trotzdem ist Pattens rationalistischem Ansatz zuzustimmen, Institutionen müssen der Reflexion über ihre Legitimität grundsätzlich standhalten können.

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7. Vergleich mit Kants Begriff der Freiheit Hegel knüpft an den kantischen Gedanken an, dass ein vernunft- und freiheitsbegabtes Wesen nur den Gesetzen und Normen unterworfen ist, die es sich selbst auferlegt hat. Mit Hegel ausgedrückt bedeutet dies, »daß das Individuum ihnen [den Gesetzen; S. B.] gehorchen kann, weil es selbst sie für gut erkennt« (R § 3 R). Gesetzesgehorsam resultiert daraus, dass der Mensch die normative Autorität der Gesetze aus freien Stücken als handlungsanleitende Gründe anerkennt. Damit konstituiert der Mensch erst das Gesetz: »das Gesetz handelt nicht, es ist nur der wirkliche Mensch, der handelt […] erst durch meine Überzeugungen wird es zu einem Gesetze, einem mich Verpflichtenden und Bindenden gemacht« (R § 140). Die kantische Konzeption der Autonomie, nach der der Mensch zugleich »Gesetzgeber« und dem »Gesetz Unterworfener« ist, wirft jedoch mehrere Probleme auf.41 Zum einen ist es schwer verständlich, warum die Autorität von Gesetzen von der subjektiven Einsicht und Befürwortung abhängen soll, die im Falle der Verbrecherin gerade fehlt. Die subjektive Komponente im Gelten von Gesetzen darf also deren Geltungskraft nicht erschöpfen. Hegel fährt entsprechend fort: »[D]ie subjektive Einsicht ist zugleich etwas Zufälliges, und das Gelten des Rechts kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob der eine so meinte und möchte – oder so« (ebd.). Wovon ist dann das »Gelten des Rechts« abhängig zu machen, um Zufälligkeiten zu vermeiden? Anders gefragt: Wie kann das Recht für alle zu jeder Zeit gelten? Zwei Möglichkeiten kommen in den Blick. Erstens können Gesetze mit Zwang und durch umfassende Kontrolle durchgesetzt werden. Diese Variante übersieht jedoch den Unterschied, dass die Gesetze, die faktisch eingehalten werden, nichts darüber preisgeben, ob es richtig ist, gerade an diesen Gesetzen festzuhalten – ungeachtet dessen, ob es sich um Gesetze in einem korrupten und despotischen oder demokratischen Staat handelt. Eine zweite Variante macht dagegen die unbedingte Geltungskraft des Rechts von dessen Vernünftigkeit abhängig. Das heißt, was mit guten Gründen gerechtfertigt werden kann, gilt universal und verdient Anerkennung seitens aller rationalen Menschen. Kant greift den Gedanken der zweiten Variante auf, indem er sein Modell der Selbstgesetzgebung um eine entscheidende Komponente erweitert: Selbstbestimmung ist vernünftige Selbstbestimmung. Der Wille ist nur dann frei, wenn er ausschließlich guten Gründen folgt.42 Diese Forderung nach vernünftiger Selbstbestimmung bedeutet aber nicht zwingend, den Menschen in ein soziales Vakuum zu stellen, in dem er aus sich heraus Gründe schöpfen soll. Vielmehr ist es eine Tatsache, dass Menschen Normen immer schon vorfinden und entsprechend so-

Zum kantischen Paradox vgl. Pinkard 2002. Vgl. Wildt 1982, 253, 389. Aus dem Rationalitätsanspruch des Willens nach Gründen zu handeln, folgt aber noch nicht, dass dieser Anspruch auch tatsächlich erfüllt wird. Ebenfalls bleibt offen, wie dieser Anspruch zu erfüllen ist. 41

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zialisiert sind. Diese Normen sind aber keine unumstößlichen Dogmen, denen sich die Menschen bedingungslos unterwerfen müssen, sondern es liegt in ihrer Verantwortung, die Normen im Zweifelsfall zu überprüfen und allenfalls zu missachten. Kurz, Menschen können sich nicht aussuchen, in was für eine Familie, Gesellschaft oder Kultur sie hineingeboren werden. Damit steht ihnen auch die Wahl des normativen Bezugsrahmens, in dem sie aufwachsen, nicht frei. Aber diese Konzepte, die ihre Überzeugungen prägen und ihre Handlungen anleiten, können sie sehr wohl hinterfragen, akzeptieren oder ablehnen. Wie kann eine solche Überprüfung bestehender Normen aussehen? Bei Kant besteht vernünftige Selbstbestimmung in der Beschränkung durch eine Norm: das Sittengesetz.43 Zugleich muss sich aber der Mensch, um autonom zu sein, das Gesetz (und seine Handlungsmaximen) selbst auferlegen. Die kantische Konzeption der Selbstgesetzgebung scheint damit paradox zu sein. Indem Kant die Freiheit und das Sittengesetz in ein reziprokes Verhältnis44 stellt, setzt er in seinem Modell der vernünftigen Autonomie bereits eine Orientierung an Vernunftnormen voraus, die erst durch den Akt der Selbstgesetzgebung gestiftet werden sollen.45 Kant versucht die Inkohärenz seines Modells der Selbstgesetzgebung dadurch zu beheben, dass er zusätzliche Annahmen über das »Factum der Vernunft« (V, 31) und die drei »Postulate« von der »Unsterblichkeit der Seele«, der »Freiheit« und des »Daseins Gottes« (V, 122–135) macht. Das Problem bleibt aber bestehen, dass man sich nicht selbst vernünftige Gesetze geben kann, ohne gute Gründe dafür zu haben, dass diese Gesetze vernünftig sind. Das kantische Modell der Selbstgesetzgebung überzeugt nicht unmittelbar, weil es nicht zulassen darf, dass man in der Selbstgesetzgebung Normen oder Prinzipien anwendet, die man bereits als gültig anerkannt hat. Neben diesem Paradox zeigen sich weitere problematische Aspekte der kantischen Autonomiekonzeption. So hat Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass die Freiheit besteht in der kantischen Tradition laut Brandom »in being constrained by norms rather than by causes« (Brandom 1979, 187). An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Brandom in seinem Artikel übersieht, dass Freiheit bei Kant nicht eine Beschränkung durch irgendwelche Normen bedeutet, sondern durch eine vernünftige: das Sittengesetz. Diese Interpretationsrichtung schlägt Brandom dann 1994 in Making It Explicit ein: »freedom as a special kind of norm, the norms of rationality« (Brandom 1998, 51). Brandoms Konventionalismus von 1979, den er auch auf moralische Normen auszudehnen scheint (oder einer solchen Ausweitung zumindest nicht mit einem Argument entgegentritt), ist mit einer kantischen Freiheitskonzeption, deren rationalistische Züge sich nicht auf das Gebot beschränken, den logischen Denkgesetzen zu folgen, sondern auch verlangen, das inhaltlich Vernünftige zu tun, nicht mehr vereinbar. Beispielsweise kann ein Subjekt seine ganze Intelligenz und Kreativität dafür einsetzen, einen perfekten Mord zu planen und durchzuführen, ohne dass diese Tat als vernünftig bewertet werden sollte. 44 Vgl. dazu Pattens »reciprocity thesis«, die er im Rückgriff auf Allison entwickelt (Patten 1999, 82 ff.). 45 Vgl. Habermas 1999, 148. 43

