Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits: Band I. 1954–1969 9783518583111

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Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits: Band I. 1954–1969
 9783518583111

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Michel Foucault Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits Band i

1954-1969 Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Dits et Ecrits I. 1954-1969 © Editions Gallimard 1994 © für Text 1: Desclée de Brouwer, 1954 © für Text 19: Librairie philosophique J. Vrin, 1964

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. Erste Auflage 2001 © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany 1 2 3 4 5 6

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Inhalt

Einleitung......................................................................... Zeittafel...........................................................................

9 15

1954

1. Einführung [in: Binswanger, L., Traum undExistenz]................... 1957

2. Die Psychologie von 1850bis 1950.............................. 3. Die wissenschaftliche Forschung und die Psychologie...................................................

107 175 196

1961

4. Vorwort [in: Foucault, M., Folie et Déraison. Histoire de la folie à Tage classique, Paris 1961]........ 223 5. Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft [Gespräch mit J.-P. Weber].......................... . . . . . . .' 234 6. Alexandre Koyré: Die astronomische Revolutiony Kopernikus, Kepler, BoreUi......................................... 238 1962

7. Einführung [in: Rousseau, J.-J., Rousseau juge de Jean-Jacques, Paris 1962]............................................. 8. Das »Nein« des Vaters........................................ 9. Der Zyklus der Frösche............................................. 10. Sagen und Sehen bei Raymond Roussel.................... 11. Ein so grausames Wissen...........................................

241 263 282 284 297

1963

12. 13. 14. 15. 16.

Wächter über die Nacht der Menschen...................... Vorrede zur Überschreitung.................................. .. . Die Sprache, unendlich............................................... Lauern auf den anbrechenden T a g ............................ Das Wasser und der Wahnsinn................

315 320 342 357 365

6

17. Distanz, Aspekt, Ursprung........................................ 18. Ein »nouveau roman« des Schreckens........................ 1964

19. Geschichtlicher Abriss............................................... 20. Nachwort [zu Flaubert, G., Die Versuchung des Heiligen Antonius] ..................................................... 21. Die Prosa des Aktaion............................................... 22. Diskussion über den Roman [mit G. Amy, J.-L. Baudry, M.-J. Durry, J. P. Faye, M. de Gandillac, C. Ollier, M. Pleynet, E. Sanguineti, P. Söllers, J. Thibaudeau und J. Tortel]........................ .............. 23. Diskussion über die Dichtung [mit J.-L. Baudry, M.-J. Durry, J. P. Faye, M. Pleynet, E. Sanguineti, P. Söllers und J. Tortel]............................................ 24. Die Sprache des Raumes............................................. 25. Der Wahnsinn, Abwesenheiteines Werkes................. 26. Warum gibt man das Werk von Raymond Roussel wieder heraus? Ein Vorläufer unserer modernen Literatur..................... 27. Die Wörter bluten..................................................... 28. J.-P. Richards Mallarmé............................................. 29. Die Verpflichtung zu schreiben..................................

Inhalt

370 387 391 397 434

449 513 533 539 551 555 559 572

1965

30. Philosophie und Psychologie [Gespräch mit A. Badiou]........................................... 573 31. Philosophie und Wahrheit [Gespräch mit A. Badiou, G. Canguilhem, D. Dreyfus, J. Hyppolite, P. Ricœur]............................................. 585 32. Die Hoffräulein......................................................... 603 1966 33. Die Prosa der Welt..................................................... 34. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge [Gespräch mit R. Bellour].......................................... 3j. Auf der Suche nach der verlorenen Gegenwart. . . . . . 36. Die Fabel hinter der Fabel........................... 37. Gespräch mit Madeleine Chapsal................

622 644 652 654 664

Inhalt

38. 39. 40. 41.

Das Denken des Außen............................................. Ist der Mensch tot? [Gespräch mit C. Bonnefoy] . . . . Eine Geschichte, die stumm geblieben is t.................. Michel Foucault und Gilles Deleuze möchten Nietzsche sein wahres Gesicht zurückgeben [Gespräch mit C. Jannoud]......................................... 42. Was ist ein Philosoph? [Gespräch mit M.-G. Foy] . . . 43. Er war ein Schwimmer zwischen zwei Worten [Gespräch mit C. Bonnefoy]...................................... 44. Botschaft oder Rauschen?.............................. 1967 45. Allgemeine Einführung [(zusammen mit G. Deleuze) zu F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe']......................................................... 46. Nietzsche, Freud, M arx............................................. 47. Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was »heute« ist [Gespräch mit G. Fellous]................................................................. 48. Uber verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [Gespräch mit R. Bellour]........................................... 49. Die Grammaire générale von Port-Royal.................. jo. Wer sind Sie, Professor Foucault? [Gespräch mit P. Caruso]............................................ j i . Worte und Bilder....................................................... 1968 52. Religiöse Abweichung und medizinisches Wissen . . . . 53. Dies ist keine Pfeife................................................... 54. Interview mit Michel Foucault [Gespräch mit I. Lindung]............................ j j. Foucault antwortet Sartre [Gespräch mit J. -P. Elkabbach]...................................................... j 6. Eine Richtigstellung von Michel Foucault.............. 57. Brief von Michel Foucault an Jacques Proust............ 58. Antwort auf eine Frage............................................... 59. Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d'épistémologie..............

7

670 697 703 708 712 714 718

723 727 743 750 769 770 794 798 812 831 845 853 855 859 887

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Inhalt

1969

60. Einleitung [in: Arnauld (Antoine) und Lancelot (Claude), Grammaire générale et raisonnée] .............. 61. Gespräch mit Michel Foucault [Gespräch mit P. Caruso].......................................... 62. Arzte, Richter und Hexer im17. Jahrhundert.............. 63. Maxime Defert........................................................... 64. Ariadne hat sich erhängt............................................. 65. Richtigstellung........................................................... 66. Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch [Gepräch mit J.-J. Brochier]...................................... 67. Jean Hyppolite. 1907-1968........................................ 68. Die Geburt einer Welt [Gespräch mit J.-M. Palmier] . . 69. Was ist ein Autor?..................................................... 70. Linguistik und Sozialwissenschaften.......................... 71. Titel und Arbeiten...............................................,. . .

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Einleitung Die vier Bände dieses Werkes versammeln - mit Ausnahme der Bücher - alle Schriften von Michel Foucault, die in Frankreich und im Ausland erschienen sind: Vorworte, Einführungen, Prä­ sentationen, Gespräche, Aufsätze, Vorträge. Sie erheben den Anspruch auf Vollständigkeit, soweit die Achtung vor Michel Foucaults testamentarischer Verfügung: »Keine posthume Veröf­ fentlichung«, dies zulässt. Die Achtung vor dieser Verfügung er­ streckt sich auch auf die letzten Texte von 1985 und 1988, die aufgrund von Verzögerungen bei der Drucklegung nicht mehr erschienen sind. Da die Texte so verschieden sind, konnten wir sie nicht einfach in der Form abdrucken, in der sie ursprünglich publiziert worden waren; vielmehr mussten wir die Umstände der Publikation klä­ ren, die zahlreichen Übersetzungen berücksichtigen, Satzfehler korrigieren und Zitate überprüfen. Obwohl wir bei der Heraus­ gabe dem Grundsatz größtmöglicher Zurückhaltung folgten, zeigte sich bald, dass an den Texten einige Arbeit zu leisten war. Dabei hielten wir uns an folgende Regeln: 1. Abgrenzung des Textkorpus

Nicht aufgenommen wurden - Texte in Werken, die Michel Foucault herausgegeben hat, zum Beispiel Einleitung und Anmerkungen in dem Gemeinschafts­ werk Moi, Pierre Rivière [dt. Der Fall Rivière], sofern diese Texte nicht in späteren Ausgaben weggelassen worden sind (wie das erste Vorwort zu Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969]); - die Vorlesungen am College de France, soweit sie nicht von Michel Foucault selbst zur Publikation freigegeben worden sind; die zu seinen Lebzeiten erschienenen Raubdrucke seiner Vorlesungen wurden gleichfalls nicht aufgenommen; - die posthum erschienenen, von Michel Foucault nicht durch­ gesehenen Interviews, desgleichen Artikel, die als Interview

Einleitung

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aufgebaut sind, aber in Wirklichkeit nur aus einer Reihe von Michel Foucault nicht autorisierter Aussagen bestehen; - die von Michel Foucault Unterzeichneten Petitionen, auch wenn die Annahme berechtigt ist, dass er sie im Wesentlichen selbst formuliert hat. 2. Anordnung der Texte

Getreu unserem Grundsatz größtmöglicher Zurückhaltung haben wir uns für eine streng chronologische Anordnung entschieden, das heißt, die Texte erscheinen in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung und nicht ihrer Entstehung (über deren genauen Zeit­ punkt wir in vielen Fällen nur Mutmaßungen hätten anstellen können). Die Texte sind also nicht nach Gattungen oder Themen­ bereichen geordnet. Für die Reihenfolge der Texte innerhalb des jeweiligen Erscheinungsjahrs mussten wir nach anderen Kriterien suchen, denn es ließ sich nicht immer klären, in welchem Monat des Jahres oder an welchem Tag des Monats der Text erschienen war. Wir haben uns entschlossen, jeweils mit den Texten zu be­ ginnen, die aus Büchern stammen (Vorworte zum Beispiel); da­ rauf folgen Texte, die in Zeitschriften erschienen sind, und zwar in der Reihenfolge zunehmender Genauigkeit des Erscheinungs­ datums, und den Abschluss bilden die Vorlesungen am Collège de France. Jeder Text ist mit einer Nummer versehen, die seinen Platz in dieser Folge präzise bestimmt. Manche Texte sind mehrfach erschienen, entweder als Über­ setzungen oder in teilweise überarbeiteten Neuausgaben, die Michel Foucault selbst besorgt hat. In der Regel erscheinen solche Texte unter dem Datum ihrer Erstveröffentlichung, wobei in An­ merkungen auf spätere Veränderungen hingewiesen wird; unter dem Datum der Wiederveröffentlichung erscheint dann jeweils ein Verweis auf die Stelle, an der die ursprüngliche Fassung zu finden ist. Wenn die beiden Publikationen jedoch sehr große Ab­ weichungen zeigen, haben wir beide Fassungen vollständig an der betreffenden Stelle in der chronologischen Folge abgedruckt.

Einleitung

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3. Vorstellung der Texte

Auf die Nummer des Textes und den Titel [der deutschen Über­ setzung] folgt der Originaltitel; daneben findet sich bei Bedarf in Klammern ein Hinweis auf die Art des Textes: Aufsatz, Präsenta­ tion, Vorwort, Vortrag, Gespräch, Diskussion, Intervention, Vor­ lesungszusammenfassung, Brief. Diese Nomenklatur stammt von den Herausgebern und soll dem Leser lediglich eine erste Orien­ tierung ermöglichen. Was »Aufsätze« sind, versteht sich von selbst; es handelt sich um Texte literarischen oder philosophischen Inhalts, die in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen sind. Als »Präsentation« bezeichnen wir Michel Foucaults Selbstdarstellung für das Collège de France und Texte in Ausstellungskatalogen; »Vorträge« sind Mitschriften von Vorlesungen oder Vorträgen an französischen oder ausländi­ schen Universitäten; »Gespräch« und »Diskussion« verwenden wir im üblichen Sinne; »Vorlesungszusammenfassungen« sind die im Jahrbuch des Collège de France erschienenen Beiträge; als »Inter­ ventionen« bezeichnen wir Texte zu aktuellen politischen Themen, und die wenigen »Briefe« beschränken sich auf solche, die zu Michel Foucaults Lebzeiten veröffentlicht worden sind. Die als »Interven­ tion« bezeichneten Texte sind mit einer Anmerkung über ihren ur­ sprünglichen Kontext versehen, weil sie sonst nur schwer verständ­ lich wären. Diese Anmerkungen stammen von Daniel Defert. Den Abschluss bilden jeweils die vollständigen bibliographi­ schen Angaben. 4. Regeln zur Behandlung der Texte

Bei bereits publizierten Texten hätte man eigentlich erwarten sol­ len, sich den Rückgriff auf das ursprüngliche, der Veröffentli­ chung zugrunde gelegte Manuskript ersparen zu können. Das er­ wies sich jedoch als unmöglich, da die zuerst in Französisch erschienenen Texte zahlreiche editorische Mängel aufwiesen, die korrigiert werden mussten, wie Michel Foucault es gewiss selbst gewünscht hätte, wenn die Texte zu seinen Lebzeiten wiederver­ öffentlicht worden wären.

Einleitung

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Bei Übersetzungen ergaben sich besondere Probleme. Unsere Grundregel lautete, dass der fremdsprachige Text die Bezugs­ grundlage bilden sollte. Wenn wir das französische Original nicht auffinden konnten, haben wir auf Übersetzungen zurückgegrif­ fen, da sie stets sehr sorgfältig gelesen worden sind (in diesem Fall erscheint der Name des französischen Übersetzers in den biblio­ graphischen Angaben); wenn wir dagegen ein französisches Ori­ ginal (ein Manuskript oder ein Tonband) auffinden konnten, ha­ ben wir es benutzt, und zwar nicht anstelle des fremdsprachigen Textes, sondern zur Überprüfung der Übersetzung. Wenn in den bibliographischen Angaben kein Übersetzer genannt ist, besitzen wir kein französisches Original, das mit der fremdsprachigen Fas­ sung genau übereinstimmt. Jacques Lagrange hat Michel Foucaults Zitate überprüft und die bibliographischen Angaben zusammengestellt. Dabei haben wir nicht in allen Fällen die von Michel Foucault benutzten Aus­ gaben zitiert, sondern solche, die heute möglichst gut zugänglich sind. Der Anmerkungsapparat besteht aus zwei Teilen; Anmerkun­ gen ohne Klammern stammen von Michel Foucault, die in eckige Klammern gesetzten Anmerkungen von den Herausgebern [be­ ziehungsweise, wenn eigens angemerkt, von den deutschen Über­ setzern]. 5. Kritischer Apparat

Zur besseren Erschließung dieser Textsammlung haben wir ihr drei Lesehilfen beigegeben: eine Zeittafel zu Beginn des ersten Bandes, ein Namen- und Sachregister sowie ein Literaturver­ zeichnis. Das Register bezieht sich auf sämtliche, in den vier Bän­ den versammelten Texte und steht daher erst am Ende des letzten Bandes. Ebenso wie dieses Gesamtregister findet sich auch das Literaturverzeichnis im vierten Band. Die Zeittafel stammt von Daniel Defert, das Register der fran­ zösischen Ausgabe von François Ewald - in Zusammenarbeit mit Frédéric Gros -, das Literaturverzeichnis von Jacques Lagrange.

Einleitung

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Wir sind uns sehr wohl der Verantwortung bewusst, die wir mit der Herausgabe dieser Sammlung übernommen haben. Diese Bän­ de versammeln Texte, die Michel Foucault zu seinen Lebzeiten nicht zusammengestellt hat. Wir wissen, dass wir bei aller editorischen Zurückhaltung dennoch unter dem Namen Michel Foucaults etwas bisher Unveröffentlichtes »geschaffen« haben. Wir haben nicht die Absicht, Michel Foucaults Werk zusammenzu­ stellen, denn er selbst hat das mit diesem Begriff Gemeinte stets abgelehnt; wir wollen lediglich den Zugang zu Texten erleichtern, die sich vor allem deshalb nur schwer auffinden lassen, weil sie an so verschiedenen Orten erschienen sind. Die Herausgeber Daniel Defert François Ewald Jacques Lagrange

Übersetzt von Michael Bischoff

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Zeittafel »Was also ist dieser vergängliche Augenblick, von dem wir unsere Identi­ tät gar nicht zu trennen vermögen und der sie mit sich fortnehmen wird?« Michel Foucault (siehe unten Nr. 266)

1926 Am 15. Oktober wird Paul-Michel Foucault in der Rue de la Visitation 10, später Rue Arthur-Ranc, geboren; sein Vater ist Paul-André Foucault, Arzt, Träger des Croix de Guerre, geboren am 23. Juli 1893 in Fontainebleau; seine Mutter Anne-Marie Malapert, geboren am 28. November 1900 in Poitiers. Paul-André Foucault war, wie der Virologe Luc Montagnier berichtet, Chir­ urg am PHotel-Dieu in Poitiers und ein ausgezeichneter Anatom, der seine Ausbildung an der École de médecine in Poitiers erhielt. Sein Vater Paul Foucault war Arzt in Fontainebleau gewesen und dessen Vater seinerseits Armenarzt in Nanterre, wo heute noch eine Straße nach ihm benannt ist und an sein Wirken erinnert. Anne Malapert, Tochter eines Chirurgen - ihr Vater lehrte an der École de médecine in Poitiers -, bedauerte stets, zu einer Zeit geboren zu sein, als es für Frauen noch nicht schicklich war, Medizin zu studieren. Paul-André Foucault und Anne Malapert heirateten 1924, im folgenden Jahr kam ihre Tochter Francine zur Welt. Die Familie des Vaters war von katholischer Frömmigkeit, die der Mutter eher von einem gemäßigten Voltairianismus ge­ prägt. Die Schwester des Vaters arbeitete als Missionarin in China, der Bruder der Mutter war Apotheker und lebte in Peru. 1930

Einschulung in die erste Klasse des Lycée Henri-IV in Poitiers; aufgrund einer Sondergenehmigung kann er vorzeitig zusammen mit seiner älteren Schwester eingeschult werden. Von 1932 bis 1936 absolviert er dort die Grundschulklassen. 1933

Am 1. Januar wird sein Bruder Denys geboren, der später Chir­ urg werden wird.

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Zeittafel

1934

Am 25. Juli wird der österreichische Bundeskanzler Dollfuß von österreichischen Nazis ermordet. »Ich glaube, damals habe ich zum erstenmal große Todesangst empfunden« (siehe unten Nr. 336). 1936

Ein englisches Kindermädchen trifft ein; sie soll »mit den Kin­ dern sprechen« und wird bis zum Ende des Krieges bleiben. PaulMichel kommt in die sechste Klasse des Lycée Henri-IV und be­ gegnet dort den ersten Flüchtlingskindern aus Spanien. 1937

Paul-Michel überrascht seinen Vater, der ihm eine Zukunft als Chirurg in Aussicht gestellt hat, mit dem Wunsch, Geschichtsleh­ rer zu werden. »Ein für die Familie inakzeptabler Beruf«, es sei denn, er brächte es zum Professor an der Sorbonne wie sein Vetter Plattard, ein angesehener Rabelais-Spezialist. Das Gesundheitsministerium ersetzt die »schöne«, von Esquirol eingeführte Bezeichnung »Asyl« durch die Bezeichnung »psych­ iatrisches Krankenhaus«. 1940

Mai - Die Foucaults schicken ihre Kinder zu deren Großmut­ ter Raynaud-Malapert auf das elterliche Anwesen in Vendeuvredu-Poitou, während die deutsche Wehrmacht das Land besetzt. Juni - Die Großeltern aus Paris schließen sich dem »Exodus« an und finden Aufnahme im Haus der Foucaults in Poitiers. Am 16. Juni ersucht Pétain um einen Waffenstillstand und ersetzt die Republik durch eine kollaborationsbereite »neue Ordnung«. Das Haus der Familie in Vendeuvre wird teilweise von deutschen Of­ fizieren besetzt, bis die russische Front eröffnet wird. Oktober - Da zahlreiche Lehrer eingezogen worden sind und viele Schüler aus Paris in Poitiers Zuflucht gesucht haben, gerät das schulische Leben am Lycée Henri-IV in Unordnung. PaulMichel wechselt zum Collège Saint-Stanislas, das von den Brü­ dern der Ecoles chrétiennes geleitet wird.

Zeittafel

17

1942

Juni - Mit einer Sondergenehmigung kann Paul-Michel vorzei­ tig den ersten Teil des klassischen französischen Abiturs ablegen. Herbst - Sein Philosophielehrer am Collège Saint-Stanislas wird wegen Beteiligung am Widerstand deportiert. Seine Mutter veranlasst, dass Paul-Michel Privatunterricht bei dem Philoso­ phiestudenten Louis Girard erhält, der später in Poitiers durch seine Erläuterungen zum Kommunistischen Manifest bekannt wird; zugleich sorgt sie dafür, dass Dom Pierro, ein Benediktiner aus dem Kloster Ligugé, den Philosophieunterricht am Collège übernimmt. 1943

Oktober - Am Lycée Henri-IV in Poitiers bereitet sich PaulMichel auf die Aufnahmeprüfung für die Ecole normale supérieu­ re vor. 1944

Juni - Kurz vor der Befreiung wird Poitiers von den Alliierten bombardiert. I94S

Oktober - Da er die Aufnahmeprüfung für die Ecole normale nicht bestanden hat, wechselt er in die Vorbereitungsklasse am Lycée Henri-IV in Paris. Jean Hyppolite, Übersetzer der Hegelschen Philosophie des Gei­ stes (Paris 1939-1943), lehrt dort Philosophie. Die guten Noten, mit denen Hyppolite seine Hausarbeiten bedenkt, legen die Grundlage für Foucaults philosophische Reputation. Dezember - Heirat seiner Schwester Francine, zu der er stets ein enges Verhältnis hatte. 1946 März - Am 5. März erklärt Winston Churchill am Westminster College in Fulton (Wisconsin): »Ein eiserner Vorhang ist über dem Kontinent niedergegangen.« Juli - Paul-Michel Foucault erhält die Zulassung zur Ecole normale supérieure. Sommer - Weil er sich ärgert, bei der mündlichen Prüfung ein

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Zeittafel

Zitat falsch ausgesprochen zu haben, macht er sich ernsthaft da­ ran, Deutsch zu lernen. Georges Bataille gründet die Zeitschrift Critique. »Für einen Zwanzigjährigen konnte es nach dem Krieg nur darum gehen, eine Gesellschaft, die sich mit den Nazis arrangiert hatte, radikal zu verändern«, sagt er später (siehe unten Nr. 281). An der Ecole normale schließt Michel Foucault eine dauerhafte Freundschaft mit mehreren Kommilitonen, darunter Maurice Pinguet, Robert Mauzi, Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron, Jean-Pierre Serre, Paul Veyne usw. Es war eine unglückliche Zeit für ihn, weil er Schwierigkeiten mit seiner äußeren Erscheinung und seiner sexuellen Neigung hatte. 1947

Maurice Merleau-Ponty, Professor in Lyon, wird Repetitor für Psychologie an der Ecole normale, das heißt, er ist verantwortlich für die Examensvorbereitung der Studenten. Seine Vorlesung über die Einheit von Seele und Körper bei Malebranche, Maine de Biran und Bergson veranlasst Foucault zu seinem ersten Disser­ tationsprojekt, einer Arbeit über die Entstehung der Psychologie bei den Nachcartesianern. Die Moskauer Konferenz über Deutschland scheitert, der Kalte Krieg beginnt. 1948

Foucault erwirbt an der Sorbonne die Licence in Philosophie [akademischer Grad, dem Magister artium vergleichbar, A. d. Ü.]. Oktober - Louis Althusser, der 1945 nach fünf Jahren Zwangs­ arbeit in Deutschland an die Ecole normale zurückgekehrt ist, wird Repetitor für Philosophie und tritt im Zusammenhang mit dem Stockholmer Aufruf in die kommunistische Partei ein. In seiner Autobiographie {Uavenir dure longtemps, Paris 1992, [dt. Die Zukunft hat Zeit, Frankfurt am Main 1993]) schreibt er: »Das philosophische Leben an der Ecole normale war nicht sonderlich intensiv; man gab sich gerne den Anschein, Sartre zu verachten.« Dezember - Die Lyssenko-Affäre erreicht ihren Höhepunkt. Die Beziehung zwischen dem Gesagten und den Bedingungen seiner externen Determinierung beschäftigt seither Philosophen und Wissenschaftler. Bürgerliche und proletarische Wissenschaft

Zeittafel

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stoßen innerhalb der École normale aufeinander; das gilt insbe­ sondere für die beiden marxistischen Husserlianer Jean-Toussaint Desanti und Tran Duc Thao, einen vietnamesischen Philosophen und Patrioten, »die beiden Hoffnungen unserer Generation«, wie Althusser einmal gesagt hat. Michel Foucault unternimmt einen Selbstmordversuch (davon be­ richtet Maurice Pinguet in: Le Débat 41, September-November 1986). 1949

Maurice Merleau-Ponty wird Professor für Psychologie an der Sorbonne und hält seine berühmte Vorlesung »Science de l'homme et phénoménologie« [Die Wissenschaft vom Menschen und die Phänomenologie] und macht die Studenten der École normale mit Ferdinand de Saussure bekannt; damit weckt er bei Foucault eine Vorliebe für »formales Denken«, wie er es zur Abgrenzung gegenüber dem Strukturalismus genannt hat. »Wir waren fasziniert von ihm«, sagte Foucault (nach einem Bericht von Claude Mauriac in: Le Temps immobile, Paris 1976, Bd. III, S. 492). Februar ~ Da er sich mit Sehtests auskennt, lässt er sich wegen unzureichender Sehstärke vom Militärdienst freistellen. Er erwirbt die 1947 eingeführte Licence in Psychologie. Phasen intensiver Arbeit wechseln mit Zeiten heftiger Angst; da er be­ fürchtet, dem Alkohol zu verfallen, beginnt er eine Psychothera­ pie. »Möglicherweise zeigt ihm die Freud-Lektüre, dass es durch­ aus gut und gesund ist, vor der Wahrheit des Begehrens nicht die Augen zu verschließen« (Maurice Pinguet, Le Débat 41). Unter Anleitung von Jean Hyppolite schreibt er für das Diplôme d'étu­ des supérieures eine Arbeit über Hegel. I9S°

Foucault wird zum Anhänger der kommunistischen Partei. Später erklärt er, der Krieg in Indochina habe ihn zu dieser Ent­ scheidung bewogen. Doch in seinen Interviews sagt er nie etwas darüber, wenn er auf diese Zeit zu sprechen kommt. Im Februar und März 1950 waren die kommunistischen Studenten der École normale tatsächlich in beträchtlichem Maße wegen des Indochi­ nakriegs mobilisiert. Den Druck, den die P.C.F. auf das Privat­

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Zeittafel

leben von Althusser ausübt, um ihn zum Bruch mit seiner späte­ ren Frau Hélène Legotien zu bewegen, empfindet Foucault als unerträglich. Juni - Am 17. Juni begeht er einen weiteren Selbstmordversuch. In seiner Althusser-Biographie (Paris 1992) berichtet Yann Moulier-Boutang für die Zeit von 1952 bis 1955 von insgesamt elf Suizidversuchen bei Studenten der Ecole normale innerhalb von achtzehn Monaten. Obwohl Foucault noch zögert, eine Analyse zu beginnen, ist er eine Zeitlang bei einem Dr. Gallot in Behand­ lung. Am 23. Juni schreibt er einem Freund, der sich beunruhigt gezeigt hat: »Lass mich eine Weile schweigen... Ich muss wieder lernen, nach vorn zu schauen, ich muss die Nacht zerstreuen, mit der ich mich am hellichten Tag umgebe.« Am 24. Juni erfährt er, dass er eine eigentlich versprochene Assistentenstelle an der Sor­ bonne nicht erhalten wird, wegen seines politischen Engagements, wie er glaubt. Der Musiker Gilbert Humbert, Schüler von Messiaen und engster Gewährsmann für die Zeit von 1950 bis 1952, erinnert sich an einen jungen, unruhigen Mann, der Vigny, Musset, Eluard und Nerval auswendig rezitierte und Saint-John Perse, Husserl, Jaspers und Bergson verschlang. Er berichtet auch von der Ver­ suchung, »Grenzerfahrungen« nach Art von Bataille zu machen. Mit Blick auf dieselbe Zeit schreibt Maurice Pinguet: »Mein erstes Bild von Michel Foucault: ein fröhlicher junger Mann mit lebhaf­ ter Gestik und klaren, wachsamen Augen hinter randlosen Bril­ lengläsern; im Vorübergehen hörte ich Worte wie Dasein und das Sein zum Tode; einer meiner Kommilitonen erklärte, Foucault sei intelligent - wie alle Homosexuellen. Offenbar kannte er nicht viele« (Le Débat 41). Juli - Er scheitert bei der Agrégation [Zulassungsprüfung für das Lehramt an Höheren Schulen, A. d. ÜJ; seine Kommilitonen sind beunruhigt, weil sie glauben, es handle sich um eine Hexen­ jagd auf Kommunisten. Dadurch findet Foucault größere Nähe zu Althusser. Den Sommer verbringt er mit dem Studium Plotins. Mit G. Humbert diskutiert er die damals in der Sowjetunion von Andrei Schdanow entwickelte und in der Nouvelle Critique oder, etwas gemäßigter, in Aragons Les Lettres françaises ausführlich vorgestellte These, wonach alle in der abendländischen Musik, Philosophie, Literatur oder Kunst eingesetzten Techniken auf

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einem bürgerlichen Formalismus basieren. Foucault selbst liebt Mozart und Duke Ellington. August - Studienreise nach Göttingen. Oktober - Die Nouvelle Critique greift Hyppolite an und ver­ urteilt die Rückkehr zu Hegel als letzte Zuckung des akademi­ schen Revisionismus. Kurze Entziehungskur. »Ich war ein wenig fort«, schreibt er. Mit seinem Vater spricht er über die Möglichkeit einer stationären Aufnahme im Klinikum Sainte-Anne. Aufgrund von eigenen Er­ fahrungen 1947 rät Althusser ihm ab. Foucault bemüht sich, »ein guter Kommunist« zu sein; er schreibt in kommunistischen Stu­ dentenzeitschriften und verkauft V Humanité. 19JI Er denkt daran, Frankreich nach dem Abschluss seines Stu­ diums zu verlassen und möglicherweise nach Dänemark zu gehen. Er liest Kafka und Kierkegaard, den Jean Wahl an der Sorbonne erläutert, wie er auch viele in die deutsche Philosophie einführt, in Heidegger, Husserl und Nietzsche. Er spielt mit dem Gedanken, aus der KP auszutreten. Juni - Am 1. Juni sucht er Georges Duhamel auf, um sich für eine Stelle bei der Fondation Thiers zu bewerben, die einzige Möglichkeit für ihn, als Forscher zu arbeiten, ohne eine zweijäh­ rige Lehrtätigkeit vorweisen zu müssen. Am 14. Juni lernt er bei einem Aufenthalt in der Abtei von Royaumont Pierre Boulez kennen, der ihm sagt, jeder Komponist sei von einem Schriftsteller beeinflusst, er selbst von Joyce. August - Er wird zur Agrégation in Philosophie zugelassen. Nach einem Zufallsverfahren erhält er als Unterrichtsgegenstand das von Georges Canguilhem vorgeschlagene Thema »Sexualität«. Er vertraut Gilbert Humbert an, dass er seit drei Monaten kein Kommunist mehr ist. Oktober - Er wird Repetitor für Psychologie an der Ecole normale; seine montags stattfindenden Vorlesungen sind schon bald rege besucht; im Laufe der Jahre beteiligen sich Paul Veyne, Jacques Derrida, Jean-Claude Passeron, Gérard Genette und Maurice Pinguet an den Vorlesungen. Er beteiligt sich als Psychologe an der Arbeit des elektroenzephalographischen Labors des Dr. Verdeaux und seiner Frau Jacque-

