schön normal : Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 9783899428896

Die drastische Zunahme der plastischen Chirurgie macht Technologien, die unter die Haut gehen, als soziales, kulturelles

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German Pages [282] Year 2008

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schön normal : Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst
 9783899428896

Table of contents :
Inhalt
Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen
„Körper im Schmerz“ – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Stelarc und Valie Export
Surgical passing – Das Unbehagen an Michael Jacksons Nase
Normale Exklusivitäten – Schönheitshandeln, Schmerznormalisieren, Körper inszenieren
Nabelschau – Fitness als Selbstmanagement in John von Düffels Romansatire EGO
Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik
Experten der Grenzziehung – Eine empirische Annäherung an Legitimationsstrategien von Schönheitschirurgen zwischen Medizin und Lifestyle
Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fett-Hass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika
Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN
Vorher Nachher – Anmerkungen zur Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst
Zwischen Hormonen, Mönchspfefferkraut und Lunayoga – Somatische Selbsttechniken in der Kinderwunschbehandlung
Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung
Autorinnen und Autoren

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Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal

2008-09-15 15-12-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189386539184|(S.

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Paula-Irene Villa (Hg.)

schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst

2008-09-15 15-12-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189386539184|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Paula-Irene Villa Übersetzung aus dem Englischen: Johanna Tönsing, Bochum Satz: Helmut Hummel, Hannover Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-889-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-09-15 15-12-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189386539184|(S.

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Inhalt

Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen ...................................... 7 PAULA-IRENE VILLA

„Körper im Schmerz“ – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Stelarc und Valie Export ............................. 21 MARKUS BRUNNER

Surgical passing – Das Unbehagen an Michael Jacksons Nase .............. 41 KATHY DAVIS

Normale Exklusivitäten – Schönheitshandeln, Schmerznormalisieren, Körper inszenieren ........... 67 NINA DEGELE

Nabelschau – Fitness als Selbstmanagement in John von Düffels Romansatire EGO .......................................................... 85 ANNE FLEIG

Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik ............................................................. 99 SABINE MAASEN

Experten der Grenzziehung – Eine empirische Annäherung an Legitimationsstrategien von Schönheitschirurgen zwischen Medizin und Lifestyle ................... 119 BARBARA MEILI

Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fett-Hass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika ..................................... 143 KATHRYN PAULY MORGAN

Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN ................................................................................................... 173 ANDREA SEIER UND HANNA SURMA

Vorher Nachher – Anmerkungen zur Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst ................................................................................... 199 SIMON STRICK

Zwischen Hormonen, Mönchspfefferkraut und Lunayoga – Somatische Selbsttechniken in der Kinderwunschbehandlung ............ 219 CHARLOTTE ULLRICH

Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung ........................ 245 PAULA-IRENE VILLA

Autorinnen und Autoren .......................................................................... 273

Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen PAULA-IRENE VILLA Bevor Sie sich an die Lektüre dieses Buches machen, schauen Sie ein wenig Fernsehen. Warten Sie damit nicht bis zur so genannten Prime Time oder gar auf die Zeit nach 22 Uhr, sondern nehmen Sie sich an einem Wochentag zwischen 14 Uhr und 18 Uhr Zeit dafür. Zappen Sie vor allem zwischen den privaten Sendern und achten Sie besonders auf die so genannten Ratgeber und ‚Lifestyle‘-Formate. Diese handeln, so werden Sie sehen, davon, wie Menschen mehr aus sich, ihrer Wohnung, ihrem Dinner oder ihren Beziehungsambitionen machen können. Oder davon, wie zwei Jugendliche in einem inszenierten (und zugleich echten) Wettbewerb gegeneinander um eine Ausbildungsstelle antreten. Sie werden vielleicht auch sehen, wie eine Gruppe von Kindern in einem ‚Camp‘ auf Diät gesetzt wird oder, etwa bei „Spieglein, Spieglein …“ (VOX, 17 Uhr), wie Menschen durch Friseurbesuch, Permanent Make-up oder einer OP beim ‚Schönheitschirurgen‘ zu einem neuen und besseren Leben finden. Im Nachmittagsprogramm können Sie einer ganzen Reihe von Menschen also bei verschiedenen Bemühungen zusehen, mehr aus sich zu machen, indem sie – nicht immer, aber auffällig häufig – an ihren Körpern arbeiten, oder arbeiten lassen. Menschen machen Diät, stylen sich, werden operiert – alles, um sich zu verwandeln in die, die sie sein wollen sollen. Genau darum geht es in diesem Sammelband: Manipulationen am Körper bzw. die Bearbeitung des Körpers werden in den verschiedenen Beiträgen als Arbeit am Selbst verstanden. Und nicht als bloße Betonung von Äußerlichkeiten, wie vor allem die Presseberichterstattung derzeit gerne formuliert. Es geht bei den Diät- und ‚Schnippel‘-Shows oder auch bei Heidi Klums Suche nach dem neuen Supermodel eben nicht primär oder allein um die „äußeren Werte“ (Krasser 2008), sondern um die Verkörperung von sozialen Normen. Äußerlichkeiten sind nie nur Schein, derzeit und in den Medien erst recht nicht.

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PAULA-IRENE VILLA

Der rote Faden: Körper-Selbst Vielmehr, so der rote Faden dieses Buches, ist die vermeintlich äußerliche Körperarbeit immer und unausweichlich Arbeit am sozialen Selbst. Wie vielfältig diese Arbeit sein kann, welche kreativen und selbstermächtigenden Potenziale diese birgt, aber auch – und vor allem – welche Unterwerfung unter gnadenlose Normen sie zugleich bedeutet, das wird in den verschiedenen Beiträgen deutlich. Alle Beiträge zeigen zudem, dass die ‚Arbeit am Selbst‘ mitnichten eine rein subjektive, individuelle ‚Privatangelegenheit‘ von souveränen, handlungsrationalen, freien und selbstbewussten Menschen ist – auch wenn dies vor allem in den Medien rhetorisch so beschworen wird und gerade dies ein bezeichnendes Moment der gegenwärtigen Semantik rund um das Subjekt ist. Vielmehr sind Entscheidungen über den eigenen Körper als Entscheidungen über das Selbst hochgradig normativ, sie sind getränkt von Sozialität. Denn: Woher kommen unsere Vorstellungen von uns selbst? Wie kommen wir zu bestimmtem Wünschen, Hoffnungen und Phantasien in Bezug auf unseren Körper? Woher stammen Urteile wie klein, groß, dick, dunkel, schwabbelig, gesund, fit, weiblich usw.? Und vor allem: Wer entscheidet wo und wie über das ‚Optimierungspotenzial‘ dieser körperbezogenen Wahrnehmungen? Wann ist ein Bauch ‚zu‘ dick? Wann ist ein Busen ‚zu‘ klein? Ab wann ist das Leid so unerträglich, dass es legitim wird, sich ein Stück vom Körper etwa abzuschneiden? Es bedarf wahrlich keines Soziologiestudiums (aber es hilft), um zu wissen, dass all diese Fragen weder vom Himmel fallen noch von allein in den Menschen auftauchen und dass ihre Beantwortung eben nicht jenseits gesellschaftlicher Normen, ökonomischen Imperativen und intersubjektiven Beziehungen geschieht. Die Gleichzeitigkeit von individueller Autonomie, z.B. auf der rhetorischen oder diskursiven Ebene (etwa der Medien) einerseits und von Beherrschung des Individuums, etwa auf der praxeologischen oder narrativen Ebene andererseits ist das basso continuo des vorliegenden Sammelbandes. Sie wird hier thematisiert z.B. als ambivalentes Begleitphänomen der reflexiven Moderne (Paula-Irene Villa), als in und durch verschiedene Medien wie Fernsehen oder Literatur formulierte Herrschaftstechnik im Sinne der foucaultschen Gouvernementalität (Anne Fleig, Andrea Seier/Hanna Surma, Sabine Maasen, Simon Strick), als künstlerisch problematisierbare „Dialektik der technischen Vernunft“ (Markus Brunner) oder als spannungsgeladener Zusammenhang zwischen privatistischer (Schönheits- und Normalitäts-)Ideologie und sozialer Praxis (Nina Degele).

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EINLEITUNG

Quantitäten und Qualitäten: Von Zahlen, Hakennasen und diskursiven Subjekten Eine durchaus beträchtliche Anzahl von Menschen jedenfalls hat, so muss man annehmen, obige Fragen für sich geklärt und sich für eine entsprechende Operation entschieden. Laut Schätzungen unterziehen sich in der Bundesrepublik derzeit zwischen 400 und 700 Tausend Menschen pro Jahr einer plastischen Operation (so z.B. die Schätzungen der GÄCD oder der Apotheken Umschau). In den USA rechnet ein Fachverband im Jahr 2007 mit insgesamt ca. 11,8 Millionen Eingriffen allein im Bereich der kosmetischen Chirurgie, d.h. ohne all jene plastisch-chirurgischen Eingriffe, die eindeutig medizinischer Natur sind wie Brandverletzungen, Tumorentfernungen usw. (American Society of Plastic Surgeons 2008). Tendenz: steil steigend meinen die einen (z.B. American Society of Plastic Surgeons 2008) in ihren differenzierten Statistiken, die für den Zeitraum zwischen 2000 und 2007 eine Steigerung von 59% angibt)1, stagnierend meinen die anderen (z.B. Sattler 2008). Laut einer repräsentativen Befragung der Apotheken-Umschau können sich 15,5% der befragten Deutschen – Männer wie Frauen – vorstellen, sich vom „Chirurgen verschönern zu lassen“; 36,7% finden es OK, dass Menschen, die unter ihrem Aussehen leiden, sich operieren lassen und laut DGÄPC ist jede zweite Frau in Deutschland nicht abgeneigt, sich für die Schönheit ‚unters Messer zu legen‘, wie die Branche selbst jovial-salopp formuliert. Jenseits solcher quantitativen Zahlen – die mit großer Vorsicht zu betrachten sind – zeigen vor allem qualitative Studien, dass gerade die Frage nach dem Leiden am eigenen Körper im ‚echten Leben‘, also jenseits der medialen Eventisierung, für betroffene Menschen nicht nur zentral ist, sondern weitaus reflektierter und differenzierter verhandelt wird als gemeinhin angenommen.2

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American Society of Plastic Surgeons. http://www.plasticsurgery.org vom 3.6.2008. Statistischen Zahlen sind in diesem Feld deshalb so unzuverlässig, weil sie nicht von neutraler Seite erfasst werden, sondern von den verschiedenen, z.T. miteinander konkurrierenden Fachverbänden und gesundheitsökonomischen Lobbys. Diese sind vor allem am ökonomischen Gewinn interessiert, der mit den überwiegend privat zu bezahlenden Dienstleistungen zu machen ist. Laut Schätzungen eines US-amerikanischen Fachverbandes werden im Marktsegment „kosmetische plastische Chirurgie“ in den USA jährlich ca. 12,4 Milliarden US$ umgesetzt (http://www.plasticsurgery.org/). Die Wahrnehmung einer profitorientierten Branche wird unterfüttert durch einen Blick auf einschlägige Internetportale und anderer Seiten: Hier finden sich immer auch Finanzierungsangebote, Kreditwerbung, Links zu Preisvergleichen usw. Außerordentlich interessant und m.W. bislang nicht gründlich beforscht, ist in diesem Zusammenhang der globale ‚Schönheitstourismus‘, z.B. nach Brasilien oder Osteuropa. Oder auch nach Deutschland, wo einschlägige Praxen im Netz auf ihren Internetseiten die Mehr9

PAULA-IRENE VILLA

Kathy Davis etwa hat in ihren Studien gezeigt, dass Frauen, die sich für eine kosmetische Chirurgie entscheiden, sich diese Entscheidung alles andere als leicht machen und dass ihnen sehr wohl bewusst ist, dass sie auch aufgrund sozialer Zwänge so und nicht anders handeln (vgl. Davis 2003). Kathy Davis diskutiert in ihrem hier vorliegenden Beitrag das spannungsgeladene Verhältnis von individueller Handlungsmächtigkeit und gesellschaftlichen Zumutungen anhand einer irritierenden Frage, nämlich der nach den ethnischen Aspekten („race“) der plastischen Chirurgie. Ausgehend vom ‚Fall‘ Michael Jackson stellt sie sich der schwierigen, weil außerordentlich provozierenden Frage, ob nicht ein jeder und eine jede das Recht hat, ihren bzw. seinen Körper so zu gestalten, dass sie oder er nicht von gesellschaftlicher Teilhabe etwa qua Hautfarbe oder Haarform systematisch ausgeschlossen wird. Dies zu verneinen ist aus der Position der von einem ethnisch markierten und als rassisch kodiertem System profitierenden weißen, europäischen bzw. nordamerikanischen Mittelschichten einfach. Zu einfach, wie Davis in ihrer subtilen Analyse zeigt. Die unauflösliche Verwobenheit von Körpermanipulationen, individueller Praxis und komplexen Konstellationen von Ungleichheiten und Differenzen ist historisch verbürgt. Seit den Anfängen der plastischen Chirurgie im 16. Jahrhundert und vor allem seit ihrer Popularisierung im 20. Jahrhundert, ist die plastische Chirurgie eine – von mehreren möglichen – Techniken, den Körper an die viel (Teilhabe, Erfolg, ökonomischer Aufstieg, soziale Reputation) versprechenden somatischen Codes der Mehrheitsgesellschaften zu assimilieren. Sander Gilman zeigt in seinen historischen Studien z.B. die aufschlussreiche Geschichte der operativen Behandlung der „Racial Nose“: So genannte jüdische Hakennasen stigmatisieren Menschen auf eine tatsächlich bisweilen unerträgliche, unter Umständen tödliche Weise. Die plastische Chirurgie ist historisch eine pragmatische Strategie, mit deren Hilfe „Juden zu Amerikanern werden“ (Gilman 1999: 186ff.). Die Korrektur von Nasen, Hautfarbe, Brustumfang, Augen usw. ist, so macht Gilman deutlich, immer auch Normalisierungsarbeit. Menschen wollen – meist aus schwer wiegenden und kaum frivolen Gründen – normal sein: Ob entstellte Kriegsversehrte im Erster Weltkrieg, chinesische Menschen im Japan des 19. Jahrhunderts, an Syphilis erkrankte Männer im 17. Jahrhundert, wehruntaugliche Männer in Nazideutschland, dicke Frauen der Gegenwart, Afroamerikanerinnen oder so genannte Intersexuelle: Sie wollen dazu gehören, nicht mehr (aus-)gesondert werden aufgrund ihres Aussehens. Wir alle wollen das, und genau hierin liegt das irritierende Potenzial von Körpermanipulationen und zwar in ihren evidenten, gravierenden ebenso wie in ihren (inzwischen) normalen, banalen, sprachigkeit ihrer Angestellten preisen bzw. anbieten, Dolmetscher/innen zu organisieren. 10

EINLEITUNG

kaum mehr bemerkenswerten Formen. Fragen sozialer Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung werden mitnichten etwa nur für Asiatinnen in den USA am OP-Tisch entschieden, sondern auch beim Friseurbesuch oder bei der sportlichen Praxis. Sie stellen sich auch nicht nur den ‚anderen‘, den ob ihrer ethnischen oder geschlechtlichen Markierung marginalisierten Personen, sondern allen Menschen. Schließlich verkörpern wir alle soziale Positionen, wie die Soziologie nunmehr in vielfacher Weise deutlich macht.3 Solche Positionen sind mitnichten frei wählbar, sondern dynamische und immer vorläufige Ergebnisse komplexer Verhältnisse. Aus einer post-strukturalistischen Perspektive z.B. gerinnen solche Verhältnisse zu Subjektpositionen, d.h. zu intelligiblen Titeln wie Frau, Wissenschaftler, Unterschichtsangehöriger, Mutter usw. In der real existierenden sozialen Wirklichkeit müssen nun solche Positionen besetzt werden, sie müssen also auch von konkreten Menschen verkörpert werden. Wir alle mühen uns täglich ab, unsere Verortung im sozialen Raum für uns und für andere sichtbar – möglichst kompetent – zu verkörpern. Hierfür gibt es eine breite Palette an körpergebundenen Strategien. Sie reichen von dezenten und selbstverständlichen Praxen wie Hygiene, Kleidung oder ‚gesundem Essen‘ über bewusste Projekte wie Diät, Körperformung etwa im Sport oder verschiedenste Therapien in der Grauzone zwischen Gesundheit, Wellness und Optimierung (Vitaminkuren, Massagen, Fasten usw.) bis hin zu den derzeit als dramatisch wahrgenommenen Manipulationen wie plastische Chirurgie oder Gentherapien. Nimmt man dies als Kontinuum ernst, wird klar, dass unser Leben zu einem nicht geringen Anteil darin besteht, den hochgradig diffusen und (deshalb) wirkmächtigen normativen Imperativen auch somatisch zu folgen, die in den verschiedenen anerkennungswürdigen sozialen Positionen eingelagert sind, die wir einzunehmen haben, wollen wir eine legitime soziale Existenz leben.

schön normal: von Normen und Normalitäten In diesem Sinne ‚normal‘ zu sein, hat kaum zu überschätzende rechtliche, politische, ökonomische und kulturelle Vorteile. Und normal zu sein hat, soziologisch oder kulturwissenschaftlich betrachtet, immer zu tun mit normativen Prozessen der Normalisierung. Auch dieser Aspekt spielt in den verschiedenen Beiträgen des Sammelbandes immer wieder eine Rolle, etwa bei Kathy Davis im Zusammenhang mit ethnisch orientierter plastischer Chirurgie, bei Simon Strick im Kontext der medialen Inszenierung von Subjekten im Vorher/Nachher-Modus oder bei Sabine Maasen in ihrer theoretisch-analytischen

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Vgl. hierzu aus der Fülle an neueren Erscheinungen der ‚Körpersoziologie‘ Villa 2008 (i. E.) sowie Degele in diesem Band. 11

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Rahmung der plastischen Chirurgie, bei der sie u. a. Jürgen Links Begriff des Normalismus verwendet. Allerdings ist bei genauerer Betrachtung niemand jemals ‚normal‘, niemand ist vollkommen normgerecht, niemand eine wandelnde Norm. Alle weichen wir von den phantasmatischen Normen eines Ideals ab, das durch wissenschaftliche und politische Diskurse als normal bzw. – je nach historischer Konstellation – als natürlich inthronisiert wird. Und deshalb setzen wir uns ab und an auf Diät, deshalb rücken so viele Frauen weltweit jedem Körperhaar mit Pinzette, Wachs und Rasierer zu Leibe, deshalb lassen sich zunehmend mehr Männer die ‚weibliche Brust‘ wegoperieren, deshalb schwimmen und schwitzen wir beim Sport gegen unsere träge Masse an.4 Wer sich so nicht bearbeitet, der ist ja nicht normal, sagt der gegenwärtige gesunde Menschenverstand. Der Zeitgeist sagt es derzeit sogar schärfer: Wer sich nicht optimiert, wer nicht dauernd an der Verbesserung seines Körpers und damit seiner selbst arbeitet (hart arbeitet), verdient keine Anerkennung. Nur unternehmerisch agierende Subjekte sind es noch wert, als Subjekte anerkannt zu werden (vgl. Bröckling 2007). Dies macht z.B. der Beitrag von Kathryn Pauly Morgan deutlich. Sie zeigt, dass der zeitgenössische Umgang mit Körperfett in den USA als „fat-hatred“ zu bezeichnen ist, als Fettphobie. Diese hat einen normativen Kern, die vom ökonomischen und medizinischen nicht zu trennen ist: Dicksein gilt als Mangel an Selbstbeherrschung, als Willensschwäche – als Makel und als zunehmend inakzeptabel für die Gesellschaft als Gemeinschaft. Wieso sollten ‚wir‘ den Dicken etwa eine Gesundheitsversorgung mitfinanzieren, wenn diese sich nicht im Griff haben und dadurch (angeblich) zusätzliche Kosten verursachen? Kathryn Pauly Morgan macht klar, ausgehend von Foucaults Begriff der Mikropolitik, dass zunehmend weniger die Liebe durch den Magen geht, sondern das (Magen)Band politischer Herrschaft. Diesen Aspekt greift auch Sabine Maasen in ihrem Essay auf. Sie argumentiert, dass die so genannte Schönheitschirurgie als „bioästhetisch orientierte Gouvernementalität“ (Foucault) ihre Wirksamkeit daraus bezieht, dass sie doppelt agiert: Normatives bzw. politisch gedeutetes Gemeinwohl einerseits und als Autonomie kodierte Individualität andererseits werden in ihr durch den Imperativ, an sich zu arbeiten und dies auch zu wollen, verklammert. Schönheitschirurgie, so Maasen als Fazit, stiftet damit eine besondere und qualitativ neue Form von Sozialität. Wie dies nun im Einzelnen und konkret geschieht, darauf geht der Beitrag von Simon Strick ein. Anhand der 2004 ausgestrahlten Sendung THE SWAN – ENDLICH SCHÖN (Pro7), die er als „diskursive Arena“ einer Verhandlung zwischen Selbstermächtigung und Normierung versteht, analysiert Strick die Erzählbarkeit eines „kosmetischen Selbst“ und dessen Ambivalenz. Dabei kommt der Schematisierung des Körpers so4 12

Mit Dank an Armin Nassehi für diese Formulierung!

EINLEITUNG

wie bestimmten Formen der Auslöschung (etwa von individualisierenden Spuren wie Altersfältchen) eine besonders wichtige Rolle zu. Das Auslöschen von Spuren, die jeden Körper je einzigartig machen, ist allerdings keinesfalls eine quotenfördernde Erfindung bizarrer Sendungen. Sie begleitet momentan jegliche Darstellung (und Vermarktung), damit aber auch jegliche soziale Wahrnehmung von Körpermanipulationen wie der plastischen Chirurgie. So wirbt ein Zentrum für „plastische und wiederherstellende Chirurgie im weiblichen Schambereich, kurz Intimchirurgie“ – unter dem interessanten Namen „Sensualmedics“ – im Internet für die Vaginalverengung nach Schwangerschaft und Geburt folgendermaßen: „Schwangerschaften und Geburten gehören zu den schönsten und prägendsten Erfahrungen weiblicher Biografien. Doch Geburten, hormonelle Umstellungen und Alterseinflüsse hinterlassen Spuren. Der eigene veränderte Körper wird oft als fremd und weniger attraktiv erlebt.“ (http://www.sensualmedics.com)

Die Veränderung des eigenen Körpers als Entfremdung und, wie es weiter im Text heißt, mögliche große psychische Belastung, die sich operativ überwinden lässt. Unlust oder auch nur ein ‚ungutes Gefühl‘ werden zu sexuellen Dysfunktionalitäten pathologisiert, die Heilung liegt in den goldenen Händen eines Chirurgen in bester Münchner Lage. Barbara Meili nimmt sich in ihrem Beitrag dieser Hände gewissermaßen an und fragt – in einer qualitativen Studie – nach den Legitimationsstrategien der Chirurgen. Was genau denken Sie sich bei dem was Sie tun? So fragt Meili und interessiert sich dabei besonders für die Rede der „Experten für Schönheit“ zwischen medizinischem Ethos und kommerzieller Dienstleistung am „Lifestyle“ der Kunden/innen. Sie betrachtet dies auch professionspolitisch, denn die plastische Chirurgie ist keine formalisierte Subdisziplin der Medizin. Umso interessanter und aufschlussreicher sind die Legitimationsrhetoriken der Akteure. Angesprochen wird dabei auch, ebenso wie in einigen anderen Beiträgen, die ominöse Schönheit. Dass Schönheit bzw. allgemeiner Ästhetik alltagsweltlich als eigener, geradezu ontologischer Wert verstanden wird, kennen wir alle: Schönheit ist. Dass Schönheit allerdings eine praxeologisch und künstlerisch hochwirksame Ideologie ist, die sehr viel mit sehr harter Arbeit und der daraus entstehenden sozialen Identität zu tun hat, das zeigen exemplarisch drei Beiträge in diesem Band: Anne Fleig setzt sich in ihrem Text mit der Frage auseinander, wie in einem zeitgenössischen Roman die „Modellierung des Körpers als gleichsam schöpferischer Selbstentwurf erscheint“. In EGO, einem Text von John von Düffel, besteht der ganze Lebensinhalt des Protagonisten darin, an sich anhand seines Körpers zu arbeiten – oder vice versa? Zumindest glaubt er daran, dass die Flachheit seines Bauches anzeigt, was für ein (erfolgreicher, disziplinierter, tatkräftiger, fitter, flexibler und moderner) Mensch er ist. Vor lauter Körperarbeit wird er aber paradoxerweise 13

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quasi lebensuntüchtig – er ist so lang und oft im Fitnessstudio, dass er berufliche Termine nicht einhält; hat vor lauter Situps und Crunches keine Zeit zum Essen, sieht seine Freundin nur noch zum gemeinsamen Training. Neben vielen Einsichten, zeigt Fleig die im Roman implizierte Paradoxie des Körperwahns auf: Wer sich nur noch um seinen oder ihren Körper kümmert, verliert sich selbst. Wer seinen Körper nur noch als zu bearbeitenden Rohstoff beherrscht, kann diesen nicht mehr bewohnen, geschweige denn im eigenen Körper geborgen sein. In radikaler Weise thematisieren die von Markus Brunner untersuchten künstlerischen Performances genau dieses Problem. Fokussierend auf die Performancekunst von Stelarc und Valie Export zeichnet Brunner deren Arbeiten und Anliegen nach und ordnet sie in einen breiten analytischen Horizont ein. Hierbei spielen geschlechtertheoretische Fragen ebenso eine Rolle wie ein psychoanalytischer Blick auf künstlerische Widerstandsartikulationen gegen herrschende Normierungen des Körpers. Interessant ist u. a., dass die künstlerische Verschmelzung von Schmerz und Ästhetik enorm provozierend wirkt. Dabei kennt doch jede und jeder diesen materiellen wie sprichwörtlichen Zusammenhang: Wer schön sein will, muss leiden. Spezielle Pflaster für die geschundenen (Frauen-)Füße helfen dabei. Mit Schönheit und Schmerz setzt sich auch Nina Degele in ihrem Beitrag auseinander: Sie untersucht die Konvergenzen (und Differenzen) zwischen Schönheits- und Schmerzhandeln. Für Degele ist das Mantra des „schön mache ich mich für mich und nur für mich“ Ideologie insofern es mit der tatsächlichen Praxis der Handelnden bricht, diese verschleiert und dadurch unsichtbar macht, dass Schönheitshandeln Kommunikation und Verhandlungspraxis um den eigenen sozialen Ort ist. Ebenso weist sie in ihrer empirischen Analyse darauf hin, dass auch Schmerz identitäts- und sinnstiftend ist. Und auch Schmerz als Erfahrung in der Praxis bewegt sich, wie die Differenz schön/ hässlich, an einer Grenze: der zwischen normal und pathologisch. In beiden Fällen – Schmerz und Schönheit – geht es, so Degele, um die moderne Inszenierung von „normalen Exklusivitäten“ insofern in beiden Fällen diese Grenze immer wieder neu gezogen bzw. unterlaufen wird: Geburtswehen sind normal, natürlich und legitim, sie gehören dazu und wer sie erfährt, eben auch. Lustschmerzen wie in S/M-Praxen sind dagegen womöglich anormal und wer sie erfährt oder vermittelt gehört nicht dazu, sondern gehört therapiert. Stichwort Therapie. Wo am Körper-Selbst ‚gebaut‘ wird (vgl. Ach/Pollmann 2006), muss auch repariert werden. Nur insofern der Körper als optimierbar verstanden wird, kann und muss er auch verbessert werden. Das ist beim Phänomen plastische Chirurgie noch evident, denn allein der Begriff Chirurgie hat (noch?) einen deutlich medizinisch-therapeutischen Klang. Doch auch Essen oder Atmen können im Horizont des Lebens-als-Baustelle optimiert werden. Dies zeigt Charlotte Ullrich in ihrem Beitrag anhand der 14

EINLEITUNG

Verflechtung von medizinischem Expertenwissen einerseits und individuellem, subjektiven Körperempfinden andererseits. Das empirische Feld ist die Reproduktionsmedizin, genauer die Kinderwunschbehandlung mit einem Fokus auf die (Selbst-)Therapien, die Frauen sich verordnen (lassen), um schwanger zu werden. Da wird nicht nur Yoga betrieben und Folsäure, Vitamine, Mineralien und sonstige Tabletten geschluckt, sondern – und grundsätzlicher – das eigene Leben bzw. der eigene Körper überhaupt zum verwaltbaren und optimierbaren Gegenstand.

Körperhaben, Körpersein: Von der unausweichlichen und doch problematischen Objektivierung Damit ist angesprochen, was Barbara Duden als „Objektivierung“ des Körpers (Duden 2004) kritisiert und was alle sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem umtreibt: Die unausweichliche Gleichzeitigkeit von Körper-Haben und Körper-Sein.5 In der Konsequenz bedeutet dies die gleichzeitige und gleichursprüngliche (Un)Verfügbarkeit des Körpers (vgl. Barkhaus/Fleig 2002). Mehr oder minder drastische „Baumaßnahmen am menschlichen Körper“ (Ach/Pollmann 2006) gehören nicht nur längst zu unserem Alltag, auch jenseits der aktuellen medialen Dramatisierung, sie stellen vielmehr immer und überall den Ausdruck unserer sozialen Natur dar. Die ebenso faszinierende wie verunsichernde Dimension der Arbeit am und der Manipulation des Körpers liegt demnach nicht so sehr im Anstieg ihrer Sichtbarkeit und ihrer Drastik. Wesentlich ist vor allem, dass die aktuellen Formen der Bearbeitung des Körpers – wie sie in diesem Band diskutiert werden – einige Fragen (wieder) virulent macht, die womöglich bloß still gestellt waren, die aber zur sozialen Natur des Menschen gehören wie das berühmte Gelbe zum Ei. Jenseits der oben nur angedeuteten Zahlen ist daher die soziale Relevanz etwa der plastischen Chirurgie als ein besonders drastisches, aber keinesfalls einzigartiges Beispiel von Körperbearbeitungen offensichtlich: Im Feld der ästhetisch-plastischen Chirurgie werden zentrale soziale, ethische, anthropologische und nicht zuletzt politische Fragen verhandelt, die weit reichende Konsequenzen für uns alle haben – egal, ob wir uns nun an der Nase operieren lassen oder nicht. Denn an diesen Techniken kristallisieren sich die sozialen Auseinandersetzungen um das, was wir mit unseren Körpern überhaupt können, dürfen und sollen. Als Menschen sind und haben wir eine soziale Natur und damit verfügen wir – jedenfalls zum Teil – über diese Natur. Damit ist immer auch die Frage aufgeworfen, in welchem Sinne, zu welchem

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Begrifflich genauer müsste es heißen: Körper-Haben und Leib-Sein. Zur Unterscheidung vgl. Villa 2008 (i. E.). 15

PAULA-IRENE VILLA

Zweck, mit welchem Ziel wir über unsere Natur verfügen – oder es lassen. Dies wirft im konkreten Fall Fragen auf, zu denen die Sozial- und Kulturwissenschaften einiges erhellendes zu sagen haben. In diesem Band geht es darum weniger um die (wichtigen!) bioethischen Implikationen im engeren Sinne, die die „Baumaßnahmen“ am Körper mit sich führen und die in einigen einschlägigen Publikationen als Domäne der philosophischen Ethik und/oder anhand surrealer Gedankenspiele im Feld des ‚Transhumanismus‘ diskutiert werden. Es geht vielmehr um die alltagsrelevante normative bzw. diskursive Konstitution und mediale Rahmungen von Körpermanipulationen einerseits und um die entsprechenden Praxen sowie ihrer Deutungen andererseits, wie sie hier und heute unter unseren Augen und unserer Haut stattfindet. Hierzu einige kurze Bemerkungen: Spätestens seit der Moderne und der darin eingelagerten Erosion religiöser Legitimationen haben die Menschen nicht nur ihren Verstand selbst zu nutzen, sondern auch ihren Körper. Historisch und differenziert betrachtet, tun dies keineswegs alle Menschen gleichermaßen – die Moderne als Rationalisierung stellt sich vielmehr, dies zeigen etwa geschlechtersensible bzw. feministische Analysen, als hochgradig ungleichzeitig, in sich widersprüchlich und von Ungleichheit durchzogen dar. Und doch: Die Gleichzeitigkeit von SelbstErmächtigung – als „Versprechen der Moderne“, wie Beck/Beck-Gernsheim (1994) formulieren – und Selbst-Unterwerfung – wie etwa Max Weber, die kritische Theorie oder Michel Foucault die rationalisierte Moderne kennzeichnen (vgl. Schroer 2001: 15 – 136) – ist, so eine These dieses Buches, das wirklich Faszinierende reflexiv-moderner Praxen. Die Analyse sozialer Praxis als körperliche Praxis kann systematischer als andere Zugänge davon ausgehen, dass im Tun der Menschen Reproduktion – also die Wiedererzeugung – und die Produktion – also die Erzeugung – von sozialer Wirklichkeit bzw. Verhältnissen zwei Seiten derselben Medaille sind, dass also sowohl beharrende wie überraschende oder gar kreative Momente gleichzeitig vorkommen und dass diese eine komplexe Konstellation bilden. Dass emanzipative Visionen von Selbstermächtigung (qua Körper) wie die feministischen der zweiten Frauenbewegung geradezu in ihr Gegenteil, d.h. in Selbst-Beherrschung kippen können, zeigt der Beitrag von Paula-Irene Villa. In diesem werden aktuelle Formen der mühsamen Arbeit, eine richtige Frau zu sein (frei nach Butler) genealogisch auf ihre diskursive Konstitution hin analysiert. Das Autonomie-Imperativ der feministischen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, so Villa, bildet heute die kommerziell ausbeutbare soziale Semantik für die körperliche Arbeit am Selbst. Letztere orientiert sich – anders als die Frauenbewegung – nicht an der faktischen Normalität von Frauenkörpern in ihrer irreduziblen Vielfalt, sondern an phantasmatischen Normen eines geschlechtlichen Ideals. Normen werden zum Normalitätsmaßstab, und damit wird Inklusion und Exklusion (etwa in medialen Inszenierungen) verhandelt. Um 16

EINLEITUNG

Selbstermächtigung, Subjektivierung und deren Ambivalenz geht es auch Sabine Maasen sowie Andrea Seier und Hanna Surma in ihren Beiträgen. Letztere arbeiten in ihrer Analyse von THE SWAN – ENDLICH SCHÖN den medialen Modus heraus, anhand dessen Subjektivierungsprozesse ins rechte Fernsehlicht gerückt werden. Dabei interessieren sie sich vor allem für das Narrativ des „Vorher/Während/Nachher“, das seinerseits rund um den – schnöden echten wie lacanschen sprichwörtlichen – Spiegel angeordnet ist. So geht es in THE SWAN, wie in vielen solcher Formate, nicht nur um ein neues und besseres Leben, es geht bisweilen um ein neues Selbst. Inwiefern es dafür eines (neuen?) Körpers bedarf, das diskutieren die Autorinnen aus einer foucaultschen und medienwissenschaftlichen Perspektive. Sabine Maasen stellt genau diese Frage in einen breiten sozialwissenschaftlichen Horizont. Sie diskutiert die immanenten Ambivalenzen der bioästhetischen Selbstregierung vor dem aufgeklärten Lichte verschiedener Modernisierungstheoretiker (Max Weber z.B.), leuchtet die kritischen Aspekte mit Hilfe Foucaults aus und diskutiert die Gleichzeitigkeit von Selbstermächtigung und Unterwerfung auch im Lichte qualitativer Studien zur plastischen Chirurgie. Auch Maasen macht deutlich: Empörung und bildungsbürgerliche Abwehraffekte sind allzu einfache Reaktionen im Modus der Herrschenden. Wer nämlich dazugehört – zum Arbeitsmarkt, zur Familie, zur Wissenschaft etwa – und entsprechende Anerkennung genießt, der oder die hat nicht nur leicht reden, sondern sehr wahrscheinlich auch den angemessenen Körper. Dieser ist sehr wahrscheinlich weiß, spezifischen geschlechtlichen und ethnischen Normen gemäß und vor allem eines: unauffällig. schön normal eben.

Danke Ich möchte mich zunächst besonders bedanken bei allen Autoren/innen in diesem Band. Sie haben sich als inspirierende und professionelle Kollegen/innen erwiesen, die sich in ihren anregenden Texten auf den spezifischen Zuschnitt dieses Sammelbands eingelassen und – überwiegend – fristgerecht ‚geliefert‘ haben, auch wenn dies z.T. recht kurzfristig war. Dann geht ein großes Danke an langjährigen Gesprächspartnerinnen, ohne die ich dieses Buch als Soziologin nie gewagt hätte: Barbara Duden (von der ich viel mehr gelernt habe, als sie denkt), Gudrun-Axeli Knapp und Sabine Hark. Helmut Hummel (Hannover) hat das Manuskript aufmerksam und zügig in Form gebracht; dafür vielen Dank! Ein Dank gebührt auch Eva Tolasch (München), die eine anregende inhaltliche Gesprächspartnerin ist und dies bei der Durchsicht einiger Beiträge wieder ein Mal gezeigt hat. Katherina Zimmermann (Hannover/Augsburg) danke ich dafür, dass sie als meine langjährige Mitarbeiterin die drei K’s wunderbar verkörpert: Kritik, Kreativität, Kompetenz. Ebenso danke ich Johanna Tönsing vom transcript Verlag für ihre Übersetzungen. Karin Werner 17

PAULA-IRENE VILLA

und die Lektorin Birgit Klöpfer haben sich von Anfang an für das Projekt nicht nur wohlwollend interessiert, sondern auch geduldig und kompetent zu seinem Gelingen beigetragen. Zu danken habe ich schließlich, und wie immer, Michael Cysouw für vielfältigste Unterstützungen in jeglicher Hinsicht. Dieses Buch ist unseren Kindern Leo I. und Anna C. gewidmet, die auf ihre Art wunderbar kritische und neugierige Menschen sind.

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EINLEITUNG

Literatur Ach, Johann S./Pollmann, Arnd (Hg.) (2006): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld. American Society of Plastic Surgeons; http://www.plasticsurgery.org vom 3.6.2008. Apotheken Umschau. Presseveröffentlichungen unter http://www.presse portal.de vom 3.6.2008. Apotheken Umschau. Materialien unter http://www.gesundheitpro.de vom 3.6.2008. Barkhaus, Annette/Fleig, Anne (2002): „Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem.“ In: dies. (Hg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle. München, S. 9-24. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1994): „Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie.“ In: dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt a.M., S. 10-42. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. Davis, Kathy (2003): Dubious Inequalities and Embodied Differences. Cultural Studies on Cosmetic Surgery. Oxford et al. DGÄPC – Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie Deutschland. http://dgaepc.de vom 3.6.2008. Duden, Barbara (2004): „Frauen-‚Körper‘: Erfahrung und Diskurs (1970 – 2004).“ In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden, S. 504518. GÄCD – Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland e.V. http:// www.gacd.de vom 3.6.2008. Krasser, Senta (2008): „Skalpell und Schleifbohrer. Doku-Soaps über Schönheits-OP’s sind umstritten – Nicht bei VOX.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 17.3.2008. Sattler, Manfred/Rüdiger, Margit (2008): Auf der andere Seite des Spiegels. Aus dem Alltag eines Schönheitschirurgen. München. Schroer, Markus (2001): Das Individuum der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Sensualmedics. http://www.sensualmedics.com/de/ vom 3.6.2008. Villa, Paula-Irene (2008; i. E.): „Körper.“ In: Baur, Nina/Korte, Hermann/ Löw, Martina/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden.

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„Körper im Schmerz“ – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Stelarc und Valie Export MARKUS BRUNNER Szene 1: Mit ausgebreiteten Armen hängt ein nackter Mann waagerecht in der Luft, gehalten von 18 Stahlseilen, die mit Haken an seinem Rücken und seinen Beinen befestigt sind. Der Zug der Seile zerrt an seiner Haut, an der das ganze Gewicht des Körpers hängt. Ein Kran hievt den so malträtierten Leib 56 Meter in die Höhe, dreht ihn da einige Male um seine eigene Achse und lässt ihn nach etwa 20 Minuten wieder herunter. (Stelarc, „City Suspension“, 1985) Szene 2: Vor einem riesigen Foto, auf dem zwei Kinder mit angsterfüllten Augen zu sehen sind, sitzt eine Frau mit einer Schale Milch auf dem Schoß. Mit abwesendem Blick und in stoischer Ruhe ritzt sie sich mit einem Teppichmesser die Nagelhaut auf, taucht die blutigen Finger mehrmals in die Milch vor ihr, die sich rötlich färbt, reißt sich mit den Zähnen die aufgestochenen Hautfetzen von den Nägeln und fährt dann fort, mit dem Messer in den Wunden herumzustochern. (Valie Export: „… Remote … Remote …“, 1973)

Haken durchbohren Haut, Messer schneiden ins Fleisch: Schmerzhafte Sequenzen von Körperinszenierungen, wie sie in der Performancekunst immer wieder anzutreffen sind. Seit den Anfängen dieser Kunstform in den 1960er Jahren spielten in ihr Selbstverletzungen und Körpermodifikationen stets eine zentrale Rolle. In unterschiedlichen Inszenierungen und mit unterschiedlichen Intentionen bearbeiteten die Künstler/innen ihren eigenen Körper mit scharfen Gegenständen wie Zähnen, Messern, Rasierklingen und Scherben, aber auch mit Schusswaffen, Peitschen, Strom, Haken, Drogen oder plastischer Chirurgie. Im Folgenden will ich mich mit dieser Art von Performancekunst eingehender beschäftigen. Nach einem kurzen Überblick über Entstehung und Entwicklung der Inszenierungen von Selbstverletzungen und Körpermodifikationen in der Performancekunst, werde ich die beiden anfangs beschriebenen Performances näher zu ergründen versuchen. Dabei sollen einerseits Stelarcs 21

MARKUS BRUNNER

und Valie Exports körperpolitischen Intentionen, ihre Auseinandersetzungen mit Körperlichkeit und Körpernormen beleuchtet werden. Andererseits will ich darlegen, wie die Verbindung von Kunstproduktion und körperpolitischen Ambitionen ein komplexes und widersprüchliches Feld eröffnet, das neue Denk- und Erfahrungsräume ermöglicht, in denen die Wirkung der Inszenierung auf die Rezipienten/innen zuweilen auch den Intentionen der Performenden zuwiderlaufen kann, d.h. die intendierten Bedeutungen zu verschieben oder zu unterlaufen vermag.

1. Performancekunst und Körperpolitik Entwickelt hatte sich die Performancekunst in den 1960er Jahren als Kulminationspunkt einer kunsthistorischen Entwicklung, die zunehmend statt des objektalen Produkts den physisch-realen schöpferischen Produktionsprozess ins Zentrum des Schaffens stellte. Indem in der Performance der agierende Körper der Künstler/innen selbst zum Bild wurde, konnte die vormalige Entgegensetzung von außerkünstlerischer Wirklichkeit und ästhetischer Repräsentation neu befragt werden. Einerseits wurde in der Performance die ‚schöngeistige‘ Kunstproduktion als körperlicher und gesellschaftlicher Akt erfahrbar, andererseits die vermeintliche Ursprünglichkeit von (körperlicher) Realität auch hinterfragbar. Die vorherrschenden ‚normalen‘ Körpergrenzen, -sprachen, -funktionen und -bilder wurden dabei nach ihren gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen, Normierungen und Beschränkungen befragt und immer wieder versuchten Performer/innen, der vorherrschenden ‚Normalität‘ andere, ‚offenere‘, ‚befreitere‘, ‚natürlichere‘ oder aber ‚zeitgemäßere‘ Körper entgegenzusetzen. Dabei korrelierten und verknüpften sich die künstlerischen Auseinandersetzungen mit neu aufkommenden Diskursen und Selbstpraktiken der 1960er Jahre, in denen auf politischer und theoretischer Ebene ähnliche Fragen auftauchten.1 Diese Verkoppelung von Performancekunst mit gesellschaftlichen Entwicklungen zeigt sich beispielhaft an Veränderungen in den Inszenierungen von Selbstverletzungen und Körperveränderungen in den Performances. Nicht nur korreliert der in den 1970ern aufkommende verletzende Eingriff ins Fleisch im Rahmen der Körperkunst mit einer Verschiebung von gesellschaftlich vorherrschenden psychischen Krankheitsbildern (offene und heimliche Selbstbeschädigungen, Anorexie, Bulimie), an der die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Körpers ablesbar ist. Auch sehr bewusst haben sich

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Die sozialen Bewegungen der 1960er-1980er Jahre stehen ebenso für diese Diskurse (vgl. Hieber/Villa 2007) wie im theoretischen Rahmen die kritischen Analysen Foucaults über die gesellschaftlich-diskursive Produktion von Körpern.

„KÖRPER IM SCHMERZ“

Performer/innen immer wieder selbst in Körperdiskursen verordnet, diese ausgelotet und sich explizit in und zu ihnen positioniert. Innerhalb der verschiedenen, einander historisch ablösenden oder auch parallel verlaufenden Diskurse erfuhren die Körper und ihre Versehrungen in den Performances verändernde Bedeutungen. Wurde beispielsweise in an sexualrevolutionären Diskursen verorteten Performances der nackte, enttabuisierte Körper, auch in seiner Verletzlichkeit, als letzte ‚authentische‘ Realität und biologische ‚Normalität‘ gegen eine auf Schein und Ideologie beruhenden Kunst und Gesellschaft in Stellung gebracht (vgl. exemplarisch Günter Brus), so erforschten und entblößten dagegen feministische Künstlerinnen – auch als Antwort auf diesen Authentizitätskult – die gesellschaftliche Konstruktion und Normierung ebendieses vermeintlich vorgesellschaftlichen (geschlechtlichen, weiblichen) Körpers. Mit Schnitten ins Fleisch sollte die in Weiblichkeits- und Schönheitsanforderungen steckende patriarchale Gewalt sichtbar gemacht werden (Valie Export, Gina Pane). Seit den 1980er/90er Jahren entwickelt sich eine in ‚trans-‘ oder ‚posthumanistischen‘ Diskursen verortete künstlerische Arbeit am Körper, in der v.a. die Möglichkeiten begutachtet werden, mittels moderner Technologien wie der plastischen Chirurgie, Roboter-, Computer- oder Biotechnik den Körper in seinem Aussehen und in seinen Funktionen beliebig zu verändern, zu ergänzen oder zu optimieren (Stelarc, Orlan). Mit ihrem Fokus auf das Hier und Jetzt der Inszenierung und auf den physisch anwesenden, nicht mehr bloß symbolisch repräsentierten menschlichen Körper verweist aber Performancekunst immer auch zentral auf den/die Betrachter/in und seinen/ihren Körper. Wohl nirgends wird dieser Bezug so radikal ausgelotet, ausgereizt und infrage gestellt wie in der Selbstverletzungskunst. Der Anblick verletzter Körper, so Scarry, „erreicht den Beobachter immer noch durch die offene Türe, überflutet ihn mit Abscheu, Furcht und Schrecken, überwältigt ihn, zwingt ihn auf die Knie, als wäre es ein Gewehr und keine offene Wunde“ (Scarry 1985: 114). In der emotionalen Gemengelage aus Schock, Ekel, basalsten Ängsten, Mitleid, aber auch Faszination und sadistischer und masochistischer Lust, außerdem Wut und Empörung über den verstörenden Anblick, fungiert die Rezipient/in abwechselnd und gleichzeitig als Zeuge/in, Voyeur/in, Täter/in und Opfer und ist damit sehr aktiv ins Geschehen involviert. Oszillierende Identifizierungen mit dem/der als Subjekt und Objekt auftretenden Performer/in, aber auch eine grundlegende Differenzerfahrung, weil das subjektive Körperempfinden des/der Performers/in dem Publikum notwendig verschlossen bleibt, überlagern sich zu einem komplexen und ambivalenten Gefüge, welches die Performance als spezifisch äs-

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thetischen Erfahrungsraum erst konstituiert.2 Dieses aktive Moment der Rezeption löst die Arbeit unvermeidlich aus der Kontrolle der bewussten (körperpolitischen) Intentionen der Kunstschaffenden und stellt sich zu dieser in ein komplexes Spannungsverhältnis, das noch expliziter wird, wenn die Inszenierung von Erklärungen, Manifesten und theoretischen Erläuterungen begleitet wird. In meinen folgenden Ausführungen soll dieses Spannungsverhältnis als Teil der Performance thematisiert werden.

2. Stelarc: „The Body is obsolete.“ Der 1946 als Stelios Arcadiou geborene Australier Stelarc ist eine der Ikonen des ‚trans-‘ oder ‚posthumanen‘ Cyborg-Diskurses. Wie kein anderer hat er über Jahrzehnte hinweg die Möglichkeiten, den menschlichen Körper mit moderner Technologie zu verbinden, ihn als Schnittstelle/Interface zu begreifen, an seinem eigenen Körper ausgelotet. Schon Ende der 1960er Jahre begann Stelarc, in Experimenten seinen Körper zu untersuchen, Sinnesorgane zu fragmentieren und sein Körperinneres, z.B. Hirnströme und Muskelsignale, hör- und sichtbar zu machen. Ab 1967 arbeitete er einerseits an einer „Dritten Hand“ („Third Hand Project“, 1976-81), die, fixiert an einem Unterarm, über Bauch und Oberschenkelmuskulatur so genau gelenkt werden kann, dass sogar Schreibübungen möglich sind, andererseits ließ er sich innerhalb eines Zeitraums von 12 Jahren über 25 Mal an Haken, die direkt in seine Haut geschlagen wurden, aufhängen („Body Suspensions with insertions into the skin“, 1967-1988). Anfang der 1990er Jahre schließlich entdeckte er die Computertechnik, die ihn zu Experimenten mit virtuellen Verlängerungen seiner Körperteile und mit der Möglichkeit, seinen Körper über elektronische Muskelstimulatoren via Computer von anderen steuern zu lassen, bewegte. Die Auslotung der Möglichkeiten der Vernetzung seines Körpers wird im neuen Jahrtausend mit der Entwicklung eines ‚Movatars‘ weitergetrieben, einer virtuellen Figur, die über ‚künstliche Intelligenz‘ verfügen und von sich aus den realen Körper von Stelarc bewegen soll. Daneben entdeckte Stelarc auch noch die Biotechnologie für sich und ließ sich aus körpereigenen Zellen ein drittes Ohr heranzüchten und in seinen linken Unterarm implantieren (‚1/4 Scale Ear‘). Dieses durch Armbewegungen beliebig auf Geräuschquellen ausrichtbare Organ soll mit einem Mikrophon ausgestattet und mit dem Internet vernetzt werden. Wie dieser kurze Werküberblick zeigt, ließ Stelarc kaum eine Möglichkeit aus, die Verknüpfung von Mensch und Maschine immer wieder in Auseinan2

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Auch wenn die Intensität des Erlebens sicherlich weniger intensiv ist, entfaltet sich dieses Verhältnis wohl nicht nur während des Ereignisses der LivePerformance, sondern auch bei der Rezeption von Dokumentationen der Performances (vgl. Ernst 2003: 82, und O’Dell 1998: 14).

„KÖRPER IM SCHMERZ“

dersetzung mit neuesten technologischen Entwicklungen – in Zusammenarbeit mit verschiedensten Firmen, Laboren und Universitäten – auszutesten. Begleitet werden diese Experimente seit Mitte der 1970er Jahre von Vorträgen, Seminaren, Manifesten, Aufsätzen und Interviews, in denen Stelarc seine Intentionen und Visionen verkündet.3 Der Mensch als „ein zweifüßiger, atmender Körper mit einem binokularen Blick und einem Gehirn in der Größe von 1400 cm3“ (Stelarc 1995: 74), so Stelarc, habe in der technologisierten Welt von heute ausgedient. Gemessen an seiner maschinellen Umwelt sei er zu unpräzise, langsam, labil und emotional. Der menschliche Körper und das an seine spezifische biologische Körperlichkeit und deren Grenzen gebundene menschliche Denken seien deshalb zu überwinden, wolle der Mensch mit dem technologischen Fortschritt mithalten und mithelfen können, neue Erkenntnisse zu produzieren: „Es gibt keinen Vorteil, noch länger menschlich zu sein“ (ebd.: 75), das Beharren auf menschlicher Subjektivität sei ein Anachronismus. Stelarc schlägt angesichts der Überholtheit des Menschen vor, diesen einem verbessernden ‚Re-Design‘ zu unterziehen, d.h. seine Hülle durch eine Photosynthese betreibende und atmungsaktive synthetische Haut zu ersetzen, ihn auszuhöhlen, zu verhärten und zu entwässern und schließlich mit technischen Prothesen anzureichern. Diese Umstrukturierung des Körpers, lediglich die Weiterführung eines seit je existierenden menschheitsgeschichtlichen Prozesses der Vernetzung und Prothetisierung des Menschen durch Technik, verbessere nicht nur seine Leistungs- und Belastungsfähigkeit. In dieser Form könne der Mensch zudem als Teil eines globalen technologischen Netzwerks fungieren, das in der Interaktion von menschlichen und mechanischen Körpern neue Erkenntnisse und neues Bewusstsein hervorbringe. Der neue angestrebte Cyberkörper sei kein Subjekt mehr, sondern ein „ingenieurmäßig gestaltet[es]“ (ebd.: 79) Objekt, das von anderen Körpern für bestimmte Arbeiten eingespannt werden könne. Die Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, zwischen Mensch und Maschine und zwischen realem und virtuellem Körper seien damit obsolet geworden, die Zukunft des Menschen sei seine Existenz als Cyborg. So sei es zukünftig auch möglich – und dies will Stelarc wie wir gesehen haben, mit seinem ‚Movatar‘ austesten –, dass ‚intelligente Bilder‘, die kaum störungsanfällig seien, Körper verwalten, während Individuen durch die Kontrolle über virtuelle, mechanische und fremde fleischliche Körper ihr Operationsfeld immens erweitern könnten. Subjektpositionen würden damit dezentralisiert und fragmentiert nach Maßgabe jeweils spezifischer Arbeitsanforderungen. Versprochen wird aber nicht

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Die folgende Darstellung von Stelarcs theoretischen Ausführungen stützt sich auf Stelarc (1995), Stelarc (2007) und die Interviews in Atzori/Woolford (1995), Landwehr (1998) und Stelarc (2000). 25

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nur die Teilhabe an technischem Fortschritt, sondern auch die Überwindung des Todes. Wo Bewusstsein nicht mehr an einen Alterungsprozessen unterworfenen biologischen Körper gebunden sei, würde es potentiell ewig weiterleben – oder zumindest so lange, wie die technischen Datenträger halten (vgl. Stelarc 2000: 123). In den Zusammenhang dieser Visionen und Utopien stellt Stelarc auch seine Performances. Sie sollen die in seinen Schriften, Manifesten und Interviews antizipierten Vernetzungen des Menschen austesten und als zukunftsweisende Experimente neue Möglichkeitsräume des (Post-)Menschseins erschließen. Umgekehrt geben die Ausführungen Stelarcs auch den DeutungsRahmen ab, in dem seine Performances vom Publikum rezipiert werden sollen. In diesen Kontext sollen im Folgenden die von Stelarc vorgenommenen Aufhängungen („Suspensions“) gestellt werden. Zwischen 1976 und 1988 ließ sich Stelarc über zwei Dutzend mal an Haken aufhängen, die durch seine Haut getriebenen worden waren. Die Namen der einzelnen Aktionen geben jeweils mehr oder weniger genau an, was in den Performances, die an verschiedensten Orten in mannigfachen Konstruktionen durchgeführt wurden, geschieht: „Event for Streched Skin Spin/Swing“ (1977), „Up/Down: Event for Shaft Suspension“ (1980) oder „City Suspension“ (1985). Der Inszenierung wohnt also der Charakter einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung inne. Laut Stelarc sind die Aufhängungen denn auch als Teil seiner frühen Untersuchungen der Funktionen, Fähigkeiten und Grenzen des biologischen Körpers zu lesen. Die ‚Landschaft‘, die die zerrenden Haken auf der Körperoberfläche produzieren, sieht Stelarc als Visualisierung der Interaktion zwischen dem Körper und der Schwerkraft (vgl. Atzori/Woolford 1995). Die Haut wird getestet für die antizipierte Vernetzung von Menschen- und Maschinenkörper: Der synthetische Ersatz für die „als Schnittstelle nicht mehr adäquat[e]“ (Stelarc 1995: 75) Haut wäre, so ist anzunehmen, auch viel stabiler und belastungsfähiger als die bisherige und würde noch viel gewagtere und einfacher zu bewerkstelligendere Aufhängungen ermöglichen. Doch neben dieser Analysefunktion steckt in den Suspensions als vollzogener Verknüpfung von Mensch und Maschine bei allen Mängeln der Haut auch schon die Verwirklichung einer Utopie: „Wenn wir die Haut durchstoßen, dann ist die Haut nicht mehr einfach die Grenze des Selbst oder der Anfang der äußeren Welt. Der Körper erfährt eine Erweiterung.“ (Stelarc in Landwehr 1998)

Diese Expansion des Körpers durch die Amalgamierung von Mensch und Technik, die Befreiung des Menschen aus dem Haut-Korsett als Grenze des Selbst, ermöglicht es Stelarc, sich in einen gleitenden oder fliegenden Zustand zu versetzen und damit einen Menschheitstraum wahr werden zu lassen: „The 26

„KÖRPER IM SCHMERZ“

other context is the primal desire for floating and flying.“ (Stelarc in Atzori/Woolford 1995). Als Cyborg, so die Botschaft, ist alles möglich, die Überwindung von Schwerkraft, Evolution und Tod.

Zur Dialektik technologischer Vernunft Dass diese Botschaft aber, auch wenn sie die Performances rahmt, bei vielen der Rezipienten/innen von Stelarcs Suspensions tatsächlich ankommt, ist zu bezweifeln. Es geht wohl vielen Menschen so wie Amelia Jones, die bei der Präsentation des „Extended Arm“ (2000), in der Stelarc seinen Körper von Internetusern lenken ließ, in alles andere als eine euphorische Stimmung über die Möglichkeiten der Technologie geriet: „Tears came into my eyes in the most emotional fashion, as I imagined (even empathetically experienced) my own body trapped, controlled, directed by this technological apparatus. Far from experiencing Stelarc’s (or my own) body as ‚obsolete‘ or otherwise irrelevant or transcended, I felt more aware of my bodily attachment to his artistic practise.“ (Jones 2005: 87)

Der bedrängte und verletzte/verletzbare Körper ist nicht zu übersehen und nicht zu verleugnen. Zwar sind andere Erfahrungen als Mitleid und Angst möglich und bestimmen die Rezeption sicher auch mit: Wir können die Faszination verspüren, selbst ‚Täter‘ zu sein und uns so sadistischen wie Allmachts-Phantasien hingeben, auch kann dem Anblick eine masochistische Lust entspringen. Gleichwohl ‚funktioniert‘ die Performance – und das gilt insbesondere für die Hängungen – nur, d.h. sie schockiert, bewegt und regt zur Auseinandersetzung an, weil sie uns auf unsere eigene Körperlichkeit zurückwirft: Was Stelarc doch überwinden will, der fühlende, schmerzempfindende, emotional affizierte Körper, ist das Medium seiner Kunst. Gerade im Kontrast zwischen Stelarcs Botschaft, seiner Verherrlichung des nach technologischen Maßstäben gestalteten Körpers und der Erfahrung beim Anblick der Performance aber entfaltet diese – entgegen den verkündeten Intentionen des Künstlers selbst – ein gesellschaftskritisches Potential. Stelarcs Körpermodifikationen liegt ein Zwang zugrunde, der das Freiheitsversprechen, das in der Überwindung biologischer Grenzen durch die Prothetisierung liegen könnte, radikal durchkreuzt. Zwar entblößt er zurecht den historisch-gesellschaftlichen Charakter von Subjektivität und philosophischen Setzungen wie von Körperbildern und -grenzen und stellt mit seinen Cyberkörper-Visionen hypostasierte Vorstellungen von der ‚Natürlichkeit‘ des heutigen Menschen grundlegend infrage. Wenn er aber von der „Freiheit der Form“ redet, von der „Freiheit, den Körper zu modifizieren und zu verändern“ (Stelarc 1995: 74), dann meint dies nicht die freie ästhetische Modellie-

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rung des eigenen Körpers,4 sondern die Freiheit, den Menschen an die Anforderungen der technologischen Umwelt anzupassen die seinen Mangel und seine Veraltetheit erst produzieren.5 In seinem absurden Bestreben, zur ‚Rettung‘ des Menschen in der technisierten Welt den Menschen zu überwinden, ihn zu einem Teil eines gigantischen mechanischen Netzwerks zu machen und damit den Anforderungen der Technik vollkommen zu unterwerfen, kann Stelarcs Cyberkörper-Diskurs als Kulminationspunkt, wenn nicht gar Karikatur, der von Horkheimer und Adorno in ihrem gleichnamigen Werk beschriebenen Dialektik der Aufklärung (1944) verstanden werden. Diese verfolgen den Prozess der Menschheitsentwicklung als dialektischen Rationalisierungsprozess, der das Menschliche zugleich hervorbringt wie zerstört. War instrumentelle Vernunft, Naturbeherrschung, so die Autoren, einmal dazu gedacht, die Menschen von der steten Bedrohung durch die Natur und ihre Gewalt zu erlösen, so wende sie sich nun ihrer immanenten Logik folgend, in der Spätmoderne vollends gegen die Menschen selbst. Zwar sei der (weiße, männliche) Mensch durch instrumentelle Vernunft und ihr Werkzeug, die Technologie, durch die er sich seine Umwelt gefügig machte, sie in Gesetze fasste und alle Unregelmäßigkeiten möglichst auszumerzen versuchte, erst zum Menschen, zu einem handlungsfähigen Subjekt, geworden. Diese Subjektwerdung aber wurde stets mit dem Preis bezahlt, dass auch er sich der technologischen Rationalität unterwerfe, sich selbst, seinen Körper und seine Begierden, nach Maßgabe instrumenteller Vernunft kontrolliere und beherrsche. Mit der vollkommenen Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche würden nun instrumentelle Vernunft und Technologie, die doch mit der Utopie der Freiheit gegenüber den Zwängen der Natur verkoppelt waren, zum universellen Zwang, dem auch das denkende, fühlende und handelnde Subjekt zum Opfer falle. Dieser Dialektik der Subjektwerdung unterliegt, wie Decker (2002) unter Rückgriff auf die Freudsche Psychoanalyse noch einmal genauer nachzeichnet, auch lebensgeschichtlich jede/r Einzelne. Die Entstehung des Ichs verdankt sich dem Versuch des Kleinkindes, der Angewiesenheit auf Objekte zu entkommen, indem es sich mit den lustspendenden und angstbindenden Pflegepersonen und dem Realitätsprinzip, das diese personifizieren, identifiziert. 4

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Geschweige denn die Freiheit, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Körper, das Subjekt und sein Denken erst hervorbringen, zu verändern und infolgedessen neue Körper, Subjekte und neues Denken zu erschaffen. Dass es sich dabei um einen Zwang handelt, daran lässt Stelarc selbst keinen Zweifel: „Der Körper muss aus seinem biologischen, kulturellen und planetarischen Behälter ausbrechen. […] Extraterrestrische Umwelten vergrößern die Veraltetheit des Körpers und vermehren den Zwang, ihn ingenieursmäßig neu zu formieren. Es ist notwendig, einen selbstabgeschlosseneren, energiesparsameren Körper mit erweiterten sensorischen Antennen und größeren Gehirnkapazität zu entwerfen.“ (Stelarc 1995: 74 und 78; Hervorhebungen M.B.).