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kantische Konzeption von Autonomie mit dem Problem der Inhaltslosigkeit konfrontiert ist, da sich aus der Befolgung des Sittengesetzes keine konkreten Pflichten und Handlungsanweisungen ableiten lassen (vgl. R § 135).46 Eine weitere Schwierigkeit der kantischen Konzeption besteht in der Handlungsmotivation oder subjektiven Bindungskraft des Sittengesetzes. Kant geht davon aus, dass Gründe praktisch wirksam und handlungsanleitend sein können. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass selbst, wenn ein Mensch weiß, was ein rein vernünftiger, nach Gründen Handelnder tun würde, diese Gründe nicht automatisch seine Gründe sein müssen und ihn zum Handeln motivieren. Mit dem kantischen Bild eines gespaltenen Menschen, der sich in ein noumenales und ein sinnliches Wesen aufteilt, können seine Handlungen nicht erklärt werden.47 Vielmehr muss gezeigt werden, wie ein Rationalismus von vernünftigen Gründen, die für alle rationalen Menschen unbedingt gelten, in eine Binnenperspektive von Gründen, die den einzelnen Menschen motivieren, eingebunden werden kann. Von dieser Warte aus sind weder die faktisch geltenden Normen in einer Kultur, noch die faktischen Handlungsmotive per se vernünftig, sondern bedürfen beide einer begründeten Rechtfertigung.48 Diese Rechtfertigung versucht Hegel mit einem geschichtsphilosophischen Ansatz zu bieten. So können Normen als das Ergebnis kollektiver Anstrengungen in einem historischen Bildungsprozess verstanden werden. Damit rückt der Aspekt der intersubjektiven Anerkennung bei der Konstitution von Normen mit in den Vordergrund. Der Bildungsprozess des Individuums sowie der Gemeinschaft verläuft dialektisch. Nach Terry Pinkard wird dieser Prozess durch die Erfahrung praktischer »Unzulänglichkeiten« (historical insufficiencies), die in bestimmten kulturellen und historischen Formen des Gemeinschaftslebens auftreten, vorangetrieben.49 Praktische Unzulänglichkeiten bestehen darin, dass es den Menschen in einer Gemeinschaft nicht gelingt, ihrem normativen Selbstverständnis gemäß zu leben, und sich dieses Selbstbild in der Praxis als inkonsistent erweist. Solche Schwierigkeiten treten im Falle einer Inkompatibilität zweier gleichberechtigter, handlungsanleitender Normen auf, die den Menschen dazu zwingen, sich für eine Norm zu entscheiden und damit die andere zu verletzen. Diese Art von Konflikt hat Hegel am Beispiel der Antigone ausführlich diskutiert.50

Zum Problem der Inhaltslosigkeit bei Kant siehe auch Brandom 1979, 193. Vgl. Pippin 2000b, 193 f. 48 Vgl. dazu auch Benhabibs Unterscheidung von »subjective interpretation of reasons for one’s actions« und »objective assessment of the validity of such reasons to serve as justifications for actions« (Benhabib 2002, 197). 49 Vgl. Pinkard 1994, 271. Brandom erklärt das Aufkommen neuer sozialer Praktiken mit der Kreativität des Handelns: »For the capacity of individuals to produce novel performance in accord with a set of social practices makes possible novel social practices as well« (Brandom 1979, 194). Durch eine Dialektik von geteilter Praxis und neuen individuellen Handlungen entwickeln sich sowohl Individuen als auch Gemeinschaften (ebd., 196). 50 Brandom greift ebenfalls die Erfahrung von Inkompatibilität zwischen normativen Ver46 47

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Den Grund, warum es zu einem solchen Konflikt kommen kann, sieht Hegel in der Einseitigkeit der Normen und der jeweiligen Selbstverständnisse. Durch die Erfahrung praktischer Unzulänglichkeiten lernen die Menschen etwas über sich selbst: Sie finden heraus, dass sie nicht diejenigen waren, die sie dachten zu sein und werden durch das Scheitern ihrer Lebensform gezwungen, ihr Selbstbild zu korrigieren und ihr Leben und Zusammenleben neu zu organisieren. Anders ausgedrückt: Der Gehalt normativer Verpflichtungen wird erst in der Praxis bestimmt, beziehungsweise es wird erst in der Praxis deutlich, was es heißt, bestimmte normative Verpflichtungen einzugehen.51 Normen existieren damit nicht unabhängig von ihrer Anwendung und sie existieren nur qua Normatives, also in und durch die Handlungen und das Bewusstsein von Menschen in gemeinschaftlichen Praktiken (R § 145 und EG § 514). So hören bestimmte Normen auf zu existieren, wenn sich das normative Selbstverständnis einer Gemeinschaft aufgrund praktischen Versagens verändert, diese Gemeinschaftsform untergeht und eine neue Gemeinschaftsform aus der vergangenen entsteht. Die Qualität eines normativen Selbstverständnisses, seine Robustheit, Tragfähigkeit und Stabilität, kann allein in seiner praktischen Umsetzung festgestellt werden. Aus den Erfahrungen des Scheiterns lernt52 die Menschheit sukzessive, Unzulänglichkeiten vergangener Normen in neuen Gemeinschaftsformen zu korrigieren.53 Die Entstehung und Wirksamkeit von Normen ist gleichsam eingebunden in einen sich selbst korrigierenden Prozess von Normativität.54 Mit den gescheiterten Versuchen wächst auch das Bewusstsein

pflichtungen als eine Erfahrung auf, die sowohl Identität stiftet als auch zerstört: »Jeder eingestandene Fehler ist ein Akt der Selbstidentifikation: die Billigung einiger der miteinander unvereinbaren Verpflichtungen, in denen man sich vorfindet, und das Opfer anderer. Erfahrung ist der Prozess, durch den Subjekte sich selbst als Loci der Rechenschaft definieren und bestimmen, indem sie unvereinbare Verpflichtungen praktisch ›abstoßen‹« (Brandom 2004, 51). 51 Vgl. Brandom 1998. 52 Zum Begriff des Lernens und zur Rolle der Erfahrung stellt Habermas die These auf, dass bei Brandom die Erfahrung nur eine passive Rolle übernimmt, insofern sie lediglich das Medium bereitstellt, in dem Erkenntnis über die begriffliche Struktur der Welt möglich ist (Brandom 1998, 622; Habermas 1999, 166). Aus dieser Perspektive bedeutet Lernen nach Habermas für Brandom lediglich, sich die bereits existierenden Begriffe einzuprägen. Unter der Annahme, dass Pinkard keinen objektiven Idealismus vertritt und damit auch keinen Begriffsrealismus, müssen bei ihm Lernen und Erfahrung eine aktive, kreative und produktive Rolle spielen. 53 In der Moderne radikalisiert sich die Erfahrung des Scheiterns. Die »Unzulänglichkeiten« bestehen darin, dass für das moderne Handlungssubjekt autoritative Gründe für Überzeugungen und Handlungen gänzlich ihre Geltungskraft verlieren. Aus dieser Erfahrung der »groundlessness« erwächst das moderne Projekt eines »self-grounding« oder einer »selflegislation« (Pinkard 1994, 271). Hegels Hinweis, dass man Vernunft nicht befehlen kann (R § 3 R), unterstützt die argumentative Stoßrichtung von Pinkard. 54 Vgl. Pinkards Auffassung der »Absoluten Idee« als eine »normative self-correcting structure of modern social space« (Pinkard 2002,177).

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der Menschen über das, was sie tun: sich bemühen, nach selbstauferlegten Normen und somit selbstbestimmt zu leben.55 »Geist« bezeichnet hier die Fähigkeit des Menschen zu begreifen, was im Rahmen dieser kollektiven Selbstbestimmung von ihm normativ gefordert wird56 und dass seine Tätigkeiten und Handlungen versuchte Selbstbestimmungen sind. Aus diesem Grund sieht Hegel in der Geschichte einen Zuwachs an Bewusstsein von Freiheit.57 Geschichte ist im hegelschen Verständnis ein Bildungsprozess des Sich-selbst-Erkennens und Sich-selbst-(normativ)-Bestimmens; sie ist sowohl ein Selbsterkennungsprozess als auch ein Selbstverwirklichungsprozess geistiger Wesen. Die Idee, die Geschichte entwickle sich gemäß der Gesetzlichkeit einer Geist-Substanz, wird in einem nicht-geistmetaphysischen Ansatz durch eine lerntheoretische Annahme abgelöst, nach der Menschen aus praktischen Unzulänglichkeiten, die sie aufgrund von Einseitigkeiten ihres normativen Selbstverständnisses erfahren, lernen, und sich dergestalt die normativen Praktiken im Laufe der Geschichte ändern beziehungsweise selbst korrigieren. Für diesen Bildungsprozess ist zwar das Machen von Erfahrungen erforderlich und damit eine zeitliche Dimension involviert. Was die Menschen lernen, ist dagegen zeitlos – und (in einer noch zu konkretisierenden Weise) vernünftig.58 Mit dieser historischen, kollektiven und lernorientierten Analyse der Genese des »Geistes« als Normativität könnte Hegel eine bedenkenswerte Alternative zu Kants Begriff der Freiheit bieten. Die möglichen Vorzüge der hegelschen Freiheitskonzeption seien hier nochmals kurz zusammengefasst. Erstens kann Hegel erklären, warum ein Mensch motiviert ist, Normen für sich als bindend anzuerkennen – nämlich weil er in einer bestimmten Weise sozialisiert wurde und die gemeinschaftlichen Normen internalisiert hat. Zweitens kann Hegel inhaltlich konkrete normative Verpflichtungen formulieren, weil diese durch die Ausgestaltung von gesellschaftlichen Institutionen vorgegeben sind.59 Und drittens Vgl. Pippin 2000b, 198 Fußnote 47. Ebd., 190. 57 Der Erfolg in der Moderne, besser nach selbstauferlegten Normen zu leben, ist auf die innere Konsistenz und Kohärenz des modernen sozialen Lebens zurückzuführen. Terry Pinkard fasst diese These in seiner Interpretation der Phänomenologie folgendermaßen zusammen: »The superiority of modern life consists in the rationality that it brings to spirit – that is, in achieving an internal coherence of a ›social space‹ such that a form of life is achieved in which the type of systematic alienation that had characterized past forms of life – namely, alienation as a reflection of the irrationality of ›social space‹ – vanishes, and in which that form of life is able to develop accounts of itself that can show to its members and to others that it is within its own terms fully intelligible and capable of explaining and justifying itself without internal incoherence. It thus counts as a realization of freedom, the ›principle‹ of the modern world« (Pinkard 1994, 336 f.). 58 Auf den Punkt der »zeitlosen Vernünftigkeit« hat Ludwig Siep aufmerksam gemacht (Siep 2000, 249–51). 59 Brandom 1979, 193. 55 56