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line, die während des Krieges bei Professor Jean Delay am psych­ iatrischen Krankenhaus Saint-Anne arbeitete und dadurch in Poi­ tiers Bekanntheit erlangt hat. Als Stipendiat der Fondation Thiers beginnt er seine Disserta­ tion über die Nachcartesianer und die Geburt der Psychologie. Malebranche und Maine de Biran begeistern ihn. Er verkehrt mit Ignace Meyerson, der das Journal de psychologie normale et pa­ thologique herausgibt. Dr. Morichau-Beauchant, der erste Franzose, der Mitglied der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung wurde (Brief an Freud vom 3. Dezember 1910), Autor des ersten in Frankreich publizierten psychoanalytischen Aufsatzes (»Le rapport affectif dans la cure des psycho-névroses« [Die affektive Beziehung in der Behandlung von psychischen Neurosen], Gazette des hôpi­ taux^ 14. November 1911) und Freund der Familie Foucault in Poitiers, überlässt ihm seine Sammlung mit den ersten psycho­ analytischen Zeitschriften. Er liest Heidegger. Auf der Rückseite von Flugblättern der kom­ munistischen Zelle an der Ecole normale beginnt er Notizen zu Heidegger und Husserl zu sammeln und systematisch nach Art eines Vorlesungsentwurfs zu ordnen. 1952

Er arbeitet als Psychologe für Professor Delay, bei dem Henri Laborit das erste Neuroleptikum testen lässt - der Beginn einer Revolution in der Psychiatrie. Mai - Beginn einer intensiven Beziehung mit dem Komponi­ sten Jean Barraqué (1928-1973). »Eine merkwürdige Persönlich­ keit dieser Musiker, den wir ohne Zögern als die bedeutendste Gestalt der zeitgenössischen Musik seit Debussy bezeichnen [...], eine geradezu delirierende Freiheit unter der denkbar strengsten Kontrolle der Feder«, schreibt André Hodeir über ihn (»La musique occidentale post-wébérienne«, Esprit, Sonder­ nummer Januar i960). »Anbetungswürdig, hässlich wie die Nacht, auf irre Weise spirituell, und seine Bildung als böser Junge grenzt ans Enzyklopädische. Völlig fassungslos fühle ich mich von ihm eingeladen, eine Welt zu erkunden, die ich bisher noch nicht kannte und in der ich mein Leiden spazierenführen werde«, schreibt Foucault an einen Freund, der berichtet, dass der Mann,

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in dem die junge Musik den einzigen möglichen Rivalen von Boulez erblickte, bei dem jungen Philosophen eine »Mutation« bewirkte, die ihn von seinen Qualen befreite. Juni - Er erwirbt das Diplom in Psychopathologie am Institut de psychologie in Paris. Oktober - Er verlässt die Fondation Thiers und wird Assistent für Psychologie an der Faculté des lettres in Lille, wo (nach Aus­ sage von G. Canguilhem) A. Ombredane, der Rorschach über­ setzt hat, jemanden sucht, der sich in experimenteller Psychologie auskennt. Mit Althussers Zustimmung verlässt er die kommuni­ stische Partei. An der Affäre der »weißen Kittel«, die den Anti­ semitismus in der Sowjetunion deutlich macht, wo angeblich »zionistische« Arzte der Verschwörung gegen Stalin bezichtigt werden, kristallisiert sich das Unbehagen, das Foucault in der P.C.F empfindet. Die Tatsache, dass eine von der Partei in Auf­ trag gegebene Studie über Descartes nur verstümmelt publiziert wird, lässt ihn endgültig verzweifeln. Zusammen mit Maurice Pinguet beschäftigt er sich mit dem Surrealismus. 1953

Januar - Foucault besucht eine Vorstellung von Warten auf Godot, die er als Bruch erlebt. »Danach habe ich Blanchot, Ba­ taille ... gelesen« (siehe unten Nr. 343). Foucault vermittelt Barraqué seine gerade entdeckte Begeisterung für Nietzsche und dieser ihm seine Begeisterung für die serielle Musik, für Beethoven und für Wein. Er legt dem Zirkel jder kommunistischen Studenten an der Ecole normale einen von Pawlow inspirierten und von Alt­ husser initiierten Essay über materialistische Psychopathologie vor. Er besucht Jacques Lacans Seminar in der Klinik Sainte-Anne. März - Am 5. März stirbt Stalin. Barraqué überarbeitet die 1950 nach Texten von Rimbaud kom­ ponierten Séquences; er ersetzt die Rimbaud-Texte durch Texte aus dem Ecce homo und aus Nietzsche-Gedichten. Foucaults Begeisterung für Saint-John Perse wird endgültig von der Begeisterung für Char verdrängt. Er beschäftigt sich intensiv mit der deutschen Psychiatrie der Zwischenkriegszeit, sammelt Notizen und Übersetzungen dazu, desgleichen zur Theologie (Barth) und zur Anthropologie (Haeberlin). Er übersetzt, ohne

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sie zu veröffentlichen, Fallgeschichten und Aufsätze von Binswanger (1881-1966), darunter »Wahnsinn als lebensgeschicht­ liches Phänomen und die Geisteskrankheit«. Juni - Daniel Lagache, Juliette Favez-Boutonnier und Fran­ çoise Dolto gründen die Société française de psychanalyse, der auch Lacan beitritt. Jacqueline Verdeaux und Foucault besuchen in der Schweiz Lud­ wig Binswanger, der die Heideggersche Daseinsanalyse in die psychoanalytische und psychiatrische Praxis eingeführt hat. Sie übersetzen seine Einführung in die existentielle Psychiatrie Traum und Existenz. Bei dem Psychiater Robert Kuhn erleben sie in der psychiatrischen Anstalt in Münsterlingen einen »Karne­ val der Irren«. Foucault bearbeitet die Interpretation der Rorschach-Tafeln auf der Grundlage der Vorlesungen von Kuhn, die von J. Verdeaux übersetzt und von Bachelard mit einem Vorwort versehen wer­ den. Er studiert die Husserl-Manuskripte, die Merleau-Ponty und Tran Duc Thao von Van Breda erhalten haben. Er erwirbt das Diplom in experimenteller Psychologie am Institut de psychologie. Juli - Er trinke »viel«, sei »nicht mehr unglücklich, aber ein­ samer als früher«, er habe Althussers Stelle als Repetitor für Philo­ sophie an der Ecole normale übernommen und daher keine Zeit mehr, für ihn zu arbeiten, schreibt er einem Freund. Er schreibt einen langen Aufsatz über die Entstehung der wissenschaftlichen Psychologie (siehe unten Nr. 2) und denkt daran, eine Lebenswei­ se aufzugeben, an der ihn nur Barraqués Intelligenz festhalten lässt. Roland Barthes veröffentlicht Le Degre' zéro de Vécriture [dt. Am Nullpunkt der Literatur, Hamburg 1959]. August - Reise nach Italien zusammen mit Maurice Pinguet, der berichtet: »Hegel, Marx, Heidegger, Freud - das waren 1953 seine Bezugsachsen, als er Nietzsche begegnete [...]. Ich sehe Michel noch am Strand von Civitavecchia die Unzeitgemäßen Betrach­ tungen lesen. Aber schon 1953 zeichneten sich die Grundlinien eines Gesamtprojekts ab« (Le Débat 41). Foucault hat oft gesagt, dass er über Bataille zu Nietzsche und über Blanchot zu Bataille gelangt sei. Später wird er sagen, er habe ihn durch Heidegger entdeckt. In einer unveröffentlichten Passa­ ge der 1978 mit Trombadori geführten Gespräche (siehe unten

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Nr. 281) bekennt Foucault: »Die Wende brachte die Lektüre eines Aufsatzes über Bataille, den Sartre vor dem Krieg geschrieben hatte und den ich nach dem Krieg las; er war so sehr von Unver­ ständnis, Ungerechtigkeit und Arroganz, von Gehässigkeit und Aggressivität geprägt, dass ich von da an unwiderruflich für Ba­ taille und gegen Sartre war.« September - Lacan hält in Rom seinen berühmten Vortrag über »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse« [dt. »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: Jacques Lacan, Schriften /, Frankfurt am Main 1975, S. 71-169]. Gilles Deleuze veröffentlicht sein erstes Buch Empirisme et Subjectivité [dt. David Hume, Frankfurt am Main 1997], das er Jean Hyppolite widmet. Oktober- Foucault hält in Lille eine Vorlesung über »Connais­ sance de l’homme et réflexion transcendantale« [Die Erkenntnis des Menschen und die transzendentale Reflexion] und gibt einige Stunden zu Nietzsche. Er begeistert sich vor allem für den Nietz­ sche der 1880er Jahre. In seinem Seminar an der Ecole normale erläutert er Freud und Kants anthropologische Schriften. 1954

Januar- In Paris wird die erste sogenannte »Homophilen-Vereinigung« Arcadie gegründet, die sich in ihren internen Vorgän­ gen an den Freimaurern orientiert (siehe unten Nr. 287). April - Bei den Presses Universitaires de France erscheint seine Maladie mentale et Personnalité [Erster Teil dt. Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt am Main 1968 (siehe unten 1962)], ein kleines Buch, das Althusser für eine Reihe in Auftrag gegeben hat, die sich hauptsächlich an Studenten richtet. »Wahre Psychologie«, schreibt Foucault darin zum Schluss, müsse »sich wie alle Hu­ manwissenschaften das Ziel setzen, den Menschen von Seiner Ent­ fremdung zu befreien«. Dort befreit Pinel noch die gefesselten Insassen von Bicêtre. Binswangers existentielle Psychiatrie wird zwar kommentiert, doch der zweite Teil ist eine apologetische Darstellung der Pawlowschen Reflexlehre. In Titre et Travaux (siehe unten Nr. 71) gibt Foucault als Entstehungsdatum immer 1953 an. Das Manuskript dürfte jedoch schon im Winter 1952/ 1953 beim Verlag gewesen sein. Fast gleichzeitig erscheint bei Desclée de Brouwer seine lange Einleitung zur französischen

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Übersetzung von Binswangers Traum und Existenz in der phä­ nomenologisch ausgerichteten Reihe »Textes et études anthropo­ logiques« (siehe unten Nr. i). Er ist immer noch Psychologieassistent in Lille und Repetitor an der École normale. Er hält eine Vorlesung über philosophische Anthropologie: Stirner, Feuerbach. Jacques Lagrange, der ihn da­ bei an der École normale unterstützt, erinnert sich, dass Foucault damals auch der Entwicklungspsychologie (Janet, Piaget, Piéron, Freud) große Bedeutung beimaß. Er hat Angst, Alkoholiker zu werden. Er möchte mit Jean Barraqué brechen, Frankreich verlassen und Abstand zu seinem bishe­ rigen Leben gewinnen, wie er M. Clavel später anvertraut (Ce que je crois, Paris 1975). Auf der Rückseite des Typoskripts für Maladie mentale et Per­ sonnalité findet sich ein Text über Nietzsche, der niemals publi­ ziert worden ist: »Es gibt drei verwandte Erfahrungen: Traum, Rausch und Wahnsinn.« Später fügt er dann hinzu: »Alle in Die Geburt der Tragödie definierten apollinischen Eigenschaften bil­ den den hellen, freien Raum des philosophischen Daseins.« 1982 sagt er Gérard Raulet, zu Nietzsche habe er 1953 im Blick auf eine Geschichte der Vernunft gefunden (siehe unten Nr. 330). Sein Freund, der Numismatiker Raoul Curiel, macht den Religions­ historiker Georges Dumézil, der einen Französischlektor für Schweden sucht, auf Foucault aufmerksam. Juli - Am 20. Juli findet der Indochinakrieg mit den Genfer Verträgen sein Ende. Oktober - Er beginnt eine Vorlesung über »Phénoménologie et psychologie« [Phänomenologie und Psychologie]. Am 15. Oktober weist Dumézil ihn brieflich auf eine freie Stel­ le als Lektor und Leiter des Maison de France in Uppsala hin, die er selbst zwanzig Jahre zuvor bekleidet hat: »Der Posten gehört zu den Topjobs im Bereich der kulturellen Beziehungen und bie­ tet im Allgemeinen die besten Zukunftsaussichten. Bisher haben ihn Sprachwissenschaftler, Historiker, Philosophen und zukünf­ tige Schriftsteller innegehabt. Von der Bibliothek, der Carolina Rediviva, einer der besten Europas, will ich gar nicht erst reden, und auch nicht von der Landschaft; der Wald beginnt zweihun­ dert Meter vor der Stadt.« November - Der algerische Aufstand beginnt.

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Foucault und Barraqué begeistern sich für Hermann Brochs Der Tod des Vergil, auf den Blanchot sie aufmerksam gemacht hat; der Musiker komponiert darüber einen gigantischen musika­ lischen Zyklus, an dem er bis 1968 arbeiten wird. Die Musik habe für ihn eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie Nietzsche, erklärt Foucault später (siehe unten Nr. 50). Februar ~ In der Zeitschrift Critique schreibt Roger Caillois über Maladie mentale et Personnalité', das Buch sei »weit mehr als eine Einführung, denn sie bringt die Sache auf den Punkt [...]. Es verwundert, dass der Autor meint, einen Materialismus in der Psychopathologie definiert zu haben. In Wirklichkeit handelt es sich um einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Positivismus, der keinerlei metaphysische Position voraussetzt. Das Wort Ma­ terialismus ist überflüssig« (Critique XI, 93, S. 189L). August - Am 26. August wird Foucault vom Bildungsministe­ rium ein Jahr lang für das Außenministerium freigestellt. Herbst - Er tritt die Stelle in Uppsala an. Frankreich reorgani­ siert gerade seine auswärtigen Kulturbeziehungen. Washington, Moskau und Stockholm (wegen des Nobelpreises) sind die wich­ tigsten Posten. Die für die Verwaltung der auswärtigen Kultur­ beziehungen verantwortliche Behörde im fünften Stock des Quai d’Orsay gibt viel auf Foucaults Meinung, der drei Jahre als Lektor in der romanistischen Fakultät und als Leiter des Maison de Fran­ ce in Uppsala bleibt. Foücault begeistert sich für die Fragen der Kulturorganisation und der Kulturpolitik und wird dieses Inter­ esse sein Leben lang nicht verlieren. Das Maison de France wird rege besucht, so auch von Hans-Christoph Öberg, der später eine Rolle beim Zustandekommen der amerikanisch-vietnamesischen Verhandlungen spielen wird, und der spätere Fernsehfilmregisseur Erik-Mikael Nilsson, dem die erste Ausgabe der Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969] ge­ widmet ist - doch niemand wurde zum Essen eingeladen, der nicht René Char rezitieren konnte. Der Biologe Jean-François Miquel, der damals in Uppsala lebte, berichtet, Foucaults Veran­ staltungen seien stets bestens besucht gewesen; auch die beiden an der Universität lehrenden Nobelpreisträger Svedberg und Tiselius nahmen häufig daran teil.

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November - Georges Canguilhem, Philosoph und Mediziner, der während des Krieges in dem von Jean Cavaillès geführten Untergrundnetz gearbeitet hatte, wird Nachfolger von Gaston Bachelard an der Sorbonne. Dezember - Foucault empfängt in Schweden Jean Hyppolite, der zwei Vorträge über »Histoire et existence« [Geschichte und Existenz] und »Hegel et Kierkegaard dans la pensée française contemporaine« [Hegel und Kierkegaard im französischen Den­ ken der Gegenwart] hält. Weihnachten macht Robert Mauzi in Paris Foucault und Roland Barthes miteinander bekannt, der selbst einmal im Bereich der auswärtigen Kulturbeziehungen gearbeitet hat. Der Beginn einer langen Freundschaft. 1956

Er lernt die »lange schwedische Nacht« in der »Weite des Exils« kennen: »Einige hundert Meter entfernt, der endlose Wald, in dem die Schöpfung aufs Neue beginnt; in Sigtuna geht die Sonne gar nicht mehr auf. Aus der Tiefe solcher Kargheit steigt allein das Wesentliche herauf, das man gern noch einmal erlebt: Tag und Nacht, die Abende im Schutz der vier Wände, Früchte, die nirgendwo gewachsen sind, und gelegentlich ein kurzes Lä­ cheln« (Brief an einen Freund vom 27. Januar 1956). Colette Duhamel gibt bei ihm für die Editions de La Table Ronde eine kurze Geschichte der Psychiatrie in Auftrag, die er selbst nicht im Blick auf seine Universitätslaufbahn beginnt, zumal er, wie er sagt, nicht mehr an eine Karriere in Frankreich denkt. Ein weißer Jaguar-Sportwagen, an dessen Innenverkleidung aus schwarzem Leder er auch seine Kleidung anpasst und mit dem er Geschwindigkeitsrekorde zwischen Stockholm und Paris auf­ stellt, signalisiert diesen Bruch und hinterlässt bei seinen Freun­ den das Bild einer Dandyphase. Er entdeckt die medizinischen Bestände der Universitätsbibliothek in Uppsala. Er hält eine Vorlesung über das französische Theater, dann eine Reihe von Vorträgen über »L’amour de Sade à Genet« [Die Liebe von Sade bis Genet] (zu dieser Zeit steht in Paris Pauvert wegen einer Neuausgabe der Werke Sades vor Gericht). März - »Ich habe ein Nietzscheanisches Bedürfnis nach Sonne« (Brief an einen Freund). In Uppsala lernt er Dumézil persönlich

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kennen, der ihm für den Rest seines Lebens in väterlicher Freund­ schaft verbunden bleiben wird. Er besucht häufig das wissen­ schaftliche Labor von Tiselius und Svedbergs Zyklotron. Er ar­ beitet an der Übersetzung eines neuropsychiatrischen Textes von Weizsäcker. Er empfängt den gelehrten Dominikaner A. J. Festugière, einen Fachmann für die griechische und hellenistische Phi­ losophie und Spiritualität, mit dem er sein ganzes Leben in Ver­ bindung bleiben wird. 1957

Da ihm die Promotion in Frankreich zu lange dauert, beschließt er, in Schweden zu promovieren. Sein Manuskript über die Ge­ schichte der Psychiatrie, aus dem in Wirklichkeit bereits eine Geschichte des Wahnsinns geworden ist, wird von Professor Lindroth abgelehnt, weil er sich einen stärker positivistischen An­ satz wünscht. Er kündigt eine Vorlesung über die religiöse Erfahrung in der französischen Literatur von Chateaubriand bis Bernanos an, wür­ de aber lieber nach Frankfurt oder Hamburg gehen. Juli - In Paris, wo er jeden Sommer in den Archives nationales und in der Bibliothèque de l’Arseal arbeitet, entdeckt er bei dem Buchhändler und Verleger José Corti La vue von Raymond Roussel; Corti rät ihm, auch die anderen Bücher aus dem Verlag Lemerre zu kaufen, die inzwischen sehr selten seien. Dezember - Er empfängt Albert Camus, der wegen der Verlei­ hung des Literatur-Nobelpreises nach Schweden gekommen ist. In einem Vortrag, der nicht erhalten geblieben ist, nach JeanFrançois Miquels Erinnerung jedoch blendend war, stellt er dem Publikum in Uppsala das Werk des großen Repräsentanten des Humanismus nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Foucault ist über­ zeugt, dass die Schweden mit dem Preis Algerien ehren wollten und dabei einer falschen Analyse der politischen Positionen Al­ bert Camus’ erlagen. Hyppolite liest das Manuskript von Folie et Déraison [Wahnsinn und Unvernunft]. Er rät ihm, die Arbeit in Frankreich bei Canguilhem als Dissertation einzureichen.

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Februar - Bei Desclée de Brouwer (in der »Bibliothèque de neuropsychiatrie«) erscheint unter dem Titel Le Cycle de la struc­ ture die von Foucault und D. Rocher auf der Grundlage der 4. Ausgabe von 1948 angefertigte französische Übersetzung von Viktor von Weizsäckers Der Gestaltkreis. Maurice Pinguet geht nach Japan. Foucault denkt daran, sich in Hamburg niederzulassen. Mai - Am 30. Mai kehrt er zusammen mit Hans-Christoph Öberg überstürzt nach Paris zurück, um den politischen Ereig­ nissen nahe zu sein. Juni - Am 1. Juni wird General de Gaulle Regierungschef. September - Am 28. September stimmt Frankreich in einem Referendum der Verfassung der V. Republik zu. Oktober - Foucault verlässt Stockholm und geht nach War­ schau, das damals noch weitgehend in Trümmern liegt. Er hat; den Auftrag, an der Universität wieder das Centre de civilisation française zu eröffnen. Er wohnt im Hotel Bristol, über dem belieb­ testen Intellektuellencafé der Zeit. Er überarbeit Folie et déraison, General de Gaulle, der sich um eine politische Öffnung nach Osten bemüht, wechselt das Personal der diplomatischen Vertre­ tung Frankreichs in Polen aus; er selbst war dort in den 30er Jahren als Militärattache tätig gewesen. Ein stark gaullistisch ge­ prägtes Team begleitet den neuen Botschafter Etienne Burin des Roziers, einen engen Gefährten des Generals. Mit der Zeit wird Foucault zu einem engen Berater des Botschafters in kulturellen Angelegenheiten. November - »Du weißt, dass Ubu nach Polen geht, also nir­ gendwohin. Ich bin im Gefängnis, also auf der anderen Seite, aber das ist die schlimmere. Draußen: unmöglich hineinzukommen; ans Gitter gepresst, der Kopf kommt kaum hindurch; ich kann gerade die anderen drinnen sehen, die im Kreis laufen. Ein Zei­ chen, sie sind schon weitergegangen, und man kann nichts tun, als warten, bis sie wieder vorbeikommen. Man hat ein Lächeln für sie vorbereitet, doch sie haben einen Fußtritt erhalten und keine Kraft oder keinen Mut mehr, zu antworten. Das Lächeln ist nicht verloren, ein anderer greift es auf und nimmt es mit. Von der Weichsel steigt ständig Dunst auf. Man weiß gar nicht mehr, was das Licht ist. Man hat mich in einem sozialistischen Palast

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untergebracht. Ich arbeite an meiner Folie, die in dieser wahn­ haften Leere zu werden droht, was sie von jeher zu sein vorgibt« (Brief an einen Freund vom 22. November 1958). Weihnachten - Er übergibt das sehr umfangreiche Manuskript zu Folie et Déraison dem gefürchteten G. Canguilhem. Der sagt: »Andern Sie nichts, es ist eine Dissertation.« *959

In der gegenseitigen Wertschätzung zwischen ihm und Burin des Roziers entwickelt Foucault in Warschau andere Vorstellun­ gen zu de Gaulle und Algerien als die französische Linke, die damals auf den Straßen »Der Faschismus wird nicht durchkom­ men« skandiert. Mit Husserl und Brentano vertraut, knüpft er Beziehungen zu T. Kotarbinski, Erbe der semiotischen Tradition von Lwow und Warschau und Präsident der Akademie der Wissenschaften. Er hält Vorträge über Apollinaire in Krakau und Danzig. Er denkt daran, nach Berkeley zu gehen oder nach Japan, wo Maurice Pinguet sich aufhält. Er verkehrt in verschiedenen frankophonen pol­ nischen Kreisen. Seine dicken Manuskripte über die Einschlie­ ßung und sein Umgang beunruhigen Gomulkas Polizei; mit Hilfe eines jungen Dolmetschers stellt man ihm eine Falle und verlangt seine Ausreise. September - Am 14. September stirbt Dr. Paul Foucault. Oktober - Am 1. Oktober wird er für drei Jahre nach Deutsch­ land abgeordnet; er verlässt Warschau und geht nach Hamburg, wo er das Institut français leiten soll. i960 Er schreibt seine zweite Dissertation Genèse et Structure de l'Anthropologie de Kant [Genese und Struktur der Anthropologie Kants] und übersetzt Kants Anthropologie in pragmatischer Hin­ sicht (diese zweite Dissertation wird niemals veröffentlicht; das eingereichte Typoskript befindet sich in der Bibliothek der Sor­ bonne). Februar - Vorwort zu Folie et Déraison, die damit abgeschlos­ sen ist (siehe unten Nr. 4). April - Georges Canguilhem empfiehlt ihn Jules Vuillemin, dem Leiter der philosophischen Fakultät der Universität Cler-

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mont-Ferrand, der ihm eine Dozentenstelle im Fach Psychologie anbietet. Voraussetzung dafür ist jedoch die Publikation von Folie et Déraison. Brice Parain von Gallimard lehnt das Manuskript ab. Philippe Ariès, dessen Histoire de Venfant et de sa famille au XVIIIe siècle [dt. Geschichte der Kindheit, München 1975] die französische Geschichtsschreibung zu verändern beginnt, nimmt Foucaults Text in seine bei Pion erscheinende Reihe »Civilisation et mentalités« auf, und zwar unter dem Titel Folie et Déraison. Histoire de la folie à Vage classique (das Buch erscheint im Mai 1961, dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969, siehe unten Nr. 346 und 347). In Hamburg, wo er mit dem Afrikanisten Rolf Italiaander ver­ kehrt (siehe unten Nr. 12), führt er gelegentlich Robbe-Grillet, Roland Barthes oder den damaligen König des Krimis Jean Bruce durch das Labyrinth des VergnügungsViertels Sankt Pauli. Er bringt ein Stück von Cocteau zur Aufführung. Juni - Cocteau bedankt sich am 19. Juni schriftlich bei ihm. Oktober - Er wird an die Universität Clermont-Ferrand beru­ fen und wohnt nun wieder in Paris, in der Rue Monge 59. Robert Mauzi stellt ihm den Philosophiestudenten Daniel Defert vor, der gerade erst sein Studium an der Ecole normale supérieure in SaintCloud begonnen hat; von 1963 an bis zu Foucaults Tod wird er dessen Lebensgefährte sein (siehe unten Nr. 308). Foucault beginnt das ganz spezielle Leben französischer Univer­ sitätslehrer, das darin besteht, in Paris zu wohnen und in der Provinz zu lehren. 1961 In Clermont-Ferrand verkehrt Foucault mit Jules Vuillemin, den Philosophen Michel Serres, Jean-Claude Patiente und dem Historiker Bertrand Gille. In Paris verbringt er lange Tage in der Bibliothèque nationale, wo man ihn über Jahre hinweg unter der Kuppel des Lesesaals arbeiten sehen kann. Mai - Am 20. Mai verteidigt er seine beiden Dissertationen an der Sorbonne: Kant, Anthropologie. Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen, betreut von J. Hyppolite; Folie et Déraison. His­ toire de la folie à Vâge classique [Wahnsinn und Unvernunft. Die Geschichte des Wahnsinns im klassischen Zeitalter], Hauptdisser­ tation, betreut von G. Canguilhem und D. Lagache.

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Die Histoire de lafolie wird von den Historikern Robert Mandrou und Fernand Braudel als bedeutender Beitrag zur Geschichte der Mentalitäten gewürdigt. Maurice Blanchot schreibt: »In diesem reichen, aufgrund notwendiger Wiederholungen insistierenden und fast schon unvernünftigen Buch, das zugleich eine Dissertation ist, erleben wir mit Vergnügen den Zusammenstoß zwischen Uni­ versität und Unvernunft« {La Nouvelle Revue française 106). Er wird zum Prüfer für die Zulassungsprüfung der von J. Hyppolite geleiteten Ecole normale bestellt. Am 31. Mai beginnt er eine Folge von Radiosendungen bei Fran­ ce-Culture über »Histoire de la folie et littérature« [Die Ge­ schichte des Wahnsinns und die Literatur], die sich bis 1963 fort­ setzen wird. Juli - Tod seiner Großmutter Raynaud-Malapert, zu der er stets ein enges Verhältnis hatte. Am 22. Juli erscheint ein Inter­ view in Le Monde, das ihn als den »absoluten und jungen Intel­ lektuellen: außerhalb der Zeit« vorstellt (siehe unten Nr. j). Das väterliche Erbe gestattet es ihm, in den obersten Stock eines neuen Mietshauses in der Rue du Docteur-Finlay 13 einzuziehen; von dort hat man auf der einen Seite freien Blick auf die in Ent­ stehung begriffene moderne Seinefront, auf der anderen auf die unbebaute Fläche des ehemaligen Vélodrome d’hiver. November - Am 27. November beendet er die Niederschrift von Naissance de la clinique [dt. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973], die er als »Ab­ fallprodukt« der Histoire de la folie bezeichnet. Dezember-Km 25. Dezember beginnt er mit der Niederschrift von Raymond Roussel. 1.962 Vom Verlag zu einer Neuausgabe der Maladie mentale et Per­ sonnalité gedrängt, schreibt er den zweiten Teil, der den Titel »Les conditions de la maladie« [Die Bedingungen der Krankheit] trägt, vollständig um und gibt ihm den neuen Titel »Folie et culture« [Wahnsinn und Kultur] - eine Zusammenfassung der Historie de la folie und weit entfernt von der Pawlowschen Reflexlehre und der existentiellen Anthropologie von 1954. Der Titel des Buches lautet nun Maladie mentale et Psychologie [dt. Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt am Main 1968].