„KÖRPER IM SCHMERZ“

Unterwerfung unter die Logik des Anderen ist damit der Preis für die ersehnte Unabhängigkeit gegenüber unmittelbar überwältigenden Unlustzuständen und für das Versprechen, aktiv Lustmomente herbeiführen zu können. Ausschlüsse, Verdrängungen, Verwerfungen säumen den Weg zur erstrebten Autonomie. Die vollends aufgeklärte, zweckrational durchstrukturierte, „entzauberte“ Welt, die alle utopischen Momente unter dem Vorwurf der Metaphysik aus dem Denken ausgetilgt hat und nur noch das Bestehende gelten lässt, entblößt nun aber auch die Utopie der Autonomie als Illusion: War diese vorher eben nur eine Utopie gewesen, ein Versprechen, das im Vorschein auf die Erfüllung des Begehrens seinen Preis legitimierte, erfährt sich nun der keinem übermenschlichen Wesen mehr verpflichtete, vermeintlich autonome, aufgeklärte Mensch als bloßes Rädchen im Getriebe und als durch und durch heteronomes Wesen. In der Ernüchterung durch die antiutopische Desillusionierung erscheint die immense Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, als sinnlos, seine Aufgabe dagegen als Glücksversprechen. Wie kaum ein anderer zelebriert Stelarc in aller Deutlichkeit dieses Glücksversprechen, das in der Selbstaufgabe liegt. Während in seinen Schriften, Reden und Interviews die Dialektik instrumenteller Vernunft im Oszillieren zwischen dem Versprechen auf Ichstärkung und Selbstpreisgabe erkennbar ist, wird sie in Performances wie den Suspensions unmittelbar und körperlich spürbar. Die auf technologischen Fortschritt reduzierte Utopie ist eine Nichtutopie, weil sie das Subjekt des utopischen Wunsches verloren hat: „Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“ (Horkheimer 1947: 13)

In Stelarcs posthumaner Utopie ist diese Drohung wahrgemacht: Der Mensch überwindet sein Menschsein, indem er nicht nur in der Arbeits- und Freizeitwelt, die Horkheimer und Adorno noch im Blick hatten, sondern buchstäblich bis auf die Knochen zur bloßen Prothese im technologisierten Ganzen wird. Indem Stelarc dies auch physisch an sich durchexerziert, dabei seinen radikal durch technologische Standards normierten Körper als Zukunftsvision zelebriert, während auf der anderen Seite die Rezipienten/innen der Performance sehr viel ambivalenter begegnen, der leidende, verwundete Mensch nicht übersehen werden kann, offenbart er physisch und psychisch erfahrbar die Verquickung von Versprechen und Drohung des Zivilisationsprozesses.

3. Valie Export: „Der Körper als Spiegel der Welt“ Während Stelarcs Performances ungewollt gerade durch den Kontrast zwischen seinen Ausführungen und der Inszenierung seines verletzten Körpers an kritischem Potential gewinnen, setzt Valie Export ihren Körper als Medium 29

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einer ‚Botschaft‘ sehr viel durchdachter ein, weil sie gerade auch den Blick auf ihre Performance und auf ihren weiblichen Körper reflektiert, thematisiert und produktiv nutzt. Die 1940 geborene Österreicherin beschäftigt sich seit Ende der 1960er Jahre in ihrer Arbeit in verschiedensten Medien – Film, Fotografie, Video, Zeichnungen, multimedialen Installationen und dem Körper in der Performance – mit der Konstruktion medialer und körperlicher Wirklichkeit. Von Beginn an standen Exports Aktionen und Werke im Zeichen ihrer Auseinandersetzung mit feministischer Theoriebildung und einer geschlechterfokussierten Beschäftigung mit der Kunstgeschichte. Weiblichen Kunstschaffenden, so die eigene Erfahrung Exports, bleibe in der männlich dominierten Kunstwelt ebenso wie auf Eigenständigkeit bedachten Frauen in der Alltagswelt wenig Entfaltungsraum, dieser müsse vielmehr hartnäckig erkämpft werden – und dies mit eigenen Mitteln. „Die Geschichte der Frau ist die Geschichte des Mannes“ (Export 1972a: 15) schreibt Export in ihrem Manifest zur Ausstellung MAGNA. Wollen die Frauen in der männlichen Wirklichkeit, die ihnen keinen Ort des Selbstseins zugestehe, zu einem selbstbestimmten Ausdruck kommen, müssten sie sich „alle medien als mittel des sozialen kampfes und als mittel für den gesellschaftlichen fortschritt“ (ebd.) aneignen und in der Zerstörung fremdbestimmter Frauenbilder einen eigenen Ausdruck schaffen. Exports Auseinandersetzung mit Frauenbildern und -körpern steht im Rahmen von Überlegungen der zweiten Frauenbewegung der 1960er bis 1980er Jahre, deren Debatten v.a. seit den 1970er Jahren immer wieder um die Frage nach der ‚Identität‘ der Frau kreisten. Der weibliche Körper wurde dabei theoretisch wie praktisch „zum Medium und Ort des Politischen“ (Hieber/Villa 2007: 99) aufgewertet, durch den gesellschaftliche Normierungen aufgezeigt und angegriffen wurden und Selbsterfahrungen gemacht werden konnten. Wie ich im Folgenden darlegen will, steht auch in Exports Aufsätzen „Feministischer Aktionismus. Aspekte“ (1977), einer Auseinandersetzung mit Kunst von Frauen, und „Das Reale und sein Double: Der Körper“ (1987), einer sichtlich durch Luce Irigarays Schriften inspirierten feministischen Reflexion auf Körper und Reproduktionstechnologien, der weibliche Körper als politisches Kampffeld im Zentrum ihrer Überlegungen zu den Problemstellungen feministischer Kunst und ihrer Mittel. Export (1987) erfasst den Zivilisationsprozess des Menschen wie Stelarc als Prozess seiner Prothetisierung durch Technologie, die das Ich erst hervorbringt und seinen Körper erweitert und verändert, ihn schließlich mit dem Aufkommen der Reproduktionstechnologie überwindet und obsolet werden lässt. Jedoch, so Export, ist die Frau innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft von der Teilhabe an diesem Prozess systematisch ausgeschlossen. Weil sie gemäß der phallokratischen Logik mit ihrem angeblich kastrierten Körper nur 30

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als Mangel und Abwesenheit definiert werden kann, ist sie virtuell nicht existent und kann deshalb kulturell nur als männliches Konstrukt in Erscheinung treten. So befindet sich die Frau unweigerlich in einer double-bind-Situation: Entweder zieht sie sich zurück auf ihren Körper und die ihr in ihrer Reduktion auf den Körper zugestandenen ‚weiblichen‘ Rollen, die ihr jedoch die Teilnahme am Kulturprozess gerade verunmöglichen, und zementiert damit ihren Mangel nochmals. Oder aber sie tritt in den Kulturprozess ein, in dem sie nur als Abwesende, als Nicht-Existente, erkennbar ist, und arbeitet damit – weil sie an diesem Prozess teilhat, der sie doch erst als Abwesende konstruiert – ebenfalls an der männlichen Konstruktion der Frau mit. Diese ausweglose Situation, in der der Körper wie die Reproduktionstechnologien zu Instrumenten der männlichen Macht über die Frau geworden sind, kann, so Export, nur überwunden werden durch die Thematisierung der Konstruktion der Frau und ihres Körpers selbst. Wenn in der Kunst von Frauen weibliche Körper häufig als fremdbestimmte und schmerzhafte und ästhetisch als aufgelöst, fragmentiert oder verschwommen dargestellt werden, so zeige sich darin einerseits das Leiden der Frauen an der Verstümmelung durch die männlichen Konstruktionen und Normierungen ihrer Körper und an der Unmöglichkeit, sich einen eigenen Ausdruck zu verschaffen. Andererseits würden in der Darstellung von NichtErkennbarem, Diffusem, Grenzlosem der Repräsentationsapparat und damit der männliche Blick ebenso irritiert, unterlaufen und angegriffen wie das als Negativform vom Männlichen abgeleitete, körperlich bestimmte sogenannte ‚Weibliche‘. Der ‚Leer-Raum‘, in dem sich die nicht-repräsentierte Frau befindet, ist so für Export Problem und Chance zugleich: „Es ist der Raum, in dem der Ich-Verlust erlitten wird; es ist der Raum, in dem sich die Frau jeder Definition, Klassifikation und Identität entzieht; es ist ihr Raum, weil sie sonst keinen hat. Dieses Dilemma kann nicht eindeutig aufgelöst werden.“ (Export in Rötzer/Rogenhofer 1988: 154)

Selbstbestimmung sei nur über die Dekonstruktion dessen, wozu die Frau gemacht wurde, zu erreichen: Einerseits könne von innen her, in der Aufdeckung des Unbewussten, die „Geschichte der weiblichen Erfahrung“ (Export 1977: 141) als eine der seelischen Verstümmelung der Frau sichtbar gemacht, und andererseits von außen, in einer „gleichsam instrumental[en]“ (Export 1987: 40) Betrachtung des eigenen Körpers, dessen gesellschaftliche Codierung analysiert werden. Schließlich soll dieser fallen gelassen werden, denn: „In unserer phallischen Kultur und in ihrem Repräsentationssystem […] hat die Frau nicht die Möglichkeit, Autonomie des Körpers und Autonomie des Selbst gleichzeitig zu erreichen.“ (Ebd.: 41)

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Die Autonomie des Körpers soll deshalb der Autonomie des Selbst geopfert werden, denn erst wenn die Frau „sich vom Körper trennt und aufhört, sich auf den Attributen und Funktionen des weiblichen Körpers zu begründen und Frausein als Mutter, Gebärerin, (Ehe-)Weib etc. zu definieren, dann bricht die Blockade zusammen und die Frau (als Souverän) beginnt zu existieren“ (ebd.: 41f). Valie Exports Performances sind also als Versuch zu lesen, sowohl am Körper wie am Blick auf ihn Dekonstruktionsarbeit zu leisten, den Körper als gesellschaftlich beschriebenen zu entblößen, den männlichen Blick auf ihn zu irritieren und diesen so überhaupt erst sichtbar zu machen. Körpernormen sollen dadurch als Zurichtungen des Körpers, der ‚normale‘, vermeintlich natürliche weibliche Körper als Effekt von Diskursen und als Produkt der Herstellung von Weiblichkeit erfahrbar gemacht werden.6 1968 trat sie in einer ihrer aufsehenerregendsten Aktionen im Rahmen ihrer „Expanded Cinema“-Experimente, dem „Tapp- und Tastkino“, mit einer vor ihre nackten Brüste gehängten, mit einem Vorhang versehenen Kiste in die Öffentlichkeit und ließ die Passanten/innen einzeln unter den Blicken des restlichen Publikums für einen auf wenige Sekunden begrenzten Zeitraum durch die Vorhänge eine neue Art von ‚realem‘ Film ertasten. Was im klassischen Kino den distanzierenden und objektivierenden Blicken des Publikums vorgeführt wird, der oft nackte, weibliche Körper, blieb hier diesen Blicken entzogen, präsentierte sich aber den ‚Besucher/innen‘ als haptisch erfahrbarer, wobei diese selbst den Blicken ausgesetzt waren. Damit wurden nicht nur die verschiedenartigen Realitäten des Films und des Körpers, sondern zudem der immer auch geschlechtlich konnotierte mediale Blick offenbar. Das bewusste Spiel mit Widersprüchen – der ertastbare, aber unsichtbare Körper; die Stimulierung der sexuell konnotierten Brüste, die in Exports Gesicht keine auf Lust verweisende Reaktionen hinterließ; die in der Öffentlichkeit ausgestellte Intimität der Berührung – eröffnete einen Raum, in dem für das Publikum ambivalente Gefühle von Schock, Empörung, Lust oder Scham erfahrbar und so der Blick auf das komplexe Verhältnis des eigenen Körpers zu dem des weib6

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Die Dekonstruktion von Weiblichkeit als Wirkung sozialer Normen ist einer der zentralen Topoi der Zweiten Frauenbewegung. Körperpolitische Interventionen sollten die vormals von der Öffentlichkeit getrennte private Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion und die der Frau darin zugewiesene Rolle sichtbar und damit überhaupt verhandelbar machen (vgl. Villa 2004). Die vermeintlich individuellen Zwangslagen und inneren Konflikte von Frauen wurden als gesellschaftlich-strukturell verursachte entblößt, als Effekt eines „Weiblichkeitswahn[s]“ (Betty Friedman, die Gründerin der National Association of Women, zit. in Hieber/Villa 2007: 97), der die Frauen auf ihr Weiblichsein reduziere. Am Körper ließ sich diese Politisierung des Privaten materialisieren, d.h. einerseits die patriarchale Produktion von Weiblichkeit sichtbar machen, andererseits aber auch ein Kampf um Autonomie austragen.

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lichen Körpers von Export wie aber auch zu den weiblichen und männlichen ‚Kinobesucher/innen‘ gelenkt werden konnte.

Psychopathologie als Widerstand Sehr bewusst setzte Export bei ihren Performances Anfang der 1970er Jahre auf die Wirkung ihrer Inszenierung von Schmerz. Zuerst in ihrer Aktion „Eros/ion“ (1971), in der sie sich in kleinen Glasscherben wälzte, und schließlich in ihren Auseinandersetzungen mit psychopathologischen Symptomen, „Hyperbulie“, „Asemie“ und „Kausalgie“ (alle 1973), und dem Aktionsfilm „… Remote … Remote …“ (1973), der hier genauer untersucht werden soll, stand der durch Schnitte, Strom oder heißes Wachs malträtierte Körper im Zentrum der Inszenierung. Die Verletzung des Körpers, gerade die Schnitte ins Fleisch, sollten die „Blutspur“ (Export 1977: 142) der Geschichte der Frau, die „tiefe Verletzungen, Verstörungen, Verfremdungen bis zur Selbstentfremdung“ (ebd.: 143) hinterlassen habe, aufdecken. Und in der Thematisierung und Inszenierung des Leides, im Enthüllen dieser schmerzlichen Spuren, die die Normierung und Zurichtung der Frauen hinterließ, sah Export auch den Verhältnissen angemessene, spezifisch weibliche Emanzipationsformen: „Die Freude am eigenen Widerstand, die Freude, Schmerz zu ertragen und zu überwinden, die Freude, den fremden Widerstand zu überwinden, den Verlust zu sehen und zu spüren und darüber zu lächeln.“ (Ebd.: 159)

Durch den Schmerz hindurch, in der bewussten ironischen oder tragischen Reinszenierung sollte die Frau sich als selbstbestimmtes Subjekt setzen. „… Remote … Remote …“ ist ein Paradebeispiel für Exports Konzept eines Feministischen Aktionismus, in dem diese Dialektik der Reinszenierung des Leides der Frau an ihrer gesellschaftlichen Zurichtung zum Ausdruck kommen soll. Während im Begleittext (vgl. Zell 2000: 87) v. a. der durch das Hintergrundfoto zum Ausdruck gebrachte Bezug zur Zeitlichkeit und dem lebensgeschichtlichen Nachwirken allgemeiner Leidenserfahrungen angesprochen wird, bestimmen noch zwei weitere, spezifisch weibliche Bezüge die Inszenierung: Erstens evoziert der Anblick der ihre Fingernägel bearbeitenden Frau Bilder weiblicher Schönheitspraktiken – die ersten Handlungen Exports werden aus einer Halbtotalen aufgenommen, so dass die Verletzungen noch gar nicht sichtbar werden –, zweitens verweisen die von der Künstlerin selbst durch das Messer verursachten Schnitte auf die überwiegend weibliche Pathologie des ‚Ritzens‘. In der Zusammenführung von Schönheitspflege und Psychopathologie wird beides neu beleuchtet: Wird in dieser Form der „Radikalkosmetik“ 33

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(Vogel 2000: 119) die von gesellschaftlichen Normierungen geleitete Herstellung von Weiblichkeit als schmerzhafter Eingriff in den Körper der Frau offenbar, so verweist das so kontextualisierte Symptom des Ritzens auch auf seine Ursprünge in der weiblichen Sozialisation. Ein kurzer Blick auf die klinische Literatur macht diesen Bezug deutlich: Den Hintergrund offener Selbstverletzungen als klinischem Symptom bilden, so Sachsse (1998) und Paar (2002), regelhaft traumatische Missbrauchserfahrungen durch die Eltern von der frühen Kindheit bis in die Adoleszenzphase. Hätten die Mütter ihre Töchter in schwer belastender Weise als narzisstische Stütze benötigt, die ihnen psychische Stabilität garantierte, so hätten die Väter sie sexuell missbraucht und/oder durch physische Gewalt misshandelt. Im Zentrum des Körperbezugs der analysierten ritzenden Frauen stehe deshalb eine grundlegende Erfahrung: „Der Körper gehört anderen“ (Paar 2002: 62).7 Die meist in der Adoleszenzzeit erstmals ausgeführten Selbstverletzungen bieten verschiedene Arten des „Krankheitsgewinns“. Die Reinszenierung traumatischer Erfahrungen diene der Abfuhr eingeklemmter Affekte und sei als Versuch zu werten, über die eigene aktive Herbeiführung des zuvor passiv erlebten, überwältigenden zwischenmenschlichen Geschehens die eigene Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Daraus erwachse nicht nur ein Kontrollgewinn, der „mit euphorischen Gefühlen bis hin zu sexueller Erregung verbunden“ (ebd.) sein könne, sondern auch eine Möglichkeit, innere Spannungen als Interaktion zwischen dem Selbst als Täter und dem Körper als Opfer zu reexternalisieren. Als Gegensatz zum abgewerteten Körper imaginierten die Ritzerinnen ihr Selbst, was Leistung, Perfektion und Selbstbeherrschung anbelangt, als omnipotent. Der Schmerz und das aus der Wunde heraustretende warme Blut lasse die oft von Apathie und Fühllosigkeit geplagten Selbstverletzerinnen auch spüren, dass sie noch leben, und so sei das Ritzen durch das Fühlbarmachen der eigenen Körperlichkeit nicht nur als Abstoßungs-, sondern zugleich auch als Aneignungsversuch des sonst als fremd wahrgenommenen Körpers zu werten. Neben diesen spezifisch posttraumatischen Funktionen erhalte schließlich die Selbstverletzung auch noch eine Kommunikationsfunktion als Hilfsappell oder Anklage. All diese Funktionen sind auch in Exports Inszenierung sichtbar, die Referenz auf traumatische frühkindliche Erfahrungen, die die Frau zum Objekt werden lassen und in der Selbstverletzung aktiv reinszeniert werden, der da7

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Gegen die meist gesellschaftliche Kontexte ausblendende, damit die Phänomene individualisierende klinische Literatur muss betont werden, dass Erfahrungen mehr oder weniger intensiver sexueller Gewalt in der Sozialisation von Frauen bei weitem keine Seltenheit darstellen (vgl. Neppert 1998: Kap. 6) und ebenso ein Effekt herrschender Geschlechterverhältnisse sind wie die noch grundlegendere Erfahrung der Fremdbestimmtheit des eigenen Körpers – wie Export in ihren eigenen Ausführungen ja sehr deutlich macht.

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mit einhergehende Kontrollgewinn und der Wunsch nach Selbstbeherrschung, die in Exports stoischem Blick erkennbar werden, und schließlich die Kommunikationsfunktion der Wunde, die inneres Leiden äußerlich in der „Sprache des Schmerzes“ (Zell 2000: 59) sichtbar macht – „das Innere stülpt sich nach außen“ (Export im Begleittext zum Film, zit. in ebd.: 87). Psychopathologische Symptome sind nach Freud stets „Kompromissbildung[en]“ (Freud 1899: 537) zwischen unbewussten Wünschen und den (gesellschaftlich sanktionierten) Zensurschranken des Ichs, damit Ausdrücke eines Konflikts. In ihnen entfaltet sich so eine Dialektik zwischen Anpassung an (gesellschaftliche) Anforderungen und Normen und Widerstand gegen sie. In den körperlich materialisierten Symptomen weiblicher Pathologien wird der Körper zum Schlachtfeld des Kampfes um Selbstbestimmung, ein Umstand, den auch Export stark macht. „Die großen weiblichen Rebellionsformen wie Hysterie und Anorexie“ sieht sie als weibliche Subversionsform, „als Verweigerung des Körpers wie der Bilder“ (Export 1987: 35f), eine Interpretation, die auch für die offene Selbstverletzung gilt. Auch sie zeigt einen Auflösungsprozess des weiblichen Körpers, zerstört so seine von der männlichen Kultur gewünschte Makellosigkeit, Reinheit und Schönheit und entzieht sich damit den Zugriffen des männlichen Blicks. Auch sie ist als Versuch zu sehen, den fremdbesetzten Körper zu thematisieren und sich seiner zu entledigen. Und auch sie ist ein rebellischer Versuch, zumindest in der Körperinszenierung noch ein Moment der in der sonstigen Welt abhanden gekommenen Selbstbestimmung zu gewinnen. Der Schnitt ist zugleich Ausdruck der Entfremdung, der Dekonstruktion und der Befreiung. Bleibt dieser Protest jedoch im Symptom unbewusst, ja verhindert dieses gerade eine bewusste Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen, indem die Frauen distanzlos auf ihren Körper fixiert bleiben,8 so entfaltet sich das subversive Potential da, wo der Zusammenhang von gesellschaftlichem Kontext und Symptom – wie in Exports Performance – explizit zur Schau gestellt und thematisiert wird. In der radikalkosmetischen Körperpraxis wird die Anpassung an weibliche Schönheitsideale und Körpernormen affirmiert wie unterlaufen, wird die diesen Idealen immanente „Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Formen der Selbstverstümmelung“ (Lippert 1985: 79) offenbart und deren Übertretung als auch lustvoller9 Akt der Selbstbestimmung inszeniert.

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Exports Rede von den Psychopathologien als den „großen weiblichen Rebellionsformen“ ist damit auch als ein nicht unproblematischer Euphemismus zu werten. Vgl. zur Hysterie und Anorexie als (unbewusste) Subversionsstrategie und ihren Grenzen auch Bordo (1985). „Lustvoll und selbstvergessen beginnen wir zu kauen, zupfen und knibbeln, wenn wir uns nicht mehr den Blicken anderer ausgesetzt fühlen, geben uns zu35

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Der verletzte Körper ist dabei zugleich das Medium der Kommunikation mit dem Publikum, er beschleunigt und intensiviert die Involviertheit der Rezipienten/innen. Weil Export sich der ambivalenten Rezeption der Schmerzinszenierung bewusst ist, diese gerade unter den Vorzeichen einer Auseinandersetzung mit Weiblichkeit zum Thema machen will, sind empörte, ablehnende Regungen – anders als bei Stelarc – antizipiert, sogar Teil des Erkenntnisgewinns: „Wenn schon pathologische Momente wie Selbsthaß, minderes Selbstbewußtsein, Identifikation mit Leid, Unterwerfung oder gar mit dem Unterdrücker aus solchen Aktionen interpretatorisch rezipiert werden, dann sind dies Momente der Wahrheit der Geschichte der Frau, so wahr, daß nicht einmal viele Frauen den Lack so gründlich abkratzen lassen wollen. Der Schein des belanglosen Glamours ist vielen lieber als die Souveränität eines ausgetragenen Schmerzes, als die schmerzliche Energie des Widerstands.“ (Ebd.: 143f; Hervorhebung im Original)

Es verwundert kaum, dass die Performance, die im von Identifikation und Differenzerfahrung geprägten Verhältnis des Körpers der Performerin zu dem der Zuschauerin unausweichlich auch die Selbstpraktiken der Letzteren, ihre eigene normengeleitete, verstümmelnde Arbeit an ihrer Weiblichkeit, thematisiert, immer wieder auf heftige Ablehnung stieß und noch immer stößt (vgl. Lippert 1985: 74; Sykora 1989: 365). Doch für das Publikum, das sich auf die Inszenierung und ihre Wirkung einlässt, wird sie vermöge ihrer Ambivalenz zu einem Erfahrungsraum, in dem die inszenierte Dialektik des Symptoms spürbar wird. Im Oszillieren zwischen Gefühlen von Mitleid, Angst, Empörung, Faszination über die spürbare Selbstbestimmtheit der Handlung wie auch sadistischer und masochistischer Lust werden Normalitäten und Gewohnheiten und der Blick auf den eigenen und fremden Körper radikal in Frage gestellt.

4 . K ö r p e r u n d S u b ve r s i o n Die Angriffe auf den eigenen Körper in Stelarcs und Exports Performances sind stets Angriffe auf bestehende Körpernormen und deren vermeintliche Natürlichkeit. Beide Künstler/innen thematisieren den Körper als veränderbaren, immer schon gesellschaftlich vermittelten und durch Technik prothetisierten und stellen damit die Idee des Körpers als letztem Residuum von Natur und ‚Authentizität‘ grundlegend in Frage. Intention und Strategie der Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Körpernormen unterscheiden sich aber radikal.

hause gierig unseren kleinen Angewohnheiten und Ungezogenheiten hin.“ (Lippert 1985: 79) 36

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Stelarc stellt ihnen positiv ein Gegenbild, die Vision eines ‚fortschrittlicheren‘ Cyberkörpers, entgegen und hypostasiert dieses als unumgängliche Zukunft, da er die technologische Durchrationalisierung der Welt zum schicksalhaften Naturgesetz werden lässt. Der von ihm zelebrierte vorauseilende Gehorsam gegenüber den Anforderungen der technisierten Umwelt kippt nur deshalb nicht gänzlich ins ideologische, weil er ihn bis an die Schmerzgrenze weitertreibt. Mit dem seine Utopie konterkarierenden drangsalierten und verwundeten Körper lässt er entgegen seiner Intention die Kosten des Zivilisationsprozesses und die ihm innewohnende Dialektik von Selbst-Ermächtigung und Selbst-Unterwerfung in den Blick geraten. Export fordert dagegen die ambivalente Rezeption ihrer Körperinszenierung sehr bewusst heraus, die Verletzung des Körpers ist zugleich Darstellung von Leid, Dekonstruktion und Selbst-Ermächtigung. Indem sie den Normierungen des weiblichen Körpers keine positiven Gegenbilder und -körper entgegensetzt, sondern sich ihre Arbeiten stets nur in den diffusen Leer-Räumen der Kultur „um ein Vakuum beweg[en], um einen weißen Fleck, der unbenannt, ungesagt bleibt – und bleiben will“ (von Braun 1997: 9), entgeht sie auch den problematischen Implikationen ihres eigenen Ansatzes, der doch letztlich auf die Herstellung einer Identität der Frau zielt, deren einheitliche biologische Basis sie – als Kind ihrer Zeit – als gesetzt annimmt.10 Und weil sie stets und konsequent auf die Dialektik der weiblichen Subjektwerdung fokussiert, reproduziert sie in ihren Performances auch nicht die auch von ihr affirmativ vorgetragene, undialektische Konzeption des Zivilisationsprozesses als zu begrüßende Entfremdung von und Überflüssigmachung der Natur durch die Technologie, dessen Problem sie lediglich im Ausgeschlossensein der Frau sieht.11 Einem körperpolitischen Umgang mit gesellschaftlichen Normierungen im Rahmen der Performancekunst stehen wohl nur zwei Wege offen, die nicht in die Sackgasse neuer Naturalisierungen und Normierungen führen: Derjeni-

10 Zur Infragestellung des biologischen Substrats „der Frau“ vgl. Butler (1990) und Butler (1993). Export rechtfertigt ihren Versuch, eine spezifisch weibliche Ästhetik zu finden, als „‚essentialistische‘ Intervention, die mir weniger essentialistisch als eher wie eine Gegenstrategie zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt zur Determination des weiblichen Körpers durch die männliche Tradition vorkommt“ (zit. in Mueller 1994: 212). Aus dieser Position heraus hält sie auch die direkte Suche nach einer spezifisch weiblichen Ästhetik – z.B. im Rückgriff auf die Mythologie – für einen „legitimen Weg“ (Rötzer/Rogenhofer 1988: 151). Vgl. dazu auch Exports eigene frühe Idealisierungen der Rolle der Frau vor dem Entstehen des Christentums und ihre unkritische Würdigung von Verfechterinnen eines „femininen Prinzips“ (Export 1972b). 11 Dass die Dialektik der Subjektwerdung dem Prozess der Aufklärung und dem okzidentalen Begriff des Subjekts selbst innewohnt, damit alle Subjekte betrifft, habe ich in meinen Ausführungen zu Stelarc zu zeigen versucht. 37

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ge einer permanenten, ironischen Neuerfindung und -codierung von Körpern und Körperbildern, welche die Normen immer wieder dekonstruieren und subversiv verschieben, wie dies etwa queere Ansätze propagieren, oder die Arbeit in der Negativität, die Exports Schaffen auszeichnet. Nicht positiv, sondern immer nur kritisch gegenüber dem Bestehenden bestimmbar, den Schmerz über ihr eigenes Scheitern in sich enthaltend, entwinden sich die so errungenen Subjektpositionen, die gewonnenen Ausdrücke des eigenen Seins, jeglichen metaphysischen Zuschreibungen. Mit dieser aus Normierungen und Identitätslogiken ausbrechenden, nie stillzulegenden Praxis bleibt Exports Strategie m. E. ebenso aktuell für dynamischere Subjektkonzepte propagierende, heutige (feministische oder queere) Positionen. Gegenüber deren teilweise euphorischem Ausblick auf die befreienden Möglichkeiten permanenter Verschiebungen und Subversion vermag sie auch das Leiden an der Unmöglichkeit eines „richtige[n] Leben[s] im falschen“ (Adorno 1951: 42) stark zu machen und damit an der Kritik am falschen Ganzen festzuhalten.

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Surgical passing – Das Unbehagen an Michael Jacksons Nase KATHY DAVIS Seit dem Aufkommen der kosmetischen Chirurgie um die Jahrhundertwende haben Menschen in den USA und in Europa diese nicht nur als Möglichkeit betrachtet, ihr Aussehen aufzuwerten, sondern auch als Möglichkeit, körperliche Merkmale abzuschwächen oder zu beseitigen, die sie – ihrem Empfinden nach – als ‚anders‘ im Vergleich zur dominanten ‚ethnischen‘ Gruppe ausweisen. In diesem Aufsatz frage ich danach, wie sich diese ‚ethnische kosmetische Chirurgie‘ von anderen Formen kosmetischer Chirurgie (z.B. Brustvergrößerungen im Dienste einer ‚verbesserten‘ Weiblichkeit oder Faceliftings gegen die Zeichen des Alterns) unterscheidet, und, allgemeiner, ob ethnische kosmetische Chirurgie weitere ethisch-normativen Fragen aufwirft. Nach einem kurzen Streifzug durch die Geschichte der kosmetischen Chirurgie in ihrer Verbindung mit Rassenlehren gehe ich auf gegenwärtige Praxen ethnischer kosmetischer Chirurgie ein, die ich im Kontext aktueller politischer Debatten um ‚race‘1 und Schönheit verorte. Dabei stütze ich mich auf den Fall von Michael Jackson, der sicherlich der bekannteste Nutzer dieser Art von plastischer Chirurgie ist, um zu analysieren, wie ethnische kosmetische Chirurgie für ‚people of color‘ oder ethnisch Marginalisierte in Diskurse um ‚race‘ eingebettet ist und welche Konsequenzen diese Einbettung für feministische Sichtweisen auf Körperlichkeit und verkörperte Identitäten hat. Zum Schluss gehe ich auf das Unbehagen ein, das kosmetische Chirurgie bei ihren Kritiker/innen auslöst.

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Anmerkung der Übersetzerin: Der englische Ausdruck ‚race‘ lässt sich in vielen Fällen nicht angemessen mit dem deutschen Begriff ‚Rasse‘ übersetzen. ‚Race‘ ist im geisteswissenschaftlichen Sprachgebrauch, anders als der Begriff ‚Rasse‘, nicht mit Rassenideologien konnotiert und findet in soziologischen Analysen als Kategorie der gesellschaftlichen Ungleichheit Verwendung. 41

KATHY DAVIS

Vor einigen Jahren verfasste ich mein Buch „Reshaping the Female Body“ (1995), in dem ich die Involviertheit von Frauen in die kosmetische Chirurgie beforschte sowie die Dilemmata, die sich aus dieser Involviertheit ergeben. Ich schrieb dieses Buch vor dem Hintergrund der anhaltenden feministischen Kritik am gesellschaftlichen Schönheits-System, die dieses als einen der Hauptmechanismen sieht, durch welchen in westlichen Gesellschaften der weibliche Körper als defizitär oder unterlegen konstruiert wird (Bartky 1990; Young 1990, Morgan 1991, Wolf 1991). In dieser Kritik wird kosmetische Chirurgie oft als besonders schädliche Schönheitspraxis betrachtet, die nicht nur teuer und gefährlich, sondern für Frauen auch repressiv und erniedrigend ist. Nachdem ich jedoch den Geschichten einiger Frauen zugehört hatte, die ihr Leiden an ihrem Äußeren und ihren Kampf, dieses Leiden zu überwinden, schilderten, wurde ich unzufrieden mit der Annahme, Frauen würden kosmetische Chirurgie nur nutzen, um gängigen Weiblichkeitsidealen zu entsprechen. Kosmetische Chirurgie als Schönheitspraxis zu fassen, macht es scheinbar einfach – selbst für Feministinnen, die den weiblichen Kämpfen um den Körper verständnisvoll gegenüberstehen – Frauen, die sich kosmetischen Eingriffen unterziehen, als leichtsinnig, von Medienstars beeinflusst oder ideologisch verblendet zu betrachten.2 Zwar wird es durch die Auffassung von kosmetischer Chirurgie als Schönheitspraxis möglich, die ideologische Beschränkung eines ‚weiblichen Erscheinungsbildes‘ zu kritisieren, jedoch wird diese Auffassung nicht den oft bewegenden Geschichten von Frauen gerecht, die sich tatsächlich kosmetischen chirurgischen Eingriffen unterzogen haben (Davis 1995). Diese Frauen nämlich erzählen von jahrelangem Leiden an Körpern – oder Körperteilen – die als zu ‚anders‘ oder ‚abnorm‘ galten, um sozial akzeptiert zu werden. Sie schildern ihre Entscheidung für eine Operation als eine Möglichkeit ‚normal‘, ‚wie jede/r andere‘ zu werden. Aus diesen Geschichten schloss ich, dass es sinnvoller ist, kosmetische Chirurgie als einen Eingriff in die Identität – i.S. des Empfindens des eigenen körperlichen Selbst – zu fassen, anstatt sie als Schönheitspraxis zu betrachten. Kosmetische Chirurgie mit Identität zu verbinden, erlaubte es mir, die Ernsthaftigkeit des Leidens konkreter Frauen anzuerkennen und das Verlangen jener Frauen nach einem kosmetischen Eingriff als mehr als nur einem Ausdruck ideologischer Verblendung zu verstehen.3 Kosmetische Chirurgie kann – trotz ihrer Kehrseite – als die beste 2

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So schreibt beispielsweise Iris Young (1990: 202), dass Frauen, die sich einer kosmetischen Operation unterzogen haben, dafür nicht kritisiert werden sollten. Allerdings sei es „fragwürdig“, ob ihre Handlungen als „Wahl“ angesehen werden können. Weiterhin nimmt sie an, dass die meisten Schönheitsoperationen an Frauen so „leichtfertig und unnötig“ wie „Pelz oder Diamanten“ seien. Es geht mir nicht darum, die weit reichenden ideologischen Effekte des Schönheits-Systems zu leugnen. Vielmehr möchte ich die Nützlichkeit eines Ansatzes

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Handlungsweise einer Frau vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenssituation gesehen werden. Sie macht es ihr möglich, ein Leiden zu lindern, das jenseits dessen liegt, was ein Mensch ertragen müssen sollte.4 In diesem Artikel möchte ich diese Annahmen im Lichte einer anderen Form der kosmetischen Chirurgie einer erneuten Prüfung unterziehen. Diese ist zwar nicht gleichermaßen verbreitet wie die ‚Schönheitschirurgie‘, aber nicht weniger problematisch. Es geht um die Elimination körperlicher Merkmale von ‚Ethnizität‘ oder ‚race‘, die unter Mediziner/innen als ‚ethnische kosmetische Chirurgie‘ bezeichnet wird.5 Den Anstoß, meine früheren Positionen zur kosmetischen Chirurgie zu überdenken, gab eine Diskussion mit einigen feministischen Kolleginnen. Nachdem sie mein Buch gelesen hatten, stimmten sie mir darin zu, dass kosmetische Chirurgie als ein Eingriff in die Identität betrachtet werden sollte, und nicht ‚nur‘ als Schönheitspraxis. Sie teilten auch meine Ansicht, dass kosmetische Chirurgie und die Vorstellung weiblicher Unterlegenheit, die durch sie gestützt wird, im Allgemeinen gefährlich und erniedrigend sind. Jedoch waren sie sich auch einig, dass kosmetische Chirurgie in Fällen, in denen das individuelle Leiden ein bestimmtes Maß überschreite, moralisch vertretbar sei. Kurz: Sie akzeptieren nicht die pauschale Zurückweisung kosmetischer Chirurgie, die für viele gegenwärtige feministische Veröffentlichungen über Schönheit und die operative Veränderung weiblicher Körper kennzeichnend war. Stattdessen bezogen sie eine nu-

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in Frage stellen, der die Verwicklung von Frauen in eine Vielzahl ambivalenter und kontroverser Weiblichkeits-Praktiken, die gleichzeitig unterdrückerisch aber auch fieberhaft ersehnt sind, als ‚Bauernfängerei‘ betrachtet. Kosmetische Chirurgie ist kein Phänomen, das einzeln für sich steht, sie reiht sich in eine lange Liste von Praktiken: von neuen Reproduktionstechnologien über Genitalbeschneidungen bis hin zu Heterosexualität. Für eine ausführlichere Kritik dieses Ansatzes vgl. Davis (1991, 1995), eine interessante Replik hierzu findet sich bei Bordo (1993, 1997). Dies ist eine sehr kurze Darstellung einer komplexen Argumentation, die das Verhältnis zwischen Leiden, Verkörperung und Normalitätskonzeptionen verhandelt, vgl. hierzu „Reshaping the Female Body“, insbesondere Kapitel 3 und 4. Mit dieser Bezeichnung habe ich gehadert, jedoch habe ich keine bessere finden können. In vielen medizinischen Texten sind Bezüge auf ‚race‘ und Ethnizität nur indirekt enthalten (‚bestimmte Gruppen sind in Bezug auf ihr Geruchsorgan üppiger ausgestattet‘). Chirurgen vermeiden den Begriff ‚race‘ und sprechen lieber von einem ‚ethnic patient‘ oder einer ‚ethnic-specific surgery‘. Der Begriff ‚race‘ ist historisch mit Merkmalen körperlicher Differenz verbunden, während Ethnizität (ethnicity) mit Kultur in Verbindung gebracht wird. Ethnizität – genau wie ‚race‘ ein Konstrukt – wird in der Praxis jedoch oft rassialisiert, also als körperliches Merkmal kultureller Gruppen betrachtet (vgl. hierzu z.B. Stephan 1982, Goldberg 1990, Appiah 1996). Da kosmetische Chirurgie, wie ich in diesem Aufsatz zeigen werde, Rassenlehren auf körperliche Merkmale anwendet, die dann als ‚ethnische‘ bezeichnet werden, habe ich mich für den Begriff der ‚ethnischen kosmetischen Chirurgie‘ entschieden. 43

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ancierte, aber kritische Haltung und argumentierten, dass kosmetische Chirurgie in Einzelfällen akzeptabel sein kann, ihr insgesamt jedoch mit Vorsicht zu begegnen sei. Ich übernahm die Rolle des Advocatis Diaboli und fragte sie, was sie denn über kosmetische Chirurgie zur Beseitigung von ethnisch markierten Merkmalen dachten und verwies auf den Anstieg der Operationen bei asiatischen Frauen, die ein doppeltes Augenlid erzeugen, um die Augen größer und vermutlich ‚westlicher‘ aussehen zu lassen (Kaw 1993, 1994). Meine Kolleginnen waren aufgebracht und betonten mit Nachdruck, dass dies ein ganz anderes Thema sei. Ihnen war kosmetische Chirurgie zum Zweck der Veränderung ethnischer Merkmale komplett unverständlich und folglich konnten sie sie unter keinen Umständen gutheißen. Diese Diskussion hinterließ verschiedene Fragen. Ich war erschrocken ob der Absolutheit in der Antwort meiner Kolleginnen, dass kosmetische Chirurgie in der Absicht, ‚ethnische‘ Merkmale zu beseitigen nicht nur anders, sondern auch (in ethischer und politischer Hinsicht) entschieden schlimmer als eine Brustvergrößerung oder ein Facelifting sei. Anfänglich war ich geneigt, diese Reaktion als Ausdruck von Ärger und Unbehagen zu deuten oder – in Bezug auf die weißen Frauen unter uns – als Ausdruck von Schuldgefühlen, ausgelöst durch den solchen Operationen inhärenten Rassismus. Jedoch verspürte ich gleichzeitig eine gewisse Skepsis über die relative Sorglosigkeit, wenn es um kosmetische Chirurgie zum Zwecke einer ‚verbesserten Weiblichkeit‘ ging, jedenfalls wenn verglichen mit den ethnischen Dimensionen. Verhandeln nicht alle, die sich einer kosmetischen Operation unterziehen – ohne Ansehen von gender, Ethnizität oder Nationalität, sexueller Orientierung oder Alter – ihre Identität in Kontexten, in denen körperliche Unterschiede unerträgliche Leiden bedeuten können? Es ist natürlich möglich, dass die geschockte Reaktion meiner Kolleginnen auf die chirurgische ‚Verwestlichung‘ der Augenlider asiatischer Frauen darin begründet liegt, dass dieser Praxis im öffentlichen Diskurs über kosmetische Chirurgie relativ wenig Aufmerksamkeit zukommt. Frauen waren immer die Hauptzielgruppe für alle möglichen Arten kosmetischer Chirurgie (auch ethnischer kosmetischer Chirurgie). Feministinnen neig(t)en dazu, die Kultivierung des Körpers im Namen der Schönheit mit dem Bemühen um Weiblichkeit zu verknüpfen. Dadurch, dass kosmetische Chirurgie universell durch die ‚gender-Brille‘ betrachtet wurde und wird, erscheinen operative Eingriffe zur Aufwertung der eigenen Weiblichkeit als so normal, dass sie – mehr oder weniger – akzeptabel geworden sind, wohingegen Eingriffe, die ethnische Merkmale beseitigen sollen, immer noch zuverlässig Überraschung und Missbilligung hervorrufen. Vielleicht liegt die Erklärung jedoch woanders. Ich fragte mich, ob unsere Diskussion nicht eine Wiederauflage der altbekannten Debatte über Hierarchien und Unterdrückung war. Sie erinnerte mich an zahllose Diskussionen 44

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der Vergangenheit, welche ich mit Feministinnen führte, die argumentierten, dass gender (nicht Klasse oder ‚race‘) die Hauptkategorie in Bezug auf Differenz sei, und mit Anti-Rassistinnen, die genauso entschieden darauf bestanden, dass Rassismus, und nicht Sexismus, der Gegner sei, der unsere kritische Aufmerksamkeit am meisten verdient. Diese Art dualistischen Denkens wurde überzeugend von Floya Anthias und Nira Yuval Davis (1992), Avtar Brah (1996), Naomi Zack (1997), Valerie Smith (1998), Jacquelyn Zita (1998) und vielen anderen überwunden, die gender und ‚race‘ nicht als unabhängige Herrschaftssysteme, sondern als intersektionelle und wechselseitig konstitutive Elemente jeder sozialen Praxis und jedes historischen Kontexts begreifen. Ich teile die entsprechende Sichtweise, dass die Aufgabe, die sich Feministinnen heute stellt, nicht die ist, zu entscheiden, ob gender oder ‚race‘ relevanter ist, sondern die, zu bestimmen, wie diese und andere Kategorien der Differenz bzw. Ungleichheit spezifische Konstellationen von Hierarchie, Exklusion oder Ausbeutung hervorbringen.

E t h n i s c h e k o s m e t i s c h e C h i r u r g i e : e i n Au f r i s s Die Praxis der ethnischen kosmetischen Chirurgie ist nicht neu. Seit dem Aufkommen der kosmetischen Chirurgie um die Jahrhundertwende haben Menschen in den USA und in Europa diese nicht nur als Möglichkeit angesehen, ihr Aussehen aufzuwerten, sondern auch als Möglichkeit, körperliche Merkmale abzuschwächen oder zu beseitigen, die sie – ihrem Empfinden nach – als ‚anders‘ als die dominante ‚ethnische‘ Gruppe ausweisen (Haiken 1997: 175f.). In Mitteleuropa waren während des 19. Jahrhunderts vor allem jüdische Menschen ‚die Anderen‘. Stereotype Bilder, die sie als anders, missgestaltet und krankhaft darstellten, verbreiteten sich rasend. Juden/innen wurden imaginiert als plattfüßig (und daher für den Militärdienst ungeeignet), von ekelerregenden Hautkrankheiten gezeichnet (‚Judenkrätze‘), mit langen Ohren, fleischigen Ohrläppchen (‚Moritz ears‘) und ausgeprägten Nasen (‚Hakennasen‘) und natürlich mit von der Beschneidung ‚verkrüppelten‘ Genitalien (Gilman 1991). Diese ‚rassischen Merkmale‘ wurden mit sozialen Stigmata wie Schwäche, Krankheit und moralischer Verkommenheit assoziiert, so dass schon ihr – angebliches – Äußeres zu einer Hürde ihrer Assimilationsbemühungen wurde. Einige frühe plastische Chirurgen, unter ihnen Jacques Josef, der Erfinder der modernen plastischen Nasenoperation, entwickelten Verfahren, die es jüdischen Patienten ermöglichen sollten, ‚ethnisch unsichtbar‘ zu werden.6

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Josef ist ein Beispiel für die Ambiguität ‚ethnischer kosmetischer Chirurgie‘. Seine Karriere gründete sich auf seinem Bemühen, ‚jüdische‘ Nasen umzufor45

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In den USA wurde die kosmetische Chirurgie während der großen Einwanderungsbewegungen um die Jahrhundertwende populär. John Roe führte die erste Nasenkorrektur an so genannten ‚Knollennasen‘ (‚pug noses‘) durch, ein Gesichtszug, der mit irischen Einwanderern7 und Charakterzügen wie Liederlichkeit und hündischer Unterwürfigkeit assoziiert wurde. Später wurden Nasenoperationen an europäischen Einwanderer/innen (jüdischen Menschen, Italiener/innen und anderen Einwanderer/innen mediterraner oder osteuropäischer Herkunft) und auch an Amerikaner/innen, die befürchteten, sie könnten ‚jüdisch aussehen‘ (Haiken 1997), durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden kosmetische Operationen, die ‚westliche‘ Augenlider herstellten, unter Koreaner/innen, Chinesen/innen, Japaner/innen und anderen asiatischen Amerikaner/innen populär. In jüngerer Zeit haben Afroamerkaner/innen begonnen, ihre Nasen und Lippen durch kosmetische Chirurgie zu verändern.8 Für 1998 wird geschätzt, dass von den 2,8 Millionen kosmetischen Operationen, die in den USA durchgeführt wurden, 19,6% an nichtkaukasischen (also an Menschen asiatischer, lateinamerikanischer, afrikanischer Herkunft oder Native Americans) durchgeführt wurde (Matory 1998: XIX). Ethnische kosmetische Chirurgie zielt oft auf die am stärksten identifizierbaren und häufig karikierten Gesichtszüge – bei jüdischen Personen die Nasen, bei asiatischen Augen und Nasen und bei Afroamerikaner/innen Nasen und Lippen. Doch ist kein Körperteil davor sicher, als ‚rassisch‘ markiert zu werden. In Rio de Janeiro z.B. werden ‚Hängebrüste‘ mit den unteren Klassen verbunden, die als schwarz imaginiert werden – ein Bild, das seine Wurzeln in der Sklaverei in Brasilien hat, die erst 1888 abgeschafft wurde (Gilman 1999: 225).

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men und Menschen zu helfen, ihre ‚Herkunft‘ zu verbergen. Um seine Zugehörigkeit abzusichern, schloss er sich einer Burschenschaft an, wo er auch den obligatorischen ‚Schmiss‘ als Zeichen arischer Männlichkeit erwarb. Trotzdem konnte Josef letztendlich seiner Herkunft nicht entfliehen und hätte, genau wie alle anderen jüdischen Ärzte/innen, seine Praxis aufgeben müssen, als Hitler an die Macht kam. Es ist bis heute ungeklärt, ob er 1934 an einem Herzinfarkt starb oder ob er sich das Leben nahm, als er seine Zulassung als Arzt verlieren sollte (Gilman 1991). Im 19. Jahrhundert galten Iren als eigene Rasse, während sie heute höchstens eine spezifische Ethnizität für sich geltend machen können – eine interessante Tatsache in der Geschichte der Rassenkonstruktion. Die Tatsache, daß Afro-Amerikaner/innen in der kosmetischen Chirurgie relativ unterrepräsentiert sind, mag damit zusammenhängen, dass in Bezug auf sie die Hautfarbe als primäres rassisches Merkmal gilt – ein Merkmal, das nicht durch chirurgische Eingriffe verändert werden kann. Zwar ist die kosmetische Chirurgie unter Afro-Amerikaner/innen nicht sehr verbreitet, dafür jedoch der Gebrauch von Hautbleichungsmitteln (vgl. Russell et al. 1992).

SURGICAL PASSING

Das Aufkommen der ethnischen kosmetischen Chirurgie kann nicht von Rassevorstellungen in der Wissenschaft getrennt werden, die die allgemeine Vorstellungswelt während des ganzen 19. Jahrhundert durchzogen. Indem die westliche Wissenschaft soziale Ungleichheiten, die sich auf Geschlecht und ‚Rasse‘ gründeten, legitimierte, spielte sie eine fragwürdige historische Rolle.9 Der wissenschaftliche Diskurs über Rasse intensivierte sich und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ‚Rassenlehre‘ institutionalisiert. Dabei lieferte sie eine „series of lenses, through withich human variation was constructed, understood, and experienced“ (Stepan/Gilman 1993). Die Doktrin des ‚großen Kreislaufs des Lebens‘ (‚great chain of beeing‘) konstruierte rassische Gruppen als geschlossene und unveränderliche Entitäten, die hierarchisch geordnet wurden. An deren Spitze standen Gott und die weißen Europäer und an deren Ende Afrikaner und Orang-Utans. Auf diese Weise konnten die sozialen Ungleichheiten, die dem ungezügelten Sklavenhandel und der kolonialen Expansion entstammten, als unvermeidbare Konsequenzen einer ‚natürlichen Hierarchie‘ gerechtfertigt werden (Gould 1981, Stepan 1982, Harding 1993). Biologen und Anthropologen entwickelten komplexe rassische Taxonomien, die sich auf phänotypische Merkmale wie Form und Größe des Schädels (bei Männern) oder der Hüfte (bei Frauen) bezogen, auf die Form von Mund oder Nase, Hautfarbe und Haarstruktur.10 Diese anatomischen Merkmale wurden üblicherweise mit Charaktereigenschaften verknüpft. Zum Beispiel wurden Iren, (die zu der Zeit als Rasse betrachtet wurden), als Nachfahren des großohrigen Cro-Magnon Menschen betrachtet. Dabei wurde z.B. das Gesicht von ‚Bridget McBruiser‘ mit ihrer niedrigen Stirn, den weit auseinander stehenden Augen und ihrem liederlichen Auftreten in Physiognomie-Büchern mit Florence Nightingales ‚englischer‘ Schönheit und moralischer Größe kontrastiert (Gilman 1999; vlg. auch Stepan 1982).11 9

Seit der Zeit der Französischen Revolution mit ihrer Forderung nach Gleichheit hat die Wissenschaft immer wieder ‚Beweise‘ für die ‚natürliche‘ Ungleichheit von Männern und Frauen hervorgebracht. Vor dem 18. Jahrhundert war die Vorstellung über den menschlichen Körper von einem eingeschlechtlichen Modell (‚one sex model‘) geprägt: Die Frau wurde als ein ‚umgestülpter‘ Mann verstanden mit der Vagina als Penis, der Vulva als Vorhaut, dem Uterus als Hodensack und den Eierstöcken als Hoden (Laqueur 1990). Frauen wurden zwar als dem Mann unterlegen betrachtet, jedoch wurden sie erst im späten 18. Jahrhundert als körperlich radikal von Männern verschieden konstruiert. Diese Verschiebung des Denkens hin zum ‚two-sex-model‘ lieferte eine natürliche Basis für die Doktrin separater sozialer Sphären, durch die Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und dem häuslichen Bereich zugeordnet wurden. 10 Für hilfreiche Ausführungen darüber, wie ‚sex‘ und ‚race‘ in wissenschaftlichen Diskursen miteinander verbunden wurden vgl. Schiebinger (1993). 11 Bridget McBruiser ist der Fantasiename zur Stereotypisierung der irischen Einwanderin in den USA im 19. Jahrhundert, ähnlich wie gegenwärtig ‚Ali‘ in Deutschland für einen türkischen Mann oder Fritz für die Deutschen in Großbri47

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„If white Northern European features constituted the standard against which all other ,races‘ were measured, it was hardly surprising that individuals with features which marked them as ,other‘ than white or Northern European would want to hide visible clues which they saw as having unfavourable or stigmatic connotations.“ (Haiken 1997: 186)

Für Eingewanderte und Angehörige marginalisierter Gruppen schien das neu aufgekommene medizinische Spezialgebiet der kosmetischen Chirurgie eine Lösung anzubieten. Sie eröffnete den Weg zu sozialem Aufstieg und Assimilation in eine Kultur, die sie durch ihr Äußeres als ‚anders‘ und vor allem unterlegen definierte. Haiken zufolge ermöglichte es die kosmetische Chirurgie, ‚ethnisch anonym‘ zu werden. Gilman geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter, indem er kosmetische Chirurgie als eine Form des ‚passing‘ beschreibt: ‚Passing‘ bedeutet, dass ein Mensch eine neue Identität annimmt, um der Unterordnung und Unterdrückung, die die bisherige Identität begleitet, zu entkommen und den Status und die Privilegien der neuen Identität zu erlangen (Ginsberg 1996: 3). Auch wenn der Begriff des ‚passing‘ ebenfalls für Homosexuelle, die als Heterosexuelle ‚durchgehen‘ oder für Frauen, die als Männer ‚durchgehen‘, verwendet wird, so wird er doch überwiegend in Diskursen um rassische Differenz und das Erbe der Sklaverei artikuliert. In den USA, wo die Rassentrennung durch die ‚one-drop-rule‘ und Rassenmischungs-Gesetze rigide überwacht wurde, verließen viele hellhäutige Schwarze ihre Familien und Gemeinschaften und nahmen eine weiße Identität an. Obwohl Gilman seine Diskussion auf Nachkriegs-Deutschland bezieht, wo jüdische Menschen als nicht-jüdisch ‚durchgehen‘ wollten und deutsche Patienten/innen von ihrer ‚zu jüdischen‘ Physiognomie ‚geheilt‘ werden wollten, betrachtet er ‚surgical passing‘ als ein viel breiteres Phänomen. Seiner Ansicht nach ist der Wunsch, Differenz auszumerzen und dadurch zu einer privilegierten Gruppe zu gehören, nicht auf Menschen mit ‚ethnisch‘ markierten Merkmalen beschränkt. ‚Passing‘ ist für ihn die Hauptmotivation für jegliche Art kosmetischer Chirurgie, ob es nun um ethnisch markierte Merkmale geht oder um andere. So ermöglicht es ein Facelifting mittelalten Frauen, als jugendlich ‚durchzugehen‘ oder eine Brustvergrößerung hilft flachbrüstigen Frauen, als sexy ‚durchzugehen‘. Kurz: Kosmetische Chirurgie ist immer eine Form des ‚surgical passing‘.

tannien. Die Zeichnung, auf die sich Kathy Davis hier bezieht, lässt sich im Internet finden unter http://en.wikipedia.org/wiki/Stereotype (Anm. d. Hg.). 48

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Der chirurgische Diskurs: Von ‚Rasse‘ zur ‚ i n d i v i d u e l l e n O p t i m i e r u n g ‘ 12 Während Medizinhistoriker/innen wie Gilman und Haiken die historische Herausbildung dieser Art von kosmetischer Chirurgie mit ‚race‘-Fragen und der Praxis des ‚passing‘ verbinden, zögern gegenwärtige medizinische Texte, das Thema ‚race‘ anzugehen. Die meisten Chirurgen/innen behandeln kosmetische Chirurgie unter dem Thema Schönheit. Sie erklären den Wunsch ihrer Patienten/innen, ihren Körper zu verändern, zum Ausdruck des universellen menschlichen Verlangens nach einem gefälligen und attraktiven Äußeren. In einer Kultur, in der Selbstverbesserung schon beinahe ein moralischer Imperativ geworden ist, sei es nur normal und natürlich – besonders für Frauen – so gut wie möglich aussehen zu wollen.13 Im Jahr 1998 erschien ein überdimensionierter 412 Hochglanzseiten starker Bildband mit zahlreichen Farbfotos mit dem Titel: „Ethnic Considerations in Facial Aesthetic Surgery“. Die 29 Beiträger/innen – alle renommierte kosmetische Chirurgen/innen – betrachten psychologische, anatomische und kulturelle Aspekte kosmetischer Gesichtsoperationen für afroamerikanische, asiatische, lateinamerikanische, philippinische und polynesische und – in weitaus geringem Ausmaß – nordeuropäische Patienten/innen. Ein solcher Bildband war scheinbar aus verschiedenen Gründen notwendig: Laut Herausgeber W. Earle Matory Jr, selbst ein Pionier in diesem Feld, wurde die kosmetische Chirurgie bis heute von nordeuropäischen Schönheitsidealen beeinflusst. Dies sei zunehmend problematisch geworden, wenn man bedenkt, dass 35% der heutigen US-amerikanischen Bevölkerung nicht kaukasischer Herkunft sind. Daher seien Verfahren gefragt, die den speziellen Bedürfnissen dieser Gruppe Rechnung tragen. Aus dieser, seiner Perspektive ist kosmetische Chirurgie einfach eine Frage der Anpassung an die Gegebenheiten, d.h. der Anpassung vorhandener Technologien an eine wachsende Patientengruppe. Andere Autoren/innen verorten die ethnisch motivierte plastische Chirurgie im veränderten

12 Im Original verwendet Davis hier den Begriff des ‚enhancement‘. In der deutschsprachigen Debatte um Biotechnologien wird dieser Begriff entweder englischsprachig verwendet oder als ‚Verbesserung‘ oder ‚Optimierung‘ übersetzt. Gemeint sind Strategien der Steigerung, Verbesserung oder eben Optimierung körperlicher Fähigkeiten, die weit über das hinausgehen, was derzeit konsensuell als medizinisch-therapeutisch notwendig erachtet wird. Vgl. Ach/ Pollmann 2006: 10ff, sowie Degele, Maasen und Villa in diesem Band (Anm. d. Hg.). 13 Wie ich bereits an anderer Stelle aufzeigte (Davis 2003), gilt dieser Trend auch für Männer, die sich kosmetischen Operationen unterziehen. Das Bedürfnis von Männern, ihre Körper chirurgisch zu verändern, finden die behandelnden Chirurgen/innen allerdings nicht so normal, sie nehmen Männer nur zögerlich als Patienten an. 49

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politischen Klima. Dieser Argumentationslinie zufolge ist kosmetische Chirurgie ein neu gewonnenes ‚Recht‘ vormals ausgeschlossener Gruppen. Genau wie ‚people of color‘ Zugang zu höherer Bildung, gut bezahlten Jobs und Reihenhäusern in gepflegten Vororten haben, sollten sie eben auch an den Vorteilen der kosmetischen Chirurgie teilhaben können. Alle Autoren/innen betonen jedoch, dass kosmetische Chirurgie an ‚ethnischen Merkmalen‘ nicht darauf abzielt, Ethnizität auszulöschen. Vielmehr ginge es darum, die Schönheitsideale innerhalb jeder ethnischen Kategorie zu verwirklichen (Matory 1998: XIX). Patienten/innen, die ihren ethnischen Hintergrund ablehnten, seien ‚schlechte Kandidaten‘ für kosmetische Operationen. Der ‚passende‘ Patient/die ‚passende‘ Patientin der ethnischen kosmetischen Chirurgie sei vielmehr jemand mit einem „pragmatic desire to improve appearance“ (Gorney 1998: 5). Trotz dieses Beharrens darauf, dass jede Ethnizität ihre eigene Schönheit habe, sind die Autoren/innen zugleich sehr darum bemüht, einen ‚universellen Schönheitsstandard‘ zu finden, der jegliche Intervention in das Aussehen eines ‚ethnischen Patienten‘/einer ethnischen Patientin rechtfertigt. Zu diesem Zweck beziehen sie sich auf anthropometrische Maße wie die ‚Frankfurter Linie‘, den neoklassischen Kanon der Gesichtsproportionen und den ‚goldenen Schnitt‘ der Gesichtsproportionen als neutrale, nicht-ethnische Schönheitsstandards. Natürlich ist dieser Standard faktisch nicht anderes als das klassisch-griechische Modell. Vor diesem Modell werden die Gesichter von Männern und Frauen verschiedener ethnischer Gruppen analysiert; Gesichtszüge, die damit nicht übereinstimmen, werden als geeignete Objekte für chirurgische Eingriffe ausgewiesen. Obwohl dieser Schönheitsstandard eindeutig notwendig ist, um Verfahren für die Beseitigung ‚ethnischer Merkmale‘ zu entwickeln und zu rechtfertigen, leugnen Chirurgen/innen wiederholt und mit Vehemenz, dass das Ideal in irgendeiner Weise mit Weiß-Sein und westlicher Ethnizität verknüpft ist. Das entsprechende Ergebnis ist dann das Beste aus beidem: Ein Modell, dass den akzeptierten Schönheitsstandards einen Ausdruck gibt, der wiederum den jeweils spezifischen ethnischen Charakter bewahrt (vgl. Rohrich/Kenkel 1998: 96).