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bietet Hegel eine Lösung für das kantische Paradox an, dass ein Mensch zur selben Zeit »Gesetzgeberin« und »dem Gesetz Unterworfene« ist, indem Hegel diese Selbstbestimmung (beziehungsweise die freiwillige Unterwerfung unter normative Beschränkungen) als (graduelles, kollektives, historisches) Resultat konzipiert und nicht als einen »noumenalen Akt der Wahl«.60

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Vgl. Pippin 2000a, 163.

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Zu den Autoren

Jochen BOJANOWSKI ist Autor des Buches Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung (2006). Von 2005–2010 war er Visiting Professor an der University of Pittsburgh. Derzeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt zu Kants Moralphilosophie an der Reijksuniversiteit in Groningen. Neben der Philosophie Kants liegen seine Forschungsschwerpunkte in der Ethik und der politischen Philosophie. Mario BRANDHORST, geb. 1973. Studium der Philosophie und Neueren deutschen Literatur in Tübingen, Berlin und Oxford. Promotion in Oxford mit einer Arbeit zur Theorie der praktischen Vernunft: The Foundations of Practical Reason. Seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, zur Zeit Vertreter einer Juniorprofessur für Philosophie an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, insbesondere Metaethik und die Theorie der praktischen Vernunft; Hume, Kant, Nietzsche, Wittgenstein. Aufsätze zu diesen Themen. Reinhard BRANDT, geb. 1937. Studium der Fächer Latein, Griechisch und Philosophie (Staatsexamen) in Marburg, München und Paris. 1972 bis 2002 Professor für Philosophie in Marburg, viele Gastprofessuren. 2004 Christian-Wolff-Professor in Halle. Leiter der Marburger Arbeitsstelle der Weiterführung der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Frankfurt, korrespondierendes Mitglied der Akademie zu Göttingen, 2005 Gast im Wissenschaftskolleg zu Berlin. Monographien: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte (22001); Die Bestimmung des Menschen bei Kant (22007); Können Tiere denken? (2009); Immanuel Kant – Was bleibt? (2010); Wozu noch Universitäten? (2011). Susanne BRAUER, Studium der Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Wuppertal und Münster und der University of Chicago. Abschluss in Chicago mit dem PhD in Philosophie. Anschliessend Forschungstätigkeit an der Universität St. Gallen und an der Universität Zürich im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunktes in Ethik. 2011 Fellow-in-Residence am Lichtenberg-Kolleg der Georg-August-Universität Göttingen. Zur Zeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, Studienleiterin für ›Bioethik, Medizin und Life Sciences‹ bei der Paulus-Akademie-Zürich und Affiliation als Wissenschaftlerin am Institut für Biome-

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Autoren

dizinische Ethik der Universität Zürich. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen neben Hegel und Sozialphilosophie vor allem Bioethik und die Ethik des Gesundheitswesens. Andree HAHMANN, geb. 1977. Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Klassischen Philologie in Köln, Siegen und Marburg, Promotion 2007. Seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der GeorgAugust-Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Antike und Neuzeit. Monographien: Was ist Willensfreiheit? Alexander von Aphrodisias über das Schicksal (2005); Kritische Metaphysik der Substanz. Kant im Widerspruch zu Leibniz (2009); Aufsätze zur antiken Philosophie, Kant und zum Problem der Willensfreiheit. Dietmar HEIDEMANN, Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte in Köln und Edinburgh. Promotion 1997 in Köln mit der Arbeit Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus (Kant-Studien Ergänzungsheft 131), Habilitation 2005 in Köln mit der Schrift Der Begriff des Skeptizismus (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 78). 1999–2005 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität zu Köln, 2006 Professor für Philosophie an der Hofstra University, New York, seit 2009 an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Kant, Deutscher Idealismus, insb. Hegel, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes und der Subjektivität, Metaphysik. Herausgeber des Kant Yearbook. Geert KEIL, geb. 1963. Studium der Philosophie, Germanistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Bochum und Hamburg, 1991 Promotion, 1999 Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2000 bis 2005 Heisenberg-Stipendiat der DFG. 2005 bis 2010 Professor für Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen. Seit 2010 Professor für Philosophische Anthropologie an der HumboldtUniversität Berlin. Buchveröffent-lichungen u. a.: Kritik des Naturalismus (1993); Handeln und Verursachen (2000); Fifty Years of Quine’s ›Two Dogmas‹ (Mithrsg., 2003); Phänomenologie und Sprachanalyse (Mithrsg., 2006); Willensfreiheit (2007); Was können wir wissen, was sollen wir tun? (Mithrsg., 2009); Quine (2011). Heiner F. KLEMME ist Universitätsprofessor für Philosophie der Neuzeit an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Kant-Forschungsstelle sowie Honorarprofessor / Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wuhan (2012–2015). Publikationen, Aufsätze und Editionen vor allem zur Philosophie der Aufklärung (insbesondere Kant und Hume) sowie zur Ethik und Rechtsphilosophie. Monographien: Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (1996); Immanuel Kant (2004); David Hume zur Einführung (2007); The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers (Mithrsg., 2010); Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Ein systematischer Kommentar (2013).

Autoren

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Bernd LUDWIG, geb. 1955. Studium der Physik und Philosophie in Marburg, Promotion 1985, Habilitation in Berlin 1998. Seit 2002 Professor für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit, Rechts- und Moralphilosophie, Wissenschaftsphilosophie. Herausgeber von Kants Metaphysik der Sitten (1986 u. ö.) und Was ist Eigentum? (mit A. Eckl, 2005). Monographien: Kants Rechtslehre (22005); Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Hobbes’ philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil (1998). Aufsätze zur Philosophie der Neuzeit, zur Rechts- und Moralphilosophie und zum Problem der Kausalität. Tobias ROSEFELDT ist seit 2010 Professor für klassische deutsche Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist Autor des Buches Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst (2000) und hat verschiedene Aufsätze zu Themen aus dem Umkreis von Kants theoretischer Philosophie sowie der zeitgenössischen Metaphysik und Sprachphilosophie veröffentlicht. Gegenwärtig arbeitet er vor allem an einer Interpretation von Kants transzendentalem Idealismus. Dieter SCHÖNECKER, Professor für Philosophie in Siegen. Forschungsschwerpunkte: Kants Ethik, Metaethik, Religionsphilosophie. Veröffentlichungen: Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch (2012, mit G. Damschen); Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie (2005, unter Mitarbeit von S. Buchenau und D. Hogan); Immanuel Kant: ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Ein einführender Kommentar (42011, mit A. Wood); Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs (1999); Mitherausgeber von: Der moralische Status menschlicher Embryonen. Argumente pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument (2003); Kant verstehen / Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte (22004); Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1999). Kenneth R. WESTPHAL, geb. 1955. Professorial Fellow an der School of Philosophy, University of East Anglia, Norwich. 2011 Gastwissenschaftler an der Georg-AugustUniversität Göttingen, 2012–2013 an der Universität Bielefeld. Herausgeberschaft u. a.: The Blackwell Guide to Hegel’s ›Phenomenology of Spirit‹ (2009). Monographien: Hegel’s Epistemological Realism. A Study of the Aim and Method of Hegel’s ›Phenomenology of Spirit‹ (1989); Hegel, Hume und die Identität wahrnehmbarer Dinge. Historisch-kritische Analyse zum Kapitel ›Wahrnehmung‹ in der Phänomenologie von 1807 (1998); Hegel’s Epistemology. A Philosophical Introduction to the ›Phenomenology of Spirit‹ (2003) und Kant’s Transcendental Proof of Realism (2004).