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Februar - Er lernt Gilles Deleuze kennen, der Nietzsche et la philosophie [dt. Nietzsche und die Philosophie, München 1976] veröffentlicht. März - Am 18. März findet der Algerienkrieg mit dem Abkom­ men von Evian sein Ende. Mai - Am 18. Mai notiert Foucault: »Sade und Bichat, diese beiden einander fremden und doch verwandten Zeitgenossen, ha­ ben den Tod und die Sexualität in den Körper des abendländi­ schen Menschen eingepflanzt, diese zwei Erfahrungen, die so we­ nig natürlich, so sehr durch Überschreitung geprägt, so stark von einer Macht absoluten Infragestellens beladen sind, auf der die heutige Kultur den Traum eines Wissens begründet, das den Ho­ mo natura sichtbar zu machen vermöchte...« In Paris erscheint die französische Übersetzung von Edmund Husserls Der Ursprung der Geometrie, mit einer langen Einleitung von Jacques Derrida. Das Buch steht sogleich im Mittelpunkt der epistemologischen Diskussion in Paris. Foucault, der sich in den 50er Jahren intensiv mit diesem Text auseinandergesetzt hat, spricht von der »Bedeutung dieses so enttäuschenden Textes«, der ihn zwingt, seinen Begriff von Archäologie zu vertiefen (Brief). Er wird Professor für Psychologie an der Universität ClermontFerrand und tritt dort die Nachfolge von Jules Vuillemin als Lei­ ter der philosophischen Abteilung an, der seinerseits die Nach­ folge des am 4. Mai 1961 plötzlich verstorbenen Maurice MerleauPonty am Collège de France antritt. September - Er gibt Althusser das Manuskript der Naissance de la clinique zu lesen. An der Ecole normale entwickelt sich eine ausgeprägte Abneigung gegen die strukturale Analyse. 1963 Januar - Zusammen mit Roland Barthes und Michel Deguy tritt er in den Redaktionsbeirat der Zeitschrift Critique ein. Wie Jean Piel, Schwager Georges Batailles und Herausgeber der Zeit­ schrift, berichtet, begann Foucaults Mitarbeit erst wirklich nach dem Erscheinen von Les Mots et les Choses [1966, dt. Die Ord­ nung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971] und endete 1973, obwohl sein Name noch bis 1977 aufgeführt wurde. März - In einem Vortrag am Collège philosophique am 4. März

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kritisiert Jacques Derrida Foucaults Aussagen zu Descartes* erster Meditation in seiner Histoire de la folie. In einem Brief vom 3. Februar hatte Derrida Foucault eingeladen: »in den Weih­ nachtsferien habe ich Dich mit großem Vergnügen nochmals ge­ lesen. Ich glaube, ich werde im Wesentlichen zu zeigen versuchen, dass Deine Descartes-Lektüre auf einem Niveau historischer und philosophischer Tiefe legitim und erhellend ist, die mir nicht un­ mittelbar für den herangezogenen Text bedeutsam erscheint oder dort angezeigt wird und dass ich ihn nicht ganz so lese wie Du.« Aber der von Derrida beklagte »strukturalistische Totalitarismus« berührt Foucault, der sich bemüht, seine Archäologie vom Struk­ turalismus abzugrenzen. »Warum muss Geschichtlichkeit immer als Vergessen gedacht werden?« (Brief)1. April - In der von G. Canguilhem bei den Presses Universitai­ res de France herausgegebenen Reihe »Histoire et philosophie de la biologie et de la médecine« erscheint Naissance de la clinique: une archéologie du regard médical. Mai - Raymond Roussel [dt. Raymond Roussel, Frankfurt am Main 1989] erscheint in der von Georges Lambrichs verantwor­ teten Reihe bei Gallimard und wird von Philippe Söllers in der Zeitschrift Tel quel als »Geburt der Kritik« gefeiert. Die Veröf­ fentlichung sollte eine Neuausgabe der Werke Roussels begleiten. Juli - Das Moskauer Abkommen markiert den Beginn der friedlichen Koexistenz. Solschenizyn beginnt mit der Sammlung von Erinnerungen an den Gulag. Foucault verbringt die Ferien zusammen mit R. Barthes und R. Mauzi in Tanger und Marrakesch. August - Am 5. August schreibt er: »Ich bin in Vendeuvre an­ gekommen; jetzt beginnt wieder die Zeit der Blätter, die man wie Apfelkörbe füllt; der Bäume, die man fällt, der Bücher, die man Zeile für Zeile mit der Gewissenhaftigkeit eines Kindes liest [...], die Besonnenheit jedes Sommers« (Brief). Er korrigiert die Fah­ nen seiner Übersetzung der Kantschen Anthropologie und seiner Hommage an Bataille, der im vergangenen Jahr verstorben ist (siehe unten Nr. 13). Er liest Klossowski über Nietzsche. Er sam­ melt Notizen zum Verhältnis zwischen Archäologie und kriti­ scher Philosophie. 1 Briefe ohne Angabe des Empfängers sind stets solche an Daniel Defert.



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Der Quai d'Orsay bietet ihm die Leitung des Institut français in Tokio an, die er sich schon lange wünscht. September - Die Gruppe Tel quel lädt ihn nach Cerisy-la-Salle ein, weil man »die Situation der Literatur nach dem nouveau roman klären« möchte. Beginn persönlicher Beziehungen zu Mit­ gliedern der Gruppe, über deren Bücher er eine Reihe von Arti­ keln schreibt (Söllers, Pleynet, Thibaudeau, Baudry, Ollier und auch J.-E. Hallier, der 1962 mit Söllers gebrochen hatte). Oktober - Er verzichtet auf den Posten in Tokio, um bei Daniel Defert zu bleiben, der sich auf die Agrégation in Philosophie vorbereitet. Er gibt den Plan einer Fortsetzung der Histoire de la folie auf, die sich mit der Geschichte der forensischen Psychia­ trie befassen sollte, und macht sich statt dessen an ein »Buch über die Zeichen«. Intensive Arbeit unterbricht den gewohnten Rhyth­ mus der Abendessen mit Roland Barthes in Saint-Germain-desPrés; ihr Verhältnis kühlt sich ab. November - Konferenz in Madrid und Lissabon, wo er »Die Versuchung des Heiligen Antonius« von Bosch sieht. Am 9. be­ schreibt er in einem Brief seine Begegnung im Prado mit Las Meninas, dem Bild, um das sich sein Projekt eines »Buches über die Zeichen« dreht (siehe unten Nr. 32). Dezember - Er liest nochmals Heidegger, unterbricht die Ar­ beit an Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge], 1964

Umfangreiche Nachforschungen in der Bibliothèque nationale. In kleinen Schulheften sammelt er Notizen und Zitate, Entwürfe für Kapitel und Aufsätze. Er liest La Formation du concept de réflexe [Die Herausbildung des Begriffs des Reflexes] von Geor­ ges Canguilhem, der seit der Histoire de la folie für ihn zu einem Vertrauten geworden ist. Die Beziehungen zu Gilles Deleuze und Pierre Klossowski festi­ gen sich; er sieht auch Jean Beaufret. Im Juli nehmen sie gemein­ sam mit Karl Löwith, Henri Birault, Gianni Vattimo, Jean Wahl, Colli und Montinari, die eine neue Nietzsche-Ausgabe vorberei­ ten, auf einem von Deleuze in Royaumont ausgerichteten Kollo­ quium über Nietzsche teil (siehe unten Nr. 46), April - Vortrag in Ankara und Istanbul (»Le désenchantement oriental« [Die orientalische Entzauberung]. Er besucht Ephesus:

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»auf den Spuren des Heraklit [...]; ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen« (Brief)* August - Am io. August schreibt er: »Ich habe das Gefühl, ich nähere mich einer Rückwendung zum totalen Nichtschreiben. Dann würde ich mich freier fühlen« (Brief). Mit Begeisterung liest er M. Lowrys Under the Vulcano [dt. Unter dem Vulkan, Rein­ bek bei Hamburg 1984]. September - Nach dem Beginn der Bombardierung Nordviet­ nams durch die Amerikaner beschließt Daniel Defert, für die Dauer seines Militärdienstes nicht als Entwicklungshelfer nach Vietnam zu gehen, wie er ursprünglich geplant hatte; statt dessen geht er nach Tunesien, wo Foucault ihn schon bald besucht. In den »Bahnhofshallen«, wie Foucault gern sagte, erscheint eine stark gekürzte Fassung der Histoire de la folie, und zwar in der neuen Taschenbuchreihe »Le Monde en 10/18« von Pion. In der Welt des Geistes ist man über die Sinnfälligkeit solcher billigen wissenschaftlichen Reihen geteilter Meinung. Glücklich über diese Volksausgabe, die zahlreiche Auflagen erlebte, gab Foucault nach, als der Verleger es ablehnte, das Buch in der vollständigen Fassung neu aufzulegen. Aber er brach mit Pion. Alle Überset­ zungen des Werkes mit Ausnahme der italienischen, die 1963 bei Rizzoli erschien, basieren auf der gekürzten Fassung. Oktober - Am 18. Oktober schreibt er: »Den ganzen Tag ar­ beite ich an meinen verflixten Zeichen« (Brief). Er verkehrt mit Deleuze, Vuillemin, Desanti, Klössowski. In Clermont-Ferrand hält er eine Vorlesung über Sexualität. Mit der Mehrheit des Lehr­ körpers wendet er sich gegen die Berufung von Roger Garaudy, Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, auf einen philosophischen Lehrstuhl; es heißt, sein einstiger Mitschü­ ler Georges Pompidou (damals Premierminister) habe ihn durch­ gesetzt. Dezember - Bei Jean Vrin erscheint die Übersetzung der Kantschen Anthropologie, Von dem, was einmal eine Zweitdissertation war, sind nur drei Seiten einer historischen Anmerkung übrigge­ blieben; der Schlussatz lautet: »Das Verhältnis zwischen kriti­ schem Denken und anthropologischer Reflexion soll in einer spä­ teren Arbeit untersucht werden.« Diese spätere Arbeit ist Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge\ das Foucault immer noch als sein »Buch über die Zeichen« bezeichnet.

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In Brüssel hält er einen Vortrag über »Langage et littérature« [Sprache und Literatur], Weihnachten - Aufenthalt in Tunesien. Die erste Fassung des Buches über die Zeichen ist fertig. 1965

Januar - Am 5. Januar beobachtet er bei der Landung auf Djer­ ba »das Umkippen des Bodens an der Grenze zum Meer« und kritzelt auf die Rückseite einer Postkarte, was einmal der Schluss­ satz von Les Mots et les Choses sein wird. Er hat den starken Wunsch, sich in dem Dorf Sidi-Bou-Said über dem Golf von Karthago niederzulassen. Mit Alain Badiou, Georges Canguilhem, Dinah Dreyfus und Paul Ricoeur nimmt er an einer Reihe philosophischer Streitgespräche für das Schulfernsehen teil (siehe unten Nr. 30 und 31). Als Mitglied der von de Gaulles Erziehungsminister Christian Fouchet eingesetzten Kommission für die Reform der Univer­ sitäten wendet er sich gegen das Vorhaben, zahlreiche lokale Uni­ versitäten ohne ausreichende Finanzmittel zu schaffen. Er ent­ wickelt einen Gegenvorschlag, der eine auf wechselseitige Ergänzung zielende regionale Verbindung der Universitäten vor­ sieht, und unterbreitet ihn dem Elysée, wo Etienne Burin des Roziers inzwischen als Generalsekretär fungiert. Es geht das Gerücht, Foucault solle zum stellvertretenden Leiter der staatlichen Hochschulverwaltung für den Bereich der Geistes­ wissenschaften ernannt werden. Februar - Am 13. Februar schreibt er: »Ich habe nicht über Zeichen gesprochen, sondern über Ordnung« (Brief, in dem er sich zu seinem Buch über die Zeichen äußert). April - Am 4. April schreibt er: »Endlich fertig. Dreihundert Seiten seit Sfax, in einem ganz anderen Gleichgewicht. Nicht schlecht und nicht langweilig.« Er schreibt das Vorwort. »Eine allgemeine Theorie der Archäologie, mit der ich ganz zufrieden bin.« Er denkt daran, sich am Collège de France zu bewerben, um aus Clermont-Ferrand wegzukommen, verzichtet dann aber da­ rauf, als er von der Bewerbung des Historikers Georges Duby erfährt. Mai - Am 2. Mai äußert Canguilhem sich begeistert über das Manuskript des »Buchs über die Zeichen«. Foucault erfährt, dass

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eine Kampagne, die einige Hochschullehrer wegen seines Privat­ lebens gegen ihn führen, der Grund ist, weshalb er nicht in die staatliche Hochschulverwaltung berufen wird. Am 14. Mai übergibt er G. Lambrichs bei Gallimard sein Manu­ skript. Juni - Roger Caillois schreibt ihm einen begeisterten Brief zu diesem Manuskript und bittet um einen Text für seine Zeitschrift Diogène (siehe unten Nr. 33). Burin des Roziers vertraut ihm an, dass Malraux und er neue Pläne mit ihm haben. Betroffen von den gegen seine Berufung gerichteten Intrigen, reist er nach Schweden und reicht seine Be­ werbung für Elisabethville ein - das Lubumbashi heißt, als das Land sich in Zaire umbenennt; dort lehrt der Logiker G. G. Granger. Der Soziologe G. Gurvitch drängt ihn, sich um einen Lehr­ stuhl für Psychologie an der Sorbonne zu bewerben. Foucault verzichtet darauf, weil er auf zuviel Feindseligkeit stößt. Weiterer Aufenthalt in Sfax und Sidi-Bou-Said. August - Er besucht die Retrospektive von Nicolas de Staël in Zürich. Im Baseler Museum sieht er sich die Bilder von Klee an. Er denkt daran, um eine Versetzung nach Abidjan zu bitten. September - Althusser schickt Foucault sein Pour Marx [dt. Für Marx, Frankfurt am Main 1968] mit folgender Widmung: »Ein paar alte Klamotten.« Oktober - Auf Einladung des Philosophen Gérard Lebrun, wie Jules Vuillemin und Louis Althusser Schüler von Martial Guéroult, besucht er die philosophische Fakultät der Universität Säo Paulo. Dort knüpft er engere Beziehungen zu den Philosophen Gianotti und Ruy Fausto, dem Literaturkritiker Roberto Schwartz, der Dichterin Lupe Cotrim Garaude und der Psycho­ analytikerin Betty Milan; er gibt ihnen vorab einige Kapitel aus Les Mots et les Choses. Die geplante Vortragsreise muss wegen der Gewalt abgesagt werden, die es den Militärs erlaubt, sich immer fester zu etablieren und schließlich Foucaults Freunde aus ihren Ämtern zu entfernen oder ins Exil zu treiben. 1966 Januar- An der Ecole normale entsteht um Jacques-Alain Mil­ ler und François Régnault der Cercle d’épistémologie, der sich auf Lacan und Canguilhem beruft. Die von dem Zirkel herausgege­

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benen Cahiers pour Vanalyse sind für »alle Wissenschaften der Analyse gedacht: Logik, Linguistik, Psychoanalyse«, und sollen »Beiträge zu einer Theorie des Diskurses leisten«. Der Zirkel ist eine Reaktion auf die Gründung der Union des jeunes communis­ tes marxistes-léninistes um Robert Linhart (U.J.C.M.L.), die erste maoistische Studentengruppe. Noch während Les Mots et les Choses im Druck ist, greift Fou­ cault wieder die methodologischen Fragen auf, die er in dieser Archäologie gestellt hat. »Die Philosophie ist ein diagnostisches Unternehmen, die Archäologie eine Methode zur Beschreibung des Denkens« (Brief). Er liest Whorf und Sapir. »Nein, das ist es nicht, das Problem liegt nicht in der Sprache, sondern in den Grenzen des Sagbaren« (Brief). Februar - Zusammen mit Gilles Deleuze übernimmt er die Verantwortung für die französische Ausgabe der von Colli und Montinari herausgegebenen Nietzsche-Gesamtausgabe. März - Das vom n . bis 13. März in Argenteuil versammelte Zentralkomitee der P.C.F. erklärt gegen Althusser: »Der Kom­ munismus ist der Humanismus unserer Zeit.« Am 28. März Vorträge im Theater der Budapester Universität. Da die ungarischen Behörden glauben, der angekündigte Vortrag über den Strukturalismus werde nur geringes Interesse finden, verlegt man ihn ins Büro des Rektors. Foucault entdeckt, dass der Strukturalismus im Osten aufgrund seiner Ursprünge im Pra­ ger und russischen formalen Denken als Alternative zum Marxis­ mus dient. Foucault weigert sich, den obligatorischen Besuch bei Georg Lukacs abzustatten und zieht ihm Manets Porträt der Jeanne Duval im Szépmüvészeti-Museum vor. Am 31. März vertrauen ihm seine ungarischen Gesprächspartner an, wie erleichtert sie sind, in Aragons Les Lettres françaises sein ausführliches Gespräch mit Raymond Bellour gefunden zu ha­ ben, in dem das Erscheinen von Les Mots et les Choses angekün­ digt wird; das werde das Misstrauen in ihrem Land dämpfen (siehe unten Nr. 34). Er fährt in die Puszta nach Debrecen: »Ich war ein wenig bewegt, als ich sah, dass das Denken des guten alten Alth [Althusser] bis in den hintersten Winkel der Steppe vorgedrungen ist« (Brief; siehe unten Nr. 281). Aufenthalt in Bu­ karest.

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April - Les Mots et les Choses. Une Archéologie des sciences humaines erscheint in der von Pierre Nora bei Gallimard geschaf­ fenen »Bibliothèque des sciences humaines«. Der eigentlich ge­ plante Titel »L’Ordre des choses« konnte nicht verwendet wer­ den, weil bereits ein Buch von Jacques Brosse mit einem Vorwort von Bachelard diesen Titel trug und die Rechteinhaber einer nochmaligen Verwendung nicht zustimmten. Ob nun Dickköp­ figkeit oder Vergesslichkeit, jedenfalls benannte Foucault später eine bei Gallimard erscheinende Reihe gleichfalls nach einem Ka­ pitel aus diesem Buch: »Les vies parallèles« (siehe unten Nr. 223). Mai - Er verkehrt mit Derrida und Althusser. Am 16. Mai erklärt er in einem Interview^ »Wir haben heute die Aufgabe, uns endgültig vom ^um anism us^^ und in diesem Sinne ist meine Arbeit politisch^ zumal alle Regime im Osten wie im Westen ihre verdorbene Ware unter dem schützenden Dach des Humanismus feilbieten« (siehe unten Nr. 37). Die erste Auflage von Les Mots et les Choses ist schon nach sechs Wochen vergrif­ fen. In einem Artikel vom 23. Mai nennt L'Express àzs Buch die größte Revolution in der Philosophie seit dem Existentialismus. »Der Tod des M achen« und »Der Marxismus ruht im Denken des neunzehnten Jahrhundert wie ein Fisch im Wasser« kursieren seither in der Presse als emblematische Sätze aus diesem Buch. Am 26. Mai erhält er einen begeisterten Brief von René Magritte. Beginn einer Korrespondenz, in der er Magritte nach seiner In­ terpretation des Balkon von Manet fragt. Magritte möchte Fou­ cault Ende des Jahres treffen. Juni - Die Presse kommentiert nicht nur das Buch, sondern auch die Verkaufszahlen; die Verkaufszahlen gelten ihr als Sym­ ptom, das Buch selbst als ein Bruch. 1966 ist eines der große# Jahre der französischen Human- und Geisteswissenschaften: La­ can, Lévi-Strauss, Benvemste, Genette, Greimas, Doubrovsky, Todorov und Barthes yeroffentliehen einige ihrer wichtigsten Schriften. Der bis dahin nur als regionale Methode wahrgenom­ mene Strukturalismus wird plötzlich als Bewegung verstanden. Juli - In Vendeuvre schreibt er sechs Stunden amJTag„Antwor­ ten auf Angriffe gegen den »Tod des Menschen«. »Selbst Jean Daniel nach Domenach. Ich muss versuchen zu sagen, was ein philosophischer Diskurs heute sein kann« (Brief). Erarbeitet nochmals Husserls Formale und transzendentale Logik durch,

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diesmal in der französischen Übersetzung. »Zum ersten Mal lese ich Kriminalromane.« Hy2£olite sagt ihm über Les Mots et les Choses: »Das ist ein tragisches Buch.« »Er ist der einzige, der das bemerkt hat«, meint Foucault dazu. September - Foucault beschließt, nach Tunis zu gehen, wo man ihm zum ersten Mal einen philosophischen (statt psychologi­ schen) Lehrstuhl angeboten hat. Der Erfolg in den Medien hat, wie er glaubt, die Rezeption des Buches behindert. Die Kargheit des folgenden Buches wird von seinem Willen zeugen, diese Art von Erfolg zu vermeiden. Am 15. September widmet François Mauriac einen Teil seines »Blocnotes« dem Antihumanismus von Les Mots et les Choses, und er schließt: »Sie machen mir Sartre sympathisch.« Von nun an ver­ folgt Foucault nur noch aus der Ferne und sehr selektiv, was über den »Tod des Menschen « gesagt wird. Oktober - Am 1. Oktober wird Foucault von der Universität für drei Jahre nach Tunesien abgeordnet. In einer ihm gewidmeten Nummer von L ’Arc greift Sartre den Strukturalismus an und verwirft Foucaults und Althussers Nei­ gung, die Strukturen gegenüber der Geschichte zu bevorzugen; er nennt die Archäologie eine Geologie, die Veränderung durch Schichtung ersetzte, und schließt: »Foucault ist das letzte Boll­ werk der Bourgeoisie.« Die wichtigsten intellektuellen Zeitschrif­ ten werden die Polemik gegen Les Mots et les Choses bis zum Mai 1968 fortsetzen: Les Temps modernes im Januar 1967, Esprit im Mai 1967, La Pense'e im Februar 1968 usw. November - Er wohnt im Hotel Dar-Zarouk und sucht ein Haus an dem wilden Hang des Hügels, auf dem Sidi-Bou-Said liegt. »Ich wollte ein direktes, absolutes, von Zivilisation freies Verhältnis zum Meer« (Brief). Am 12. November lehrt er zum ersten Mal seit 1955 wieder Philosophie; seine Vorlesung über den »philosophischen Diskurs« knüpft an Les Mots et les Choses an. Er hält einen öffentlichen Vortrag über die abendländische Kultur. »Die Theorie des Diskurses bleibt liegen; 396 Seiten, die überarbeitet werden müssen« (Brief). Am 16. November schreibt er: »Ich habe gestern, heute morgen, in diesem Augenblick die Definition des Diskurses gefunden, die ich seit Jahren brauche« (Brief).

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Dezember - Vorwort zu einer Neuausgabe der Grammaire de Port-Royal [Grammatik von Port-Royal], die ursprünglich bei den Editions du Seuil erscheinen sollte (siehe unten Nr. 66). Er wundert sich, wie bekannt Althusser bei tunesischen Studenten ist: »Erstaunlich, dass ein in unseren Augen rein theoretischer Diskurs sich hier zu einem nahezu unmittelbaren Imperativ auf­ richtet« (Brief). Am 9. Dezember bezieht er in den langen weißen Gewölben eine Wohnung, die Jean Daniel beschrieben hat und die er nun ken­ nenlernt: ehemalige Pferdeställe des Bey von Sidi-Bou-Said. Er eifert Nietzsche nach und nimmt sich vor, jeden Tag etwas grie­ chischer, sportlicher, brauner, asketischer zu werden; so beginnt er, einen neuen Lebensstil zu entwickeln. Weihnachten - Er campiert mit Eseln und Kamelen auf dem Tassili-Plateau in Südalgerien. 1967 Januar - Les Temps modernes (Nr. 22) gehen zum Angriff über. Foucault beschränkt sich darauf, in einem privaten Brief Fragen zu beantworten, die Michel Amiot in seinem Artikel »Relativisme culturel de Michel Foucault« gestellt hat: »Ich habe darauf ver­ zichtet, dem Buch ein methodologisches Vorwort voranzustellen, das als Gebrauchsanleitung hätte dienen sollen. Ich schreibe Ihnen jedoch nicht wegen dieser Erläuterung, sondern weil ich die ernst­ hafte Diskussion schätze und wirklich Sympathie für Ihren Text empfinde.« Er schließt mit den Worten: »Da ich die Geschichte oder zumindest die Ideengeschichte - von einem abgenutzten Schema befreien wollte, in dem von Einfluss, Fortschritt, Verspä­ tung, Entdeckung die Rede ist, habe ich die Gesamtheit der Trans­ formationen zu bestimmen versucht, die einer empirischen Dis­ kontinuität als Regel dienen.« Gelegentlich trifft er den tunesischen Kultusminister Chadli Klibi, der später die Arabische Liga vertreten wird. Am 31. Januar schreibt er: »Was in China geschieht, finde ich sehr aufregend. Die Hoffnung, im Frühjahr fertig zu werden [mit V Archéologie du savoir, dt. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973], habe ich auf nächstes Jahr verschoben« (Brief). Februar - »Geschichte macht sehr viel Spaß. Man ist nicht so allein und dennoch ganz frei« (Brief). Er fasst den Plan, einen Text

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zur Neuausgabe des Buches von Fernand Braudel über das Mittel­ meer zu schreiben und vielleicht sogar ein Buch über Geschichts­ schreibung, das Gelegenheit zu einer anderen Archäologie der Geisteswissenschaften böte und dadurch zeigte, dass die »Epistemen« keine zeitliche Einteilung der Weltbilder begründen. Er liest Dumézil - eine Lektüre, die ihn sein Leben lang begleitet - und Trotzkis Permanente Revolution, die ihn so sehr begeistert, dass er sich 1968 selbst gelegentlich als Trotzkisten bezeichnen wird. Tat­ sächlich versorgen ihn seine tunesischen Studenten mit Lektüre. März - Am 14. März hält er im Cercle d'études architecturales in Paris einen Vortrag über »Heterotopien« und macht eine Radiosendung zum selben Thema (siehe unten Nr. 359). Am 17. März erläutert er in Raymond Arons Seminar, nach welchen Kriterien man geschichtlich eine kulturelle Formation wie die Politische Ökonomie über verschiedene Episteme hinweg identi­ fizieren kann. Raymond Aron möchte Episteme und Weltan­ schauung unbedingt gleichsetzen. Diese Debatte trägt zu dem Entschluss bei, das Konzept in L'Archéologie du savoir aufzuge­ ben. Hinter dieser epistemologischen Debatte verfeinern sich die Taktiken der beiden Protagonisten gegenüber dem Collège de France. Die in Raymond Arons Seminar vorgetragenen Argu­ mente werden im zweiten Gespräch mit Raymond Bellour (siehe unten Nr. 48) entwickelt. Er besucht die Premiere des Balletts La Tentation de saint Antoine [Die Versuchung des heiligen Antonius], in dem Béjart die Ikono­ graphie verwendet, die Foucault in seiner Flaubert-Studie zusam­ mengestellt hatte (siehe unten Nr. 20). April - »Ich habe alles Schreiben zurückgestellt, um mir Witt­ genstein und die englischen Analytiker etwas genauer anzusehen« (Brief). Uber die englischen Analytiker schreibt er: »Stil und ana­ lytisches Niveau, nach denen ich im Winter unbeholfen gesucht habe. Die ziemlich unerträgliche Angst dieses Winters.« Foucault nutzt die Bibliothek seines Kollegen Gérard Deledalle, eines der wenigen oder sogar des einzigen französischen Spezialisten für John Dewey und die amerikanische Philosophie. Am 12. April berichtet La Presse de Tunis: »Der größte Hörsaal der Universität Tunis vermag die mehreren hundert Studenten und freien Hörer nicht zu fassen, die jeden Freitagnachmittag die Vorlesung von Michel Foucault hören möchten.«

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Mai - Die Zeitschrift Esprit gibt eine Sondernummer über »Structuralisme, idéologie et méthode« [Strukturalismus, Ideolo­ gie und Methode] heraus. »Gegen das kalte Denken des Systems, das hinsichtlich jeglichen individuellen oder kollektiven Subjekts errichtet wird«, stellt der Herausgeber der Zeitschrift Jean-Marie Domenach zehn Fragen an Foucault, von denen dieser nur die letzte beantworten wird, die Frage nämlich, wie politisches Han­ deln angesichts der Zwänge des Systems und der Diskontinuität noch möglich sein soll. Ironie des Schicksals: Die ausführliche Antwort erscheint im Mai 1968 (siehe unten Nr. 58). »Die englischen Analytiker machen mir große Freude; sie zei­ gen, dass es möglich ist, Aussagen nichtlinguistisch zu analysie­ ren. Aussagen in ihrer Funktionsweise zu behandeln. Aber worin und im Verhältnis wozu sie funktionieren, machen sie niemals deutlich. Vielleicht kommt man von dieser Seite aus weiter« (Brief). In Großbritannien erscheint die englische Übersetzung der Histoire de la folie mit einem Vorwort von David Cooper in R.D. Laings Reihe »Studies in Existentialism and Phenomenology«, der sein Buch The Divided Seif [dt. Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Köln 1972] einst Binswanger gewidmet hatte. Begleitet wird das Er­ scheinen des Buches von einem Artikel mit dem Titel »Sanity and Madness - The Invention of Madness« [Gesundheit und Wahnsinn - Die Erfindung des Wahnsinns], den Laing im New Statesman (vom 16. Juni 1967) publiziert. In den englischsprachi­ gen Ländern segelt die Histoire de la folie seither unter dem Ban­ ner der Antipsychiatrie. Wegen der anhaltenden Widerstände verzichtet Foucault endgül­ tig auf die Sorbonne und bewirbt sich um einen Lehrstuhl an der neuen Universität Nanterre, wo er schließlich auch auf einen Lehr­ stuhl für Psychologie berufen wird. Außerdem wird er zum Prüfer für die Zulassung zur Ecole nationale d’administration bestellt. Juni - Am 1. Juni Begegnung mit Präsident Bourguiba. Er liest Panofsky und schreibt einen Artikel für den Nouvel Observateur, für den er nun häufiger schreiben wird (siehe unten Nr. 51). Vom 5. bis 10. Juni kommt es in Tunis wegen des Sechstage­ kriegs zu antiimperialistischen Demonstrationen vor der amerika­

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nischen Botschaft und zu Pogromen gegen jüdische Geschäfts­ leute, die wahrscheinlich von den Machthabern inszeniert wur­ den, um die Inhaftierung von Oppositionellen rechtfertigen zu können. Immer häufiger treffen politisierte Studenten sich bei Foucault. Der notiert: »Sie sind Sino-Castristen.« Andererseits richten die tunesischen Behörden wegen der »großen Wertschät­ zung« Präsident Bourguibas plötzlich einen Telefonanschluss bei ihm ein. Juli - Rückkehr nach Vendeuvre: »Dieser Winkel der Erde muss einiges haben, dass ich mich dort fast wohl fühle« (Brief). Am 16. Juli schreibt er: »Ich lese Nietzsche; ich glaube, ich be­ ginne zu verstehen, warum er mich immer schon fasziniert hat. Eine Morphologie des Willens zum Wissen in der europäischen Zivilisation, die man bisher zugunsten einer Analyse des Willens zur Macht vernachlässigt hat« (Brief). August - Am 15. August stirbt Magritte. Am 25. August schließt Foucault die Archéologie du Savoir ab: »Im Winter werde ich mir zwei, drei Monate nehmen müssen, um sie nochmals durchzulesen.« Oktober - Da Foucault den Eindruck hat, das Bildungsmini­ sterium verzögere die Bestätigung seiner Berufung nach Nanterre, reist er für ein weiteres Jahr nach Tunis. Uraufführung des Films La Chinoise [Die Chinesin] von JeanLuc Godard, in dem Anne Wiazemski, eine prochinesische Stu­ dentin, Tomaten auf Les Mots et les Choses wirft, das als Symbol für die Negation der Geschichte, also auch der Revolution gilt. November - »Ich habe von den Cahiers pour Vanalyse einen guten Fragebogen erhalten«, der für eine Nummer über die »Gé­ néalogie des sciences« [Genealogie der Wissenschaften] bestimmt ist (siehe unten Nr. 59). Er beendet »eine kleines Ding über Margritte« und verspricnt den Editions de Minuit einen Essay über Manet, der den Titel Le Noir et la Chaleur [Die Schwärze und die Hitze] tragen soll. Vom 14. bis zum 19. November kurzer Aufent­ halt in Italien wegen des Erscheinens der italienischen Überset­ zung von Les Mots et les Choses bei Rizzoli, die mit einem Nach­ wort von Georges Canguilhem: »Mort de l’homme ou épuisement du cogito« [Der Tod des Menschen oder die Erschöpfung des cogito] versehen ist. In Mailand lernt er Umberto Eco kennen. Er hält einen Vortrag über Manet. In Rom sieht er Burin des

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Roziers wieder, der dort inzwischen Botschafter ist und ihm einen Posten als Berater in kulturellen Fragen anbietet, doch an solch einer Stelle hat Foucault kein Interesse mehr. Dezember - Eine Verletzung der Netzhaut wird entdeckt, die möglicherweise von einem Tumor stammt. »Den sterbenden Kör­ per leben, nicht gerade geeignet, die Angst zu dämpfen. Ich über­ arbeite meinen Text. Die vierte Überarbeitung in zwei Jahren. Ich habe den Eindruck, ich erkläre mich selbst ganz gut, ausgezeich­ nete Stimmung« (Brief). In der Dezembernummer der Zeitschrift Preuves verzeichnet der Historiker François Furet bei den französischen Intellektuel­ len einen ideologischen Niedergang, den er auf den Sieg des Strukturalismus über den Marxismus zurückführt. »Ich werde ihm nebenher in der Antwort an Domenach antworten« (Brief; siehe unten Nr. 58). 1968 Januar-E r liest nochmals den Beckett der Jahre 1950-1953 und Rosa Luxemburg. Am 15. Januar teilt ihm Alain Peyrefitte, Bil­ dungsminister und ehemaliger Kommilitone an der Ecole nor­ male, persönlich mit, dass seine Berufung nach Nanterre bestätigt worden ist. Auf der Durchreise trifft Foucault sich in Paris mit einer Gruppe von Studenten aus Nanterre und wundert sich: »Seltsam, diese Studenten reden über ihre Beziehung zu den Profs, als ginge es dabei um Klassenkampf.« Februar - Öffentlicher Vortrag in Tunis über die italienische Bildtradition, dem unauffällig auch Ben Salah beiwohnt, der bald Premierminister werden wird. In Frankreich veröffentlicht die kommunistische Zeitschrift La Pensée drei kritische Interviews zu Les Mots et les Choses. Foucault reagiert heftig. Die Leitung der Zeitschrift verhandelt in mehreren Briefen über eine Ab­ schwächung der Formulierungen, die Foucault systematisch dem Arsenal kommunistischer Beleidigungen entnommen hat (siehe unten Nr. 58). März - Am 10. März kündigt La Quinzaine littéraire auf der ersten Seite eine Polemik zwischen Sartre und Foucault an. Tat­ sächlich geht es darum, eine Antwort Foucaults auf die von Sartre in UArc vorgetragenen Vorwürfe zu provozieren. Doch Foucault geht darauf nicht ein (siehe unten Nr. 56).