Schönheitspolitiken Schönheitsdefinitionen, die bestimmte Gruppen als weniger attraktiv ausweisen, werfen unweigerlich normative Fragen auf. Sie können nicht einfach als ‚launische‘ ästhetische Vorlieben oder als ‚Recht‘, besser auszusehen betrachtet werden. Vielmehr stützen sie sich auf breitere Systeme von Einstellungen und Handlungen, in denen bestimmte Gruppen von Menschen – Frauen oder ‚people of color‘ – abgewertet werden, während weiße Männer und Weiße privilegiert sind (Little 1998). In Gesellschaften, die von sozialen Ungleich50

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heiten geprägt sind, beinhaltet kosmetische Chirurgie bezogen auf benachteiligte Gruppen Ungerechtigkeit, daher ist sie in erster Linie eine politische und keine ästhetische Angelegenheit. Feministinnen haben diese politische Dimension von Schönheitsidealen und der Involviertheit von Frauen in Schönheitspraxen schon lange und immer wieder thematisiert (Davis 1991; Wolf 1991; Bordo 1993; Davis 1995). Sie argumentieren, dass Schönheit ein integraler Bestandteil von Weiblichkeitskonstruktionen in einer geschlechtlich kodierten sozialen Ordnung sei: Das weibliche Geschlecht werde als idealisierte Inkarnation der Schönheit imaginiert, während die empirischen Körper der meisten Frauen als minderwertig und der ständigen Verbesserung bedürftig verhandelt werden. Wurde die Schuld ursprünglich bei einem repressiven ‚Schönheitssystem‘ (Medien, Kosmetikindustrie, Normen) gesucht, beziehen sich Feministinnen zunehmend auf Foucault, um Schönheitspraxen innerhalb der disziplinierenden und normalisierenden Regimes westlicher Kulturen zu situieren.14 Die Beteiligung von Frauen an Praxen der Optimierung und Veränderung des Körpers sind demnach integraler Bestandteil der Produktion ‚gefügiger Körper‘ (Bartky 1990, Morgan 1991, Bordo 1993). Auch wenn sich die Theorierahmen darin unterscheiden, dass sie entweder Schönheit als repressives Konzept oder als normalisierenden Diskurs begreifen, so haben Feministinnen bislang einhellig kosmetische Chirurgie als besonders heimtückische Art der Disziplinierung des weiblichen Körpers abgelehnt, die Frauen im wörtlichen Sinne ‚zurechtstutzt‘. Obwohl sie durchaus zögern, einzelne Frauen anzuklagen, die kosmetische Chirurgie als Erlösung von ihren verhassten Körpern ansehen, haben Feministinnen dazu tendiert, solche Frauen als betrogene und manipulierte Opfer einer weiblichen Schönheitskultur zu betrachten. Da also kosmetische Chirurgie – schon fast per definitonem – ‚schlecht‘ für Frauen ist, ist es schwierig, Frauen, die sich eine operative ‚Verschönerung‘ wünschen, als Agentinnen ihrer Belange, die eine Handlungsoption ‚wählen‘, zu begreifen. Rassialisierte Schönheitsstandards provozieren ähnliche Reaktionen: Die ‚Black Power‘ Bewegung machte in den 1960er Jahren das (schöne) Aussehen unter dem bekannten Motto ‚Black is beautiful‘ zu einem politischen Thema. Rassistische (und zudem klassenspezifische) Schönheitsnormen, die Weiblichkeit mit lang wallenden Haaren, heller Haut und elfenhaften Gesichtszügen gleichsetzten, wurden als Teil eines ‚(Farb-)Kastensystems‘ kritisiert, welches historisch Frauen mit krausen Haaren und afrikanischen Gesichtszügen als ‚hässlich‘ und nicht begehrenswert definiert (Russel et al. 1992; hooks 1994; Mama 1995). Die negativen Auswirkungen dieser Abwertung waren und sind beträchtlich, von offener Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Schulsystem bis hin zu tiefem Selbsthass bei den ‚people of co14 Vgl. etwa die Beiträge von Pauly Morgan und Villa in diesem Band. 51

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lor‘. In diesem Zusammenhang waren in der Vergangenheit insbesondere die Popularität kontroverser Praxen wie Hautbleichung und Haarglättung Gegenstand feministischer Kritik (Banks 2000; hooks 1990, 1992, 1994, Mercer 1994, Rooks 1996).15 Während einige Kritiker/innen, wie bell hooks, das Verlangen nach heller Haut und langem glatten Haar eindeutig im Kontext einer ‚rassistischen Imagination‘ und eines ‚colonist black mind set‘ (hooks 1994: 179) situieren, nehmen andere eine nuanciertere Position ein. So erforscht Noliwe Rooks (1996) beispielsweise die Geschichte des Haare-Glättens und zeigt auf, wie sich diese Praxis sowohl aus dem Gedanken des ‚ethnischen/rassischen Aufstiegs‘ (‚racial uplift‘) wie auch aus ‚Selbsthass‘ in der schwarzen Community speist und wie sie sowohl für Frauen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs schuf wie auch Diskurse rassischer Minderwertigkeit bediente. In ihrer Studie über kosmetische Chirurgie zeigt Eugenia Kaw (1993, 1994), wie ‚Augenlidkorrekturen‘ unter asiatischen Amerikaner/innen mit rassistischen Schönheitsstandards einhergehen. Ihrer Ansicht nach haben solche Eingriffe eine andere Qualität als Faceliftings oder das Lippenaufspritzen für Anglo-Amerikaner/innen. Der Wunsch, ‚offenere‘ Augen oder ‚schärfer‘ konturierte Nasen zu haben, sei der Effekt rassistischer Ideologien, die etwa asiatische Gesichtszüge mit negativen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften wie Stumpfheit, Passivität oder Emotionslosigkeit assoziieren. Obwohl jede ihrer Interviewpartnerinnen erklärte, sie sei ‚stolz, asiatische Amerikanerin zu sein‘ und sie wolle nicht ‚weiß aussehen‘, konnte Kaw nicht umhin zu bemerken, dass der Schönheitsstandard, den sie bewunderten, große Augen mit doppeltem Augenlid und eine hervortretendere Nase beinhaltete – also ein kaukasisches Gesicht: „If the types of cosmetic surgery Asian Americans opt for were truly individual choices, one would expect to see a number of Asians who admire and desire eyes without a crease or a nose without a bridge.“ (Kaw 1993: 86)

Wenn eine asiatische Amerikanerin erklärt, sie wolle eine doppelte Lidfalte, weil ‚große Augen wacher aussehen‘ oder weil sie ‚ihre Position in der Geschäftswelt optimieren wolle‘ oder einfach, weil sie Augen-Make-up (‚wie andere Frauen auch‘) verwenden wolle, nimmt Kaw ihre Aussagen offensichtlich nicht ernst. Bei asiatischen Amerikaner/innen wird automatisch davon ausgegangen, dass ihr Wunsch nach einem kosmetischen Eingriff ‚rassisch‘ motiviert sei, sie also versuchen würden, ihre Ethnizität zu verbergen und ‚westlicher‘ auszusehen.

15 Vgl. Carroll (2000) und Taylor (2000) für eine Diskussion antirassistischer Schönheitsvorstellungen. 52

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„Because the features (eyes and nose) Asian Americans are most concerned about are conventional markers of their racial identity, a rejection of these markers entails, in some sense, a devaluation of not only oneself but also other Asian Americans. It requires having to imitate, if not admire, the characteristics of another group more culturally dominant than one’s own (i. e., Anglo Americans) in order that one can at least try to distinguish oneself from one’s group.“ (Kaw 1994: 254)

So wird kosmetische Chirurgie, wenn sie von ‚people of color‘ oder ethnisch Marginalisierten genutzt wird, eher in einen politischen Diskurs über ‚race‘ als über Schönheit eingeordnet. Ob sie nun im Narrativ des ‚racial passing‘ oder der kulturellen Assimilation positioniert werden: ‚Ethnischen‘ Minderheiten wird generell ein engerer diskursiver Raum zugestanden als Weißen, um ihre Entscheidung für kosmetische Chirurgie zu rechtfertigen. Auch wenn die Nutzer/innen dieser Art von Chirurgie behaupten – was sie häufig auch tun –, dass sie einfach besser aussehen wollen oder ihr Recht auf Selbstverbesserung ausüben wollen oder dass sie damit auf Begrenzungen reagieren, die identifizierbare ethnische Merkmale ihrem Leben und ihrer Karriere setzen, so werden sie trotzdem in erster Linie als Opfer rassistischer Normen gesehen (Haiken 1997: 213). Dadurch, dass sie ihre ‚rassisch‘ markierten Merkmale verändern, laufen sie darüber hinaus Gefahr, den Vorwurf zu ernten, ihr ethnisches Erbe zu verleugnen und so ihre ‚eigene‘ ethnische Gruppe in ihrem Versuch, eine selbst-ermächtigende, nicht-kaukasische Identität zu entwickeln, abzuwerten. Kurz: Sie werden zu ‚Verrätern ihrer Rasse‘ (vgl. Haiken 1997: 189). Nirgends ist die Tendenz, kosmetische Chirurgie als ‚rassisches‘ Problem zu betrachten, offensichtlicher als im Fall ihres berühmtesten Nutzers, Michael Jackson. Seine chirurgischen Abenteuer zwingen Weiße und ‚people of color‘ zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema ‚race‘ und konfrontiert sie mit den schmerzhaftesten und tiefgreifendsten Problemen der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft (Haiken 1997: 177). Daher bietet der ‚Fall Michael Jackson‘ einen guten Ausgangspunkt, um das Unbehagen, das ethnische kosmetische Chirurgie hervorruft, zu untersuchen. Vor allem aber überschreiten Michael Jacksons Operationen sowohl die Grenzen der Männlichkeit als auch der Heterosexualität und eröffnen so Möglichkeiten für eine Analyse multipler, intersektionaler Identitäten und der chirurgischen ReKonstruktion des Körpers.

Michael Jackson und die ‚Rassen‘-Frage Michael Jackson, selbst erklärter ‚King of Pop‘, ist einer der berühmtesten Entertainer in der amerikanischen Musikgeschichte. Seit seinen verheißungsvollen Anfängen als Kinderstar in THE JACKSON 5 entwickelte er sich zu einem der profiliertesten und talentiertesten Performer und Songwriter der 53

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1980er und 1990er Jahre. Sein Album THRILLER (1982) war die meistverkaufte Platte aller Zeiten. Michael Jacksons Bedeutung in der musikalischen Welt ist unumstritten, es ist sein bizarres Verhalten, das mediale Kontroversen auslöst: Die enge, auffällige Kleidung, mehr Maskara und Eyeliner als weibliche Filmstars, die dunklen Sonnenbrillen und der Mundschutz, hinter denen er sich verbirgt, die versiegelte und sargähnliche Kapsel, in der er schläft, um jung zu bleiben (und die ursprünglich für Brandopfer entwickelt wurde) und, last but not least, seine zahlreichen kosmetischen Operationen. Jackson unterzog sich mindestens vier Nasenoperationen und etlichen Nachbesserungsoperationen.16 Das Resultat ist eine fragile, spitze Nase, von der nicht mehr viel übrig ist, und die ihn wie ein Skelett wirken lässt. Seine Nase ist ein running gag unter plastischen Chirurgen beiderseits des Atlantiks (‚Gott sei Dank bin ich nicht der Chirurg von diesem Typen‘). Jackson ließ sich weiterhin ein Grübchen ins Kinn machen, hat Implantate in seinen Wangen, seine Unterlippe wurde verschmälert und sein Gesicht vermutlich mehrmals geliftet. Seiner gespenstischen Bleiche nach zu urteilen hat er umfangreichen Gebrauch von Bleichmitteln gemacht und benutzt dicke weiße Schminke. Der heutige Michael Jackson hat keine Ähnlichkeit mehr mit dem süßen dunkelhäutigen Kind aus den 1970ern mit seinen afrikanischen Gesichtszügen, seinen Flower-Power Hosen und dem riesigen Afro. Was sagt Michal Jackson selbst über seine dramatische Metamorphose? In seiner Biografie behauptete er, er sei nur daran interessiert ‚besser auszusehen‘. „It’s a matter of choice: I can afford it, I want it, so I’m going to have it“ sagt er (Taraborrelli 1991: 420). In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von zahllosen anderen berühmten Schönheitsoperationen-Junkies wie Cher, Dolly Parton oder Pamela Anderson. Jackson nutzt die Transformationen seiner Identität eindeutig als PR-Trick und integriert sie in seine Musik, Videoclips und sein Privatleben (vgl. Yuan 1996). Entscheidend ist, wie er sagt, dass das Publikum nicht weiß, wer er ist und so lange nachforscht, bis es dies herausfindet: „And the longer it takes to discover this, the more famous I will be“ (Taraborrelle 1991: 388). So gesehen, können Jackson’s Operationen als Hilfsmittel für das Show Business betrachtet werden – als Strategie, seine Musik besser zu verkaufen. Allerdings sind viele Beobachter/innen nicht davon überzeugt, dass es Jackson mit der chirurgischen Veränderung seines Gesichts lediglich um eine PR-Masche geht. Auf die Frage, ob er versuche, ‚weiß‘ zu werden, sind Jacksons Antworten üblicherweise wechselhaft. Er behauptet, stolz darauf zu sein, 16 Jackson bestreitet dies und spricht in Interviews davon, dass aus medizinischen gründen lediglich zwei Operationen an seiner Nase durchgeführt wurden. Es wird jedoch vermutet, dass dies nicht stimmen kann (vgl. dazu z.B. http:// abcnews.go.com/Health/Cosmetic/story?id=131910 vom 06.06.2008) (Anm. d. Hg.). 54

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schwarz zu sein und 1993 bezeichnete er sich selbst in einem Fernsehinterview mit Oprah Winfrey gar als ‚slave to rythm‘. Zugleich behauptet er, eine Pigmentstörung zu haben und nur deshalb weißes Make-up zu tragen. Kritiker/innen blieben skeptisch und behaupten, er wolle nur seine Hautbleichungen verheimlichen, wie es die meisten Patienten/innen tun. Jedoch kann man Michael Jackson kaum vorwerfen, er versuche als ‚Weißer‘ ‚durchzugehen‘. Er scheint sich von seinen Ursprüngen nicht lossagen zu wollen, denn die Geschichte seiner Gesichtstransformationen kann jede/r, die/der über einen Internetzugang verfügt, nachverfolgen. Vielleicht ist die treffendste Lesart von Jackson’s Ansichten über ,race‘ in seinem Song ,Black or White‘ zu finden: ,I am tired of this stuff. […] I’m not going to spend my life being a color‘.17 Was immer Jackson ‚in Wahrheit‘ über ‚race‘ denken mag – und ich bezweifle, dass wir das jemals herausfinden – sein neues Image lässt sich auch anders als als ‚race change‘ interpretieren: So scheinen z.B. seine Operationen mindestens ebenso sehr auf ein weibliches, asexuelles oder jugendliches Erscheinen abzuzielen wie darauf, ‚weiß‘ zu werden. Tatsächlich hat Jackson oft verkündet, er würde am liebsten wie Diana Ross aussehen. Zu diesem Zwecke machte er sich ein hohes, gestöhntes Flüstern zu Eigen und Gerüchten zufolge erwägt er eine chirurgische Geschlechtsumwandlung.18 Aus diesem Blickwinkel erinnern Jacksons Experimente mit Androgynität und sexueller Ambiguität an die spielerischen sexuellen Grenzüberschreitungen von weißen männlichen Ikonen der Popkultur wie David Bowie, Mick Jaggar und Boy George (Mercer 1994: 50). Sein ätherisches, beinahe totenähnliches Gebaren wirft die Frage auf, ob er vielleicht die materielle Körperlichkeit an sich transzendieren will und ob, so gesehen, seine chirurgischen Eskapaden nicht am ehesten mit denen der Performance-Künstlerin Orlan vergleichbar sind.19 Angesichts der vielen Möglichkeiten Jacksons chirurgische Abenteuer zu interpretieren, ist es schon bemerkenswert, dass die Veränderung seiner ‚rassisch‘ markierten Merkmale die weitaus größte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie im wissenschaftlichen Diskurs erfuhr. Michael Awkward (1995) gibt einen guten Überblick über die Debatte und zeigt die vorrangige Beschäftigung mit diesem Aspekt systematisch auf, auch wenn er sie nicht erklärt: Auf der einen Seite haben sich Kritiker/innen häufig mit Jacksons Motivation und den möglichen Konsequenzen seiner Operationen beschäftigt. 17 Michael Jackson, ‚Black or White‘, Dangerous (Epic Records). 18 Dies wurde in der Boulevardpresse so behauptet (vgl. z.B. http://www.short news.de/start.cfm?id=152345 vom 06.06.2008) (Anm. d. Hg.). 19 Orlan ist eine französische Künstlerin, die ihr Gesicht vor laufender Kamera chirurgisch verändern ließ. Mit ihren Performances möchte sie Vorstellungen von natürlichen Körpern und fest umgrenzten Identitäten dekonstruieren. Ihrer Ansicht nach ist der Körper – dank moderner Technologien – wenig mehr als ein Mittel, seine sich ständig verändernden Wünsche und Gelüste auszudrücken. Vgl. hierzu auch Davis (1997). 55

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Sie betrachten seine gebleichte Haut und seine entstellten afrikanischen Gesichtszüge als widernatürlich; als einen unnatürlichen Akt, mit dem er seine eigentliche Identität verleugne. Andere verstehen Jacksons Operationen als eine Spiegelung rassistischer Schönheitsideale, die seine Hörigkeit gegenüber eurozentrischen Schönheitsdefinitionen ausdrücke. Seine Operationen seien folglich ein „morbid symptom of a psychologically mutilated black conciousness“, das den tief greifenden Selbsthass unter Schwarzen repräsentiere, wie er schon von der ‚Black-Power‘-Bewegung kritisiert wurde (Awkward 1995: 177). Schärfer formulieren wiederum anderer Kritiker: Jacksons Gesicht sei lediglich Produkt seines egoistischen Bestrebens, berühmt zu werden, indem er ‚weiß‘ wird – „[a] singular infamy in the annals of tomming“20 (Tate 1992) – nicht weniger als ein „deracialized sell-out“ (ebd.). Auf der anderen Seite haben Kritiker/innen mit einer eher poststrukturalistischen Perspektive formuliert, dass Jackson besser als ‚exemplarischer postmoderner Akteur‘ gefasst werden könne, der seine eigene Körperoberfläche als Text benutzt, in dem er seine Identität ständig re-artikuliert und transformiert. Seine chirurgischen Kunststücke sind demnach kein Akt des ‚Verrats an der Rasse‘, sondern eine Transgression rassischer Grenzziehungen überhaupt. Trotz der historischen Assoziationen mit Rassismus und ‚passing‘, die seine Operationen evozieren, haben sie auch eine befreiende Wirkung: Jacksons Gesicht sei ein sichtbarer Angriff auf jedwede Postulierung absoluter körperlicher Differenzen; „[a] crack(ing) open any monolithic notion one might have about the coherent racial self“ (Gubar 1997: 249). Indem er Rassenkategorien transzendiert, zeigt Jackson auf denkbar körperliche Weise, dass ‚race‘ wirklich keine Bedeutung hat. Awkward (1995) zufolge können es Jacksons Kritiker/innen nicht vermeiden, sich in der Gegenüberstellung eines einerseits essentialistischen und eines konstruktivistischen Begriffs von ‚race‘ andererseits zu verfangen. Der ersten Gruppe der Kritiker/innen kann man vorwerfen, ‚race‘ als natürliche und essentialistische Kategorie zu fassen, während die zweite Gruppe zu wenig Aufmerksamkeit auf die historischen und ideologischen Kontexte richtet, die noch den radikalsten bzw. utopischsten Transgressionen von ‚race‘ zugrunde liegen. Auch wenn ich Awkwards Schlussfolgerung zustimme, so beantwortet sie doch nicht die Frage, warum Jacksons körperliche Transformationen dem Thema ‚race‘ verhaftet bleiben. Ob Jackson nun als ‚race traitor‘

20 Anmerkung der Übersetzerin: Der Begriff ‚tomming‘ wurde von Aktivisten der ‚Black-Power‘-Bewegung geprägt und bezieht sich auf Harriet Beecher Stowes Roman ‚Uncle Tom’s Cabin‘. Ein ‚Uncle Tom‘ ist in dieser Definition jemand, der die Interessen seiner ethnischen Gruppe verkauft, um die weißen Herrschenden zu hofieren. 56

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oder ‚race bender‘21 angesehen wird, seine kosmetischen Operationen können offenbar nicht anders als im Kontext von ‚race‘ und als durch ‚race‘ motiviert betrachtet werden, d.h. als ein Versuch, seine ethnische bzw. ‚race‘-Identität zu verleugnen, auszulöschen oder zu transzendieren. Diese Überzeugung sieht über Jacksons eigene Erklärung seiner Motive hinweg. Sie überdeckt auch andere absolut plausible Interpretationen seiner Handlungsweisen, z.B. als PR-Masche, als Versuch, seine weibliche Seite zu entwickeln oder gar als mutiger Versuch, der Materialität des Körpers als solcher zu entkommen. Michael Jackson konfrontiert sein Publikum – unabhängig von Hautfarbe und politischer Überzeugung der Einzelnen – mit dem Thema ‚race‘ (Haiken 1997). Während eine weiße Person frei mit ihrem Äußeren experimentieren kann – und dies auch beinhaltet, sich den chirurgischen Schnitt zu gönnen – nimmt das gleiche Experiment scheinbar eine andere Bedeutung an, wenn es von ‚people of color‘ oder ethnisch Marginalisierten unternommen wird.

Kosmetische Chirurgie und die Ethik der Differenz Zu Beginn dieses Aufsatzes stellte ich die Frage, inwiefern sich ethnische kosmetische Chirurgie von anderen Formen kosmetischer Chirurgie unterscheidet und, spezieller, warum kosmetische Chirurgie zur Beseitigung von Markern von ‚race‘ oder Ethnizität so viel ‚schlimmer‘ erscheint als kosmetische Chirurgie mit dem Ziel, ein weibliches oder jugendliches Äußeres zu erlangen. Ein kurzer Streifzug durch kulturelle und medizinische Perspektiven auf ethnische kosmetische Chirurgie in Vergangenheit und Gegenwart sowie die Debatten über die politischen Implikationen dieser Art von Chirurgie zeigen, dass – während für beide Arten von kosmetischer Chirurgie ähnliche Argumente ins Feld geführt werden können – sich die Diskurse, in die sie jeweils gerahmt sind, unterscheiden. Bei kosmetischer Chirurgie für ‚people of color‘ oder ethnisch Marginalisierte geht es um ‚race‘, wohingegen es bei kosmetischer Chirurgie für weiße Angloamerikaner/innen um Schönheit geht. Wenn ich auf die Position, die ich in „Reshaping the Female Body“ eingenommen habe, zurückkomme, sehe ich keinen Grund, warum ich in Bezug auf ethnische kosmetische Chirurgie eine andere theoretische Perspektive wählen sollte als in Bezug auf kosmetische Chirurgie mit dem Ziel einer ‚verbesserten Weiblichkeit‘ oder der Beseitigung von Zeichen des Alterns. Kosmetische Chirurgie ist ein Eingriff in die Identität einer Person – als Antwort auf ein Leiden, das dadurch verursacht ist, einen Körper zu haben, der als zu ‚anders‘ oder ‚abnorm‘ erfahren wird, um sozial toleriert zu werden. Sie ausschließlich innerhalb der Terminologie der Schönheit zu betrachten wird we-

21 Anmerkung der Übersetzerin:‚Race bender‘: Jemand, der die Kategorie ‚race‘ aufbiegt und damit ihre Eindeutigkeit und Geschlossenheit in Frage stellt. 57

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der der Ernsthaftigkeit dieses Leidens gerecht noch den moralischen Implikationen von kosmetischer Chirurgie als einer unvollkommenen, jedoch in einigen Fällen vertretbaren Möglichkeit der Linderung dieses Leidens. Mir erscheint es richtig, diese Perspektive im Prinzip auf alle Personen, die sich kosmetischer Chirurgie unterziehen, gleichermaßen anzuwenden. Mit anderen Worten: Alle, die sich kosmetischen Operationen unterziehen, sollten als Personen betrachtet werden, die ihre Identitäten in Kontexten, in denen körperliche Unterschiede unerträgliches Leiden nach sich ziehen können, verhandeln. Während der Kontext, der solches Leiden hervorbringt, eine kritische Betrachtung verdient (darauf werde ich gleich zurückkommen), sehe ich keinen prinzipiellen Grund dafür, dass afroamerikanische Personen, die eine Nasenoperation vornehmen lassen, weniger als Opfer kultureller Schönheitsideale (und eher als Verräter ihrer ethnischen Zugehörigkeit) betrachtet werden als eine weiße angloamerikanische Frau mit vergrößerten Brüsten oder einem Facelifting. Wenn ich jedoch argumentiere, dass kosmetische Chirurgie am besten als Intervention in die Identität gefasst werden kann – und zwar in Bezug auf alle, unabhängig von gender und ‚race‘/Ethnizität – impliziert dies nicht, dass alle kosmetischen Operationen die gleiche Bedeutung haben. Identitäten werden in spezifischen historischen und sozialen Kontexten verhandelt, in denen kulturelle Konstruktionen von ‚race‘, Ethnizität, gender, Sexualität, Alter und Nationalität die individuelle Wahrnehmung des eigenen Körpers formen und vorgeben, welche Praxen der Veränderung des Körpers wünschenswert, akzeptabel oder angemessen sind. Die kosmetischen Eingriffe, die an den verschiedenen Gruppen vorgenommen wurden und werden, haben ihre je eigenen Geschichte, die auch davon handelt, wie Menschen ausgeschlossen und als unterlegen konstruiert wurden. Zum Beispiel unterscheidet sich die Geschichte der ‚jüdischen Nasenoperation‘ von der Geschichte der Augenlidkorrektur für Asiaten/innen oder der Lippenoperation für Afroamerikaner/innen. Die operativen Veränderungen von Jacques Josef an ‚assimilierten‘ Juden/innen im Kontext des europäischen Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben eine andere Bedeutung als die verbreiteten Nasenoperationen an jüdischen Teenagern in den frühen 1960er Jahren in den USA unter dem Slogan: ‚You had your bat mitzvah and you got your nose done.‘ Ganz ähnlich verhält es sich gegenwärtig im Iran, wo eine große Zahl wohlhabender junger Frauen sich jedes Jahr die Nase ‚machen‘ lässt, und zwar mit der Behauptung, sie wollen ‚einfach besser aussehen‘. Solche Operationen sind sicher klassengebunden; etwas, das jungen Frauen mit einem bestimmten sozialen Hintergrund vorbehalten ist. Wenn jedoch Privatkliniken in den USA eine wachsende Gemeinschaft von Exil-Iraner/innen mit solchen Nasenoperationen versorgen, fällt dies unter die Rubrik ‚ethnische kosmetische Chirurgie‘ (‚the Middle Eastern nose‘). Ein Verständnis von kosmetischer Chirurgie, 58

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das ihren Kontext berücksichtigt, würde ganz offensichtlich erfordern, dass die komplizierten und widersprüchlichen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Kategorien der Differenz (‚race‘, class, gender, Sexualität, Alter, Behinderung etc.) und ihre Bedeutungen in verschiedenen historischen Perioden und an spezifischen sozialen Standorten anerkannt und entwirrt werden. Eine Kritik der kosmetischen Chirurgie und – allgemeiner – an Körperpolitiken kann nicht entweder auf gender oder ‚race‘ reduziert werden. Eine ausschließliche Fokussierung auf gender wäre inadäquat, um zu verstehen, warum die Praxis der kosmetischen Chirurgie bislang ein vornehmlich weißes, westliches Unterfangen war. Ebenso wenig kann eine ausschließliche Fokussierung auf ‚race‘ oder Ethnizität erklären, warum die meisten Operationen ‚jüdischer Nasen‘ oder ‚orientalischer Augenlider‘ an Frauen durchgeführt werden. Überdies sind weiße Frauen mit ihren scheinbar ‚unmarkierten‘ Identitäten sehr wohl an spezifisch ethnisierten und rassischen Praxen beteiligt, indem sie durch kosmetische Chirurgie an der privilegierten und repressiven Mentalität nordeuropäischer weiblicher Schönheitsideale teilhaben. Die Auseinandersetzung mit Praxen der Verkörperung erfordert eine Beschäftigung mit der Schnittstelle zwischen den Erfahrungen, die eine Person mit ihrem Körper macht einerseits und den kulturellen Bedeutungen, die dem Körper und den spezifischen Körperpraxen zukommen andererseits. Es sind genau diese Schnittstellen, die den Ausgangspunkt für eine kontextualisierte Analyse von kosmetischer Chirurgie als einem kulturellen Phänomen bilden. In diesem Sinne gehören Analysen von Verkörperungspraxen und der kosmetischen Chirurgie als einer Intervention in die verkörperte Identität in eben jenen intersektionalen Rahmen, den ich zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnte. Nirgends ist dies offensichtlicher als im Falle Michael Jacksons. Seine chirurgischen Abenteuer sind sowohl von Grenzziehungen durch ‚race‘, gender, Alter und Sexualität geprägt, gleichzeitig überschreiten sie diese. Jacksons Operationen demonstrieren, wie fadenscheinig Differenz-Kategorien wie ‚race‘ sind und zwingen sein Publikum, ihn als Individuum wahrzunehmen, das das Bild seines Körpers vollständig kontrollieren kann. Das Bild, das er erzeugt, ist eine neue Kategorie, fesselnd und flüchtig durch ihre multiplen Transgressionen von Männlichkeit und Heterosexualität. Gleichzeitig ruft Jacksons Gesicht Unbehagen hervor. Es erinnert schmerzlich an das Vermächtnis der Sklaverei und an den allgegenwärtigen Rassismus in den USA. In diesem Kontext war und bleibt das ‚race-passing‘ alles andere als eine frivole spielerische Praxis. Ein jüngeres Bild im Internet spricht Bände über die Unfähigkeit, Michael Jackson losgelöst von seinem historischen Erbe und seiner Herkunft zu betrachten. Es zeigt, wie Jackson in weißem Satin-Smoking mit viel Make-up und offenem Haar seine Auszeichnung von der Rock’n Roll Hall of Fame entgegennimmt. Dem Foto entgegengesetzt ist ein Filmstill aus dem Film 59

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PLANET DER AFFEN (2001), das eine der Führungsfiguren unter den Affen (gespielt von Helena Bonham-Carter) in Affenkostümierung in einem glitzernden Disco-Outfit zeigt. Die Ähnlichkeit zwischen den Bildern ist nicht zu verkennen: Ihre Gesichter und Posen sind ähnlich, ebenso ihr Haar, und sie sind auf ähnliche Weise gekleidet. Für sich genommen ist das Foto von Jackson eine Momentaufnahme seines Ruhmes: Der ‚King of Pop‘ ist ‚angekommen‘. Zusammen mit dem Foto von Bonham-Carter nimmt das Bild jedoch eine andere Bedeutung an: Egal, wie weit er es bringt und wie groß sein Erfolg sein mag, Jackson kann niemals seiner (primitiven) Herkunft entkommen.22 Die ‚natürliche Ordnung‘, die die Primaten und Afrikaner/innen am unteren Ende der Hierarchie ansiedelt, ist nicht zusammen mit den ‚Rassenlehren‘ verschwunden, sondern prägt offenbar weiterhin die allgemeine Vorstellungswelt.

Schlussfolgerung Ein letztes Wort sei über das relative Unbehagen gesagt, das ethnische kosmetische Chirurgie hervorruft. Kosmetische Chirurgie hat nicht nur je unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten. Wie wir gesehen haben, evoziert sie auch unterschiedliche Emotionen und moralische Einschätzungen. Die lange Geschichte der Medikalisierung des (weißen) weiblichen Körpers und die Normalisierung des weiblichen Körpers durch das kulturelle Diktat eines weiblichen Schönheitsregimes haben die kosmetische Chirurgie für weiße westliche Frauen nicht nur salonfähig, sondern geradezu zur Routine gemacht. Es ist inzwischen wohl kaum eine Sensation oder gar ein Skandal (außer für feministische Kritiker/innen), dass jedes Jahr Millionen von Frauen ihre Brüste vergrößern oder sich die Falten glätten lassen.23 Im Gegensatz dazu ruft ‚ethnische‘ kosmetische Chirurgie – zumindest in einigen ihrer Formen und an manchen Orten – immer 22 In dieser Gegenüberstellung verändert sich auf die Bedeutung der Figur, die Helena Bonham-Carter spielt. Im Film ist sie eine Äffin, die in einer Welt, in der Affen die Menschen beherrschen und Menschen versklavt und ausgerottet werden, Sympathie und Mitgefühl mit den Menschen empfindet. Der Film hebt die Ähnlichkeit von Menschen und Affen hervor und versieht die Affen mit allen – guten und schlechten – Attributen, die normalerweise für Menschen gelten. Während im Film die Figur von Bonham-Carter Sympathieträgerin ist, weil sie – unter ihr Make-up – auf ihre menschlichen Gedanken und Emotionen blicken lässt, wird sie durch die Gegenüberstellung mit Jacksons Bild ‚nur ein Affe‘. Ihr Bild rassialisiert Jackson und sein Bild ‚entmenschlicht‘ sie und verweist sie wieder ganz eindeutig in die Welt der Tiere. 23 Einige Feministinnen argumentieren sogar, dass Männer derzeit die Hauptzielgruppe des Schönheits-Systems seien und daher ganz besonders des Mitleids und der kritischen Analyse bedürften. Vgl. hierzu Gulette (1994) und für eine kritische Replik Davis (2002). 60

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noch massives Unbehagen hervor. Sie weckt unangenehme Erinnerungen an die lange und bestürzende Geschichte von Sklaverei, Kolonialismus und Genozid. Jacksons Gesicht demonstriert unmissverständlich, dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es ignoriert. Die ‚one drop rule‘ und die dahinter stehende Angst vor einer Vermischung der ‚Rassen‘ ist kein Relikt des 19. Jahrhunderts, sondern auch heute in den Ängsten weißer US-Amerikaner/innen virulent. Jede Person mit weißer Hautfarbe, die eine Verwandtschaft mit afrikanischen Vorfahren eingesteht, wie entfernt diese auch sein mag, muss implizit anerkennen, dass sie schwarz ist – ein Identität, die keine weiße Person in den USA freiwillig annimmt angesichts des Rechts-, Status- und Machtverlustes, den ein solches Eingeständnis mit sich bringt. Und doch haben heute die meisten Amerikaner/innen, die als ‚weiß‘ gelten, nach der ‚one drop rule‘ einen bedeutenden Anteil afrikanischer Vorfahren. Die Angst, dass dies offen gelegt wird und sie den Sündenbock nun wieder in sich selbst suchen müssen, der gemeinhin ‚außerhalb‘ situiert wird und durch den sie ihren eigenen Minderwertigkeitsgefühlen zu entkommen suchten, das ist vielleicht das beschämendste Geheimnis des weißen Amerika (vgl. hierzu Piper 1996: 256). Ethnische kosmetische Chirurgie evoziert Ambivalenz. Als eine Form von ‚surgical passing‘ kann sie als Symptom eines internalisierten Rassismus verstanden werden oder als verräterische Komplizenschaft mit repressiven Normen in Bezug auf das körperliche Aussehen. Sie kann jedoch nicht auf eine schlichte Zurückweisung schwarzer oder ethnischer Identitäten reduziert werden. Das Gefühl der Ungerechtigkeit angesichts der Erkenntnis einer Person, was ihr alles aufgrund von körperlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Haarbeschaffenheit oder Nasenform verwehrt wird, kann so überwältigend sein, dass sich eine Nasenoperation oder eine Augenlidkorrektur wie ein widerständiger Akt anfühlen mag – eine Möglichkeit, das System herauszufordern und die Anerkennung bzw. Chancen zu erlangen, von denen die Person weiß, dass sie sie verdient. Adrian Piper bringt es auf den Punkt, wenn sie feststellt, dass es bei ‚passing‘ weniger um eine Zurückweisung des Schwarz-Seins (oder einer anderen ‚markierten‘ Identität) geht als vielmehr um die Zurückweisung einer Identifikation mit Schwarz-Sein, die zu viel Schmerz mit sich bringt, als dass sie ausgehalten werden könne (1996: 244f.).24 Ethnische kosmetische Chirurgie ist insofern eine kontroverse Praxis, als sie die Frage berührt, wie die Konstruktion von ‚race‘ anhand des Körpers mit rassistischen Praxen der Exklusion und der Einpflanzung von Minderwertigkeitsgefühlen verbunden ist. Sie verweist auf die unbequeme Tatsache, dass in vordergründig demokrati-

24 Das Verlangen danach ‚ethnisch unsichtbar‘ zu werden ist hier ähnlich wie der Wunsch, ‚normal‘, ‚wie jeder und jede andere‘ zu sein, den meine Interviewpartner/innen in „Reshaping the Female Body“ (1995) äußerten. 61

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schen Gesellschaften Menschen noch immer als ‚anders‘ definiert werden und daher gezwungen sind, Wege zu finden, ihre ‚Andersartigkeit‘ zu verstecken und unsichtbar zu werden, um ihre Lebenschancen zu verbessern. In einer Zeit, in der umfangreiche Migrationsbewegungen das Gesicht vieler europäischer Länder verändern und ‚race‘ und Rassismus die dringendsten Probleme der US-amerikanischen Gesellschaft sind, sollte ‚ethnische kosmetische Chirurgie‘ jedem, der auch nur oberflächlich an der Beseitigung von Ungerechtigkeiten interessiert ist, Unbehangen bereiten. Und das ist auch gut so. Jedoch geht es angesichts der enormen Verbreitung von Technologien, mit denen alle möglichen Differenzen beseitigt werden können, nicht nur um unser Mitgefühl, unsere Sorge oder Betroffenheit. Unser Unvermögen, mitzufühlen, unser Desinteresse und unsere Taubheit gegenüber den Individuen und Gruppen, die sich ‚unters Messer legen‘ sollte wohl gleichermaßen Gegenstand unserer Kritik sein.

Aus dem Englischen von Johanna Tönsing.

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Normale Exklusivitäten – Schönheitshandeln, Schmerznormalisieren, Körper inszenieren NINA DEGELE

1 . E i n l e i t u n g : Au t o n o m i e i m p e r a t i v , s o z i a l e Positionierungen und normale Exklusivitäten Wer auf Stöckelschuhen über Kopfsteinpflaster balanciert, nimmt lädierte Füße in Kauf; wer sich nach einem 12- oder 14-stündigen Triathlonwettbewerb am Ziel kaum noch bewegen kann, auch. In beiden Fällen inszenieren sich Menschen über ihre Körper. In beiden Fällen mögen sie überzeugt sein, in ihrem Tun eine eigenständige Entscheidung getroffen zu haben. Und in beiden Fällen gibt es Registrierende, Zuschauende, Goutierende, Verachtende oder Gleichgültige als Teil solcher Inszenierungen. Körper(lichkeit), Autonomie(anspruch) und (beabsichtigte) Anerkennung schaffen dabei ein Gemengelage von Exklusivität, Alltäglichem, Besonderem und Normalem, nicht nur bei stöckelnden Frauen und humpelnden Triathlon-Finisher/innen. So will ich im Folgenden normalen Exklusivitäten anhand zweier ganz alltäglicher Phänomene auf die Spur kommen, nämlich des alltäglichen Sich-schönMachens und des Umgangs mit Schmerz. Dort positionieren sich Akteure sozial – im Spannungsfeld der beiden Wünsche, exklusiv und normal zu sein1. Sich-schön-Machen und der Umgang mit Schmerz eignen sich aus drei Gründen, Praxen sozialer Positionierung zu erläutern und zu bebildern.

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Mit diesen Überlegungen verdanke ich Georg Simmel (1992) eine Menge. Er beschrieb vor mehr als einem Jahrhundert den Antagonismus zwischen den Prinzipien der Nachahmung (als Tendenz zum Allgemeinen und Gleichartigen) und des Besonderen und Einzigartigen. Diese Spannung führte er am Beispiel der Mode als einer Lebensform vor, die zwischen sozialer Egalisierung und individuellen Unterschieden einen Kompromiss herstellt. 67

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1) Konvergenz Die beiden Phänomene des Sich-schön-Machens und des Umgangs mit Schmerz sind oftmals gar nicht zu trennen, sie konvergieren empirisch: ‚Wer schön sein will, muss leiden‘, und Schönheitsoperationen tragen dies vermutlich am plakativsten zur Schau. Gemeinsam ist diesen beiden Phänomenen die Eindeutigkeit in der Bewertung: Denn Schön(sein) ist erstrebenswert,2 die Fortschritte in der Medizin dagegen haben Schmerz in der heutigen Wahrnehmung zu etwas Sinnlosem gemacht, das die Bewegungsfähigkeit einschränkt und/oder Unbehagen auslöst. Das ist ambivalent: Einerseits lässt das Wissen um die Möglichkeit der medikamentösen Behandlung des Schmerzes die Bereitschaft des Ertragens sinken (Le Breton 2003: 183-197). Andererseits sind an diese Stelle neue Mythen der Authentizität, Stärke und Natürlichkeit und von Heldentum getreten (Azoulay 2000: 36-49). Das kann man als Erbe des Protestantismus interpretieren: Zähne zusammenbeißen, durchhalten3. 2) Autonomieimperativ Die beiden Phänomene wurzeln im Autonomieimperativ als einem Produkt der Aufklärung: Die Auffassung, dass es überhaupt so etwas wie eigenständige und autonome Individuen (und damit etwas ‚Unteilbares‘ wie Individualität) gebe, ist eine moderne Erfindung. Sie beruht auf einem Kernglauben der Aufklärung, der Mensch sei für sein Leben selbst verantwortlich und habe dieses in die eigenen Hände zu nehmen und zu gestalten. Mit der Aufklärung kam es zum Bruch zwischen einer kollektiven Moral und (individuellem) Glück, und genau damit war das Ideal der Autonomie geboren (Gilman 1998: 27f). Diese Verlagerung der Verantwortung weg von Gott und Schicksal hin zum Individuum selbst war – das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – nicht nur eine kognitive. Sie betraf auch Seele und Körper, Befindlichkeit und den Eindruck, den man aufgrund seines/ihres Äußeren vermittelt. Dem modernen Fortschrittsglauben zufolge sind deshalb Veränderung und Verbesserung untrennbar miteinander verknüpft: „Die Vorstellung, ich kann mich verbessern, ist Teil unserer Definition des Modernen“ (Gilman 2003: 67). Mehr noch: Die Moderne setzt Schönheit, Glück und Gesundheit gleich, und entsprechend sind Maßnahmen der positiven Aufladung von Körperlichkeit 2

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Empirischen Untersuchungen zufolge haben schöne Menschen mehr Erfolg in der Liebe, im Beruf und im Leben überhaupt. Denn die Schönen wirken sympathischer, ziehen an und in Bann. Schöne Menschen haben größere Chancen bei der Partnerwahl/innenwahl, größere Aufstiegschancen im Job und verdienen mehr. Schönheit befähigt zu sozialer Macht, dient ihrer Inszenierung und verkörpert Status (Koppetsch 2000; Posch 1999: 181-184). Das katholische Pendant würde die Hoffung auf das Jenseits, auf einen erlösten und schmerzfreien Zustand richten – zum irdischen Leben gehöre Schmerz einfach dazu.

NORMALE EXKLUSIVITÄTEN

und der Vermeidung von negativen Begleiterscheinungen wie Krankheit und Schmerz Zeichen für der Autonomie und Handlungsmacht. 3) Soziale Positionierung Sich-schön-Machen und der Umgang mit Schmerz sind getränkt mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität und Abweichungen, die auf den soziologisch unbewaffneten Blick gar nicht als gesellschaftlich erscheinen. Denn schließlich finden sie auf und in dem individuell besessenen Körper statt. Vermeintlich Individuelles wie Körperpraxen, -wahrnehmungen, -empfindungen und -inszenierungen – das ist die zentrale These dieses Beitrags – sind aber soziale Phänomene, durch die und mit denen sich Akteure sozial positionieren. Dies gilt, auch und gerade wenn sie verkörpert sind. Bevor ich in den folgenden Abschnitten auf die Zuspitzung dieser beiden Phänomen auf Schönheitshandeln (2) und Schmerznormalisieren (3) zu sprechen komme, um dies in Überlegungen zu einem neuen, körperlichen Geist des Kapitalismus einzubetten (4), einige Bemerkungen zur Methode: Um vermeintlich Vorsoziales wie Körpergebundenes, Privates und Individuelles als Ideologien („schön mache ich mich für mich“, „Schmerz ist was ganz Individuelles“) aufzubrechen, ist ein Verfahren erforderlich, das tiefliegende (und oftmals gut gehütete) Überzeugungen und Orientierungsmuster explizit macht. Handelt es sich dabei um gruppen- und milieuspezifische Orientierungen, bietet sich zu deren Rekonstruktion das Verfahren der Gruppendiskussion an (vgl. Bohnsack 2000). Bei dieser Methode entfalten und entwickeln natürliche Gruppen, d.h. Gruppen, deren Mitglieder sich kennen und einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund haben, ein Thema entsprechend ihres eigenen Sinnhorizonts. Zur Frage“Was bedeutet es für Euch/Sie, sich schön zu machen?“ waren das einunddreißig Gruppen mit 160 Diskutanten/innen (Degele 2004). Die Gruppen unterschieden sich hinsichtlich ihrer ‚Themen‘ (politische Gruppen, Sportgruppen zu Volleyball, Aerobic, Tae Bo, Bodybuilding und Tanz; Essgestörte, Fotomodelle, Burschenschafter, Rentner/innen, SM-Praktizierende, Mitglieder eines Herrenclubs, Sänger eines katholischen Kirchenchors, muslimische Frauen, Kindertagesstätte, Freundeskreise und Stammtische), dann aber auch in Bezug auf Geschlecht (Frauen, Männer, Transgender), sexuelle Orientierung (hetero-, homo-, bisexuell), Alter (6-76) und soziale Lage (Arbeitslose, Auszubildende, Studierende, Arbeiter/innen, Angestellte, Beamte, Selbständige). Zur Frage „Was bedeutet für Sie/Euch Schmerz?“ haben bislang 26 Gruppen mit insgesamt 166 Personen aus unterschiedlichen Zusammenhängen (z.B. Selbsthilfegruppen von meist chronisch Kranken, mit Schmerz befasste Professionelle aus dem medizinischen Kontext, transsexuelle Männer, eine Bluesband, Mütter nach der Geburtserfahrung, Hebammen, Sport- und SM-Gruppen) diskutiert (Degele 2006, 2007). Dazu kommen 7 Einzelinterviews mit Beteiligten (vorwiegend 69

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aus diesen Gruppen). Die folgenden Ausführungen zum Umgang mit Schmerz konzentrieren sich dabei auf Akteure/innen, bei denen der Aspekt des freiwilligen Ertragens oder sogar Suchens von Schmerz deutlicher ist als bei den meisten anderen (wie etwa den Gruppen von chronisch Kranken). Dabei handelt es sich um Sportler/innen (Gruppendiskussionen mit Kampfsportlern allgemein, Boxern speziell, zwei schlagenden bzw. fechtenden Gruppen von Corpsstudenten, einer Gruppe von Triathleten/innen sowie drei Einzelinterviews mit Triathletinnen und einer Ultraläuferin), zwei Müttergruppen, eine Hebammengruppe und zwei Interviews mit Müttern sowie SM-Praktizierende (heterosexuelle, queere, schwule, lesbische Gruppen und ein Interview).

2 . S c h ö n h e i t s h a n d e l n b ew i r k t soziale Positionierungen Fragt man Menschen, für wen sie sich schön machen, lautet die Antwort fast immer: „Für mich selbst“. Das stimmt nicht, auch wenn viele felsenfest davon überzeugt sind. Beispielsweise gaben bei einer Umfrage der Frauenzeitschrift BRIGITTE (2002: 18) unter 28.000 Frauen aus dem Jahr 2001 94% der Befragten an, sich schön zu machen, weil sie sich damit wohler und selbstsicherer fühlen (1978 waren es bei 27.000 Befragten 79%). Nur drei Prozent äußerten das Motiv, anderen gefallen zu wollen (1978 waren es 14%). Und eine psychologische Untersuchung mit 160 Leserinnen von Frauenzeitschriften stellt fest, dass sich die Inszenierungen unterscheiden, wenn die Befragten selbst (38%), die Familie (44%) oder Fremde (76%) die Adressaten/innen des Tuns sind (vgl. Tseëlon 1997) – was man in die Frage übersetzen kann, ob sich Menschen für sich oder für andere schön machen4. Schön machen wir uns vor allem, weil wir soziale Anerkennung brauchen. Das ist keine „Frauensache“, und mit Spaß und Lust hat es nur selten etwas zu tun. Sich schön machen ist mitunter harte Arbeit, die bis hin zur Frage „wer bin ich und wer will ich sein?“ reicht. Viel weiter, als es oberflächliche Debatten zu den Fürs und Wi-

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Zu kurz greift dabei die Interpretation der Ergebnisse. Denn das Eingeständnis, sich für andere schön zu machen, käme für viele einer Bankrotterklärung gleich und wird geflissentlich unterlassen. Schon gleich gar nicht lässt sich daraus – wie in der Brigitte-Studie – ein gewachsenes Selbstbewusstein von Frauen ableiten, das sich von der Meinung anderer unabhängig gemacht habe. Verlässt man sich auf das, was die Befragten behaupten, läuft man Gefahr, purer Ideologiekonstruktion auf den Leim zu gehen. Da hilft es auch nicht viel, wenn die Antworten geradezu pseudowissenschaftlich bis zwei Stellen hinter dem Komma ausgerechnet und ausgewertet werden. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Fragen mit ‚wahren‘, im Sinn von klar geäußerten und widerspruchsfreien Antworten rechnen. Dass die Befragten aber in Widersprüche verwickelt sein können und dass der Bedeutung der Anderen nur schrittweise auf die Spur zu kommen ist, berücksichtigen solche Studien nicht.

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ders des Schminkens, Frisierens, Anziehens, Rasierens, Piercens oder auch Operierens ahnen lassen. Deshalb geht es in der ganzen Schönheits(operations)diskussion eigentlich auch gar nicht um Schönheit und schon gleich gar nicht um die Frage, was und wer schön (oder hässlich) ist oder was schön sein soll5, sondern um Schönheitshandeln: Schönheitshandeln ist ein Medium der Kommunikation und dient der Inszenierung der eigenen Außenwirkung zum Zweck der Erlangung von Aufmerksamkeit und Sicherung der eigenen Identität. Schönheitshandeln ist mit anderen Worten ein sozialer Prozess, in dem Menschen versuchen, soziale (Anerkennungs-)Effekte zu erzielen. Kurz gesagt: Schönheitshandeln bedeutet, sich über das Aussehen und die äußere Erscheinungsweise sozial zu positionieren, d.h. zu wissen, wo und von wem man anerkannt werden möchte und von wem man sich abzugrenzen hat. Genau in diesem Sinn ist Schönheitshandeln Normalitätshandeln, nämlich ein Handeln, das auf Anerkennung durch die jeweils relevante Bezugsgruppe zielt, seien es Peers, Konkurrenten/innen, Partner/in, Kollegen/innen oder andere. Stieße beispielsweise der Provo-Look von Punks in der Öffentlichkeit nicht auf Entrüstung, Hinterherschauen und Kritik, hätte er seinen Zweck verfehlt. Die Standardantwort, ‚es‘ für sich selbst zu machen, bezieht sich nicht nur auf das alltägliche Sich-schön-Machen. Die Studien, die sich mit Erwartungen und Motiven von Menschen auseinander setzen, die sich zu einer Schönheitsoperation entschieden haben, fördern Ähnliches zu Tage: Sie machen es eigenen Angaben zufolge selbstverständlich für sich selbst, einige befragte Frauen auch gegen den Willen des Partners (Borkenhagen 2001: 58), wollen damit den eigenen Körper und die eigene Identität verändern, normal sein (vgl. Atkinson 2006; Borkenhagen 2001; Davis 2002; Dull/West 1991; Ensel 1996; Gimlin 2000; Haiken 2000; Morgan 2003). So konstatiert Debra Gimlin bei einer qualitativen Untersuchung mit 20 operierten Frauen eine gut überlegte Entscheidung für den Eingriff, sie beschreibt die Frauen als „savvy cultural

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Schönheitsideale sind historisch beliebig – die Gegenüberstellung von Rubensfrauen und Twiggy, die unterschiedliche Bewertung von Ebenmäßigkeit/Oberflächlichkeit und Kantigkeit/Individualität mögen dafür als Beispiel dienen. Wenn es um beim Schönheitsideal für Frauen geht, was gegenwärtig „in“ ist, votieren 71% der Deutschen für „vor allem schlank“, 40% für natürlich/ungekünstelt, 20% für kosmetisch stark zurecht gemacht, 18% für muskulös/gut durchtrainiert und 3% für mollig/vollschlank. Bei Männern sieht die Verteilung anders aus: 69% muskulös/gut durchtrainiert, 38% natürlich/ungekünstelt, 31% „vor allem schlank“, 3% kosmetisch stark zurecht gemacht, 2% mollig/vollschlank (ZEIT, Nr. 45, 2.11.00, S.51). Konstant ist dagegen das Motiv der Anerkennung der eigenen Identität und Individualität – im Rahmen unterschiedlicher gesellschaftlich akzeptierter Standards, konstant ist aber auch die Differenzierbarkeit von Männern und Frauen, egal, welche Inhalte sich dahinter verstecken. 71

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negotiators, attempting to ‚make out‘ as best they can within a culture that limits their options“ (Gimlin 2000: 96). Frauen nach Brustoperationen erklären in Interviews den Eingriff als notwendig und normal (Borkenhagen 2001). Das entspricht einem self-empowering, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, die Operation ist ein Mittel der Selbst- und Identitätskonstruktion (Haiken 2000). Sind Schönheitsoperationen also etwas Normales geworden? Schönheitsoperationen geraten beispielsweise in die Kritik, weil es sich nicht gehöre, dem Alter ein Schnippchen schlagen zu wollen. Und wer nur noch mit Mitteln wie Schönheitsoperationen und bulimischem Erbrechen ihrem Schönheitsideal nahe komme, so eine Gruppe von Fotomodellen, mache etwas falsch. Ein solcher, an magersüchtigen Models wie Kate Moss orientierter Schlankheitswahn sei nicht nur unweiblich und hässlich, sondern auch stillos und ungesund. Entsprechend sehen die Stellungnahmen zu Schönheitsoperationen aus: „Ich würde nie … wirklich egal für welche Millionen … Ich würde nie so was machen, was da halt irgendwie nicht dazu gehört von Anfang an.“ (Model) Aber leider dächten nicht alle so und vor allem nicht Männer, eine explizite Zielgruppe der unternommenen Anstrengungen: „Man kann so … so lieb und schön und nett in seinem Inneren sein, aber es kann … es kann also vorkommen, dass … dass irgendjemand dich gar nicht kennen lernen will, nur weil du so eine Nase hast oder so.“ In solchen Fällen geraten Schönheitsoperationen sehr wohl in den Horizont des Möglichen und das „ich würde nie …“ erfährt eine umgehende Relativierung. So schälen sich bei genauerem Blick durchaus sinnvolle Anwendungsgebiete heraus: die Behandlung von Brandverletzungen, Brustverkleinerungen wegen Rückenbeschwerden oder auch Fettabsaugen. Eine Gruppe von 20- und 21-jährigen Medizinstudentinnen etwa hält Schönheitsoperationen später einmal grundsätzlich nicht für ausgeschlossen: „Ich sag nur möglicherweise, ich sag nich’, daß ich’s mache. […] es kann sein, dass ich irgendwann so in der midlife crisis stecke oder keine Ahnung, dass es mir so schlecht geht, dass ich denke, also damit geht’s mir besser. Und dann will ich nicht sagen, ich werd’s auf keinen Fall machen. Weil in so ner Situation, wenn ich meine, mir würd’s damit besser gehen und ich würde mich einfach lebensfreudiger fühlen oder keine Ahnung, dann würde ich das schon machen.“ (21-jährige Medizinstudentin)

Zwar sind Schönheitsoperation für eine Gruppe kopftuchtragender muslimischer Frauen nur um der Schönheit willen ein Tabu, aber so ganz auszuschließen sind sie nicht: „Brustvergrößerung und solche Sachen (lacht, alle lachen). Ich überlege, ich müsste eher eine Verkleinerung … (lacht). Aber grundsätzlich solche Operationen, nur um der Schönheit willen, das würde ich nie machen. Also wenn das so extrem ist, dass ich eventuell in der Öffentlichkeit nicht zeigen lassen kann, ja? Dann würde ich es 72

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mir eventuell überlegen. Weil ich gehänselt werde. Oder die Leute über mich lachen. Oder ich bekomme auch keinen Job deswegen. Je nachdem. Dann würde man sich das noch überlegen können. Aber einfach so? … Ich meine, diese Bilder schaut man sich manchmal mit diesen Lippenvergrößerungen. Das ist ja … (lacht). Also so weit würde ich nie gehen.“

Was ist aus den spontanen Ablehnungen und darauf folgenden Relativierungen zu schließen? Einerseits klingt es einleuchtend: „Einfach so“ eine Schönheitsoperation gehe nicht. Aber wer lässt sich schon „einfach so“ operieren? Eine Operation ist ein einschneidendes Erlebnis, auch im wörtlichen Sinn. Sie ist häufig mit Schmerzen verbunden, die noch lange an das Erlebte erinnern. Den empirischen Studien zufolge geht ihr in den untersuchten Fällen oftmals ein jahreslanges Leiden, psychischer und auch physischer Schmerz und reifliche Überlegung voraus. Die Entscheidung für einen solchen Eingriff ist also eine Entscheidung für eine Normalität, die für die Akteure auf anderem Weg gar nicht oder nicht mit vertretbarem Aufwand zu haben ist. Normalsein hat einen hohen Preis, sei es etwa Geld, Zeit, Schmerz, Gesundheit, den zumindest so viel bereit sind zu zahlen, dass eine medizinische Branche gut davon leben kann. So scheint es sogar plausibel, dass sich in der bereits erwähnten Umfrage der Frauenzeitschrift „Brigitte“ 51% der Befragten grundsätzlich vorstellen können, eine Schönheitsoperation vornehmen zu lassen (Brigitte 2002: 20). Und neueren (repräsentativen) Zahlen zufolge meinen 18% aller Frauen unter 30 Jahren, dass sie es im Leben leichter hätten, wenn sie sich operieren ließen (Brigitte 2004: 141). Mit dem damit einhergehenden Jugend- und Normalitätszwang verschieben Schönheitsoperationen dann zunehmend gesellschaftliche Normen, wenn der nicht manipulierte Körper als Abweichung erscheint und einer Reparatur bedarf (Morgan 2003: 172-175). Es ist also konsequent, wenn der Wunsch nach Exklusivität (nicht so sein wollen wie die anderen) wie auch Normalität („das, was wir unter Schönmachen verstehen ist das, was ich glaube, was die andern drunter verstehen.“) zum Leiden an gesellschaftlichen Weiblichkeitszwängen führt: „Wie kann es passieren, dass wir uns so von Äußerlichkeiten und von Werten bestimmen lassen: Wie kann das passieren? Wieso kann jemand, der eine schiefe Nase hat, so einen Leidensdruck kriegen, dass er dann Depression kriegt und nicht mehr aus dem Haus kann, als schlimmstes Beispiel. Wieso zählen nicht mehr andere Sachen, wie meine Beziehung, mein privates Umfeld, das, was ich leiste, was ich für’n Beruf hab, wie ich als Persönlichkeit bin? Wieso kann das so werden? Und das versteh ich nicht.“ (Magersüchtige Frau)

Was Frauen wie diese vehement kritisieren, praktizieren sie selber bis zur letzten Konsequenz. Sie haben in sich selbst das Dilemma zwischen gesellschaftlichen Vorgaben einerseits und inneren Konflikten andererseits auszu73

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balancieren, wofür sie keinerlei Lösungsmöglichkeiten entwickeln. Die Frauen sind selbst für sich und ihr Glück verantwortlich, weil sie ihren Lebensentwurf ja selbst gewählt haben und prinzipiell auch anders handeln könnten: normal (alle wollen schön sein) und exklusiv (dünner, symmetrischer oder faltenloser als die anderen). Schönheitsoperation sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Sie versprechen vor allem Frauen immer mehr individuelle Freiheiten, unterwerfen sie aber einem massiven Normalitätszwang. So entpuppt sich die Entscheidung für eine Schönheitsoperationen erstens als Anpassung an die vermeintlich frei wählbaren, heteronormativen Standards (Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit), zweitens als Abhängigkeit von Technik und (vorwiegend männlichen) Ärzten und drittens als erzwungene Freiwilligkeit angesichts technischer Imperative und gewandelter Normalitätsstandards (Morgan 2003: 172-175). Denn die Wahl ist gar keine mehr, wenn das ‚Normale‘ schon pathologisiert ist. Mit Schönheitsoperationen verschieben sich die Normen, der Perfektionsdruck wird größer. Wer schön sein will, muss leiden.