Stellenregister

1. Kant, Kritik der reinen Vernunft A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A

14 .............................................. 175 15 ...................................... 169, 175 71 f. .......................................... 187 96 .............................................. 206 111 ...................................... 136 Fn 8 158 ............................................ 169 220 ................................... 164 Fn 12 242 f. ......................................... 169 244 ................... 164 Fn 12, 171 Fn 17 245 ................... 168 Fn 15, 171 Fn 17 249–53 .............................. 176 Fn 23 253 ................................... 171 Fn 17 289 ................... 170 Fn 16, 189 Fn 37 290 ................................... 164 Fn 12 314 ................................... 164 Fn 12 346 ................................... 171 Fn 17 347 ............................................ 160 348 .................................... 157, 159 349 ..................................... 158, 170 350 .................................... 158, 169 351 .................................... 158, 165 355 ............................ 166, 187 Fn 36 356 ......................................... 158 f. 358 f. ....... 13 Fn 6, 146, 169, 171 Fn 17 365 f. ............ 159, 159 Fn 5, 165, 178, 181 Fn 30, 189, 192, 210 Fn 45 369 f. .................. 36, 40, 43, 259 Fn 2 378 f. ........................................... 42 380 ............................................. 43 381 f. ................................. 168 Fn 15 384 ff. ................................ 189 Fn 38 389 ................................... 188 Fn 37 393 ............................... 13 Fn 6, 146 398 ......................................... 169 f. 399 ................................... 168 Fn 15

A 400 ... 158, 165 f., 168 Fn 15, 169, 171, 188 Fn 37 A 401 ff. ...................................... 158 f. B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B

XXI ..... 177, 178 Fn 25, 183 Fn 33, 192 XXII ........................... 183 Fn 33, 192 XXVI .......................................... 146 XXVI Fn ..................................... 178 XXVII ... 45 Fn 10, 146, 164, 178 Fn 25, 283, 289 f. XXVII Fn .................................... 177 XXVIII ........................ 183 Fn 33, 193 XXIX ............................. 8, 183 Fn 33 XXXVII ....................................... 156 XXXVIII ............................ 156, 180 f. XXXIX ................................. 156, 181 XL .............................................. 283 XLII ..................................... 155 Fn 2 5 ................................................ 233 7 ................................................ 175 34 ..................................... 137 Fn 10 42 ........................................... 283 f. 43 f. ............................................ 283 52 .............................................. 283 66 ff. .................................. 178 Fn 25 67 ....................................... 315 Fn 9 69 ff. ........................................ 283 f. 128 ......................................... 168 f. 130 ..................................... 53 Fn 22 138 ................................... 207 Fn 38 146 ................................... 168 Fn 14 149 .............................. 168, 171, 187 150 ................................... 207 Fn 38 153–6 ................................ 209 Fn 44 158 ..................... 178 Fn 25, 180, 184

388

B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B B

Stellenregister

159 ............................................ 188 161 ............................................. 206 165 .............................. 68, 233 Fn 16 219 ............................................. 274 232 ............................................ 235 234 ff. ................................... 48, 140 274 ..................................... 209, 284 275 ................................... 209 Fn 42 288 ............................ 168, 178 Fn 25 302 ............................. 176, 178 Fn 25 305 .................... 176 Fn 23, 178 Fn 25 306 ............ 176 Fn 23, 178 Fn 25, 180 307 ... 14, 52, 139, 141, 168, 176 Fn 23, 178 Fn 25, 180, 187 308 ..... 141, 168, 176 Fn 23, 178 Fn 25 309 ..... 139, 141, 176 Fn 23, 178 Fn 25 311 .............................................. 53 364 .............................................. 70 395 Fn ........................................ 175 403 ................................... 181 Fn 30 407 ...................... 167, 168 Fn 14, 180 408 ............................................ 168 409 ............................................ 176 411 f. .................................... 171, 180 420 ............................................ 216 421 ...................................... 187, 217 422 ........................ 28, 169, 195, 208 423 Fn ................................. 195, 208 425 ............................ 189 Fn 38, 217 426 .................... 186 f., 190, 208, 217 427 .................. 186 f., 187 Fn 36, 208 428 ff. ............................... 176 f., 187 430 ................ 22, 177, 195, 211 Fn 47 431 ..... 28, 177 f., 179 Fn 26, 184, 196, 211, 211 Fn 47, 213 432 ............. 179 Fn 26, 213, 213 Fn 50 441 ff. ........................................... 71 446 ............................... 71, 280, 285 447 ............................................ 286

A 9 / B 13 ............................... 224, 232 A 20 / B 34 ................................. 40, 53 A 30 / B 45 ..................................... 138

A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A

A A A A A A A

50 / B 74 ..................................... 206 68 / B 93 ..................................... 207 79 / B 104 f. ........................ 206 Fn 36 82 / B 108 .................................... 89 89 / B 121 ....................................... 8 91 / B 124 ........................... 233, 239 132 / B 171 .................................. 263 158 / B 197 ...................... 41, 136 Fn 8 179 / B 222 .................. 263, 268 Fn 18 180 / B 223 .................. 263, 268 Fn 18 188 / B 231 ........................... 261 Fn 5 189 f. / B 232 f. ............................. 140 200 ff. / B 245 ff. ................... 262 Fn 8 203 / B 248 ......................... 243 Fn 37 206 / B 251 .................... 261 Fn 5, 264 208 / B 253 ......................... 253 Fn 68 216 / B 263 .................................. 240 227 f. / B 279 f. ............. 233, 248 Fn 52 246 / B 303 .................................. 138 255 f. / B 310 f. ............................. 139 258 / B 314 .................................. 138 265 / B 321 .................................. 138 407 / B 434 ................................... 37 409 / B 436 ................................... 37 418 / B 446 ..................................... 8 419 / B 446 ................................... 16 420 / B 448 ................................... 37 421 / B 449 ................................... 37 444 / B 472 ....................... 37, 48, 140 445 / B 473 ................ 45, 48, 234, 286 446 / B 474 .......... 38, 48, 79, 224–226 447 / B 475 .................................. 240 448 / B 476 .................. 151 Fn 41, 161, 164 Fn 11, 165, 165 Fn 13, 175, 224, 291 f., 307 449 / B 477 .......................... 165, 286 450 / B 478 ... 151 Fn 41, 190, 225, 242, 286, 305 451 / B 479 .................................. 286 459 / B 487 ......................... 182 Fn 31 468 / B 496 ................................... 35 478 Fn / B 506 Fn ............... 171 Fn 17 490 / B 518 .................... 281, 283 Fn 4

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A 491 / B 519 ............... 13, 37, 259 Fn 2, 283 Fn 4, 284 A 492 / B 520 ..................... 13, 259 Fn 2 A 493 / B 521 ........................... 259 Fn 2 A 494 / B 522 ..... 13 Fn 6, 146, 263 Fn 12 A 495 f. / B 523 f. .................... 263 Fn 12 A 497 / B 525 .................................... 70 A 498 / B 526 .................................... 71 A 506 f. / B 534 f. .............................. 38 A 509 / B 537 .......... 263 Fn 12, 269 Fn 21 A511 / B 539 ..................................... 71 A513 / B 541 ..................................... 71 A 521 / B 549 ........... 262 Fn 7, 263 Fn 12 A 522 f. / B 550 f. .................... 263 Fn 12 A 532 / B 560 ............ 49 Fn 18, 140, 282 A 533 / B 561 .... 12, 16, 35, 44, 49 Fn 18, 145, 163 Fn 9, 182 Fn 32, 279 f., 285 A 534 / B 562 ..... 21 f., 49 Fn 18, 60, 63 f., 72–74, 141, 145, 163 Fn 9, 182 Fn 31, 279 f., 295 f., 306 A 535 / B 563 ................ 39, 42, 172, 181 A 536 / B 564 ... 25, 29, 35 f., 39, 44, 143, 223, 234, 248 Fn 51, 290 A 537 / B 565 13, 39, 143, 283 Fn 4, 284, 287 A 538 / B 566 ......... 50 Fn 19, 59, 69, 141 Fn 18, 161, 165 Fn 13, 280 A 539 / B 567 ....... 15, 50 Fn 19, 78, 83 f., 93 Fn 25, 141 Fn 18, 144, 144 Fn 22, 231, 251, 286, 307 A 540 / B 568 .... 50 Fn 19, 83 f., 93 Fn 25, 144, 286, 306 A 541 / B 569 ...... 8 f., 15, 83 f., 93 Fn 25, 144, 242, 306, 308 A 542 / B 570 ................. 161, 165 Fn 13, 173 Fn 21, 261 Fn 5 A 543 / B 571 ...................... 40, 261 Fn 5 A 544 / B 572 ..................... 13 Fn 6, 146 A 545 f. / B 573 f. ............... 12, 141 Fn 18 A 546 / B 574 .................. 15, 17, 22, 85, 103 Fn 42, 144, 160, 163, 165 f., 168 f., 180, 192, 210 A 547 / B 575 ..... 22, 144 f., 160, 210, 274