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Er liest Che Guevara. Vom 15. bis. 19. März Demonstration an der Universität Tunis für die Freilassung der seit dem letzten Jahr inhaftierten Studenten. Die Polizei verhaftet nach Fotografien die wichtigsten Studenten­ führer, insbesondere die der Groupe d’études et d’action socialiste tunésien, die nach ihrer Publikation »Perspectives« benannt wird; Einige von ihnen werden gefoltert und wegen Gefährdung der inneren Sicherheit angeklagt. Die noch freien Aktivisten drucken heimlich ihre Flugblätter bei Foucault, bei dem sie ihren Verviel­ fältiger versteckt haben. Mit ihrem Einverständnis beschließt er, in Tunis zu bleiben, um ihnen logistische und finanzielle Hilfe bei ihrer Verteidigung zu leisten. Er trifft sich erfolglos mit Präsident Bourguiba und dem französischen Botschafter Sauvagnargues. Er lässt aus Frankreich den jungen Sekretär des Syndicat national de l’enseignement supérieur Alain Geismar kommen, den er nicht kennt. In Frankreich wird er kritisiert, weil er Tunesien nicht demonstrativ verlassen hat. Am 22. März wird in Nanterre offi­ ziell eine Studentenbewegung gegründet. Foucault schreibt: »Von hier aus sieht man auf Nanterre herab.« Studentendemonstratio­ nen in Warschau, Madrid und Rom. April - Im Wagen fährt er durch die Große Syrte und besucht Leptis Magna und Sabrata an der libyschen Küste. Mai - Vom 3. bis 13. Mai Straßendemonstrationen in Paris und Besetzung der Sorbonne, die sich fast zu einem Generalstreik in ganz Frankreich ausweiten. Foucault kann nicht aus Tunis weg. Maurice Clavel schreibt in Ce que je crois [Was ich glaube]: »Als ich am 3. Mai nach Paris fuhr, kaufte ich mir an der Gare de Lyon die Tageszeitungen, und angesichts der Schlagzeilen über die erste Studentenrevolte sagte ich zu meiner Frau mit einer wohl seltsam erscheinenden Ruhe, da haben wir es, jetzt ist es da... Was? fragte meine Frau. Der ganze Foucault..., denn waren Les Mots et les Choses nicht die großartige Voraussage der geologischen Verwer­ fungen in unserer menschlichen, humanistischen Kultur, zu denen es im Mai 68 kommen sollte? Ich eilte zum Nouvel Observateur und schrieb in wenigen Minuten fünf Seiten nieder; der Anfang lautete: Eine neue Résistance ist heute über Nanterre und die Sorbonne hereingebrochen... Hat man geglaubt, der Tod des Menschen fände zwischen den Editions du Seuil und Minuit statt?«

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Am 27. Mai nutzt Foucault einen Sonderflug, um nach Paris zu gelangen, wo die Führer der Linken, darunter Mendès-France, sich im Stadion Charléty zu einem Treffen versammeln, an dem auch Foucault teilnimmt. Juni - Am 16. Juni schreibt er aus Tunis: »Von hier aus ist es ein großes Rätsel.« Der tunesische Geheimdienst versucht Foucault einzuschüchtern, damit er Tunesien verlässt. Ende Juni nimmt er an den letzten Demonstrationen und den Veranstaltungen in der Sorbonne teil. Blanchot berichtet, er habe mit ihm an der Sor­ bonne gesprochen, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob Foucault ihn erkannt hatte (in: Maurice Blanchot, Michel Foucault tel que je l'imagine, Paris 1986; dt. Michel Foucault, vorgestellt von Maurice Blanchot, Tübingen 1987). Foucault hatte nie versucht, ihn zu treffen, weil er, wie er sagte, ihn zu sehr bewunderte, als dass er ihn hätte kennenlernen wollen. Am 30. Juni gewinnt die Partei General de Gaulles die von Georges Pompidou organisierte Wahl. Juli - Die tunesische Regierung schafft einen Gerichtshof für Staatssicherheit, der die Studenten aburteilen soll. Foucault be­ schließt, den Sommer über in Tunesien zu bleiben. September - Hélène Cixous tritt an ihn heran, um ihn für das Projekt einer Versuchsuniversität zu gewinnen, die Bildungs­ minister Edgar Faure außerhalb des Quartier Latins in Vincennes einrichten möchte. Am 9. September wird in Tunis der Prozess gegen 134 studentische Aktivisten eröffnet. Foucault hat französi­ schen Anwälten Informationen über die Inhaftierten zukommen lassen. Aber die Verteidigung hat keine Chance, zu Wort zu kom­ men. Ahmed Ben Othman wird zu vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt, die er auch absitzen wird. Am 30. September beendet das Außenministerium Foucaults Abordnung nach Tunis auf des­ sen Bitte und weist ihn wieder der Universität Nanterre zu. Sein ehemaliger Lehrer Jean Wahl, Honorarprofessor an der Sorbonne, übernimmt seinen Lehrstuhl in Tunis. Oktober - Foucault liest Texte der amerikanischen Black Pan­ thers, die ihn begeistern: »Sie entwickeln eine strategische Analyse, die frei von marxistischer Gesellschaftstheorie ist« (Brief). Auf dem Schiff, das ihn zurück nach Marseille bringt, erfährt er am 27. Oktober vom Tod Jean Hyppolites. Dessen Witwe übersendet ihm Hyppolites Sammlung an Beckett-Werken. Er wird beider Namen in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France nennen.

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November - Das Parlament überträgt einen Teil der staatlichen Befugnisse im Bereich der Universität auf gewählte Räte aus Pro­ fessoren und Studenten und ersetzt die Einteilung in Fakultäten durch neue, fächerübergreifende Einheiten. Die neue Universität in Vincennes soll diese Organisation der Macht und des Wissens erproben. Bildungsminister Edgar Faure möchte, dass Foucault die Leitung dieses Versuchs übernimmt. Doch Foucault lehnt ab und beschränkt sich auf die Auswahl der Dozenten für den Be­ reich der Philosophie, wobei er auf den Rat Alain Badious zu­ rückgreift, der Althusser nahesteht. Zusammen mit Serge Leclaire, dem Lacanianischen Psychoanalytiker, gründet er die erste Abtei­ lung für Psychoanalyse an der Universität. Mit dem Soziologen Jean-Claude Passeron möchte er statt einer Fakultät für Geistes­ und Humanwissenschaften eine fächerübergreifende Einheit schaffen, die Naturwissenschaft und Politik miteinander verbin­ det. Alain Badiou betraut er mit der Aufgabe, die Archéologie du savoir zu kürzen. Die Presse kritisiert die für die Personalauswahl an der Ver­ suchsuniversität Vincennes Zuständigen, die in der Mehrzahl linksorientiert sind. Dezember - Foucault wird zum Professor für Philosophie an der Versuchsuniversität Vincennes ernannt. 1969 Januar - Die Universität in Vincennes wird offiziell eröffnet; sie ist in doppelter Hinsicht ein Testfall: für die politische Macht, die alle herausragenden Köpfe der Geistes- und Humanwissen­ schaften dort versammelt hat; für die Studentenbewegung, die sehen will, wie weit ihre Autonomie wirklich reicht. Beim ersten Konflikt greift die Polizei ein. Foucault beteiligt sich am physi­ schen Widerstand gegen die Polizei und an der Besetzung der Gebäude; er wird festgenommen und verbringt die Nacht zusam­ men mit 200 Studenten in Polizeigewahrsam. Am 19. Januar nimmt er zusammen mit Louis Althusser, Suzanne Bachelard, Georges Canguilhem, François Dagognet, Martial Guéroult, Michel Henri, Jean Laplanche, Jean-Claude Pariente und Michel Serres an einer Hommage für Jean Hyppolite an der Ecole nor­ male supérieure teil. Er unterzeichnet die Ankündigung der Pu­ blikation dieser Hommage bei den Presses Universitaires de

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France im Januar 1971 und steuert einen Text bei, den wichtigsten Text über Nietzsches Verhältnis zur Genealogie (siehe unten Nr. 67 und 84). Februar - Am 10. Februar wird Foucault eingeladen, auf einer Protestversammlung in der Mutualité zu sprechen, die sich gegen die Relegation von dreißig Studenten richtet. Er ist sehr zufrieden, als Demonstrant und nicht als Intellektueller auftreten zu können. Sartre spricht gleichfalls auf dieser Veranstaltung, aber die beiden begegnen einander nicht. M. Contât und M. Rybalka berichten: »Sartre fand auf dem Rednerpult einen Zettel vor, auf dem stand: >Sartre, fasse dich kurze Diese Veranstaltung und der Empfang, den die Studenten ihm bereiteten, markieren den Ausgangspunkt seiner späteren Entwicklung; zum ersten Mal erlebt Sartre unmit­ telbar, dass man ihn ablehnt« (J.-P. Sartre, Œuvres romanesques, Paris 1981, S. XCI). In Vincennes hält Foucault eine Vorlesung über »Sexualité et in­ dividualité« [Sexualität und Individualität], die dem in der Ar­ chéologie du savoir angekündigten Forschungsprogramm ent­ spricht und sich mit der Geschichte der Vererbungslehre und der Rassenhygiene befasst; eine weitere Vorlesung behandelt »Nietzsche et la généalogie« [Nietzsche und die Genealogie]. Am 22. Februar hält er auf Bitten von Henri Gouhier einen Vor­ trag in der Société française de philosophie. Darin behandelt er die Funktion des Autors in Fortsetzung der in der Archéologie du savoir vorgenommenen Analyse (siehe unten Nr. 69) und verdeut­ licht seine Distanz zu Derrida und Barthes. Der im Bulletin de la Société de philosophie eher versteckte als veröffentlichte Text wird dem von Barthes über den Tod des Autors gleichgestellt und in Frankreich wenig beachtet; große Beachtung findet er dagegen in der amerikanischen Literaturtheorie. März Am 13. März erscheint bei Gallimard L ’Archéologie du savoir [dt. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971]. Die knappe Darstellung des in früheren Arbeiten Gesagten und seine Abgrenzung gegenüber dem Strukturalismus enttäuschen manche Erwartungen. Zu mehreren Vorträgen über »Humanisme et antihumanisme« [Humanimus und Antihumanismus] ins Londoner Institut fran­ çais eingeladen, erfährt er, das Außenministerium wünsche nicht, dass er in englischen Universitäten spricht, weil es unangenehm -

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wäre, wenn er sich dort öffentlich gegen das neue Hochschulge­ setz ausspräche {Le Nouvel Observateur 227, 17.-23. März 1969, siehe unten Nr. 65). Er lehnt es ab, zum üblichen Publikum des Kulturinstituts über Philosophie zu reden und spricht statt dessen mit englischen Studenten über ihr konkretes Engagement. Er wird übrigens niemals in England Vorträge halten. April - Am 27. April unterliegt General de Gaulle beim Refe­ rendum über Dezentralisierung und über die Teilhabe der Arbeit­ nehmer am Kapital der Unternehmen und tritt zurück. Mai - Während der von G. Canguilhem am Institut de Phistoire des sciences am 30. und 31. Mai veranstalteten Cuvier-Tagung entwickelt Foucault das Problem des Autors in den Naturwissen­ schaften (siehe unten Nr. 77). Juli - Zusammen mit Emmanuel Le Roy Ladurie, Jacques Le Goff, Gérard Genette und Michel Serres beteiligt er sich an einer Serie von Radiosendungen über neue Methoden in der Ge­ schichtswissenschaft. August - Am 4. August berichtet der Nouvel Observateur über eine Kritik der Literaturnaja Gazieta, Organ des sowjetischen Schriftstellerverbandes, an Foucault: »Am Marxismus stört Fou­ cault der Humanismus. Als einzige Quelle revolutionärer Umge­ staltung der Welt ist der Marxismus der wahre und echte Huma­ nismus unserer Zeit.« November - Am 30. November beschließt die Professorenver­ sammlung des Collège de France, Jean Hyppolites Lehrstuhl für die Geschichte des philosophischen Denkens in einen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme umzuwandeln. Traditionell wird der Name des zukünftigen Lehrstuhlinhabers während der Wahl niemals genannt. Berichterstatter ist Jules Vuillemin: »Das Projekt, das ich vorstelle, steht nicht in der philosophischen Tra­ dition der Cartesianischen Theorie einer substantiellen Einheit zwischen Denken und Raum.« Und mit Blick auf die Geschichte der Begriffe erklärt er: »Hinsichtlich der Begriffe beschreiben wir theoretische Bücher so abstrakt, als hätte ihr Erscheinungsdatum nichts mit ihrer Entstehung oder ihrem Charakter zu tun.« Und er schließt: »Wenn wir den Dualismus aufheben und eine nichtcartesianische Epistemologie schaffen wollen, müssen wir mehr tun; wir müssen das Subjekt unter Beibehaltung der Gedanken eliminieren und versuchen, Geschichte ohne Rückgriff auf eine

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menschliche Natur zu konstruieren.« Am selben Tag wurde auch die Schaffung eines Lehrstuhls für die Soziologie der Zivilisation beschlossen. Diese Projekte zielten natürlich auf Foucault und Raymond Aron. Mögliche Anwärter auf den philosophischen Lehrstuhl waren außerdem Paul Ricoeur und Yvon Beiaval. Dezember - Die Zeitschrift VEvolution psychiatrique widmet ihre Jahrestagung am 6. und 7. Dezember einer Kritik der Histoire de la folie. 1970

Januar - Der neue Bildungsminister Olivier Guichard verwei­ gert der in Vincennes abgelegten Licence in Philosophie die staat­ liche Anerkennung. Er erklärt, dort seien zu viele Vorlesungen der Politik und dem Marxismus gewidmet (siehe unten Nr. 70). Am 21. Januar erscheint bei Gallimard eine Sammlung von Essays von Leo Spitzer unter dem Titel Etudes de Style. Foucault hat dafür den 1948 bei der Princeton University Press erschienenen Aufsatz »Linguistics and Literary Theory« übersetzt; der franzö­ sische Titel lautet »Art du langage et linguistique«. März - Er erhält eine Einladung vom Department of French Literature der Universität in Buffalo, New York, damals das Zen­ trum der »French Studies« in den USA. Wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei hat er Schwierig­ keiten, ein Visum zu bekommen. Er hält Vorträge über die Suche nach dem Absoluten in Bouvard et Pe'cuchet und über Sade. Do­ nald Bouchard, José Harari und Eugenio Donato werden später die damals vorgelegte modifizierte Fassung von »Qu’est-ce qu’un auteur?« [»Was ist ein Autor?«] veröffentlichen (siehe unten Nr. 258). Er knüpft freundschaftliche Bande zu Olga Bernal, Leiterin des Department of French Literature, und zu Mark Seem, der Deleuze übersetzen wird. An den amerikanischen Universitäten entwickelt sich eine starke Protestbewegung gegen die militärische Auftragsforschung. Fou­ cault unterstützt die sozialistische Studentengruppe SDS (Students for a Démocratie Society), die sich zahlreichen teuren Pro­ zessen ausgesetzt sieht. »Kurz, ich habe mich keine Sekunde und keinen Zentimeter aus Paris fortbewegt« (Brief). Er hält einen Vortrag in Yale. April - Er reist durch das Land Faulkners. Er fährt das Missis­

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sippi-Tal bis nach Natchez hinauf, wo er in The Elms wohnt, einer historischen Herberge aus spanischer Zeit. Am 12. April beschließt die Professorenversammlung des Collège de France Foucaults Berufung auf den Lehrstuhl für die Ge­ schichte der Denksysteme. Aus diesem Anlass veröffentlicht Fou­ cault die Broschüre Titres et Travaux (siehe unten Nr. 71). Die Académie des sciences morales et politiques, die beratende Stim­ me hat, stimmt der Berufung nicht zu. Am 30. April wird ein Gesetz verabschiedet, das erstmals eine gemeinschaftliche strafrechtliche Verantwortung in das französi­ sche Recht einführt und auf die Organisatoren politischer De­ monstrationen zielt. Mai - Vorwort zu den Œuvres complètes [Sämtliche Werke] von Bataille (siehe unten Nr. 74). Der Verlag Gallimard hofft, die Autorität des neuen Professors am Collège de France werde das Werk vor der damals sehr scharfen Zensur schützen. Aus demselben Grund setzt Foucault sich in der Presse für Pierre Guyotats Eden, Eden, Éden ein, das mit einem Vorwort von Michel Leiris, Philippe Söllers und Roland Barthes bei Gallimard erscheint (siehe unten Nr. 79). Am 27. Mai löst die Regierung die Gauche prolétarienne (G.P.) auf, eine nichtleninistisch-maoistische Bewegung, die aus der Ver­ einigung des Mouvement étudiant anti-autoritaire du 22 mars mit der U.J.C.M.L hervorgegangen ist. Juni - Daniel Defert übernimmt in der nun im Untergrund agierenden G.P. zusammen mit anderen die Aufgabe, die Verbin­ dung zu den inhaftierten Mitgliedern aufrechtzuerhalten und die Gerichtsverfahren vorzubereiten. Althusser veröffentlicht in La Pensée einen langen Aufsatz, in dem er zwischen einem Staatsapparat, der auf Gewalt basiert, und einem Staatsapparat unterscheidet, dessen Funktionsweise auf Ideologie basiert. Foucault kritisiert diese Unterscheidung; in Surveiller et Punir [dt. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976] wird er später zahl­ reiche Antworten darauf geben. Am 17. Juni bestätigt das Bildungsministerium Foucaults Beru­ fung ans Collège de France. August - Am 8. August schreibt er: »Ich hatte ein Nachwort für die Neuausgabe von Les Mots et les Choses versprochen, aber

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diese Dinge interessieren mich jetzt nicht mehr« (Brief). Er liest nochmals Krawtschenko und die amerikanischen Wissenschafts­ historiker. September-Oktober - Er folgt einer Einladung nach Japan, wo man bisher nur seine (1969 übersetzte) Naissance de la clinique [dt. Die Geburt der Klinik] und Maladie mentale et Psychologie [dt. Psychologie und Geisteskrankheit] kennt, die 1970 von Dr. Myeko Kamiya übersetzt wird, Psychiaterin und Schwester von Prof. Maeda, Inhaber des Lehrstuhls für die französische Zivilisa­ tion, die Foucault 1963-1964 in Paris kennengelernt hat. Seine Schriften zur Literatur sind gerade mit einer Einleitung von Prof. Moriaki Watanabe erschienen. Er hält drei Vorträge: »Manet«, »Folie et société« [Wahnsinn und Gesellschaft] und »Retour à Phistoire« [Rückkehr zur Geschichte]. Er besucht Tokio, Nagoya, Osaka und Kyoto (siehe unten Nr. 82, 83 und 103). Gegenüber Moriaki Watanabe kündigt er ein Buch über das Strafsystem und die Geschichte des Verbrechens in Europa an. Mikitaka Nakano, Herausgeber der japanischen Zeitschrift Paideia, bereitet eine Sondernummer zum Verhältnis zwischen Phi­ losophie und Literatur bei Foucault vor. Darin möchte er einen Artikel von J. Miyakawa über Derrida und Foucault und Derridas Aufsatz »Cogito et Histoire de la folie« [dt. »Cogito und Ge­ schichte des Wahnsinns«, in: Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, S. 53-101] aufnehmen. Foucault bietet Nakano an, eine Antwort auf Derridas Aufsatz zu schreiben. Gallimard kauft die Rechte an der Histoire de la folie zurück und bereitet eine vollständige Neuausgabe vor, in der auch Foucaults Analyse des Cartesianischen »Cogito« enthalten sein soll, die seit der Ausgabe von 1964 fehlt. Auf dieser Neuausgabe basiert auch die japanische Übersetzung (siehe unten Nr. 104). Nach Paris zurückgekehrt, liest Foucault die Stoiker und Deleuze, der gerade bei P.U.F. Différence et Repetition [dt. Differenz und Wiederholung, München 1992] und bei den Editions de Minuit Logique du sens [dt. Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993] veröffentlicht hat (siehe unten Nr. 80). Er schreibt einen langen Text über Manet und die Bilder sowie über Andy Warhols Ge­ sichter von Marilyn Monroe, die niemals publiziert werden. November - Vortrag in Florenz über Le Bar des Folies-Bergères

Zeittafel 11 von Manet, ein Bild, das ihn als Gegenstück zu Las Meninas faszi­ niert. Dezember - Am 2. Dezember Antrittsvorlesung am Collège de France. Darin greift er explizit das Problem der Macht auf und unterscheidet zwischen einem kritischen und einem genealogi­ schen Ansatz. Jeden Mittwoch um 17 Uhr 45 hält er nun eine Vorlesung, jedes Jahr eine neue, in der er die Hypothesen und Materialien seiner zukünftigen Bücher erkundet. Vor einer internationalen Zuhörer­ schaft behandelt er in seiner ersten Vorlesung »La volonté de savoir« [Der Wille zum Wissen], und stellt darin zwei gegensätz­ liche theoretische Modelle vor, das von Aristoteles und das von Nietzsche. Montags um 17 Uhr 30 findet das Seminar statt, das sich in diesem Jahr mit den Anfängen der forensischen Psychiatrie im Zeitalter der Restauration befasst.

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Januar - In nostalgischer Erinnerung an das Licht im Golf von Karthago mietet Foucault in der Rue de Vaugirard 285 im ober­ sten Stockwerk eine Wohnung mit sehr großen Fenstern. Februar - Anlässlich einer Pressekonferenz der Anwälte der militanten Maoisten, die in einen Hungerstreik getreten sind, um als politische Gefangene anerkannt zu werden, kündigt Fou­ cault am 8. Januar die Gründung der Groupe d'information sur les prisons (G.I.P.) an, die ihren Sitz in seiner Wohnung haben wird. Im Dezember 1970 hat ein »Volkstribunal«, bei dem Sartre die Rolle des Anklägers übernahm, nach den wahren Ursachen und Verantwortlichen der Katastrophe von Fouquières-les-Lens ge­ forscht. Arzte legten Untersuchungsberichte über die staublun­ genkranken Bergleute vor. Daniel Defert macht nun der Gauche prolétarienne den Vorschlag, eine ähnliche Untersuchungskom­ mission zur Situation der Strafgefangenen zu bilden, um eine grö­ ßere Öffentlichkeit für den Hungerstreik zu schaffen, den die inhaftierten Aktivisten am 14. Januar begonnen haben. Foucault übernimmt begeistert die Leitung der Operation. Aber er ändert die Strategie grundlegend, indem er der Aktion jeden Anschein eines Tribunals nimmt und eine soziale Bewegung daraus macht. Er startet eine »Intoleranz-Enquete«, wie er es nennt, bei der es darum geht, zu sammeln und aufzuzeigen, was nicht tolerierbar

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ist, und zugleich Intoleranz herauszufordern. Auf Anraten des Richters Casamayor lädt er Jean-Marie Domenach und den Hi­ storiker Pierre Vidal-Naquet, der die Folter während des Alge­ rienkrieges angeprangert hatte, dazu ein, das Projekt gemeinsam mit ihm voranzutreiben (siehe unten Nr. 86, 87, 88 und 90). Am 2i. Februar erscheint bei Gallimard L ’Ordre du Discours [dt. Die Ordnung des Diskurses, München 1974], seine Antrittsvor­ lesung am Collège de France; darin sind auch die Teile enthalten, die er aus Zeitgründen abgeändert oder weggelassen hatte. Am 28. Februar bezeichnet George Steiner Foucault in der New York Review of Books abschätzig als »the mandarain of the hour« [der Mandarin der Stunde] (siehe unten Nr. 97 und 100). März-April - In ganz Frankreich schmuggeln Aktivisten der G.I.P. Fragebögen in die Gefängnisse ein. Verwandte von Gefan­ genen versorgen Foucault mit bruchstückhaften Informationen seitens der Inhaftierten. April - Aufenthalt in Montreal auf Einladung der McGill-Universität. Man fragt ihn nach den Erfahrungen der G.I.P. Er trifft Vertreter der M.D.P.P.Q. und der F.L.Q., die für die Unabhän­ gigkeit Quebecs eintreten. Er lernt Chartrand, Robert Lemieux und Gragnon kennen und besucht den Autor von Les Nègres blancs d’Amérique, Pierre Vallières, im Gefängnis. Mai - Am 1. Mai werden Foucault, J.-M. Domenach und ein Dutzend Mitglieder der G.I.P. wegen Agitation vor den Toren von Gefängnissen festgenommen. Ein Polizist schlägt Foucault und schreit »Heil Hitler!« (siehe unten Nr. 90). Am 20. Mai hält er auf Einladung seiner tunesischen Freunde im Club Tahar Haddad einen Vortrag über Manet. Er setzt sich ver­ geblich bei den Behörden für die inhaftierten Studenten ein. Am 21. Mai erscheint die erste Broschüre der G.I.P., Enquete dans vingt prisons [Untersuchung in zwanzig Gefängnissen], eine Montage aus Antworten auf den Fragebogen, die von Foucault ausgewählt und mit einer Einleitung versehen worden ist, ohne dass sein Name genannt würde (Champ libre, Collection »Into­ lérable«). Am 29. Mai will der Journalist Alain Jaubert einen verletzten Demonstranten begleiten, der in einem Polizeiwagen abtranspor­ tiert wird, und wird wenig später selbst blutend ins Krankenhaus eingeliefert, wobei man ihn beschuldigt, einen Polizisten geschla­



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gen und verletzt zu haben. Zusammen mit dem Anwalt Denis Langlois von der Liga der Menschenrechte bildet Foucault eine Untersuchungskommission, die den wahren Sachverhalt im Fall Alain Jaubert aufklären soll (siehe unten Nr. 92 und 93). Die Affäre Jaubert mobilisiert die Journalisten, die sich immer häufi­ ger mit den Polizeipraktiken auseinandersetzen müssen. Grün­ dung der von Maurice Clavel geleiteten Presseagentur Libération, aus der später die Zeitung Liberation hervorgehen wird. Anläss­ lich der Affäre Jaubert trifft Foucault durch Vermittlung von Maurice Clavel mit Claude Mauriac zusammen. Es zeigt sich eine gewisse Annäherung zwischen linken Gaullisten und extremer Linker (Claude Mauriac, Le Temps immobile, Bd. III). Juni - Catherine von Bülow bringt Genet in die Rue de Vaugirard; er bereitet eine Verteidigungsschrift für den militanten schwarzen Amerikaner George Jackson vor, der seit elf Jahren in San Quentin und Soledad einsitzt, ohne dass ein Strafmaß fest­ gelegt worden wäre. Foucault und Genet beschließen, den Text gemeinsam zu schreiben, und sehen sich nun häufiger. Catherine von Bülow fliegt in die Vereinigten Staaten, um Jackson und An­ gela Davis im Gefängnis zu besuchen. In Paris möchten die »Maos« nach dem Vorbild des Lens-Tribu­ nals ein Volkstribunal gegen die Polizei organisieren. In einer Debatte mit Pierre Victor alias Benny Lévy von der Gauche pro­ létarienne und André Glucksmann, die von Les Temps modernes die Maos genannt werden, wendet Foucault sich gegen solche Tribunale (siehe unten Nr. 108). Am 18. Juni protestiert Justizminister René Pleven bei Le Monde gegen die dort am 8. Juni erschienene Besprechung der G.I.P.Broschüre. Es findet sich jedoch keine falsche Aussage, die es ermöglichte, die G.I.P. gerichtlich zu belangen. Juli - Die Gefangenen erhalten die Erlaubnis, Tageszeitungen zu lesen und Radio zu hören - ein Erfolg der G.I.P., die in den Gefängnissen populär zu werden beginnt. »Diese neue Aktivität ist eine echte Herausforderung im Vergleich zu dem Überdruss, den ich angesichts der literarischen Beschäftigung empfunden habe.« August - In Vendeuvre studiert Foucault die Geschichte der juristischen Praxis. Er liest nochmals Genets Journal dyun voleur [dt. Tagebuch eines Diebes, Hamburg 1961]. »Und hält es?« fragt

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Genet besorgt, der das Buch, wie er sagt, niemals wieder gelesen hat. Am io. August wird Foucault von den Anwälten von Christian Riss angerufen, der unweit der von Demonstranten angegriffenen jordanischen Botschaft von zwei Polizisten aus nächster Nähe niedergeschossen worden ist. Die Polizisten lassen Riss am Fuß eines Bretterzauns liegen. Foucault, Clavel und Domenach geben eine Pressekonferenz. »Die Republik ist in Gefahr«, erklärt Cla­ vel. Bei dieser Gelegenheit lernt Foucault Thierry Mignon ken­ nen, den Anwalt der iranischen Oppositionellen. Zusammen mit Genet nimmt er sich vor, die luxuriösen Feste des Schahs in Persepolis anzuprangern. Am 21. August wird George Jackson im Gefängnis ermordet. Ca­ therine von Bülow nimmt am Begräbnis teil und veröffentlicht zusammen mit Genet, Deleuze, Defert und Foucault in der Reihe »Intolérable« bei Gallimard eine Dokumentation unter dem Titel V Assassinat de George Jackson. September - Vom io. bis 14. September Gefängnisrevolte mit Geiselnahme im Gefängnis von Attica, New York. Am 2 1 . und 2 2 . September nehmen zwei Häftlinge, Buffet und Bontemps, im Gefängnis von Clairvaux einen Wärter und eine Krankenschwester als Geiseln und töten sie. Ein Teil der öffent­ lichen Meinung sieht die Ursache für diese Tat in der Berichter­ stattung über Attica, die ungehindert in den Gefängnissen verfolgt werden konnte. In der Presse verdrängt der Streit um die Bei­ behaltung der Todesstrafe die kritische Darstellung der Lebens­ bedingungen in den Gefängnissen. Foucault wird sich mehrfach öffentlich gegen die Todesstrafe aussprechen (siehe unten Nr. 1 1 3 , 2 0 J und 2 3 9 ) . Oktober - Simon Leys veröffentlicht sein Buch Habits neufs du président Mao. Foucault ist äußerst empfänglich für diese Kritik, vor allem seit Lin Piao unter rätselhaften Umständen verschwun­ den ist. Sehr skeptisch befragt er die Cinéasten Joris Ivens und Marceline Loridan nach deren Rückkehr aus China. Am 27. Oktober wird der fünfzehnjährige Algerier Djellali Ben Ali vom Hausmeister eines Mietshauses im Pariser Stadtviertel Goutte-d’Or ermordet; in diesem Viertel leben Tausende von Einwanderern aus Nordafrika. Handelt es sich um ein gewöhn­ liches oder um ein organisiertes rassistisches Verbrechen? Die