3. Schmerznormalisieren konstruiert Empfindungen Schmerz6 als vor allem negative Erfahrung von Körperlichkeit ist eine Form von Leid, in dem allerdings – so eine gängige Auffassung – kaum Soziales stecke: „Schmerz ist ein radikales Scheitern der Sprache“ (Le Breton 2003: 40) Danach sei akuter, chronischer oder totaler Schmerz eine körpergebundene und intime Erfahrung, nehme völlig in Anspruch und habe eine kommunikationszersetzende Wirkung (Scarry 1992: 12). Aber auch die einsame Erfah6

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Ich orientiere mich dabei an der Definition von Schmerz als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Im Gegensatz zu der Empfindung Schmerz, der als subjektives Sinnesoder Gefühlserlebnis definiert ist, wird unter Nozizeption der ‚objektive‘, neuronale Prozess verstanden.“ (Huber/Winter 2006: 1) In die gleiche Richtung geht die psychologische Definition von Schmerz als „eine grundlegende unangenehme Empfindung, die dem Körper zugeschrieben wird und dem Leiden entspricht, das durch die psychische Wahrnehmung einer realen, drohenden oder phantasierten Verletzung hervorgerufen wird. Schmerz wird meist als spezifische Erfahrung betrachtet, die zwischen Emotion und Sinnesempfindung steht.“ (Städtler 1998: 955) Diese Definitionen scheinen mir geeignet, weil sie erstens die Dimension der subjektiven Empfindung betonen und zweitens nicht auf den Tatbestand einer notwendigen körperlichen Versehrtheit (Gewebeschädigung) rekurrieren. Letzteres tut das klinische Wörterbuch in seiner Definition von Schmerz als „komplexe Sinneswahrnehmung unterschiedlicher Qualität (z.B. stechend, ziehend, brennend, drückend), die in der Regel durch Störung des Wohlbefindens als lebenswichtiges Symptom von Bedeutung ist und in chronischer Form einen eigenständigen Krankheitswert erlangt“ (Pschyrembel 2004: 1636).

NORMALE EXKLUSIVITÄTEN

rung des Schmerzes ist kulturell und historisch eingebunden, man kann noch nicht einmal von einer „natürlichen Geburt“ im strengen Sinn sprechen (Wolf 1998). Für die kulturelle Konstruktion von Schmerz spielt selbstredend die zur Verfügung stehende Sprache eine prominente Rolle (vgl. Ernst 2000: 121f). Denn Menschen reagieren nicht so sehr auf den eigentlichen Schmerz, sondern mehr auf den Sinn, den er für sie annimmt, und das geschieht über Sprache.7 Schmerz ist also interessant, weil Empfindungen8 hier vermeintlich individuell und sozialen Überformungen gegenüber resistent zu sein scheinen (was sie tatsächlich aber nicht sind). Und ebenso wie beim Schönheitshandeln haben Schmerzempfindungen viel mit dem zu tun, was gesellschaftlich als normal gilt; genauer: was spezifische soziale Settings und Gruppen anerkennen und was nicht. Schmerz ist nicht nur ‚aua‘, ‚weh tun‘ und ‚weg damit‘, sondern verfügt über ein sinnstiftendes und identitätskonstruierendes Potenzial, das sich über Grenzsetzungen und –fixierungen im Spannungsfeld von ‚normal‘ und ‚pathologisch‘ (was ich als medizinisches Pendant zu ‚exklusiv‘ lese) rekonstruieren lässt. Über Schmerz verschieben Akteure Grenzen und konstruieren damit Normalität. Dies möchte ich mithilfe eines zu bewältigenden Dilemmas erklären: Schmerz ist zunächst einmal negativ behaftet (oftmals ist ‚Zahnarzt‘ die erste Assoziation, die Diskutierenden zu diesem Phänomen einfällt). Gleichzeitig aber ermöglicht Schmerz Erfahrungen, die zu einem gesellschaftlich anerkannten und positiv bewerteten Normalitätsbestand gehören: Durchhaltevermögen, das Wissen um Empfindungsfähigkeit und Verletzbarkeit, Empathie. Das Dilemma nun besteht darin, eine positive Deutung von Schmerz als normal (im Sinn von sozial anerkannt) erscheinen zu lassen, ohne dabei in den Verdacht zu geraten, einem als negativ gebrandmarkten Schmerzgenuss zu frönen. Denn darin sind sich alle Diskutanten/innen einig: Schmerz rein um des Schmerzes willen ist unnormal! Das nenne ich Schmerznormalisieren: In der Aus- und Abgrenzung von als unnormal und pathologisch Definiertem im Umgang mit und der Deutung von Schmerz konstruieren und sichern Menschen Identität (sie wissen, wer sie sind), Sozialität (sie wissen, zu wem sie gehören) und damit Normalität (sie wissen um die relevanten Akzeptanzkriterien); Normalität meint sozial Anerkanntes in den jeweils bedeutsamen Bezugsgruppen und bezieht sich durchaus auf Allgemeinwissen. Beim Schmerznormalisieren geht es weniger um die beiden zu unterscheidenden Zustände eines Vorher und Nachher, sondern um die sozia7

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Deshalb litten Soldaten im Ersten Weltkrieg etwa weniger unter Verletzungen als Zivilisten. Denn für sie war es ein Erfolg, überlebt zu haben, für die Zivilisten vielleicht das Ende der Berufstätigkeit (vgl. Bendelow/Williams 1995; Ernst 2000). Im Sinne der subjektiven Wahrnehmung eines Sinnesreizes (vgl. Pschyrembel 2004: 481). 75

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len Prozesse und Mechanismen des Aus- und Abgrenzens, das Verschwimmens, Auflösens und/oder auch das Neudefinierens von Grenzen:9 Schmerz bildet eine Grenze des Aushaltbaren; und damit verbundene Empfindungen, Wahrnehmungen und Deutungen sind Gegenstand sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Dies unterscheidet Schmerznormalisieren und Schönheitshandeln (weshalb ich auch nicht von Schmerzhandeln spreche): Beim Schönheitshandeln erzielen die Akteure Anerkennungseffekte üblicherweise nicht über Extremsituationen, die mit dem Aushalten von Grenzerfahrungen verbunden sind, beim Schmerznormalisieren schon. Schönheitshandeln handelt mit der Währung von Normalität (Ausnahmen dabei sind body modification oder auch bestimmte Fälle von Schönheitsoperationen), auch der Weg dorthin erfährt nicht eine grundlegend andere Bewertung, wie es bei der Erfahrung von Schmerz der Fall ist. Die These der Identitäts- und Gemeinschaftskonstruktion über Schmerznormalisieren bedeutet konkret: Man kann von Schmerz lernen, über Schmerz Grenzen erfahren, verschieben und fixieren, und man kann über Schmerz Heldentum/innentum inszenieren. Zugespitzt meint das: Der sinnlich empfundene Körper wird emotional besetzt (etwa als Gegner, Partner, Lehrmeister oder Opfer), ästhetisch bewertet (als kraftvoll, gebrochen, sexuell attraktiv, vom Schmerz gezeichnet, schön) und kulturell überformt (beispielsweise in Form der Konstruktion von Männlich- und Weiblichkeiten, von Dynamik oder von Jugendlichkeit), und all das lässt sich am Umgang mit Schmerz nachzeichnen. Deutlich wird das etwa bei Gruppen von Müttern und Hebammen, Sportler/innen und SM-Praktizierenden. Gemeinsam ist ihnen die sinnstiftende Dimension der Grenzerfahrung, zu der sie über Schmerz gelangen: als Geburtshelfer für Leben und dem damit verbundenen Selbstbewusstsein bei Müttern, als pädagogischer Leistungssteigerer bei Sportler/innen und als Lust(quelle der Transzendenz) bei SM-Praktizierenden. 1) Schmerz als Geburtshelfer für Leben Der Geburtsschmerz ist für viele Frauen der extremste Schmerz, den sie in ihrem Leben erlebt haben: „Es sprengt jede Vorstellungskraft, was da kommt“ (Mutter). Eine Hebamme erklärt Schmerz sogar zum Definitionskriterium für Geburt: „Ab da, wo’s wirklich weh tut, wissen die Frauen, jetzt isses wirklich 9

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Aus diesem Grund ziehe ich den relational und prozessual angelegten Begriff Schmerznormalisieren dem Substantiv Schmerznormalisierung vor: es geht um Prozesse sozialer Akteure/innen, die ich zunächst aus deren Binnenperspektive und dann komparativ rekonstruieren will, und nicht um einen zustandsbeschreibenden, distanzierten Zugang von außen – der sich substantivierend leichter darstellen ließe. Die Konstruktion Schmerz normalisieren erscheint mir unzureichend, weil darin die Medialität von Schmerz, seine Bedeutung für die Konstruktion von Normalität als eines aktiven Prozesses von Akteure/innen zu wenig zum Ausdruck kommt. Manchmal müssen es eben doch Neologismen sein …

NORMALE EXKLUSIVITÄTEN

Geburt.“ „Merkwürdig“ erscheinen ihr dagegen Erzählungen von Frauen, die ihre, wie sie sagt, „Kinder im Galopp verloren“ haben: „Gar nicht so vor so langer Zeit hatte ich ’ne Frau betreut, im Wochenbett, die hat mir gesagt, sie hatte gar keine Schmerzen. […] Also das war anstrengend, das war Arbeit, aber ich hatte keine Schmerzen. Das find’ ich dann auch ’n bisschen merkwürdig“ (Hebamme). Der Schmerz gehöre also dazu, sei alternativlos, es gebe kein Entrinnen: „Du merkst ja einen recht heftigen Schmerz, der ist ziemlich heftig. Du musst den durchstehen, und anschließend wirst du entlohnt“ (Mutter). Es ist klar, „[d]ass sich das konzentriert auf ’n bestimmten Zeitraum und dann auch wieder vorbei geht“ (Hebamme). Bei anderen schmerzhaften Ereignissen (wie etwa einem Marathon) bleibe die Option, abzubrechen, die Quälerei zu beenden, bei der Geburt gehe das nicht. Der Schmerz hat einen Sinn, seine Überwindung gibt Kraft, die sich auch – das vermuten die Frauen – in der Bewältigung des Alltags fortsetzen werden, im „Leben danach“. Aber auch hier gibt es Normalitätskorridore. So ist den Frauen einer Geburtsvorbereitungsgruppe ihre Selbstkontrolle wichtig, sie wollen nicht hemmungslos schreien. Deshalb versuchen sie, den Schmerz zu „veratmen“ und zu „tönen“. Die Verlegenheit beim Gebrauch der eigenen Stimme („Ich wollt halt nich’ irgendwie da so’n Ton oder ’n Schrei ausstoßen, und dann musst ich’s auch nicht“) signalisiert die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Tabus: Frauen haben nicht laut zu schreien. Gleichwohl beschreibt eine Mutter die geburtseinleitenden Wehen als geradezu enthemmt: „Hey, ich bin jetzt grad im absoluten Ausnahmezustand, dann darf ich alles.“ Dieser Ausnahmezustand scheitert dennoch am Schrei-Tabu: „Bei mir war grad irgend ein, ich weiß, das war nicht das Endspiel, irgendein Finale von der Europameisterschaft. Und das lief halt grad während der Geburt, und dann hat die Hebamme gemeint, ich soll mal ‚Tor!‘ brüllen (lacht), ich soll mal auf ‚Tor‘ ausatmen. Das ging aber nicht so gut (lacht).“ Der skizzierte Ausnahmezustand freilich ist gar nicht so besonders: Schmerz und Geburt gehören als Normalität zusammen. Und dafür stehen gesellschaftliche Kontrollmechanismen zur Einhaltung von Normalitätsstandards zur Verfügung, die sich die Frauen zu eigen machen. Gleichwohl hat sich die Botschaft der Hebammen für die Mehrzahl der Frauen bewahrheitet: Sie halten mehr aus, als sie sich vorstellen konnten, auszuhalten, und das gibt Selbstbewusstsein. Das lässt sich vor dem Hintergrund der protestantischen Arbeitsethik deuten: Wer diese ganze Tortur durchmacht, will sie auch mit Sinn versehen wissen; die Arbeit und die Anstrengung waren nicht umsonst. 2) Schmerz als pädagogischer Leistungssteigerer Den Sportler/innen geht es um Leistung(ssteigerung). Dazu nehmen sie Schmerz in Kauf, auch wenn es sich dabei nicht um ein singuläres Ereignis handelt wie bei der Mutter, die ein Kind zur Welt bringt. Bei den Kampfsport77

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ler/innen gehört der Schmerz einfach mit dazu, auch wenn sie ihn nicht suchen. Er ist ein Lehrmeister, der eine/n voran bringen kann. Die positive Bewertung von Schmerz überwiegt hier gegenüber der negativen. Bei den fechtenden Corpsstudenten spielt der Schmerz insbesondere in Hinblick auf Kontrolle, Bewältigung und Ehre eine Rolle: Sie wollen die Tradition sichern und am Leben erhalten, dazu gehört das Fechten (ohne Maske) – und der Schmerz. Darin kommt die in Deutschland sehr traditionsbehaftete ‚Tugend‘ der Abhärtung ins Spiel: „Was nicht umbringt, macht härter“ (Corpsstudent). Bei einer Gruppe von Corpsstudenten heißt das etwa, „wie eine deutsche Eiche da[zu]stehen und Hiebe aus[zu]teilen“. Diese mentale Einstellung des sich selbst Überwindens haben sie vor allem bei der Bundeswehr gelernt – womit die Corpsstudenten auch Männlichkeit und Heldentum konstruieren. Kampfsport ist ein prototypisch männlicher ‚rite de passage‘, der als Lehrmeister viel mit einer Reifung der Persönlichkeit, der Korrektur falscher Einschätzungen und der Forderung nach Selbstdisziplinierung zu tun hat (Binhack 1998: 189). Bei den Triathleten/innen und einer Ultraläuferin schließlich ist Schmerz vor allem als Grenzerfahrung und -erweiterung ein Thema. Eine Triathletin begründet die Überschreitung der Schmerzgrenze damit, „weil du eben so schnell sein willst.“ Man könnte auch sagen: Ohne Schmerz gibt es keinen Ansporn zur Leistungssteigerung. Die Motivation führt dazu, „über den Schmerz drüber“ zu gehen. Dazu gehören etwa rasende Kopfschmerzen beim Wettkampf in der glühenden Hitze, Verletzungen und Zusammenbrüche – sie demonstrieren eindrücklich, was beim nächsten Mal besser zu machen ist. Schmerz – so ein Kampfsportler – ist „die Grenze, die dein Körper dir aufzeigt, was du zu leisten imstande bist“. Die Verschiebung von Leistungsund Schmerzgrenzen – das eint die Sportgruppen bei allen Unterschieden der Form des Ausübens ihrer jeweiligen Sportarten – ist ein Ziel des Trainings, sie signalisiert Eigenverantwortung, Autonomie und Härte als moderne (männliche) Werte (vgl. dazu Degele 2006). Dafür ernten die Sportler/innen Anerkennung – etwas Besonderes zu sein und zu tun. Dennoch begreifen die Normalitätskonstruktionen der Sportgruppen Schmerz als Mittel zum Zweck, niemand will ein pathologischer „Schmerzjunkie“ sein. Schmerz wird instrumentalisiert, um auf der physischen Ebene einen anderen Leistungs- und auf der psychischen Ebene einen anderen Bewusstseinszustand zu erreichen und bleibt damit – normal. 3) Schmerz als Lust(quelle der Transzendenz) Die SM-Gruppen schließlich haben sich von allen am deutlichsten für Schmerz ‚entschieden‘, sie bewerten Schmerz überwiegend positiv, verbinden ihn mit Lust: „Du weißt ja, wenn du noch ’n bisschen geiler wirst, dann tut’s nur noch mehr weh. Und wenn’s eben noch mehr weh tut, dann wird’s eben noch mehr geiler …“ (schwuler SM-Praktizierender). Aber auch hier muss 78

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Schmerz einen bestimmten Zweck erfüllen, um als legitim wahrgenommen zu werden, um noch als ‚normal‘ durchzugehen. Die Akteure schildern Schmerz als unglaublich intensiven und dichten Zustand, als Gefühl von Endlosigkeit, bei dem etwa eine Tür nach der anderen aufgeht, sich neue Perspektiven auftun. SM-Praktizierende beschreiben damit einen Zustand (höchster) Konzentration, die mit einem Bei-sich-Sein verbunden ist. Der Zustand ähnelt sportlicher Erschöpfung, nämlich dem Ausgepowertsein nach intensivem Training oder einem langen Lauf. Das erfüllt mit Stolz über die eigene Aushalte- und damit Leistungsfähigkeit. Ähnlich hatte eine Mutter die Geburtserfahrung auf den Punkt gebracht: weniger als Schmerz, mehr als Anstrengung, „wirklich Arbeit“. Anstrengung und Arbeit wollen belohnt werden: „Weißte dann nimmst du diese Herausforderung wahr und dann beißt du die Zähne zusammen und du weißt, erst danach kommt die Belohnung.“ Dieser Aspekt ist bei SM-Praktizierenden nicht nur mit ‚Blut, Schweiß und Tränen‘ assoziiert, sondern trägt durchaus Züge einer Mischung aus Wellness und Erleuchtung. Die Grenzüberschreitung bei Schmerz im Kontext von SM liegt zum einen in der Umwertung: Am Anfang tut es weh, dann kommen Fliegen, Ekstase, Rausch, Glückswellen, die Transzendenz (körperlicher) Zustände. Zum anderen ist die Grenzerfahrung eine soziale. Das bedeutet, für jemanden Schmerz zu ertragen und ihm/ihr zu vertrauen, die Schmerzerfahrung zu teilen, gemeinsam zu haben. Die Gemeinsamkeit der skizzierten Umgangsweisen mit Schmerz liegt im Zuweisen von Sinn: als Geburtshelfer für die Entstehung von Leben, als pädagogischer Leistungssteigerer und als Lustquelle der Transzendenz. Schmerz ermöglicht Grenzerfahrungen, die eine existenzielle Ebene berühren, nämlich die Erfahrung der eigenen Belastbarkeit, Normalität und Besonderheit, kurz: die Identität sozialer Akteure. Schmerz für einen höheren Zweck in Kauf zu nehmen ist wiederum kompatibel mit den Prinzipien der protestantischen Arbeitsethik. Gemeint ist damit eine Lebensform, die harte Arbeit und Akkumulation über die Befriedigung von Konsumbedürfnissen stellt (vgl. Degele/ Dries 2005: 98-107). Schmerznormalisieren und Schönheitshandeln als Äußerungsformen protestantischer Arbeitsethik konvergieren beispielsweise sehr deutlich in der Körperarbeit von Bodybuildern (vgl. Degele 2004: 100-107; auch Gießing/Hildenbrandt 2005). Das Durchsichtigmachen der Haut und reliefartige Abzeichnen der Muskulatur (‚Definition‘) sind nur über maximale, und das heißt: schmerzhafte Ausbelastung der Muskulatur, eiserne Trainingsdisziplin und Diät zu erreichen, der Körper ist Werkzeug und Sinnträger zugleich. Aber auch wer beim alltäglichen Schönheitshandeln (im Hinblick auf Bequemlichkeit und Faulheit vs. Eleganz und als überzogen empfundene gesellschaftliche Inszenierungsstandards) Kompromisse schließt, ordnet das eigene Tun einem höheren oder zumindest langfristigen Zweck unter. Wer ruiniert sich schon mit fettigen Haaren, verwaschenem Sweat-Shirt und ab79

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gewetzten Jeans offenen Auges sämtliche Chancen in einem Bewerbungsgespräch? In allen Fällen leitet die Perspektive auf eine Entlohnung nach vollbrachter Leistung die eigenen Handlungen. Sie ist es wert, Entbehrungen, Unbequemlichkeiten oder Schmerz in Kauf zu nehmen: „Da bist du stolz und glücklich und gehst zufrieden nach Hause“ (Ultraläuferin). Glück, Erleichterung, Bestätigung oder auch Transzendenz legitimieren das eigene Tun und versehen es mit Sinn.

4. Moderne Körper inszenieren normale Exklusivitäten Autonomieimperativ und protestantische Arbeitsethik sind zwei Erbschwestern der Aufklärung. Sie betonen Selbstständigkeit, Leistungsorientierung und Anerkennung als elementare Komponenten moderner Körperinszenierungen: „Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen!“, nennt Paula-Irene Villa (in diesem Band) solche Normalitätskonstruktionen. Dies ist mit Entbehrungen und Belohnungen verknüpft, und an die Stelle externer Disziplinierungsmechanismen tritt die Eigenleistung der Akteure. Sich sozial zu positionieren bedeutet demnach, sich in Eigenregie je nach gewählter Gruppenzugehörigkeit in eine sozial erwartete und akzeptierte Form zu bringen. Der erfolgsorientierte Charakter von Schönheitshandeln und Schmerznormalisieren wird offenkundig, wenn körperliche Ressourcen und Stilisierungskompetenzen zum Einsatz kommen, um Erfolge im Sozialen zu erzielen. Das scheint vormodern, ist es aber nicht. Denn Kuren und Operationen, Diäten, Training, Therapien und Entspannung sind gezielte Mittel zur Steigerung der Schönheit, Fitness, Gesundheit und damit Employability. Wer sich in diesem Sinn körperlich inszeniert, steigert seine/ihre Erfolgsaussichten. Moderne Körperinszenierungen erscheinen damit als Versuch der Teilhabe um soziale Macht: Nicht eine Rolle lediglich spielen, sondern verkörpern ist die Maxime. Soziale und integrative Kompetenzen werden wichtiger, der sachliche Austausch mutiert zunehmend in einen sozialen, und zur Absicherung bedient sich die kapitalistische Marktlogik der Gefühle und Motivationsstrukturen der Mitarbeiter/innen (Boltanski/Chiapello 2006, Hochschild 1983, Voß/Pongratz 2003). Die ganze Person ist gefordert, ihr Können dokumentiert sich in inkorporiertem Wissen und Kompetenzen.10 10 So verwundert es nicht, dass nach einer Studie des Familienministeriums aus dem Jahr 2001 in Deutschland rund 10 Millionen Menschen aus beruflichen Gründen pendeln oder an den Ort des Arbeitsplatzes ziehen, neun Prozent leben in einer Fernbeziehung, immer mehr Paare leben getrennt, weil ihre Arbeitsplätze zu weit voneinander entfernt sind (Schneider/Ruckdeschel 2003). Der globale Markt erwartet von den Erwerbstätigen Mobilität und Flexibilität, die als Kern von Wettbewerbsfähigkeit erscheinen. Gerade dabei ziehen Frauen noch immer 80

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Autonomie und Flexibilität, beides Schlagworte der Moderne, beziehen sich auf das Berufs- und Privatleben, auf die Gestaltung der eigenen Biografie, auf Gruppenzugehörigkeiten und persönliche Entwicklung und stehen für Belastbarkeit, Mobilität, Attraktivität und Leistungsfähigkeit. Damit sind moderne Flexibilitätszwänge verbunden, die eng mit dem „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2006) verknüpft sind. In soziologischökonomischer Kooperation und auf der empirischen Grundlage von Managementliteratur beschreiben Luc Boltanski und Eve Chiapello damit eine spätmoderne Ideologie, „die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt“ (Boltanski/Chiapello 2006: 43) – weil die ökonomische Akkumulationslogik keine ausreichende Legitimation biete. Neu an diesem Geist ist die Betonung von Autonomie, nämlich Selbstverwirklichung, Kreativität und von freien Handlungsräumen im Gegensatz zu Rationalität, Disziplin und Kontrolle. Die protestantische Arbeitsethik erfährt damit eine Verfeinerung (fast möchte man sagen: Flexibilisierung) und macht sich als erneuertes Arbeitsethos für die Entwicklung des Kapitalismus in dreierlei Hinsicht unentbehrlich: „Erstens fungiert es als Motor für die Deregulierung von Arbeitsmärkten, zweitens bietet es den Mitspielern der neuen Arbeitswelten Identität und Sinnstiftung, drittens gewährleistet es den kulturellen Erfolg des Kapitalismus“ (Koppetsch 2006: 9). Vor allem der letzte Punkt, nämlich die kulturelle Seite, schlägt sich in den skizzierten Körperinszenierungen nieder, nämlich als etwas verkörpertes Soziales, als Konstruktion von Identität. Der neue Geist des Kapitalismus ist damit ein Körperlicher geworden. Und in diesem Sinn lassen der Umgang mit Schmerz und die Bedeutung von Sich-schön-Machen Rückschlüsse zu, wogegen man sich abgrenzt, wozu man gehört und was man ist: ganz normal exklusiv.

den Kürzeren. Denn ein Großteil qualifizierter Frauen arbeitet mit kaum Existenz sichernden Teilzeitarbeitsverträgen oder als ‚neue Selbstständige‘. So hat die Zahl der Frauen mit Teilzeitbeschäftigung um 1,8 Millionen zugenommen, während die Vollzeitbeschäftigung um 1,6 Millionen zurückgegangen ist. Frauen präferieren zudem Sozial- und Dienstleistungsberufe, die geringer bewertet und weniger bezahlt werden (vgl. Frankfurter Rundschau: Frauen kommen kaum voran. 20.12.05, S.2). Frauen sind viel eher bereit, unter ihrem Qualifikationsniveau tätig zu sein, befinden sich stärker in schlecht abgesicherten Positionen mit geringen Aufstiegschancen. Zusätzlich nimmt aufgrund einer zunehmenden Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses von Männern der Druck auf Frauen zu, „die im wahrsten Sinne des Wortes ‚kostbaren‘ individuellen Arbeitsplatz- und Lebenschancen nicht zu verspielen“ (Peinl/Völker 2001: 64). Als Folge sollen gerade Frauen das strukturell Unvereinbare individuell ‚lösen‘. 81

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Nabelschau – Fitness als Selbstmanagement in John von Düffels Romansatire E G O ANNE FLEIG „[H]eute tut man nichts anderes als Körper messen, wägen, taxieren. Aber man weiß nicht mehr nach welchem Maß. Heute ist vom unvollkommenen Körper zu sagen, dass jeder selber schuld ist, wenn er ihn hat.“ Elfriede Jelinek, EIN SPORTSTÜCK „Noch fünf Millimeter. Ich darf gar nicht daran denken, daß es am Anfang sieben waren – oder mehr, zu einer Zeit, als ich noch nicht gemessen habe! Eigentlich könnte ich ganz zufrieden sein. Aber ich bin’s nicht. Ich will meinen Nabel auf Null bringen. Ich hasse es, in ein Loch zu starren, wenn ich mir meine Bauchpartie ansehe. Eine verdammte Grube. Oder ein Grübchen, mittlerweile. Es lenkt von meinen Bauchmuskeln ab. Ich muß unbedingt an meiner Nabeltiefe arbeiten.“ (Düffel 2001: 9)

Mit dieser Nabelschau setzt John von Düffels Roman EGO (2001) ein. Die perfekte Modellierung seines Körpers ist das Ziel des Protagonisten und IchErzählers Philipp, eines erfolgreichen Unternehmensberaters und angehenden Juniorpartners in einer großen Kanzlei. Spiegel und Maßband begleiten ihn durch einen Alltag, dessen einzig sinnstiftende Instanz das Körpertraining bildet. Dieses Training erscheint als Arbeit am Körper, das auf die Anforderungen der Berufswelt ebenso reagiert wie den Wechsel der Beziehungen im privaten Bereich. Diese Konstellation verdeutlicht, dass die Produktion des Subjekts vor allem durch drei Bereiche strukturiert wird: Arbeit, Beziehungen und Selbsttechnologien (vgl. Reckwitz 2006: 16f.). Die satirisch überzeichnete Darstellung von Philipps Alltag führt vor, wie diese angesichts der zunehmenden Marktförmigkeit aller Lebensäußerungen ineinander greifen (vgl. Bröckling 2007: 283). Das angestrebte ‚Ego‘ erscheint dadurch geradezu als Parodie je-

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ner Subjektform der postindustriellen Moderne, die Ulrich Bröckling als „unternehmerisches Selbst“ charakterisiert hat (Bröckling 2007). Der Wettbewerb der Marktakteure zeigt sich in von Düffels Roman im dauernden Wettkampf: Philipp misst sich mit seinen Trainingspartnern im Fitness-Studio, mit den Kollegen im Büro und mit seiner Partnerin Isabell, die nicht nur beruflich noch erfolgreicher ist, sondern in allen Lebensbereichen die bessere Figur macht. Ihre Überlegenheit ist für Philipp eine besondere Herausforderung. Sie unterstützt ihn zwar nach Kräften, weigert sich aber, als bloßer Spiegel seines Egos zu fungieren. Der Roman kann daher auch als Auseinandersetzung mit einem spezifisch männlichen Selbstentwurf gelesen werden, für den das Bild des Athleten leitend ist (vgl. Düffel 2001:10). Dieses steht in der Tradition jener Subjektivierungsformen bürgerlicher Männlichkeit, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als körperbezogene Selbsttechniken in Sport und Körperkultur herausgebildet haben. Darüber hinaus reagiert der Roman auf das allgegenwärtige „Schönheitshandeln“ (Nina Degele), das auf der Verfügbarkeit des Körpers basiert und als rationaler Versuch der Selbstkontrolle erscheint.1 Die Ambivalenz des Selbstentwurfs als perfekter Körper führt EGO auf überzeugende Weise vor, indem sein Ich-Erzähler beständig zwischen Maßnehmen und Maßlosigkeit, zwischen Individualisierung und Normierung schwankt. Dies wird nicht zuletzt an Philipps erklärtem Ziel, seinen Nabel auf Null zu bringen, deutlich, das den Text wie ein roter Faden durchzieht. Es verweist auf den Wunsch, einen geschlossenen Muskelpanzer zu bilden und seine individuelle Geschichte zu verbergen. Seine Nabelschau erscheint dadurch auch als Spiegel seiner inneren Ängste: Sie ist die Untiefe seines Selbstentwurfs, die „verdammte Grube“, in die er zu fallen droht. Im Folgenden werde ich zunächst auf die historische Entwicklung des athletischen Leitbilds und die Selbsttechniken aus Sport und Körperkultur eingehen (1). Anschließend sollen Philipps Selbstentwurf und das mit ihm verbundene Fitness-Training als Reflexion unternehmerischen Handelns in der postindustriellen Leistungsgesellschaft analysiert (2) und schließlich die Bedeutung seiner Nabelschau herausgearbeitet werden (3). Leitend ist dabei die Frage nach der Selbstmodellierung des perfekten Körpers als Selbstmanagement zwischen Individualisierung und Normierung.

1. Das Körpertraining im Fitness-Studio gehört zu jenen Alltagstechniken, durch die das Subjekt ein Verhältnis zu sich selbst herstellt. Foucault hat diesen Prozess mit dem Konzept der „Technologien des Selbst“ umschrieben (vgl. 1 86

Vgl. Degele in diesem Band.

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Foucault 1993). Selbsttechnologien sind Techniken der Selbstbeherrschung, die – wie schon der Beginn von EGO zeigt – auf das Innere des Subjekts zielen. Sie tragen zur Formierung des Subjekts bei und wirken dadurch in alle Lebensbereiche hinein (vgl. Reckwitz 2006: 58). Auch die Fitnesskultur steht in der Tradition dieser bürgerlich geprägten Selbsttechniken, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausbildeten. Sie bezeichnet den Schnittpunkt zwischen dem modernen Sport, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der Verschränkung von Hygienediskurs, Physiologie und Arbeitswissenschaft entwickelt, und den lebensreformerischen Ansätzen der Körperkulturbewegung um die Jahrhundertwende.2 Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte die regelmäßige Sportausübung Disziplin und Leistungsbereitschaft zum Ausdruck, die den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess vorantrieben. Gleichzeitig war sie Teil einer methodischen, bürgerlichen Lebensführung, die den Sport als Ausgleich zu den Belastungen der rationalisierten Arbeitswelt und des Großstadtlebens auffasste. Seitdem steht der Sport im Spannungsfeld zwischen Leistungssteigerung und Optimierung des Körpers und der gesundheitsorientierten „Pflicht der Selbsterhaltung“ (Nordhausen 1909: 2), wie sie die Körperkulturbewegung propagierte. Während der moderne Sport auf Leistungssteigerung und damit auf das Ideal des nicht ermüdenden Maschinenkörpers zielte, setzte die Körperkultur auf die Pflege des natürlich schönen Körpers, der durch Fitnessund Bodybuilding-Übungen geformt wurde (vgl. Wedemeyer-Kolwe 2004: 427). Ihren Anhängern ging es nicht um den sportlichen Wettkampf, sondern um den Erhalt und die Gestaltung des eigenen Körpers. Gesundheit und Schönheit des trainierten Körpers fanden Ausdruck im Rückgriff auf die Figur des männlichen Athleten, einem Ideal, dem noch von Düffels Protagonist nacheifert. Das Bild des Athleten verbindet das klassische Maß männlicher Schönheit, das die antiken griechischen Statuen auszeichnet, mit moderner Leistungsfähigkeit und Disziplin. Auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Rationalität und Vermessung des Körpers bot es damit schon um 1900 einen attraktiven Männlichkeitsentwurf, der seitdem nichts an Geltungsmacht verloren hat. Spätestens in den zwanziger Jahren wurden die Grenzen zwischen den Bereichen Sport und Körperkultur ununterscheidbar. Viele Vertreter der Körperkultur waren an einem leistungssteigernden Training durchaus interessiert, um gute Übungsergebnisse im Bereich Gymnastik oder Bodybuilding zu erzielen (vgl. Wedemeyer-Kolwe 2004: 426). Dieses Programm basierte auf einem modernen Körperverständnis, das von der selbstbestimmten Gestaltbarkeit des eigenen Körpers ausging. Hinzu trat die pharmazeutische Ent2

Diesen Zusammenhang habe ich in meiner Habilitationsschrift ausführlich dargelegt (vgl. Fleig 2008). 87

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wicklung von Kosmetik und künstlichen Kraft- und Ernährungsmitteln (vgl. Stoff 2004). Paradoxerweise führten gerade die vielfältigen Angebote der sich herausbildenden Konsumgesellschaft zur Durchsetzung eines jugendlichen Schönheitsideals (vgl. Siemens 2007: 646). Seitdem gilt, dass sich jeder Gesundheit und Schönheit selbst erarbeiten kann, eine Haltung, die vor allem die Angestelltenkultur charakterisiert. Irmgard Keun hat diese Einstellung in ihrem Roman GILGI – EINE VON UNS (1931) treffend auf den Punkt gebracht: „Ein gepflegtes Gesicht. Gepflegt ist mehr als hübsch, es ist eignes Verdienst“ (Keun 1993: 7). Programmatisch setzt der Text mit Gilgis Morgengymnastik ein, die den Beginn jedes Arbeitstages markiert: „Halbsieben Uhr morgens. Das Mädchen Gilgi ist aufgestanden. Steht im winterkalten Zimmer, reckt sich, dehnt sich, reibt sich den Schlaf aus den blanken Augen. Turnt vor dem weitgeöffneten Fenster. Rumpfbeuge: auf – nieder, auf – nieder. Die Fingerspitzen berühren den Boden, die Knie bleiben gestreckt. So ist es richtig. Auf – nieder. Auf – nieder.“ (Keun 1993: 5)

Den engen Zusammenhang von Sport, Körperkultur und Arbeitswelt macht auch der populäre Ufa-Film WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (Regie: Wilhelm Prager, Buch: Dr. Nicholas Kaufmann) von 1925 deutlich, der das sportliche Körperideal der zwanziger Jahre in Szene setzt. In einer aufschlussreichen Werbeanzeige heißt es dazu: „Dieser Film zeigt die Wege, Kinder zu gesunden, blühenden Menschen zu erziehen, Körper und Geist gesund und arbeitsfähig zu erhalten und zu sportlichen Höchstleistungen zu befähigen“ (Schönheit 1925: o.S.). Das hier annoncierte Zusammenspiel von Gesundheitsfürsorge, Lebensfreude und Leistungsorientierung verdeutlicht, dass Sportlichkeit, Fitness und Bewegung in der freien Natur zum gesellschaftlichen Leitbild geworden waren. Es schlug sich auch im Ideal des trainierten, sonnengebräunten und nur leicht bekleideten Körpers der zwanziger Jahre nieder, der seine gezielte Modellierung erfolgreich naturalisiert. Darüber hinaus wurde die Sportausübung zum Königsweg individueller Gesunderhaltung stilisiert und in ein Konzept methodischer Lebensführung eingepasst, das als Grundlage gesellschaftlicher Rationalität und Modernität diente. Die Verbindung von Körper- und Arbeitskultur machte die Sportausübung zum zentralen Instrument der Formierung des Subjekts, das insbesondere im Freizeitverhalten der Angestellten wirksam war. In diesem Zusammenhang erfuhr auch der Betriebssport eine neue Ausrichtung und Bedeutung (vgl. Sachse 1990: 27f.). Im effektiven Zusammenwirken von betrieblicher und familialer Sphäre sollten die Menschen physisch und psychisch an die rationalisierten Arbeitsprozesse angepasst werden, um dadurch den Produktionsprozess zu optimieren. So ließen es sich moderne Unternehmen angelegen sein, selbst den Freizeitbereich der Betriebsangehörigen rational zu planen und durch entsprechende Angebote zu gestalten. Körperpflege, Bewegung und 88

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Leistungssteigerung waren – neben dem Gemeinschaftsgefühl der Betriebszugehörigkeit – die wichtigsten Ziele des betrieblich organisierten Sports. Gesundheit, Sportlichkeit und Freude am spielerischen Wettkampf galten als Ausdruck einer modernen Lebenseinstellung und individueller Persönlichkeit. Fritz Giese hat daher 1925 den Sport als „Lebensform des modernen Menschen“ charakterisiert, als zeitgemäße Form des Subjekts in der industriellen Moderne (Giese 1925: 20). Bis heute spielt das sportliche Training als zentraler Bestandteil körperbezogener Selbsttechniken eine zentrale Rolle für die Formierung des Subjekts, die sich im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und gesellschaftlicher Disziplinierung bewegt. Zudem handelt es sich entgegen weit verbreiteter Annahmen bei Sport und Fitnesskultur immer noch vorwiegend um Mittelschichtspraktiken. Dass sich ihre konkrete Ausübung verändert hat, hängt vor allem mit dem Wandel der Arbeitswelt in der postindustriellen Moderne zusammen. Dieser Wandlungsprozess zeigt sich bereits an den Fitness-Studios selbst: Während noch bis in die achtziger Jahre hinein die professionellen Kraftsportler die Szene dominierten, verkaufen die Studios heute vor allem ‚FitnessLebenskonzepte‘, die neben gesundheitsförderlichem Training Attraktivität, Entspannung und Wohlbefinden versprechen. Ihre auf schnelle und demonstrative Wirkung berechneten Angebote verhelfen der Branche zu beständigem Wachstum. Schätzungen zufolge waren 2006 ca. 7 Millionen Menschen in Deutschland Mitglied in einem Fitness-Studio. Das sind etwa 8,5% der Bevölkerung und damit deutlich mehr Menschen als in Fußballvereinen organisiert sind (vgl. Alkemeyer 2007: 7). Vor diesem Hintergrund können Fitness-Studios gegenwärtig als die maßgeblichen Orte für die selbstverantwortliche Herstellung eines idealen, athletischen Körpers gelten. Begünstigt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Marktförmigkeit aller Lebensbereiche und die Reduktion staatlicher und betrieblicher Gesundheitsfürsorge, gegen die ein trainierter Körper versichern soll. So erscheint das Fitnesstraining als Ausdrucks des Wettbewerbs auch im Freizeit- und Privatbereich, dessen Grenzen zur Arbeitswelt verschwimmen. Im gesellschaftlichen Wettbewerb auf dem Arbeits- oder Partnermarkt ist der Körper zum symbolischen Kapital geworden, das gezielt eingesetzt wird. Denn der trainierte und wohlproportionierte Körper bringt nicht nur eine positive, selbstbestimmte Identität zum Ausdruck, sondern vermittelt darüber hinaus gesellschaftliche Werte wie Leistungsbereitschaft, Disziplin und Gesundheitsbewusstsein. Dies gilt nicht nur für die Modellierung des Körpers durch Ernährung und Fitness-Training, sondern auch für seine operative Umformung. Während Schönheitsoperationen noch vor zehn Jahren ein Tabu waren, das dem Eingeständnis mangelnder Schönheit oder dem Älterwerden gleichkam, ist ihre 89

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Zahl in den letzten Jahren drastisch gestiegen.3 Ihre geschickte Inszenierung kann heute sogar sexy wirken, weil die Herstellung der eigenen Erscheinung als Ausdruck von Selbstbewusstsein und Raffinesse gedeutet wird. Produziert wird ein Körperideal, in dem sich Sport, Fitness und Kreativität als Konzeptualisierungen von Körperlichkeit flexibel zusammenfügen: Das passende Out-fit wird nicht mehr am, sondern als Körper getragen. Gleichzeitig verdrängt dieser dynamische Self made-Körper den von Alter, Arbeit oder Krankheit gezeichneten Körper aus der öffentlichen Wahrnehmung. Diese Entwicklung verbindet sich mit der Aufforderung an alle, den idealen Körper herzustellen (vgl. Rose 1997: 129f.).

2. John von Düffels Roman EGO macht das gegenwärtige Schönheitshandeln zum Ausgangspunkt einer satirischen Verarbeitung, in der die Modellierung des Körpers als gleichsam schöpferischer Selbstentwurf erscheint. Auch hier gilt, dass jeder für seinen Körper selbst verantwortlich ist. Dadurch wird das Fitness-Training zum Bestandteil erfolgreichen Selbstmanagements. Insbesondere dem Protagonisten steht dieser Zusammenhang deutlich vor Augen. Je höher Philipp auf der Karriereleiter klettert, desto mehr trainiert er. Rückblickend heißt es: „Zu der Zeit war ich noch nicht so in Form. Fitness lief eher nebenher. Manchmal ließ ich ganze Tage einfach aus, manchmal kam ich schon nach einer halben Stunde wieder aus dem Studio. Das wäre heute natürlich undenkbar, aber damals hat es gereicht, um immer ein bisschen besser auszusehen als die anderen. Schönheit ist relativ“ (Düffel 2001: 44). Das ausgiebige Schönheitshandeln erscheint als rationaler Beitrag zu Anerkennung und Erfolg, wird aber durch Übertreibung auch der Lächerlichkeit preisgegeben. So stellt sich Philipp beispielsweise selbst an den Kopierer, um die Bewunderung der vorbeikommenden Sekretärinnen für sein wohlproportioniertes Erscheinungsbild zu erheischen: „Natürlich bin ich mir im Klaren, daß es nicht ganz standesgemäß ist, Kopierarbeiten zu übernehmen. […] Doch es wäre einfach schade, all diese Blicke zu verpassen, die ich gut gebrauchen kann, ohne sie nötig zu haben. Aufmerksamkeit sollte man nicht nur erregen, man muß sie auch zu nehmen wissen“ (Düffel 2001: 31). Als endlich eine Frau stehen bleibt, legt er sich erst recht ins Zeug: „Wie um den Kopiervorgang zu beschleunigen, stütze ich mich mit beiden Armen auf den Einzelblatteinzug, Mein Trizeps entfaltet seine wunderbar modellierte Fließform. Der dünne Hemdstoff schmiegt sich eng an das geflochtene Muskelfleisch. Ich lächle.“ (Düffel 2001: 33) 3

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Vgl. hierzu die Einleitung, sowie verschiedene Beiträge in diesem Band (Anm. d. Hg).

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Der Roman führt die Arbeit am Körper als Bestandteil der postindustriellen Leistungsgesellschaft vor, die gleichzeitig als Infragestellung bürgerlicher Männlichkeit und individueller Moral erscheint. Die Rede von der ‚Form‘ kann dadurch als bewusste Verkörperung der eigenen Marktförmigkeit gedeutet werden. Die Funktion des trainierten Körpers liegt denn auch nicht in seiner praktischen Beanspruchung, sondern in seiner Präsentation und Selbststilisierung. Was zählt, ist die eigene Wirkung und der optimale Einsatz von Zeit und Mitteln. Für diesen Einsatz greift Philipp auf das Bild des Athleten zurück: „Natürlich muß man Athlet sein. Jeder, der heute ernstgenommen werden will, muß absolut Athlet sein, ob er nun in der Computerbranche arbeitet oder als Filialleiter in einem Supermarkt. Athletsein ist Dogma. Aber ich will nicht in dem Körper eines Marathonläufers enden. Ich habe nie verstanden, warum Menschen sich in solche Extreme hineinquälen, nur um am Ende auszusehen, wie unterernährte Grillhähnchen. Im Typ Marathonläufer vereinigt sich ein Maximum an Fitness und ein Minimum an Optik. Ich will genau das Gegenteil. Fitness ist für mich nur ein Mittel, um zu dem Körper zu kommen, den ich immer haben wollte.“ (Düffel 2001: 134)

Dass es Philipp einzig um die Schöpfung eines schönen Körpers und weder um Ausdauer noch um Freude an der Bewegung geht, veranschaulichen auch seine abfälligen Einlassungen über das Joggen: „Entgegen weitverbreiteten Vorurteilen ist Joggen nicht gut für die Figur. Wer sich davon schönere Beine erhofft, daß er auf ausgelatschten Pfaden täglich seine Runden dreht, kann einem nur leid tun. Wie alle natürlichen Bewegungsmuster beansprucht das Joggen eine Vielzahl von Muskelgruppen […]. Die entsprechenden Trainingseffekte sind viel zu pauschal für eine problemspezifische Modellierung der Beinmuskulatur.“ (Düffel 2001: 180f.) Der Körper wird zum Projekt, dem Philipp punktuell mit optimalen Mitteln und permanenter Qualitätskontrolle begegnet. Dazu gehört die Naturalisierung des gezielten Trainings, während natürlicher Bewegung eine klare Absage erteilt wird. Es ist kein Zufall, dass sich bei von Düffel vor allem Anwälte, Unternehmer und Unternehmensberater dem Fitness-Kult hingeben. Sie stehen stellvertretend für die Avantgarde der gegenwärtigen Arbeitskultur, die durch ihre projektförmige Organisation jenes bewegliche Subjekt hervorgebracht hat, das mit Andreas Reckwitz als „hybride Doppelkonstruktion“ von Kreativsubjekt und unternehmerischen Subjekt charakterisiert werden kann (Reckwitz 2006: 500). Körperbezogene Selbsttechniken sind für das „hybride“ Subjekt konstitutiv. Sein Training ist unternehmerisches Handeln, das Leben ein einziges workout. Mit dem Fitness-Training greift der Erzähler auf die historische Entwicklung der Selbsttechniken im Zuge der Sport- und Körperkultur zurück. Ihrem kreativen Potential steht die umfassende Selbstkontrolle gegenüber, die mit 91

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der „Sorge um sich“ (Foucault) einher geht. Diese Sorge parodiert EGO als teils narzisstische, teils hypochondrische Selbstbespiegelung, die jedes Gramm Bauchfett zu einer Überlebensfrage, jede Essenseinladung zur persönlichen Herausforderung macht. So zerlegt Philipp sämtliche Mahlzeit in ihre einzelnen Bestandteile, die er nicht sinnlich, sondern rational wahrnimmt. Für ihn besteht Essen lediglich aus Kalorien, Vitaminen und Omega-3-Fettsäuren. Die permanente Wiederholung sämtlicher Nahrungsbestandteile verdeutlicht, dass mit dem Essen selbst keinerlei Lustgewinn verbunden ist. Doch auch Philipps Umgang mit seinen Gefühlen, spontanen Begegnungen oder Verabredungen, die wie Geschäftstermine wirken, steht unter dem Diktat umfassender Selbstkontrolle. Die Grenzen dieses mit unzähligen Fitnessdrinks traktierten Körpers zeigen sich in EGO, als es wirklich um das blanke Überleben geht. Dabei konfrontiert der Text die naturalisierte Schönheit des Körpers mit dem Einbruch von Naturgewalt. Die daraus entstehende Notsituation wird für Philipp zum Schlüsselerlebnis, das dem Roman voraus geht und das er umkreist: Während sich Philipp mit seiner Urlaubsgeliebten am Swimming-Pool amüsierte, geriet ihr Ehemann beim Schwimmen in der Meeresbrandung in Lebensgefahr. Plötzlich wurde von ihm als vermeintlich starken Mann die Rettung des als schwach angesehenen Gatten gefordert. „Sie war überzeugt davon, dass ich stark bin. Sie hielt mich für kräftiger und männlicher als ihren Mann. Das war der Sinn meines Trainings. Dabei hatte ich meine Muskeln nie zu etwas anderem gebraucht als zum Erhalten und Vermehren meiner Muskeln. Sie waren – genau wie Frau Weinheimer sagte – ein Kunstwerk: nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt, sondern nur dazu da, um angeschaut zu werden.“ (Düffel 2001: 49)

Obwohl Philipp wusste, dass seine an Fitnessgeräten erprobte Muskelkraft dem Kampf mit der Naturgewalt beileibe nicht gewachsen ist, stürzte er sich in die Fluten. Zwar gelang die Rettung durch einen glücklichen Zufall, aber gerade dadurch hat er sich selbst als völlig machtlos erlebt. Der Verlust der Kontrolle hat dazu geführt, dass er seine Trainingseinheiten massiv gesteigert hat. So wurde die gefühlte Niederlage zur Geburt des „Ego“ am Fitnessgerät. Zugleich macht dieser Vorfall Philipps eigentliche Trainingsmotivation deutlich. Denn jenseits der perfekten Verkörperung von Erfolg lauert beständig die Angst, zu versagen. Diese Angst ist es, die ihn antreibt und die die Kehrseite des unternehmerischen Selbstentwurfs bildet. Obwohl Philipp den Badeurlaub nutzen wollte, um über seine Beziehung zu Isabell nachzudenken, verbringt er nach dieser Affäre die verbleibende Zeit im Fitness-Studio des Hotels, wo er sich durch Trainer beraten lässt und harte Arbeit an sich leistet. „Ich hatte noch keinen Plan, was meinen Körper anging, aber ich wußte, daß ich unmöglich bleiben konnte, wie ich war.“ (Düffel 2001: 56f.) 92

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Mit der Gegenüberstellung von Fitness-Studio und Strand, Swimming-Pool und Meer wird die Naturalisierung des Schönheitshandelns als Naturbeherrschung am Menschen entlarvt. Denn der Beschluss, seinem Leben ein neues Ziel zu geben, führt letztlich nur zu einer Steigerung des Trainingspensums und damit zur Perfektionierung der Oberfläche, ein Kreislauf von Wiederholungen, der zum Selbstzweck geworden ist. Es gehört zu den Pointen des Romans, dass Philipp, dem selbst die Orientierung fehlt, erfolgreich als Berater tätig ist. Damit gehört auch er zu jener wachsenden Schar von modernen Subjektivierungsexperten (vgl. Bröckling 2007: 41), die er für sein eigenes Ego-Projekt in Gestalt von Trainern in Anspruch nimmt. Denn von selbstbewusster Gelassenheit und Souveränität ist er weit entfernt. Wie der Text immer wieder deutlich macht, erscheint seine Selbstwahrnehmung geradezu als Karikatur der Ratgebersprache: „Ich bin begeistert von der Leichtigkeit, mit der ich die Probleme in den Griff bekomme, immer gut gelaunt und voller Zuversicht. Doch am meisten bewundere ich mich für meine Ernsthaftigkeit. Bei allem Optimismus wirke ich hundert Prozent seriös, was mich dermaßen beflügelt, daß ich noch drei heikle Beratersachen hinterher erledige, kleine Firmen mit vielen Fragen und wenig Geld. Es ist immer wieder dasselbe Problem. Ihnen fehlt die Orientierung, ihnen fehlt Sicherheit. Und die bekommen sie von mir. Ich bin der zuversichtlichste Mensch auf der Welt“ (Düffel 2001: 25). Wie das Zitat deutlich macht, ist die enthusiastische Rede von Erfolg und Zuversicht ebenso wie die Rede vom „Athletsein“ performativ in dem Sinne, dass sie immerzu auf sich selbst verweist. Sie fungiert als schöne Hülle, die dem eigenen Ansporn dient und die Selbstzweifel verdeckt. Philipp folgt damit aktuellen Selbstmanagementstrategien: der Macht des Glaubens an sich selbst und der unschlagbaren Wirkung seines Äußeren. Dieses Versprechen beflügelt auch seinen Einsatz im Fitness-Studio, der mit dem schönen Körper auch das Ego formiert. So werden Trainingsabläufe zu Ritualen, die von aparten, dunkeläugigen Trainerinnen angeleitet werden: „Entscheidend sei die Anzahl der korrekt ausgeführten Wiederholungen auf der jeweiligen Gewichtsstufe“ (Düffel 2001: 101). Doch das Trainingsritual ist zu einer Instanz der sinnstiftenden Selbstvergewisserung geworden, das in der permanenten Wiederholung von Crunches, Liegestützen und Trizepsmodellierung leer läuft.4 Diese Ambivalenz von Selbstdisziplin, Suche nach Anerkennung und eigener Orientierung zeigt sich auch im Fortwirken der Rettungsaktion. Denn die sogenannte „Weinheimer-Krise“ lässt den Protagonisten nicht los. Der betrogene Ehemann wird für Philipp – wie bereits sein sprechender Name 4

Den Aspekt der Wiederholung hat auch Achim Stricker in seiner Interpretation des Romans hervorgehoben (vgl. Stricker 2003: 138f.). 93

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sagt – zum Inbegriff von Schwäche und Versagen, zur Projektionsfläche von Auflösungserscheinungen, denen sich Philipp mit Entschlossenheit und festen Muskeln entgegen zu stellen sucht, um die Erkenntnis der eigenen Schwäche zu umgehen: „Ich darf nicht einmal denken, daß ich schwach bin. Ich habe nicht ein Jahr umsonst trainiert.“ (Düffel 2001: 62)

3. EGO gliedert sich in drei große Abschnitte, die drei aufeinander folgenden Tagen entsprechen. Jeder Abschnitt beginnt mit Philipps Messung der Nabeltiefe, die am Ende des Romans wie bei seiner Partnerin Isabell nur noch knapp 3 Millimeter beträgt. Das Verschwinden des Nabels bringt die Uniformierung der Körper zum Ausdruck, zu dem das Training im Fitness-Studio beiträgt. Obwohl das Ziel von EGO die Schaffung eines überzeugenden Selbstentwurfs ist, kann sich der Protagonist nicht aus dem Widerspruch lösen, dass sein Einsatz zu nichts anderem führt, als einer von vielen gut aussehenden Männern zu sein. Was ihn auszeichnet, macht ihn zugleich austauschbar. Auf der Ebene der Gattung kann EGO damit als Parodie des Bildungsund Entwicklungsromans gelesen werden, in dessen Zentrum die Herausbildung einer moralisch gefestigten Persönlichkeit des Protagonisten steht. Diesen Prozess kehrt EGO regelrecht um: Philipp entwickelt sich nicht von innen heraus, sondern bringt statt dessen seinen Nabel zum Verschwinden. Seinen Körper hat Philipp gemäß seinem Grundsatz „Schönheit ist relativ“ nach der aktuellen Körpermode geformt: schlank, muskulös und von möglichst glatter, straffer Haut bedeckt. Schwingt in der Haarlosigkeit des Körpers noch das Ideal der Nacktheit der griechischen Statuen mit, so stellt sie vor allem die Gleichförmigkeit tendenziell jugendlicher Körper heraus, die sich nicht durch Haarwuchs oder -farbe unterscheiden. Die Frage der Brustbehaarung löst denn auch bei Philipp regelmäßig Selbstzweifel aus, da an diesem Punkt seine Männlichkeitsvorstellungen mit den geltenden Schönheitsnormen kollidieren: „Im Fitness-Studio bin ich inzwischen einer der wenigen, die noch Brustbehaarung tragen – wenn nicht sogar der einzige auf unserer Trainingsebene! (Ich rede nicht von Achselhaaren. Mit Achselhaaren kommt man in den Laden nicht mal rein.) Als letzter hat sich, wenn ich mich richtig erinnere, Jason enthaart. Oder Nils-Peter. Aber den habe ich schon eine Weile nicht gesehen. Möglicherweise hat er sich wegen seiner Sommersprossen gleich einer kompletten Hauttransplantation unterzogen.“ (Düffel 2001: 14)

Tatsächlich gilt der Frage der Brustbehaarung neben der Nabeltiefe seine größte Sorge. Am Ende des Romans wird er sie zugunsten der glatten Brust 94

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entschieden haben. Noch die letzten Züge von eigener Unverwechselbarkeit gibt er zugunsten des allgemeinen Schönheitsdiktats auf. Darüber hinaus muss Philipps seitenlanges Bemühen, seinen Bauchnabel wegzutrainieren, als Versuch gewertet werden, das individuelle Zeichen der menschlichen Geburt und der eigenen Lebendigkeit unsichtbar zu machen, das dem Ideal des perfekten Körper entgegen steht. Denn der Nabel verweist darauf, dass es keinen unversehrten Leib gibt (vgl. Wenner 2002: 99). Die Schließung des Nabels ist daher zugleich der Versuch, die eigene Unversehrtheit herzustellen, mit anderen Worten: der Versuch, einen unverwundbaren „Trainingspanzer“ (Düffel 2001: 200) zu schaffen. Vor dem Hintergrund der „Weinheimer-Krise“ ist dem Bauchnabeltraining auch der Wunsch eingeschrieben, den Misserfolg zu verarbeiten und die eigene Geschichte gleichsam nach innen zu kehren. Dabei wird einmal mehr das Zusammenspiel von physischen und psychischen Faktoren deutlich. Denn der Wendung des Nabels nach innen steht beim Wiedersehen mit Weinheimer die für Philipp ekelerregende Vorstellung eines Schwangerschaftsbauches mit „nach außen gestülpten Nabel“ (Düffel 2001: 213) gegenüber, eine Vorstellung, die noch dadurch unterstützt wird, dass Weinheimer die Begegnung ein Jahr nach dem Unglück als Wiedergeburtstagsparty inszeniert. Philipps narzisstische Nabelschau negiert die Bindung an den Mutterleib zugunsten der Selbstschöpfung. Diese basiert auf der Verfügbarkeit des Körpers, wie nicht zuletzt in der überheblich-beiläufigen Rede von der Hauttransplantation deutlich wird. Gleichzeitig trifft das zunehmende Verfügbarwerden des Körpers heute auf Technologieentwicklungen in den Biowissenschaften, die wesentlich weitreichendere Möglichkeiten der Selbstgestaltung eröffnen als das Training in Fitness-Studios oder Schönheitsoperationen. In diesem Zusammenhang kann der Nabel als Leitmotiv des Romans auch als Verweis auf die Aufhebung der menschlichen Fortpflanzung durch die modernen Reproduktionstechnologien gedeutet werden, die die Notwendigkeit von Zeugung und Geburt außer Kraft zu setzen beginnen.5 Philipps Verdrängung des Lebendigen und Unkontrollierbaren steht im Roman Isabells Kinderwunsch und die mit ihm verbundene Frage nach der Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung gegenüber, ein Thema, das von Düffel auch in seinem letzten Roman Houwelandt (2004) verarbeitet hat. Philipp will aufgrund seiner Selbstbezogenheit keine Kinder und empfindet Kinder und Beziehung zudem als unangemessene Festlegung in Zeiten fortwährender Flexibilisierung. Schließlich berührt der Kinderwunsch, der letztlich genau das Gegenprinzip zum Wegtrainieren des eigenen Nabels bildet, den eigenen hy-

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Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass sich von Düffels neuester Roman BESTE JAHRE (2007) mit den aktuellen Möglichkeiten der Reproduktionstechnologien befasst. 95

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briden Selbstentwurf und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeitsund Privatleben. So ist auch die Beziehung von Philipp und Isabell bereits Teil des unternehmerischen Handelns. Er verdankt ihr seine gute Stellung in der Kanzlei und am Ende des Romans wird sie für seinen Aufstieg zum Juniorpartner gesorgt haben. Da Isabell über unbezahlbare Kontakte verfügt, meint er, sich aufgrund seiner beruflichen Situation eine Trennung von ihr gar nicht leisten zu können (vgl. Düffel 2001: 195). Gleichzeitig stellt ihr Erfolg sein männliches Ego beständig in Frage. Als Isabell ihm bescheinigt, dass sein Training ihn muskulöser und männlicher wirken lasse, ist das für Philipp das schönste Kompliment (vgl. Düffel 2001: 237). Schließlich gelingt es Philipp, von Weinheimer zu lernen, dass Erfolg nicht alles ist und sich Isabell gegenüber zu seiner Schwäche zu bekennen (vgl. Düffel 2001: 222). Dass Isabell davon kaum überrascht wird, ändert nichts an der Trivialität der Szene, die dadurch gekrönt wird, dass Philipp endlich durch ausgiebiges Weinen den selbst gezimmerten Muskelpanzer durchbricht. Sie wirft ein bezeichnendes Licht auf die ebenfalls satirisch überzeichnete Darstellung der Geschlechterverhältnisse innerhalb des Romans, der schließlich damit endet, dass Isabell verkündet, im zweiten Monat schwanger zu sein, während sie gleichzeitig zum nächsten Karriereschritt ansetzt. So schematisch die Anlage der Figuren bisweilen ist, bezogen auf das Fitness-Training als körperbezogene Selbsttechnik macht der Text die Ambivalenz von Selbstschöpfung und Selbstkontrolle, von Individualisierung und Normierung deutlich. So verleiht der perfekt trainierte Körper Sicherheit und kann von daher als Ausdruck souveräner Selbstregierung verstanden werden. Gleichzeitig ist seine Souveränität performativ, eine lediglich auf Wirkung kalkulierte Leistung, wie sie auch im englischen Begriff performance = Leistung anklingt. Die Herausforderungen, die die postindustrielle Gesellschaft an das Subjekt stellt, werden dadurch offensichtlich nicht bewältigt, sondern lediglich individualisiert. EGO ist somit als Parodie des Projektmanagements zu verstehen, das auch das Ich erfasst hat (vgl. Bröckling 2007: 279). Dabei dient die enthusiastische Ratgebersprache, die der Text karikiert, vor allem dazu, die Angst vor dem Versagen zu verbergen, die auch Philipp umtreibt.