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A 548 / B 576 ........... 145, 182 Fn 31, 274 A 549 / B 577 ... 11 f., 140 Fn 17, 145, 230 Fn 9 A 550 / B 578 .............. 11, 84, 140 Fn 17, 230 Fn 9, 250 A 551 Fn / B 579 Fn ......................... 18 A 551 / B 579 ............................ 85, 223 A 552 / B 580 ......................... 12–15, 17 A 553 / B 581 ...... 79, 84, 103 Fn 42, 141, 245 A 554 / B 582 ........ 77, 84 Fn 11, 93, 250, 286 A 555 / B 583 ............................ 77, 294 A 556 / B 584 .......................... 85, 244 f. A 557 / B 585 .................... 49, 182 Fn 32 A 558 / B 586 ....... 21, 49, 164 Fn 11, 166, 192 Fn 41 A 564 / B 574 ......................... 103 Fn 42 A 573 / B 601 ................................... 54 A 582 f. / B 610 f. .................... 269 Fn 21 A 619 f. / B 647 f. .................... 269 Fn 21 A 628 f. / B 656 f. .................... 263 Fn 12 A 631 / B 659 ......................... 173 Fn 21 A 634 / B 662 .................................. 179 A 643 f. / B 671 f. .................... 269 Fn 21 A 663 f. / B 691 f. .................... 263 Fn 12 A 669 f. / B 697 f. .................... 263 Fn 12 A 713 / B 741 .................................. 198 A 741 ff. / B 769 ff. ........................... 162 A 766 f. / B 794 f. ............. 262, 164 Fn 11 A 769 ff. / B 797 ff. .......................... 162 A 797 / B 826 .................. 175, 179 Fn 27 A 800 / B 828 .................................. 172 A 801 / B 829 ..... 161 Fn 7, 172, 175, 179 Fn 27 A 802 / B 830 ... 161, 161 Fn 7, 165 Fn 13, 182 Fn 31, 235 Fn 20 A 803 / B 831 ................. 161 f., 172, 309 A 804 / B 832 ........... 162, 165 Fn 13, 172 A 807 f. / B 835 f. ............ 211 Fn 47 u. 48 A 811 / B 839 .................................. 179 A 848 f. / B 876 f. .................... 165 Fn 13

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Stellenregister

2. Kant, Gesammelte Schriften III, 172 ................................... 262 Fn 8 III, 555 .......................................... 167 III, 556 ................................. 179 Fn 26 IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV, IV,

101 ...................................... 43 Fn 8 260 f. ....................................... 206 276 ........................................... 285 289 .............................. 13 Fn 6, 146 296 f. ........................................ 235 301 Fn ...................................... 104 311 ........................................... 104 314 ........................................... 103 315 ........ 13 Fn 6, 146, 201 Fn 15, 233 316 Fn ...................................... 160 327 .................................. 164 Fn 11 332 .................................. 171 Fn 17 334 Fn ...................................... 207 337 ............................................ 42 338 .............................. 38, 158 Fn 4 339 f. ......................................... 38 343 ....... 38 Fn 3, 48 Fn 17, 182 Fn 31, 243, 245 IV, 344 ........ 13 Fn 6, 49, 146, 182 Fn 31, 243 IV, 345 ...... 13 Fn 6, 50 f., 141 Fn 18, 142, 146, 182 Fn 31, 190 IV, 346 .......... 13 Fn 6, 56, 142, 146, 244 IV, 347 .............................. 13 Fn 6, 146 IV, 354 ............... 13 Fn 6, 146, 201 Fn 15 IV, 391 .... 113, 175 Fn 22, 183 Fn 33, 185 Fn 35 IV, 393 f. ........................................ 115 IV, 397 ................................... 116 Fn 10 IV, 401 ........................................... 116 IV, 402 ..................... 115 Fn 7, 116 Fn 11 IV, 404 ..................... 115 Fn 7, 116 Fn 11 IV, 405 ........................................... 116 IV, 413 Fn ............................. 202 Fn 17 IV, 417 ........................................... 185 IV, 419 ..................... 115 Fn 7, 117 Fn 12 IV, 420 ............................. 112 Fn 5, 331

IV, IV, IV, IV,

425 ........................................... 217 429 ............................ 329, 334, 349 430 ............................ 323, 332, 334 431 .......................... 185 Fn 35, 323, 332 IV, 432 .................................. 185 Fn 35 IV, 433 ........................................... 321 IV, 434 f. ................................. 314 Fn 7 IV, 437 .................................... 115 Fn 7 IV, 439 .................................. 204 Fn 29 IV, 440 ........................................... 341 IV, 441 .................................. 116 f. 298 IV, 444 ................................. 117 f., 299 IV, 445 ..................................... 46, 297 IV, 446 .................... 130, 233, 235 Fn 19 IV, 447 ..... 19, 27, 46, 111–113, 163 Fn 9, 185, 185 Fn 35, 202, 235 Fn 19, 276 IV, 448 ................. 46, 49, 113, 163 Fn 9, 164 Fn 11, 166, 276, 292 IV, 449 ...................................... 46, 113 IV, 450 ........................................... 113 IV, 451 ............. 119, 163, 166, 173 Fn 20 IV, 452 ................. 14, 22, 114, 119, 163, 173 Fn 20, 185, 192, 292 IV, 453 ...... 112–114, 119, 121, 124 f., 141 Fn 18, 147, 182 Fn 31, 185, 295 f. IV, 454 ...... 112, 115, 124 Fn 13, 130, 141 Fn 18, 147, 165 Fn 13, 185, 185 Fn 35, 200 IV, 455 .... 16, 115, 118, 124 Fn 13, 130, 1 85, 204, 204 Fn 27, 231 Fn 13, 294 IV, 456 .... 131, 147, 164 Fn 11, 165 Fn 13, 172, 200, 212, 216, 240 IV, 457 ..... 114, 119–124, 165 Fn 13, 186, 190, 200 f., 203 Fn 24, 228 IV, 458 ......... 51, 121, 124–127, 131, 192, 200, 203 Fn 24 IV, 459 .. 13 Fn 6, 23, 146, 202, 202 Fn 20 IV, 460 ................... 202 Fn 20, 203 Fn 21 IV, 461 115, 119, 163, 164 Fn 11, 175, 182 Fn 31, 201 f.

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IV, IV, IV, IV, IV, IV,

463 471 491 542 543 544

........................................... 192 ........................... 271, 320 Fn 23 .................................. 183 Fn 33 .................................... 158 Fn 4 ...... 158 Fn 4, 232 Fn 14, 261 Fn 4 .................................. 218 Fn 58

V, 3 ................ 22, 24, 80, 135 Fn 4, 148 V, 4 .......... 22–24, 63, 80, 135 Fn 4, 174, 188 f., 299 V, 5 ... 23, 80, 136, 168 Fn 14, 180 Fn 29, 184 V, 6 ..... 16, 28, 136, 148 f., 151, 157, 168 Fn 14, 174, 175 Fn 22, 180 Fn 29 V, 7 ........................................ 175, 181 V, 8 ............................................... 167 V, 9 ...................................... 218 Fn 58 V, 15 ...................... 181, 183, 192 Fn 41 V, 16 .................................... 183 Fn 33 V, 22 f. ............................................ 62 V, 29 ............... 148 Fn 33, 64, 179, 213, 216 Fn 56 V, 30 ................................... 62, 73, 211 V, 31 ...................... 135 Fn 4, 148 f., 376 V, 32 ...................................... 135 Fn 4 V, 35 ............................................. 149 V, 42 ............................................. 149 V, 43 ........................ 149–151, 174, 214 V, 45 ............................. 183 Fn 33, 189 V, 47 .................................. 24, 64, 301 V, 48 ..................................... 182, 188 V, 49 ................... 182 f., 188, 192 Fn 41 V, 50 ...................................... 178, 188 V, 54 .................................... 168 Fn 14 V, 55 ............................................. 215 V, 56 ............................................. 188 V, 57 ............................. 188, 189 Fn 38 V, 65 ........ 196, 197 Fn 7, 203 Fn 23, 203 Fn 24, 212–215, 215 Fn 53, 215 Fn 55 V, 66 ...................................... 213, 215 V, 67 ff. .......................... 189, 212 Fn 49 V, 70 .............................................. 189 V, 87 .......................................... 329 f.