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palästinensischen Komitees, die in diesem. Tag und Nacht von der Polizei überwachten Viertel mit der Gauche prolétarienne rivali­ sieren, heizen die Stimmung an. November - Beginn der Vorlesung über »Théories et institu­ tions pénales« [Theorien und Institutionen der Strafe], in der er die rechtlichen und politischen Grundlagen bestimmter Wissens­ formen von der Antike bis in 19. Jahrhundert darstellt. Die Vor­ lesungen, die er von 1970 bis 1976 am Collège de France hält, bilden einen ganzen Zyklus über die Entstehung der Normen in einer auf Disziplinierung ausgerichteten Gesellschaft. Das Mon­ tagsseminar, das sich mit rechtsmedizinischen Fachfragen befasst, wird Gelegenheit zur »Erfindung« Pierre Rivières bieten, eines Falles von Verwandtenmord vom Beginn des 19. Jahrhunderts, auf den Foucault in den Annales d’hygiène stößt. Die Geschichte der forensischen Psychiatrie bleibt weiterhin eine Nachfolgepro­ jekt zur Histoire de la folie. Am 7. November veranstalten die Immigranten in La Goutted'Or eine Kundgebung unter der Devise »Rache für Djellali«. Foucault gewinnt dort die Überzeugung, dass die militanten Ak­ tivisten eine terroristische Antwort wünschen. Die extreme maoistische Linke, die zu dieser Zeit am aktivsten ist, steht auf ver­ schiedenen Gebieten vor der Alternative zwischen bewaffnetem oder demokratischem Kampf. Foucault spricht sich immer wieder gegen den Terrorismus aus. Am 11. November mietet er auf eigene Kosten den großen Saal der Mutualité für eine Versammlung über die Gefängnisse. Meh­ rere tausend Menschen drängen sich, um einen Film zu sehen, der in den Gefängnissen von Soledad und San Quentin gedreht wor­ den ist. Angehörige von Strafgefangenen und ehemalige Häftlinge sprechen erstmals in der Öffentlichkeit. Am 27. November entschließt die Gauche prolétarienne sich für den »demokratischen Weg«, und zwar in Gestalt eines Aufrufs von Intellektuellen an die arabischen Arbeiter. Bei dieser Gele­ genheit begegnen sich Sartre und Foucault zum ersten Mal, und zwar im Maison verte, einem Versammlungssaal in der Goutted’Or, in Begleitung von Jean Genet (Claude Mauriac, Le Temps immobile, Bd. III, S. 291). Von dieser Begegnung gibt es ein Foto, auf dem Sartre, körperlich schwach, aber für die Polizei unantast­ bar, neben Foucault, der in ein Megaphon spricht, Glucksmann

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und Catherine von Bülow zu sehen ist. Foucault, Claude Mauriac und einige andere Intellektuelle rufen das Djellali-Komitee ins Leben, das untersuchen soll, ob es einen politisch organisierten Rassismus gibt. Das Komitee organisiert einen Bereitschaftsdienst im Viertel. Genet berichtet den Arabern von seinen Erlebnissen in palästinensischen Flüchtlingslagern, möchte aber »nicht den In­ tellektuellen spielen, wenn er zu französischen Fragen Stellung nimmt; er zieht es vor, auf der Seite der Palästinenser oder der Black Panthers zu stehen, die so viel größerer Verfolgung ausge­ setzt sind, dass er das Gefühl hat, dort als Dichter zu handeln«. Ende Dezember zieht er sich zurück, weil er sich der kommuni­ stischen Partei angenähert hat. Auf Einladung der holländischen Fernsehstiftung debattiert Foucault in Eindhoven mit Noam Chomsky über die Frage der menschlichen Natur (siehe unten Nr. 132). Chomsky hat dieses Gespräch in Language and Responsability (Hassocks 1979) kom­ mentiert. Dezember - Am 4. Dezember beteiligt Foucault sich an einer Demonstration der Angehörigen von Strafgefangenen vor dem Justizministerium an der Place Vendôme gegen die kollektiven Strafmaßnahmen und Repressalien, die man nach den Ereignissen von Clairvaux gegen die Strafgefangenen ergriffen hat. Die Re­ pressalien und die Unterstützung von außen bilden den Aus­ gangspunkt für insgesamt 35 Gefängnisrevolten im Winter 19711972, vor allem in Toul und dann in Nancy, wohin Foucault sich begibt. Eine Fraktion der Maoisten um Robert Linhart, die mit Foucaults als »ultralinks« eingestuften Positionen nicht überein­ stimmt, veranlasst Sartre zu Texten, die in der Frage der Gefäng­ nisse eine Gegenposition zu Foucault vertreten. Vom 9. bis 13. Dezember kommt es im Ney-Gefängnis in Toul zu mehreren Gefängnismeutereien. Foucault untersucht die Unter­ schiede in den dabei zu beobachtenden Gewaltritualen zwischen jüngeren und älteren Gefangenen. Am 10. Dezember erscheint die zweite Broschüre der G.I.P.: Le GIP enquête dans une prison modèle: Fleury-Mérogis,, von Jac­ ques-Alain Miller und François Régnault (Champs libre). Am 16. Dezember verliest Foucault auf einer Pressekonferenz in Toul eine Erklärung der Anstaltspsychiaterin Dr. Edith Rose »über das, was sie in Ausübung ihres Amtes gesehen und gehört

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hat«. Für Foucault ist diese Erklärung typisch für das Handeln einer bestimmten Art von Intellektuellen (siehe unten Nr. 99). 1972

Januar - Am 5. Januar nimmt Foucault an einer weiteren Ver­ sammlung in Toul teil. Sartre schickt eine Grußadresse, in der er das Regime anklagt, »das uns alle in einer Welt der Konzentra­ tionslager gefangenhält« {Le Monde). Am 15. Januar Revolte im Gefängnis von Nancy. Foucault erklärt gegenüber dem Nouvelle Observateur im Blick auf die Geschichte der G.I.P.: »Wir kamen mit unseren Fragen über Kälte und Hunger, und die Gefangenen antworteten uns mit anderen Dingen, genau jenen nämlich, die heute im Mittelpunkt der Revolten und der Forderungen stehen: Arbeitsbedingungen, rechtlicher Schutz der Häftlinge in den An­ stalten, Recht auf Information, Ausgang und Abschaffung des Strafregisters« {Le Nouvel Observateur, 17. Januar 1972, Sonder­ nummer über Les prisons de Pleven). Zusammen mit Sartre, Mi­ chelle Vian - die in der Folgezeit für ein freundschaftliches Ver­ hältnis zwischen Sartre und der G.I.P sorgt, in der sie selbst aktiv ist -, mit Gilles Deleuze, Claude Mauriac, Jean Chesnaux, Alain Jaubert und insgesamt vierzig Personen veranstaltet Foucault am 18. Januar ein Sit-in in der Eingangshalle des Justizministeriums, um den Forderungen aus den verschiedenen Gefängnissen Gehör zu verschaffen. Februar - Am 25. Februar wird der maoistische Aktivist Pierre Overney von einem Wachmann bei den Renault-Werken in Bil­ lancourt erschossen. Bei der am Abend stattfindenden Demon­ stration werden Foucaults Personalien von der Polizei überprüft. An den folgenden Tagen fährt er Sartre ein oder zwei Mal mit seinem Wagen nach Billancourt. Am 26. Februar Aktionstag der G.I.P in Nancy mit Männern und Frauen, die wegen Unterstüt­ zung der Front de libération nationale de l’Algérie (F.L.N.) im Gefängnis gewesen waren; sie schreiben: »Wir unterstützen die gegenwärtige Revolte zahlreicher Gefangener, die hauptsächlich von jungen Leuten getragen wird, die meist wegen der sozialen Ungerechtigkeit im Gefängnis gelandet sind, und wir fordern die ganze Bevölkerung auf, sie zu unterstützen, und wir setzen uns persönlich für die Gefangenen und ihre Forderungen und für die Menschenwürde ein, auf die jeder Mensch ein Recht hat, auch

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wenn er im Gefängnis sitzt« {Le Nouvel Observateur, 6. März 1972). Die Polizei geht hart gegen die Demonstranten vor. März - Am 8. März entführt die Nouvelle Résistance proléta­ rienne (N.R.P.), ein im Untergrund agierender Zweig der G.P., einen Renault-Manager zur Vergeltung für den Mord an Overney. Der Terrorismus scheint in Frankreich eine reale Gefahr zu sein. Neuausgabe der Naissance de la clinique ohne die Ausdrücke, Begriffe und Wendungen, die eine strukturalistische Interpreta­ tion nahelegen, und mit einer deutlichen Aufmerksamkeit für die Analyse der Diskursformationen. Deleuze und Guattari veröffentlichen UAnti-Œdipe, den ersten Band von Capitalisme et Schizophrenie [dt. Anti-Ödipus. Kapita­ lismus und Schizophrenie, Frankfurt am Main 1974]. Foucault sagt scherzhaft zu Deleuze: »Wir sollten uns von diesem Freudomar­ xismus lösen.« Deleuze erwidert: »Ich übernehme Freud. Küm­ mern Sie sich um Marx?« In der Zeitschrift L'Arc (deren Nr. 49 Gilles Deleuze gewidmet ist) erscheint eine Diskussion, in der die beiden Philosophen den Akzent auf das Problem der Macht legen, das zu den wichtigsten Themen der politischen Diskussion zu werden beginnt (siehe un­ ten Nr. 106). Nach dem Vorbild der G.I.P. entstehen mehrere andere Gruppen: die Groupe information-santé (G.I.S.), die Groupe informationasyle (G.I.A.) und etwas später die Groupe information et soutien des travailleurs immigrés (G.I.S.T.L). Zusammen mit der G.I.S. erarbeitet Foucault ein Manifest zur Medizin. Anstelle des verbo­ tenen Tribunals über die Polizei schaffen die Maoisten mehrere sogenannte Comitées vérité-justice im Zusammenhang mit ver­ schiedenen Justizskandalen. Foucault ist wieder in Buffalo; er ist sehr beeindruckt von der Wirtschaftsflaute und der Arbeitslosigkeit. Er interessiert sich für die politische Geschichte des New Deal. Sein amerikanisches Se­ minar befasst sich mit »La volonté de vérité dans la Grèce an­ cienne: Hésiode, Homère, la forme du procès dans L'IIliade, l'Œdipe roi de Sophocle et Les Bacchantes d’Euripide« [Der Wille zur Wahrheit im antiken Griechenland: Hesiod, Homer, die Form des Prozesses in der Ilias, in König Ödipus von Sophokles und den Bacchanten von Euripides] sowie mit dem Ursprung des Geldes.

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April - Am 7. April Vortrag in Minneapolis über »Cérémonie, théâtre et politique au XVIIe siècle« [Zeremonie, Theater und Po­ litik im 17. Jahrhundert] im Rahmen der Fourth Annual Confe­ rence on i7th Century French Literature. Am 21. April besucht er zusammen mit K.J. Simon, Professor in Buffalo, das Gefängnis in Attica (siehe unten Nr. 137) und trifft mit dem Attica Defense Committee zusammen. Er verweist auf die nicht nur repressiven, sondern auch produktiven Funktionen der Kerkermacht. Die G.I.P. veröffentlicht die von Hélène Cixous und Jean Gattégno zusammengestellten Cahiers de revendications sortis des prisons, die den Übergang von der Gefängnismeuterei zu einer poli­ tischen Diskussion über die Forderungen markiert. Mai - Bis September folgt eine Reihe von Debatten über die Geschichte der kollektiven Einrichtungen mit dem Centre d’étu­ des de recherches et de formation institutionelles, in dem Félix Guattari eine maßgebliche Rolle spielt. Juni - Bei Gallimard erscheint in der »Bibliothèque des histoi­ res« die Neuausgabe der nun wieder vollständigen, aber um das ursprüngliche Vorwort gekürzten Histoire de la folie (siehe unten Nr. 4). Deleuze überzeugt Foucault, den bereits veröffentlichten Text »La folie, l’absence de l’œuvre« [dt. »Der Wahnsinn, die Abwesenheit eines Werks«] beizugeben, dem er außerdem die überarbeitete Antwort auf Derrida hinzufügt, die er 1971 den Ja­ panern zur Veröffentlichung überlassen hatte (siehe unten Nr. 25 und 102). Am 8. Juni beginnt der Prozess gegen die Meuterer von Nancy. In der Presse heißt es: »Hier wird der Situation im Strafvollzug der Prozess gemacht.« Die rechtsextreme Presse nennt Foucault den »unsterblichen Autor der Histoire de la folie, der wie durch Zufall aus Warschau zu uns gekommen ist« {Minute), Ariane Mnouchkine verarbeitet die Gerichtsprotokolle zu einem Stück, das im Théâtre du Soleil und auch in Arbeiterstädten aufgeführt wird. Foucault und Deleuze spielen darin die Rolle von Polizisten. Foucault beklagt den wachsenden Moralismus in der politischen Sprache, vor allem im Blick auf das Verbrechen von Bruay-enArtois, das die Maos im April zum Gegenstand einer politischen Kampagne machen. Foucault informiert sich an Ort und Stelle bei Bergleuten. Er veröffentlicht nichts. Er lernt François Ewald ken­

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nen, der in Bruay Philosophie unterrichtet und 1977 sein Assistent am Collège de France werden wird. September - Er sieht Genet wieder, der ihm von seinen Erin­ nerungen an Mettray erzählt, und er arbeitet an seinem »Buch über die Strafen« [dt. Überwachen und Strafen]. Oktober - Auf Einladung des Department of Romance Studies der Cornell University hält er Vorträge über »Le savoir d’Œdipe de Sophocle« [Das Wissen in Sophokles’ Odipu$\yüber »La litté­ rature et le crime« [Die Literatur und das Verbrechen] und über »La société punitive« [Die Strafgesellschaft]. In einer Sondernummer der Zeitschrift La Nef (Nr. 49) erscheint in Form eines Manifests der Antimedizin die Zusammenfassung eines Roundtable-Gesprächs der G.I.S. mit Michel Foucault. Die G.I.S. erklärt, dass sie wie die übrigen Informationsgruppen das Ziel verfolgt, das Geheimnis zu brechen, das bestimmte Macht­ strukturen zementiert, die Distanz zwischen Untersuchendem und Untersuchtem in der Beziehung zwischen Arzt und Patient aufzuheben und gegen eine profitorientierte Medizin zu kämp­ fen. November - Am 6. November beginnt am Collège de France das Seminar »Pierre Rivière es ses œuvres« [Pierre Rivière und seine Werke]. Gemeinschaftliche Vorbereitung der Veröffent­ lichung dieses Dossiers. Am 24. November spricht er auf einer Versammlung im Eissta­ dion von Grenoble vor fünfzehnhundert Zuhörern und bezeich­ net bestimmte Mitglieder des »Milieus«, die selbst zu nennen der Secours rouge allzu gefährlich erscheint, als verantwortlich für den im Zusammenhang mit Schutzgelderpressung stehenden Brand in einer Diskothek, bei dem zahlreiche junge Leute ums Leben gekommen sind (siehe unten Nr. 112 und 113). Dezember - Die G.I.P. beschließt, sich aufzulösen. Am 8. Dezember erscheint die erste Nummer der Zeitschrift des Comité d’action des prisonniers (C.A.P.). Ehemalige und inzwi­ schen in Freiheit befindliche Beteiligte an den Gefängnisrevolten haben die erste Gefangenenorganisation Frankreichs gegründet. Foucault zieht sich zurück. Die Unabhängigkeit des Wortes ist bedroht: »Zu lange hat man die Delinquenten nach ihren Erinne­ rungen statt nach ihren Ideen gefragt.« Zur selben Zeit gründen Dominique Eluard, Vercors und Jean-Marie Domenach mit der

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Unterstützung von Deleuze und Foucault die Association de dé­ fense des droits des détenus (A.D.D.D.). Am 16. Dezember Demonstration auf den großen Boulevards we­ gen der Ermordung des Gastarbeiters Mohammed Diab auf einem Polizeirevier in Versailles. Genet, Mauriac und Foucault, die zu dieser Demonstration aufgerufen haben, werden erneut verhaftet und verbringen aufgrund eines Irrtums der Polizei einen Teil der Nacht in Beajon (Claude Mauriac, Le temps immobile, Bde. II, III, IX). Zu Mauriac, der meint, die Presse mache zuviel Aufhebens von den Schlägen, die sie haben einstecken müssen, sagt Foucault: »Wir müssen übertreiben, wie sehr wir geschlagen worden sind, damit die Araber weniger geschlagen werden. Wir müssen für die Araber schreien, die sich kein Gehör verschaffen können« (Le temps immobile, Bd. III, S. 430). Foucault untersucht die Machtbeziehungen auf der Grundlage des »verrufensten aller Kriege: nicht Hobbes, nicht Clausewitz, nicht der Klassenkampf, sondern der Bürgerkrieg« (Brief). Uraufführung des von René Lefort und Hélène Châtelin für die G.I.P. gedrehten Films Les prisonniers aussi. Ein am 29. Dezember verabschiedetes Gesetz stärkt die Rolle der Richter bei der Überwachung des Strafvollzugs und schließt be­ stimmte Strafen von der Aufnahme ins Strafregister aus. Die Ab­ schaffung des Strafregisters war eine Forderung der G.I.P. gewesen. Foucault beteiligt sich an den Vorbereitungen für die neue Zei­ tung Liberation. Er schlägt vor, die aktuelle Berichterstattung um eine Chronik des Arbeitergedächtnisses zu ergänzen und eine Rubrik für die Homosexuellenbewegung einzurichten (Claude Mauriac, Le Temps immobile, Bd. III, S. 422). 1973

Januar - Bei Gallimard erscheint in der Reihe »Intolérable« unter dem Titel Suicides dans les prisons en 1972 die vierte Bro­ schüre der G.I.P.; Gilles Deleuze hat sie zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen. Am 3. Januar beginnt die Vorlesung über »La société punitive« [Die Strafgesellschaft] (ursprünglich »La société disciplinaire« [Die Disziplinargesellschaft]), in der Foucault Gesellschaften der Ausschließung und solche der Einschließung einander gegenüber­ stellt.

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Februar - Auf Bitten von Ahmed Baba Miské - dem späteren Führer der Polisario - übernimmt Foucault nominell die Heraus­ gabe der Dritte-Welt-Zeitschrift Tempêtes (später Zone des tem­ pêtes), um sie vor der Zensur zu schützen (siehe unten Nr. 117 und 123). Am 22. Februar debattiert Foucault für die Nullnummern von Liberation mit José Duarte, einem Vertreter der Arbeiter bei Re­ nault Billancourt (siehe unten Nr. 117 und 123). März - Vorwort zu einer Ausstellung des Malers Rebeyrolle, den er bewundert (siehe unten Nr. 118). Aus seinen Kontakten zur Galerie Maeght entsteht das Projekt einer Studie zu den Me­ nines von Picasso. Der Text wurde nie veröffentlicht. Am 8. Mai schreibt Claude Mauriac: »Zum ersten Mal verteile ich Flugblätter auf der Straße. Foucault sagt mir lachend: >Ich auch hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. I, Stuttgart 1977, S. 319. 42 Aristoteles, De somnibus.

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rühr; aus einem für ein waches Ohr kaum wahrnehmbaren Ge­ räusch macht das Traumgesicht ein Donnerrollen: die kleinste Er­ wärmung wird zur Feuersbrunst. Im Traum taucht die vom Kör­ per befreite Seele in den xoopoç ein, versenkt sich in ihn und vermischt sich mit seinen Bewegungen in einer Art aquatischen Vereinigung. Für andere ist das mythische Element, in dem der Traum sich wieder mit der Welt vereint, nicht das Wasser, sondern das Feuer. So würde sich im Traum das corpus subtilis der Seele am heim­ lichen Feuer der Welt entzünden und mit ihm ins Innerste der Dinge eindringen. Dies ist das stoizistische Thema des Zusam­ menhalts der Welt, der durch das Jtve'üp.a gesichert und durch jene Wärme, die schließlich zum Weltenbrand führen wird, be­ wahrt wird; dies ist das esoterische Thema - durchgängig seit der mittelalterlichen Alchimie bis hin zum »vorwissenschaftlichen« Geist einer Traumdeutungskunst im 18. Jahrhundert, die gleich­ sam die Phlogistik der Seele wäre; dies ist schließlich das romanti­ sche Thema, worin sich das Bild des Feuers zu mildern beginnt, bis am Ende nur noch die spirituellen Qualitäten und die dynami­ schen Werte erhalten bleiben: Flüchtigkeit, Leichtigkeit, schwan­ kendes und verschattendes Licht, verwandelnde, verzehrende und vernichtende Hitze, die nur Asche hinterlässt, wo Helligkeit und Freude waren. Novalis schreibt dazu: »Der Traum belehrt uns auf eine merckwürdige Weise von der Leichtigkeit unsrer Seele in jedes Object einzudringen - sich in jedes sogleich zu verwan­ deln.«43 Die komplementären Mythen des Wassers und des Feuers be­ fördern das philosophische Thema einer substantiellen Einheit von Seele und Welt im Moment des Traumes. Doch dürften sich in der Geschichte des Traumes noch weitere Begründungen für den transzendenten Charakter der Imagination im Traum finden; der Traum wäre die geheimnisvolle Apperzeption jener Dinge, die man um sich herum in der Nacht erahnt - oder umgekehrt der augenblickshafte Blitz des Lichtes, die äußerste Helligkeit einer sich in ihrer Erfüllung beschließenden Anschauung. Insbesondere Baader hat den Traum durch diese Lichterfüllt43

[Novalis, F. von Hardenberg, genannt, »Das Allgemeine Brouillon« (Materialien zur Enzyklopädistik 1 7 9 8 / 9 9 ) , in: WerkeyBd. I I I , Stuttgart i 9 6 0 , S. 3 0 9 (Fragment 3 8 1 ) .]

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heit der Anschauung bestimmt; das Traumgesicht ist für ihn der Blitz, der zu einem inneren Sehen führt, das jenseits aller Vermitt­ lungen durch die Sinne und die Rede in einer einzigen Bewegung bis zur Wahrheit vordringt. Er spricht von diesem objektiven »innere[n] Schauen, welches nicht durch die äusseren Sinne ver­ mittelt ist« und das wir »schon im gewöhnlichen Traume« erfah­ ren. Zu Beginn des Schlafes steht die innere »Sinnenthätigkeit« im Gegensatz zur äußeren »Sinnenthätigkeit«; doch schließlich ob­ siegt im tiefen Schlaf die erste über die zweite; nun breitet sich der Geist auf eine subjektive Welt hin aus, die viel tiefer ist als die Welt der Gegenstände und mit einer weit schwereren Bedeutung beladen.44 Das durch die Tradition dem Wachbewusstsein und seiner Erkenntnis gewährte Vorrecht ist nur »Unwissenheit und Vorurteil«. Im tiefsten Dunkel der Nacht ist der Blitzstrahl des Traumes leuchtender als das Licht des Tages, und die Anschau­ ung, die er mit sich bringt, ist die höchste Erkenntnisform. Bei Carus45 begegnet man derselben Vorstellung: Der Traum führt weit über sie hinaus zur objektiven Erkenntnis; er ist jene Bewegung des Geistes, die von sich aus auf die Welt zugeht und zu ihrer Einheit mit dieser zurückfindet. Er erklärt in der Tat, dass die wache Erkenntnis der Welt Gegensatz zu dieser Welt ist; die Rezeptivität der Sinne ist die Möglichkeit, von den Gegenständen affiziert zu werden, und all das ist nur Gegensatz zur Welt, »Ge­ genwirken gegen eine Welt«.46 Der Traum dagegen zerbricht die­ sen Gegensatz und setzt sich über ihn hinweg: und zwar nicht während des vom Blitzstrahl lichterfüllten Augenblicks, sondern im langsamen Versinken des Geistes in der Nacht des Unbewuss­ ten. Durch das tiefe Eintauchen ins Unbewusste muss die Seele weit stärker als im Zustand bewusster Freiheit ihren Anteil an der universellen Verflechtung übernehmen und sich von allem durch­ dringen lassen, was räumlich und zeitlich ist, so wie dies im Un­ bewussten geschieht. Insofern wird die Traumerfahrung ein Fern­ sehen47 sein, das sich nur auf die Horizonte der Welt beschränkt, 44 Baader, F. X. von, Sämmtliche Werke, hg. von F. Hoffmann, Leipzig 1852, Bd. IV: Gesammelte Schriften zur philosophischen Anthropologie, S. [98 und] 135. 45 Hartmann, E. von, Die moderne Psychologie, eine kritische Geschichte der deut­ schen Psychologie, Leipzig 1901, Kap. III: »Das Unbewusste«, S. 32-36. 46 [Im Original deutsch. A. d. Ü.] 47 [Im Original deutsch. A. d. Ü.]

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ein dunkles Erkunden jenes Unbewussten, das von Leibniz bis Hartmann als das im Menschen gedämpft ankommende Echo der Welt begriffen wurde, in die er gestellt ist. Alle diese Auffassungen konstituieren eine doppelte Polarität in der imaginären Philosophie des Traumes: die Polarität Wasser Feuer und die Polarität Licht - Dunkelheit. Wir werden weiter unten sehen, dass Binswanger48 sie sozusagen empirisch in den Träumen seiner Kranken wiederfindet. Die Analyse von Ellen West49 transkribiert die Phantasien von einem Flug in die Welt des Lichts und von einem Einsinken in die kalte und dunkle Erde. Es ist merkwürdig, zu sehen, wie jedes dieser imaginären Themen in der Geschichte der Reflexion über den Traum sich teilt und verteilt: Wie es scheint, hat die Geschichte sämtliche Virtualitäten einer imaginären Konstellation ausgebeutet - oder vielleicht nimmt die Imagination die von der Kulturwerdung ausgebildeten und hervorgebrachten Themen wieder auf und kristallisiert sie so aus. Halten wir fürs erste eines fest: Wie alle imaginäre Erfahrung ist der Traum ein anthropologisches Anzeichen für Transzendenz, und in dieser Transzendenz verkündet er dem Menschen die Welt, indem er selbst Welt wird und selbst die Gestalten des Lichtes und des Feuers, des Wassers und der Dunkelheit annimmt. Hinsicht­ lich seiner anthropologischen Bedeutung lehrt uns die Geschichte des Traumes, dass er zugleich die Welt in ihrer Transzendenz offenbart und über das Element ihrer Materialität die Welt in ihrer Substanz moduliert. Absichtlich haben wir bislang einen der bekanntesten Aspekte der Geschichte des Traumes, eines der von seinen Geschichts­ schreibern gemeinhin am stärksten ausgebeuteten Themen beisei­ te gelassen. Es gibt kaum eine Untersuchung über den Traum, seit der Traumdeutung,, die sich nicht in der Pflicht sieht, das Buch X der Politeia zu zitieren; dank Platon kommt man mit der Ge­ schichte ins Reine, denn diese gelehrte Berufung führt ebenso 48 [Binswanger, L., »Der Fall Ellen West. Studien zum Schizophrenieproblem«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Bd. LIII, 1943, Nr. 2, S. 255277; Bd. LIV, 1944, Nr. i, S. 69-117, Nr. 2, S. 330-360; Bd. LV, 1945, Nr. 1, S. 1640. (Wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Werke, Bd. 4: Der Mensch in der Psychiatrie, hg. von Alice Holzhey-Kunz, Heidelberg 1994, S. 73-209. A. d. Ü.)] 49 Schweizer Archiv für Neurologie, 1943-1944.

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zu einem guten Gewissen wie ein Zitat von Quintilian zur Psy­ chologie des Säuglings.50 Unweigerlich streicht man die präfreudianischen - oder postödipalen - Nachklänge des berühmten Tex­ tes heraus: »Ich spreche von Begierden, die im Schlaf geweckt werden, wenn der Teil der Seele ruht, der vernünftig und mild ist und geschaffen, über den anderen zu herrschen, und der andere tierische und wilde Teil, durch Speisen und Getränke überfüllt, sich aufbäumt und den Schlaf abschüttelnd losbricht, um seinen Gelüsten Befriedigung zu verschaffen. Bekanntlich pflegt er in solchem Falle alles zu wagen, so, als ob er von jeder Scham und jeder Besonnenheit losgelöst und befreit wäre. Er hat keinerlei Bedenken, sich in der Einbildung mit der Mutter vermischen zu wollen, oder mit wem auch immer, sei es Mensch, Gott oder Tier, oder sich mit einem Mord zu besudeln und sich von irgendeiner Art Nahrung nicht fernhalten zu müssen; mit einem Wort, es gibt keinen Wahnsinn und keine Schamlosigkeit, zu der er nicht fähig ist.«51 Die Manifestation des Begehrens durch den Traum ist bis ins 19. Jahrhundert eines der von Medizin, Literatur und Philo­ sophie am häufigsten verwendeten Themen geblieben. André du Laurens, der Arzt des Königs, der 1613 nach »sämtlichen Ursa­ chen des Traumgesichts« forschte, findet darin die Bewegung der Säfte und die für jedes Temperament typischen Merkmale vor: »Wer im Zorn ist, träumt nur von Feuern, Schlachten und Brän­ den; der Phlegmatische glaubt sich stets im Feuchten.«52 Die Li­ teratur nimmt die Lektionen der Fakultät nach Gelehrtenart auf; so lässt Tristan in La Mariane eine der Personen sagen: So nimmt jeder im Schlafe wahr Die geheimen Anzeichen seines Temperaments. Und im Übergang vom Prinzip zu den Beispielen beschreibt er die Seele des Diebes, der

50 Quintilian, Institutio Oratoria. 51 Politeia, Buch X, 571c. 52 Dü Laurens, A., Discours de la conservation de la vue, des maladies mélancoliques, des catarrhes et da la viellesse (1613), Rouen 1615 (2. Aufl.), Zweiter Diskurs: Des maladies mélancoliques et du moyen de les guérir, Kap. VI: »D'où vient que les mélancoliques ont de particuliers objets sur lesquels ils rêvent«, S. 101.