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Literatur Alkemeyer, Thomas (2007): „Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults.“ In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 18/2007, S. 6-17. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. Düffel, John von (2001): Ego. Roman, Köln. Fleig, Anne (2008): Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin (in Vorbereitung). Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. Giese, Fritz (1925): Geist im Sport. Probleme und Forderungen, München. Keun, Irmgard (1993): Gilgi – eine von uns [1931], Hildesheim. Schönheit (1925): Die Körperkultur im Film, Dresden (1. Filmheft der Schönheit). Nordhausen, Richard (1909): Moderne Körperkultur. Ein Kompendium der gesamten Körperkultur durch Leibesübung. Leipzig. Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist. Rose, Lotte (1997): „Versportung und Entmütterlichung in den Weiblichkeitsidealen der Risikogesellschaft.“ In: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M., S. 125-149. Sachse, Carola (1990): Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Hamburg. Siemens, Daniel (2007): „Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936.“ In: Archiv für Sozialgeschichte 47, S. 639-682. Stoff, Heiko (2004): „Ewige Jugend und Schönheit. Veraltete und verjüngte Körper zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“ In: Hasselmann, Kristiane/ Schmidt, Sandra/Zumbusch, Cornelia (Hg.): Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, München, S. 4160. Stricker, Achim (2003): „‚Wir kehren immer zum Wasser zurück‘: Erinnern, Wiederholen und Verdrängen in John von Düffels Romanen EGO und VOM WASSER.“ In: Andre, Robert/Deupmann, Christoph (Hg.): Paradoxien der Wiederholung, Heidelberg, S. 137-156. Wedemeyer-Kolwe, Bernd (2004): ‚Der neue Mensch‘. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg.

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Wenner, Stefanie (2002): „Unversehrter Leib im ‚Reich der Zwecke‘: Zur Genealogie des Cyborgs.“ In: Barkhaus, Annette/Fleig, Anne (Hg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München, S. 83-100.

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Bio-ästhetische Gouvernementalität – Sc hönheits c hirurgie als Biopolitik SABINE MAASEN

Einleitung „In der gegenwärtigen Periode aber ist eine Blüte betonter Körperkultur entstanden. Dazu kommt, dass das harte Ringen um die Existenz eines jeden einzelnen dazu zwingt, dafür zu sorgen, dass er nicht zu früh zum alten Eisen geworfen und aus dem Kampf um Platz und Brot ausgeschlossen werde. Es gibt aber noch ein anderes Moment, das die Vornahme kosmetischer Eingriffe rechtfertigt. Das ist die Befreiung vom seelischen Druck, der auf all denen lastet, die sich durch eine Entstellung in ihrem Lebensgefühl und ihrer Selbstsicherheit beeinträchtigt fühlen. Der Arzt erfüllt seine Sendung, wenn er helfen kann, auch bei Veränderungen des Körpers, die keine Krankheiten sind.“ (Geleitwort von E. Meirowsky in Noël 1932)

Noël selbst ließ daneben auch die ‚Liebe zur Schönheit‘ als Indikation gelten und stellte eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz der Schönheitschirurgie fest: „Die Schwierigkeiten sind zum großen Teil beseitigt. Zuerst musste die beschränkte Gesinnung überwunden werden, die in ihr etwas Verabscheuenswertes sah, ein Mittel, um den Menschen dem naturgewollten und naturnotwendigen physischen Altern zu entziehen“ (Noël 1932: 15).

Gut 75 Jahre ist es her, dass die Wissenschaft von der Schönheit sich noch so ungebrochen fortschrittsoptimistisch gab: Das Ziel des kosmetischen Eingriff besteht, so Noël, nicht nur darin, dem physischen Altern entgegenzutreten; es besteht mindestens ebenso sehr darin, moralischer Borniertheit entgegenzutreten. Denn die Liebe zur Schönheit sei nicht nur eine eitle Regung – wo Schönheit fehle, seien seelischer Druck und soziale Not nicht weit. Die medizinische Wissenschaft weiß sich deshalb dem Projekt der Aufklärung in gleich mehrfacher Weise verpflichtet: als chirurgische und seelische Heilkunst, ebenso wie als Wissens- und Orientierungsvermittlung. 99

SABINE MAASEN

Gut 75 Jahre später findet sich von diesem Projekt nahezu nichts mehr wieder: „So viel steht fest: Der Wunsch nach einer Korrektur und Verbesserung der menschlichen Natur ist so alt wie die Menschheit selbst. Heute jedoch bieten sich für derart tief greifende ‚Baumaßnahmen am menschlichen Körper‘ immer perfektere (medizinische) Technologien an. Man denke dabei z.B. an Phänomene wie die derzeit boomende Schönheitschirurgie oder die augenfällige Zunahme eines buchstäblich unter die Haut gehenden Körperschmucks (Tätowierungen, Piercings etc.), an die unter dem Stichwort bodyshaping firmierende Fitness-Welle oder das Doping im Leistungssport, an Anti-Aging-Programme oder den sich verschärfenden Schlankheitswahn (Essstörungen, Diätpillen etc.), an den steigenden Konsum so genannter Lifestyle-Psychopharmaka (Viagra, Prozac et al.) oder die medizinisch-neurologische Manipulation von Hirnvorgängen durch ‚Hirnschrittmacher‘ sowie nicht zuletzt auch an die bereits in naher Zukunft machbar erscheinende Praxis gentechnischer Perfektionierung. […] Im Mittelpunkt all dieser und ähnlicher Techniken aktiven Life Stylings steht der Versuch einer gezielten Manipulation, Modifikation und Potenzierung des menschlichen Körpers, der derzeit auf neue und erst noch aufzuklärende Weise an seine natürlichen Schranken stößt. Im Rahmen einer zunehmend ‚nachfrageorientierten‘ Medizin ändern sich die Rollen: Der Patient wird zum Kunden, der Arzt gerät zum Dienstleister, aus Therapie wird ‚Enhancement‘.“ (Ach/ Pollmann 2006: 9f)

Dieses Zitat entstammt einem jüngst erschienenen Sammelband mit dem Titel no body is perfect. Anders als die eingangs zitierte Ärztin Noël rücken die hier versammelten Beiträge in multidisziplinärer Kritik dem facettenreichen Regime des Body-Managements zu Leibe. Wenn auch alle Autoren Sander Gilman (1998) darin Recht geben, dass es praktisch zu allen Zeiten und in allen Kulturen Praktiken der körperlichen Selbstverbesserung gegeben hat, so identifizieren sie doch nun eine Zeitenwende: Aus rituell eingebundenen Praktiken der Selbstornamentierung oder gezielten Maßnahmen zur Abwehr sozialer Stigmatisierung treten wir soeben in ein Stadium ein, das als fragwürdige Demokratisierung der Schönheit (vgl. Rosen 2004), als zermürbender Zwang zur allseitigen Fitness (vgl. Bosshart 1995: 108) oder aber als bedauerliche Tendenz zur ostentativen Identitätsarbeit gebrandmarkt wird (vgl. Bayertz/Schmidt 2006; Ach 2006). Was diese Autoren mit der eingangs zitierten Ärztin Noël teilen, ist das Programm der Aufklärung. Nur gelingt es ihnen weder, sich eindeutig für den Segen kosmetischer Eingriffe auszusprechen, noch, diese ausschließlich zu verdammen: Während die einen (innerhalb zu bestimmender Grenzen) neue Chancen erkennen, Sorge um sich zu tragen, sehen die Anderen (in teils noch zu dechiffrierenden Formen) Ideologien am Werke, die fälschlich für Freiheit ausgeben, was doch eigentlich Zwang sei. Zuweilen findet sich auch Beides zugleich. Das Projekt der Aufklärung verliert an Eindeutigkeit, das Urteil verliert seine klaren Maßstäbe. 100

BIO-ÄSTHETISCHE GOUVERNEMENTALITÄT

An eben dieser Stelle setzt der folgende Essay an. Angesichts ambivalenter Verhältnisse fragt er nach den Bedingungen der erstaunlichen Akzeptabilität einer höchst kontroversen Praxis namens der Schönheitschirurgie. Die Vermutung ist: Sie ist nicht nur eine spezifische, hoch ambivalente Technologie des Selbst geworden – ihre gesellschaftsweite Durchsetzung trotz Kritiken aller Art zeigt zudem an, dass sie Ausdruck und Vehikel aktueller Biopolitik geworden ist. Biopolitik, als Regulierung der Gesellschaft durch das Leben seiner Mitglieder, ist dabei heute „nicht nur Aufgabe staatlicher Rechtsetzung, sondern auch souveräner Subjekte, die als mündige Patienten, aktive Marktindividuen oder verantwortliche Eltern medizinische und biotechnologische Optionen nachfragen [sollen]“ (Lemke 2007a: 102). Im Innern eines soziotechnischen Regimes des Body-Managements übernehmen souveräne Subjekte eine solche selbstregulative Kompetenz, auch schönheitschirurgischer Art. Indem sie sich als vitale, beziehungs- und arbeitsfähige Subjekte herstellen, entfalten sie ultimativ auch gesellschaftsregulative Wirkung. Dieses Regime stellt Problematisierungsformen (Wissen), Aufmerksamkeiten und Einflusschancen (Macht) sowie Körper- und Geschlechterordnungen (Subjektivierungsweisen) bereit, die Individuen (durchaus auch eigensinnig) nutzen können und müssen, um in der neoliberalen Gesellschaft gemeinwohlkompatibel zu agieren. Aus einer Chance der Befreiung von physischen oder psychischen Druck, die noch Noël feierte, ist heute ein unhintergehbar ambivalenter Druck zur (auch) ästhetischen Selbstregierung geworden. Dieses Phänomen werde ich bio-ästhetische Gouvernementalität nennen.

Am b i v a l e n z e n ä s t h e t i s c h e r S e l b s t r e g i e r u n g „Wenn der Körper nicht modelliert, verbessert oder vervollständigt wird, gilt dies nun nicht mehr als eine Huldigung an die gottgewollte Natur, sondern ist eine bewusste Entscheidung des Einzelnen. Wer nichts für sich tut, muss es halt selbst wissen. Aus dem schicksalhaften Körper wird der Körper als Option í und der kann vielfältig modelliert werden.“ (Klein 2000)

Im Zentrum postaufklärerischer Kritik steht mit Foucault die Frage nach der ‚historischen Ontologie unserer selbst‘ und mithin nach den Ereignissen und Strukturen, die „uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, […] konstitutieren und anerkennen“ (Foucault 1990: 49), um die ‚Gefahren der Moderne‘ (vgl. Dreyfus/Rabinow 1990: 68f) zu identifizieren: Eine solche Gefahr liegt nicht zuletzt in der Gleichzeitigkeit von Freiheit und dem Zwang zur Selbstgestaltung. Den Subjekten steht der Gestaltbarkeit von Körper und Selbst die fundamentale Verunsicherung gegenüber diesem Gestaltungszwang gegenüber: Die radikale Zurechnung von Entscheidungen auf Entscheider erfordert nicht nur, die Folgen dieser Entscheidung (für oder gegen Schönheitschirurgie; jetzt oder später; minimal oder exzessiv; einmalig oder regelmäßig) 101

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selbst zu tragen: „Insofern jeder sein eigener Produzent ist, übernimmt er für seinen Körper, sein Image, seinen Erfolg, und sein Schicksal selbst die Verantwortung“ (Boltanski/Chiapello 2003). Mehr noch: Diese rezente Zumutung erhebt die chirurgische Modulation des Körpers nicht nur zu einer Technik des Selbst (Foucault), sondern bindet sie in neoliberalen Gesellschaften in die Herstellung gemeinwohlkompatibler Sozialität (vgl. etwa Lessenich 2003: 89) ein und stattet sie so mit fulminanter biopolitischer Regierungswirkung aus. Die Zurückweisung dieser Technologie wird, wenn medizinisch nicht eindeutig contra-indiziert, unabweisbar oder aber sanktioniert: Warum lässt du Deine schiefe Nase nicht operieren? Kein Wunder, dass du keine Führungsposition mit Repräsentationspflichten erlangst! Biopolitik bezeichnet mit Michel Foucault eine spezifisch moderne Form der Macht: „Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“ (Foucault 1977: 171). Die prävalente Form der Politik des Lebens – auch hier folge ich Foucault – ist die des ‚Regierens‘ (frz. gouverner). Regieren im allgemeinen Sinne von ‚Führen, Lenken, Steuern‘ schließt die derzeit vorherrschende Form ein, in der es über die Einflussnahme auf die individuelle Selbstführung geschieht. „In der weiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird.“ (Foucault 1993a: 193f)

Dieser Regierungsbegriff ermöglicht es zu untersuchen, wie wissens- und technologiebasierte Herrschaftstechniken sich mit wissens- und technologiebasierten ‚Praktiken des Selbst‘ (vgl. Foucault 1993b) verknüpfen. Auch die Regierungswirkung schönheitschirurgischer Angebote ergibt sich ja in aller Regel nicht, oder nicht allein, durch Zwangswirkungen, sondern auch durch den individuellen Eindruck, zu seiner Optimierung selbst etwas beitragen zu können – und, wo es technisch möglich ist, es eigentlich auch zu müssen. Schönheitschirurgie als Element einer bioästhetisch orientierten Gouvernementalität leistet Doppeltes. Im Namen von Selbstbestimmung, Wahlfreiheit und Authentizität zielt sie auf eine Sozialität ab, deren Kosten überwiegend dem Individuum entstehen: Optimierungsmotiv und Gemeinwohlgebot gehen in diesem Arrangement eine ebenso effiziente wie flexible Allianz ein. Was das Optimierungsmotiv betrifft, so stellt das frei gewählte Schönheitshandeln auf die individuelle Maximierung von Lebenschancen ab, und dies unter Einsatz aller verfügbaren Technologien und allen verfügbaren Wissens – und oft genug auch eingedenk aller Kritiken, etwa feministischer Art. Ein 102

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schönheitschirurgischer Eingriff wird nicht selten trotzdem erwählt. Dieses ‚Optimierungsmotiv‘ hat zwar noch nicht alle in gleicher Weise und Intensität ergriffen, doch ist ein Imperativ zur ‚dermatologischen Selbstvermarktung‘ (vgl. Pollmann 2006: 320) immer weniger von der Hand zu weisen. Ja, wir halten es unterdessen zunehmend für „demokratischer und gerechter, dass nicht naturgegebene Unterschiede, sondern zuallererst die eigenen Mühe, der buchstäbliche Schweiß der Arbeit und der sachkundige Einsatz der Chemie den Grad des Erreichens oder Verfehlens idealer Körperbilder bestimmen. ‚A lovely girl is an accident; a beautiful woman is an achievement‘“ (Menninghaus 2003: 276f.). Diesem Optimierungsmotiv korrespondiert in der neoliberalen Gesellschaft ein Gemeinwohlgebot. Im Dienste des Gemeinwohls ist heute jeder gehalten, für sein Wohl vor allem selbst Sorge zu tragen (vgl. Lessenich 2003: 89). Wenn und insofern dazu schönheitschirurgische Maßnahmen für erforderlich gehalten werden, sind entsprechende Kosten (materieller oder immaterieller Art) individuell zu tragen. Immerhin gilt es, der neoliberalen Gesellschaft Kosten durch einen Körper zu ersparen, dessen mangelnde Attraktivität, Vitalität, Leistungsbereitschaft etwa Chancen auf dem Beziehungsmarkt (Glück!) oder Arbeitsmarkt (Erfolg!) verringert oder gar zunichte macht. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive verweben sich Optimierungsmotiv (Selbstführung) und Gemeinwohlgebot (Fremdführung) zum zentralen Movens für die Akzeptabilität schönheitschirurgischer Aktivitäten. Aus dieser Warte erscheint es jedenfalls verkürzt, sich allein auf die Folgen des neuen sozio-technischen Wissensregimes namens ‚Schönheitschirurgie‘ zu beschränken, und sodann allseits Verirrung in der Selbstführung1 und Manipulation in der Fremdführung2 zu erkennen. Selbstverständlich sind dies machtvolle Aspekte, die dazu beitragen, die kontroverse Praxis der zum Teil fragenwürdigen Selbstverschönerung voranzutreiben. Auch ist es zwar notwendig, aber nicht hinreichend, auf die neuzeitlichen Entwicklungsschübe in Sachen ‚Selbssttranszendierung des Menschen‘ hinzuweisen;3 all diese As1 2

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„How paradoxical that in our society masochism is considered a pathology to be cured, while cosmetic surgery is celebrated and encouraged, especially in popular women’s magazines.“ (Kuczynski 2007: 3) „How did this practice of self-mutilation, masquerading as a search for beauty, become not only a society-sanctioned addiction but a $15 billion industry? Economic greed and insecure women are such a potent combination that plastic surgery now rivals, economically, the far less disingenuous, much-criticized pornography industry. Which one, you have to wonder, hurts women more?“ (Bentley 2006) „Erstens durch die Aufwertung des Schöpferischen gegenüber dem vormodernen Ideal der Nachahmung der Natur als einer vorbildliche Ordnung; zweitens durch Säkularisierung der Jenseits-Vorstellungen von einer erlösten und verwandelten Menschheit zu einem Ziel der immanenten Entwicklung innerhalb 103

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pekte bilden Teil eines Ensembles von Bedingungen, die die gegenwärtige Akzeptabilität dieser Praxis forcieren – aber diese Praxis macht sich eben dadurch angenehm, dass sie so gar nicht ‚technisch‘, gar ‚politisch‘, sondern wesentlich als ganz persönliches Identitäts-, Glücks- und Erfolgsversprechen daherkommt.

Bioästhetisches Narrativ Eine Analytik der Schönheitschirurgie als Biopolitik legt zunächst nahe, sie als ein Korpus von Wissen zu rekonstruieren, das zugleich kognitive wie normative Karten bio-ästhetischer Praxis bereitstellt. Diese Karten eröffnen biopolitische Räume und spezifizieren Subjekte wie Objekte möglicher Interventionen. Auf dem allgemeinsten Level entfaltet sich die promesse de bonheur der Schönheitschirurgie heute innerhalb eines Narrativs, das den freien Markt, das Recht auf persönliche Entfaltung und das Gut individueller Autonomie zu der Behauptung verwebt, dass jede/r mit Geld, commitment und Leidensfähigkeit schöner zu werden vermag. Die kaum versteckte hidden agenda dieser Vorstellung richtet sich auf die weitergehende Behauptung, auf diese Weise nicht nur ästhetischer, sondern zugleich auch psychischer und sozialer ‚Handicaps‘ ledig zu werden (vgl. Rosen 2004). Denn: Wer schön ist, ist ganz sie selbst, fühlt sich gut und hat Erfolg. Dieses Narrativ wird unterstützt durch eine Vielzahl einschlägiger Multiplikatoren: Bücher, allgemeine und spezielle Zeitschriften, Vorabendsendungen im Fernsehen überschwemmen uns mit Informationen (‚sachlich!‘) und Erfahrungsberichten (‚feinfühlig!‘) zu Nasenkorrekturen, Brustvergrößerungen, Haarimplantationen, Botox-Injektionen in Gesicht, Dekolleté und neuerdings auch Fußballen, um das Joch von Stilettos leichter zu ertragen. Ein multimedial verbreitetes Ratgeber-Genre versieht uns überdies mit Kriterien dafür, wann eine Schönheitsoperation angezeigt sein könnte, und lässt uns an den Hoffnungen, Befürchtungen, Erleichterungen und Schmerzen derjenigen teilhaben, die sich zu einem Eingriff entschließen. Im Zentrum dieses kognitiv-normativen Narrativs stehen Argumente der Normalisierung. Ich folge darin Kurt Bayertz und Kurt W. Schmidt: „Angesichts der rasanten Entwicklungen der Leistungsgesellschaft scheint […] für viele weniger der Wille oder der Zwang, die Erste, Beste oder Schönste zu werden, im Vordergrund zu stehen, als vielmehr die Angst zurückzubleiben. Die treibende Kraft zur Korrektur des eigenen Körpers ist somit die Furcht, der menschlichen Gesellschaft und Geschichte; drittens durch die Entwicklung der auf der neuzeitlichen Wissenschaft beruhenden Technik und Medizin, die beide zu einer enorm beschleunigten und erleichterten Verbesserung von Natur und menschlichem Körper in technischer sowie sozialer Hinsicht führen.“ (Siep 2006: 23) 104

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aus (der Mitte) der Gesellschaft herauszufallen […]“ (Bayertz/Schmidt 2006: 59). Dieser Berufung auf Normen, bei der Normen gleichzeitig gesetzt und realisiert, aber stets auch moduliert werden, korrespondiert Jürgen Links Konzept des flexiblen Normalismus (vgl. Link 1997). Danach werden gegenwärtige Gesellschaften nicht mehr länger über normative Setzungen, Gesetze, Moral und Repression integriert, sondern bilden zunehmend Mechanismen der flexiblen Selbststabilisierung aus. Es kristallisieren sich Zonen des ‚Normalen‘ heraus, die Orientierungswert für die Individuen gewinnen; der Wunsch, normal zu sein und sich in der komfortablen Mitte der Gaußkurve zu bewegen,4 verknüpft individuelle und gesellschaftliche Bewegung auf quasikybernetische Weise: Gesellschaftliche Integration verläuft nicht länger über die Verteidigung starrer Grenzen, sondern darüber, dass in den flachen Randzonen der Normalverteilung die Grenzen des Normalen immer aufs Neue ausgehandelt und flexibel moduliert werden. Dies geschieht auch im Bereich des Schönheitshandelns nicht zuletzt über Wissen kognitiv-normativer Couleur. Hierzu einige Überlegungen entlang zentraler Stichworte des bioästhetischen Narrativs: Leitunterscheidung Das Narrativ ruht zunächst auf der Unterscheidung zwischen kosmetischer und rehabilitativer oder Wiederherstellungs-Chirurgie. Anders als Eingriffe nach Unfällen, Krankheiten oder schwierigen Operationen, so wird stets betont, handele es sich bei schönheitschirurgischen Eingriffen um ein bewusst und in freier Entscheidung gewähltes Mittel, den eigenen ‚normalen‘ Körper nach bestimmten ästhetischen Vorstellungen behandeln zu lassen. Sie „bringt die normalen Strukturen des Körpers in eine neue Form, um die äußere Erscheinung oder das Selbstwertgefühl zu verbessern“ (http://www.plasticsurgery. org vom 20.12.2007). Das Argument der freien Entscheidung wird vielfältig variiert (wann, bei wem, mit welchem Ziel der Eingriff erfolgen solle): Er bildet den Ausgangspunkt einer Praxis, die das Subjekt dazu anhält, an einer immer weitergehenden, da selbst der Mode unterliegenden, bio-ästhetischen Normalisierung interessiert zu sein.5 Verbreitung Das Narrativ der Schönheitschirurgie folgt dem Muster der Erfolgsgeschichte. Auch wenn die Zahlen sich laufend selbst überholen, so scheint doch sicher zu sein, dass mehrere Milliarden Dollar pro Jahr für Schönheitschirurgie aus4 5

Sander Gilman entwickelte dafür das Konzept des ‚passing‘ (http://www.falterat /heureka/archiv/99_6/12.php vom 15.12.2007). Heute ist der Köper selber in seiner Identität, in seinem Geschlecht und in seiner Haltung zum Material der Mode geworden – die Kleidung ist dabei nur noch ein Spezialfall (vgl. Baudrillard 1991). 105

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gegeben werden und dass sich das Volumen jährlich um zirka 10% steigert (vgl. Davis 1995: 21).6 Das gleiche gilt für die Zahl derer, die sich einer Form der kosmetischen Chirurgie unterzogen haben (vgl. Wolf 1991: 251). Die Kartografie der populärsten chirurgischen Verfahren (Brustvergrößerung, Fettabsaugen, Augenlidchirurgie, Bauchkorrektur und Facelifting, vgl. http://www.plasticsurgery.org) und entsprechende statistische Angaben navigieren die potentiellen Patienten durch das Terrain möglicher und, so wird suggeriert, offenbar weithin akzeptierter Interventionen. Dies gilt ganz analog etwa für die so genannten kosmetischen, minimalinvasiven Verfahren wie Botox-Injektionen zur Fältchenregulierung, die sich hoher medialer Aufmerksamkeit erfreuen. Die überwältigende und breit kommunizierte Bereitschaft, Körper (minimal-)invasiv zu korrigieren, leistet insgesamt dem Vorschub, was Jürgen Link (1997: 190) „Denormalisierungsangst“ nennt: Wer diese Zahlen liest, fragt sich, ob er sich noch im Durchschnitt akzeptabler Körper befindet und fürchtet um seine Normalität. Das normalistische Narrativ begünstigt kognitiv und vor allem normativ die Akzeptabilität der Mehrheitsmitte von Schlankheit und Vitalität – koste es, was es wolle. Dies ergreift nicht nur Frauen, sondern zunehmend auch Männer (vgl. http://www.medicon.de, Stand: 20.12.2007). In analoger Weise wirkt das Wissen über das erxorbitante Wachstum und die Differenzierung dieser professionellen Praxis.7 Lifestyle zwischen Pflicht und Spaß Die Normalisierung geschieht nicht nur durch Verweis auf die Verbreitung der Praxis selbst, sondern auch durch den Verweis auf die Nachbarschaft der kosmetischen Chirurgie zu Diäten, Bodybuilding, Mode, Frisuren und Kosmetik – Tattoos und Permanent Make-up stellen hier gewissermaßen Verbindungsglieder zwischen flüchtiger Kosmetik und plastischer Intervention dar. Alle diese mehr oder weniger aufwändigen Interventionen bearbeiten, nota bene, eine Reihe paradoxer Zumutungen: Sehen Sie ganz natürlich aus! Seien Sie ganz Sie selbst! Die Verkennung der Kosten, Mühen und Leiden ist Teil dieses Programms, das ganz darauf abstellt, sie als Teil des modernen beautylifestyles zu präsentieren. In der Schweizer Zeitschrift beauty science lautet

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Vgl. auch Villa in diesem Band. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es ungefähr 100 plastische Chirurgen in den USA, heute sind knapp 7.000 in der American Society of Plastic Surgeons (ASPS) eingetragen. Nicht eingerechnet ist die unbekannte Zahl von Zusatzspezialisten, unter ihnen v.a. Dermatologen, die ebenfalls Faceliftings, Augenlidoperationen und andere kleinere Verfahren durchführen. Allein der Titel „plastischer Chirurg“ ist von der medizinischen Gesellschaft anerkannt; andere Arten von Spezialisten sind jedoch ebenfalls berechtigt, diese Operationen durchzuführen. HNO-Ärzte mit einer Zusatzausbildung in ‚Plastischer Operation‘ können beispielsweise Nasenkorrekturen vornehmen.

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der Untertitel entsprechend „schönheit – wellness – lifestyle“. Warum nicht den kosmetischen Eingriff in Südafrika vornehmen, wo er nicht nur vergleichsweise günstiger angeboten wird, sondern zugleich mit einem Reiseerlebnis verbunden werden kann? Ein Überblick über attraktive Spa-Hotels gesellt sich neben Werbung für Körperpflegeprodukte. Natürlich fehlen Hinweise auf Fitness- und Diätprogramme oder neue Techniken der Zahnkosmetik nicht. Schon ein Blick in eine Ausgabe von beauty science zeigt die bruchlose Verschränkung unterschiedlicher Techniken durch ihre programmatische Vereinigung im Zwischenreich von Pflicht und Spaß – als Verantwortung gegenüber und Freude an einer gelungenen Selbstdarstellung (vgl. Marwick 1988: 296). Innerhalb dieses Regimes verliert die Verweigerung auch invasivselbstgestaltender Maßnahmen deutlich an Akzeptabiltität. Kommodifizierung „Schönheit, Mode und Stil ziehen sich durch die Geschichte der amerikanischen Wirtschaft als Waren, als Systeme der Repräsentation, und als Kategorien des Geschmacks und der Distinktion. [Aber das ist keine] ausschließlich amerikanische Geschichte […]. Der Fall der Sowjetunion beispielsweise führte zu einem Wiederanstieg der kommerziell hergestellten Schönheit unter den russischen Frauen, viele von ihnen orientieren sich am selbstbewussten weiblichen Schönheitsbild, das sich vom kommunistischen Ideal abwandte. In China, Indien und selbst in den Regenwäldern des Amazonas verkaufen und kaufen Frauen Schönheitsprodukte. Verkaufen, vermarkten und entwerfen von Schönheit wird für die Wirkungsweise der globalen, medienorientierten Wirtschaft immer bedeutender. Handel verbindet Waren, Aussehen, Status und Identität, um zu beeinflussen, wie Kulturen Normen der Erscheinung von Männern und Frauen definieren.“ (Peiss 2001: 19f)

Die Kommodifizierung der Schönheit, so dieser Aspekt des bio-ästhetischen Narrativs, ist kein Makel, sondern eine Chance: Schönheit kann man kaufen und so den individuellen Marktwert erhöhen (vgl. Gilman 1998: 67). Monatliche Ratenzahlung, günstige Zinskonditionen, flexible Rückzahlungsmodi und Abonnements (‚die beauty-flatrate‘) erleichtern die Entscheidung (vgl. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=516 vom 20.12.2007). Schönheit, so lässt sich das Vorgenannte im Hinblick auf seine subjektivierende Wirkung zusammenfassen, gilt in der gegenwärtigen Gesellschaft numehr als eine Frage der Entscheidung: „Der angeblich ‚klassenlose‘ Mensch des Neoliberalismus hat, so wird suggeriert, eigentlich ‚keine Bedürfnisse‘ mehr, er hat nur noch ‚Entscheidungsprobleme‘, muss er doch ununterbrochen ‚zwischen alternativen Ressourcen wählen‘, zumal er durch jede Entscheidung (z.B. über seinen Telefon- oder Stromanbieter, seinen Versicherer, seinen Bankagenten oder Börsenmakler, aber auch über seinen Fitnesstrainer, Wellnessberater oder kosmetischen Chirurgen) sein Vermögen und seine (Persönlichkeits-)Werte zu maximieren vermag“ (Blomert 2003: 20). Doch 107

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die Entscheidung betrifft ja nicht weniger als Glück, Erfolg und – ja: Authentizität. Auch wenn die meisten mit La Agrado in Pedro Almodovars Spielfilm ALLES ÜBER MEINE MUTTER (1990) seufzen: „Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja!“ (Bayertz/Schmidt 2006: 56), so ist wohl klar, dass man diese Kosten nicht scheuen darf. Das bio-ästhetische Narrativ webt ein dichtes Netz aus Normalisierungen, denen man sich, so scheint es, immer weniger entziehen kann.

Ethnografien bio-ästhetischen Entscheidens und Copings Das Konzept gegenwärtiger Biopolitik, das vor allem auf Regierung via Selbstregierung abstellt, sowie das Konzept des flexiblen Normalismus haben den großen Vorzug, dass sie keineswegs auf Strategien des blinden Gehorsams gegenüber (vermeintlichen) Schönheitsdiktaten setzen müssen. Das sich in ihrem Schnittfeld befindende Theorem bio-ästhetischer Gouvernementalität behauptet dies ebenso wenig. Im Gegenteil: Es kann die überwältigende Zunahme schönheitschirurgischer Praktiken als Effekt ganz heterogener individueller Taktiken (Erwägungen und Entscheidungen) rekonstruieren,8 die sich gleichwohl zu Strategien und Dispositiven verketten und damit zugleich individualisierende und totalisierende Effekte auslösen. Eine Analytik der Schönheitschirurgie als Element gegenwärtiger Biopolitik legt deshalb weiterhin nahe, sie nicht nur als einen Korpus von Wissen zu rekonstruieren, sondern auch als ein machtvolles System, das Aufmerksamkeiten und Einflusschancen kartiert. Auch in dieser Dimension werden Subjekte wie Objekte möglicher Interventionen spezifiziert. Nehmen wir eine Frau aus einer Studie Ada Borkenhagens. Sie sagt von sich selbst, sie sei politisch aktiv und „frauenbewegt“. Zur Motivation für ihre Brustvergrößerung sagt sie: „Ich mache das ausschließlich für mich selbst. Das ist nicht für Harald [ihr Lebenspartner, Anm. d. Verf.] oder so. Nee, der ist sogar im Gegensatz zu mir nicht gerade davon begeistert. Er sagt, er liebt mich so, wie ich bin. Es geht mir dabei um mich, nicht um andere. Ich möchte mir endlich selbst gefallen. Und sozusagen ganz bewußt etwas dafür tun […] Naja, und diese flache Brust, die hat mich schon immer gestört. Die paßt einfach nicht zu mir. Und das will ich ändern. Ich will, dass meine Brust endlich auch zu mir paßt, so ganz selbstverständlich wie meine Nase eben auch.“ (Borkenhagen 2007: o.S.)

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Unter der Adresse http://www.cosmeticsupport.com findet sich dazu ein aufschlussreiches Forum mit persönlichen und komplexen Entscheidungsberichten derjenigen, die sich einer Schönheitsoperation unterzogen haben: z.B. Julie’s Nose Journal oder Tracy’s Rhinoplasty.

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Nina Degele kritisiert dies als eine der konstitutiven Ideologien des Schönheitshandelns, wonach es eine ganz private und gar nicht außengelenkte Angelegenheit sei (vgl. Degele 2002: 16ff.). Ich sympathisiere, wie Debra Gimlin (2002), durchaus mit kritischen Positionen dieser Art. Entscheidend scheint mir gleichwohl, dass hier mehr als eine bloße Unterordnung unter das Diktat des Schönseins am Werke ist. Diese Bewegung gibt Frauen durchaus auch die Chance, schönheitschirurgische Praktiken auch als Resultat souveräner Entscheidung zu betrachten. Was hier zum Tragen kommt, lässt sich deshalb vielleicht angemessener als ‚Ambivalenzmanagement‘ beschreiben. Nach einer Serie von biografischen Interviews mit 20 Patientinnen kam auch Gimlin zu der Auffassung, dass es für alle Frauen eine sorgfältig durchdachte Antwort auf zermürbende Umstände waren, für die sie auf keine andere Weise eine Lösung gefunden hatten. Alle Befragten versuchten so gut wie möglich, Hoffnungen, Risiken und Leiden auszubalancieren. Auch wenn ihre Entscheidung für eine Schönheitsoperation letztlich nolens volens genau die Schönheitskultur reproduziert, die ihnen hohe Kosten verursachen, so sahen sie doch für sich selbst keine andere Option. Die beiden wichtigsten Parameter ihrer Entscheidung sind Druck von außen und ideologische Bedenken. Interessanterweise gibt es in der Regel kaum je äußeren Druck zur Durchführung einer kosmetischen Operation. In den meisten Fällen drängen weder der Partner, noch Familie oder Freunde die zukünftige Patientin zur kosmetischen Chirurgie. Im Gegenteil – sie tun vielmehr alles, um sie der Patientin auszureden. In gewisser Weise konstruiert das soziale Netzwerk eine erste Barriere, einen ‚Gerichtshof‘, in der die Entscheidung für eine kosmetische Chirurgie gegen oppositionelle Ansichten verteidigt werden muss. Auch bezüglich des ideologischen Standpunktes gibt es Irritationen: Einige der Patientinnen bezeichnen sich als überzeugte Feministinnen. Doch auch wenn sie die kritische Perspektive gegen das Bodymainstreaming aus einer Genderperspektive übernehmen, fehlen ihnen dennoch stichhaltige Argumente gegen Schönheitschirurgie in ihrem Fall. So sehr sie die männliche Sicht auf den Körper, die sie dazu anhält, ihre Erscheinung dementsprechend anzupassen, auch ablehnen, einige von ihnen leiden doch unter ernsthaftem Stress, der ihnen ein Körper macht, mit dem sie sich entweder gar nicht oder nur teilweise identifizieren können. In diesen Fällen stehen ideologische Bedenken Seite an Seite mit psychischen Leiden und verdoppeln so die Schwierigkeiten, mit denen man zurechtkommen muss. Eine der interviewten Frauen, die sich einer Fettabsaugung unterzogen hatte, gab an, dass sie, wäre es ihr nur möglich, ungleich lieber ihre Wahrnehmung verändern würde als ihren Körper. Doch sie könne es nicht. Der allgemeine Diskurs der Körperbilder in Beziehung zur weiblichen Geschlechtsidentität konstituiert mithin eine weitere Barriere gegen kosmetische Chirurgie. Sie formiert einen weiteren, virtuel109

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len Gerichtshof, in dem sich das negative Selbstkonzept gegen ideologischethische Bedenken durchsetzen muss. Spätestens an dieser Stelle ist die Frage angebracht, welchem Ziel diese aufwendige Prozedur der Reflexion und Rechtfertigung gilt? Es antwortet zwar auf ein Verlangen, aber es handelt sich um ein Verlangen nach Normalität. Die Frauen insistieren darauf, dass sie ihren Körper zu ihrer eigenen Zufriedenheit umgestalten und dass sie solche Prozeduren benutzen, um das herzustellen, was sie für ihre normale Erscheinung halten. Die Standard-Patientin will also eher Schönheit im Komparativ, und dies zum Zwecke der Vereinbarung von Selbstbild und körperlicher Erscheinung. Das entscheidende Kriterium ist: Authentizität. Der Körper hat das wahre Selbst zu spiegeln. Ein Körper, der dies nicht tut, ist daher ‚falsch‘ und muss verändert werden. Kosmetische Chirurgie ist dabei für Viele lediglich die ultima ratio, aber auch ein Recht: Nachdem sie alles getan haben, ihre Körper auf weniger invasive Art zu modizifieren, fühlen sich die Patientinnen zur kosmetischen Chirurgie nicht nur in der Lage, sondern nun auch berechtigt. In einer Kultur, die Körpererfahrung mit Charakter gleichsetzt, und darüber hinaus mit Erfolg, stellt in der Tat der falsche Körper und nicht die kosmetische Chirurgie einen Akt der Täuschung dar (vgl. Gimlin 2002: 89). Gimlin kann zeigen, dass sich diese Argumentation auch in dem Prozess spiegelt, der eine Schönheitsoperation begleitet. Sie identifiziert bei allen Befragten zwei Schritte in der Reorganisation der Körper-Selbst-Beziehung. Während der erste Schritt, die Entscheidung für einen solchen Eingriff, den Körper vom Selbst, genauer: den falschen Körper vom wahren Selbst ‚lösen‘ muss, sucht der zweite Schritt, mit den Ergebnissen der kosmetischen Chirurgie umzugehen, indem der neue, der wahre Körper wieder mit dem alten, eigentlichen Selbst ‚verbunden‘ wird.9 Dieser Prozess des Lösens und Verbindens drückt sich in Geschichten aus – Geschichten darüber, wie sehr ich meinen früheren Körper gehasst habe und wie sehr ich nun meine neue Nase liebe. Endlich sehe ich nun natürlich aus! Diese Narrative schließen die soziale Umgebung ein, Ehemänner oder Ehefrauen, Familien, Freunde – signifikante Andere, die die Entscheidung entweder mitgetragen haben oder verhindern wollten und die nun in das Copingverfahren einbezogen werden müssen. Wenn beispielsweise ein Partner noch nach der Operation betont, dass der alte Körper gut genug für ihn war, können sich Schwierigkeiten mit der Wiederaneignung des Körpers ergeben. Kurz: Kosmetische Chirurgie ist Gegenstand nicht nur individueller, sondern auch von expliziter Aneignung im Medium von Interaktionen, die Ängste und Ansprüche, letzte Auswege und Copingstrategien zu Rechtfertigungsmustern verbinden. Im Medium der Beseitigung

9 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Seier/Surma und Strick in diesem Band. 110

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ästhetischer Handicaps geht es, so der ethnografische Befund, um die Hervorbringung des eigentlichen, jedoch unbedingt ‚normalen‘ Selbst.10 Ich teile deshalb Gimlins Schlussfolgerungen: Die Frauen verhalten sich nicht als cultural dopes, sondern im Gegenteil als virtuose Verhandlungkünstlerinnen, die mit sich und ihrer Umwelt Bedarf und Kosten, Leiden und Hoffnungen so effektiv wie möglich ausbalancieren. Nolens volens reproduzieren sie dabei das ideologische Grundgerüst der modernen westlichen Kultur – sie bestätigen alle die derzeit gesetzte Gleichung, wonach die äußere Erscheinung den Charakter indizierte. Kathy Davis liest dies jedoch nicht als Versagen, sondern mit Dorothy Smith als Ausweis von ‚agency‘ angesichts dilemmatischer Umstände (vgl. Smith 1990) – eine besondere Kompetenz zum Umgang mit Widersprüchen, die für Frau-sein, so Sandra Bartky, schon immer gegolten habe (vgl. Bartky 1990). Der Appell an politische Korrektheit helfe jedenfalls nicht weiter: „[…] it is my contention that learning to endure ambivalence, discomfort, and doubt is the prerequisite for understanding women’s involvement in cosmetic surgery […] we simply cannot afford the comfort of the correct line.“ (Davis 1995: 181)

Biopolitisch decouvriert sich Schönheitschirurgie insbesondere in den Entscheidungs- und Copingprozessen als machtvolles System, das Aufmerksamkeiten lenkt, Eingriffschancen spezifiziert, Gründe und Motive legitimiert. Im Hinblick auf die subjektivierende Wirkung dieser Praxis sehen wir überaus handlungsmächtige Subjekte, die ihre Selbstregulation auch angesichts hochkontroverser Entscheidungen konsequent und kompetent vollziehen – im Namen von Authentizität und Normalität, wohl wissend, dass sie der Ambivalenz ihrer Entscheidung (wie immer sie ausfällt) letztlich nicht entrinnen, sondern durch verstärkte Deliberations- und Legitimationstätigkeit begegnen müssen.

10 Darauf insistieren, einer Studie Barbara Meilis gemäß, auch Schönheitschirurgen selbst: Ihr Vokabular umfasst dabei die Begriffe Normalität, Natürlichkeit, harmonisches Gesamtbild, Zufriedenheit, und zwar entweder nach eigenen Normen oder eher an denen des Patienten orientiert. Sie beklagen dabei vor allem die mangelnde Objektivierbarkeit von Normalität, sei es der Erscheinung oder aber des Leidensdrucks: Dem setzen sie indessen ihre Deutungsmacht und -fähigkeit in jedem Einzelfall entgegen. Alle berufen sich dabei auf den Stand und das Ethos der Medizin, und zwar dezidiert gegen den Druck von Markt oder Dienstleistungskultur (vgl. Barbara Meili in diesem Band). 111

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B i o - ä s t h e t i s c h e G o u ve r n e m e n t a l i t ä t Biopolitik bezeichnet „[…] die seit gut zwei Jahrzehnten anhaltende gesellschaftliche Thematisierung und Regulierung der Anwendung moderner Naturwissenschaft und Technik auf den Menschen. Im Visier dieser Politik stehen vor allem die Fortpflanzungsmedizin und die Humangenetik; zunehmend aber auch die Hirnforschung, ferner ebenso das wissenschaftlich und technisch eher unspektakuläre Gebiet der kosmetischen Chirurgie. Biopolitik reagiert auf Grenzüberschreitungen. Sie reagiert darauf, dass Randbedingungen der menschlichen Natur, die bislang fraglos galten, weil sie jenseits unseres technischen Könnens lagen, verfügbar werden. […] Das Ergebnis sind moralische Kontroversen und Regulierungsdebatten, in denen es im Kern um die alte Frage geht, ob wir dürfen, was wir können.“ (Daele 2005: 8)11

Kurt Bayertz und Kurt W. Schmidt heben zu Recht hervor, dass eine ablehnende Haltung gegenüber Schönheitschirurgie oft auf der „Grundannahme einer Integrität der menschlichen Natur“ beruhe (vgl. Bayertz/Schmidt 2006). Solche Argumente sind indes soeben dabei, zunehmend weniger anschlussfähig zu werden: „Ein starker Begriff von Freiheit und Individualität ist mit einem starken Begriff von der ‚Natur des Menschen‘ nicht vereinbar“ (ebd.: 50). Vorbehalte dieser Art verlieren an Akzeptanz – komplementär dazu gewinnen (selbst gewählte) Eingriffe in Körper (und Geist) zunehmend an Akzeptabilität. Der Preis ist hoch: Wir sind nun mit einer unübersichtlichen Fülle von Urteils- und Handlungsmöglichkeiten konfrontiert. Nicht zuletzt Bioí und Gentechnologien radikalisieren die Chancen der Veränderbarkeit des Körpers. Neben medizinisch-technischen Errungenschaften (Anästhesie, Antisepsis) trugen auch die Ideologie der Aufklärung (Verantwortung für den eigenen Körper)12 sowie die mediale Bilderwelt schöner Körper (insbesondere durch die Fotografie) zur Durchsetzung der neuen Norm selbstgewählter Körpergestaltung bei – um nur die wichtigsten Entwicklungen zu nennen (vgl. Menninghaus 2003: 267f). In dem Maße, in dem Körper und ihre Erscheinung als optional, als zugleich veränderungsfähig und veränderungsbedürftig, aufgefasst werden, und in dem Maße, in dem immer neue wissenschaftlichtechnische Entwicklungen die Optionen steigern, ist bio-ästhetische Legitimation „nur um den Preis permanenter Aufmerksamkeit und Neupositionierung zu haben. Sie wird damit zu einer Vollzeitbeschäftigung, zu einem stets Projekt bleibenden Unternehmen, das alle Lebensäußerungen begleitet“ (Menninghaus 2003: 263). Voilà, das unternehmerische Selbst, das sich aus „vielfältigen Arbetis-, Beziehungs-, Freizeit-, Gesundheits-“ und – warum nicht – Schönheitsprojekten zusammensetzt (Bröckling 2007: 279). 11 Vgl. auch Geyer 2001; Graumann/Schneider 2003. 12 Vgl. Villa in diesem Band. 112

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Im Ergebnis dieser Entwicklungen hat der Druck auf das Ästhetische als Orientierungs- und Distinktionsinstrument erheblich zugenommen (vgl. Menninghaus 2003: 268). Zugleich mehren sich Stimmen, die versuchen, den permanenten Gestaltungszwang und generelle Prinzipien der Ästhetik doch zusammenzudenken. Medard T. Hilhorst (2002) liefert einen philosophischen Zugang, der versucht, die Ideen der Schönheit mit dem gestiegenen Wert der Schönheit und den sich daraus ergebenden schönheitsfördernden Aktivitäten zu versöhnen. Auf der einen Seite sieht er die formalen Normen der Schönheit, die auf Form und Gestalt, Proportion und Harmonie, Symmetrie und Passung basieren. Doch diese Schönheitsnormen ergeben nicht ein Schönheitsideal. Schönheitsideale variieren in den historischen Zeiten, zwischen den Kulturen und Subkulturen – nicht zuletzt belegen dies die wechselnden Trends in der kosmetischen Chirurgie, wie zum Beispiel die Grösse der Brust. Aus dieser Perspektive können sowohl die formalen wie auch die soziokulturellen Normen der psychischen Schönheit nur als notwendige, jedoch nicht als hinreichende Bedingungen für physische Schönheit gelten. Es geht, so auch Hilhorst, schließlich um Identität. Doch: Weder ‚Natur‘ noch ‚Authentizität‘ schaffen hier fixe Haltepunkte. Dieser Kontingenz der Schönheit und dem wachsenden Druck, sie zu erlangen, korrespondiert eine lineare Steigerung der Anstrengung, die wir auf ihre Erlangung verwenden: Sie ist mehr denn je mit sozialer Distinktion verbunden. Es wundert also wenig, dass die Herstellung physischer Schönheit mit der Hilfe von kosmetischer Chirurgie eine so komplexe, sozial vermittelte Praxis ist, angereichert mit Entscheidungen, Geschichten und Urteilen, die Subjekte individuell und interaktiv treffen. In diesem Gewebe der Diskurse und Praktiken erscheint kosmetische Chirurgie als das, was Michel Foucault Selbsttechnologie genannt hat. Diese Technologie des Selbst ist mit anderen Typen von Technologien verbunden, – z.B. Technologien der Produktion (z.B. Schönheitsindustrie), Technologien des Zeichensystems (z.B. der Diskurs über Körperverbesserung) sowie Technologien der Macht (z.B. Genderasymmetrien) (vgl. Foucault 1993b: 26). Durch ihre Wechselwirkung mit anderen Technologien haben Technologien des Selbst ein trickreiches Doppelgesicht: Auf der einen Seite erscheinen sie als Techniken der Freiheit, auf der anderen Seite als subtile Techniken der sozialen Unterwerfung. Das gilt auch für Schönheitstechnologien, wobei die kosmetische Chirurgie in besonderem Maße ambivalent zu sein scheint: „In der Tat, es handelt sich um einen Akt der freien Entscheidung: Ich entscheide, mich einer kosmetischen Operation zu unterziehen, da ich besser aussehen, glücklich und erfolgreich sein möchte. Zugleich zeigen sich offensichtliche Spuren der Unterwerfung: Geschlechts- und Körperstereotype, Gleichsetzung von Erscheinung und Charakter, Prozeduren der Evaluation individueller Wünsche […] Es ist jedoch genau diese Doppelgesichtigkeit der Schönheitschirurgie, die sie zu einer machtvol113

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len sozialen Praxis werden lässt. Sie verhandelt nicht weniger als Identität, Status, Ästhetik, Geschlecht, Ethnizität […] Die Strategien von styling und shaping „begründen kommunikative Ereignisse der Approbation und Ablehnung, der In- und Exklusion, Ereignisse, die in ihrer Gesamtheit das Feld des Sozialen gliedern […] Sie verhelfen den einzelnen dazu, ihren Platz – oder zumindest den Selbstentwurf davon – im unüberschaubar komplex gewordenen ‚Spiel‘ sozialer Kommunikation zu artikulieren, und lassen sie eben dadurch Teil dieses Spiels werden: ästhetische Partizipation.“ (Menninghaus 2003: 269f.)

Max Weber hatte bereits auf die Ambivalenzen und paradoxen Folgen der Modernisierung von Gesellschaft qua Rationalisierung verwiesen: Alle Versuche, durch Rationalisierung auf steigende Anforderungen im Alltag zu antworten, werden zwar mit dem Ziel betrieben, dadurch gesellschaftliche Zwänge zu reduzieren oder Chancen besser zu nutzen, um auf diese Weise Freiheitsgrade in der Gestaltung der Lebensführung zu gewinnen. Nolens volens bauen sie aber ein Zwangsmoment auf: die rigide Eigenkontrolle des Handelns. Das Paradox der rationalisierten Lebensführung ist die Steigerung von Autonomie und (selbstproduzierter) Heteronomie. Das gilt auch für die Rationalisierung des Schönheitshandelns. Im dilemmatischen Zwischenreich von Chance und Zwang normalisieren sich bio-ästhetisch reg(ul)ierende Subjekte. Es geht aber um mehr. Letztlich geht es um die Ko-Konstitution der Figur, die der Neoliberalismus voraussetzt, nämlich das autonome Marktsubjekt bzw. das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2002), das sich selbstreguliert auf dem Markt (hier: der Schönheitsangebote) zu bewegen versteht. Ebendies allerdings ist selbst eine neoliberale Suggestion: „Selbstregulierende Märkte sind ebenso wenig Bestandteil gesellschaftlicher Realität und sozialer Praxis wie selbstbestimmte Individuen. Beide – freie Märkte und freie Individuen – sind vielmehr Abstraktionen der Realität, Formen des Denkens der Realität, mit dem Ziel, sie ‚regierbar‘ zu machen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2002: 22). Es handelt sich um einen ‚Regierungs(denk)stil‘, der an Subjekten, ihren Körpern, ihren Wünschen und Denormalisierungsängsten ansetzt, und sie eben dort zu ebenso regierbaren wie selbst regierungsfähigen Subjekten stilisiert. Dies geschieht ganz überwiegend durch das, was Thomas Osborne in passend-ambivalenter Begrifflichkeit als Technologien der Freiheit bezeichnet: „Unter neoliberalen Bedingungen gerät die Freiheit selbst zu einer Technologie. […] Dies bedeutet, dass Freiheit einmal mehr eine Frage der Netzwerke der Freiheit ist, in die unsere Existenz eingebunden ist. Dies […] sind Netzwerke des Vertrauens, des Risikos, der Wahl. Netzwerke, die uns einladen, die Unwägbarkeiten unseres Lebens durch Unternehmertum und Akte des freien Willens zu überwinden. […] [Diese] Freiheit hat ihren Preis: kontinuierliche Beobachtung, […] Regulierung der Normen. Mit anderen Worten: Formen der Freiheit, die uns in das ganze Kontinuum 114

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akzeptabler Formen der (Selbst-)Führung […] einbinden.“ (Osborne 2002: 15, Hervorhebung d. V.)

Eine dieser Formen, die wir gesellschaftlich in Reflexionen, Institutionen, und mediale Präsenzen einbinden, und so für ihre zunehmende Akzeptabilität sorgen, ist bio-ästhetische Gouvernementalität. Eine ihrer Elemente ist Schönheitschirurgie. Ob eine Technologie entlang einer foucaultschen Unterscheidung eher disziplinierende oder eher ästhetisch-existentielle Wirkung entfaltet, daran sei erinnert, entscheidet letztlich unsere Haltung. Sie artikuliert sich als ‚Ethik ästhetischer Art‘. Zwischen Disziplin und Existenzkunst gibt es keinen Unterschied im Inhalt, sondern in der Freiheit zur Selbstüberschreitung (vgl. Menke 2003: 299) – doch es ist plausibel anzunehmen, dass jede Praxis in unterschiedlich ambivalenten Verhältnissen disziplinierende und ästhetischexistentielle Momente enthält. Das gilt im Prinzip auch für Praktiken invasiver Selbstgestaltung.

Epilog Die Reformulierung der Schönheitschirurgie als biopolitisches Element innerhalb einer Analytik der Regierung hat eine Reihe von Vorzügen. Sie erlaubt den Verbindungen zwischen physischem Sein und der moralischpolitischen Existenz nachzugehen: Wie werden bestimmte Wissensobjekte und Körpererfahrungen zu einem moralischen oder politischen Problem? Aber auch umgekehrt: Wie schlagen sich moralische oder politische Kontroversen in Chancen und Risiken der Selbstregierung nieder? Auch betrifft es „das Verhältnis von Technologien und Regierungspraktiken: Wie greifen liberale Regierungsformen auf Körpertechniken zurück, wie formen sie Interessen, Bedürfnisse und Präferenzstrukturen? Wie modellieren aktuelle Technologien Individuen als aktive und freie Bürger, als Mitglieder sich selbst managender Gemeinschaften und Organisationen, als autonom Handelnde, die in der Lage sind oder sein sollen, ihre Lebensrisiken vernünftig zu kalkulieren? Welches Verhältnis besteht zwischen der Konzeption eines selbstverantwortlichen und rationalen Subjekts und der Vorstellung von menschlichem Leben als Humankapital in neoliberalen Gesellschaftsentwürfen?“ (Lemke 2007b: 67)

Schönheitschirurgie ist not just skin deep, sondern stiftet eine spezifische Form von Sozialität. Körper machen Leute, schlanke Körper machen einen schlanken Staat (vgl. Fach 2002). Das neue Arrangement zwischen Individuum und Staat könnte (nicht) schöner sein – bio-ästhetischer Gouvernementalität sei Dank.

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Experten der Grenzziehung – Eine empirische Annäherung an Legitimationsstrate gie n von Sc hönheitsc hirurge n zw ische n Medizin und Lifest yle BARBARA MEILI

1. Einleitung Schönheitschirurgie boomt. In Printmedien erscheinen Anzeigen für BilligFettabsaugungen, Menschen werden vor laufender TV-Kamera operiert, ein Streifzug durchs Internet fördert eine Unmenge an Informationen über Angebote zu Tage, in Foren wird über Operationstechniken und über die besten Chirurgen diskutiert und auf einer Internetseite sammeln Frauen Spenden, um sich ihren Traumbusen zu finanzieren (http://www.myfreeimplants.com vom 06.06.2008). Parallel dazu steigt die Anzahl der Kliniken, der praktizierenden Schönheitschirurgen/innen sowie der vorgenommenen Eingriffe an.1 Mit der zunehmenden Verbreitung schönheitschirurgischer Eingriffe hat auch ein Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung stattgefunden. Doch ist die gesellschaftliche Akzeptanz tatsächlich so weit fortgeschritten, wie seit dem frühen 20. Jahrhundert diagnostiziert wird? Freudig stellte Suzanne Noël, die erste Schönheitschirurgin, bereits in den 1930er-Jahren eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz der Schönheitschirurgie fest: „Die Schwierigkeiten sind zum großen Teil beseitigt. Zuerst musste die beschränkte Gesinnung überwunden werden, die in ihr etwas beinahe Verabscheuenswertes sah, ein Mittel, um den Menschen dem naturgewollten und naturnotwendigen physischen Altern zu entziehen.“ (Noël 1932: 15) 1

Expertengespräch mit Dr. med. Daniel Knutti, Pastpräsdient der Schweizerischen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie (SGPRAC), am 13.2.2007. Zur steigenden Popularität von Schönheitsoperationen siehe auch Gilman (2005, 1999). 119

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Schönheitschirurgie polarisiert. Das Phänomen besitzt eine seltsame Anziehungskraft, es interessiert, weckt eine voyeuristische Neugier und stößt gleichzeitig ab. Warum aber löst die Schönheitschirurgie solch widersprüchliche Gefühle aus? Welche Eingriffe werden als legitim empfunden? Der mediale Diskurs zum Thema Schönheitschirurgie macht deutlich, wie breit und kontrovers die Frage nach der Legitimität solcher Eingriffe diskutiert wird. Die Verwunderung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, entspringt dem alltagsweltlichen Eindruck, dass Schönheitschirurgie beileibe noch keine Selbstverständlichkeit geworden ist; das Thema scheint jedenfalls immer noch kontroverse Diskussionen auszulösen. Breit angelegte Recherchen in Printmedien und Internetforen bestätigten meine Feststellung, dass Schönheitschirurgie keineswegs vorbehaltlosen Rückhalt genießt und nach wie vor stark um gesellschaftliche Legitimität ringt.2 Woher dieses Spannungsfeld rührt, in welchem sich die Schönheitschirurgie befindet, soll im nächsten Kapitel dargelegt werden: Die Beleuchtung des Begriffes der Schönheitschirurgie fördert Abgrenzungsprobleme zutage, die teilweise historisch bedingt sind und faktisch dazu beitragen, dass sich die Frage nach der Legitimität bei jedem Eingriff von neuem stellt. Im Anschluss daran wird in Kapitel 3 aufgezeigt, dass diese Frage sich ganz besonders aus der Sicht der Schönheitschirurgen stellt, die das ärztliche Schönheitshandeln als anerkennungswürdig darzustellen versuchen und dazu verschiedene Legitimationsstrategien einsetzen. Der Umgang der Schönheitschirurgen mit den Grauzonen und Grenzziehungsfragen wird dann anhand zweier Fälle thematisiert (Kapitel 4), die anschließend vergleichend diskutiert werden (Kapitel 5). Zum Schluss werden die Resultate zur Diskussion gestellt und zu einigen Thesen zugespitzt, die Ansatzpunkte bieten für weitere Forschungsarbeiten.