V, V, V, V,

V, V, V, V,

V, V, V, V,

V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V,

391

89 ............................................. 233 90 .................................... 175 Fn 22 91 .............................. 165 Fn 13, 178 94 ................. 23, 45, 78, 79 Fn 4, 81, 164 Fn 11, 174, 182, 182 Fn 31, 188, 248 Fn 51 95 ................. 59, 79 Fn 4, 81, 81 Fn 5 96 ....... 12, 31, 61, 81 Fn 5, 242 Fn 34, 279, 282, 288 f., 291, 302 96 ff. ................................. 182 Fn 31 97 ........ 12, 31, 79 Fn 4, 80 f., 81 Fn 5, 97, 141, 197 Fn 6, 219 Fn 60, 230 Fn 8, 248 Fn 51, 282, 288 f. 97 ff. ................................. 182 Fn 31 98 ........ 19, 82 Fn 9, 85, 97, 197 Fn 6, 219 Fn 60, 245 99 ....... 11, 66 f., 79, 82 Fn 9, 196, 219 Fn 60, 230 Fn 9 101 ...... 35, 45, 56, 82 Fn 9, 182 Fn 31, 190, 288 105 ............ 174, 182, 211 f., 213 Fn 50 106 .............................. 174, 180, 212 109 ff. ............................... 179 Fn 27 114 ............................... 80, 219, 354 121 ..................................... 196 Fn 5 122 .................................. 218 f., 376 123 .......................... 218 f., 219 Fn 60 129 ff. ............................... 179 Fn 27 132 ..................... 175, 178, 189 Fn 38 133 .................. 174 f., 178, 189 Fn 38 134 ff. ......................... 174, 178, 189 136 ................................... 168 Fn 14 141 ................................... 183 Fn 33 159 ............................................. 23 161 ................................... 165 Fn 13 162 ............................................ 188 168 f. ................................ 192 Fn 41 172 f. ......................................... 322 174 ............................................ 175 175 ................... 175 Fn 22, 192 Fn 41 181 ..................................... 261 Fn 4 183 .................................... 251 Fn 61

392

V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V, V,

Stellenregister

196 ............................ 141 Fn 18, 143 220 ............................................ 343 255 ................................... 141 Fn 18 344 f. ................................ 141 Fn 18 370 ............................................ 343 375 ............................................ 343 376 ..................................... 321, 343 422 ................... 141 Fn 18, 175 Fn 22 426 ............................................ 343 434 f. ......................................... 318 474 ................................... 212 Fn 49 482 ................................... 183 Fn 33 484 ............................................ 273 493 ff. ........................................ 161

VI, 21 f. ........................................... 86 VI, 23 ............................ 230 Fn 10, 275 VI, 24 ....................... 69, 230 Fn 10, 275 VI, 25 ........................... 87 f., 246 Fn 43 VI, 26 .................................. 321 f., 344 VI, 26 Fn .............................. 182 Fn 31 VI, 31 ............................... 87, 246, 255 VI, 32 ............................................. 87 VI, 35 ..................... 86 Fn 14, 235 Fn 19 VI, 36 f. ................................. 86, 106 f. VI, 38 .............................. 86 Fn 15, 107 VI, 41 ..................... 228, 245 Fn 42, 254 VI, 43 ....................................... 21, 254 VI, 44 ............................................. 16 VI, 47 ............................... 86, 228, 254 VI, 48 .................................... 228, 254 VI, 49 ............ 69, 78, 79 Fn 4, 227, 230, 252 VI, 49 Fn ............................... 17 f., 302 VI, 50 .................. 69, 78, 79 Fn 4, 227 f. VI, 50 Fn ...................................... 17 f. VI, 152–6 ................................ 315 Fn 9 VI, 213 ................... 88 Fn 18, 151 Fn 38 VI, 214 ..................................... 20, 315 VI, 218 ................................. 316 Fn 15 VI, 219 ................................... 315, 321 VI, 220 ................................... 316, 321 VI, 222 ................................... 53 Fn 22

VI, 223 ... 53 Fn 22, 182 Fn 31, 335 Fn 61, 341 VI, 224 .......................................... 326 VI, 225 .......................... 174, 192 Fn 41 VI, 226 .......................................... 188 VI, 236 ......... 31, 311 Fn 1, 312, 316, 321, 332, 339, 347, 353, 355 VI, 237 .... 151 Fn 38, 313, 330, 339, 347, 352 f., 355 VI, 238 .......................................... 337 VI, 246 .......................................... 339 VI, 250 f. ........................................ 316 VI, 273 .......................................... 354 VI, 277–280 ............................ 318, 337 VI, 305 .......................................... 332 VI, 307 .......................................... 332 VI, 312 .......................................... 339 VI, 315 .......................................... 350 VI, 324 .......................................... 263 VI, 331 ............ 318, 337, 341, 344 Fn 75 VI, 332 .......................................... 318 VI, 341 .......................................... 330 VI, 345 .............. 312, 314, 321, 344, 346 VI, 354 .......................................... 347 VI, 390 f. ........................................ 321 VI, 399–403 .......................... 203 Fn 21 VI, 400 ................................. 165 Fn 13 VI, 418 .......................... 201 Fn 15, 322 VI, 434 .......................................... 322 VI, 439 Fn ......................... 50 Fn 19, 51 VI, 441 ................................. 199 Fn 13 VI, 462 .......................................... 341 VI, 602 f. ........................................ 329 VI, 1322 ........................................ 328 VII, VII, VII, VII, VII, VII, VII,

79 .................................... 313 Fn 6 86 ................................... 322, 348 87 ........................................... 349 89 ............................. 312, 346, 352 92 f. ........................................ 352 330 ......................................... 352 415 ......................................... 263

Stellenregister

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

20 .......................................... 352 114 ........................................ 334 139 ............................... 179 Fn 27 207 ............................... 141 Fn 18 327–39 .......................... 189 Fn 38 333 f. .................................... 219 f. 335 ........................................ 219 345 ........................................ 347 366 ................................. 318, 322 379 ........................................ 323 386 ........................................ 347 416 ........................................ 188

IX, 134 .......................................... 159 X, X, X, X, X, X, X, X, X, X, X,

74 ............................................. 315 97 ............................................. 315 154 f. ......................................... 181 342 Fn 2 ...................................... 41 441 ............................ 167, 183 Fn 33 471 ................................... 179 Fn 26 484 ........................................... 184 486 ........................................... 167 490 ........................................... 191 514 ............................ 175 Fn 22, 191 515 ................................... 175 Fn 22

XI, 154 f. ........................................ 307 XII, 241 ................................ 178 Fn 24 XII, 370 ................................ 178 Fn 24 XVII, 96 ................................ 105 Fn 44 XVIII, XVIII, XVIII, XVIII, XVIII, XVIII, XVIII, XVIII, XVIII,

225 252 262 390 528 626 672 674 679

...................................... 263 ...................................... 106 ............................... 45 Fn 11 ...................................... 263 ...................................... 263 ........................................ 41 ....................................... 45 ............................... 45 Fn 11 .............................. 178, 285

393

XVIIII, 314 ...................................... 42 XIX, XIX, XIX, XIX, XIX, XIX, XIX, XIX, XIX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX, XX,

36 ................................. 173 Fn 21 41 f. ............................... 173 Fn 21 183 ............................... 173 Fn 20 265 ............................... 235 Fn 20 514 ......................................... 349 538 ......................... 341, 352–354. 603 ........................................ 347 606 ........................................ 346 612 ........................................ 347