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[...] seinem Schicksal zuvorkommt und auf seine Richter trifft oder irgendeine Beute macht Ebenso streicht der Wucherer im Schlaf mit Augen und Händen über das sich türmende Silber Und der von Furcht oder Begierde eingenommene Liebende Verspürt die Unerbittlichkeit oder genießt die Lüste.53 Die Romantik nimmt genau dieses Thema wieder auf und wandelt es tausendfach ab. Für Novalis ist der Traum »der geheimnißvolle Weg«, der uns den Zugang zu den »Tiefen unsers Geistes« öffnet.54 Schleiermacher entschlüsselt in den Bildern des Traumgesichts Be­ gierden, die so umfangreich und so tiefgehend sind, dass sie nicht die des individuellen Menschen sein können. Und Bovet erinnert an den Text von Hugo in Les Miserables: »Wäre es unseren fleisch­ lichen Augen gegeben, in das Bewusstsein des Anderen hineinzu­ sehen, so würde man einen Menschen wohl öfter nach seinen Träu­ men als nach seinem Denken beurteilen... Der Traum, der ganz spontan ist, nimmt die Gestalt unseres Geistes an und bewahrt sie. Nichts geht unmittelbarer und aufrichtiger aus der Tiefe unserer Seele hervor wie unsere unüberlegten und maßlosen Strebungen... Unsere Chimären sind es, die uns am meisten ähneln.«55 Doch darf uns die Eindeutigkeit der Analogien nicht zu dem Fehler des Anachronismus verleiten. Das Freudianische bei Pla­ ton oder Victor Hugo, das Jungianische, das man bei Schleierma­ cher erahnen kann, hat nichts mit wissenschaftlicher Antizipation zu tun. Funktion und Begründung dieser Anschauungen sind nicht in einer Psychoanalyse zu suchen, die sich noch nicht er­ kannt hätte. Am Anfang des Themas Traum als Manifestation der Seele in ihrer Innerlichkeit stieße man vielmehr auf den Herakliteischen Satz: »Der wache Mensch lebt in einer Welt der Erkennt­ nis; der schlafende hingegen hat sich zur Welt gewendet, die ihm eigen ist.« Außerhalb von Traum und Existenz ist Binswanger mehrfach auf diesen Satz zurückgekommen, um ihn begrifflich 53 [L/Hermite du Soliers, F., genannt Tristan, La Mariane (1636), Paris 1637 (2. Aufl.), 1. Akt, 2. Szene, Vers 61-62 und 69-74, S. 18 f.] 54 Novalis, F. von Hardenberg, genannt, Blüthenstauh, in: Werke, Bd. II, Stuttgart i960, S. 419 (Fragment 16). 55 Bovet (P.), »Victor Hugo über den Traum« (Les Misérables, Bd. III, Buch V, Kap. V), in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, 1920, Bd. VI: Beiträge zur Traumdeutung, § 10, S. 354.

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voll auszumessen und seine anthropologische Bedeutung darzu­ legen.56 Der Satz bietet sich zunächst mit einem trivialen Sinn dar: Die Wege der Wahrnehmung werden dem durch die innerliche Ausbreitung seiner Bilder abgeschotteten Träumer verschlossen sein. So verstanden, stünde der Aphorismus Heraklits in einem strikten Widerspruch zum soeben freigelegten Thema einer Transzendenz der Traumerfahrung; und er würde den gesamten sinnlichen Reichtum vernachlässigen, den es in der Bilderwelt des Traumes gibt, diese ganze Fülle an Wärme und sinnlicher Fär­ bung, die Landmann sagen ließ: »...je mehr wir uns den Sinnen hingeben, desto mehr schwindet das Bewusstsein von Realität, wir sind wie in einem Traum befangen«.57 Der ïôioç >t6ap,oç des Träu­ mers wird nicht durch die Abwesenheit wahrnehmbarer Inhalte, sondern durch deren Ausarbeitung in einem isolierten Universum konstituiert. Die Traumwelt ist eine eigene Welt, womit nicht gemeint ist, dass die subjektive Erfahrung darin die Normen der Objektivität in Frage stellt, sondern dass sie sich über den Urmodus der ganz mir gehörenden Welt, insofern sie mir meine eigene Einsamkeit verkündet, konstituiert. Es ist nicht möglich, auf den Traum die klassischen Dichotomien der Immanenz und der Transzendenz, der Subjektivität und der Objektivität anzuwenden; die Transzendenz der Traumwelt, von der wir weiter oben sprachen, lässt sich nicht in der Begrifflichkeit einer Objektivität definieren, und vergeblich würde man sie im Na­ men ihrer »Subjektivität« auf eine mystifizierte Form von Imma­ nenz zurückführen wollen. Der Traum in seiner Transzendenz und durch seine Transzendenz enthüllt die ursprüngliche Bewegung, durch die sich die Existenz in ihrer irreduziblen Einsamkeit auf eine Welt hin entwirft, die sich als Ort ihrer Geschichte konstituiert; der Traum enthüllt in ihrem Ursprung jene Ambiguität der Welt, die zugleich die Existenz bezeichnet, die sich auf sie hin entwirft und sich zu ihrer Erfahrung der Form der Objektivität entsprechend abschattet. Indem der Traum mit dieser Objektivität bricht, die das wache Bewusstsein fasziniert, und dem menschlichen Subjekt 56 Binswanger, L., »Heraklits Auffassung vom Menschen«, in: Die Antike. Zeit­ schriftfür Kunst und Kultur des klassischen Altertums, Berlin, Bd. XI, 1935, Nr. 1, S. 1-38. [Wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1: Zur phänomenologischen Anthropologie, Bern 1947, S. 98-131. A. d. Ü.] 57 Landmann, E., Die Transcendenz des Erkennens, Berlin 1923 [S. 41. A. d. Ü.].

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seine radikale Freiheit zurückerstattet, enthüllt der Traum para­ doxerweise die Bewegung der Freiheit hin zur Welt, dem Ur­ sprungspunkt, von dem her die Freiheit Welt wird. Die Kosmogonie des Traumes ist der Ursprung der Existenz selbst. Eben diese Bewegung der Einsamkeit und der ursprünglichen Verantwortung bezeichnete Heraklit durch das berühmte lôtoç xôopoç. Dieses Herakliteische Thema zieht sich durch die gesamte Li­ teratur und durch die gesamte Philosophie. Es taucht wieder auf in den verschiedenen, von uns angeführten Texten, die auf den ersten Blick der Psychoanalyse so nahe sind; tatsächlich aber be­ zeichnen diese Tiefe des Geistes und diese »Abgründe der Seele«, deren Entstehen im Traum beschrieben wird, nicht die biologi­ sche Ausstattung mit libidinösen Trieben, sondern die originäre Bewegung der Freiheit, die Geburt der Welt genau in der Bewe­ gung der Existenz. Novalis war mehr als irgendein anderer diesem Thema nahe und strebte unaufhörlich danach, es in einen mythi­ schen Ausdruck einzufangen. In der Welt des Traumes erkennt er die Bezeichnung der sie tragenden Existenz: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? [...] In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergan­ genheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.«58 Doch der Moment des Traumes bleibt nicht der zweideutige Augenblick der ironischen Reduktion auf die Subjektivität. Novalis greift bei Herder die Vorstellung auf, dass der Traum der Urmoment der Genesis ist: Der Traum ist das erste Bild der Poesie, und die Poesie ist die Urform der Sprache, die »Muttersprache des menschlichen Geschlechts«.59 So steht der Traum am eigentlichen Anfang des Werdens und der Objektivität. Und Novalis fährt fort: »Die Na­ tur ist zugleich ein unendliches Thier - eine unendliche Pflanze und ein unendlicher Stein. [...] Durch ihr Essen, das 3fach ist, entstehn die Naturreiche. Es sind ihre Traumbilder.«60 58 Novalis, F. von Hardenberg, genannt, Blüthenstaub, a.a.O., S. 417 ff. (Fragment 16). 59 Herder, J. G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Bde., Leipzig 1784-1791 [Werke, Bd. 6, hg. von Martin Bollacker, Frankfurt am Main 1989. A. d. Ü.]. 60 Novalis, F. von Hardenberg, genannt, »Freiberger naturwissenschaftliche Stu­ dien 1798/99«, in: Werke, a.a.O., Bd. III, S. 89.

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Insofern kann die Traumerfahrung nicht von ihrem ethischen Gehalt getrennt werden. Nicht weil sie geheime Neigungen, uneingestehbare Begierden enthüllen und die ganze Wolke der Triebe aufwirbeln würde, nicht weil sie wie der Gott Kants »auf Herz und Nieren prüft«, sondern weil sie die Bewegung der Frei­ heit im echten Sinne wiederherstellt, weil sie darlegt, auf welche Weise sie sich gründet oder sich entfremdet, auf welche Weise sie sich als radikale Verantwortlichkeit in der Welt konstituiert bzw. wodurch sie sich vergisst und sich dem Sturz in die Kausalität preisgibt. Der Traum ist die absolute Enthüllung des ethischen Gehalts, das entblößte Herz. Eben diese Bedeutung zeigte Platon im Buch X der Politeia an und nicht in einem präfreudianischen Stil die heimlichen Äußerungen des Triebes. Der Weise hat näm­ lich nicht dieselben Träume wie die Gewaltmenschen - wie jener »tyrannische«, der Tyrannei seiner Begierden unterworfene und der politischen Tyrannei des nächstbesten Thrasymachos verfal­ lene Mensch; der Mensch der Begierde träumt von Schamlosigkeit und Wahnsinn: »Wenn ein an Körper und Temperament gesunder Mensch sich dem Schlaf überlässt, nachdem er den vernünftigen Teil seiner Seele geweckt hat [...], wenn er ebenso vermieden hat, das Element der Begierde hungrig oder satt zu lassen, so dass es sich in Ruhe befindet und keinerlei Verwirrung ins Beste bringt [...], wenn dieser Mensch gleichermaßen das zornige Element besänftigt hat und eben nicht der von Zorn gegen jemanden er­ regte Körper einschläft; wenn er diese beiden Elemente der Seele beruhigt und das dritte, in dem die Weisheit angesiedelt ist, ange­ regt hat, und wenn er dann schließlich ruht, dann, wie du weißt, kommt er besser denn je mit der Wahrheit in Berührung, und dann sind die Visionen seiner Träume keineswegs regellos.«61 Die Geschichte der Kultur hat dieses Thema vom ethischen Wert des Traumes sorgsam bewahrt; recht oft ist seine Bedeutung als Vorbote für ihn bloß sekundär; was das Traumgesicht für die Zukunft des Träumenden verkündet, leitet sich allein von dem her, was er an Verpflichtungen oder Bindungen seiner Freiheit enthüllt. Jézabel kommt nicht, um Athalie das bevorstehende Un­ heil vorauszusagen; ihr wird eilends verkündet, dass »der grausa­ me Gott der Juden nochmals obsiegen werde« über sie, sie macht 61 Politeia, Buch X, 571 e~572a.

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ihr nur deutlich, dass ihre Freiheit durch die Reihe ihrer Verbre­ chen gefesselt und hilflos der Rache ausgeliefert sei, die die Ge­ rechtigkeit wiederherstellt. Zwei Arten von Träumen werden als besonders bedeutsam angesehen: der Traum des verstockten Sün­ ders, der auf seiner schwankenden Bahn in die Hoffnungslosigkeit plötzlich erkennt, wie sich vor seinen Augen der Weg des Heils öffnet (mitunter wird dieser Traum auf eine andere Gestalt über­ tragen, die weniger blind ist und besser imstande, dessen Sinn zu erfassen: Dies ist so bei dem berühmten Traum der heiligen Cäcilia, die aus dem Traumgesicht herausliest, dass ihr Sohn nun­ mehr bereit sei für Gott), und der Traum des Mörders, der im Traum sowohl jenem Tod begegnet, den er gegeben hat, als auch dem Tod, der auf ihn lauert, und der den Schrecken einer Existenz entdeckt, die er selbst durch einen Blutschwur mit dem Tod ver­ bunden hat. Eben dieser Traum, der in der Wiederholung des Gewissensbisses die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, der sie in der Einheit eines Schicksals verknüpft, sucht die Nächte eines Macbeth heim; auf ihn stößt man so häufig in der klassischen Tragödie. Bleicher Körper, gelähmter Körper, kalte Masse von Gebein Die die Sanftheit meiner Zufriedenheiten stört Objekt voller Schrecken, grauenvolle Gestalt Gemisch von Schrecken aller Art Ach, komm mir nicht näher!62 Und Cyrano schreibt in seinem Agrippine: Ursache meiner Trauer ist Dass ich das Echo eines wahren Sarges ächzen höre Ein betrübter Schatten, ein beredtes Bild Das mir mit zitternder Hand das Kleid auszieht Ein Phantom gezeichnet im Schrecken der Nacht Das ich am Kopfende meines Bettes schluchzen höre.63

62 Arnaud, Agamemnon, Avignon 1642, 1. Akt, 1. Szene, S. 3. 63 Cyrano de Bergerac, S. de, La Mort d'Agrippine, Paris 1653, 2. Akt, 2. Szene,

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Träger der tiefsten menschlichen Bedeutungen ist der Traum nicht, insofern er die verborgenen Mechanismen anprangert und deren unmenschliches Räderwerk aufzeigt, sondern im Gegenteil, insofern er die ursprünglichste Freiheit des Menschen ans Licht hebt. Und wenn er in unerschöpflichen Wiederholungen das Schicksal aussagt, so beweint er damit die Freiheit, die sich selbst verloren hat, die unauslöschliche Vergangenheit und die aus ihrer Eigenbewegung in eine definitive Determination gefallene Exi­ stenz. Wir werden weiter unten sehen, wie Binswanger diesem im literarischen Ausdruck unablässig gegenwärtigen Thema die Aktualität zurückgibt und wie er, die Lektion der tragischen Dichter aufnehmend, dank der Bahn des Traumes die umfassende Odyssee der menschlichen Freiheit wiederherstellt. * Genau diesen Sinn wird man zweifellos dem lôioç HÔopoç des, Heraklit geben müssen. Die Welt des Traumes ist nicht der innere Garten der Phantasie. Der Träumende stößt deshalb darin auf seine eigene Welt, weil er darin das Antlitz seines Schicksals er­ kennen kann: Er findet darin zurück zur ursprünglichen Bewe­ gung seiner Existenz und zu seiner Freiheit in ihrer Vollendung oder ihrer Entfremdung. Reflektiert der Traum somit nicht einen Widerspruch, an dem sich der Schlüssel zur Existenz ablesen lie­ ße? Bezeichnet er nicht sowohl den Inhalt einer transzendenten Welt als auch die ursprüngliche Bewegung der Freiheit? Wie ge­ rade gesehen, entfaltet er sich in einer Welt, die ihre undurchsich­ tigen Inhalte und die Gestalten einer Notwendigkeit, die sich nicht entschlüsseln lässt, in sich birgt. Doch zugleich ist er freies Entstehen, Selbstvollbringung, Hervortreten dessen, was es im Individuum an höchst Individuellem gibt. Dieser Widerspruch wird offenkundig im entfalteten und der diskursiven Interpreta­ tion vorgelegten Inhalt des Traumes. Und er bricht gar als dessen letzter Sinn in allen von Todesangst heimgesuchten Träumen her­ vor. Der Tod wird darin als der höchste Moment dieses von ihm als Schicksal dargestellten Widerspruchs erfahren. Auf diese Wei­ se erhalten all die Träume von einem gewaltsamen Tod, einem wilden Tod, einem furchteinflößenden Tod, in denen man letzten Endes das Aufeinanderstoßen einer Freiheit und einer Welt er­ kennen muss, ihren Sinn. Wenn im Schlaf das Bewusstsein ein-

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schläft, erwacht im Traum die Existenz. Der Schlaf geht in Rich­ tung Leben, er bereitet es vor, strukturiert es und leistet ihm Vor­ schub; den Anschein des Todes erhält er durch eine List des Le­ bens, das nicht sterben will; es »stellt sich tot«, doch eben »aus Furcht vor dem Tod«; es gehört weiterhin der Ordnung des Le­ bens an. Der Traum lässt sich mit diesem Schlaf auf nichts ein; er steigt die abschüssige Bahn hinauf, die jener in Richtung Leben hinab­ steigt; er richtet sich auf die Existenz, und dort sieht er in vollem Licht den Tod als Schicksal der Freiheit; denn der Traum an sich, und zwar mit allen Existenzbedeutungen, die er mit sich führt, tötet den Schlaf und das eingeschlafene Leben. Man sage nicht, der Schlaf mache den Traum möglich, denn es ist der Traum, der den Schlaf unmöglich macht, indem er ihn zum Licht des Todes er­ weckt. Der Traum »mordet« den Schlaf, so wie bei Macbeth: »Ihn, den unschuldgen Schlaf; Schlaf, der des Grams verworrn Gespinst entwirrt, Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad der wunden Müh, den Balsam kranker Seelen, Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur, Das nährendste Gericht beim Fest des Le­ bens«.64 Am tiefsten Punkt seines Traumes begegnet der Mensch seinem Tod - seinem Tod, der in seiner uneigentlichsten Gestalt nur die brutale und blutige Unterbrechung des Lebens, in seiner eigent­ lichen Gestalt aber die Vollendung seiner Existenz ist. Nicht zu­ fällig wurde Freud in seiner Deutung des Traumes durch die Wie­ derholung von Todesträumen zum Einhalten gezwungen: Denn sie bezeichneten dem biologischen Prinzip der Befriedigung des Wunsches eine absolute Grenze; sie zeigten - Freud hat das sehr wohl gespürt - die Forderung nach einer Dialektik an. Doch ging es dabei in Wirklichkeit nicht um den rudimentären Gegensatz zwischen dem Organischen und dem Anorganischen, dessen Spiel sich bis ins Innere des Traumes hinein kundtun sollte. Freud stellte zwei äußerliche Prinzipien gegeneinander, deren eines für sich allein alle Mächte des Todes beinhalten sollte. Doch der Tod ist eindeutig etwas anderes als das Relatum eines Gegensatzes; er ist jener Widerspruch, in dem sich in der Welt und gegen die Welt die Freiheit als Schicksal zugleich vollendet und verneint. Diesen 64 Shakespeare, W., Macbeth, 2. Akt, 1. Szene. [In der Übersetzung von Dorothea Tieck, in: Shakespeares Dramatische Werke, Zürich 1979, Band I I , S. 13 5. A. d. Ü.]

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Widerspruch und diesen Kampf findet map wieder in Calpurnias Traum, der ihr Caesars Tod verkündet: ein Traum, der ebenso die Allmacht des Imperators und seine Freiheit, der die Welt sich beugen muss, aussagt - in Decius’ Deutung - wie auch die Ge­ fahren, denen er ausgesetzt ist, und eben in Calipurnias Deutung seine eigene Ermordung.65 Der hier durchscheinende Tod ist der Tod, der hinterrücks kommt wie ein Dieb, um sich des Lebens zu bemächtigen und eine Freiheit auf immer in die Notwendigkeit der Welt einzubin­ den: »Mir haben stets Gefahren im Rücken nur gedroht...«66 Aber der Tod kann auch im Traumgesicht mit einem anderen Antlitz erscheinen: nicht das Antlitz des Widerspruchs zwischen der Freiheit und der Welt, sondern das Antlitz, in dem ihre ur­ sprüngliche Einheit oder ihr neuer Bund geknüpft wird. Der Tod trägt nun den Sinn der Versöhnung, und der Traum, in dem sich dieser Tod bildlich dargestellt findet, ist damit das Grundlegend­ ste, das man tun kann: Er besagt nicht mehr die Unterbrechung des Lebens, sondern die Vollendung der Existenz; er zeigt den Augenblick, in dem sie ihre Erfüllung beschließt in einer Welt, die kurz davor steht, sich zu schließen. Und deshalb ist er in allen Legenden die Belohnung des Weisen, die glückliche Ankündi­ gung, dass von nun an die Vollkommenheit seiner Existenz nicht länger von der Bewegung seines Lebens abhängen wird; mit der Verkündung des Todes offenbart das Traumgesicht die Seinsfülle, zu der die Existenz nun gelangt ist. In dieser zweiten wie auch in der ersten Form erscheint der Traum vom Tod als das, was die Existenz an Grundlegendstem über sich selbst erfahren kann. In diesem von Angst oder von gelassener Heiterkeit geprägten Tod erfüllt der Traum seine letzte Bestimmung. Nichts ist demnach falscher als die naturalistische Überlieferung vom Schlaf, der ein scheinbarer Tod sein soll; es geht vielmehr um die Dialektik des Traumes selbst, insofern er gleichsam ein Aufbrechen des Lebens auf die Existenz hin ist und in diesem Licht das Schicksal seines Todes entdeckt. Die Wieder­ holung der Todesträume, die die Freud’sche Psychoanalyse einen Augenblick schwanken machte, und die damit einhergehende 65 [Shakespeare, W Julius Caesar, 2. Akt, i. Szene. (In: Shakespeares Dramatische Werke, a.a.O., Band III, S. 32f.)] 66 Shakespeare, Julius Caesar, 2. Akt, 2. Szene. [Ebd., Band III, S. 32. A. d. Ü.].

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Angst prangern darin einen als Strafe trotzig verweigerten, zu­ rückgewiesenen und verfluchten Tod oder einen Widerspruch an. Doch auch in den heiter-gelassenen Träumen der Vollendung ist der Tod da: sei es im erneuerten Antlitz der Auferstehung beim geheilten Kranken, sei es auch als die, endlich erlangte, Ruhe des Lebens. In allen Fällen jedoch ist der Tod der absolute Sinn des Traumes. »Banquo und Donalbain! Malcolm! Erwacht! Werft ab den flaumgen Schlaf, des Todes Abbild, Und seht ihn selbst, den Tod!«67 IV »Was im Menschen Gewicht hat, ist der Traum.«

Bernanos Im Hintergrund dieser Traumerfahrung, die allein in den Tran­ skriptionen erfasst ist, die Literatur, Philosophie und Mystik da­ für anbieten, lässt sich bereits eine anthropologische Bedeutung des Traumes entziffern. Eben diese Bedeutung versuchte Binswanger unter einem anderen Zugang, und zwar durch eine Ana­ lyse in Traum und Existenz, die einen ganz anderen Stil hat, sich wieder zu Eigen zu machen. Wir haben nicht vor, sie zu resümie­ ren oder einer Exegese zu unterziehen, sondern möchten einfach nur zeigen, in welchem Maße sie zu einer Anthropologie der Imagination beitragen kann. Die anthropologische Analyse eines Traumes deckt mehr Bedeutungsschichten auf, als die Freud’sche Methode impliziert. Die Psychoanalyse erforscht nur eine Di­ mension des Traumuniversums, die des symbolischen Vokabulars, längs dessen die Verwandlung einer determinierenden Vergangen­ heit in eine diese symbolisierende Gegenwart geschieht; der von Freud oft als »Überdeterminierung« definierte Polysemantismus des Symbols kompliziert zweifellos dieses Schema und gibt ihm einen Reichtum, der das Willkürliche daran mildert. Doch lässt die Vielheit der symbolischen Bedeutungen keine neue Achse un­ abhängiger Bedeutungen entstehen. Zwar hatte Freud die Gren­ zen seiner Analyse gespürt und die Notwendigkeit erkannt, sie zu 67 [Shakespeare, W., Macbeth, a.a.O., 2. Akt, 2. Szene. (S. 139.)]

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durchbrechen; häufig war er im Traum auf Zeichen einer Verset­ zung des Träumenden selbst ins Traumdrama hinein gestoßen, als ob es dem Traum nicht genug wäre, die Geschichte älterer Er­ fahrungen zu symbolisieren und in Bildern zu sagen, sondern als ob er durch die gesamte Existenz des Subjektes hindurchgehen würde, um in einer theatralischen Form dessen dramatisches We­ sen wiederherzustellen. Dies ist der Fall bei dem zweiten Traum von Dora, für den Freud nachträglich erkennen musste, dass er seinen vollständigen Sinn nicht erfasst hatte:68 Dieser Traum sagte nicht nur Doras Hingabe an Herrn K. und nicht nur die gegen­ wärtige Übertragung ihrer Gefühle auf den Psychoanalytiker aus, sondern drückte durch die Zeichen einer homosexuellen Fixie­ rung an Frau K. ihren Ekel vor der Virilität der Männer aus sowie ihre Weigerung, ihre weibliche Sexualität anzunehmen, und kün­ digte in noch wirren Worten ihre Entscheidung an, diese Psycho­ analyse zu beenden, die für sie nur ein neuerliches Zeichen für die große Komplizenschaft unter den Männern war. Wie ihre hyste­ rische Stimmlosigkeit oder ihre hysterischen Hustenanfälle bezog sich Doras Traum nicht nur auf die Geschichte ihres Lebens, sondern auf eine Existenzweise, von der diese Geschichte streng genommen nicht mehr wiedergab als eine Chronik: Eine Existenz, in der die befremdliche Sexualität des Mannes nur unter dem Zeichen der Feindseligkeit, des Zwanges und des sich in einer Vergewaltigung vollendenden Einbruchs erschien; eine Existenz, der es nicht einmal gelingt, sich in der doch so nahen und so parallelen Sexualität der Frau zu verwirklichen, die vielmehr ihre tiefsten Bedeutungen in Verhaltensweisen des Abbruchs einträgt, von denen eine und zwar die entscheidendste die Psychoanalyse beenden wird. Man kann sagen, dass Dora nicht trotz des Ab­ bruchs der Psychoanalyse geheilt wurde, sondern weil sie die Entscheidung traf, sie abzubrechen, und so bis zum Äußersten die Einsamkeit auf sich nahm, die für ihre Existenz bis dahin nur ein unentschlossener Weg gewesen war. Alle Elemente des Traumes zeigen diese Entschlossenheit eben­ so im vollzogenen Bruch wie in der übernommenen Einsamkeit an. In der Tat sah sie sich in ihrem Traum »ohne Wissen der 68 Freud, S., »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. X V I I I , 1905, Nr. 4, Oktober, S. 285- 310, November, S. 408467. [In: GW V , S. 161- 286; »Der zweite Traum«, S. 256- 274.]

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Eltern vom Hause fort«, sie erfährt vom Tod ihres Vaters; dann ist sie im Wald, wo sie einem Mann begegnet, aber sie lehnt es ab, sich begleiten zu lassen; nach Hause zurückgekehrt, erfährt sie von der Zimmerfrau, dass ihre Mutter und die anderen bereits auf dem Friedhof seien; sie fühlt sich überhaupt nicht traurig, sie geht hoch auf ihr Zimmer und beginnt dort, in einem großen Buch zu lesen.69 Diese Entschlossenheit zur Einsamkeit hatte Freud erahnt, ja sogar unter dem expliziten Diskurs des Traumes formuliert. Denn war dies nicht seine Vermutung: »lasse ich dich stehen, gehe allein meiner Wege...«?70 Wollte man gezielt den Psychoanalytiker in die Psychoanalyse einbeziehen, so müsste man zweifellos das Scheitern unausweichlich Freud zuschreiben oder zumindest seinem begrenzten Verstehen und seiner Weige­ rung, zu sehen, dass diese Rede ebenso wie an Frau K. auch an ihn gerichtet war. Doch das ist nebensächlich. Für uns liegt das wirkliche Ver­ säumnis der Freud’schen Analyse darin, dass sie zwar eine der möglichen Bedeutungen des Traumes erkannte, sie aber als eine seiner vielfältigen semantischen Virtualitäten neben den anderen analysieren wollte. Eine derartige Methode setzt eine radikale Objektivierung des träumenden Subjekts voraus, das seine Rolle inmitten weiterer Personae Dramatis und in einer Szenerie, die aus ihm eine symbolische Figur machen würde, spielen soll. Das Subjekt des Traumes im Freud’schen Sinne ist stets eine vermin­ derte, sozusagen delegierte, projizierte und ins Spiel des Anderen einbegriffene, irgendwo zwischen dem Träumer und dem, wovon er träumt, aufgehangene Subjektivität. Bestätigt wird das dadurch, dass für Freud dieses Spiel durch eine verfremdende Identifizie­ rung tatsächlich den Anderen repräsentieren kann oder dass eine andere Persona Dramatis durch eine Art Heautoskopie den Träu­ menden selbst repräsentieren kann. In Wirklichkeit jedoch trägt nicht dieses Quasi-Subjekt die Subjektivität der Traumerfahrung. Es ist nur eine konstituierte Subjektivität, und eigentlich müsste die Analyse des Traumes den Konstitutionsmoment der Subjektivität des Traumes ins volle Licht rücken. An dieser Stelle wird die Freud’sche Methode un­ zureichend; die eindimensionalen Bedeutungen, die sie über die 69 Ebd. [S. 256f]. 70 Ebd. [S. 274].

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Symbolbeziehung abhebt, können diese radikale Subjektivität nicht betreffen. Jung könnte sie vielleicht erkannt haben, er, der von jenen Träumen sprach, in denen das Subjekt sein eigenes Schicksal als Drama erlebt. Doch dank der Texte von Binswanger lässt sich am besten erfassen, was das Subjekt des Traumes sein kann. Dieses Subjekt wird darin nicht als eine der möglichen Be­ deutungen einer der Personae Dramatis, sondern als die Grund­ lage aller eventuellen Bedeutungen des Traumes beschrieben; und insofern ist der Traum nicht die Neuauflage einer früheren Gestalt oder eines archaischen Abschnittes der Persönlichkeit, sondern zeigt sich als das Werden und die Ganzheit der Existenz selbst. Hier nun ein Beispiel für die Traumanalyse, durchgeführt von Binswanger, noch bevor er Traum und Existenz schrieb.71 Es geht um eine junge Frau von dreiunddreißig Jahren, die wegen einer schweren Depression nebst Wutanfällen und einer Sexualhem­ mung behandelt wird. Mit fünf Jahren hatte sie ein Sexualtrauma erlitten; ein Junge hatte sich ihr genähert; sie hatte zunächst sehr interessiert und neugierig, danach aber mit einem Abwehrverhal­ ten und mit heftiger Wut reagiert. Im gesamten Verlauf der Psy­ chotherapie träumte sie sehr viel; die Kur lief ungefähr seit einem Jahr, als sie folgenden Traum hatte: Sie ist gerade dabei, die Gren­ ze zu passieren, ein Zöllner lässt sie ihr Gepäck öffnen, »ich packe alle meine Sachen aus. Der ZollWächter nimmt eine nach der an­ deren. Schließlich packe ich eine silberne Schale, in Seidenpapier gewickelt, aus, und er sagt: >Warum bringen Sie mir das wichtigste Stück zuletzt?«< Zum Zeitpunkt des Traumes hat die Psychotherapie das Sexual­ trauma noch nicht aufgedeckt. Als der Arzt die Patientin um Assoziationen bezüglich der Silberschale bittet, fühlt sie sich plötzlich elend; sie wird unruhig, sie hat Herzpochen, sie emp­ findet Angst und erklärt schließlich, ihre Großmutter habe Ge­ genstände aus Silber gehabt, die so aussahen. Sie ist außerstande, mehr dazu zu sagen; doch den gesamten Tag hindurch hat sie einen Eindruck von Angst, den sie für »sinnlos« erklärt. Schließ­ lich am Abend beim Einschlafen kehrt die traumatische Szene zurück: Es war im Haus ihrer Großmutter; sie wollte sich in 71 Binswanger, L., Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traumes von den Griechen bis zur Gegenwart, Berlin 1928, S. 75 ff.