2

Ausführliche Recherchen in der Schweizer Mediendatenbank SMD decken Artikel aus den folgenden Zeitschriften und Zeitungen haben ab: Blick; Tagesanzeiger; NZZ; Der Bund; Neue Luzerner Zeitung; St. Galler Tagblatt; Aarauer Zeitung; Berner Zeitung; Basler Zeitung; Süddeutsche Zeitung; 20Minuten; Sonntagszeitung; Sonntagblick; Blick für die Frau; NZZ am Sonntag; Glückspost; Schweizer Illustrierte; Schweizer Familie; Annabelle, Bolero, Femina; Weltwoche; Spiegel; Stern; Das Magazin (Tagesanzeiger); NZZ Folio; WOZ; Sie + Er (Blick); Facts; K-Tipp; Bilanz; CASH; Handelszeitung; Beobachter; Finanz und Wirtschaft; Cashdaily. Zahlreiche Forendiskussionen finden sich unter: http://www.gofeminin.de/forum/show1_chirurgie_1/gesundheit/schoenheits chirurgie.html vom 5.12.2007.

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2. Schönheitschirurgie im Spannungsfeld Die Geschichte der Schönheitschirurgie ist in erster Linie eine Geschichte des Kampfes einer Subdisziplin um Anerkennung: Seit Anbeginn versuchen Schönheitschirurgen/innen, ihren Platz innerhalb der Medizin zu definieren, sich abzugrenzen und ihre Tätigkeit zu legitimieren. Mit der Zeit haben sich die einzelnen chirurgischen Disziplinen weiterentwickelt und konsolidiert. Die gemeinsamen Wurzeln und Überschneidungen mit der plastischrekonstruktiven Chirurgie, die bis heute einen höheren Legitimitätsgrad aufweist, haben von Anfang an für Abgrenzungsprobleme gesorgt. Technologische (Gilman 2005: 96) und gesellschaftliche (Ach/Pollmann 2006, Maasen 2005) Voraussetzungen haben schließlich dazu beigetragen, dass schönheitschirurgische Eingriffe allmählich populär geworden sind. Zu Beginn der Geschichte der Schönheitschirurgie um 1600 galt diese als verwerflich, weil sie Zeichen Gottes zerstöre und die moralisch konnotierten Kategorien ‚Krankheit‘ und ‚Gesundheit‘ durcheinander bringe. Wenn beispielsweise eine durch Syphilis zersetzte Nase erfolgreich repariert wurde, wurde damit ein Stigma entfernt, das gerechte Strafe symbolisierte (Gilman 1999: 233-234). Die damaligen Chirurgen werden heute allerdings als tapfere Retter dargestellt, welche trotz gesellschaftlicher Schmähung bereit waren, Entstellten zu helfen (vgl. beispielsweise Münker 1991). Lange Zeit blieb die Schönheitschirurgie verpönt und wurde heimlich praktiziert, etwa um ‚ethnische‘ Spuren zu verwischen. Angehörige der jüdischen Religion und Schwarze haben im 19. Jahrhundert begonnen, ihre kulturelle Herkunft zu verschleiern und sich so dem sozialen Druck zu beugen, um mit der dominanten Kultur konform zu gehen (MacGregor 1967).3 Im 20. Jahrhundert wandelte sich die Schönheitschirurgie zum Oberschichtsphänomen und stand für die Dekadenz der Schönen und Reichen (Ach 2006: 188), in der breiten Bevölkerung hingegen blieb sie ein Tabu. Heute lassen sich Tendenzen größer werdender Verbreitung und Akzeptanz erkennen (Gilman 1999). Schönheit ist machbar geworden, und in diesem Lichte erscheinen schönheitschirurgische Eingriffe ein geeignetes und effizientes Werkzeug, das eigene Aussehen zu verbessern. Schönheit ist ein wichtiger Faktor gesellschaftlicher Positionierung: Gutes Aussehen ist in vielen Bereichen vorteilhaft und kann als Mittel zur Erreichung gesellschaftlich legitimierter Ziele wie dem Erfolg im Beruf oder bei der Partnersuche beitragen (vgl. z.B. Maasen 2005: 240-241).4 Trotz dieser Normalisierungstendenz bleibt die Schönheitschirurgie umstritten. Im Schnittpunkt zwischen Medizin und Kosmetik, zwischen dem

3 4

Vgl. Davis in diesem Band. Vgl. Degele in diesem Band. 121

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Wunsch nach umfassender Gesundheit und Lifestyle, hat die Schönheitschirurgie eine schwierige Stellung inne, die vielfache Abgrenzungsprobleme zu Tage fördert. Neben der Frage, in welchem Verhältnis die Schönheitschirurgie zur Medizin steht, werden einzelne Eingriffe als unterschiedlich legitim wahrgenommen. Die Legitimitätsunterschiede spiegeln sich auch in der verwendeten Begrifflichkeit wider: Die Schönheitschirurgie hat sich als Spezialdisziplin aus der plastischen Chirurgie heraus entwickelt, die als Überbegriff definiert ist und auch die rekonstruktive oder Wiederherstellungschirurgie umfasst (Korff/Beck/Mikat 2000: 32). Nun lässt sich die rekonstruktive Chirurgie grundsätzlich durch klare Kriterien abgrenzen, denn sie „beseitigt sichtbare Defekte im Bereich der Körperform und -funktion, die durch Krankheit oder Verletzung, etwa nach Unfällen oder Kriegseinwirkungen, entstanden sind“ (Korff/Beck/Mikat 2000: 33). Es geht also um eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes. Trotzdem verwischen die Grenzen, denn fast allen rekonstruktiven Maßnahmen wohnt ein ästhetisches Moment inne. Es geht also nicht ausschließlich um die Korrektur gestörter Funktionen, sondern immer auch um die Wiederherstellung des Optischen. Die ästhetische Chirurgie wird als „Korrektur von Schönheitsfehlern, die nicht als Geburtsgebrechen oder Missbildungen eingestuft werden können“ definiert.5 Es scheint ein allgemeiner Konsens darüber zu bestehen, dass Schönheitschirurgie der ästhetischen Verbesserung dient (vgl. beispielsweise Taschen 2005: 66). Allerdings ist unklar, ob sie definitionsgemäß ausschließlich ästhetische Zwecke zu verfolgen hat oder aber zusätzlich einen psychischen Heilungsprozess bewirken kann.6 Die ästhetische Chirurgie wird auch Schönheitschirurgie oder kosmetische Chirurgie genannt. Zwischen den Begriffen bestehen inhaltlich wenige Unterschiede, sie werden jedoch nicht im selben Kontext verwendet. So benutzen praktizierende Chirurgen ungern den Begriff kosmetische Chirurgie (Münker 1991: 16), und auch der Terminus Schönheitschirurgie wird von Chirurgen nicht im Sinne einer Selbstbezeichnung gebraucht. Umgangssprachlich werden zudem auch Eingriffe unter den Begriff der Schönheitschirurgie gezählt, 5 6

Vgl. www.plastic-surgery.ch/de/plastische-chirurgie/index.php vom 1.7.2008. Manchmal hat die Schönheitschirurgie „auch therapeutischen Zweck und ist damit als Heileingriff zu qualifizieren, wenn der Patient unter seiner Körperform leidet und ihm mit der kosmetischen Korrektur die psychische Belastung genommen werden soll“ (Korff/Beck/Mikat 2000: 33). Hierbei wird oft auf die Definition von Gesundheit der World Health Organisation (WHO) verwiesen: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Vgl. http://www.euro.who.int/AboutWHO/Policy/20010827_2?language=German, Deutsche Fassung der „Ottawa Charta“ (Originaltext WHO 1946/1986) vom 20.2.2007

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die medizinisch betrachtet nicht dazu gehören, beispielsweise die Gruppe der minimalinvasiven Eingriffe.7 Hingegen werden bestimmte Operationen nicht als rein ästhetisch begriffen, die grundsätzlich darunter fallen müssten, wie etwa das Anlegen abstehender Ohren oder bestimmte Zahnkorrekturen.8 Der Versuch einer Begriffsbestimmung zeigt, dass die Grenzen faktisch unklar sind und um Bezeichnungen und Klassifizierungen im Bereich der Schönheitschirurgie gerungen wird. Ein Überlappungsproblem betrifft die ästhetische und die rekonstruktive Chirurgie: Die Begriffe werden als Gegensätze gehandhabt, obwohl rekonstruktiv nicht mit funktional oder medizinisch notwendig gleichzusetzen ist, sondern auch ästhetische Komponenten beinhaltet. Die Legitimität schönheitschirurgischer Eingriffe steht also erstens in Verbindung mit der Klassifizierung als ästhetische oder rekonstruktive Maßnahme: Die rekonstruktiven Chirurgie weist eine höhere Legitimität auf, die sich selbst auf medizinisch nicht notwendige Maßnahmen im Bereich der rekonstruktiven Chirurgie bezieht; das Recht eines jeden, wieder so auszusehen, wie er von Natur aus aussehen würde, scheint breite Anerkennung zu geniessen. Die Legitimität hängt zweitens mit der Sichtbarkeit und Auffälligkeit der ‚Deformation‘ zusammen. Beim Vorliegen einer wirklich großen Nase scheint ein Eingriff gerechtfertigt, bei kleineren Korrekturen wird eine Operation als unnötig empfunden. Drittens spielt bei der Legitimitätsfrage immer der Leidensdruck eine zentrale Rolle, wobei sich auch hier stets eine Zone der Unbestimmtheit abzeichnet. Zudem scheint die Art des Eingriffes eine Rolle zu spielen: Einige Operationen werden für nachvollziehbar und legitim gehalten oder gar nicht mehr als schönheitschirurgisch empfunden, während andere Eingriffe – etwa Brust- oder Lippenvergrößerungen – nach wie vor großer Rechtfertigungsanstrengungen bedürfen (vgl. z.B. Maasen 2005: 240). Die begriffliche Unschärfe und die je nach Operation variierende Legitimation lassen Interpretationsspielraum offen und führen zur Frage zurück, welche Eingriffe als legitim betrachtet werden und welche nicht, wie diesbezüglich die Grenze gezogen wird und mit welchen Argumenten an der Grenzziehung gearbeitet wird. Der Umgang mit den Grauzonen und die Versuche der Legitimierung und Normalisierung schönheitschirurgischer Eingriffe stehen somit im Zentrum der vorgenommenen Untersuchung.

7

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Unter die minimalinvasiven Eingriffe fallen vor allem Behandlungen zur Faltenreduktion, die keine operativen Eingriffe darstellen, beispielsweise BotoxInjektionen, Laserbehandlungen, chemische Peelings und Collagen-Behandlungen. Experteninterview mit Dr. Rudolf Häsler, ZMK, Universitäts-Klinik für Kieferorthopädie, am 23.4.2007. 123

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3. Chirurgen als Experten der Legitimierung und Normalisierung schönheitschirurgischer Eingriffe Über die Legitimität von Schönheitsoperationen wird nicht abgehoben in Ethikkommissionen entschieden; vielmehr entscheidet die Alltagspraxis über die Verschiebung der Grenzen legitimen Eingreifens. Verschiedene Akteure handeln legitime gesellschaftliche Deutungen aus und arbeiten an der Grenzziehung. Der Umgang mit dem Spannungsfeld um die im Aufschwung begriffene Schönheitschirurgie stellt insbesondere für jene, die sich operieren lassen und für diejenigen, die die Operationen vornehmen, eine Herausforderung dar: Von den Patienten/innen werden Schönheitsoperationen als Selbsttechnologien zur Körpermodifikation eingesetzt. Sie müssen sich vor der Operation mit ihren Wünschen auseinander setzten, müssen sich positionieren und den vorgenommenen Eingriff rechtfertigen. Die Beschäftigung mit sich selber und den am eigenen Körper wahrgenommenen Defiziten kann ein langwieriger Prozess sein, der viel Begründungsarbeit erfordert (vgl. z.B. Gimlin 2002; 2007; Kaw 1993; MacGregor 1967). Schönheitschirurgen/innen hingegen sehen sich im professionellen Kontext mit dieser Grenzziehungsarbeit konfrontiert: Als Hauptakteure und Experten der Grenzziehung weisen sie eine ganz andere Art der Betroffenheit auf als Patienten/innen; Das Abwägen ist für sie beruflicher Alltag und muss immer wieder aufs Neue vorgenommen werden. Wie gehen Schönheitschirurgen beim Versuch, die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Eingreifen zu ziehen, vor? Welche Rechtfertigungen und Erklärungen verwenden sie hinsichtlich ihrer Tätigkeit? Diese Fragen standen im Zentrum der vorgenommenen Untersuchung (Meili 2007), die auf die Legitimationsstrategien der Schönheitschirurgen zielt. Der Ausdruck Legitimationsstrategie ist eher ungebräuchlich und bedarf daher einer kurzen Erläuterung. Legitimation bezeichnet den Begründungsoder Rechtfertigungsprozess oder „den (erfolgreichen) Versuch, die eigenen Handlungen als begründet durch gemeinsame oder übergeordnete Ziele und insofern als rechtmäßig nachzuweisen“ (Fuchs-Heinritz et al. 2007: 390). Der Terminus Legitimationsstrategie ist nun insofern irreführend, als dass er suggeriert, es gehe dabei um ein durch Schönheitschirurgen geschickt eingesetztes Argumentarium, mit dem Skeptiker überzeugt werden sollen. Der Begriff Strategie wird hier aber nicht ausschließlich in diesem absichtsvollen, gerichteten Sinn verwendet. Zwar gibt es tatsächlich so etwas wie einen Kanon der zugunsten der Schönheitschirurgie ins Feld geführten Argumente, die auch im Sinne bloßer Inszenierungen und oberflächlicher Rhetoriken eingesetzt werden. Dennoch können auch solche Standardargumente für den Chirurgen selber sinnhaft zur Deutung des eigenen Berufs verwendet werden. Der hier 124

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verwendete Strategiebegriff deckt somit nicht nur intentional eingesetzte Argumente ab, sondern wird in Anlehnung an Foucault (1981) in einem weiteren Sinn verstanden und bezieht sich auf Aussagensysteme, die eine gesellschaftliche Plausibilität aufweisen und so als legitime Deutungsweisen erscheinen. Der Begriff Legitimationsstrategie bezeichnet somit (un)bewusste Versuche von Schönheitschirurgen, ihren Beruf, ihr Handeln und die Schönheitschirurgie insgesamt als sinnhaft und anerkennungswürdig darzustellen und zu erleben. Um die Grenzziehungsmechanismen und Legitimationsstrategien genauer zu analysieren, boten sich Interviews mit ästhetischen Chirurgen an. Ich habe mich für ein sample von fünf Ärzten entschieden, die in unterschiedlichem Grad mit Schönheitschirurgie in Berührung kommen (vgl. Meili 2007: 46-51): Die in diesem Feld tätigen Chirurgen/innen sind keine homogene Gruppe, und über die verschiedenen Kontexte lässt sich eine beträchtliche Varianz an Perspektiven auf das Thema Schönheitschirurgie herstellen. Interviewt wurden erstens zwei hauptsächlich in privaten Kliniken tätige Chirurgen, die vor allem Operationen im Bereich der Schönheitschirurgie durchführen, zweitens zwei rekonstruktive plastische Chirurgen, die an Universitätsspitälern angestellt sind und dabei auch mit ästhetischer Chirurgie in Berührung kommen sowie drittens ein Vertrauensarzt, der Empfehlungen über die Kostenübername durch die Krankenkassen abgeben muss.9 Um die Legitimationsstrategien der befragten Ärzte besser einordnen zu können, ist ein Überblick über den aktuellen Diskurs zur Schönheitschirurgie unabdingbar.10 Die dabei hervortretenden kritischen Einwände gegen die Schönheitschirurgie lassen sich in drei Gruppen ordnen: 1) Jeder operative Eingriff birgt medizinische Risiken, auch wenn sich die Operationstechniken stark verbessert haben. Das Fehlen einer medizinischen 9

In Anlehnung an Davis (1995), die sich mit dem Blick eines so genannten Inspektors auf die Schönheitschirurgie befasst hat, erachte ich die von Krankenversicherungen eingesetzten Vertrauensärzte/innen ebenfalls als sehr stark mit Legitimitäts- und Grenzziehungsfragen befasst. Im zusätzlichen Interview mit einem Vertrauensarzt, der bei zur Debatte stehenden Einzelfällen über die Kostenübernahme entscheidet, sollte das Grenzziehungsproblem von einer anderen Seite her angegangen werden: Der interviewte Vertrauensarzt führt selber keine chirurgischen Eingriffe durch, muss aber über die Legitimität von Eingriffen urteilen, indem er festlegen muss, wann eine Kostenüberwälzung zulasten der Versichertengemeinschaft gerechtfertigt erscheint. Die Frage der Grenzziehung wird also bei der Diskussion unklarer Fälle durch Vertrauensärzte/innen der Krankenkassen besonders virulent. 10 Zeitungsartikel, Homepages von Schönheitskliniken, Diskussionsforen und Chats zu Schönheitschirurgie oder spezifischen Operationstechniken, Stellungsnahmen von Verbänden ästhetischer Chirurgen, Leserbriefe, Interviews und medizinische Literatur zu verschiedenen Eingriffen wurden gesichtet und zahlreiche Gespräche mit Experten und Laien geführt. 125

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Indikation, die normalerweise das Eingehen der Risiken begründet, lässt schönheitschirurgische Eingriffe – so jedenfalls der erste Kritikstrang – fragwürdig erscheinen. 2) Die zweite Gruppe kritischer Einwände betrifft das Verhältnis von Natur und Technik beziehungsweise die Frage, wie weit die Verfügung über den menschlichen Körper gehen soll. Hier finden sich viele (quasi-)religiöse Argumente, die die menschliche Einmischung in die Natur (oder die Schöpfung) problematisieren.11 3) Schließlich werden schönheitschirurgische Techniken auch feministischer Kritik unterzogen. Zwar gibt es auch Befürworterinnen, welche damit argumentieren, dass schönheitschirurgische Eingriffe mehr Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen. Frauen sind dabei handlungsmächtige Akteurinnen, die eine gezielte Aneignung ihres Körpers vornehmen. Die Gegnerinnen betonen jedoch das Zwangsmoment und kritisieren, die Entscheidung für eine Schönheitsoperation sei keineswegs eine freie und selbstbestimmte. Frauen unterwürfen sich damit gängigen Schönheitsnormen, die männlichen Idealvorstellungen entsprängen. Diese Unterordnung hat auch eine gesellschaftliche Dimension, die über das Individuum hinaus reichende Konsequenzen mit sich bringt: Durch die Anpassung an geltende Normen wird die Herrschaftsordnung reproduziert und gefestigt (vgl. z.B. Gagné/McGaughey 2002; Kaw 1993). Vor dem Hintergrund dieser Kritikstränge wurden sodann die Interviews geführt. Sobald ein Interviewbündnis zustande gekommen war, begann ich relativ hartnäckig nachzufragen und die Interviewpersonen mit Kritik und Widersprüchen zu konfrontieren. So kamen lebendige Gespräche und Diskussionen zustande, die es erlaubten, näher an die Brennpunkte heran zu kommen. Die Interviews wurden objektiv-hermeneutisch ausgewertet (vgl. Oevermann 2002) und zu Falldarstellungen verdichtet. Danach wurden die Ergebnisse der Analyse verglichen, um schließlich die Legitimationsstrategien der Schönheitschirurgen heraus zu arbeiten.

4. Legitimationsstrategien zweier Schönheitschirurgen im Vergleich Angesichts der Abgrenzungsprobleme und der noch nicht fraglos gegebenen Akzeptanz erweist sich die Schönheitschirurgie als legitimierungsbedürftig. Für diesen Artikel wurden zwei kontrastierende Fälle ausgewählt. Der Schönheitschirurg Blum und der plastisch-rekonstruktive Chirurg Colombo sollen

11 Wie beispielsweise auch das Klonen bzw. die Gentechnologie allgemein weckt die Schönheitschirurgie Machbarkeitsphantasien und weist Verbindungen zur Eugenik auf (Gilman 2005: 107). 126

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dabei nicht als Idealtypen, sondern unter der Beibehaltung spezifischer, fallinterner Widersprüchlichkeiten dargestellt werden. Dennoch dienen sie in ihrer Kontrastivität dazu, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Umgangs mit dem Phänomen Schönheitschirurgie aufzuzeigen und darzulegen, welcher Selbstdarstellungen und Herangehensweisen sich die Chirurgen bedienen.

Colombo: Plastischer Chirurg am Universitätsspital Colombo wurde Mitte 1960er-Jahre in eine Akademikerfamilie geboren. Er arbeitet als Oberarzt in der Abteilung für Plastische und Wiederherstellungschirurgie eines Universitätsspitals. Die Berufswahl wird von Colombo retrospektiv als klar und einfach dargestellt: „Die Berufswahl … Äh, ganz einfach: Es war immer klar, dass ich [ursprünglich] Medizin oder Computer Sciences machen wollte, also: entweder Mensch oder Maschine, ähm, ich habe mich dann für Medizin entschieden …“ (Aus dem Interview mit Colombo, 2.5.2007, Seite 2, Zeilen 10-12)

Mit Medizin und Computer Sciences werden zwei Optionen aufgezählt, die ziemlich Unterschiedliches beinhalten. Beiden Möglichkeiten ist aber ein Interesse am Funktionieren, an Abläufen und an der Lösung von Problemen gemein. Die Wahl der chirurgischen Disziplin wird von Colombo als ebenso klar dargestellt wie die Entscheidung für die Medizin, der nicht weiter begründet wird. Die im Weiteren vorgenommene Einschränkung auf die rekonstruktive Chirurgie unterstreicht wieder das Interesse an der Funktionalität: In der dramatischen Zuspitzung „entweder Mensch oder Maschine“ ist demnach gar nicht unbedingt ein Gegensatz enthalten, vielmehr kommt darin das Betrachten des Menschen von der technischen Seite her zum Ausdruck. Die perfekte Anwendung von Techniken steht in Colombos Berufsverständnis im Vordergrund. Interessant wird die Passage zum Entscheid für die plastische Chirurgie beim Einsetzen der unaufgeforderten Legitimation: „Es war relativ früh klar, dass ich was Chirurgisches machen will. […] Ich habe die plastische Chirurgie als … absolut beeindruckende und höchst interessante Chirurgie empfunden, zumal man im Bereich der rekonstruktiven Chirurgie, also nicht unbedingt der ästhetischen, enorme, fantastische Rekonstruktion machen konnte.“ (Colombo, 2.5.07, 2/13-18)

Es war die rekonstruktive Chirurgie, die Colombo faszinierte, von der ästhetischen grenzt er sich explizit ab: „Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht ganz klar, was diese ästhetische Sache soll, weil das nicht so ganz nachvollziehbar war, warum sich Menschen da unters Messer legen, die eigentlich gesund sind.“ (Colombo, 2.5.07, 2/20-22) 127

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Die plastische Chirurgie wird somit durch Colombo dichotomisiert, die Darstellung der zwei gegensätzlichen Seiten ist eine Leitdifferenz, die sich im gesamten Interview findet: Während die rekonstruktiv-plastische Chirurgie als faszinierend beschrieben wird und legitim erscheint, wird die ästhetische Chirurgie abgewertet. Die eigentlich gesunden Patienten werden mit Unverständnis bedacht, was einen rein physisch definierten Gesundheitsbegriff voraussetzt. Medizinische wird so mit funktioneller Notwendigkeit gleichgesetzt, psychische Gründe zählen dagegen nicht wirklich. Die ästhetische Chirurgie erscheint hier als Nebenprodukt der eigentlichen Medizin. Die Verständnislosigkeit gegenüber der ästhetischen Chirurgie hat sich laut Colombo aber verflüchtigt, denn im Laufe der Zeit hat er Einblick in die Motivation der Patienten erhalten: „Wo ich anfangs noch selten die Indikation verstanden hab, für eine Operation ästhetischer Art, muss ich sagen, […] mit zunehmendem Verständnis für die Patientenprobleme und für den Leidensdruck, kann man das auch viel besser nachvollziehen.“ (Colombo, 2.5.07, 2/25-28)

Der Leidensdruck wird als wichtige Grundlage für die Berechtigung schönheitschirurgischer Eingriffe dargestellt. Die ästhetische Chirurgie legitimiert sich somit über das Menschliche, der ästhetische Chirurg über das Hilfsmotiv. Colombo zeichnet damit ein klares Bild vom Verhältnis der ästhetischen zur rekonstruktiven Chirurgie: „Klar: Tumor ist Tumor, da braucht man nicht über Ästhetik zu diskutieren. Unfall ist Unfall. Da braucht man auch nicht über Ästhetik zu diskutieren.“

Dies stellt eine ziemliche Verkürzung der Tatsachen dar, was von Colombo auch bemerkt und mehrfach relativiert wird. Dennoch greift er immer wieder auf dieses dichotome Bewertungsschema zurück, versucht dabei aber auch immer wieder, die ästhetische Chirurgie über den Leidensdruck zu rechtfertigen. Beim Versuch, der ästhetischen Chirurgie Legitimität zuzusprechen, bedient sich Colombo aber sehr oft Fällen, die sich im Grenzbereich zwischen der ästhetischen und rekonstruktiven Chirurgie befinden (z.B. nennt er den Fall einer „Schiefnase nach Trauma“ oder „sehr großer Brüste, die Rückenschmerzen verursachen“). Einen weiteren Versuch, die Schönheitschirurgie zu legitimieren, nimmt Colombo durch eine Ausweitung des Gesundheitsbegriffs vor: „Nach WHO-Definition ist ja jemand gesund, der sich wohl fühlt, in seinem Körper. Und nicht nur gesund ist im Sinne von: Alle Laborwerte stimmen.“ (Colombo, 2.5.07, 20/17-18)

Die durch Colombo betonte Relevanz des psychischen Wohlbefindens muss jedoch angesichts anderer Interviewstellen stark relativiert werden. Nicht der

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subjektive Leidensdruck der Patientin ist in folgendem Beispiel maßgebend, sondern Colombos Urteil: „Wenn eine Frau kommt, mit wunderschönen, gut geformten, symmetrischen Brüsten, einer Standardgröße, in Anführungsstrichen, […] und sich dann noch wünscht, irgendwie nochmals fünfhundert Kubik Silikon pro Seite zusätzlich zu haben, und ich diesen Wunsch nicht nachvollziehen kann, werde ich sicher auch nicht operieren.“ (Colombo, 2.5.07, 6/12-16)

Colombo präsentiert sich hier als ein vernünftiger Chirurg, der für Geld nicht alles macht. Dabei verkennt er die Sichtweise der Frau allerdings völlig, und die vorher geltend gemachte Wichtigkeit des Leidensdruckes verkommt zur Farce: Ob ein Eingriff vorgenommen wird oder nicht, hängt vom Geschmacksurteil des Chirurgen ab. Die Schönheitschirurgie mit ihrer starken Bezugnahme zum Leidensdruck bleibt Colombo letztlich suspekt: Er bedauert, dass es „kein Röntgenbild [gibt], das Leidensdruck zeigt“ (Colombo, 2.5.07, 9/15). Nur was messbar und definierbar ist, bietet die Möglichkeit einer klaren Indikationsstellung. In der ästhetischen Chirurgie sind aber wenige objektive Kriterien zur Legitimation eines Eingriffs vorhanden. Interessanterweise unternimmt Colombo immer wieder Versuche, objektiv nicht akzeptable Körperformen zu bestimmen: Er betont, es gäbe „schon diese Gausssche Verteilungskurve und man erkennt schon, wenn Ohren außerhalb dieser Kurve liegen“ (Colombo, 2.5.07, 10/1617). Durch einen Verweis auf Normalverteilungen versucht Colombo also, bestimmte Körperformen als objektiv anormal zu klassifizieren und so einen Eingriff zu rechtfertigen. Trotz dieser Versuche, die Schönheitschirurgie zu legitimieren, hat für Colombo die rekonstruktive Chirurgie eine ungleich höhere Berechtigung. Die Analogie zu anderen Techniken des Schönheitshandelns macht deutlich, dass der Großteil der Schönheitsoperationen für Colombo in die Ecke des Lifestyles gehört: „Ich denke, die einzelnen störenden Höcker, das sollten die Patienten schon kosmetisch tragen. Das ist schon korrekt, dass da nicht die Gesellschaft dann für die Einzelnen äh … , nicht, man zahlt ja auch bei Frisör selber, oder wenn man da eine Tätowierung möchte oder sonst was.“ (Colombo, 2.5.07, 4/20-23)

Dies stellt eine klare Hierarchisierung der Eingriffe dar – ästhetischchirurgische Eingriffe sind nicht gleichwertig zu behandeln wie medizinisch indizierte – und wertet somit den Leidensdruck ab. Dies kommt auch in folgender Passage klar zum Ausdruck: „Ich hab Patienten hier, deren Kasse nicht zahlen will. Und die in meinen Augen eine eindeutige medizinische, körperliche Notwendigkeit haben, […] und nicht nur eine psychische.“ Formulierungen wie diese machen deutlich, dass ein psychischer Grund zwar notwendig, aber keinesfalls hinreichend ist. 129

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Colombo sieht sich also in der Rolle eines Schiedsrichters, der über die Zulässigkeit des Leidens entscheiden muss. Er kennt das Spektrum legitimen Eingreifens und beurteilt Gründe auf deren Berechtigung hin, Leidensdruck auszulösen. Dazu muss er sich selber als objektive Instanz sehen, die anhand des Körpers des Patienten entscheidet, ob dieser zum Leiden berechtigt ist. Wenn der Patient diesen Leidensdruck auch tatsächlich verspürt, soll er sich zuerst psychologische Unterstützung suchen und versuchen, an sich zu arbeiten; bei hartnäckig andauernden Problemen wird anschließend operiert.

Blum: Schönheitschirurg mit Privatpraxis Anfang der 1960er Jahre geboren, ist Blum an vier verschiedenen Orten aufgewachsen. Sein Vater ist allgemeiner Chirurg. Blum besitzt eine Privatpraxis mit Operationssaal, die angebotenen Operationen fallen mehrheitlich in den Bereich der Schönheitschirurgie. Die Praxis ist mit Kunstgegenständen und teurem Mobiliar ausgestattet, die Luxus und Professionalität signalisieren. Die Einstiegsfrage nach der Berufswahl – „Könnten Sie mir […] ein wenig erzählen, wie Sie auf diesen Beruf gekommen sind?“ – hat bei Blum ohne die Verwendung des Begriffs Schönheitschirurgie sofort einen Legitimationsbedarf ausgelöst: „Ja, äh … ich bin ja nicht … Schönheitschirurg. Obschon ich viele solche Operationen mache, in dem Sinn. Äh, ich bin natürlich plastischer Chirurg, und ich sage das bewusst, weil … man will nicht Schönheitschirurg werden, äh, das ist kaum ein Ziel, das man hat.“ (Interview mit Blum, 22.5.2007, 2/3-6)

Blum sieht sich also von Anfang an einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt und reagiert defensiv auf den impliziten Vorwurf, Schönheitschirurg zu sein. Es erfolgt eine Richtigstellung, Blum nennt die korrekte Bezeichnung und positioniert sich damit als plastischer Chirurg. Als Grund für die Ablehnung des Begriffs Schönheitschirurg erklärt Blum, dies sei ein Beruf, der als wenig legitimer angeschaut wird. Analytisch-distanziert durchschaut Blum die Gesellschaft, welche den Berufswunsch für moralisch illegitim hält. Der Mechanismus des Zufalls entbindet Blum von einer bewussten, begründeten Berufswahl und erklärt, wie man etwas wird, das legitimerweise gar nicht angestrebt werden darf: „Äh … man kommt, mindestens bei mir ist es so gewesen und ich weiss es auch von anderen, man kommt manchmal per Zufall […] in eine spezifische Richtung der Chirurgie. Aber, es ist natürlich so, bei mir ist es primär klar gewesen, dass ich in die Medizin gegangen bin, ich bin da ein bisschen vorbelastet, und dann ist es von Anfang an klar gewesen, dass ich eine chirurgische Disziplin mache, weil ich vor

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allem, äh, manuell und so, äh, sehr interessiert gewesen bin.“ (Blum, 22.5.07, 2/612).

Die Zufälligkeit der Berufswahl bezieht sich aber nicht auf die Medizin, Blums Affinität zur Medizin ist sozusagen erblich bedingt. Der in koketter Absicht gebrauchte Ausdruck „vorbelastet“ legitimiert Blum als geborenen Mediziner. Der Zufall hat Blum, der sich als Plastiker bezeichnet, schließlich dennoch auf das Nebengleis der Schönheitschirurgie geführt; wie es dazu gekommen ist, wird nicht erläutert. Blum betont mehrfach seine Zugehörigkeit zur regulären Medizin und damit die Legitimität und Normalität des eigenen Ausbildungsganges, wenn er beispielsweise erwähnt, „wie üblich, wie alle, die das machen“ ein Medizinstudium absolviert zu haben (Blum, 22.5.07, 2/23-24). Er grenzt sich mehrmals explizit von der Schönheitschirurgie ab, etwa indem er betont, auch die plastische Chirurgie „nicht unbedingt wegen Schönheitsoperationen“ (ebd.) gewählt zu haben. Die Legitimation der Berufswahl verläuft also klar über die Wiederherstellungschirurgie. Die Entscheidung für die plastische Chirurgie wird ausführlich begründet: „Bei mir ist es klar gewesen, weil aus dem ganzen Spektrum von Chirurgie ist es die Chirurgie, wo Sie einerseits mit einem gewissen Maß an … eben, plastischem Verständnis, äh, Kunstverständnis, herangehen müssen, wo Sie zum Teil improvisieren müssen, wo Sie etwas kreieren, nicht einfach einen Knochen zusammenflicken, sondern sich überlegen, äh, vielleicht noch, wie sollte das aussehen.“ (Blum, 22.5.07, 2/29-3/1)

Neben dem Manuellen ist Blum auch der ästhetische Aspekt seiner Arbeit wichtig. Als Gegensatz zur feinen, der Erscheinung Rechnung tragenden Arbeit des Plastikers erscheinen Blum andere Ärzte als Klempner. Obwohl er sich so stark in die Defensive begibt und sich selber über die plastische Chirurgie definiert, erkennt Blum den Wert der ästhetischen Chirurgie an. Er weist darauf hin, dass die ästhetische Chirurgie aus seiner Sicht nicht weniger legitim ist als die rekonstruktive: „Ob ich Ihre Nase jetzt korrigiere, weil sie jetzt schief ist, weil Sie so geboren sind, oder ob sie schief ist, weil Sie einen Unfall gehabt haben oder weil Ihnen jemand einen Box gegeben hat, das ist für mich Null Unterschied. […] Wenn Sie aber kommen, und Sie sind geboren mit Ihrer Nase und wollen die korrigieren, dann spricht man von einer Schönheitsoperation, und wenn Sie einen Unfall gehabt haben und Ihre Nase krumm ist, äh, dann ist es eben natürlich ein Unfall gewesen, dann ist es keine Schönheitsoperation, dann ist das eine nötige Operation.“ (Blum, 22.5.07, 10/7-15)

Ironisch weist Blum hier auf die durch die Gesellschaft vorgenommene moralische Wertung der unterschiedlichen Eingriffe hin und stellt diese in Frage.

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Er selbst scheint keine Notwendigkeit darin zu sehen, eine medizinische Indikation für die Vornahme schönheitschirurgischer Eingriffe zu behaupten. Obwohl er durchaus auf den Leidensdruck hinweist und auch Verständnis für den Patienten demonstriert, wehrt er sich gegen eine allzu starke Psychologisierung: „Wenn Sie natürlich einfach in den Spiegel schauen und sagen: Ja, meine Augenbraue … sollte ein bisschen höher sein, weil mir das einfach gefällt. Dann leiden Sie nicht unbedingt darunter, dass sie jetzt nicht so hoch ist, oder.“ (Blum, 22.5.07, 12/11-14)

Die Indikation und auch die Legitimität des Eingriffs hängen für Blum also keinesfalls vom Leidensdruck ab: Der Wunsch, etwas zu verändern, genügt. Ob eine gute oder eine schlechte Indikation vorliegt, hängt für Blum vielmehr davon ab, ob das Problem klar fassbar ist und der Patient weiss, was er will: „[Es gibt] solche, die sagen: Ja, ich möchte einfach eine andere Nase. Das ist schlecht, oder! Sie haben keine Idee, Sie wissen jetzt nicht, oder, … wenn Sie dann dort die Nasenoperation machen, dann ist es genau gleich wie vorher, oder, dann stimmt es ja doch auch wieder nicht, … das sind die Schwierigen, und dort müssen Sie dann schon … genau auf den Punkt kommen. Aber es gibt andere, die klar sagen: Ich habe einen Höcker hier, der passt mir nicht, stört mich, … und dort kann man dann ganz konkret … darauf eingehen, oder, da sage ich: Okay, das kann man korrigieren.“ (Blum, 22.5.07, 25/25-26/2)

Blum nimmt Kritikern viel Wind aus den Segeln, indem er radikal auf die subjektive Wahrnehmung des Patienten fokussiert und diesen als mündig und selbstbestimmt charakterisiert: „Die kritischen Stimmen weise ich zurück, weil ich sage, so etwas kann für das Individuum wohl ein Problem sein, es gibt Probleme, die sehr individuell sind, und da gibt’s gar keine Wertung darüber, oder da gibt’s gar keine Gründe, um sagen zu können, ist jetzt das nötig, nicht nötig, ist das ein Problem oder kein Problem. Sondern es ist einfach etwas, das man machen will, irgendein Problem, und wenn man das lösen kann, egal wie, äh … gut, sofern man dann natürlich den andern nicht schadet, das ist klar, äh, wieso soll das nicht legitim sein?“ (Blum, 22.5.07, 32/8-19)

Wenn man jemandem helfen kann, ein Problem zu lösen, wird die Frage, ob es sich beim Problem um ein echtes Problem handelt, für Blum hinfällig. Die Schönheitschirurgie bietet sich zur Lösung von Problemen an, und dieser Umstand verleiht ihr Legitimität. Blum sieht sich auch nicht zu einem Urteil über das Aussehen von Patienten/innen veranlasst: „Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen: Ja Sie, Sie sehen ‚bomben‘ [fantastisch] aus, äh, Sie brauchen gar keine größere Brust.“ (Blum, 22.5.07, 23/23-24)

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Wer bezahlt, entscheidet. Diese offene und liberale Einstellung führt logischerweise zur Frage, ob Blum den Patientenwünschen ungebremst Rechnung trägt. Blum führt einerseits die technologisch-anatomischen Machbarkeit als Grenze auf. Er nennt aber auch „die moralischen Gründe“ (Blum, 22.5.07, 21/19), wobei hier meist psychische Krankheitsbilder ausschlaggebend sind für den Verzicht auf einen Eingriff. Blum zeichnet sich durch eine radikale Patienten- beziehungsweise Kundenorientierung aus: Er maßt sich nicht an, über das Aussehen oder den damit verbundenen Leidensdruck zu urteilen, schaut Menschen grundsätzlich als mündig an und versucht, die gewünschten Dienstleistungen in hoher Qualität und auf professionelle Weise anzubieten. Als Zudiener falscher Ideale betrachtet er sich nicht, weil er das Streben nach Schönheit als anthropologische Konstante anschaut. Er erkennt zwar die gesellschaftliche Bedingtheit von Idealen, bleibt aber extrem auf das Subjekt ausgerichtet, in dessen Dienst er sich mit seiner Arbeit stellt.

5 . V e r g l e i c h e n d e An a l ys e u n d R e s u l t a t e Nun soll der Blick anhand von Quervergleichen weg von der Ebene des Einzelfalles hin zu den Legitimationsstrategien gewendet werden. Bezüglich der Kriterien, anhand derer über einen Eingriff entschieden wird, bleibt fest zu halten, dass die Vagheit der Kriterien dazu führt, dass das Vornehmen oder Unterlassen einer Operation gerechtfertigt werden muss. Die interviewten Chirurgen fühlten sich einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt, was ihren Beruf und schönheitschirurgische Eingriffe anbelangt. Die empirische Untersuchung hat Legitimationsstrategien auf drei Ebenen hervorgebracht: 1) Die Zugangsweisen zur Schönheitschirurgie sind noch nicht Teil expliziter Legitimationsstrategien. Vielmehr beschreiben sie die Berufsauffassung der Chirurgen oder die für sie zentrale Komponente des gewählten Berufs. In den Interviews werden vor allem zwei Aspekte genannt: Eine Annäherung an die Schönheitschirurgie über die Technik oder über die Kunst. Die Betonung des Technischen tritt bei den beiden plastischen Chirurgen besonders stark in Erscheinung, während eine starke Verbindung zur Kunst vor allem von den Schönheitschirurgen geltend gemacht wird. Dies findet sich auch bei Blum und Colombo: Colombo interessiert sich für den Menschen als Maschine, es fasziniert ihn, welch „enorme, phantastische Rekonstruktionen“ (Colombo, 2.5.07, 2/18) gemacht werden können, sein Zugang ist also ein technischer. Allerdings mischt sich bei Colombo eine stark wertende Haltung darunter: Er beurteilt die körperlichen Makel und die Verhältnismäßigkeit des Leidensdrucks, um daraus die Legitimität eines Eingriffes abzuleiten. 133

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Für Blum ist das Herstellen einer expliziten Verbindung zur Kunst wichtig: Wer ein „Fan“ sei von „figürlicher oder bildlicher Kunst“ (Blum, 22.5.07, 5/11-12), könne diese Vorliebe „mit dem Beruf verbinden und vielleicht zu einem Teil auch als Hobby weiterführen“, was „natürlich eine Befriedigung“ sei (Blum, 22.5.07, 5/14-15). Allerdings begründet Blum damit nicht sein Handeln als Schönheitschirurg: Operative Eingriffe werden ihm zufolge unabhängig von seinen persönlichen Schönheitsvorstellungen vorgenommen, er versucht, seine „rein persönlichen Ideen und Vorlieben“ nicht zu gewichten (Blum, 22.5.07, 23/26). 2) Vor dem Hintergrund der Zugangsweisen entwickeln sich Begründungen der Berufswahl. Legitimationsstrategien auf dieser Ebene weisen oft einen hohen Grad an Explizitheit auf, sie sind Erklärungen dafür, einen bestimmten Berufsweg eingeschlagen zu haben und somit Rechtfertigungen des eigenen Handelns. Der eigene Werdegang wird von den Chirurgen recht unterschiedlich plausibilisiert. Blum nutzt den Umstand der Vaternachfolge als Legitimationsquelle und stellt sich als prädestinierten Mediziner dar. Allerdings will Blum keine aktive Entscheidung für die Schönheitschirurgie getroffen haben und argumentiert sehr defensiv: Der Zufall ersetzt die bewusste Wahl. Den Entscheid für die plastische Chirurgie begründet er mit seiner Begabung. Diese Begründung korrespondiert mit dem Zugang zur Schönheitschirurgie über die Kunst. Interessanterweise legitimieren sowohl Blum als auch Colombo ihre Berufswahl größtenteils über ein Interesse an der plastischen oder rekonstruktiven Chirurgie und weisen ein ursprüngliches Interesse an der Schönheitschirurgie von sich. Blum betont oft, sich für die plastische und nicht für die ästhetische Chirurgie entschieden zu haben. Colombo hat die Schönheitschirurgie in jungen Jahren gar abgelehnt und zählt sich klar zu den Plastikern. Dass zur Rechtfertigung des eigenen Werdeganges so stark auf die rekonstruktive Chirurgie zurückgegriffen wird, macht deutlich, dass eine Legitimation der Schönheitschirurgie schwer fällt. 3) Auf der abstraktesten Ebene sind die Chirurgen Anwälte der Schönheitschirurgie: Wie gelingt es ihnen, die Schönheitschirurgie als sinnhaft und legitim darzustellen und zu erleben?12 Täglich mit dieser Frage konfrontiert, fungieren die Chirurgen auch als Fürsprecher eines gesellschaftlichen Legitimierungsprozesses. Die Schönheitschirurgie wird, so die Analyseergebnisse, nach wie vor als legitimationsbedürftig betrachtet: Colombo versucht zwar, die Schönheitschi12 Hierbei sind beide Ebenen der Legitimationsstrategien – das taktische Argumentieren nach außen und die eigene Überzeugung – besonders wirksam. Eine genauere Analyse erlaubt aber eine differenzierte Betrachtung der Legitimationsstrategien auf ihre Tragfähigkeit für die Chirurgen selbst hin. 134

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rurgie zu verteidigen, letztlich bleibt deren Legitimität für ihn aber klar niedriger als jene rekonstruktiver Eingriffe. Blum betrachtet schönheitschirurgische Eingriffe zwar als legitim, sieht aber ein Problem in der durch die Gesellschaft zugeschriebenen Legitimität. Aus den Interviews lassen sich zwei Hauptlegitimationsstrategien herausarbeiten, die beide auf eine Normalisierung der Schönheitschirurgie zielen und eine Positionierung hinsichtlich der Medizin vornehmen. Die Strategien lassen sich dabei nicht auf einzelne Interviewpersonen zurückführen, die Chirurgen scheinen allesamt zwischen der Einbettungs- und der Abgrenzungsstrategie hin und her gerissen. Diese Uneindeutigkeit der Zuteilung lässt sich damit erklären, dass den beiden Strategien eine gemeinsame Rationalität zugrunde liegt: Es geht darum, schönheitschirurgischem Eingreifen Legitimität zu verleihen.

Einbettungsstrategie: Legitimation der Schönheitschirurgie als Teil der Medizin Die Einbettungsstrategie versucht, schönheitschirurgische Eingriffe innerhalb der Medizin anzusiedeln und über diese Integration Legitimität herzustellen. Einerseits erfolgt dies über eine Anlehnung an die rekonstruktive Chirurgie, andererseits darüber, psychischem Leiden mehr Gewicht beizumessen.13 Die Grenze zwischen der ästhetischen und der rekonstruktiven Chirurgie ist schwer zu ziehen: Fast jeder rekonstruktive Eingriff weist eine ästhetische Komponente auf. Blum sieht die ästhetische und die rekonstruktive Chirurgie als grundsätzlich nicht klar trennbar an, für ihn „ist es Null Unterschied“, in welchen Bereich ein Eingriff fällt. Colombo greift zur Legitimierung der ästhetischen Chirurgie oft auf Beispiele aus dem Bereich der rekonstruktiven Chirurgie zurück.14 Es wird also versucht aufzuzeigen, dass die Unterschiede zwischen der ästhetischen und der rekonstruktiven Chirurgie gar nicht so groß und die Grenzen dazwischen unklar sind. Damit wird eine Gleichheit bezüglich der Legitimität beansprucht und eine sichere Verortung der Schönheitschirurgie innerhalb der Medizin angestrebt. Der Schwachpunkt dieser Argumentation liegt 13 Die Strategie, schönheitschirurgische Eingriffe unter die breite Legitimitätsbasis der rekonstruktiven Chirurgie zu stellen, ist in den Interviews vor allem auf einer rhetorischen Ebene der Verteidigung wirksam: Die Analyse der Interviews hat jedenfalls deutlich gemacht, dass alle Befragten einer behaupteten Gleichwertigkeit zum Trotz, für sich eine Grenzziehung vornehmen und der Wiederherstellungschirurgie mehr Legitimität zusprechen. 14 Andere Wege, höhere Legitimität für schönheitschirurgische Eingriffe zu erlangen, haben die hier nicht vorgestellten Interviewpartner gefunden. Die Verjüngungschirurgie wird beispielsweise zum Bereich des eigentlich Rekonstruktiven gezählt oder es wird die Gleichheit der eingesetzten Techniken betont. 135

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darin, dass die ästhetische Chirurgie nicht als solche, sondern nur indirekt durch die rekonstruktive Chirurgie legitimiert werden kann. Die zweite Möglichkeit einer Integration in die Medizin versucht, schönheitschirurgische Eingriffe direkt zu legitimieren, indem ihnen eine therapeutische Wirkung zugesprochen wird. Das Vorliegen eines gewissen Leidensdrucks als Voraussetzung dafür, dass sich Menschen überhaupt für einen chirurgischen Eingriff entscheiden, wird von niemandem in Frage gestellt, wie z.B. Colombo ausdrückt: „Eine Indikation ist da, sonst … würde der Patient das nicht auf sich nehmen.“ Indem nun das Leiden unter dem äußeren Erscheinungsbild als durch chirurgische Maßnahmen therapierbar betrachtet wird, kann die eigene Tätigkeit als Hilfeleistung angesehen werden. Dies ermöglicht eine Einbettung der Schönheitschirurgie ins Feld der Medizin. Im Versuch, ästhetisch-chirurgische Maßnahmen als medizinische Heilseingriffe zu klassifizieren, wird auf das Konzept der psychischen Gesundheit zurückgegriffen. Colombo bezieht sich auf die ganzheitliche Gesundheitsdefinition der WHO, um den Stellenwert psychischen Leidens zu unterstreichen. Im Versuch, schönheitschirurgische Eingriffe als medizinische Heilsbehandlungen zu betrachten, handelt man sich neue Abgrenzungsprobleme ein, denn damit wird eine Verschiebung des Grenzziehungsproblems auf die Frage, was als psychisch krank gilt und somit eine Intervention rechtfertigt, vorgenommen. Außerdem taucht hier die Frage nach einer gemeinschaftlichen Kostenübernahme auf. Damit einhergehend stellt sich immer das Problem, dass Leiden entsubjektiviert oder Deformationen objektiviert werden müssten. Dies führt zu unumgehbaren Messbarkeitsproblemen und der heiklen Frage zurück, wer bestimmt, welche Ursachen und welche Intensität des Leidens einen Eingriff rechtfertigen.

Abgrenzungsstrategie: Legitimation der Schönheitschirurgie als Dienstleistung für mündige Bürger Die zweite Hauptlegitimationsstrategie weist in die entgegengesetzte Richtung, indem sie schönheitschirurgische Eingriffe als Dienstleistungen legitimiert. Die Möglichkeit, sich als zahlender Kunde freiwillig schönheitschirurgischen Behandlungen zu unterziehen, wird von allen Befragten als legitim bezeichnet. Blum ist der prototypische Vertreter dieser Legitimationsstrategie: Ausgehend von „mündigen Leuten, die für sich eine Entscheidung fällen können“, kann er sich auf deren Wahlfreiheit berufen. Zusätzlich zur Mündigkeit der Kunden nennt Blum weitere Voraussetzungen, die einen Eingriff legitimieren: Der Arzt muss seriös aufklären und informieren, um eine faire Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Zudem wird 136

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der Patient laut Colombo dadurch, dass er sich aktiv für eine Operation entscheidet, mitverantwortlich gemacht. Die Frage nach der gemeinschaftlichen Kostenübernahme entfällt in dieser Optik: Es geht um persönliche Begehren, für die der Einzelne aufzukommen hat (vgl. z.B. Colombos Analogie zum Friseur). Dadurch vermindern sich auch Probleme der Beurteilung und der Grenzziehung. Das komplette Herauslösen der Schönheitschirurgie aus dem Bereich der Medizin birgt allerdings auch ungelöste Fragen: Kann Entscheidungsfreiheit einfach vorausgesetzt werden?15 Und welche gesellschaftlichen Rückwirkungen werden durch die Durchführung schönheitschirurgischer Eingriffe ausgelöst?

Kritische Beurteilung der beiden Legitimationsstrategien Die Einbettungsstrategie funktioniert durch die Tendenz zur Gleichbehandlung psychischer und physischer Leiden. Die Abgrenzungsstrategie setzt hingegen auf mündige, selbstbestimmte Bürger. Dies sind sozusagen die Voraussetzungen, unter denen die Strategien sinnvoll werden und funktionieren können.16 Nun soll bewusst ein Perspektivwechsel weg von der Explikation der Strategien hin zu deren normativer Beurteilung vorgenommen werden, indem gefragt wird, wie sich die in Kauf genommenen Implikationen der Legitimationsstrategien auswirken. Dabei wird auf die feministische Debatte um die Schönheitschirurgie Bezug genommen, welche sich oft um mögliche negative Rückwirkungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene dreht. Auf der Makroebene betrachtet stellt sich die Frage nach der normierenden Wirkung schönheitschirurgischer Eingriffe: Die Anpassung an Schönheitsideale führt zur Reproduktion ebendieser und schließlich zu einer Pathologisierung der Variabilität (vgl. z.B. Ach/Pollmann 2006; Ensel 1996; Jacobson 2000).

15 Gerade angesichts der Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Patienten unter schwerwiegenden Körperwahrnehmungsstörungen leidet, ist diese Frage brisant: Bei psychisch kranken Menschen kann Mündigkeit nur sehr bedingt vorausgesetzt werden. Neben diesem offensichtlichen Problem ist aber auch die mögliche Fremdbestimmtheit von Patienten problematisch. Entscheidungs- und Handlungsfreiheit kann auch bei Mündigkeit nicht unbedingt vorausgesetzt werden. 16 Funktionieren meint hier zum einen das Erlangen einer gesellschaftlichen Überzeugungskraft. Zum anderen kann eine Strategie dann als funktionierend angeschaut werden, wenn sie es ermöglicht, Schönheitschirurgie als ein Mittel zu legitimieren, das dem Einzelnen hilft, sozial anerkannten Zielen näher zu kommen. Das Funktionieren einer Legitimationsstrategie hängt also nicht von ihrer logischen oder theoretischen Stringenz ab, sondern vielmehr von ihrer alltagsweltlichen Plausibilität. Dennoch weisen die aufgezeigten Schwachstellen und Grenzen der Argumentationen auf mögliche Legitimationsdefizite hin. 137

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Die Bedingtheit von Schönheitsidealen wird von den interviewten Chirurgen grundsätzlich wahrgenommen: Colombo findet beispielsweise, es sei „letzten Endes schon die Gesellschaft eigentlich, die diese Normen vorgibt“ durch „Massenmedien und diesen ganzen Shows“. Der Normierungseffekt wird zugleich relativiert oder negiert, indem beispielsweise betont wird, dass der Effekt der Schönheitschirurgie verschwindend klein sei, wie Colombo meint: „Dafür operieren wir nicht genug.“ Andererseits wird das Streben nach Schönheit als anthropologische Konstante angeschaut: „Das hat es ja immer irgendwie auch gegeben.“ Von den Schönheitschirurgen werden also oft Argumente eingesetzt, die die Handlungsmacht des Patienten betonen und dabei strukturelle Komponenten fast vollständig ausblenden.17

6 . Au f d e m W e g z u r N o r m a l i s i e r u n g In einem letzten Schritt soll nun eine Kontextualisierung der Analyseresultate vorgenommen werden. Beim Vergleich dieser Ergebnisse mit theoretischen Einordnungsversuche tritt ein Widerspruch zutage: In der Literatur wird von einer weit fortgeschrittenen Normalisierung schönheitschirurgischer Eingriffe ausgegangen, während die empirische Untersuchung gezeigt hat, dass nach wie vor ein großer Legitimationsbedarf besteht. Viele Autoren/innen nehmen bei der theoretischen Verortung der Schönheitschirurgie eine Anbindung an Foucault vor (vgl. z.B. Ach/Pollmann 2006; Gagné/McGaughey 2002; Kaw 1993; Lenk 2006; Maasen 2005).18 So kann Schönheitschirurgie als Ausdruck von Disziplinierungs- und Normierungstendenzen gelesen werden. Maasen etwa sieht in der Schönheitschirurgie eine „Selbst-Technologie“ (Maasen 2005: 239-241), denn der technologische Fortschritt habe den Körpers optional werden lassen. Die Arbeit an sich ist dadurch zum gesellschaftlichen Imperativ geworden.19 Eine andere Argumentation zur Normalisierungsthese geht vom Bedeutungsschwund jener Werte aus, die kritische Positionen begründen. Eine ablehnende Haltung gegenüber der Schönheitschirurgie beruht oft auf der „Grundannahme einer Integrität der menschlichen Natur“ (Bayertz/Schmidt 17 Neben der Ausblendung dieser gesellschaftlichen Dimension der Normierung finden auch andere Aspekte aus der feministischen Debatte keine Berücksichtigung: Frage nach Effekten des Geschlechts und der Ethnizität werden in den Legitimationsstrategien der Chirurgen ebenfalls ausgeklammert (Ensel 1996; Kaw 1993). 18 Vor allem die Werke „Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich“ (Foucault 1989), „Die Anomalen“ (Foucault 2003) und „Die Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik“ (Foucault 2004) bieten Anknüpfungspunkte. 19 Vgl. auch Maasen in diesem Band. 138

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2006: 47). Kritische Argumente (auch religiöser Art), die sich auf einen inhärenten Wert der menschlichen Natur beziehen, werden vor dem Hintergrund von Werten wie Freiheit, Selbstbestimmung und Individualismus zunehmend weniger anschlussfähig.20 Dieser Befund geht einher mit der Zeitdiagnose einer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz und Entproblematisierung (Sullivan 2001): Die Schönheitschirurgie ist auf dem Weg, normal zu werden. Wie lassen sich nun solche Befunde einer Veralltäglichung und Normalisierung der Schönheitschirurgie mit den zu Tage geförderten Legitimationsproblemen der Chirurgen vereinbaren? Mein Interviewmaterial könnte aufgrund der Beständigkeit der Legitimationsprobleme als Gegenthese zur konstatierten Normalisierungstendenz gelesen werden. Allerdings weisen alle Chirurgen auch Elemente einer positiven Zurechnung zu ihrem Beruf auf, und auch die plastischen Chirurgen und der Vertrauensarzt sprechen sich nicht generell gegen ästhetische Eingriffe aus. Daher liegt der Schluss nahe, dass sich die gesellschaftliche Beurteilung der Schönheitschirurgie im Umbruch befindet. Die folgenden Thesen bieten eine Deutung dieses Widerspruchs als Phänomen einer Umbruchssituation an und zeigen Ansatzpunkte für weiterführende Fragestellungen auf: (I) Die Untersuchung der Eingriffskriterien und Legitimationsstrategien von Schönheitschirurgen hat die Momentaufnahme eines Umbruchs zu Tage gefördert: Schönheitschirurgische Techniken sind in einem Normalisierungsprozess begriffen, ohne hingegen bereits über eine sichere, fraglos hingenommene Akzeptanzbasis zu verfügen. Noch wird also um Akzeptanz und Legitimität gerungen. Die Deutlichkeit, mit der auch die interviewten plastischen Chirurgen die Schönheitschirurgie verteidigt haben, legt allerdings den Schluss nahe, dass eine komplette Ablehnung ästhetisch-chirurgischer Eingriffe zunehmend als unhaltbar betrachtet wird: (II) Die breite Anerkennung des Rechtes, über den eigenen Körper zu bestimmen, geht einher mit einer erhöhten Legitimität der Schönheitschirurgie.

20 Die breite Anerkennung dieser aufklärerischen Werte deutet darauf hin, dass sich die Abgrenzungsstrategie längerfristig als erfolgreicher erweist. Allerdings finden sich in den Aussagen der Chirurgen auch Hinweise auf die Tragfähigkeit der Einbettungsstrategie. Vielleicht stellen die beiden Hauptlegitimationsstrategien aber gar keine Gegensätze dar: Das Feld der Medizin scheint zurzeit starken Veränderungsprozessen zu unterliegen und es ist daher denkbar, dass sich das gesamte Medizinsystem in Richtung marktwirtschaftlicher Dienstleistungen bewegt. 139

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Wer sich der ästhetischen Chirurgie ganz verschließt, verschließt sich damit nicht nur einem lukrativen Geschäftszweig, sondern auch einem realen Bedürfnis vieler Menschen. Die schönheitschirurgie-kritische Position scheint also zunehmend legitimierungsbedüftig. Bestimmte Anforderungen an das Aussehen finden zudem breitere Anerkennung, und das Erreichen entsprechender Ziele fällt teilweise in den Bereich der Medizin: (III) Im Hinblick auf die plastische Chirurgie scheint es zunehmend legitimer zu werden, auch ästhetischen Anliegen Rechnung zu tragen. Ästhetische Kriterien fließen so in die Definition des angestrebten Gesundheitszustandes mit ein. Dass beispielsweise eine Brustrekonstruktion nach krebsbedingter Amputation heute zum Standard gehört und uns durchaus legitim erscheint, weist auf diese Tendenz hin. Damit findet eine schleichende Legitimierung schönheitschirurgischer Eingriffe statt. Den beiden Hauptstrategien gemein ist das Bestreben, Schönheitschirurgie als legitim und normal darzustellen beziehungsweise die gesellschaftliche Legitimität schönheitschirurgischer Eingriffe zu erhöhen. Die Schönheitschirurgen fungieren dabei als Legitimierungsinstanzen, die den Normalisierungsprozess vorantreiben. Wie immer man nun den faktischen Anstieg an Schönheitsoperationen und die zunehmende gesellschaftliche Legitimität deutet, eines ist sicher: Wir werden uns der Schönheitschirurgie in Zukunft nicht entziehen können. Aus diesem Grund erachte ich eine weiterführende soziologische Durchdringung des Phänomens für notwendig, denn es befindet sich an einer Schlüsselstelle komplexer Probleme des Umgangs mit dem Körper, der Natur und der menschlichen Identität.