200 ................................ 191 Fn 40 288 ................................ 163 Fn 10 290 ......................................... 226 293 ................................ 175 Fn 22 296 ................................ 192 Fn 41 307 f. ....................................... 151 311 ...................... 38 Fn 3, 151, 285 325 ................................ 164 Fn 12 326 ......................................... 226 335 ...................... 7, 9, 13, 24, 155 446 ......................................... 335 458 .................................. 312 Fn 3

XXI, XXI, XXI, XXI, XXI,

416 ........................................ 167 419 ............................... 192 Fn 41 420 ........................................ 178 421 f. ...................... 178, 180 Fn 29 462 .......................... 312 Fn 3, 329

XXIII, XXIII, XXIII, XXIII, XXIII, XXIII, XXIII, XXIII,

25 ........................................ 168 38 ............................... 176 Fn 23 41 ff. ..................... 157, 173, 179 341 ...................................... 353 359 ............................... 312 Fn 3 383 f. .................................... 323 390 f. ............................. 330, 355 462 ............................... 312 Fn 3

XXV, 10 ff. ...................................... 199 XXV, 630 f. ............................. 213 Fn 51 XXV, 859 ............................... 173 Fn 20

394

Stellenregister

XLII ............................................... 168 XXVII, 1 ........................................ 326 XXVII, 13 ..................................... 315 f. XXVII, 144 ..................................... 326 XXVII, 313 ............................ 165 Fn 13 XXVII, 418 ............................ 165 Fn 13 XXVII, 502 .......................... 9 Fn 1, 293 XXVII, 503 ................. 9 Fn 1, 182 Fn 31, 244 Fn 39, 288, 293 XXVII, 504 ........ 9 Fn 1, 182 Fn 31, 302 f. XXVII, 505 ..................... 288, 182 Fn 31 XXVII, 506 ..................................... 300 XXVII, 527 ..................................... 328 XXVII, 602 ..................... 328, 331 Fn 54

XXVII, 1319–21 ............... 321 Fn 24, 328 XXVII, 1336 ................................... 328 XXVII, 1431 f. ........................ 327 Fn 40 XXVIII, XXVIII, XXVIII, XXVIII, XXVIII, XXVIII, XXVIII, XXVIII,

265 ff. ................................ 199 269 ............ 165 Fn 13, 182 Fn 31 505 ............................. 286 Fn 7 564 ....................... 84 Fn 12, 89 571 f. ............................... 104 f. 572 ............................. 84 Fn 11 1105 ................... 105, 106 Fn 47 1283 f. ................................ 179

XXIX, 844 f. .................................... 105

Personenregister

Adickes, Erich 329 Fn 49 Allais, Lucy 47 Fn 15, 50 Fn 21, 283 Fn 4 Allison, Henry E. 13, 36 Fn 2, 40 Fn 6, 43 Fn 8, 46 Fn 13, 49 Fn 18, 59, 69, 132, 145, 197 Fn 8, 202 Fn 19, 203 Fn 24, 215 Fn 54, 230 Fn 10, 236, 248 Fn 53, 275 Fn 32, 283 Fn 4 Ameriks, Karl 137 Fn 9, 138 Fn 11, 145 Fn 26, 199 Fn 11, 203 Fn 24, 215 Fn 54 Aristoteles 249, 251–253, 314 f., 318 Fn 20, 327, 333 Fn 58 Augustinus 228 Fn 6 Ayer, Alfred J. 63 Baumgarten, Alexander G. 89, 105 Fn 44, 244 Fn 39 Beck, Lewis W. 14, 65, 68, 128, 236, 240 Beiser, Frederick C. 14 Fn 10, 284 Fn 6 Benhabib, Seyla 377 Fn 48 Bennett, Jonathan 61, 99–101, 244 Berkeley, George 284 Bernecker, Sven 199 Fn 12 Beyer, Christian 188 Fn 37 Bieri, Peter 10 Fn 2, 60 Blasche, Siegfried 366 Fn 13 Bojanowski, Jochen 5 f., 46 Fn 13, 48 Fn 16, 49 Fn 18, 78, 79 Fn 4, 138 Fn 12, 150 Fn 37, 225 Fn 2, 303 Fn 20 Bouterwek, Friedrich 335 Brandhorst, Mario 30 f. Brandom, Robert B. 372 Fn 33, 376 Fn 43, 377 Fn 46 u. 49 u. 50, 378 Fn 51 u. 52, 379 Fn 59 Brandt, Reinhard 31, 182 Fn 31, 203 Fn 22

Brauer, Susanne 32 Broad, Charlie D. 243, 250 Buchdahl, Gerd 68, 236 Carl, Wolfgang 198 Fn 10 Cartwright, Nancy 236, 237 Fn 25 Chisholm, Roderick 242, 246 Chotaš, Jiří 157 Fn 3 Clarke, Randolph 246 Colli, Giorgio 161 Fn 7 Cohen, Hermann 138 Fn 12 Crusius, Christian A. 208 Damschen, Gregor 112 Fn 4 Davidson, Donald 59, 65 f., 82, 232 f., 272 Fn 24 Dennett, Daniel 61, 273 Fn 25, 304 Fn 21 Descartes, René 43, 189 Fn 38, 190, 208, 218, 265 Dimpker, Henning 71 Dretske, Frederick 275 Dyck, Corey W. 43 Fn 8 Earman, John 266, 267 Fn 16, 269 f., 272 Ebbinghaus, Julius 317, 318 Fn 20, 319 Engelhardt, Kristina 38 Fn 4, 54 Fn 23 Ertl, Wolfgang 81 Fn 6, 82 Fn 8, 89 Fn 22, 92 Fn 23, 104 Fn 43, 136 Fn 6 Fichte, Johann Gottlieb 178 Fn 24, 216 Fn 56, 318 f., 321, 322 Fn 29 Forschner, Maximilian 203 Fn 22 Förster, Eckart 162 Fn 8 Forster, Georg 346 Fn 79

396

Personenregister

Frankfurt, Harry G. 60, 298 Fn 17, 304 Fn 21 Gäbe, Lüder 156, 167 Garve, Christian 41 George, Rolf 217 Fn 57 Gesang, Bernward 166, 186, 197 Fn 8, 205 Fn 31–3, 219 Fn 61 Goldman, Alvin 272 Fn 24 Gregor, Mary 127, 315 Fn 12, 323, 332 Fn 56 Guyer, Paul 68, 111 Fn 3, 145 Fn 24 u. 26, 161 Fn 7, 204 Fn 28, 271 Fn 22 Habermas, Jürgen 376 Fn 45, 378 Fn 52 Härle, Wilfried 340 Fn 71 Hahmann, Andree 27 Halbig, Christoph 362 Fn 4 Harper, William 262 Fn 6 Hegel, G. W. F. 32, 135, 151, 203, 279, 348 Fn 82, 361–380 Heidegger, Martin 136 Fn 7 u. 8 Heidemann, Dietmar H. 25, 165, 178 Fn 25 Henrich, Dieter 198 Fn 9, 202 Fn 19, 203 Fn 22 u. 26 Herding, Klaus 346 Fn 79 Hirsch, Philipp-Alexander 314 Fn 7, 319 Fn 22, 325, 327, 331 Fn 51, 337 Fn 66 Hobbes, Thomas 228 Fn 6, 285, 286 Fn 7, 320, 322 Fn 27, 338 f., 342, 356 Höffe, Otfried 316 Fn 13, 317 Fn 16, 318 Fn 20, 324, 331 Fn 51, 337 Fn 66 Hölderlin, Friedrich 279 Honderich, Ted 74 Honneth, Axel 364 Fn 8, 365 Fn 9, 368 Fn 20, 369 Fn 23 Horn, Christoph 59, 131, 202 Fn 18 Horstmann, Rolf-Peter 59, 156 f., 167 Hossenfelder, Malte 203 Fn 22 Hudson, Hud 59, 65, 82 Fn 7