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der Vorratskammer einen Apfel holen, was man ihr ausdrücklich verboten hatte. Genau in diesem Moment drückt ein Junge das Fenster auf, tritt in die Kammer ein und nähert sich ihr. Als sie am nächsten Tag die Szene ihrem Arzt berichtet, kommt ihr plötzlich wieder in den Sinn, dass in dieser Kammer auf einem alten aus­ gemusterten Harmonium eine in Silberpapier eingewickelte sil­ berne Teekanne stand, und sie ruft aus: »Ach ja, da stand ja das Silber in Seidenpapier, ach, da ist ja die Schale.« Eindeutig setzt der Traum auf symbolischer Ebene die Kranke in Szene. Der Gang über die Zollstation bedeutet die analytische Situation, in der die Kranke ihr Gepäck öffnen und alles vorzeigen muss, was sie mit sich führt; die Silberschale ersetzt die Kranke in einer früheren Phase ihrer Geschichte und bezeichnet sie in einer verminderten Existenz, die kaum mehr zu ihr gehört. Doch das Wesentliche an dem Traum besteht nicht so sehr in dem, was er aus der Vergangenheit heraufbeschwört, sondern in dem, was er für die Zukunft verkündet. Er sagt den Moment voraus und kündigt ihn an, wenn die Kranke ihrem Analytiker endlich jenes Geheimnis preisgeben wird, das sie noch nicht kennt und das dennoch die schwerste Last ihrer Gegenwart ist; dieses Geheimnis bezeichnet der Traum bereits in seinem Inhalt mit der Genauigkeit eines de­ taillierten Bildes; der Traum greift auf den Moment der Befreiung voraus. Er ist Voraussage der Geschichte - und weniger erzwun­ gene Wiederholung der traumatischen Vergangenheit. Doch als solcher kann er zum Subjekt nicht das quasi objekti­ vierte Subjekt jener vergangenen Geschichte haben, kann sein konstituierender Moment nur jene Existenz sein, die durch die Zeit hindurch geschieht, jene Existenz in ihrer auf die Zukunft hin gerichteten Bewegung. Der Traum ist bereits diese werdende Zukunft, der erste Moment der sich befreienden Freiheit, die noch geheime Erschütterung einer Existenz, die sich im Ganzen ihres Werdens wieder erfasst. Der Traum beinhaltet den Sinn der Wiederholung nur insofern, als diese gerade die Erfahrung einer Zeitlichkeit ist, die sich auf die Zukunft hin öffnet und sich als Freiheit konstituiert. Eben in diesem Sinne kann die Wiederholung eine eigentliche sein und nicht, indem sie exakt wäre. Die historische Exaktheit einer Ein­ zelheit im Traum ist nur die Chronik ihrer Eigentlichkeit; jene gestattet es, die horizontalen Bedeutungen der Symbolik zu ver­

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knüpfen; diese gestattet es, die tiefe Bedeutung der Wiederholung ans Licht zu bringen. Erstere macht anekdotische Situationen zu Bezugsgrößen, letztere findet an ihrem Ursprung die konstitutive Bewegung der individuellen Geschichte vor und legt die Existenz­ weise frei, so wie sie sich durch ihre zeitlichen Momente hindurch abschattet. Ich glaube, dass man dem Denken Binswangers keine Gewalt antut, wenn man die Hegelianische Dialektik des Traumes, die er in Traum und Existenz vorlegt, in diesem Sinne auslegt. Das von ihm analysierte Traumgesicht stammt genau von der Kranken, von der wir gerade sprachen. Die Bewegung in drei Schritten von einer zunächst aufgewühlten See, die dann in einer Todes­ unbewegtheit erfasst und gleichsam eingefroren wird, um schließ­ lich ihrer Freiheit in Freude zurückgegeben zu werden, ist genau die Bewegung einer Existenz, die, zunächst anheimgefallen dem Chaos einer Subjektivität, die nur sich selbst kennt und deren Freiheit bloß Zusammenhangslosigkeit, Phantasterei und Unord­ nung ist; dann eingeschlossen in eine Objektivität, die diese Frei­ heit bis hin zur Unterwerfung und Entfremdung im Schweigen toter Dinge in Grenzen weist, schließlich die Freiheit als Aufer­ stehung und Erlösung wiederfindet; doch nachdem sie einmal durch den schmerzhaften Moment der Objektivität hindurchge­ gangen ist, in dem sie sich verliert, ist die Freiheit jetzt keine Unruhe, kein Lärm, kein sound and fury mehr, sie ist die Freude über eine Freiheit, die sich in der Bewegung einer Objektivität anzuerkennen vermag. Wenn jedoch diese Interpretation richtig ist, dann ist das Subjekt des Traumes ersichtlich nicht so sehr die Person, welche »ich« sagt (im vorliegenden Falle eine Spaziergän­ gerin, die die endlosen Ränder eines Strandes abschreitet), son­ dern in Wirklichkeit der vollständige Traum, im Ganzen mit sei­ nem Trauminhalt; die Kranke, die den Traum hat, ist sehr wohl die von Angst erfüllte Person, doch ist sie auch die See, doch ist sie auch der beunruhigende Mann, der sein tödliches Netz ausbreitet, doch auch und vor allem ist sie diese zunächst lärmende, dann von Unbewegtheit und Tod geschlagene Welt, die schließlich zur fröhlichen Bewegung des Lebens zurückkehrt. Das Subjekt des Traumes oder die erste Person im Traum ist der Traum selbst, der Traum in seiner Gänze. Im Traum sagt alles »ich«, selbst die Gegenstände und die Tiere, selbst der leere Raum, selbst die fer-

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nen und fremden Dinge, die dessen Phantasmagorie bevölkern. Der Traum ist die im verlassenen Raum sich aushöhlende, im Chaos sich brechende, im Lärm auseinanderfliegende, sich als kaum mehr atmendes Tier in den Netzen des Todes verfangende Existenz. Der Traum ist die Welt in der Dämmerung ihres ersten Hervorbrechens, wenn sie noch die Existenz selbst ist und nicht bereits das Universum der Objektivität. Träumen ist nicht eine andere Weise, die Erfahrung einer anderen Welt zu machen, träu­ men ist für das träumende Subjekt die radikale Weise, die Erfah­ rung seiner Welt zu machen, und diese Weise ist dermaßen radi­ kal, weil die Existenz sich darin als selbst die Welt seiend verkündet. Der Traum hat seinen Platz in diesem letzten Moment, in dem die Existenz noch ihre Welt ist; gleich jenseits davon, nach der Morgenröte des Erwachens ist sie es bereits nicht mehr. Deshalb ist die Analyse des Traumes entscheidend, um die grundlegenden Bedeutungen der Existenz hervorzukehren. Wel­ ches sind nun die wesentlichsten dieser Bedeutungen? îf.

Man findet sie in den ersten Regungen der Freiheit und in ihrer ursprünglichen Ausrichtung; der Traum hat soviel Gewicht bei der Auszeichnung der existentiellen Bedeutungen, weil er in sei­ nen Grundkoordinaten die Bahn der Existenz selbst verzeichnet. Viel war die Rede von den zeitlichen Antrieben des Traumes, von dem ihm eigenen Rhythmus, von den Widersinnigkeiten oder Paradoxien seiner Dauer. Viel weniger vom Traumraum. Und doch enthüllen die Formen der Räumlichkeit im Traum den eigentlichen »Sinn« der Existenz. Sagte nicht Stefan George: »Raum und Dasein bleiben nur im Bilde«}72 In der gelebten Er­ fahrung auf ihrer ursprünglichen Stufe bietet sich der Raum nicht als geometrische Struktur der Gleichzeitigkeit dar; ein Raum die­ ses Typs, der Raum, in dem die Wissenschaften der Natur den Zusammenhang der objektiven Phänomene entfalten, wird allein durch eine Genese konstituiert, deren Momente von Oskar Be­ cker in ihrer psychologischen73 und von Husserl in ihrer ge­ 72 [Im Original deutsch. A. d. Ü J 73 Becker, O., »Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen«, in: Jahrbuch für Philosophie und phäno­ menologische Forschung, Halle 1923, Bd. VI, S. 385-560.

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schichtlichen74 Abschattung analysiert wurden. Bevor der Raum geometrisch oder gar geographisch wird, stellt er sich zunächst wie eine Landschaft dar:75 Er gibt sich ursprünglich als der Ab­ stand zwischen der farbigen Fülle der Erscheinungen oder als der Abstand der sich am Horizont verlierenden Weite, eingehüllt in den Abstand, der ihn zusammenzieht, oder er ist gar noch der Raum der Dinge, die da sind, widerständig zuhanden, von seinem Ursprung her ist er zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, hinter mir, dunkel, oder durchsichtig unter meinem Blick. Im Gegensatz zu dem Raum der geographischen Vermessung, der in der Gestalt eines allgemeinen Grundrisses vollständig erschlos­ sen ist, ist die Landschaft paradoxerweise verschlossen durch die unendliche Öffnung des Horizontes, und alles das, was dieser Horizont an eventuellem Jenseits impliziert, grenzt die Vertraut­ heit des Diesseits und aller durch Gewohnheit gebahnten Wege ein; er verweist so auf das Absolute einer Situation, die alle affek ­ tiven Mächte des Herdes, der Heimaterde und der Heimat7(>ver­ sammelt; und jede dieser sich am Horizont verlierenden Linien ist bereits gleichsam ein Weg der Rückkehr, der vertrauten Anzeige, um zurückzufinden xfiv ôôôv oixaöe. Im geographischen Raum ist die Bewegung immer nur Versetzung: abgestimmter Positions­ wechsel von einem Punkt zu einem anderen auf einer vorweg festgelegten Bahn. Der Weg ist damit nur mehr das auf ein Mini­ mum reduzierte unerlässliche Dazwischen, die unterste Grenze der Zeit, die unerlässlich ist, um von einem Punkt zu einem an­ deren zu gehen. Im erlebten Raum behält die Versetzung einen ursprünglichen räumlichen Charakter; sie durchquert nicht, son­ dern durchläuft; sie bleibt bis zu dem Moment, in dem sie inne­ hält, ein frei gewählter Weg, der ein sicheres Wissen nur von seinem Ausgangspunkt hat; seine Zukunft ist nicht durch die Geographie des Grundrisses vorweg verfügt; man rechnet mit ihm in seiner eigentlichen Geschichtlichkeit. In diesem Raum 74 Husserl, E., »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-hi­ storisches Problem«, in: Revue internationale de philosophiey Bd. VI, Nr. 2, 15. Januar 1939, S. 203-225. [Wiederveröffentlicht als Beilage III in: Husserl, E., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: Husserliana, Bd. VI, Den Haag 1962, S. 365-386. A. d. Ü.] 75 Straus, E., Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin 1935. 76 [Im Original deutsch. A. d. Ü.]

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endlich kommt es zu Begegnungen, eben nicht nur zur Überkreu­ zung der Linien, die den kürzesten Abstand von einem Punkt zu einem anderen bezeichnen, sondern zur Überschneidung der Wegstrecken, zur Kreuzung der Wege, es kommt zu Wegbahnen, die am Horizont in ein und demselben Punkt zusammenlaufen oder die nach Art des Weges von Guermantes im Moment des längsten Umweges plötzlich zum Geburtshaus zurückkehren. In dieser ursprünglichen Räumlichkeit der Landschaft entfaltet sich der Traum und darin findet er auch die wesentlichen affektiven Bedeutungen vor. »Der Raum, Zeichen meiner Macht.« Auf der Stufe des erlebten Raumes ist dies nur in dem Maße wahr, wie die Werte dieses Raumes einander zugeordnet sind. Die Sicherheit, die der Raum bietet, die feste Stütze, die er meiner Macht gibt, beruht auf der Gliederung von Nah- und Fernraum: Der Fernraum als der Raum, durch den man sich ablöst, sich meidet oder den man er­ forscht oder erobert; der Nahraum als der Raum der Ruhe, der Vertrautheit und der Zuhandenheit. Doch in bestimmten Erfah­ rungen ist dieses Verhältnis gestört: Der Fernraum lastet nun auf dem Nahraum, besetzt ihn von allen Seiten mit massiver Präsenz, gleichsam in einer Umklammerung, die sich nicht lockern lässt. Bald durchdringt die Ferne langsam die poröse Gegenwart des Nahraumes und vermischt sich mit ihm in einer vollständigen Abschaffung der Perspektive, wie bei den Katatonischen, die dem, was »um sie herum« geschieht, gleichgültig, als wäre alles fern, und dennoch betroffen »beiwohnen«, als wäre alles nah, die somit die objektive Versetzung der Dinge an den Horizont und die eigentliche Bewegung ihrer Körper vermischen. Bald dringt der Fernraum wie ein Meteor in die unmittelbare Sphäre des Sub­ jekts ein: Ein Zeuge dafür ist jener Kranke, dessen Fall Binswanger77 berichtet; er ist im Raum ordentlich orientiert, doch in sei­ nem Bett liegend hat er den Eindruck, dass ein Stück von der Eisenbahn dort unter seinem Fenster sich vom Horizont löst, in sein Zimmer eindringt, es durchquert, sich ihm in den Schädel bohrt und sich schließlich in sein Gehirn rammt. In all diesen 77 »Das Raumproblem in der Psychopathologie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 24. Februar 1933, Nr. 145, 1933, S. 598-647. [Wie­ derveröffentlicht in: Ausgewählte Werke, Bd. 3: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 123-177. A. d. Ü.]

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Metathesen des Nahen und des Fernen verliert der Raum seine Sicherheit, er lädt sich auf mit erstickenden Drohungen und plötz­ lichen Gefahren, er ist von Einbrüchen durchfurcht. Der Raum, Zeichen meiner Ohnmacht. Die Polarität des Hellen und des Dunklen ist nicht identisch mit der des Nahen und des Fernen, auch wenn sie nicht immer davon unterschieden wird. Minkow­ ski78 hat diesen dunklen Raum beschrieben, in dem die halluzi­ natorischen Stimmen widerhallen und zugleich Fernes und Nahes sich vermischen. In dieser schwarzen Welt erfolgt die räumliche Einbeziehung nicht nach Art der Gesetze der Nebeneinanderstel­ lung, sondern gemäß den besonderen Modalitäten der Einwick­ lung oder Verschmelzung. Der Raum hat nun nicht mehr die Rolle zu verteilen, aufzuteilen; er ist nur mehr die Bewegung von Figuren und Klängen; er folgt dem Fluss und dem Rückfluss ihrer Erscheinungen. Diese nächtliche Räumlichkeit vor Augen, kann man wie Minkowski den hellen Raum analysieren, der sich vor dem Subjekt höhlt, den eingeebneten und sozialisierten Raum, in dem ich über den Modus der Aktivität alle meine Bewegungs­ virtualitäten erfahre und in dem jedes Ding seinen bestimmten Platz hat, den seiner Funktion oder seines Gebrauchs. Tatsächlich steht dem Raum der Dunkelheit radikaler noch ein Raum reinen Leuchtens gegenüber, in dem alle Dimensionen sich, wie es scheint, zugleich erfüllen und abschaffen, in dem alle Dinge ihre Einheit zu finden scheinen, nicht in der Verschmelzung flüchtiger Erscheinungen, sondern im Aufblitzen einer den Blicken voll und ganz dargebotenen Gegenwärtigkeit. Erfahrungen dieser Art sind von Rümke beschrieben worden:79 Eine seiner Kranken verspürt in ihr etwas so Weites und so Stilles, eine ungeheuer große Wasserfläche, und sie selbst hat das Emp­ finden, sich in diese lichtvolle Durchsichtigkeit zu verströmen. Eine andere erklärte: »Es gab Zeiten, wo alles, was ich sah, enorme Ausdehnungen annahm; Menschen schienen Riesen, alle Gegenstände und Entfernungen erschienen mir wie in einem Opernglas; es ist immer, als ob ich z. B. beim Sehen nach draußen durch ein Fernrohr gucke. Viel mehr Perspektive, Tiefe und Klar­ heit in allem.« 78 »Esquisses phénoménologiques«, in: Recherches philosophiques, Bd. IV, 1934i935>S. 295-313. 79 Zur Phänomenologie und Klinik des Glücksgefühls, Berlin 1924.

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Schließlich hat Binswanger selbst die vertikale Achse des Rau­ mes in ihrer Bedeutung für die Existenz analysiert: das Thema der rauen und langwierigen Anstrengung, der Begeisterung und der Freude; das Thema des funkelnden Gipfels, auf dem die mit Schat­ ten vermischte Klarheit sich zu absolutem Licht gereinigt hat und sich die Bewegung vollendet und in der Gelassenheit des Augen­ blicks zur Ruhe kommt. Doch die in die Höhe gerichtete Bewe­ gung impliziert nicht allein die Bedeutungen einer sich im Enthu­ siasmus transzendierenden Existenz; sie ist nicht allein die Ausrichtung dieser Selbstüberwindung, durch die der von sich selbst losgerissene Mensch nach Fink Zugang zum höchsten Sei­ enden, dem Theion, erhält.80 Die vertikale Achse kann auch der Vektor einer Existenz sein, die auf Erden ihr Heim verloren hat und die in der Art des Baumeisters Solness droben ihr Gespräch mit Gott wiederaufnehmen wird; sie bezeichnet die Flucht ins Maßlose und trägt von Anfang an den Taumel ihres Sturzes in sich: »Er wagt es nicht, er kann nicht so hoch steigen wie er baut.« Und doch wird er nach dort oben gerufen, von dem, der sein Haus niedergebrannt und seine Kinder gestohlen hat, derjenige, der wollte, »dass er an nichts anderes gebunden wäre als an Ihn«, zu ihm will er aufsteigen, um ihm zu bedeuten, dass er am Ende wieder hinabsteigen wird, hin zur Liebe der Menschen. Doch von derlei Gipfeln steigt man nur herunter im Taumel und im Fall.81 Dieser Komplex von Gegensätzen bestimmt die wesentlichen Dimensionen der Existenz. Sie bilden die ursprünglichen Koor­ dinaten des Traumes und gleichsam den mythischen Raum seiner Kosmogonie. In den Analysen von Träumen, Phantasien und Wahngebilden erkennt man, wie sie sich zusammensetzen und einander gemeinsam symbolisieren, um so ein umfassendes Gan­ zes zu bilden. Bei der Untersuchung eines Falles von Schizophre­ nie, dem Fall Ellen West,82 hat Binswanger diese großen imagi­ nären Ganzheiten ans Licht gebracht, deren phänomenologische Bedeutungen auf die konkreten und einzigartigen Bilder vorgrei­ 80 Fink, E., Vom Wesen des Enthusiasmus, Freiburg i. Br. 1947. 81 [Ibsen, H., Bygmester Solness> Kopenhagen 1892; dt. Baumeister Solness, Leipzig 1893, 3. Akt, 3. Szene. A. d. Ü.] 82 Binswanger, L., »Der Fall Ellen West«, in: ders., Schizophrenie, Tübingen 1953, S. 57-188. [Wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Werke, Bd. 4: Der Mensch in der Psychiatrie, a.a.O., S. 73-209. A. d. Ü.]

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fen, die ihnen einen Ausdrucksgehalt geben. Die Welt von Ellen West ist zwischen zwei kosmischen Mächten geteilt, die keinerlei mögliche Versöhnung kennen: Die unterirdische Welt des Versinkens, symbolisiert durch die kalte Dunkelheit des Grabes, wehrt die Kranke mit allen ihren Kräften ab, indem sie sich weigert, zuzunehmen, zu altern und sich in das grob materielle Leben ihrer Familie hineinziehen zu lassen, und die ätherische, lichtvolle Welt, in der sich eine gänzlich freie Existenz, die keine Last des Lebens mehr, sondern allein jene Durchsichtigkeit kennen würde, in der sich die Liebe in der Ewigkeit des Augenblicks totalisiert, jeden Augenblick bewegen könnte. Das Leben ist für sie nur möglich geworden in der Form des Fluges hin zu jenem fernen und hohen Raum des Lichts, und die Erde in ihrer dunklen Nähe birgt ihr allein das unmittelbare Bevorstehen des Todes. Bei Ellen West ist der feste Raum der wirklichen Bewegung verschwunden, der Raum, in dem sich nach und nach die Progression des Werdens vollzieht. Er hat sich vollständig in seine eigenen Grenzen zu­ rückgenommen; er ist zu seiner eigenen Unterdrückung gewor­ den; er ist in die zwei sich Widersprechenden zurückgezogen, aus denen er den Moment einer Einheit formte. Er existiert nur mehr jenseits seiner selbst, zugleich, als ob er noch nicht existierte und als ob er bereits nicht mehr existierte. Der existentielle Raum von Ellen West ist der Raum des zugleich im Wunsch nach dem Tod und im Mythos einer zweiten Geburt abgeschafften Lebens; er trägt bereits das Mal jenes Selbstmordes, durch die Ellen West die Verwirklichung ihrer Existenz erreichen sollte. Doch eine Analyse in diesem phänomenologischen Stil kann sich selbst nicht genug sein. Sie muss sich vollenden und sie muss sich begründen. Sich vollenden durch eine Erhellung des Ausdrucks­ aktes, der diesen Ursprungsdimensionen der Existenz eine kon­ krete Gestalt gibt; sich begründen durch eine Erhellung jener Be­ wegung, in der sich die Ausrichtungen ihrer Bahn konstituieren. Wir lassen fürs erste die Analyse des Ausdrucks beiseite und behalten ihn späteren Untersuchungen vor. Beschränken wir uns also darauf, einige leicht herauszustellende Elemente aufzuzeigen. Jeder Ausdrucksakt ist auf dem Grund dieser ersten Ausrich­ tungen zu verstehen; er bringt sie nicht ex nibilo hervor, sondern

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er siedelt sich auf ihrer Bahn an, und von ihr her kann man wie von den Punkten einer Kurve her das Ganze der Bewegung in ihrem vollständigen Vollzug wiederherstellen. Insofern auch kann es eine Anthropologie der Kunst geben, die sich keinesfalls als eine psychologische Reduktion darstellen wird. Denn es kommt nicht darauf an, die Ausdrucksstrukturen auf einen Determinis­ mus unbewusster Motivierungen zurückzuführen, sondern viel­ mehr, sie allesamt längs jener Linie wiederherzustellen, gemäß deren sich die menschliche Freiheit bewegt. Auf dieser Linie, die vom Nahraum zum Fernraum führt, begegnen wir einer be­ sonderen Ausdrucksform: Da, wo die Existenz die Morgenröte triumphaler Aufbrüche, die Schifffahrten und langen Seereisen, die bewunderten Entdeckungen, die Belagerung der Städte, das Exil, das in seinen Netzen gefangenhält, das hartnäckige Festhal­ ten an der Rückkehr und die Bitterkeit beim Wiederfinden der alt und unbeweglich gewordenen Dinge kennt, längs dieser Odyssee der Existenz auf den »großen, aus Traum und Wirklichkeit ge­ webten Bahnen« hat als Grundstruktur des Ausdrucksaktes der epische Ausdruck seinen Platz. Der lyrische Ausdruck wird dagegen erst in diesem Wechsel von Licht und Dunkelheit möglich, in der sich die Existenz ab­ spielt: von Natur aus - und ohne Rücksicht auf das auserwählte Subjekt oder die entlehnte Metapher zu nehmen, trotz des häu­ figen signifikativen Wertes beider - ist das Lyrische jahreszeitlich oder Nykt hemeral, taghelle Nacht. Es gehört zugleich der Sonne und der Nacht an und entwickelt seinem Wesen entsprechend die Töne des Lichtes der Dämmerung. Das Lyrische überwindet die Abstände nicht, für das Lyrische sind es immer die anderen, die fortgehen; sein Exil ist ohne Rückkehr, weil es bereits in seiner eigenen Heimat ins Exil verbannt ist; und selbst wenn es unter seinem Blick alle Bewegungen der Welt wiederfindet und, unbe­ wegt bleibend, deren sämtliche Richtungen zu erkunden vermag, so ergreift es sie doch in den Spielen von Schatten und Licht und in den pulsierenden Bewegungen des Tages und der Nacht, die auf der veränderlichen Oberfläche der Dinge deren unveränderliche Wahrheit kundtun. Schließlich hat auf der vertikalen Achse der Existenz auch die Achse des tragischen Ausdrucks ihren Platz: Die tragische Bewe­ gung ist stets eine Bewegung des Aufstiegs und des Falls, und mit

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einem besonderen Vorrecht ist der Punkt, ausgezeichnet, an dem in einem unmerklichen Ausschwingen dem Aufstieg Einhalt ge­ boten wird und er schwankend auf der Kippe steht. Deshalb ist die Tragödie kaum darauf angewiesen, sich in Raum und Zeit auszubreiten, hat sie weder fremde Länder noch gar die Linde­ rung der Nächte nötig, wenn sie sich nur wirklich der Aufgabe widmet, die vertikale Transzendenz des Schicksals zu offenbaren. 83 Es gibt also eine anthropologische Grundlage für die dem tra­ gischen, epischen oder lyrischen Ausdruck eigenen Strukturen. Eine Analyse in diesem Sinne ist weiterhin ein Desiderat. In ihr wäre sowohl zu zeigen, was der Ausdrucksakt an sich ist, als auch, welche anthropologischen Notwendigkeiten ihn beherrschen und regieren, und so könnte man die Ausdrucksformen des Exils, des Abstiegs zur Hölle, des Gebirges und des Gefängnisses unter­ suchen. Kommen wir zurück zu der einzigen Frage, die uns zwangs­ läufig weiter beschäftigt: Wie konstituieren sich diese wesent­ lichen Ausrichtungen der Existenz, die gleichsam die anthropolo­ gische Struktur ihrer gesamten Geschichte bilden? Eine erste Anmerkung: Die drei von uns beschriebenen Polari­ täten haben nicht alle dieselbe Universalität und dieselbe anthro­ pologische Tiefe. Und auch wenn jede für sich unabhängig ist, scheint zumindest die eine grundlegender und ursprünglicher zu sein. Wohl aus diesem Grunde, und weil er das Problem der ver-83 83 Vgl. F. Hebbels seltsamen Traum: »Bei Nacht gipfelte diese Tätigkeit meiner gärenden Phantasie in einem Traum, der so ungeheuerlich war und einen solchen Eindruck in mir zurückließ, dass er eben deshalb sieben Mal hintereinander wiederkehrte. Mir war, als hätte der liebe Gott, von dem ich schon so manches gehört hatte, zwischen Himmel und Erde ein Seil ausgespannt, mich hineingesetzt und sich danebengeuellt, um mich zu schaukeln. Nun flog ich denn ohne Rast und Aufenthalt in schwindelerregender Eile hinauf und hinunter; jetzt war ich hoch in den Wolken, die Haare flatterten mir im Winde, ich hielt mich krampfhaft fest und schloss die Augen; jetzt war ich dem Boden wieder so nah, dass ich den gelben Sand, sowie die kleinen roten und weißen Steinchen deutlich erblicken, ja mit den Fußspitzen erreichen konnte. Dann wollte ich mich hinauswerfen, aber das kostete doch einen Entschluss, und bevor es mir gelang, gings wieder in die Höhe, und mir blieb nichts übrig, als abermals ins Seil zu greifen, um nicht zu stürzen und zerschmettert zu werden.« (Hebbel, F., »Aufzeichnungen aus mei­ nem Leben«, in: Werke, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, München 1965, Bd. 3, S. 730.)

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schiedenen Ausdrucksformen nicht angegangen ist, hat Binswanger fast nur auf dem Gegensatz von Aufstieg und Fall beharrt. Worin besteht das anthropologische Vorrecht dieser vertikalen Dimension? Zuvorderst darin, dass sie die Strukturen der Zeitlichkeit nahe­ zu unverstellt ans Licht bringt. Der horizontale Gegensatz des Nahen und des Fernen bietet die Zeit allein in einer Chronologie des räumlichen Voranschreitens dar; die Zeit entwickelt sich darin allein zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ankunftspunkt; sie erschöpft sich im Durchlaufen der Wegstrecke; und wenn sie sich erneuert, dann in der Form der Wiederholung, der Wieder­ kehr und des erneuten Aufbruchs. In dieser existentiellen Aus­ richtung ist die Zeit ihrem Wesen nach nostalgisch; sie sucht sich auf sich selbst hin zu schließen und sich in der Anknüpfung an ihren eigenen Ursprung wiederaufzunehmen; die Zeit des Epos ist zirkulär oder iterativ. Im Gegensatz des Hellen und des Dunklen ist die Zeit ebensowenig die echte Zeitlichkeit: Es handelt sich nun um eine rhythmische und von Schwankungen skandierte Zeit, eine jahreszeitliche Zeit, bei der die Abwesenheit stets Verheißung einer Wiederkehr und der Tod Unterpfand einer Wiederauferste­ hung ist. Dagegen kann man mit der Bewegung von Aufstieg und Fall die Zeitlichkeit wieder in ihrem ursprünglichen Sinn erfassen. Nehmen wir den Fall Ellen West wieder auf. Die gesamte Be­ wegung ihrer Existenz erschöpft sich in ihrer phobischen Furcht vor einem Fall ins Grab und in dem wahnhaften Wunsch, im Äther zu schweben und ihr Genießen in der Bewegungslosigkeit reiner Bewegung zu empfangen. Mit dieser Ausrichtung und der durch sie implizierten affektiven Polarität wird die eigentliche Form der Zeitigung der Existenz bezeichnet. Die Zukunft wird von der Kranken nicht als Offenbarung ihrer Erfüllung und Vor­ wegnahme ihres Todes übernommen. Den Tod erfährt sie als be­ reits da, eingeschrieben in diesen alternden und jeden Tag um ein neues Pfund beschwerten Körper; der Tod ist für sie nur die ge­ genwärtige Last des Fleisches, er wird mit der Anwesenheit ihres Körpers eins. Während der dreizehn Jahre, die ihre Krankheit dauern wird, lebte Ellen West nur dafür, das unmittelbare Bevor­ stehen dieses mit ihrem Fleisch verbundenen Todes zu fliehen: Sie weigert sich zu essen und diesem Körper auf welche Weise auch

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immer ein Leben zu geben, das diesen in die Todesdrohung ver­ wandeln würde. All das, was dieser Anwesenheit des Körpers Konsistenz, Kontinuität und Gewicht gibt, vervielfältigt die ihn umhüllenden tödlichen Mächte. Sie verweigert jede Nahrung und verweigert ebenso ihre Vergangenheit: Sie nimmt sie nicht in der Eigentlichkeitsform der Wiederholung auf, sie unterdrückt sie durch den Mythos einer erneuten Geburt, die alles, was sie war, an ihr auslöschen würde. Doch durch die Vergegenwärtigung des Todes in Gestalten unmittelbarer Drohung wird die Zukunft von der Erfüllung befreit: Nicht länger greift durch sie die Existenz vor auf ihren Tod und nimmt ihre Einsamkeit wie auch ihre Fak­ tizität auf sich, sondern durch sie reißt sich im Gegenteil die Exi­ stenz von allem los, was sie als endliche Existenz begründet. Die Zukunft, in die hinein sie sich entwirft, ist nicht die Zukunft einer Existenz in der Welt, sondern die einer Existenz oberhalb der Welt, einer Existenz im Überflug; darin sind die Grenzen, in die ihre Erfüllung eingeschlossen ist, aufgehoben, und sie erhält Zu­ gang zur reinen Existenz der Ewigkeit. Eine leere Ewigkeit, ge­ wiss, und ohne Inhalt, »schlechte Ewigkeit«, so schlecht wie die subjektive Unendlichkeit, von der Hegel spricht. Die Zeitigung der Existenz bei Ellen West ist die Zeitigung der Uneigentlichkeit. Tatsächlich lässt sich über diese vertikale Ausrichtung der Exi­ stenz und entsprechend den Strukturen der Zeitlichkeit am besten über die eigentlichen und uneigentlichen Formen der Existenz entscheiden. Diese Transzendenz des Existierenden über sich selbst in der Bewegung seiner Zeitlichkeit, diese Transzendenz, die die vertikale Achse des Imaginären bezeichnet, kann als ein Losreißen von den Grundlagen der Existenz selbst erlebt werden; daraufhin werden sich all die Themen der Unsterblichkeit, des Überlebens, der reinen Liebe und der unmittelbaren Kommunika­ tion der Bewusstsuine kristallisieren; sie kann im Gegenteil als »Transdeszendenz«, als unmittelbarer Fall vom gefährlichen Gip­ fel der Gegenwart herab erlebt werden; daraufhin wird sich das Imaginäre in einer phantastischen Welt des Desasters entfalten, und das Universum wird nur mehr der Augenblick seiner eigenen Vernichtung sein: Dies ist die konstitutive Bewegung der wahn­ haften Erfahrungen vom »Ende der Welt«. Die Transzendenzbe­ wegung der Zeitlichkeit kann gleichermaßen durch eine PseudoTranszendenz des Raumes überdeckt und verborgen sein; darauf-

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hin nimmt sich die vertikale Achse ganz in die horizontale Bahn der Existenz zurück; die Zukunft verschließt sich in der Ferne des Raumes; und gegen die darin enthaltenen Todesdrohungen ver­ teidigt sich die Existenz mit all den zwangsneurotischen Riten, die durch imaginäre Hindernisse die freien Wege der Welt versperren. So ließe sich die Transzendenz beschreiben, die sich einzig in der Diskontinuität des Augenblicks auf sich nimmt und die sich allein im Bruch des Selbst mit sich verkündet; in diesem Sinne hat Binswanger die »manische Existenz« beschrieben.84 Mit diesen unterschiedlichen Strukturen des Eigentlichen und des Uneigentlichen holen wir die Formen der Geschichtlichkeit der Existenz ein. Wenn die Existenz im Modus der Uneigentlich­ keit erlebt wird, wird sie nicht in der Art der Geschichte erlebt. Sie lässt sich in die innere Geschichte ihres Wahnes aufsaugen, oder aber ihre Dauer erschöpft sich ganz und gar im Werden der Dinge; sie gibt sich diesem objektiven Determinismus hin, in dem sich ihre ursprüngliche Freiheit vollkommen entfremdet. In beiden Fällen kommt die Existenz aus sich selbst und aus ihrer eigenen Bewegung dazu, sich in diesen Determinismus der Krankheit einzuschreiben, durch den der Psychiater seine Dia­ gnose verifiziert sieht und sich berechtigt glaubt, die Krankheit als einen »objektiven Prozess« zu betrachten und den Kranken als eine träge Sache, in der dieser Prozess seinem inneren Determi­ nismus gemäß abrollt. Der Psychiater vergisst, dass es die Exi­ stenz selbst ist, die diese natürliche Geschichte der Krankheit als uneigentliche Form ihrer Geschichtlichkeit konstituiert, und dass das, was er als die Wirklichkeit an sich der Krankheit be­ schreibt, nur eine Sache des Augenblicks ist, erfasst an jener Be­ wegung der Existenz, die ihre Geschichtlichkeit in eben dem Mo­ ment begründet, in dem sie sich zeitigt. Daher muss man gegenüber allen bedeutsamen Dimensionen der Existenz der Dimension von Aufstieg und Fall ein absolutes Vorrecht gewähren: In ihr und allein in ihr lassen sich die Zeit­ lichkeit, die Eigentlichkeit und die Geschichtlichkeit der Existenz entschlüsseln. Bleibt man auf der Stufe der anderen Ausrichtun­ gen, kann man die Existenz immer nur in ihren konstituierten Formen wiedererfassen; man wird ihre Situationen erkennen so84 »Über Ideenflucht«, a.a.O.