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Literatur Ach, Johann S. (2006): „Komplizen der Schönheit? Anmerkungen zur Debatte über die ästhetische Chirurgie.“ In: Ach, J. S. und Pollmann, A. (Hg.): no body is perfect, Bielefeld, S. 187-206. Ach, Johann S./Arnd Pollmann (Hg.) (2006): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld. Bayertz, Kurt/Kurt W. Schmidt (2006): „‚Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!‘ Von der ästhetischen umgestaltung des menschlichen Körpers und der Integrität der menschlichen Natur.“ In: Ach, J. S. und Pollmann, A. (Hg.): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld, S. 43-61. Davis, Kathy (1995): Reshaping the Female body, New York/London. Ensel, Angelica (1996): Nach seinem Bilde, Bern. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich, Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2003): Die Anormalen. Vorlesungen am College de France (1974-1975), Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004): Die Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. Fuchs-Heinritz/Werner/Rüdiger Lautmann/Otthein Rammstedt, et al. (Hg.) (2007): Lexikon zur Soziologie, 4. Auflage, Wiesbaden. Gagné, Patricia/Deanna McGaughey (2002): „Designing Women. Cultural Hegemony and the Exercise of Power among Women Who Have Undergone Elective Mammoplasty.“ In: Gender and Society, 16, S. 814-838. Gilman, Sander (2005): „Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie.“ In: Taschen, A. (Hg.): Schönheitschirurgie, Berlin, S. 60-109. Gilman, Sander L. (1999): Making the Body Beautiful: A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton. Gimlin, Debra L. (2002): Body Work: Beauty and Self-Image in American Culture,Berkeley/Los Angeles. Gimlin, Debra L. (2007): „Accounting for Cosmetic Surgery in the USA and Great Britain: A Cross-cultural Analysis of Women’s Narratives.“ In: Body & Society, 13, S. 41-60. Jacobson, Nora (2000): Cleavage: Technology, Controversy, and the Ironies of the Man-Made Breast, New Brunswick. Kaw, Eugenia (1993): „Medicalization of Racial Features: Asian American Women and Cosmetic Surgery.“ In: Medical Anthropology Quarterly, 7, S. 74-89.

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Foucault, Hässliche Entlein und TechnoSchw äne – Fett-Hass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika KATHRYN PAULY MORGAN Es war einmal ein Entlein, das in einem europäischen Märchen Berühmtheit erlangte. „Das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so häßlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und zum besten gehalten, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern. […] Das arme Entlein wußte weder, wo es stehen noch gehen sollte; es war betrübt, weil es häßlich aussah und vom ganzen Entenhofe verspottet wurde.“ (Andersen 2003: 198)

Im heutigen Amerika – dem Mekka des Schönheits-Kultes – wüsste das hässliche Entlein genau, was es tun würde: Es würde seine traurige Geschichte im Fernsehen erzählen und in einer TV-Show mit Mitteln der Schönheitschirurgie ‚generalüberholt‘ werden. Heute versprechen operative Eingriffe zur Gewichtsreduktion – vor allem Magen-Bypass Operationen – den schlanken Schwan zu befreien, der, unterdrückt, aber lebendig, in den fettleibigen amerikanischen Entlein und Erpeln steckt: Ein Versprechen der Befreiung für alle potentiellen ‚Techno-Schwäne‘, die unter dem schleichenden gesellschaftlichen Fett-Hass (fat hatred) leiden. Und diese Befreiungen werden medial gefeiert: Immer wieder schlachten die amerikanischen Medien Geschichten von Menschen aus, die sich als hässliche Entlein empfunden haben und die dankbar für die Chance sind, sich dieser kulturellen und biomedizinischen Kontrolle unterziehen zu dürfen, die derzeit eben als Befreiung, Selbstermächtigung und persönliche Erfüllung gehandelt wird. 143

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Um zu untersuchen, wie chirurgische Eingriffe mit dem Ziel, das Gewicht zu reduzieren, allmählich in den Bereich der Standard-Eingriffe der Schönheitschirurgie wandern, stütze ich mich im Folgenden auf Michel Foucaults Begriff des ‚Apparates‘. Ich beginne mit einem Märchen über genau so ein hässliches Entlein im heutigen Amerika. Sie heißt Josephine. Zunächst beschreibe ich Josephines wundersame Verwandlung, dann, in einem zweiten Teil, greife ich zu der ebenso flexiblen wie scharfen Linse des foucaultschen ‚Apparates‘, nehme mit ihrer Hilfe noch einmal das ‚Märchen von Josephine‘ in den Blick und entwickle dabei einen komplexen Begriff von Josephines techno-ästhetischer Subjektivität. In Teil drei meines Aufsatzes beziehe ich diese Subjektivität auf Elizabeth Beck-Gernsheims dynamisches Modell des Entwicklungsverlaufs technologischer Anwendungen von der Freiwilligkeit hin zum Zwang und siedle dabei Josephines Subjektivität in der scheinbar ‚befreienden‘ Phase dieses Verlaufes an (vgl. Beck-Gernsheim 1988, 1991).

1 . D a s M ä r c h e n vo n J o s e p h i n e : Eine Geschichte infinitesimaler Mechanismen Foucault betont: „Wichtig ist nicht […] eine Art Deduktion der Macht vorzunehmen, die von einem Zentrum ausginge […]. Ich denke, man sollte viel eher […] eine aufsteigende Machtanalyse vornehmen, d.h. von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen […].“ (Foucault 1999a: 39)

Also beginne ich mit diesen infinitesimalen Mechanismen. Es war einmal ein kleines – nun ja, nicht sehr kleines – Mädchen namens Josephine. Josephine wuchs in Amerika auf, in einer weißen Arbeiterfamilie in Pittsburgh, Pennsylvania. Josephines Vater hatte einen guten Job in einer der wenigen Stahlwerke, die in Pittsburgh noch in Betrieb waren. Josephines schlanke Mutter arbeitete als Krankenschwester in der lokalen Klinik. Josephine und ihre Brüder hatten es gut, denn ihre Eltern hatten durch ihre Arbeit eine gute Krankenversicherung. Obwohl sie klug, gesellig und liebenswert war, hatte Josephine keine sehr glückliche Kindheit, denn mitleidige Erwachsene (ihre Lehrer und ihre Familie) bezeichneten sie als pummelig; ihre Mitschüler und ihre Geschwister hingegen waren nicht so nett und nannten sie ‚dick‘, ‚fette Kuh‘, ‚der Wal‘, oder ‚Fettwanst‘. Ihr Vater gab ihr keine Spottnamen, denn er wusste, dass er Ärger mit Josephines Mutter bekommen würde, wenn er es täte – aber er starrte beim Abendessen auf ihren Teller und sagte ihr geradeheraus, dass sie nie einen Freund haben und niemals eine Mama werden würde, wenn sie nicht dünner würde. Die Mutter sorgte sich auch um Josephine, denn sie kannte den verbreiteten Hass auf Dicke in der Klinik und andernorts und

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sie wusste, dass Bewerber, die als dick galten, niemals gute Jobs in der Klinik bekamen. Josephine las gerne. Sie mochte die Märchen von Hans Christian Andersen, denn oft gab es in seinen Geschichten Verwandlungen, die zu einem glücklichen Ende führten. Besonders liebte sie die Geschichte vom hässlichen Entlein. In der Grausamkeit der anderen Tiere dem Entlein gegenüber und der Seelenqual des Entleins erkannte sie ihre Leidensgeschichte wieder – und sie jubelte über die Verwandlung des hässlichen Entleins in einen schönen Schwan. Sie wartete sehnlichst auf den Tag, an dem auch sie selbst vielleicht einmal ein schöner Schwan werden würde. Josephine war eine vernünftige junge Frau und wusste, dass sie hart an sich arbeiten musste, um ein Schwan zu werden. Auch wenn ihre Versuche, dünn zu werden, bisher gescheitert waren, so wusste sie doch mit Bestimmtheit, dass sie in der Highschool ernsthaft und diszipliniert Diät halten musste. Und das tat sie. Ihre Eltern waren begeistert von ihren Erfolgen, bemerkten aber auch, dass Josephine eine Magersucht entwickelte (magersüchtige Mädchen waren auf Josephines Schule hoch angesehen): Sie unterzogen sie einem Ernährungsprogramm, das vom Hausarzt der Familie überwacht wurde. Josephine erinnert sich an ihre High-School-Zeit als eine Zeit des ständigen Jojos von Gewichtsabnahme und erneuter Zunahme. Sie glaubte, wie viele Frauen, die Diät halten, dass sie sich sehr nahe an einer körperlichen Schwelle befinde (vgl. Harjunen 2003): Wenn sie noch ein bisschen abnehmen würde und diese Schwelle überwinden könnte, würde ihr Leben erst richtig anfangen. Am Ende der High School hatte Josephine sichtlich abgenommen und drei verschiedene Einladungen von Jungen zum Abschlussball. Da sie gute Noten hatte, konnte sich Josephine für ein Informatik-Programm am örtlichen College einschreiben und absolvierte es erfolgreich. Durch die ständige Überwachung ihrer eigenen Ernährung blieb Josephine einige Jahre schlank. Dann heiratete sie Robert, einen jungen Elektrotechniker in der Ausbildung. In den Wochen vor ihrer Hochzeit fastete Josephine streng und war stolz, als sie am Ende in ein Hochzeitskleid der Größe 36 passte. Doch Größe 36 passte Josephine nicht lange: Sie bekam erst eine Tochter, Tammy, und dann einen Sohn, Bobby Jr. Als die Kinder in die Grundschule kamen, fand Josephine einen Job als Computerspezialistin in einer großen Firma und so verbrachte sie ihre Zeit von nun an hauptsächlich im Sitzen. Es war ein guter Job, weil durch ihn die Gesundheitsversorgung der ganzen Familie gesichert war. Das war wichtig, denn Robert arbeitete inzwischen in einem kleinen Betrieb, der zwar gut zahlte, aber keine Gesundheitsversorgung übernahm. Acht Jahre nach der Hochzeit lag Josephine – laut Angaben ihres Hausarztes – 75 Pfund über ihrem ‚Normalgewicht‘. Auch Tammy, inzwischen sieben Jahre alt, wurde als pummelig betrachtet und Josephine sorgte sich um sie beide. Von dem stärker werdenden Hass auf Dicke und einer regelrechten 145

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‚Fett-Phobie‘, die sich mittlerweile auch wieder auf sie richteten, konnte Josephine ein Lied singen. Sie befürchtete, dass auch Tammy bald betroffen wäre. Also begannen sie beide eine Diät, führten Protokolle über alles, was sie zu sich nahmen und feierten jede Gewichtsabnahme. Nach einem halben Jahr Diät (unter der Aufsicht eines Arztes) hatte Josephine nur sieben Pfund verloren. Abends sah Josephine gerne Makeover-Shows im Fernsehen, besonders gerne Shows wie „Extreme Makeover“, „Nip’n Tuck“, „THE SWAN“ und „Big Loosers“, in denen immer wieder Schlankheitsoperationen durchgeführt und angepriesen wurden.1 Gleichzeitig bemerkte Josephine, dass sich die Rede von einer „obesity epidemic“, einer „epidemischen Fettleibigkeit“ in den Medien ebenso wie in Regierungskreisen und Versicherungsgesellschaften einer immer größeren Popularität erfreute und ‚fettleibige‘ Menschen mit „Bioterroristen“ und „schlechten Staatsbürgern“ gleichgesetzt wurden (vgl. Boerro 2007; Gard/Wright 2005; Herndon 2005; Oliver 2006). Ein Tag im März 2006 sollte ihr im Gedächtnis bleiben, der Tag nämlich, als Richard Carmona, zu der Zeit Leiter der amerikanischen „Public Health Services“, Fettleibigkeit als „den inneren Terrorismus“ und ‚Fettleibige‘ als „innerstaatliche Bioterroristen“ bezeichnete (http://www.truthout.org/docs_2006/030206h). Josephine hatte mittlerweile nicht nur mehr mit ihren eigenen Schamgefühlen zu kämpfen, sie musste auch feststellen, dass die Leute es in Ordnung fanden, Dicke aus politischen oder ökonomischen Gründen heraus offen anzugreifen und zu diskriminieren. Als leidenschaftliche Internet-Surferin begann Josephine auf Makeover-Websites zu stöbern und bemerkte, dass immer häufiger attraktive weiße Frauen sich offen zu Schlankheits- und Body-Forming-Operationen bekannten (vgl. Salant/Santry 2006). Josephine erfuhr, dass Prominente und Filmstars sich häufig Schlankheitsoperationen leisteten und offen darüber redeten – auch Tausende weißer Frauen wie sie selbst entschieden sich für Schlankheitsoperationen, um dauerhaft dünn zu sein. Sie kaufte sich ein Video der Tyra-Banks-Show, auf dem zu sehen war, wie an Carnie Wilson eine Magen-Bypass-Operation durchgeführt wurde. Immer wieder sah sie sich das Band an und kam schließlich zu der Überzeugung, dass auch für sie diese Operation das Richtige sei (vgl. Flancbaum et al. 2001; Goldberg et al. 2006). Wenn sie so wirklich dauerhaft Gewicht verlieren würde und gleichzeitig ihr Körper operativ ‚in Form gebracht‘ werden könnte, könnte endlich dieses bedrückende Gefühl verschwinden, dass ihr Leben besser würde wenn sie bloß nicht so dick wäre. Mit diesen Schlankheits- und Schönheitsoperationen könnte auch sie ein schöner Schwan werden – und es bleiben! Robert würde 1

Dies sind in den USA kommerziell überaus erfolgreiche Fernseh-Shows, bei denen – im Casting- und Wettbewerbs-Format – Menschen ihr Aussehen mit mehr oder weniger drastischen Mitteln vor laufender Kamera verändern (Anm. d. Üb.).

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sie wieder attraktiv finden und stolz sein, mit ihr an seiner Seite gesehen zu werden, den Kindern wäre sie nicht mehr peinlich, ihre Familie würde sich freuen und ihr Hausarzt ihr applaudieren zu diesem Entschluss, die Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen: Auf diese Weise trüge sie aktiv dazu bei, die Kosten für Ihre Gesundheitsversorgung zu reduzieren, indem sie die Risikofaktoren für chronische und schwere Erkrankungen minimierte und somit endlich ihren Pflichten als amerikanische Staatsbürgerin nachkäme. Ihrer Meinung nach war es also eine Entscheidung, von der man nur profitieren konnte. Durch ihre Internetrecherchen wusste Josephine, dass sie mit ihrem aktuellen Gewicht nicht als ‚extrem fettleibig‘ (BMI über 40 oder 100 Pfund Übergewicht) galt und daher ihre Krankenversicherung die Kosten für eine Operation nicht übernehmen würde. Als gesunde junge Frau kam auch keine krankheitsbedingte Finanzierung einer Schlankheitsoperation durch die Krankenkasse in Frage (vgl. Apple et al. 2006; Flancbaum et al. 2001; Kurian et al. 2005). Auch wenn sie jetzt vollkommen gesund war, so glaubte Josephine doch, dass sie durch ihr Gewicht gefährdet sei, an schrecklichen Krankheiten zu erkranken (Diabetes, hoher Blutdruck, Osteoporose, Herzkrankheiten …). Josephine wusste, dass sie und Robert niemals die 50.000$ aufbringen könnten, die eine Schlankheitsoperation (ohne Komplikationen) kosten würde. Sie schätzte sich glücklich, dass sie nach ihren vielen erfolglosen ärztlich betreuten Diäten nun in dieser Hinsicht als ‚austherapiert‘ galt, eine Voraussetzung für eine Operation. Josephine entschied also, noch 32 Pfund zuzunehmen, um auf die hundert Pfund Übergewicht zu kommen und damit als ‚extrem fettleibig‘ in die Förderung der Krankenversicherung zu fallen. Also begann sie zu essen und zu essen und dicker und dicker zu werden. Mit zunehmendem Gewicht wurde das Leben für Josephine erheblich unangenehmer (vgl. Cooper 1997, 1998). Bei der Arbeit passte sie in etliche Stühle nicht mehr hinein, sie konnte nicht mehr mit ihren Kindern ins Kino gehen, denn auch die Kinositze waren zu klein für sie. Ihr Sicherheitsgurt war nicht mehr lang genug, ihre Kleidung zu klein, sie fühlte sich unbeholfen, wenn sie im Restaurant oder bei Bekannten aß, ihre Freunde gingen nicht mehr mit ihr aus und Robert berührte sie gar nicht mehr und rückte im Bett von ihr ab (vgl. Zdrodowski 1996). Josephine sorgte sich, ernsthaft krank zu werden oder einen Unfall zu haben: In diesem Fall würde sie z.B. nicht mehr in einen Computertomografen passen. Schließlich lag sie 102 Pfund über ihrem Normalgewicht. Ihr äußerst besorgter Hausarzt überwies sie schnell zum Chefchirurgen des „Bariatric Surgery Center of Excellence“ an der Universität Pittsburgh, einem Zentrum, das aufgrund seiner technischen Innovationen und seiner relativ geringen Anzahl von Todesfällen einen guten Ruf genoss (vgl. Flum et al. 2005). Josephine war stolz darauf, wegen ihres noch jungen Alters, ihrer erfolglosen Diäten in 147

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der Vergangenheit und dem Fehlen ernsthafter Risikofaktoren als ‚Musterpatientin‘ zu gelten. Es wurde entschieden, dass sie sich einen Termin für eine Roux-en-Y (RNY) Magen-Bypass-Operation geben lassen sollte, ein zweistündiger Eingriff, der laparoskopisch von einem Roboter (bedient von einem Chirurgen) durchgeführt wird. Aus dem Internet wusste Josephine, dass dieses Verfahren als ‚goldener Standard‘ im Rahmen von Maßnahmen zur langfristigen Gewichtreduktion betrachtet wurde. Überdies war es die einzige Operation, die ihre Krankenversicherung übernahm. Am Abend vor der Operation erinnerte sich Josephine noch einmal an die Geschichte vom hässlichen Entlein und sagte innerlich Lebwohl zu ihrem gesunden Magen und ihrem fetten Körper und überhaupt zu sich selbst als ‚hässlichem Entlein‘. Sie freute sich auf den kommenden Tag, an dem ein Chirurg 90% ihres gesunden Magens entfernen und ihren ganzen Verdauungsapparat so verändern würde, dass er dauerhaft bei der Aufnahme von Nährstoffen eingeschränkt bliebe (es sollte ein Magen nur von der Größe eines Eies übrig bleiben) – mit dem Erfolg eines dramatischen Gewichtsverlustes in den nächsten beiden Jahren. Josephine fühlte sich bereit, sich für den Rest ihres Lebens an die strikten Ernährungsregeln des „Center of Excellence“ zu halten schließlich hatte sie reichlich Diät-Erfahrung (vgl. Goldberg et al. 2006). Außerdem wusste sie, dass sie nicht alle ihrer Lieblingsspeisen aufgeben musste, denn mittlerweile gab es jede Menge Kochbücher mit verlockenden Rezepten speziell für Amerikaner/innen nach einer Schlankheitsoperation. Überdies verteilten die behandelnden Chirurgen kleine Gratis-Karten für einige ihrer Lieblingsrestaurants, mit denen sie dort eine Kinderportion bestellen könnte. Sie fürchtete sich jedoch ein wenig vor dem Dumping-Syndrom2, unter dem die meisten RNY-Patienten/innen litten (vgl. Goldberg et al. 2006: 48, Kurian et al. 2005: 258-260). Die hiermit verbundenen Symptome wie Schwindel, Herzklopfen und Übelkeit oder gar ein plötzlicher Brechreiz oder Durchfall könnten sehr unangenehm oder auch peinlich sein (aber sicherlich nicht so unangenehm wie das stinkende Erbrochene Betrunkener auf den Gehwegen, es würde schließlich nur Magensäure sein, also gewissermaßen ein absolut ‚zivilisiertes‘ Erbrechen! [Throsby 2007a: 13]). Andererseits, dachte Josephine, wie übrigens viele RNY-Patienten/innen, würde das Dumping-Syndrom wie ein innerer Polizist über sie wachen; geradezu „ein Segen“ (wie Carnie Wilson in dem Video aus der Tyra-Banks-Show sagt), der dem schönen Schwan, der in ihr steckt, zur Geburt verhelfen würde. Schließlich kam der Tag der Verwandlung und der ‚Wiedergeburt‘ (Throsby 2007a). Josephine fiel in den tiefen Narkoseschlaf, in freudiger Er-

2

Unter dem Dumping-Syndrom versteht man eine so genannte Sturzentleerung flüssiger und fester Nahrung vom Magen in den Dünndarm mit ihren Folgen (Anm. d. Üb.).

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wartung der ‚Wiederauferstehung‘ des Körpers, auf die sie sehnlichst und so lange gewartet hatte. Nachdem sie sich von der Operation erholt hatte und die Pfunde nur so purzelten, begannen Robert und sie für die Schönheitsoperation zu sparen, mit der ihr Körper in Form gebracht werden sollte (und die etwa 50.000$ kosten würde). Nach zwei disziplinierten Jahren, in denen Josephine der Schwelle zum schlanken Körper entgegenschwebte, verlor sie beinahe 75 Pfund. Inzwischen hatte sie sehr viele überschüssige Hautfalten, was zu Ekzemen und Reizungen führte. Sie war bereit, einen neuen schönen Körper – einen Körper nach der Operation und der Phase des Abnehmens, einen Körper nach den Schwangerschaften – zu bewohnen (Olesen et al. 2005, Sebastian et al. 2006). Sie folgte der Empfehlung ihres bariatrischen Chirurgen3 und kontaktierte einen angesehenen Schönheitschirurgen, der auch mit der medizinischen Abteilung an der Universität Pittsburgh verbunden war. In einem operativen Eingriff entfernte er die ‚Fettschürze‘, die von Josephines Hüfte herunterhing, entfernte Fett und Haut am Bauch und straffte die Bauchmuskulatur, ebenso den Oberkörper und die Arme, führte ein Brustverkleinerung und ein Brust-Lifting durch sowie ein Lifting an Oberschenkel und Gesäß, ein Gesichts- und ein Hals-Lifting. Inbegriffen war auch eine ‚Verjüngungsoperation‘ ihrer Vagina und eine Verkleinerung der Schamlippen, um Josephines Vagina wieder in den Zustand zu versetzen, den sie vor ihrer Schwangerschaft hatte und ihre Vulva für Robert wieder attraktiver zu machen (vgl. Hurwitz 2005). Nachdem ihre Operationsnarben verheilt waren, musterte sich Josephine schließlich im Spiegel und sah endlich den schönen Schwan, der sie immer sein wollte. Sie fühlte sich schön, wie neugeboren und war stolz auf ihren Entschluss und ihre Selbstdisziplin. Sie war aufgeregt und erfreut, als beide Chirurgen sie fragten, ob sie ihre ‚Davor‘ und ‚Danach‘-Fotos auf ihre Website stellen dürften. Sie konnte es gar nicht erwarten, diese Bilder all ihren neuen Freunde/innen aus dem Internet und ihrer Familie zu zeigen. Sie hoffte, dass auch andere, die über ihren eigenen Körper und den ständigen Diätenkampf frustriert waren, ihrem Beispiel folgen würden (vgl. Boero 2008). So endet diese eine Geschichte infinitesimaler Mechanismen.

2. Josephine durch die foucaultsche Brille betrachtet Foucault definiert einen Apparat als „a thoroughly heterogeneous ensemble consisting of discourses, institutions, architectural forms, regulatory decisions, laws, administrative measure, scientific statements, philosophical, moral, and philanthropic propositions.“ (Foucault 1980a: 194) 3

Die bariartrische Chirurgie nimmt Eingriffe zur Behandlung des ‚krankhaften Übergewichts‘ vor (Anm. d. Hg.). 149

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Da ich ein Mensch bin, der in Bildern denkt, habe ich (nach einigem Zögern) versucht, eine foucaultsche Kartografie eines Fett-Apparates zu entwerfen. So kann ich alle wichtigen theoretischen Elemente in einem dynamischen Modell zusammenfügen. Folgendermaßen sieht es aus: Abbildung 1: foucaultsche Kartografie

Quelle: eigener Entwurf 150

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Einleitende Bemerkungen Foucaults Begriff der dominanten ‚Episteme‘ und seine Beschreibung komplexer Interaktionen zwischen Makro- und Mikromechanismen ermöglichen eine scharfsichtige Interpretation des ‚Märchens von Josephine‘. Ein riesiges Netzwerk erklärter ‚Fett-Experten‘, Institutionen und Praxen stützen die Episteme des Fett-Apparates. Foucault selber empfiehlt eine aufsteigende Analyse der Machtbeziehungen, was bedeuten würde, an einer ganz anderen Stelle anzusetzen. Für meine Analyse des ‚Märchens von Josephine‘ finde ich die Begriffe „Gouvernementalität“, „Biomacht“, „Körperpolitiken“ und „individuelle Selbsttechniken“ höchst hilfreich, denn ich betrachte das ‚Märchen von Josephine‘ als eine besonders aufschlussreiche Illustration der gegenwärtigen Entwicklungen in der amerikanischen Geschichte der Biopolitik. In Band eins der „Geschichte der Sexualität“ beschreibt Foucault die Macht, die in Bezug auf Körperpolitiken wirksam ist, als „[zentriert] um den Körper als Maschine […]. Seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme […].“ (Foucault 1999b: 166)

Körperpolitiken werden durch Biopolitik ergänzt und verstärkt, die Foucault als „den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens“ beschreibt. (Foucault 1999: 170) Anhand vielfältiger verschiedener Mechanismen können die diffusen Makro- und Mikropolitiken in Josephines Leben verstehbar werden. Für Foucault sind diese Mechanismen der Schlüssel zum Verständnis von Machtbeziehungen und der Entstehung disziplinierender Praxen. Zudem sind sie für die Analyse der panoptischen hierarchischen Überwachungspraxen in Josephines Leben sowie der Entscheidungen, die Josephine im gegenwärtigen Amerika trifft, zentral (Germov/Williams 1999). ‚Gewichtsmanagement‘ beschreibt das amerikanische Ideal einer körperbezogenen Gouvernementalität und zielt auf eine Gesellschaft wachsamer und (vor allem selbst-)disziplinierter, gefügiger Individuen von denen jedes einzelne gewogen und vermessen und geschlossenen Kategorien entlang einer Hierarchie von ‚normal‘ bis ‚krankhaft fettleibig‘ zugeordnet wird. Gute Amerikaner/innen ‚achten auf ihr Gewicht‘, ‚zählen ihre Kalorien‘ und berechnen ihren Body Mass Index (BMI); sie konstituieren durch diese normalisierenden Praxen ihr gouvernementales Selbst (Brooks 2004). Gewicht, Sexualität, sex und gender, Fruchtbarkeit, Gesundheit und Krankheit sind der Kern des Fett-Apparates und bringen zusammen mit Biomacht und Körperpolitiken wirkmächtige und komplexe politische Dynamiken hervor, die so151

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wohl hierarchisch strukturierte institutionelle und persönliche Überwachungspraxen wie auch diffuse Techniken der Gouvernementalität beinhalten. In diesem gesellschaftlichen Rahmen werden Individuen wie Josephine, die, der Formulierung von Sue Tait zufolge, den „cultural surgical turn“ (Tait 2007: 120-121) mit vollzogen haben, gefeiert. Sie werden bejubelt für ihre politisch induzierte private Entscheidung, sich innerhalb normalisierter Formen der Selbstermächtigung ‚neu zu erschaffen‘. Wie ich und andere bereits dargelegt haben, werden diejenigen, die sich solchen Praxen verweigern von der herrschenden ‚Makeover-Kultur‘ als von der Norm abweichend und krankhaft stigmatisiert (vgl. Jones 2005, 2008; Tait 2007). Subversion und Widerstand sind schwierig und gefährlich (vgl. Bordo 1993; Braziel/Lebesco 2001; Herndon 2005; Joanisse/Synnott 1999; Morgan 1991, 1996, 2005). Nachdem ich nun einige Facetten des foucaultschen Apparates beschrieben habe, möchte ich drei zentrale Elemente dieses Apparates ausführlicher beleuchten und sie auf den ‚Fett-Hass‘ in den USA beziehen: (1) der systematische Fett-Hass im gegenwärtigen Amerika (2) die Herausbildung von Josephines biomedikalisierter techno-ästhetischer Subjektivität (3) die wachsende Normalisierung von Schlankheitsoperationen in der biomedikalisierten amerikanischen Kultur

(1) Systematischer Fett-Hass Wie bereits vielfach angemerkt wurde, ist die amerikanische Gesellschaft und besonders die weiße amerikanische Kultur durchzogen von Fett-Hass, FettPhobie und der Unterdrückung ‚fettleibiger Menschen‘ (vgl. Austin 1999; Herndon 2002 und 2005; Olson 2006). Fett-Phobie entspricht etwa dem plötzlichen Gefühl von Beklommenheit, das nicht-behinderte Menschen ergreift, wenn sie sich klarmachen, dass auch ihr Körper ‚behindert‘ werden könnte und auch sie in die gesellschaftliche Matrix aus Behindertenfeindlichkeit und obligatorischen Rehabilitationsmaßnahmen geraten könnten. Fett-Phobie ist eine starke Angstreaktion auf Menschen, die als fettleibig erachtet werden.4 Fett-Phobie bezieht sich aber vor allem auch auf die eigene Angst und Abscheu davor, selber ‚fett‘ zu werden und von den eigenen wuchernden Fleischmassen überragt zu werden, die bei jedem Kartoffelchip und jeder Portion von fetthaltiger Salatsauce mitschwingt (vgl. Shildrick 1997). Sollte dies jemals passieren, so würde man selber zu Recht zur Zielscheibe eines ungehemmten Fett-Hasses (so jedenfalls die Phantasien).

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Dabei stellt ‚fettleibig‘ das eine Ende der Außengrenze des ‚Normalgewichts‘ dar, das andere Ende ist die weniger abwertende und seltener benutzte Formulierung ‚mager‘.

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Systematischer Fett-Hass, wie ich ihn im Zusammenhang mit dem FettApparat in Amerika sehe, durchkreuzt viele gesellschaftliche Bereiche und zeigt sich in Handlungen, Ideen, sozialen und kulturellen Praxen und Normen, kulturellen Repräsentationen in Medien, Bildern, Kunst und Symbolen, in politischen und rechtlichen Praxen und Bewegungen, in Bildungswesen und Forschung und in unterdrückerischen Ideologien, die dazu dienen, den Hass auf Personen, die für fett befunden werden, zu legitimieren. In diesen Ideologien werden ‚fettleibige‘ Menschen als ekelhaft, animalisch, faul, willensschwach, hässlich, asexuell, zügellos und gefräßig betrachtet. Sie sind nicht nur von weichem und undiszipliniertem Fett umgeben, sie sind dieses Fleisch und ihr Körper ist sichtbares und unleugbares Zeichen ihrer Unbeherrschtheit und Disziplinlosigkeit. Wenn Fett-Hass mit anderen wirkmächtigen Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus, Klassenfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit, Altersdiskriminierung und amerikanischer Fremdenfeindlichkeit und kulturellem Dominanzgebaren zusammenwirkt, ist ein so bezeichneter fetter Körper ‚giftiges Fleisch‘ (vgl. Young 1990). Fett-Hass gilt nicht nur als nachvollziehbar, sondern als gerechtfertigt und drückt sich in vielen Mikro- und Makromechanismen der Gouvernementalität aus, die den vielen ‚Joes‘ und ‚Josephines‘ in Nordamerika nur zu bekannt sein dürften (vgl. Brumberg 1997). Diese beinhalten: • Pathologisierung körperlicher Differenzen durch Episteme, Diskurse und Praktiken in den Bereichen der Medizin, der Versicherung und der öffentlichen Gesundheitsversorgung, z.B. durch die Verwendung von Begriffen wie ‚Deformiertheit‘, ‚Monstrosität‘, ‚krankhaft fettleibig‘, ‚Nicht-Erstattung der Behandlungskosten‘. • Stereotypisierung: Als fettleibig geltende Menschen werden als minderwertig, ekelhaft, abscheulich, undiszipliniert und unbeherrscht betrachtet und sind somit eine soziale Bedrohung, ein schon unmenschlicher Haufen von aus den Fugen geratenem Fleisch, ein Ort jämmerlichster Fleischeslust, der der Kontrolle und Bestrafung bedarf (vgl. Braziel/LeBesco 2001). • Aberkennung von Sexualität und Erotik, mitunter begleitet von einer fetischisierten sexuellen Fragmentierung von großen Brüsten, Hintern und Vaginen in Medien (vgl. Jones 2008). • Ökonomische Diskriminierung, Marginalisierung und Ausbeutung (vgl. Brownell et al. 2005). Richard Carmona, der Surgeon General der USA, behauptete, dass sich die ‚mit Fettleibigkeit zusammen hängenden Kosten‘ in den USA im Jahr 2000 auf mehr als 117 Milliarden Dollar beliefen. Das heißt aber nicht, dass Dick-Sein an sich Kosten verursacht, die Kosten ergeben sich vielmehr aus den behaupteten ‚mit Fettleibigkeit zusammenhängenden Gesundheitsrisiken‘ wie Herzerkrankungen, Schlaganfall, Diabetes, Krebs und Arthrose. Und hier ist ‚Fettleibigkeit‘ nur ein 153

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Faktor neben anderen (genetischen, umweltspezifischen, ernährungsbedingten, ökonomischen Faktoren sowie der individuellen Lebensführung). Menschen mit ‚normalem‘ Körperumfang (also einem mittleren BMI) sind solchen (Risiko-)Faktoren ebenso ausgesetzt. Ich möchte keinesfalls die Gesundheitskosten, die ‚mit Fettleibigkeit zusammenhängen‘ herunterspielen, aber ich halte es für wichtig, die Rhetoriken und die Wirkungen dieses ökonomischen Arguments zu situieren: Die miteinander verflochtetenen Industrien um Reality-Shows, Schönheit, Diät, Fett, Essverhalten, Therapie und Rehabilitation nehmen in den USA starken politischen Einfluss.5 Feindliches Anstarren, oft verbunden mit demonstrativen Gesten tiefer Abscheu und Verachtung (vgl. Kent 2001; Zdrowski 1996). Soziale Exklusion und die (als gerechtfertigt betrachtete) Freigabe ‚fettleibiger‘ Menschen als Zielscheibe personeller und institutioneller Gewalt – körperliche, emotionale, psychische und kulturelle Gewalt. Dem entspricht die kulturelle Dominanz des Fett-Hasses in Medien, die in vergeschlechtlicht-ethnisierten Darstellungen dicker Menschen diese als lächerlich und verabscheuungswürdig oder stark hilfebedürftig zeichnen. Gewaltsam ist auch die Ausblendung und Unsichtbarmachung ‚fettleibiger‘ Menschen [nach Tait ein „system of visual eugenics“, Tait 2007: 127]). Gleichzeitige Objektivierung und Nicht-Wahrnehmung/Fragmentierung der persönlichen Identität: Fett symbolisiert Undiszipliniertheit und Unbeherrschtheit und ‚verschlingt‘ alle anderen Aspekte der Identität der als fettleibig betrachteten Menschen. Soziale Konstruktion einer ‚unmenschlichen Größe‘ – etwa in den Medien – durch die Betonung und Lächerlichmachung von allerlei ‚Sonderanfertigungen‘ wie etwa Möbelstücken, Waagen, medizinischen Geräten, Anschnallgurten, Drehtüren usw. Dominanz der Vorstellung eines abstrakten körperlichen Selbst, die um Risiken und potentiell kostspielige Krankheiten zentriert ist. Die Konstruktion verläuft über die Vorstellung von einem lebendigen, ‚wirklichen‘ und multidimensionalem persönlichen Selbst (vgl. Beck 2000; Clarke et al. 2003). Öffentliches Anprangern und offene Ressentiments gegen ‚fettleibige‘ Menschen, die ausdrücklich als Parias und ‚innere Bioterroristen‘ behandelt werden sollten und die dem amerikanischen Steuerzahler auf der Tasche liegen.

Es gibt etliche Kritiker/innen des ‚ökonomischen Argruments‘, vgl. u. a. Basham et al. (2006), Gard/Wright (2005), Oliver (2006) und Shell (2004) für ausführliche Betrachtungen.

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Es gibt unendlich kleine, endlos viele Mechanismen und Manifestationen des Fett-Hasses in Amerika – und in Josephines Leben. Josephine selbst praktiziert Fett-Hass, wenn sie sich selbst (vor ihren Operationen) im Spiegel betrachtet, in ihrem Sex-Leben, in ihren sozialen Interaktionen, in ihren wiederkehrenden Mahnungen an ihre Tochter und in der beleidigenden und respektlosen Art, in der sie über ‚fette Menschen‘ spricht. Es überrascht nicht, dass sie – wie viele Amerikaner/innen – den Weg der Operation geht, um dem Fett-Hass zu entgehen. Und es überrascht ebenso wenig, dass die Nachfrage nach solchen Operationen in den USA rasant ansteigt.6

(2) Josephines biomedikalisierte techno-ästhetische Subjektivität Es ist wichtig hervorzuheben, dass Josephine die Schlankheitsoperationen selber wollte und es ist ebenso wichtig, diese Entscheidung vor dem Hintergrund ihrer Subjektivität zu untersuchen. An dieser Stelle ist Foucaults Analyse unterschiedlicher Technologien hilfreich (vgl. Foucault 1988). Durch diese Brille betrachtet, ist Josephine meiner Ansicht nach ein Beispiel für eben die Art der Subjektivität, die im Zentrum amerikanischer biomedizinischer Techno-Ästhetik steht. Josephine wählt die Produktionstechnologien, die ihr verfügbar und die ihren selbst gesteckten Zielen dienlich sind. Damit wählt sie auch die Selbsttechnologien, die durch eben diese Produktionstechnologien möglich werden. Beispielsweise verabschiedet sich Josephine vor der Operation innerlich von ihrem derzeitigen, als Bild auf ihren Computer eingescannten, formbaren Fleisch und identifiziert sich schon mit ihrem bisher nur virtuell auf dem Computerbildschirm vorhandenen und abstrakten, aber bald schon reellem, greifbaren Körper. Sie geht auf die Internetseiten der zahlreichen Foren zu Schlankheitsoperationen und lässt sich dort von ihren Unterstützer/innen alles Gute für die Operation wünschen. Sie weiß, dass diese während ihrer Verwandlung ‚für sie da sein‘ werden. Sie plant ihr ‚letztes Abendessen‘ und weiß dabei genau, dass sie nie wieder ihre Lieblingsspeisen mit dieser undisziplinierten sinnlichen Freude genießen können wird. Auf der anderen Seite weiß sie auch durch ihre Beschäftigung mit diesem neuen Genre der ‚Nach-der-Operation-Kochbücher‘, dass Kartoffelcremesuppen, Lachs mit Mango-Salsa, Chicken Marsala, belgischer Schokoladen-Käsekuchen und Sahnetörtchen auch zukünftig noch drin sein werden (vgl. Leach 2004; Levine; Bontempo-Saray 2004). Sie sagt Lebwohl zu den spontanen Freuden des Essens und weiß, dass sie für den Rest ihres Lebens aufpassen und täglich den potentiell lebensgefährlichen Risiken einer stark eingeschränkten Ver-

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Aktuelle Statistiken der American Society for Metabolic and Bariatric Surgery unter http://www.asmbs.org. 155

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dauung, einer gestörten Nährstoffaufnahme und der Dehydrierung Rechnung tragen muss. Sie weiß, dass sie Geduld haben und die Hautlappen ertragen muss, die ihr vom ganzen Körper hängen, bis diese zwei Jahre vorüber sind und diese Pfunde von überschüssiger Haut endlich bei ihrem kompletten ‚Makeover‘ weg geschnitten werden. Sie weiß, dass der Preis für ihr neues Ich als ‚Techno-Schwan‘ hoch ist. Sie ist begeistert davon, dass endoskopische Technologien so weit fortgeschritten sind, dass bei ihrer Magen-BypassOperation, in der 90% ihres gesunden Magens entfernt werden wird, keine hässlichen und sichtbaren Narben zurückbleiben werden. Sie glaubt an die Fortschrittlichkeit der amerikanischen Medizin und begrüßt es, dass ihr „Centre for Excellence“ vor Kurzem robotergesteuerte Operationstechniken eingeführt hat. Sie weiß um die hohen Sterberaten bei dieser Operation, die – je nach Einrichtung – bei zwischen ein und fünf Prozent liegen. Sie sehnt sich nach dem Tod ihres derzeitigen fetten ‚Entlein-Daseins‘ (und anderer Formen, die ihr Körper zukünftig ohne Operation annehmen könnte). Josephine ist inspiriert von den Heldengeschichten aus den Medien, in denen Frauen sich dazu entscheiden, als weltliche ‚Heilige des disziplinierten Fleisches‘ wiedergeboren zu werden (vgl. Gimlin 2007; Heyes 2007a; Jones 2008; Tait 2007). Dies wird ihnen möglich durch die Magenoperation und die anschließenden Schönheitsoperationen, die ihre Körper umformen, so dass sie letztlich über ihre alten krankhaften Körper, ihren ungezügelten Appetit und ihre Gefräßigkeit triumphieren können. Genau wie diese Frauen kündigt Josephine ihre selbstdisziplinierte Wiedergeburt an, die ihr Stärke und Selbstbewusstsein geben wird und sie aus dem Gefängnis ihres fetten, verhassten Körpers befreien wird. Sie feiert ihre eigene Entschlossenheit; sie gratuliert sich dazu, eine vollständig informierte Konsumentin zu sein, freut sich auf die Glücksgefühle und das Selbstbewusstsein, die sie durch die Anwendung dessen, was Foucault „Selbsttechnologien“ nennt, erlangen wird. Ein Selbst-Bewusstsein, das getragen ist von der Wiederaneignung einer (neuen) ästhetischen und erotischen Identität, von der Aufwertung ihres sozialen und ökonomischen Status, und davon, dass sie als verantwortliche Bürgerin die Wichtigkeit einer gesunden Lebensführung anerkennt, zum Wohle der Gemeinschaft und der Nation. Indem sich Josephine im Jahre 2008 für eine Magen-Bypass-Operation entscheidet, begibt sie sich in eine komplexe Matrix aus historischen, ökonomischen, ideologischen, körperpolitischen Elementen, die ich als biomedikalisierte Techno-Ästhetiken bezeichne (vgl. Morgan 2008). Diese sind eingebettet in das größere Setting technisch-wissenschaftlicher Biomedizin in Amerika, die mit dem Aufkommen eines medizinischen Tourismus zum weltweiten Exportschlager geworden ist. Meine fiktionale Josephine ist ein perfektes Beispiel dafür, was es bedeutet, eine neue techno-ästhetische Identität anzunehmen: Erstens betritt sie eine völlig neue Welt von virtuellen, mikrochirurgischen und robotischen Technologien und neuen Verfahren der Magenchirur156

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gie (die strategisch bezeichnet werden als ‚Chirurgie zur Beseitigung von Übergewicht‘/,Schlankheitschirurgie‘), und zwar mit dem Ziel, ein neues Leben als attraktiver, begehrenswerter und selbstbewusster Techno-Schwan zu beginnen (vgl. Clarke et al. 2003: 182). Zweitens begreift Josephine, dass die neuen Aufgaben und zu vollbringenden Leistungen ihre eigene Selbstwahrnehmung verändern (vgl. ebd.). Sie weiß, dass eine Operation, die 90% ihres gesunden Magens entfernt, ihrem Körper bestimmte Regeln auferlegt, die ihr persönliches und soziales Essverhalten einer strengen Disziplin unterwerfen. „Es ist wie ein innerer Polizist“, formuliert es eine Patientin, eine leibliche Inkorporierung also der (Ess-)Disziplin, die vielen Patienten/innen willkommen ist. Josephines Magen wird wie ein kleines Panoptikum (vgl. Foucault 2006) funktionieren und ihr in ihrem Streben nach dem perfekten Körper behilflich sein. Ihr Magen wird nicht nur darüber wachen, was sie essen wird, sondern ihr auch die Aufnahme bestimmter Lebensmittel energisch verbieten – durch Erbrechen oder heftigen Durchfall – und so den Schwan in ihr hegen und pflegen. Sorgsame Entscheidungen und ‚Selbstkontrolle‘ werden mittels technischer Verfahren durch eine ‚Magenpolizei‘ ersetzt, was viele Patienten/innen ihren eigenen Aussagen nach dazu ‚befähigt‘, sich selber besser zu kontrollieren und zu disziplinieren. Die Verlagerung des ‚inneren Polizisten‘ in den Körper, genauer den Magen, ist genau der Punkt an dieser Art von Operation, der den meisten Spott auf sich zieht und der Grund dafür, dass es als lächerlich und peinlich gilt, sich für eine solche Operation zu entscheiden. Daher versuchen viele Patienten/innen ihre Operation zu verheimlichen … eine ziemliche Herausforderung, wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Gewichtsabnahme erfolgt. Indem Josephine sich für die Operation als einen dauerhaften Eingriff in ihren Körper entscheidet, vollzieht sie drittens eine vollständige Abkehr von ihrer ‚krankhaft fettleibigen‘ Identität als einer hochriskanten Körperlichkeit und tauscht sie gegen eine ideale neoliberale, verantwortungsbewusste und Gesundheitsrisiken minimierende Subjektivität (vgl. Clarke et al. 2003: 182f.). Mit der Komplettierung ihrer Verwandlung durch ihr Körper-Lifting, das ihre Brüste, Arme, Schenkel, Hüften, Taille, ihren Bauch und ihre Knie, ihre Vulva und ihre Vagina neu formt, versetzt Josephine ihr früheres Selbst, ihr Selbst vor Schwangerschaft und Ehe, wieder in ihre – noch nicht greifbare – körperliche, erotische, soziale Zukunft. Schließlich veranschaulicht Josephine die (potentiell subversive) Praxis, sich in verschiedenen virtuellen Gewichtsabnahme-Communities zu bewegen, und nutzt die – demokratische – Wissensquelle Internet, um sich medizinisches Wissen anzueignen. Sie liest Sach- und Ratgeberbücher für ‚Einsteiger‘ und umgeht damit die elitären Praxen der Wissensverwaltung im Gesundheitswesen (vgl. Boero 2008). Indem sie diese biomedizinisch vermittelte techno-ästhetische Subjektivität lebt, erhofft sich Josephine, an der Transzendenz, der Befreiung und Selbstermächti157

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gung teilzuhaben, von der Menschen aus ihren virtuellen Support-Groups so begeistert berichten und die durch die Verschmelzung von Produktionstechnologien, Machttechnologien und Selbsttechnologien möglich scheinen. Foucault würde die Verwirklichung von Josephines historischer technoästhetischer Subjektivität als Ergebnis des Zusammenkommens unterschiedlicher Dynamiken deuten: Der individualisierenden Körperpolitiken, die Disziplin und Selbstbewusstsein in Josephines Leben bringen und des regulierenden Zugriffs multipler Formen der Biomacht, die in den Formen der gegenwärtigen amerikanischen Gouvernementalität angepriesen werden.

(3) Die Normalisierung von Schlankheitsoperationen in der biomedikalisierten amerikanischen Kultur Ich möchte einerseits die empirische, erfahrene Realität von Transzendenz, Befreiung und Selbstermächtigung, die einige amerikanische Patienten/innen bariatrischer und kosmetischer Operationen für sich beanspruchen, betonen, andererseits möchte ich darlegen, dass sich Josephine tief in verschiedene Zwangsdynamiken verstrickt, die im Inneren der gegenwärtigen biomedikalisierenden Kultur in Nordamerika (und weltweit) zusammenlaufen. Weiterhin möchte ich darlegen, dass die persönlichen Entscheidungen von Menschen, die als ‚fett‘ gelten, in Amerika nur im Kontext der wirkmächtigen Epistemen, Diskursen und Praxen bariatrischer und kosmetischer Chirurgen verstanden werden können. Da jährlich Tausende von Frauen in den USA Magenverkleinerungen vornehmen lassen, halte ich es für wichtig, ihre Erfahrungen in Bezug zu setzen zu etwas, was ich in Anlehnung an Elisabeth BeckGernsheims Vier-Phasen-Modell als den Entwicklungsverlauf der Anwendungen der Technik der Schlankheitsoperationen von der Freiwilligkeit zum Zwang bezeichne (vgl. Beck-Gernsheim 1988, 1995) Beck-Gernsheim weist im Rahmen ihrer Formulierung dieser vier Phasen darauf hin, dass technologische Veränderungen immer in ihrem Zusammenhang analysiert werden müssen (vgl. Beck-Gernsheim 1989: 23, 32). Sie hebt hervor, dass häufig Technologien, die als fortschrittlich und emanzipativ gehandelt werden, am Ende ebenfalls die Zwangsmechanismen der Biomacht stärken. Genau dies illustriert die paradoxe Erfahrung, die ich „erzwungene Freiwilligkeit“ genannt habe (vgl. Morgan 1991, 1996).

3 . E n t w i c k l u n g s ve r l a u f t e c h n o l o g i s c h e r An w e n d u n g e n v o n d e r F r e iw i l l i g k e i t z u m Zw an g : Vier Phasen Beck-Gernsheim differenziert zwischen vier abgrenzbaren (sich jedoch nicht gegenseitig ausschließenden) Phasen dieses Entwicklungsverlaufs. Im Fol158

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genden werde ich diese Phasen auf die Entwicklung der Schlankheitsoperationen in Amerika übertragen.

Phase 1: Allmähliche Verschiebung von ‚low tech‘ zu ‚high tech‘ Die Geschichte der Schlankheitsoperationen in Amerika beginnt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seitdem kam es zu einer immer breiter werdenden medizinischen Anwendung verschiedener Verfahren. Während medizinische Experten begannen, laparokopische und endologische Verfahren anzuwenden, verbreitete sich überall in Bezug auf Körperbilder die Nutzung von Computersoftware. Diätkultur und Techniken der ‚Diäthilfsmittel‘ etablieren und normalisieren sich, ‚Diät halten‘ gilt nunmehr als Bedingung, um an einer Makeover-Kultur teilzuhaben, die zusehends als Aufforderung und Verpflichtung begriffen wird. Technologische Verfahren für Magenoperationen an Geschwüren und Krebserkrankungen des Verdauungsapparates werden verbessert und mit geringeren Sterbequoten durchgeführt. Gleichzeitig, etwa Mitte der 1950er Jahre, registrieren bariatrische Chirurgen, dass Magengeschwürund Krebspatienten/innen nach den Operationen an Gewicht verlieren. Um 1960 werden die ersten bariatrischen Eingriffe mit dem Ziel der Gewichtsreduktion durchgeführt (jejuno-ilealer Bypass). Zwar verloren die Patienten/innen an Gewicht, entwickelten jedoch auch massive Nierensteine, erlitten schließlich Leberversagen und starben (vgl. Woodward 2001). Angesichts der Notwendigkeit nicht-tödlicher Alternativen, begannen Pharma-Unternehmen, Anti-Fett-Pillen für einen entsprechenden Markt zu entwickeln und neben den chirurgischen auch medikamentöse Verfahren einzuführen.

Phase 2: Politisch unregulierte Anwendung Bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhundert und bis heute erfahren bariatrische Chirurgen Unterstützung von einer gewaltigen Diskurssinfonie zu ‚Fettleibigkeit‘ in Regierungsbehörden, dem öffentlichen Gesundheitswesen, der Versicherungsindustrie, der Pharmaindustrie und den Medien, ebenso wie von einem verbreiteten Fett-Hass. Auch die Normalisierung der kosmetischen Chirurgie wirkt hier unterstützend. Es werden neue regulative Kategorien und medizinische Technologien entwickelt, die eine Antwort geben auf ‚die Bedürfnisse der Nation‘ und auf die Leiden ‚fettleibiger‘ Menschen. Kosmetische Chirurgen, die an das Arbeiten an markierten pathologisierten Körperteilen und ‚deformierten‘ oder ‚hässlichen‘ Stellen gewöhnt waren, taten sich mit den selbsternannten ‚Schlankheitschirurgen‘ zusammen, die sich auf den ganzen Körper bezogen, da Fett als gefürchtete, feindliche Substanz (eine Art ungewollter illegaler Einwanderer), überall den Körper ‚einnehmen‘ kann 159

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(vgl. Kurian et al 2005; Olesen et al 2005). Die notwendige soziale Ikonografie entwickelt sich in den USA und andernorts, wo mehr und mehr Stars und Prominente ihre operativ geformten schlanken Körper präsentieren und die Wunder der modernen Schlankheitschirurgie feiern. Berühmte Schlankheitschirurgen nutzen das Internet, Printmedien und manchmal populäre Fernsehshows (Oprah Winfrey, Jerry Springer etc.) für ihre Auftritte, und ihre bejubelten Techno-Kreationen werden Teil des öffentlichen Diskurses und der biomedizinischen Kultur (vgl. Dennett 1996; Thomson 1996). In all der Zeit werden keinerlei Statistiken über Erkrankungen und Todesfälle im Zusammenhang mit bariatrischen Eingriffen geführt, keine systematischen Studien werden in Auftrag gegeben, bis, im Oktober 2005, in einem Sonderheft des „Journal of the American Medical Association“ schockierend hohe Sterberaten für den ‚goldenen Standard‘ der Schlankheitsoperationen, das Roux-en-YVerfahren, veröffentlicht werden. Die mächtige „American Medical Associaten“ (AMA) hält an dem Status des ‚goldenen Standards‘ trotz dieser Sterbestatistiken fest.

Phase 3: Normalisierung und Schaffung eines Marktes – Technologie als ‚persönliche Befreiung‘ Beck-Gernsheim wählt in ihrem wichtigen Aufsatz „Normalisierungspfade und Akzeptanzkonstruktionen“ (Beck-Gernsheim 1991) die Begriffe ‚Normalisierungspfade‘ und ‚Legitimationsstrategien‘, um zu zeigen, wie persönliche und öffentliche Akzeptanz sich mit Prozessen der Normalisierung verschränken. Viele entsprechender Pfade und Strategien können in Bezug auf die Normalisierung der Schlankheitschirurgie in Amerika ausgemacht werden. Hier sind vier:

1) Dominanz des BMI (Body Mass Index) Der erstaunlich simple numerische BMI etabliert sich nicht nur als einfache Methode, um menschliche Körper gleichzeitig individuell und statistisch zu vermessen, sondern erlangt sogar kanonischen Status (trotz der Einwände vieler Ärzte) als unfehlbare Kennzahl für gefährliche, hochriskante Fettleibigkeit. Mit seiner magischen pathologisierenden Macht schafft er Millionen zusätzliche ‚extrem fettleibige‘ Amerikaner/innen, sooft die Versicherungsgesellschaften und die Regierungsbehörden die BMI-Schwelle für ‚krankhaft fettleibig‘ nach unten verschieben. Sofort vergrößert sich der Markt für Schlankheitsoperationen, da ‚fettleibige‘ Amerikaner/innen nach Kräften die auf Fett-Hass gründenden systematischen Dynamiken vermeiden wollen, die eine Kategorisierung als ‚fettleibig‘ nach sich ziehen (Gard/Wright 2005; Oliver 2006). 160

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2) Institutionelle Benennungen und Verschiebungen Etliche diskursive Praxen, darunter Benennungen und Verschiebungen von Paradigmen, dienen der Normalisierung von Schlankheitsoperationen. Einige Beispiele: ‚Fettleibigkeit‘ wird medizinisch als ‚bösartige degenerative chronische Krankheit‘ aus sich selbst heraus definiert (und nicht als persönliches Versagen oder ‚Willensschwäche‘), gleichzeitig wird von der einflussreichen „American Medical Association“ das Roux-en-Y-Verfahren des Magenbypasses zum ‚goldenen Standard‘ für eine dauerhafte Gewichtskontrolle für alle als ‚fettleibig‘ definierten Personen erklärt. ‚Fettleibigkeit‘ – die ausschließlich über den BMI bestimmt wird – wird als ‚Hauptrisikofaktor für Diabetes, Herzinfarkte, Schlaganfälle und bestimmte Krebsarten‘ benannt, eine gewichtige Benennung in einer Risiko-Gesellschaft, in der von den Amerikaner/innen erwartet wird, dass sie als gute neoliberale Subjekte bei der Konzeptualisierung ihres eigenen Körpers als einem abstrakten und risikobehafteten Ort ihren Gesundheitsrisiken Rechnung tragen. Einflussreiche Regierungsakteure, wie die „Centers for Medicare“ und „Medicaid Services“ beschließen, ihre Versicherungsleistungen auch auf ‚erwiesenermaßen‘ ‚fettleibige‘ Patienten/innen auszuweiten, vorausgesetzt, sie ‚wählen‘ eine Magen-Bypass-Operation an einem der „Bariatric Center of Excellence in the United States“ (Zentren, die unbemerkt auftauchten, sich als erstaunlich lukrativ erwiesen und in Phase zwei vorherrschend wurden). In öffentlichen Diskursen ist immer wieder von ‚epidemischer Fettleibigkeit‘ die Rede, wobei die Bedeutung des Begriffs „epidemisch“ (= ansteckend) eine Verschiebung erfährt, gleichzeitig verstärkt der Begriff moralische und soziale Panik. Die Verwendung dieses Begriffs für eine BMIbasierte Beschreibung der amerikanischen Demografie zielt ganz eindeutig auf Arme, nicht-weiße Menschen und Immigranten, von denen nur wenige über eine Krankenversicherung verfügen, die die Operation übernimmt (vgl. Boero 2007; Herndon 2005). Dr. Julie Berberding, die Direktorin des einflussreichen „Center for Disease Control and Prevention“ bezeichnet 2003 Fettleibigkeit als eine Pandemie in Amerika, die schlimmer als all die Seuchen sei, die Europa in früheren Jahrhunderten heimsuchten. Dabei verweist sie auf eigens angefertigte und stark aufgeblähte Sterblichkeits-Statistiken für Fettleibigkeit. Die Medien verbreiten diese Statistiken als Beweis für eine ‚Fett-Epidemie‘. Es wurde jedoch bald klar, dass Gerberings Daten massiv manipuliert waren. Im April 2005 gaben Wissenschaftler/innen des „Center for Disease Control“ bekannt, dass Gerberdings Sterblichkeits-Statistiken um 300% zu hoch angesiedelt waren und veröffentlichten ihre Ergebnisse im renommierten „Journal of the

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American Medical Association (JAMA). Aufforderungen in der Scientific Community, von ihrem Amt zurückzutreten, weist Gerberding vehement ab.7 Im Jahr 2006 bezeichnet Richard Carmona (US Surgeon General) Menschen, die als ‚fettleibig‘ gelten als „innere Bioterroristen“ (vgl. http:// www.cbsnews.com/stories/2006/03/01/health/main1361849.shtml vom 06.06. 2008). Dadurch weist er diesen ‚fettleibigen‘ Individuen die Rolle eines ‚feindlichen Ziels‘ innerhalb eines ‚Kriegs gegen Fettleibigkeit‘ zu, einem Krieg, der innerhalb eines größeren nationalistisch-patriotischen Narrativ situiert ist.

3) Die parasitäre Integration der Schlankheitsoperationen in eine normalisierte Kultur der Schönheitschirurgie Das erste Kapitel im Buch „Cosmetic Surgery for Dummies“ lautet: „Entering the Golden Age of Cosmetic Surgery“. Die Frage ist, ob wir nun das ‚goldene Zeitalter‘ der Schönheitschirurgie oder die vierte Phase ihrer Entwicklung betreten haben: die Phase der erzwungenen Anwendung, Regulierung und Überwachung. Als ich 1991 „Women and the Knife“ schrieb, traf ich die Vorhersage, dass privilegierte Frauen in der nahen Zukunft diese Phase vier betreten würden (vgl. Morgan 1991). Ich hatte gehofft, dass sich diese Vorhersage als falsch erweisen würde. Heute ist selbst gewählte Schönheitschirurgie als Teil einer postmodernen Makeover-Körperkultur völlig normalisiert. Aus dieser Position der Stärke heraus fungiert diese Makeover-Kultur als materieller, diskursiver, produktiver und ideologischer Apparat, der die Normalisierung der Schlankheitsoperation befördert, während sich Schönheitsoperationen allmählich der vierten Phase nähern (vgl. Jones 2005, 2008). In der Praxis arbeiten bariatrische Chirurgen und kosmetische Chirurgen ganz selbstverständlich zusammen, um ‚Techno-Schwäne‘ zu erzeugen. Beide Gruppen operieren an gesunden Körperteilen. Anders als bariatrische Chirurgen, die Geschwüre und Krebserkrankungen des Magens und des Verdauungssystems operieren, arbeiten Schlankheits-Chirurgen an absolut gesunden Mägen in den Körpern pathologisierter Individuen und erzeugen de facto einen gefährlich dysfunktionalen Verdauungstrakt. Dabei bezeichnen sie die ‚fettleibigen‘ Patient/innen als ‚krankhaft‘ und ‚monströs‘. Anders als plastische Chirurgen, die Unfall- oder Brandopfer operieren, spielen ‚Schönheits-Chirurgen‘, die ausschließlich mit selbst gewählter Verschönerungs-Chirurgie zu tun haben, eine aktive Rolle bei der Pathologisierung solcher Körper, die medikalisierte Formen der Hässlichkeit aufweisen, welche als ‚Deformiertheiten‘ und ‚De7

John Luik, TechCentral Station, http://web.archive.org/web/20051127074006/ http://www.techcentralstation.com/060305F.html vom 06.06.2008, vgl. auch http://www.consumerfreedom.com/print.cfml?id=2794&page=headline vom 06.06.2008.