Hufeland, Gottlieb 335 f. Hume, David 60 f., 63, 206, 224, 239, 242, 249, 262, 272 Fn 24, 285, 322 Fn 27 Hutter, Axel 202 Fn 17 Ilting, Karl-Heinz 361 Fn 3 Irwin, Terence 146 Fn 28 James, William 253 Johnson, W. E. 242 Fn 33 Ju, Gau-Jeng 319 Fn 21, 322 Fn 28, 324, 327 Fn 44 u. 44, 328 Fn 46, 329 Fn 47 Kane, Robert 11 Fn 4, 61 f. 287 Kaulbach, Friedrich 131 Keil, Geert 29, 67, 71, 274 Fn 26, 291 Fn 11 Kemp-Smith, Norman 161 Fn 7 Kersting, Wolfgang 323 f., 329 Fn 47, 331 Fn 53, 335 Fn 62, 338 Kiesewetter, J. G. K. C. 307 Klemme, Heiner 28 f., 159 Fn 5, 173 Fn 20, 179 Fn 26, 180 Fn 29, 274 Fn 27, 314 Fn 7, 353 Fn 88 Kitcher, Patricia 159 Fn 5, 189 Fn 38, 209 Fn 41, 215 Fn 53 Kraft, Bernd 71 Krüger, Paul 311 Fn 2 La Mettrie, Julien O. 288 Landau, Albert 197 Fn 8, 205 Fn 30–3 Langsam, Harold 46 Fn 12 u. 13, 47 Fn 14 Langton, Rae 138 Fn 11, 283 Fn 4 Lamb, David 373 Fn 38 Laplace, Pierre S. 226 f., 229 f., 237 f., 251, 268–270 Lau, Chong-Fuk 141 Fn 18 Lehmann, Gerhard 327, 353 Fn 89 Leibniz, Gottfried W. 43, 50 Fn 20, 172 Fn 18, 190, 228 Fn 6

Personenregister

Lewis, David 95 f. Lichtenberg, Georg C. 156 Locke, John 172 Fn 18, 210 Fn 45, 285, 286 Fn 7, 338, 350 f. Long, Arthur A. 251 Fn 63 Lovejoy, Arthur O. 236 Ludwig, Bernd 28, 136 Fn 5, 144 Fn 23, 148 Fn 32 u. 33, 149 Fn 35, 151 Fn 40, 197 Fn 8, 206 Fn 35, 293 Fn 12, 297 Fn 14, 316, 317 Fn 17, 324 Lukrez 348 Fn 81 Mackie, John L. 105, 226 McCarty, Richard 271 Fn 23, 272 Fn 24, 275 Fn 32, 276 Fn 33 McDowell, John 275 Meerbote, Ralf 59, 65 Meiklejohn, Alexander 161 Fn 7 Melnick, Arthur 155, 157 Fn 3 Metzger, Wilhelm 315 Fn 10 Mieth, Corinna 131 Molina, Luis de 89 Fn 22, 104 Fn 43 Mommsen, Theodor 311 Fn 2 Moore, George E. 228 Fn 6 Natorp, Paul 161 Naucke, Wolfgang 317 Fn 18 Neuhouser, Frederick 364 Fn 7, 365 Fn 10 u. 11, 366 Fn 11, 369 Fn 21, 371 Fn 29 Nietzsche, Friedrich 279 f. Oberer, Hariolf 313 Fn 5, 317 Fn 16, 325, 331 Fn 52, 332 Fn 57, 351 Fn 86 O’Connor, Timothy 246 O’Neill, Onora 215 Fn 53 Pacaut, Marcel 161 Fn 7 Pardey, Ulrich 249 Parfit, Derek 301 Fn 19 Pascher, Manfred 202 Fn 17 Paton, Herbert J. 131 Patten, Alan 364 Fn 6, 365 Fn 10 u. 11,

397

367 Fn 14 u. 16, 374 Fn 40, 376 Fn 44 Peirce, Charles S. 267 Pereboom, Derk 10 Fn 3, 63, 78 Fn 3, 82 Fn 8, 92 Fn 23, 97, 100, 104 Fn 43 Pluhar, Werner S. 161 Fn 7 Pinkard, Terry 372 Fn 31, 375 Fn 41, 377, 378 Fn 53 u. 54, 379 Fn 57 Pippin, Robert 330 Fn 50, 338 Fn 69, 365 Fn 9, 372 Fn 29, 377 Fn 47, 379 Fn 55 u. 56, 380 Fn 60 Pistorius, Hermann Andreas 28 f., 166– 168, 170 Fn 16, 177 f., 180 Fn 29, 182, 186, 191, 193 Fn 42, 197, 205 f., 219 Platon 218, 314 Plotin 219 Popper, Karl R. 237, 238 Fn 29 Prauss, Gerold 13, 131, 137 Fn 10, 145 Prinz, Jesse 272 Fn 24 Puech, Michel 50 Fn 20 Quante, Michael 368 Fn 19 Rang, Bernhard 233 Fn 17, 236 Fn 24, 248 Fn 53 Reich, Klaus 190 Fn 39, 317–319 Reichardt, Rolf 346 Fn 79 Reichenbach, Hans 267 Reimarus, Samuel 193 Fn 42 Renaut, Alain 161 Fn 7 Ritter, Joachim 348 Fn 82, 363 Fn 5, 372 Fn 30 Robinson, Hoke 145 Fn 26 Rössler, Beate 61 f. Rosefeldt, Tobias13 Fn 8, 26, 29, 72, 136 Fn 6, 137 Fn 9, 145 Fn 25, 157 Fn 3, 245, 246 Fn 44–5, 250 Fn 60, 251 Fn 62, 276 Fn 34, 283 Fn 4, 287 Fn 8 Ross, William D. 131 Roth, Gerhard 61 f., 74 Rousseau, Jean-Jacques 320, 342, 345, 351, 354

398

Personenregister

Russell, Bertrand 237 f.

Uleman, Jennifer K. 203 Fn 22 u. 25

Santozki, Ulrike 203 Fn 22 Scarano, Nico 131 Schaber, Peter 326 Schelling, Friedrich W. J. 279 Schiller, Friedrich 350 Schlick, Moritz 63 Schönecker, Dieter 27, 71, 201 Fn 16, 202 Fn 18, 203 Fn 24 Scholz, Gertrud 315 Fn 11, 317 Fn 16, 323, 326 Fn 39, 336 Fn 64, 338 f. Schopenhauer, Arthur 228 Fn 6, 319 Schütz, Christian G. 191 f. Schulz, Johann 60, 74, 166, 205 Fn 31 Sedgwick, Sally 131 Sedley, David N. 251 Fn 63 Sellars, Wilfrid 203 Fn 24, 275, 293 Sensen, Oliver 201 Fn 16, 314 Fn 7 Siep, Ludwig 365 Fn 9 u. 10, 371 Fn 28, 373 Fn 34, 379 Fn 58 Simmel, Georg 219 Fn 62 Singer, Wolf 74 Stegmüller, Wolfgang 231 Fn 12 Steigleder, Klaus 131, 203 Fn 22 Stolzenberg, Jürgen 196 Fn 4, 216 Fn 56 Strawson, Peter F. 10 Fn 3, 71, 136, 236, 284 Sturm, Thomas 199 Fn 12, 271 Fn 23

van Inwagen, Peter 9 Fn 1, 74, 303 Van Cleve, James 13 Fn 6, 146, 248 Fn 53, 283 Fn 4

Taylor, Charles 246, 367 Thöle, Bernhard 248 Fn 53 Timmermann, Jens 128, 131 Tremesaygues, André 161 Fn 7 Tugendhat, Ernst 373

Walker, Ralph 100–102 Wallace, R. Jay 304 Fn 21 Walter, Henrik 74 Watkins, Erik 29, 92–94, 96, 141 Fn 18, 242, 247–250 Weber, Martin 373 Fn 34 Westphal, Kenneth R. 29 f. 230 Fn 10, 232 Fn 14 Wildt, Andreas 364 Fn 7, 369 Fn 22, 375 Fn 42 Wieland, Christoph Martin 348 Fn 82 Willaschek, Marcus 88 Fn 17, 248 Fn 54 Williams, Bernard 298 Fn 17, 301 Fn 18, 365 Fn 9 Wittgenstein, Ludwig 29, 252 f. Wolff, Christian 190, 244, 314 f. Wolff, Michael 78 Fn 1, 157 Fn 3, 244 Fn 39, 274 Fn 27 Wolff, Robert 131 Wood, Allen 46 Fn 13, 47 Fn 14, 59, 65, 81 Fn 6, 97 Fn 31, 100 f., 103, 128, 141 Fn 18, 161 Fn 7, 201 Fn 16, 244, 280 Fn 2 Wunsch, Matthias 136 Fn 7 Xie, Simon Shengjian 81 Fn 5 Zimmermann, Stephan 196 Fn 4 Zobrist, Marc 159 Fn 5