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wie ihre Strukturen und ihre Seinsweisen definieren können; man wird die Modalitäten ihres MenscbseinsS5 erforschen. Doch um die Existenz zu erfassen, die sich in jener Form absolut ursprüng­ licher Gegenwart ereignet, in der sich das Dasein86 definiert, muss man die vertikale Dimension einholen. Dadurch verlässt man die anthropologische Ebene der Reflexion, die den Menschen als Menschen und innerhalb seiner menschlichen Welt analysiert, um zu einer ontologischen Reflexion weiterzugehen, die die Seinsweise der Existenz als Gegenwart zur Welt betrifft. Auf diese Weise vollzieht sich der Übergang von der Anthropologie zur Ontologie, womit sich hier bestätigt, dass er nicht einer apriori­ schen Teilung unterliegt, sondern einer Bewegung der konkreten Reflexion. In der Grundausrichtung der Imagination zeigt die Existenz selbst ihre eigene ontologische Grundlage an.87 V »Der Dichter untersteht den Befehlen seiner Nacht. «

Cocteau Man muss die vertrauten Sichtweisen umkehren. Streng genom­ men zeigt der Traum nicht ein archaisches Bild, eine Phantasie oder einen vererbten Mythos als seine konstituierenden Elemente; er macht sie nicht zu seiner Prima Materia, und sie selbst bilden nicht seine letzte Bedeutung. Im Gegenteil, jeder Akt der Imagi­ nation verweist implizit auf den Traum. Der Traum ist keine Modalität der Imagination; er ist deren erste Bedingung der Mög­ lichkeit. Klassisch wird das Bild stets durch den Rückbezug auf das Wirkliche definiert: Rückbezug, der in der traditionellen Auffas­ sung vom Bild als Wahrnehmungsrückstand dessen Ursprung und positive Wahrheit verbürgt oder wie in Sartres Auffassung eines »Bildbewusstseins«, das seinen Gegenstand als irreal setzt, dessen 85 [Im Original deutsch. A. d. Ü.] 86 [Im Original deutsch. A. d. Ü.] 87 In dem Maße, wie der tragische Ausdruck über diese vertikale Ausrichtung der Existenz seinen Platz einnimmt, erhält er eine ontologische Verwurzelung, die ihm ein absolutes Vorrecht gibt gegenüber den anderen Ausdrucksweisen: Letz­ tere sind viel eher anthropologische Modulationen.

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Wesen negativ bestimmt. In beiden Analysen trägt das Bild, und zwar mit Naturnotwendigkeit, eine Anspielung auf die Wirklich­ keit oder wenigstens auf das eventuelle Eintreten eines Wahrneh­ mungsgehalts in sich. Sartre hat sicher sehr richtig gezeigt, dass dieser Gehalt »nicht da ist«; dass ich mich auf ihn hin ausrichte, insofern er abwesend ist; dass er sich von vornherein als irreal darbietet; dass er ganz und gar offen ist für meinen Blick, dass er durchlässig und empfänglich bleibt für meine magischen Be­ schwörungen; das Bild von Pierre ist die aufgerufene Wahrneh­ mung von Pierre; sie vollzieht, begrenzt und erschöpft sich jedoch in der Irrealität, in der Pierre sich als abwesend darstellt: »zuerst ist es nur Pierre, den ich zu sehen wünsche. Aber mein Wunsch wird Wunsch nach jenem Lächeln, nach jener Physiognomie. So begrenzt und steigert er sich gleichzeitig, und das irreale Objekt ist genaugenommen [...] die Begrenzung und die Steigerung die­ ses Wunsches. Daher ist dies auch nur eine Täuschung, und der Wunsch nährt sich im Bildakt von sich selbst.«88 In der Tat müssen wir uns fragen, ob das Bild wirklich, wie Sartre meint, Bezeichnung des Wirklichen selbst ist - wenn auch negativ und im Modus des Irrealen. Ich versuche, mir heute bild­ lich vorzustellen, was Pierre tun wird, wenn er irgendeine Neuig­ keit erfährt. Es versteht sich, dass seine Abwesenheit die Bewe­ gung meiner Imagination umgibt und umschreibt; doch diese Abwesenheit war bereits da, bevor ich sie mir bildlich vorstelle, und nicht etwa nur implizit, sondern in dem sehr zugespitzten Modus des Bedauerns, ihn seit über einem Jahr nicht mehr gese­ hen zu haben; sie war bereits gegenwärtig, diese Abwesenheit, bis in die vertrauten Dinge hinein, die heute noch das Zeichen seines Vorübergangs tragen. Sie geht meiner Imagination voraus und färbt sie ein; aber sie ist weder deren Bedingung der Möglichkeit noch deren eidetisches Anzeichen. Hätte ich Pierre gestern noch gesehen und hätte er mich verärgert oder gedemütigt, so würde meine Imagination ihn mir heute in übergroßer Nähe wiederge­ ben und mich mit seiner allzu unmittelbaren Anwesenheit bela­ sten. Wenn ich mir Pierre nach einem Jahr Abwesenheit bildlich vorstelle, so zeige ich ihn mir nicht im Modus der Irrealität an 88 Sartre, J.-P., U Imaginaire. Psychologie phénoménologique de Vimagination^ Paris 1940, S. 163; dt. Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungs­ kraft^ Reinbek 1971, S. 207 [Übersetzung leicht verändert. A. d. Ü.].

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(dazu braucht es keine Imagination, das kleinste Gefühl von Bit­ terkeit genügt dafür), sondern als Erstes irrealisiere ich mich selbst, nehme mich selbst aus dieser Welt heraus, in der es mir nicht mehr möglich ist, Pierre zu begegnen. Was nicht besagen will, dass ich »zu einer anderen Welt hin ausbreche«, ja nicht einmal, dass ich mich an den möglichen Rändern der wirklichen Welt ergehe. Sondern ich gehe die Wege der Welt meiner Anwe­ senheit zurück; daraufhin verwischen sich die Linien jener Not­ wendigkeit, von der Pierre ausgeschlossen ist, und meine Anwe­ senheit als Anwesenheit für eben diese Welt erlischt. Ich bemühe mich, den Modus einer Anwesenheit wieder auszufüllen, in der die Bewegung meiner Freiheit noch nicht in diese Welt, auf die sie sich bezieht, einbegriffen war und alles noch die konstitutive Zu­ gehörigkeit der Welt zu meiner Existenz bezeichnete. Wenn ich mir bildlich vorstelle, was Pierre heute tut, in einer Situation, die uns beide betrifft, so rufe ich nicht eine Wahrnehmung oder eine Wirklichkeit auf: Erstens versuche ich, zu dieser Welt zurückzu­ finden, in der alles noch in der ersten Person dekliniert wird; wenn ich ihn in der Imagination in seinem Zimmer sehe, so stelle ich ihn mir nicht bildlich vor, so wie ich ihn durch das Schlüssel­ loch erspähe oder ihn von draußen sehe; ebensowenig versetze ich mich auf magische Weise in sein Zimmer und bliebe dabei un­ sichtbar; bildlich vorstellen heißt nicht den Mythos des Mäus­ chens zu realisieren, heißt nicht, sich in Pierres Welt zu versetzen, es heißt diese Welt zu werden, in der er ist: Ich bin der Brief, den er liest, und ich empfange in mir seinen Blick eines aufmerksamen Lesers, ich bin die Wände seines Zimmers, die ihn von allen Seiten beobachten und eben deshalb ihn nicht »sehen«; aber ich bin auch sein Blick und seine Aufmerksamkeit; ich bin sein Missvergnügen oder seine Überraschung; ich bin nicht nur absoluter Herr über das, was er tut, ich bin das, was er tut, das, was er ist. Aus diesem Grunde fügt die Imagination nichts Neues zu dem hinzu, was ich bereits weiß. Und doch wäre es nicht richtig zu behaupten, sie brächte mir nichts ein oder nichts bei; das Imaginäre fällt nicht mit der Immanenz zusammen; es lässt sich nicht einmal durch die formale Transzendenz dessen ausschöpfen, was sich als das Irreale abschattet. Das Imaginäre ist transzendent; wenn auch erkennbar nicht von einer »gegenständlichen« Transzendenz im Sinne Szilazyis: Denn in dem Moment, da ich Pierre bildlich vorstelle, ge-

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horcht er mir, jede seiner Gesten erfüllt meine Erwartung, und am Ende wird er mich, da ich es so wünsche, sogar sehen. Doch zeigt sich das Imaginäre als eine Transzendenz an, in der ich, ohne dass ich damit etwas Unbekanntes in Erfahrung bringe, mein Schicksal »erkennen« kann. Selbst in der Imagination, oder besser: vor allem in der Imagination gehorche ich nicht mir selbst, bin ich nicht mein eigener Herr, allein, weil ich mir selbst zur Beute werde; in der Wiederkehr von Pierre, die ich bildlich vorstelle, bin ich nicht ihm von Angesicht gegenüberstehend da, weil ich überall bin, um ihn herum und in ihm; ich spreche nicht zu ihm, sondern ich gebe ihm eine Rede vor; ich bin nicht bei ihm, sondern ich »bereite« ihm »eine Bühne«. Und weil ich mich überall wieder­ finde und wiedererkenne, kann ich an dieser Imagination das Ge­ setz meines Herzens entschlüsseln und mein Schicksal ablesen; diese Gefühle, dieser Wunsch und diese Verbissenheit, mit der ich die einfachsten Dinge zunichte mache, sind zwangsläufig be­ zeichnend für meine Einsamkeit, und zwar genau in dem Mo­ ment, da ich versuche, sie in der Imagination zu durchbrechen. Bildlich vorstellen ist also weniger ein Verhalten, das den Anderen betrifft, den ich als eine Quasi-Anwesenheit auf einem Wesens­ grund von Abwesenheit meine. Es heißt vielmehr sich selbst zu meinen als absoluten Sinn seiner Welt, sich zu meinen als Bewe­ gung einer Freiheit, die Welt wird und sich letztlich in dieser Welt als ihrem Schicksal verankert. Vermittels dessen, was es bildlich vorstellt, meint das Bewusstsein also die ursprüngliche Bewegung, die sich im Traum enthüllt. Träumen ist folglich nicht eine be­ sonders starke und lebhafte Weise bildlichen Vorstellens. Bildlich vorstellen heißt im Gegenteil sich selbst meinen im Moment des Traumes, sich träumend träumen. Und ganz so wie die Todesträume uns den letzten Sinn des Traumes zu bekunden schienen, gibt es zweifellos ebenso gewisse Formen von Imagination, die, gebunden an den Tod, mit größter Klarheit zeigen, was imaginieren im Grunde ist. In der Bewegung der Imagination irrealisiere ich stets mich selbst als Gegenwart zu eben dieser Welt; und ich erfahre die Welt (und zwar nicht eine andere, sondern eben diese) als eine für meine Gegenwart ganz und gar neue, als von ihr durchdrungen und als zu mir gehörend, und durch diese Welt, die nur die Kosmogonie meiner Existenz ist, bin ich imstande, die vollständige Bahn meiner Freiheit wie-

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derzufinden, indem ich über alle Ausrichtungen hinaus bin und die Freiheit als Krümmungslinie eines Schicksals totalisiere. Wenn ich Pierres Rückkehr imaginiere, ist das Wesentliche nicht, dass ich ein Bild habe von Pierre, wie er durch die Tür hereinkommt; das Wesentliche ist, dass meine Gegenwart, die danach trachtet, an das Überallsein des Traumes anzuschließen, die sich hier auf diese Seite und dort auf jene Seite der Tür verteilt und die sich voll und ganz in den Gedanken von Pierre, der kommt, und in den meinen, den Gedanken von mir, der ich warte, in seinem Lächeln und in meiner Lust wiederfindet, gleichsam im Traum die Bewegung einer Existenz entdeckt, die sich auf diese Begegnung als ihre Er­ füllung hin ausrichtet. Die Imagination strebt nicht dem Innehal­ ten, sondern der Totalisierung der Bewegung der Existenz entgegenT’män”imagimert stets das Ausschlaggebend^ das nunmehr Abgeschlossene; das, was man imaginiert, gehört der Ordnung der Lösung, nicht der Ordnung der Aufgabe an; Glück und Unglück schreiben sich über das Register des Imaginären ein, nicht Pflicht und Tugend. Deshalb sind die hauptsächlichen For­ men der Imagination mit dem Selbstmord vermählt. Oder viel­ mehr, der Selbstmord stellt sich als das Absolute der imaginären Verhaltensweisen dar: Jeder Selbstmordwunsch ist erfüllt von je­ ner Welt, in der ich nicht mehr hier oder da, sondern überall gegenwärtig wäre, bei der mir jeder ihrer Sektoren durchsichtig wäre und seine Zugehörigkeit zu meiner absoluten Gegenwart erweisen würde. Der Selbstmord ist nicht eine Weise, die Welt oder mich oder beide zusammen zu beseitigen, sondern den ur­ sprünglichen Moment wiederzufinden, in dem ich Welt werde, in dem noch nichts etwas ist in der Welt, in dem der Raum noch allein Ausrichtung der Existenz und die Zeit Bewegung ihrer Ge­ schichte ist.89Sich selbst zu töten ist die äußerste Weise des Imaginierens; wollte man den Selbstmord in einer realistischen Termi­ nologie der Beseitigung ausdrücken, so würde man sich dazu verurteilen, sie nicht zu verstehen; allein eine Anthropologie der Imagination kann eine Psychologie und eine Ethik des Selbstmor­ des begründen. Halten wir für den Augenblick nur fest, dass der Selbstmord der letzte Mythos, das »jüngste Gericht« der Imagina­ tion ist, so wie der Traum ihre Genesis, ihr absoluter Ursprung ist. 89 Bei manchen Schizophrenen steht das Thema des Selbstmords in Verbindung mit dem Mythos der zweiten Geburt.

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Es ist daher nicht möglich, das Imaginäre als umgekehrte Funk­ tion oder als Anzeichen einer Verneinung der Wirklichkeit zu definieren. Zwar entfaltet es sich problemlos auf dem Grunde einer Abwesenheit, und vor allem in ihren Lücken oder in den Zurückweisungen, die sie meinem Wunsch entgegensetzt, wird die Welt zurückverwiesen an das, was-ihr, zugrunde liegt. Doch durch sie offenbart sich auch dpr ursprünglich^Sinn der Wirk­ lichkeit; daher kann von seineKBeschafferihëit her dieser Sinn nicht Ausschluss des Imaginären sein; mitten im Herzen der Wahrnehmung weiß er die geheime und verborgene Macht, die in den sichtbarsten Formen der Anwesenheit am Werk ist, ins volle Licht zu setzen. Zugegeben, Pierres Abwesenheit und mein Bedauern darüber laden mich ein, diesen Traum zu träumen, in dem meine Existenz der Begegnung mit Pierre entgegenstrebt; doch auch in seiner Gegenwart und heute diesem Gesicht gegen­ über bin ich darauf beschränkt zu imaginieren, könnte ich mir Pierre bereits in der Imagination geben: Ich imaginierte ihn weder anderswo noch anderswie, sondern eben da, wo er war, und so, wie er war. Dieser Pierre, der mir da gegenübersitzt, ist nicht insofern imaginär, als seine Aktualität sich verdoppelt und die Virtualität eines anderen Pierre zu mir entsendet (den Pierre, den ich unterstelle, den ich wünsche, den ich voraussehe), sondern eben insofern, als in diesem besonders günstigen Augenblick er für mich er selbst ist; er ist derjenige, auf den ich zugehe und dessen Begegnung mir gewisse Erfüllungen verheißt; seine Freundschaft hat dort irgendwie ihren Platz auf dieser bereits von mir skizzier­ ten Bahn meiner Existenz; sie verzeichnet auf ihr den Moment eines Wechsels in den Ausrichtungen, eines Rückgangs vielleicht zur anfänglichen Geradheit, der es nunmehr freien Lauf zu lassen gilt. Wenn ich Pierre in dem Moment imaginiere, da ich ihn wahr­ nehme, so heißt das nicht, dass ich, wenn er etwa älter oder anders­ wo sein wird, neben ihm ein Bild von ihm habe, sondern ich mache mir aufs Neue diese ursprüngliche Bewegung unserer beider Exi­ stenz zu Eigen, deren frühzeitige Überschneidung eine grundle­ gendere selbige Welt bilden kann als jenes System einer Aktualität, das heute unsere gemeinsame Anwesenheit in diesem Zimmer be­ stimmt. So wird selbst meine Wahrnehmung, obgleich sie Wahraehmung bleibt, allein aufgrund dessen imaginär, dass sie ihre in den eigentlichen Ausrichtungen der Existenz fin-

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det; imaginär sind auch meine Worte und meine Gefühle, imaginär ist dieser Dialog, den ich mit Pierre wirklich führe, imaginär ist diese Freundschaft. Und dennoch weder falsch noch illusorisch. Das Imaginäre ist nicht ein Modus der Irrealität, sondern eben ein Modus der Aktualität, ein diagonal geleitetes Erfassen der Anwe­ senheit, das deren Ürsprüngsdimensionen hervorruft. Bächelärd hat tausendfach Recht, wenn er die Imagination gar im Innersten der Wahrnehmung am Werk und die geheime Arbeit zeigt, die das Objekt, das man wahrnimmt, in das Objekt verwan­ delt, in das man schauend sich versenkt: »Man versteht die Figu­ ren durch ihre Verklärung [>transfiguration < und in der persönlichen Geschichte, durch die er sich gebildet 1 hat.

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Janet12 bleibt dem Evolutionismus und seinen die Natur betref­ fenden Vorurteilen gewiss noch recht nahe; die »Hierarchie der Antriebe«, die sich von den einfachsten und am stärksten automati­ schen (Antrieb zu unmittelbarer Reaktion) bis zu den komplexe­ sten und am stärksten integrierten (soziale Handlungen) erstreckt, die Annahme einer psychischen Energie, die sich zwischen diesen Antrieben zum Zwecke ihrer Aktivierung verteilt, sind ebenso The­ men, die an Jackson und Ribot erinnern. Und doch hat Janet es geschafft, diesen naturalistischen Rahmen zu überwinden, indem er der Psychologie weder nachgebildete Strukturen noch unter­ stellte Energien als Thema vorgab, sondern das wirkliche Verhalten des menschlichen Individuums. Unter »Verhalten« versteht Janet nicht dieses äußere Benehmen, dessen Sinn und Wirklichkeit sich in der Konfrontation mit der es hervorrufenden Situation erschöpft: Das wäre Reflex oder Reaktion, aber nicht Verhalten. Verhalten gibt es, sobald es sich um eine Reaktion handelt, die einer Regulie­ rung unterworfen ist, so dass ihr Ablauf jederzeit von dem gerade zuvor erlangten Ergebnis abhängt. Diese Regulierung kann inner­ lich sein und als Gefühl auftreten (die Anstrengung, mit der man die Handlung wieder aufnimmt, um schließlich zum Erfolg zu kom­ men; die Freude, die die Handlung begrenzt und sie im Triumph vollendet); sie kann äußerlich sein und kann zum Anhaltspunkt das Verhalten des Anderen nehmen: Das Verhalten ist dann Reaktion auf die Reaktion eines anderen, Anpassung an sein Verhalten, und sie verlangt so gleichsam nach einer Verdoppelung, deren ganz ty­ pisches Beispiel die Sprache abgibt, die stets als an Umstände gebundener Dialog abläuft. Die Krankheit ist damit weder ein De­ fizit noch eine Regression, sondern eine Störung dieser Regulierun­ gen, eine funktionale Verstimmung: Davon zeugt die Sprache des Psychasthenikers, der nicht mehr imstande ist, die Normen des Dialogs zu befolgen, sondern auf einen Monolog ohne Zuhörer verfällt; davon zeugen auch die Hemmungen der Zwangskranken, die ihre Handlungen nicht vollenden können, weil sie die Regulie­ rung verloren haben, die es ihnen erlaubt, ein Verhalten anzufangen und zu vollenden. Auch die historische Analyse hat die Bedeutungen im mensch12 Janet, P. (in Zusammenarbeit mit F. Raymond), Les obsessions et la psychasthénie, Paris 1903, 2 Bde.; Les Névroses, Paris 1909; De Vangoisse à Vextase. Etudes sur les croyances et les sentiments, Paris 1926; Les débuts de Vintelligence, Paris 1935.

2 D ie Psychologie von 1850 bis 1950

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liehen Verhalten geltend gemacht. »Was der Mensch sei«, heißt es bei Dilthey, »das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich [...], sondern durch die Geschichte.«13 Die Geschichte lehrt ihm, dass er kein aus einzelnen Abschnitten zusammengesetztes Ele­ ment natürlicher Prozesse, sondern eine geistige Aktivität ist, de­ ren Erzeugnisse sich als kristallisierte Akte, als nunmehr schwei­ gende Bedeutungen sukzessive in der Zeit abgesetzt haben. Um zu dieser ursprünglichen Aktivität zurückzufinden, muss man sich an ihre Hervorbringungen halten und deren Sinn durch eine »Zer­ gliederung der Erzeugnisse des menschlichen Geistes, welche in die Entstehung des seelischen Zusammenhangs [...] einen Ein­ blick gewinnen will« Wiederaufleben lassen. Doch ist diese Ent­ stehung weder ein mechanischer Prozess noch eine biologische Evolution; sie ist Eigenbewegung des Geistes, der stets sein eige­ ner Ursprung und sein eigener Endpunkt ist. Es kann also nicht angehen, den Geist durch etwas anderes zu erklären als durch sich selbst; sondern man muss ihn insbesondere dadurch verstehen, dass man sich in seine Aktivität hineinversetzt und versucht, mit dieser Bewegung zusammenzufallen, in der er schafft und sich erschafft. Dieses Thema des in einem Gegensatz zum Erklären stehenden Verstehens wurde durch die Phänomenologie wieder­ aufgegriffen, die im Anschluss an Husserl die genaue Beschrei­ bung des Erlebens zum Entwurf einer jeden als Wissenschaft gel­ tenden Philosophie machte. Das Thema des Verstehens behielt seine Gültigkeit; doch anders als Dilthey, der das Verstehen auf einer Metaphysik des Geistes gründete, fundierte die Phänomeno­ logie das Verstehen in einer Analyse des unmittelbaren, jedem Erlebnis immanenten Sinns. So konnte Jaspers14 an den patholo­ gischen Phänomenen zwischen organischen Prozessen unterschei­ den, die der kausalen Erklärung unterliegen, und Reaktionen oder Entwicklungen der Persönlichkeit, die eine erlebte Bedeutung in sich schließen, die zu verstehen Aufgabe des Psychiaters sein muss. Doch keine Form von Psychologie hat der Bedeutung eine größere Wichtigkeit eingeräumt als die Psychoanalyse. Gewiss 13 Dilthey, W., »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« (1894), in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Stuttgart/Göttingen 1982 (7. Aufl.), S. 180. 14 Jaspers, K., Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913.

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bleibt sie im Denken Freuds15 noch an ihre naturalistischen Ur­ sprünge und metaphysischen oder moralischen Vorurteile gebun­ den, von denen sie unweigerlich geprägt wird. Gewiss stößt man in der Theorie der Triebe (Lebens- oder Erweiterungstrieb, To­ des- oder Wiederholungstrieb) auf das Echo eines biologischen Mythos des menschlichen Wesens. Gewiss findet man in der Auf­ fassung der Krankheit als Regression auf ein früheres Stadium der affektiven Entwicklung ein altes Spencer’sches Thema sowie die evolutionistischen Phantasien wieder, die Freud uns, selbst in ihren höchst zweifelhaften soziologischen Implikationen, nicht erspart. Doch hat die Geschichte der Psychoanalyse selbst mit diesen rückwärtsgewandten Elementen aufgeräumt. Freuds ge­ schichtliche Bedeutung ergibt sich zweifellos aus der tatsächlichen Unreinheit seiner Begriffe: Innerhalb des Freud’schen Systems kam es zur großen Umwälzung der Psychologie; im Verlauf der Freud’schen Reflexion verwandelte sich die Kausalanalyse in eine Genese von Bedeutungen, machte die Evolution der Geschichte Platz und setzte sich an die Stelle des Rückgriffs auf die Natur die Forderung nach einer Analyse des kulturellen Milieus. 1) Für Freud darf die psychologische Analyse nicht von einer Aufteilung der Verhaltensweisen zwischen willentlich und unwil­ lentlich, intentional und automatisch, dem normal geordneten Verhalten und dem pathologischen und verwirrten Benehmen ausgehen; es gibt keinen natürlichen Unterschied zwischen der willentlichen Regung eines gesunden Menschen und der hysteri­ schen Lähmung. Jenseits aller offensichtlichen Unterschiede ha­ ben diese beiden Verhaltensweisen einen Sinn: Die hysterische Lähmung hat den Sinn der von ihr zurückgewiesenen Handlung, die intentionale Handlung den Sinn der von ihr entworfenen Handlung. Der Sinn ist allem Verhalten koextensiv. Selbst da, 15 Freud, S., Die Traumdeutung, Wien 1900 [non< du père«, in: Critique, Nr. 178, März 1962, S. 195-209. (Über J. Laplanche, Hölderlin et la question du père> Paris 1961.)

Die Bedeutung des Hölderlin-Jahrbuchs1 ist erheblich; geduldig hat es seit 1946 das von ihm kommentierte Werk aus dem dichten Gespinst herausgelöst, in das es seit fast einem halben Jahrhundert durch die unübersehbar vom George-Kreis12 inspirierten Exegesen eingewoben war. Gundolfs Kommentar zum Archipelagus34(1923) hat den Wert eines Zeugnisses: Die zirkuläre und heilige Gegen­ wart der Natur, die sichtbare Nähe der Götter, die in der Schönheit der Körper Gestalt annehmen, ihr Ans-Licht-Kommen in den Zyklen der Geschichte und schließlich ihre Wiederkehr, bereits besiegelt von der flüchtigen Anwesenheit des Kindes - des ewigen und vergänglichen Hüters des Feuers -, all diese Themen erstickten in einer Lyrik des unmittelbaren Bevorstehens der Zeiten, was Hölderlin in der Schärfe des Bruches verkündet hatte. Der Jüng­ ling aus dem Gefesselten Strom? der Held, der dem verblüfften Ufer durch einen Flug, der ihn der grenzenlosen Gewalt der Götter aussetzt, entrissen wird, ist plötzlich, der Georgischen Thematik gemäß, zu einem sanften, flaumigen und vielversprechenden Kind geworden. Der Gesang der Zyklen hat das Sprechen, das harte Sprechen, das die Zeit teilt, zum Schweigen gebracht. Man sollte Hölderlins Sprache wieder da aufnehmen, wo sie entstand. 1 [Das Hölderlin-Jahrbuch erscheint seit 1947 zunächst unter der Verantwortung von F. Beissner und P. Kluckhohn, dann von W. Binder und F. Kelletat und zuletzt von B. Böschenstein und G. Kurz in Tübingen.] 2 [Es handelt sich um einen Kreis von Freunden, die sich um den deutschen Dichter Stefan George (1868-1933) versammelt hatten, und der zu seinen Mitgliedern Dichter wie C. Derleth, P. Gérardy, A. Schüler und F. Walters, Philosophen, Germanisten und Historiker wie L. Klages, F. Gundolf, E. Bertram, M. Kommereil und E. Kantorowicz zählte.] 3 [Gundolf, F., »Hölderlins Archipelagus«, in: Dichter und Helden, Heidelberg 1923, S. 5-22. Vgl. Hölderlin, F., »Der Archipelagus« (1800), in: Sämtliche Werke und Brief