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fekte‘ beschrieben werden. Beide Arten von Operationen ergänzen sich bei der Materialisierung eines einzigen Ideals: Des straffen und schlanken Körpers, der als wünschenswert vorausgesetzt wird. Die Amputation bzw. operativ erzeugte Einschränkung des Magens wird mit der Praxis des Fettabsaugens oder der Bauchdeckenstraffung verglichen, als ob es sich dabei nur um verschiedene Arten des ‚Fett-Managements‘ handele. Plastische und bariatrische Chirurgen, die betonen, wie wünschenswert komplette Makeover-Operationen sind, trifft man immer häufiger als Experten in ‚Makeover Professional Teams‘ in Fernsehshows an, in denen – für gewöhnlich – Frauen gegeneinander antreten, um mit Hilfe chirurgischer Verfahren in ‚Schwäne‘ verwandelt zu werden. Mittlerweile gibt es in Amerika eine Vermischung der verschiedenen Fachgebiete: Einige plastische Chirurgen bieten auch ‚Schlankheitsoperationen‘ an, umgekehrt nehmen manche bariatrischen Chirurgen einträgliche Verfahren aus der plastischen Chirurgie in ihren Leistungskatalog auf, wiederum andere Chirurgen wechseln in das Fachgebiet der bariatrischen Chirurgie, um in die lukrative biomedizinische techno-ästhetische Schönheitsindustrie einsteigen zu können. Abgesehen von den Gewinnen, die in diesem Bereich zu erzielen sind – ‚Schlankheitsoperationen‘ selbst dauern etwa zwei Stunden und sind mit nur einer Übernachtung im Krankenhaus zu machen, dabei zahlen die Patient/innen zwischen 30.000 und 50.000 US-Dollar –, berichten beide Gruppen von Chirurgen von beruflicher Erfüllung. Wie Wesley Clarke, ein bariatrischer Chirurg anmerkt: „Es geht nichts über dieses Glücksgefühl, wenn Patienten ein Jahr nach der Operation wieder zu mir kommen und mich umarmen wollen (keine Frau hat mich je dafür umarmt, dass ich ihre Brüste entfernt habe). Sie haben sich in wunderschöne Schmetterlinge verwandelt und führen ein aufregendes neues Leben, sie tun Dinge, von denen sie nie zu träumen wagten. Ich bin Arzt geworden, weil ich die Menschen heilen wollte. Ich hab meine Art zu heilen gefunden und ich liebe es.“

Schließlich benutzen beide Chirurgen-Gruppen gerne eine blumige Sprache. Die Formulierung „Schlankheitsoperation“ (weight-loss surgery) sagt nichts über die konkrete Operation – sie könnte genauso gut das Implantieren eines Computerchips in das Gehirn oder einen anderen Körperteil bedeuten. Genauso ist die Bezeichnung „tummy tuck“ (Bauchdeckenstraffung) in höchstem Maße irreführend und verharmlosend, auch die Wendung „vaginal rejuvenation“ („Verjüngung der Vagina“) meidet jeden Bezug auf das chirurgische Verfahren. Bariatrische Chirurgen beweisen ein enormes zweisprachiges Geschick, wenn sie einerseits von einer kosteneffizienten „Risiko- und Mortalitätsreduktion“ in Bezug auf die dominanten Institutionen der Gouvernementalität, die Biomacht ausüben, sprechen (Regierung, Versicherungsgesellschaften, die Pharmaindustrie und Sponsoren) und andererseits die anato163

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misch-politische Sprache der „schönen Schmetterlinge“, des „neuen Lebens“ in Bezug auf den stetig wachsenden Markt potentieller Patient/innen. Derzeit zielen sie auf Jugendliche ab, deren Leben von traumatisierenden Formen des Fett-Hasses geprägt sind (und die von Chirurgen als ‚krankhaft fettleibig‘ klassifiziert werden), oder auch auf nur mäßig Übergewichtige, die sich eine weitere Form der biomedizinischen Verschönerungs-Techniken innerhalb ihres ‚vernünftigen‘ und vorsorgenden Gewichts-Managements leisten wollen, das sich wiederum in ein umfangreicheres Programm persönlicher Körperpolitiken fügt und sehr häufig von einem ‚Personal Trainer‘ begleitet wird (vgl. Foucault 1986, Straus 2001, Warman 2005).

4) Die Verschiebung des paradigmatischen Subjekts der Schlankheitsoperation: Vom Sünder zum weltlichen Heiligen Diese Strategie markiert eine wichtige Verschiebung weg von der gängigen Schuldzuweisung an das willensschwache ‚fettleibige‘ Subjekt der Schlankheitsoperationen, das sich mit Hilfe der Chirurgie ‚schlankmogeln‘ will und hierdurch noch einmal seine Unfähigkeit zu Selbstdisziplin und -kontrolle beweist (vgl. Schwartz 1986). Angesichts multipler und konvergierender Diskurse und Praxen des amerikanischen Neoliberalismus, dem Erstarken eines Wellness- und Gesundheitsbewusstseins (das kurzerhand alle Verantwortung für sein ‚Gesundheitsmanagement‘ dem Individuum zuweist) und der Normalisierung von Selbstaufwertungs-Technologien zu alltäglichen life-stylePraxen (zum Beispiel in Bezug auf genetische Verfahren, psychoaktive Pharmaka, Nahrung, Sportübungen, Körper und Erscheinungsbild) verheißt das neue Paradigma die Zelebrierung des Subjekts der Schlankheitsoperationen (vgl. Griffith 2004, Lelwica 1999). Die Entscheidung für eine Schlankheitsoperation verspricht, ein Weg zu weltlicher Heiligsprechung zu werden. Durch seine chirurgisch herbeigeführte Metamorphose, den massiven und sichtbaren Gewichtsverlust und die lebenslange Hingabe an ein Regiment der knappen und gestörten Nahrungsaufnahme, ‚verkörpert‘ das Subjekt der Schlankheitsoperation seine patriotische Selbstdisziplin, sein Verantwortungsbewusstsein für die amerikanische Gesellschaft, seine Entscheidung, ein attraktives, gesundes und produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden, eine vorbildliche Mutter und Ehefrau, eine vorzeigbare Freundin, eine Bürgerin des 21. Jahrhunderts zu sein. All dies wird ermöglicht durch die Entscheidung, die eigene Subjektivität innerhalb der Möglichkeiten der technowissenschaftlichen biomedizinischen Kultur neu zu leben. Diese Metamorphose wird artikuliert und wahrgenommen im vertrauten Diskurs der Transzendenz, der Befreiung und Selbstermächtigung. In Foucaults Begriffen handelt es sich um eine machtvolle Paradigmenverschiebung, die ein Subjekt konstruiert, das sich Produktions- und Selbsttechnologien aneignet, um sich selber als gleich164

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zeitig normalisiertes und individualisiertes Subjekt zu erschaffen, als ein Subjekt, das seine körperliche Befreiung als eine soziale, ökonomische und patriotische Aufwertung begreift (vgl. Heyes 2006, 2007b). Diese Paradigmenverschiebung – vom Sünder zum weltlichen Heiligen – ist der Kern der von Beck-Gernsheim markierten Phase drei, Normalisierung und Schaffung eines Marktes.

Phase 4: Forcierte Anwendung, Zwangsmaßnahmen, Regulierung und Überwachung Wie Beck-Gernsheim (1988) anmerkt, sind viele Technologien rund um die menschliche Reproduktion (zum Beispiel Verhütung, Schwangerschaft, Geburt) immer mehr in Phase vier anzusiedeln. Innerhalb eines größeren Rahmens normativer diskursiver Praxen der ‚liberalen Eugenik‘ ist die Anwendung der Technologien der Verhütung, der pränatalen Diagnostik und des genetischen Screenings, um ‚Entscheidungen‘ treffen zu können, zunehmend obligatorisch und mitunter erzwungen. Schlankheitsoperationen haben diese Phase noch nicht erreicht und dafür gibt es in der amerikanischen Kultur des Schlankeitsimperativs verschiedene Gründe: Da sind zunächst die hohen Kosten der Operation. Doch mag sich dies durch die zunehmenden staatlichen Subventionen und die entsprechenden Investitionen der Versicherungen ändern. Es ist leicht vorstellbar, dass in einer Kultur, in der versicherungsbasierte Risiko-Abschätzungen und Körperumfang miteinander verbunden werden, auch Schlankheitsoperationen verpflichtend werden könnten, zum Beispiel für gut bezahlte und hoch qualifizierte Angestellte. Denkbar wäre es auch, dass eine Schlankheitsoperation eine Einstellungsvoraussetzung werden könnte. Das Beispiel der gefeierten Opernsängerin Deborah Voigt, die aus ihrer Anstellung für eine Convent Garden Oper entlassen wurde, weil sie nicht in ein bestimmtes Kleid passte, – bis sie sich einer Schlankheitsoperation unterzöge und abgenommen habe –, dieser Fall könnte sich in Amerika in naher Zukunft als durchaus legitime diskriminatorische Praxis erweisen. Eine andere, damit verbundene, Erklärung liegt darin, dass ‚Diät zu halten‘ (trotz der 95-prozentigen Misserfolgsquote) normal geworden ist, besonders für weiße Frauen und Mädchen (den derzeitig häufigsten Patientinnen von Schlankheitsoperationen), und der Milliarden-Industrie der Diät-Produkte hohe Gewinne einbringt. ‚Diät zu halten‘ ist ein akzeptierter Weg, einigen Dynamiken des Fett-Hasses zu entgehen, zumal das Paradigma der Scham bei den potentiellen Subjekten der Schlankheitsoperation noch immer sehr dominant ist. Andererseits haben Experten der Gesundheits- und Lebensversicherungen bereits festgelegt, dass Schlankheitsoperationen – vor dem Hintergrund der 95-prozentigen Misserfolgsquote anderer Verfahren zur Gewichtsabnahme – kosteneffizienter sind. 165

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Gegenwärtig sehe ich Schlankheitsoperationen im Grenzbereich zwischen Phase zwei und drei situiert. Wenn ich Recht habe, dann ist Phase vier als Phase der Zwangsmaßnahmen also noch in der Ferne – aber sie nähert sich …

4 . D i e F o r t s e t z u n g d e s ‚ M ä r c h e n s vo n J o s e p h i n e ‘ Ich habe bereits an anderer Stelle kritisch angemerkt, dass Erfahrungen unterschiedlich situierter Frauen mit ‚erzwungener Freiwilligkeit‘ in den Bereichen der kosmetischen Chirurgie und der Reproduktion häufig nur in der Rhetorik der ‚individuellen Entscheidung‘ und persönlichen Selbstbestimmung beschrieben wurden. Ich habe weiterhin festgestellt, dass diese verführerische Rhetorik häufig die gleichzeitig erfahrene Abhängigkeit von Experten, die das spezifische Wissen und die Technologien beherrschen, überdeckt (Morgan 1996). Wie uns Foucault jedoch zu Recht vor Augen führt, folgt aus der Disziplinierung, der Regulierung und Überwachung nicht immer und ausschließlich Gefügigkeit. Oft sind diese Techniken notwendig für die spezifische Entwicklung eines sich ermächtigenden Selbst – und eines widerständigen Selbst (vgl. Foucault 1975; Morgan 2005). Meine fiktionale Josephine hat sich gegenwärtige Produktionstechnologien, Zeichensysteme, Machttechnologien und die biomedizinischen ästhetischen Selbsttechnologien angeeignet „[to] effect by [her] means or with the help of others, a certain number of operations on [her] own bodies and souls, thoughts, conduct an way of being […] to transform [herself] in oder to attain a certain state of happiness, purity, wisdom, perfection, of immortality.“ (Foucault 1988: 18)

Nach ihrem dramatischen Gewichtsverlust von 90 Pfund und ihrer Genesung von ihren zahlreichen Makeover-Operationen lächelte Josephine sich im Spiegel an und nahm liebevoll ihre schon etwas zerknitterte Ausgabe von Hans Christian Andersens Märchen zur Hand. Wieder war sie gerührt von den Worten des ehemals hässlichen Entleins: „Er war allzu glücklich, aber durchaus nicht stolz; denn ein gutes Herz wird nie stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, daß er der schönste aller schönen Vögel sei; selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und mild. Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich und aus vollem Herzen jubelte er: ‚So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!‘“ (Andersen 2003: 205)

In ihrem weiteren Leben, das sie innerhalb des foucaultschen Fett-Apparats mit seinem immer noch starken Fett-Hass im Herzen des amerikanischen Lebensstils des 21. Jahrhunderts führt, fühlt Josephine sich durch ihren neuen Körper, ihre neue Identität und ihre befreite Subjektivität glücklich und zu166

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versichtlich. Die Sonne scheint warm in ihre Küche herein, als Josephine ihr liebstes ‚Kochbuch nach der Operation‘ aufschlägt und die Zutaten für Crepes mit Schokoladencreme zusammenstellt.

Aus dem Englischen von Johanna Tönsing.

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Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in T H E S W AN ANDREA SEIER UND HANNA SURMA In der deutschen Fernsehlandschaft ist gegenwärtig die Verbreitung eines international populären Sendetypus beobachtbar, den die Fernsehforschung mit dem Begriff des ‚Lifestyle-Fernsehen‘ belegt (vgl. Müller 2005; Spittle 2002; Heller 2007 u.a). Benannt ist damit eine spezifische Ausdifferenzierung des seit den 1990er Jahren im europäischen und amerikanischen Fernsehen sich durchsetzenden Reality-Fernsehens. Kochen und Einrichten, Gartenarbeit und Kindererziehung, Personal Style und Partnerwahl werden seit einiger Zeit mit je eigenen Formaten und Inszenierungsstrategien im Fernsehen thematisiert und, wie es Ib Bondebjerg formuliert, aus dem ‚backstage‘- in den ‚frontstage‘-Bereich verschoben (Bondebjerg 2002). Nahezu wöchentlich bringt das Lifestyle-Fernsehen, für das wir im Folgenden den (im Rahmen der von uns verfolgten Fragestellung) präziseren Begriff des Fernsehens der Mikropolitiken1 verwenden, neue Formate hervor, die auf der Basis variierender formaler

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Der Begriff der Mikropolitiken verweist auf die Codierung des ‚Privaten‘ als politisch und damit auf die enge Verknüpfung von mikro- und makropolitischen Sphären. Vertreter/innen von Cultural Studies und Feminismus hat er dazu gedient, heraus zu arbeiten, dass Politik nicht nur auf den herkömmlichen Makroebenen stattfindet, sondern auch im sogenannten privaten Bereich in Form von Alltagspraktiken abgesichert wird. Wenn es dem Feminismus um eine Aufwertung des Privaten geht, so geschieht dies in der aktuellen Fernsehlandschaft unter deutlich anderen Vorzeichen. Ging es dem Feminismus um die Politisierung privater Strukturen wie Familie und Beziehung im Sinne einer öffentlichen Problematisierung z.B. von familiären Gewaltbeziehungen, verläuft die Bewegung im Fernsehen der Mikropolitiken genau umgekehrt: Politische und soziale Dimensionen der thematisierten Problematiken werden tendenziell individualisiert und in Fragen persönlicher Schicksale, persönlicher Motivationen und psychologischer Fähigkeiten übersetzt (vgl. Seier 2008). 173

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Elemente und Genres, Techniken der Selbstführung problematisieren.2 Techniken der Lebensführung konstituieren in diesen Formaten spezifische Wissensgebiete, die sich über sämtliche bereits etablierte und neu entstandene Genreeinheiten des Fernsehens hinweg formieren und die Einübung von Kompetenzen der Selbstführung, Selbstinszenierung und -optimierung unterstützen. Nicht alle Formate des Fernsehens der Mikropolitiken sind neu. Kochsendungen und Erziehungsratgeber etwa zählen zum festen Bestandteil nationaler Fernsehgeschichte(n). Und auch die Anleitungen und Vorschläge für mentale und somatische Selbstoptimierungsprozesse haben ihre Vorläufer in Printmedien wie Zeitschriften oder dem anhaltend wachsenden Marktsegment der Ratgeberliteratur. Von seinen Vorläufern in Fernsehen und Printmedien unterscheidet sich der aktuelle Sendetypus allerdings nicht nur durch eine Vervielfachung und Ausdifferenzierung der Gegenstände. Auch die (im Folgenden noch zu präzisierenden) formalen Elemente wie die intensive affektive Aufladung sowie Strategien der Narrativisierung und Dramatisierung, die den fernsehspezifischen Dokumentarismus neu codieren, lassen sich als Unterscheidungskriterium zwischen bereits etablierten und ‚neuen‘ Formaten anführen, wobei in diesem Zusammenhang von komplexen Hybridisierungsprozessen anstatt von fixen Grenzen auszugehen ist. Zum festen Repertoire des Fernsehens der Mikropolitiken zählen insbesondere Makeover-Programme und der für sie typische Vorher-/NachherModus, der als visuelle und narrative Struktur ebenso neue Formate evoziert (z.B. DAS MODEL UND DER FREAK; Pro7) als auch bereits etablierte Formate neu codiert (DIE SUPER-NANNY; RTL). Daneben zählen auch wettkampforientierte Anordnungen, die Spiel und Sport, Leistungsbereitschaft und Emotionen miteinander verknüpfen, so genannte ‚challenges‘, zum festen Repertoire des Fernsehens der Mikropolitiken. Und schließlich spielen auch soziale (Krisen-)Experimente, die dazu dienen, Verhaltensoptionen von Kandidaten/innen durch ein künstlich arrangiertes Setting hindurch zu beobachten und zu testen, sei es zu Hause (z.B. FRAUENTAUSCH; RTL II; vgl. Seier 2007) oder auf der Straße (z.B. COMEDY STREET; Pro7) im Fernsehen der Mikropolitiken eine zentrale Rolle. Das gemeinsame Kennzeichen all dieser Formate ist vor allem, und auch darin liegt ein deutlicher Unterschied etwa zur klassi2

Der Begriff der Problematisierung wird hier im (foucaultschen) Sinne einer Gegenstandskonstitution, der Bereitstellung von Wissen und der Ermöglichung eines Zugangs zu diesem Wissen, verwendet: „Problematisierung bedeutet nicht die Repräsentation eines präexistenten Objekts und auch nicht die diskursive Erschaffung eines nichtexistierenden Objekts. Es ist das Ensemble diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und Falschen eintreten lässt und es als Gegenstand für das Denken konstituiert (sei es in Form moralischer Reflexion, wissenschaftlicher Erkenntnis, politischer Analyse etc.)“ (Foucault zit. n. Lemke 1997: 341).

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schen Ratgebersendung, das reichhaltige ‚Mitmach-Angebot‘, das aus Zuschauer/innen potenzielle Kandidaten/innen macht und in diesem Sinne das zur Verfügung gestellte Wissen auch am und mit dem ‚eigenen‘ Körper nachvollziehbar und ‚erlebbar‘ werden lässt.3 Sowohl die Einlassung von Techniken der Lebensführung in eine televisuelle Narration, die auf der performativen Herstellung von Problem und Lösung basiert, als auch die gleichzeitige Abstützung dieser Problem-Lösungs-Struktur durch das jeweilige Wissen von Experten/innen führt dazu, dass die als problematisch deklarierten Ausgangslagen der Kandidaten/innen und die in Aussicht gestellten Lösungen von den jeweils spezifischen Regelhaftigkeiten der TV-Formate nicht zu trennen sind. Ob der eigene Körper oder die Wohnung, Selbstbewusstsein oder Kindererziehung, das Fernsehen der Mikropolitiken lässt seine Gegenstände prinzipiell als Ergebnis von Herstellungsprozessen erscheinen. Anliegen der folgenden Überlegungen ist es, die Agenturen dieser Herstellungen näher zu untersuchen und dabei vor allem die Beziehung zwischen Selbst- und Medientechnologien auf ihr wechselseitiges Konstitutionsverhältnis hin zu befragen. Im Zentrum steht dabei nicht nur die Zurichtung, sondern gerade auch die Anreizung verschiedenster Optionen der Selbstkorrektur, die in ihrer tendenziellen Unabgeschlossenheit ebenso willkürlich erscheinen, wie sie zugleich das Versprechen der Bereitstellung einer Vielzahl handhabbarer Distinktionsmerkmale implizieren. Mit der umfangreichen Bereitstellung von Optionen der Selbstbearbeitung und -optimierung, die beides, ihre Inanspruchnahme wie ihr Nicht-Aufgreifen zu einer Entscheidung werden lassen, übernimmt das Fernsehen der Mikropolitiken die Funktion einer gouvernementalen Reg(ul)ierung, die Medientechnologien und Technologien der Selbst- und Fremdführung miteinander verzahnt. Zu fragen ist hier, wie sich das spezifische Verhältnis zwischen Selbsttechnologien und den medienspezifischen Technologien des Fernsehens4 möglichst voraussetzungslos beschreiben lässt. Im Anschluss an einen medientheoretischen Problemaufriss werden wir am Beispiel des Makeover-Formats THE SWAN – ENDLICH SCHÖN (Pro7; 2004)5

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Vgl. hierzu Michael Hardts Begriff der affektiven Arbeit (Hardt 2003). Wir verwenden den Begriff der Medientechnologien analog zum Begriff der Selbsttechnologien. Dient der Begriff der Technologie im Hinblick auf das Selbst dazu, kulturelle Verfahrensweisen als ‚Techniken‘ zu beschreiben, im Sinne ihrer Rationalität, Funktionalität und Stabilität, geht es im Gegenzug mit Blick auf die technischen Medien darum, ihre ‚Technik‘ über das rein Apparative hinaus als kulturelle Praktiken zu begreifen. Angesprochen sind damit neben den apparativen Bedingungen ebenso ästhetische Operationen, Formen der Adressierung etc. sowie die These, dass auch die apparativen ‚Gegebenheiten‘ der Medien ihre Wirksamkeit erst durch Diskurse erhalten (vgl. Lösch et al. 2001). Die in Deutschland im Herbst 2004 ausgestrahlte Pro7-Produktion THE SWAN – ENDLICH SCHÖN ist eine Adaption der US-amerikanischen Makeover-Show THE 175

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eine Analyse und Diskussion des ambivalenten Verhältnisses von Medien und Selbst vornehmen, die den Blick auf deren wechselseitiges Konstitutionsverhältnis lenken sollen.6 THE SWAN – ENDLICH SCHÖN eignet sich für diese Diskussion insofern in besonderer Weise, als das Format mentale und somatische Transformationsprozesse parallelisiert, als Dienstleistung anbietet7 und dabei auch den schönheitschirurgischen Eingriff als Technologie des Selbst plausibel werden lässt (vgl. Maasen 2005). Wie aber hängen chirurgisches und televisuelles Setting, die in doppelter Weise die Herstellung (und Herstellbarkeit) des Selbst betonen, miteinander zusammen? Es ist die Analyse dieser medizinisch-medialen Schnittstelle, die sich unser Beitrag zur Aufgabe macht.

Selbsttechnologien/Medientechnologien Tagebücher und Kalender, das Familienfotoalbum oder die ‚berühmten‘ Super-8-Familien-Filme sind nur einige Beispiele dafür, dass Praktiken der Selbstführung prinzipiell auf Medien angewiesen sind. Sie dienen ebenso der Bestandsaufnahme, Buchführung und Archivierung, wie der Selbstprüfung und Überwachung. Ausgehend von der notwendigen Verschränkung von Selbst- und Medientechnologien, ist nach der spezifischen Charakteristik des Fernsehens der Mikropolitiken zu fragen. Die theoretische Herausforderung ergibt sich an dieser Stelle aus der Frage, wie sich das Verhältnis von Fernsehen und Selbst so bestimmen lässt, dass dabei weder von der Vorgängigkeit des Selbst noch des Fernsehens ausgegangen werden muss. So soll im Folgenden nicht von einer Manipulation des Selbst durch ‚die‘ Medien oder von einer ursächlichen televisuellen ‚Erfindung‘ des Selbst die Rede sein. Entgegen der These, das Fernsehen erobere nach einer ihm eigenen Expansionslogik mit dem neuen Sendetypus zunehmend ‚private‘ Lebensräume und arbeite auf diese Weise an der Entgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit,8 zeigen wir im Folgenden, dass ein differenzierter Blick auf diesen Sendetypus

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SWAN (FOX). In den USA wurden im Zeitraum von 2004-2006 drei Staffeln des Fernsehformats produziert und gesendet. Für weitere Auseinandersetzungen mit der Sendung vgl. Strick und Villa in diesem Band. Aus der Sicht der Fernsehhistoriografie ist das Fernsehen der Mikropolitiken als Sendetypus in einem Kontext medialer Hybridisierungsprozesse zu verorten, in dem das Medium Fernsehen nicht nur mit anderen Medien wie Internet und Telefon interagiert, sondern sich in diesem hybriden Medienensemble auch selbst ‚neu‘ erfindet. Fernsehen wird in diesem Ensemble, darauf hat Eggo Müller hingewiesen, mehr und mehr zu einer Dienstleistungsagentur und übernimmt Aufgabenbereiche, die traditionell sozialstaatlichen Institutionen, privaten Dienstleistungsbetrieben oder nachbarschaftlichen Hilfeleistungen zugeordnet wurden (vgl. Müller 2005: 144). Diese These war schon in den Auseinandersetzungen mit dem Reality-Fernsehen vielfach anzutreffen (vgl. u. a. Bondebjerg 2002).

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eher auf eine Neucodierung und Reaktualisierung der beiden Pole verweist. Weder möchten wir im Folgenden der Einschätzung einer Kolonisierung des Selbst durch das Medium Fernsehen das Wort reden, da diese notwendigerweise von einer Vorgängigkeit des Selbst auszugehen hat. Noch ist, auch wenn wir für die Untrennbarkeit von Selbst- und Medientechnologien plädieren, von einer vollständigen Auflösung des Lebens im Fernsehen und des Fernsehens im Leben auszugehen, wie es etwa Baudrillards Konzept der Simulation nahe gelegt hat.9 Demnach ‚erfindet‘ das sogenannte RealityFernsehen die Realität auf fiktive Weise (als Hyperrealität) neu und macht sie als Fiktion auf neue Weise zugänglich. Anstatt in dem Format THE SWAN – ENDLICH SCHÖN ein Beispiel für die Substitution eines realen durch ein hyperreales Selbst zu entdecken, untersuchen wir diejenigen Prozesse der Remediatisierung, in denen Medientechnologien und Selbsttechnologien produktiv ineinander greifen, ohne vollständig ineinander aufzugehen. Hatte das Simulationskonzept Baudrillards die Ununterscheidbarkeit von Fernsehen und Leben hervorgehoben, wird es uns im Folgenden darum gehen, den Prozess wechselseitiger Hervorbringung von Medium und Selbst in den Blick zu nehmen.

Das Selbst als (TV-)Projekt Schon Lynn Spigels Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Privatheit und Fernsehen in seiner Frühgeschichte („Make Room for TV“, 1992) hat gezeigt, dass die These der ‚Kolonisierung‘ des Privaten durch das Medium Fernsehen deren Verhältnis nicht angemessen beschreiben kann. Stattdessen zeigt Spigels Studie, dass mit der Einführung des neuen ‚Wohnzimmermediums‘ und seiner Positionierung in der häuslichen Sphäre der Nachkriegszeit eine Neu-Verhandlung von Familien- und Geschlechterentwürfen einhergeht, die auch die Vorstellungen von Privatheit neu strukturiert.10 9

Vgl. Baudrillard 1978: 48f. Dort heißt es: „Obwohl sich die Medien derartig einmischen und wie ein Virus endemisch, chronisch und panisch präsent sind, können sie in ihren Wirkungen nicht mehr isoliert betrachtet werden. Die Wirkungen werden wie die Werbeskulpturen des Lasers im leeren Raum von durch die Medien gefilterten Ereignissen spektralisiert. Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen – eine nicht mehr zu unterscheidende, chemische Lösung.“ In vielen fernsehwissenschaftlichen Arbeiten zum Reality-Fernsehen wird dieses Modell explizit oder implizit zugrunde gelegt. 10 Wenn Frauenzeitschriften der Nachkriegszeit ihre Leserinnen mit zahlreichen Hinweisen und Ratschlägen für die Platzierung und den Umgang mit dem neuen Medium versorgen, und sie in spezifischer Weise als räumliche Koordinatorinnen der häuslichen Sphäre adressieren, verweist dies, so Spigel, auf die televisuelle Reg(ul)ierung von Familie und Geschlechterdifferenz und die ReOrganisation der Familie und der Geschlechterbeziehungen, die mit dem Einzug des Fernsehens in die privaten Haushalte einhergeht. Die räumliche Platzierung 177

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Wenn für die Phase der Frühgeschichte des Fernsehens die Gegenüberstellung von der ‚Welt draußen‘ und der ‚Familie zu Hause‘ im Zentrum stand, so ist für das aktuelle Fernsehen der Mikropolitiken allerdings ein anderer Modus relevant. Auch wenn das Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen in Nachrichten, Werbung und anderen Programmsparten nach wie vor produktiv ist,11 so situiert das Fernsehen der Mikropolitiken das Selbst und den privaten Raum in einem Spannungsfeld zwischen den Polen ‚bearbeitet‘ vs. ‚unbearbeitet‘, ‚kontrolliert‘ vs. ‚unkontrolliert‘, ‚aktiv‘ vs. ‚passiv‘. Ob aus eigener Kraft oder mit der Unterstützung von Experten/innen, das Selbst erscheint umso individueller, je mehr es als Ergebnis der eigenen Herstellungsleistung und aktiven Selbstkontrolle reklamiert werden kann. Individualität wird somit nicht mehr nur zu einer Frage von Ergebnissen, sondern vor allem von Produktionsmodalitäten. Diese Form der Re-Codierung von Individualität macht auch vor dem Körper nicht halt. Auch und gerade das, was bisher jenseits des eigenen Willens verortet war, wie der eigene Körper, wird in THE SWAN – ENDLICH SCHÖN und vergleichbaren Formaten zum Ausdruck des eigenen Willens (vgl. Hahn 1982). Ob im spielerischen oder therapeutisch-beratenden, autoritären oder freundschaftlichen Modus, das Fernsehen der Mikropolitiken lässt das Selbst zum Projekt des Selbst-Managements werden. Aufgerufen ist damit eine Freizeit- und Arbeitswelten gleichermaßen bestimmende Vision von Zielorientierung, Machbarkeit, Kontrolle und Optimierung. Ein Projekt unterscheidet sich darüber hinaus von einem privaten Vorhaben, so Felix Klopotek, durch eine ihm inhärente gesellschaftliche Dimension:12 „Ein Vorhaben kann sein: Heute Abend trinke ich mal kein Bier. Ein Projekt wird daraus erst, wenn ich mir sage: Ich achte auf meine Gesundheit, will meinen Alkoholkonsum reduzieren, will meine Ernährung umstellen, mich mehr bewegen, damit ich weniger krank werde und mein Idealgewicht erreiche. Ein Projekt drückt ein umfassenderes, generalisiertes Vorhaben aus, ihm eignet stets ein gesellschaftlich all-

des Apparats, die empfohlenen Einschaltzeiten und ein geschlechts- und generationsspezifisches Programmangebot tragen zu einer Re-Definition von Geschlechterdifferenzen bei (vgl. Spigel 1992). 11 Werbung für Lebensmittel etwa arbeitet weiterhin mit der Gegenüberstellung von Freizeit- und Arbeitswelt und daran anknüpfenden Stimmungen wie das ‚Wochenend- und Feierabendgefühl‘. 12 Das Fernsehen der Mikropolitiken lässt sich entsprechend ebenso als Motor wie als Symptom dessen beschreiben, was der britische Soziologe Nikolas Rose (und andere) als Regierung des unternehmerischen Selbst beschrieben haben: „Die Individuen werden heute dazu angehalten zu leben, als ob sie ein Projekt aus sich selbst machten: Sie sollen an ihrer Emotionenwelt arbeiten, an ihren häuslichen und ehelichen Abmachungen, ihren Beziehungen mit der Arbeit und ihrem sexuellen Lusttechniken, sie sollen einen Lebensstil entwickeln, der ihren Existenzwert ihnen selbst gegenüber maximiert.“ (Rose 2000: 14) 178

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gemeines Moment. Die Entscheidung, auf ein Bier zu verzichten erscheint für Außenstehende beinahe willkürlich. Das Projekt, meine Ernährung gesund und bewusst zu gestalten, entspricht allgemein akzeptierten Gesundheitsnormen.“ (Klopotek 2004: 216)

Selbstführung und Fremdführung sind im Selbst als Projekt, das Formate wie THE SWAN – ENDLICH SCHÖN in besonderer Weise vorführen, nicht mehr voneinander zu trennen. Das eigene Wollen fällt mit normierten Weiblichkeitsentwürfen zusammen, und die erzielte Annäherung an diese enthält das (paradoxe) Versprechen einer gesteigerten Individualität, insofern diese selbst, wenn auch mit der Hilfe von Experten/innen, herbeigeführt wurde. Wenn nun aber die Unterscheidung zwischen einem individuellen Vorhaben und einem auf die Gesellschaft und ihre normativen Vorgaben hinweisenden Projekt nicht darin zu suchen ist, ob bei therapeutischen und/oder operativen Maßnahmen wie chirurgischen Eingriffen Fernsehsender beteiligt sind oder nicht, dann ist zu fragen, wie sich Selbsttechnologien und Medientechnologien im Fernsehen der Mikropolitiken zueinander verhalten.

‚Monitoring‘ als Technologie der Selbst- und Fremdführung Einen ersten Anhaltspunkt für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Medien- und Selbsttechnologien liefert der intensive Medieneinsatz innerhalb der Dramaturgie der Formate selbst. Im Rahmen von Remediatisierungen therapeutischer Diskurse kommen im Fernsehen der Mikropolitiken Monitore, Fotokameras, Video-Tagebücher, Diät-Pläne und Röntgen-Aufnahmen als Instrumente der Führung und Reg(ul)ierung zum Einsatz. Im Unterschied zu ihren in Printmedien etablierten Vorläufern, werden therapeutisch-medizinische Wissensformationen mit Hilfe von gecasteten Kandidaten/innen performiert und – mit dem Effekt einer gesteigerten Emotionalisierung – in serielle Mikroerzählungen überführt. Nicht nur wird mit diesem intensiven Medieneinsatz bereits auf die konstitutive Rolle der Medien bei den Praktiken der Selbstführung verwiesen, werden Kandidaten/innen in ihren Reaktions- und Verhaltensweisen beobachtet und getestet. Der Einsatz zahlreicher Monitore, Bildschirme und Camcorder, die Kandidaten/innen zum Teil selbst bedienen, dient darüber hinaus auch dazu, Zuschauer/innen in spezifischer Weise zu adressieren. Durch sogenannte ‚Confessionals‘ beispielsweise, den einzigen Momenten, in denen Kandidaten/innen direkt in die Kamera Geständnisse über ihre inneren Befindlichkeiten abgeben13, werden Zuschauer/innen nicht ‚direkt‘ angesprochen, sondern dazu eingeladen, die wertende und testende 13 Die Confessionals müssen im foucaultschen Sinne als Geständisprozedur und Ritual zur Wahrheitsproduktion verstanden werden (vgl. Foucault 1983). 179

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Funktion der Apparatur einzunehmen. Der (vermeintlich) direkte Blickkontakt in diesen Einstellungen verspricht, jene Apparatur zum Verschwinden zu bringen, die diesen ‚Kontakt‘ erst herstellt. Gerade in ihrem ‚Verschwinden‘ erlangt die Apparatur ihre Qualität des Überwachens und des Testens. Nicht selten werden die in den ‚Confessionals‘ geäußerten Selbsteinschätzungen mit Verhaltensweisen der Kandidaten/innen in anderen Situationen umstellt, die zusätzlich mit Voice-Over-Kommentaren versehen sind. Auch die (teils unterstützenden, teils abweichenden) Einschätzungen der Experten/innen und die Visualisierungen ihres jeweiligen Fachwissens in Form von Tabellen, Diagrammen etc. spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Erzeugung von multiplen Perspektiven geht. Denn abschließende Urteile stehen bei dieser Art des Testens nicht im Vordergrund. Vielmehr werden Zuschauer/innen im Fernsehen der Mikropolitiken mit einer Vielzahl von Perspektiven konfrontiert, die als ‚Daten‘ gesammelt, kategorisiert und miteinander in Relation gebracht werden müssen. Nahe gelegt wird demnach eine Vermittlungsposition zwischen Experten/innen und Kandidaten/innen. Im Benjaminschen Sinne werden Zuschauer/innen als „halber Fachmann“ (Benjamin 1991: 492) adressiert. Durch die vielfältigen medialen Strategien der Visualisierung sind sie aufgefordert, ‚Expertenwissen‘ mit ‚Kandidaten-Wissen‘ abzugleichen, und jeweils in beide Richtungen übersetzbar zu machen. Im Zentrum stehen hier vor allem die Visualisierungen von Emotionen (z.B. Videobotschaften) und Daten (z.B. geplante chirurgische Eingriffe), die nicht nur dazu dienen, dem ‚gefühlten‘ Wissen der Kandidatinnen durch visuelle (und sprachliche) Objektivierungsstrategien Evidenz zu verleihen. Vielmehr dient die zu diesem Zweck häufig eingesetzte Gegenüberstellung von Vorher-/Nachher- bzw. Soll- und Ist-Zuständen nicht zuletzt dazu, die jeweiligen Ist-Zustände stets auf einen fiktiven Soll-Zustand hin zu konzipieren. Den vielfach eingesetzten Monitoren, Videokameras und anderen Technologien der Überwachung kommt in diesem Sinne eine ebenso wirklichkeitskonstituierende wie fiktionale Funktion zu.14 Wenn Praktiken der Selbstführung auf Medientechnolo-

14 Auf die Dimension des Monitoring hat auch Susanne Krasmann hingewiesen: „Wenn man inzwischen auch im Deutschen von Monitoring spricht, und nicht einfach von Beobachtung, Überwachung, Überprüfung, Kontrolle, folgt die Begriffswahl keineswegs nur einem modischen Trend. Sie markiert spezifische Programme, um Probleme zu regulieren und Menschen zu führen. Wie das Controlling, als Instrument der Kontrolle zur vorausschauenden Optimierung der Produktion im Unternehmen, ist auch das Monitoring, als ein Modus der vorwegnehmenden Sicherung, auf die Zukunft orientiert. Es ist stets mehr als Überwachung und Kontrolle, ist nicht nur kontinuierliche Beobachtung, Kompilieren von Daten und Gegenüberstellung von Gegebenem mit Normen und Sollwerten. Dem Monitoring haftet etwas Fiktives an. Unter dem Imperativ, Fehlentwicklungen rechtzeitig zu identifizieren, wird die Gegenwart permanent mit zukünftigen Erwartungen, mit Spekulationen konfrontiert. So operieren Un180

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gien prinzipiell angewiesen sind, so rückt zugleich auch die Umkehrung in den Blick. Denn die jeweiligen Problemlagen und Selbstdiagnosen der Kandidaten/innen lassen auch die Neu-Erfindung des Fernsehens als Dienstleistungsagentur sowie den Einsatz unterschiedlichster Visualisierungsverfahren plausibel werden. Die Überführung der Selbstentwürfe von Kanditaten/innen in televisuelle Ästhetiken und Narrationen ist weder mit ihrer ‚Erfindung‘ für und durch das Fernsehen noch mit ihrer hyperrealen Substituierung in Sinne Baudrillards gleichzusetzen. Sie befinden sich vielmehr an der Schnittstelle, an der Medien- und Selbsttechnologien sich untrennbar miteinander verkoppeln und füreinander produktiv werden. Wenn das Medium Fernsehen im Rahmen eines intensiven Konkurrenzkampfs ‚neuer‘ und ‚alter‘ Medien zunehmend auf Formen der Partizipation und die daran geknüpften Versprechen von ‚Zuschauernähe‘ setzt, dann ist es in dem Prozess seiner ebenso symbolischen wie ökonomischen Neu-Erfindung auch auf die Preisgabe von persönlichen Daten, d.h. letztlich auf ‚Selbstenthüllungen‘ angewiesen. Will Fernsehen nicht nur symbolisch, sondern auch ganz materiell, wie Eggo Müller konstatiert, „zum Vermittler oder Manager der Ausführung und Verwirklichung von Wünschen“ werden, muss es einen Zugang zu diesen Wünschen erlangen, selbst wenn es diese zugleich (mit-)produziert (vgl. Müller 2005: 144). Am Beispiel einer Analyse von THE SWAN – ENDLICH SCHÖN werden wir im Folgenden die bisher skizzierten Thesen konkretisieren.

T H E SW AN – EN DLI C H S C HÖ N ! „Wie sehr kann sich eine Frau mit professioneller Hilfe verändern? 16 Kandidatinnen und die Herausforderung ihres Lebens: drei Monate, um sich zu verwandeln. Begleitet werden sie von den besten Experten des Landes. Drei Monate weg von zu Hause. Drei Monate ohne Spiegel. Erst wenn die Verwandlung komplett ist, dürfen sie wieder in den Spiegel blicken!“ (http://www.prosieben.de/, a)

Bereits die eingangs formulierte Frage dieser, dem Internetauftritt der Sendung entnommenen Beschreibung – Wie sehr kann sich eine Frau mit professioneller Hilfe verändern? – verweist auf den experimentellen, projekthaften und kompetitiven Charakter des TV-Formats THE SWAN – ENDLICH SCHÖN. Die Ergebnisse der Transformation einer jeden Kandidatin erscheinen als variabel und somit als in erster Linie vom eigenen ‚Einsatz‘ abhängig, es erfolgt lediglich eine ‚Begleitung‘ durch die Experten. Zudem zeigt jede Episode die ‚Verwandlung‘ von je zwei Frauen, die miteinander konkurrieren. Durch die

ternehmen mit Frühwarnindikatoren, um Risiken abzuschätzen und Krisen vorzubeugen; und Wissenschaftler lassen Computer Zukunftsszenarien simulieren, um kriminogene Situationen zu antizipieren und Verbrechen kalkulierbar zu machen.“ (Krasmann 2004: 168f) 181

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Camp-artige Struktur der Show, weist THE SWAN – ENDLICH SCHÖN eine generische Nähe zum sozialen Experiment als Subform des Doku-Dramas auf, einem Format, in dem Kanditaten/innen ‚echte‘ soziale und psychologische Prozesse in einem künstlich arrangierten Setting, das sie ihrem alltäglichen Leben entreißt, durchleben (vgl. Bondebjerg 2002: 170). Die strukturellen Elemente jeder Episode beinhalten die Vorstellung des privaten Umfelds der Kandidatinnen (insbesondere hinsichtlich ihrer spezifischen Probleme, Motivationen und Wünsche), die Begleitung bei ärztlichen Voruntersuchungen sowie beim Einzug ins ‚spiegellose‘ THE SWAN-Camp, die Darstellung der sportlichen Aktivitäten, der psychotherapeutischen Beratung und des Motivationscoaching bis hin zu den durchgeführten chirurgischen Eingriffen und dental-ästhetischen Korrekturen. Den Höhepunkt bildet stets der Blick der Kandidatinnen in den Spiegel in der Kulisse eines eigens für diesen Augenblick der Show eingerichteten Fernsehstudios. Die durch das Expertenteam/innenteam15 bestimmte Siegerin einer jeden Folge zieht in das Finale der Staffel ein, in dem per Zuschauervoting der Titel THE SWAN verliehen wird.

Vorher/(Während)/Nachher Mit der Inszenierung und Narrativisierung des Transformationsprozesses einer jeden Kandidatin geht die Überführung eines defizitären Vorher des Selbst in ein optimiertes Nachher einher. Damit folgt das Fernsehformat der Logik eines spezifischen Repräsentationsmodus physischer Transformation, dem Vorher-/Nachher-Paradigma. Zugleich verschiebt es diesen jedoch auf zweierlei Art und Weise. Einerseits erscheinen Vorher und Nachher hier nicht als abgeschlossene Zustände, sondern als veränderliche und sich stetig verändernde Prozesse. Andererseits wird zwischen dem Vorher und Nachher des Transformationsprozesses ein Während oder Dazwischen sichtbar gemacht (vgl. Jones 2006: 25). Im Vergleich zu üblichen Darstellungsformen der Vorher-/Nachher-Fotografie16, in denen der Prozess der notwendigen ‚Arbeit‘ am Selbst oder auch, im Fall chirurgischer Eingriffe, der damit einhergehenden Schmerzen verdeckt wird und in denen typischer Weise zwei kontrastierende Fotos eines Körperteils (links: vorher – rechts: nachher) nebeneinander platziert werden, erscheinen die im Rahmen des Fernsehformats THE SWAN – ENDLICH SCHÖN zum Einsatz kommenden Medientechnologien als ungemein ausdifferenziert. Zugleich greifen sie jedoch Elemente des traditionellen Re15 Dem Experten/innenteam von The Swan gehören ein plastischer Chirurg, ein Dentalchirurg, ein Fitnesstrainer, eine Diplom-Psychologin und ein Motivationscoach an. 16 Zur historischen Entwicklung der Vorher-/Nachher-Fotografie in der Chirurgie vgl. u. a. Gilman 1999. 182

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präsentationsmodus auf und verleihen ihm eine zusätzliche Evidenz: Nachher ist sichtbar ‚besser‘ als Vorher. Die ausführliche Inszenierung und Narrativisierung des Während oder Dazwischen wirkt dem nicht entgegen, sondern trägt in entscheidendem Maße dazu bei, den Erfolg der Transformation umso deutlicher an der Differenz zwischen Vorher und Nachher messen zu können.

Mediale Herstellung des ‚Vorher‘ Das Vorher in THE SWAN – ENDLICH SCHÖN stellt weder einen vorgängigen bzw. vor-medialen Ist-Zustand, noch eine reine Erfindung des Formats dar. Vielmehr konstituiert sich dieses (notwendig defizitäre) Vorher an der Schnittstelle von Experten/innen- und Kanditatenwissen/innenwissen, im Prozess seiner jeweiligen performativen, medialen Herstellung. Besonders deutlich wird dies in den jeweiligen Abschlusssequenzen der ‚Bestandsaufnahme‘, also der Vorstellung der Kandidatinnen und der ersten Gespräche dieser mit den Experten/innen, insbesondere mit den Chirurgen. In diesen Sequenzen werden zum einen alle zuvor durch die Kandidatinnen geäußerten Probleme und Wünsche zusammengefasst, zum anderen wird das von den Experten/innen aufgestellte individuelle Programm zur Behebung der ‚Mängel‘ der jeweiligen Kandidatinnen vorgestellt: Sie fungieren damit als gleichzeitige Visualisierung von Emotionen und von Daten. Abbildung 1

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07816/index_10.php vom 07.05.2006 Über die Verschränkung von Voice-over Kommentar und Textinserts werden in diesen Sequenzen alle geplanten Eingriffe und Vorhaben der nächsten drei 183

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Monate im Sinne eines Projekts dargelegt. Kommentar und Text werden in dieser Inszenierung mit dem medial isolierten Körper der jeweiligen Kandidatin ins Verhältnis gesetzt. Der Expertise der Fachleute entsprechend wird das zu optimierende Selbst dabei in die Einsatzfelder Chirurgie, Zahnbehandlung, Fitness und mentales Training fragmentiert. Zur Fokussierung der Bereiche, auf welche die vorgestellten Prozesse abzielen, wird parallel zu Kommentar und Text die jeweilige Zone des Körpers durch sich ausbreitende Kreise (vgl. Abb. 1) oder farbige Linien markiert. Dabei dreht sich bei der Vorstellung der (den ganzen Körper betreffenden) chirurgischen Eingriffe die Abbildung der Kandidatinnen um 360°, während einzelne Details wie Nasenkorrekturen oder Zahnbehandlungen zusätzlich anhand von Nahaufnahmen des Gesichts (frontal oder im Profil) präsentiert werden. Im Fall der Zahnbehandlung verweisen nun nicht nur Linien oder Kreise auf den zu behebenden Mangel, sondern eine Vergrößerung der Zähne wird gleichsam vom Körper gelöst und in den Vordergrund des Bildes gerückt (vgl. Abb. 2).17 Abbildung 2

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07813/index_9.php vom 07.05.2006

17 Diese, die Blicke des Betrachters strukturierenden Strategien entsprechen einer gängigen Praxis zur Darstellung von Mängeln in Bildern von Patienten/innen vor schönheitschirurgischen Eingriffen: „one must look to contrast, and in pathological cases have the diseased printed so that it will stand out forcibly“ (zitiert nach: Gilman 1999: 37f.). Auch der Verzicht auf den Einsatz von Make-up und Frisurenstyling, die Wahl der den Körper und seine scheinbaren ‚Mängel‘ ausstellenden Kleidung und die Lichtführung entsprechen den historischen Konventionen von Vorher-Fotos (vgl. ebd). 184

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An dieser Stelle kommt es durch den Einsatz verschiedener medialer Verfahren (Vergrößerung, Eröffnung einer weiteren visuellen Ebene im Vordergrund der Grafik, Text, Kommentar) zu einer spezifischen Adressierung der Zuschauer/innen. Auf der Basis einer spezifischen Technologie des Zooms wird diesen ein (Ein-)Blick in den Mund der Kandidatin gewährt, der den professionellen, zahnärztlichen Blick imitiert. Die bereits angesprochenen ‚Mängel‘ können/sollen in dieser Einstellung überprüft und mit den ‚Wünschen‘ der Kandidatinnen und dem ‚Wissen‘ der Experten/innen abgeglichen werden. Abbildung 3

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/08262/index_7.php vom 07.05.2006. In Bezug auf die zum Einsatz kommenden medialen Verfahren der Fragmentierung des Selbst erscheint der Umgang mit Dichotomien wie Außen/Innen oder Körper/Geist besonders aufschlussreich. So werden eigentlich unmögliche Einblicke bzw. Blicke, die allein dem Kontext der ärztlichen Behandlung vorbehalten sind, in das Körperinnere gewährt und damit Dichotomien von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ des Selbst unterlaufen.18 Zugleich wird jedoch das „Mentale Training“ durch eine separate Grafik explizit von den auf den ‚Körper‘ zielenden Strategien getrennt (vgl. Abb. 3). Die Ausdifferenzierung in „Psychologische Beratung“ und „Intensives Motivationscoaching“ (vgl. Abb. 4) verweist dabei ebenso auf ‚Heilung‘ im medizinischen Sinne und als auch auf die Mobilmachung aller Ressourcen des Selbst während des anstren18 Dies geschieht z.B. im beschriebenen Fall der Repräsentation der ‚Zahnfehlstellungen‘ wie auch in den Darstellungen der später folgenden Operationen, hier durch extreme Nahaufnahmen. 185

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genden und langwierigen Transformationsprozesses. Durch diese Trennung von Körper und Geist werden traditionelle Dichotomien ebenso aufgerufen wie in der fortwährenden Beurteilung des Transformationsprozesses durch die Experten/innen, die stets die „innere Veränderung“ als ausschlaggebend für den Erfolg angeben. Die mediale Fragmentierung des Selbst avisiert das Ziel einer späteren ‚Zusammensetzung‘ in optimierter Form und weist Analogien zu Strategien des unternehmerischen Total Quality Management auf (vgl. Bröckling 2000: 135ff.). Durch allseitige Beurteilungen (‚panoramic feedbacks‘) und selbst ausgeführte Aufstellungen eines ‚inneren Kontos‘ sollen hierbei Schwachstellen offen gelegt werden, welche als Basis für Optimierungsinitiativen und Lernhilfen dienen können. So ließen sich die oben beschriebenen und abgebildeten Grafiken als Ergebnis eines ‚panoramic feedbacks‘ lesen, durchgeführt von Experten/innen, auf der Grundlage des ‚inneren Kontos‘ der Kandidatinnen. Die Präsentation aller Defizite und der entsprechenden Lösungsvorschläge ist zudem zu verstehen als notwendiger Einschnitt für das Funktionieren der folgenden Narration und die inhärente Logik des Fernsehformats, die auf der Darstellung möglichst effizienter Praktiken der Selbstführung und Selbstgestaltung beruht. Diese beziehen sich auf vorher festgelegte ‚Einzelteile‘ des Selbst, die es durch spezifische, von Experten/innen entwickelte und daher als effizient deklarierte Technologien zu bearbeiten gilt. Bedient wird durch diese mediale Fragmentierung des Selbst in kleinste Einheiten eine im Fernsehen der Mikropolitiken verbreitete ‚Machbarkeitsphantasie‘: Alle einzelnen Arbeits-Schritte werden zunächst sichtbar und nachvollziehbar gemacht und erscheinen damit potenziell für jede/n durchführbar. Das Selbst konstituiert sich in dieser ‚Bearbeitung‘ durch Medientechnologien Schritt für Schritt, während die medialen Einzelverfahren sich zugleich in dieser ‚Bearbeitung‘ des Selbst zu einem Dispositiv medialer Sichtbarmachung verschränken.

Technologien des Wissens Die Sichtbar-Werdung bzw. visuelle Repräsentation des Während oder Dazwischen ist von besonderer Bedeutung für die Herstellung von Wissen über die Kandidatinnen. Schon die weiter oben beschriebenen medialen Strategien zur ‚Bestandsaufnahme‘ produzieren dieses spezifische Wissen und überführen das ‚Gefühl des Unglücks‘ bzw. die ‚Probleme‘ der Kandidatinnen in Fakten, Zahlen und Bilder. Dieser Prozess setzt sich unter anderem fort im Einzeichnen von Problemzonen durch die Chirurgen während der Vorgespräche, welche von der Kamera im close-up fokussiert werden und damit zur Fragmentierung des Körpers in Einsatzfelder beitragen.

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Für die Überführung des ‚Gefühls‘ von Defizienz in den Bereich eines fachspezifischen und folglich mit Autorität ausgestatteten Wissens ist zudem insbesondere die Kommentierung der einzelnen zum Einsatz kommenden Strategien durch die Experten/innen von Bedeutung. So wird beispielsweise die Präsentation einer anstehenden Nasenkorrektur durch die Aussage des Chirurgen eingeleitet, dass die Kandidatin ihre Nase als „viel zu groß“ empfinde und „dies ja auch stimmt und nachvollziehbar“ sei. Nach einer direkten Adressierung der Kamera durch den Arzt wird dessen Kommentar als Voiceover zu Bildern fortgesetzt, denen mehr als nur eine visuelle Bestätigungsoder Beweisfunktion zukommt: So wird durch das Einzeichnen der nachher angestrebten Form die Nase der Kandidatin allererst als „viel zu groß“ konstituiert (vgl. Abb. 4). Abbildung 4

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07816/index_10.php vom 07.05.2006. Auch bei der folgenden Darstellung des chirurgischen Eingriffs wird die in den fortlaufenden Aussagen des Arztes zum Ausdruck kommende Fachkompetenz durch die Art der Präsentation der gleichzeitig ausgeführten Handlung nicht nur bestätigt, sondern medial erzeugt. Zu diesem Zweck werden unter anderem die komplexen Prozesse der Operation durch Montage und die Fokussierung von Einzelaspekten dem Kommentar zeitlich angepasst. Einer Aussage wie „es muss verkleinert werden“ entspricht ein ‚einfacher‘ Schnitt mit dem Skalpell durch den Nasenknorpel (vgl. Abb. 5). An diesem Beispiel lässt sich nicht nur zeigen, wie die Probleme der Kandidatinnen durch Experten/innen bestätigt („und das stimmt auch“) und so erst als fachspezifisches 187

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‚Wissen‘ (und in dem Sinne als ‚Fakten‘) etabliert werden, sondern auch, inwiefern medienspezifische Strategien zu dieser Konstitution von Expertenwissen/innenwissen beitragen. Die Experten/innen des Fernsehformats werden stetig als Instanzen des Wissens um die Probleme der Kandidatinnen und somit als über einen privilegierten Zugang zu ihrem vorgeblich ‚wahren‘ Selbst verfügend konstruiert. Mit anderen Worten: Die Experten/innen scheinen in der Lage, dem Wunsch nach einer Transformation, für welche den Kandidatinnen jedoch das Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten (noch) fehlen, mit gezielten und auf Effizienz ausgerichteten Problemlösungsstrategien zu antworten. Abbildung 5

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07813/index_18.php vom 07.05.2006. Auch die erarbeiteten und zu überwindenden ‚Fehlentwicklungen‘ der Kandidatinnen werden von den Experten/innen in spezifischer Weise aufgegriffen. Die ‚Versäumnisse‘ der Vergangenheit (zu wenig Bewegung, falsche Ernährung, Vernachlässigung eigener Bedürfnisse etc.) werden nicht kritisiert, sondern im Sinne der Formierung eines unternehmerischen Selbst schlicht diagnostiziert und so differenziert wie möglich dargelegt, um Fehler künftig zu vermeiden und die vorliegenden ‚Missstände‘ als Ansatzpunkte für optimierende Prozesse zu begreifen (vgl. ebd.: 144). Kritik setzt erst ein, wenn die Strategien der Optimierung nicht adäquat umgesetzt werden und somit das von den Experten/innen bereit gestellte Wissen nicht ausreichend genutzt wird. Der Übergang zu einem optimierten Nachher ist nur gewährleistet, wenn die anstrengenden Strategien und Praktiken des Dazwischen lebenslang 188

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angewandt werden. Dauerhaft erfolgreich kann daher nur sein, wer sich das ‚Fachwissen‘ über die eigenen Mängel aneignet und dieses in Technologien der Selbstführung übersetzt. Für die Herstellung dieses Wissens über sich selbst spielen Medien wiederum eine konstitutive Rolle. Diese Schnittstelle, an der sich Selbst- und Medientechnologien unauflöslich ineinander verschränken, ist der Punkt, an dem sich das Selbst konstituiert. Die Präsentation und zugleich anhaltende Produktion dieses Selbst kulminiert im Rahmen des Fernsehformats THE SWAN – ENDLICH SCHÖN in der Szene vor dem Spiegel, welche das (stets als vorläufig und relational zu sehende) Nachher des Transformationsprozesses darstellt.

Selbst(be)spiegelungen Die Spiegelszene im Fernsehstudio ist als Höhepunkt des Formats angelegt, auf den im Trailer, vor den Werbepausen und im Rahmen der Moderation immer wieder verwiesen wird. Darüber hinaus ist sie Gegenstand vielfältiger Spekulationen der Kandidatinnen („werde ich mich überhaupt erkennen?“, „was ist, wenn ich nicht schöner bin als vorher?“ etc.). Rachel Moseley beschreibt den Moment des Gangs zum Spiegel in Makeover-Shows als „climactic spectacle of the show“ und versteht den Blick in den Spiegel als „simultaneously private and public revelation of the new image; the ordinary person […] becomes extra-ordinary televisual spectacle“ (Moseley 2000: 306). Analog dazu ließe sich argumentieren, dass der Eindruck der extraordinariness des Nachher in THE SWAN – ENDLICH SCHÖN vor allem auf der Differenz zur ordinariness des Vorher-Zustandes beruht. Diese sichtbare Differenz stellt das Ergebnis der Inszenierung eines zunächst medial fragmentierten und später durch den Einsatz von medienspezifischen Technologien kohärent erscheinenden Selbst dar. Für diesen stets erstaunlichen ‚Überraschungseffekt‘ der Nachher-Präsentation von Makeover-Formaten ist die, weiter oben beschriebene, mediale ‚Zerlegung‘ des Selbst in separate und doch aufeinander bezogene Teile zum Zweck ihrer Optimierung konstitutiv: „The structure of the style programmes fragments the presentation of the person being made over […], so that the sight of the complete transformation in the mirror is not only the first look at the whole effect for the participant, but also the first clear look for viewers as well. The prior exposure of parts of the makeover […] has not actually been display [sic!] in the way in which this revelation of the whole transformed appearance is.“ (Bonner 2003: 133)

Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass die Darstellung der einzelnen Schritte des Makeover-Prozesses im Verlauf der Sendung auf dem Prinzip einer Fragmentierung des Selbst beruht, so muss daran anschließend die Frage gestellt werden, welche medialen Strategien das Selbst am Ende der Sendung 189

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kohärent und ‚ganz‘ erscheinen lassen und welche Effekte diese Form der Darstellung zeitigt. Die Enthüllung und Präsentation des ‚neuen‘ Selbst der Kandidatinnen wird durch deren Gang über einen roten Teppich eingeleitet, in welchem die ‚neue‘ äußere Erscheinung Schritt für Schritt preisgegeben wird. Unterbrochen wird der Gang zum Spiegel durch ein kurzes Gespräch mit der Moderatorin, in welchem diese die erste (stets überaus positive) Beurteilung des Ergebnisses vornimmt. Ihren klimatischen Wendepunkt hat die sorgfältig strukturierte Dramaturgie im Moment der Positionierung vor dem Vorhang, der sich erst auf Anweisung der jeweiligen Kandidatin („Ich bin bereit“) öffnet. Die Perspektive der Kamera wechselt in diesem Moment und nimmt die Position des Spiegels ein, so dass der erste Blick der Kandidatinnen in den Spiegel mit einem Blick in die Kamera zusammenfällt (vgl. Abb. 6). In nahezu allen Fällen ist die erste Reaktion der Kandidatinnen Fassungslosigkeit, oft wird sie von einem Tränenausbruch und/oder einem Zusammensinken vor dem Spiegel begleitet. Typisch für alle ‚Spiegelszenen‘ der Sendung ist das mit dem Blick in den Spiegel zusammenfallende, sofortige ‚Ertasten‘ des Gesichts durch die Hände, das Verweisen auf das ‚neue Selbst‘ im Spiegel per Fingerzeig (vgl. Abb. 6) und die vorsichtige Annäherung an den Spiegel zwecks einer eingehenden Betrachtung. Abbildung 6

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07813/index_32.php vom 07.05.2006. Über einen Wechsel zwischen Frontal- und Seitenansicht sowie zwischen Nahaufnahmen (des Gesichts) und Totalen werden alle Stadien des Prozesses 190

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festgehalten, vom Moment des ungläubigen „Ich kann nicht glauben, dass ich das bin“ oder „Oh mein Gott, das bin ich nicht, das kann nicht ich sein“ bis hin zum immer wieder geäußerten Satz: „Ich bin schön! Ich bin wirklich schön!“ Im Gegensatz zur zuvor durchgehend vorgenommenen Fragmentierung des Körpers, in der die jeweils abwechselnd im Zentrum der Arbeit am Selbst stehenden ‚Bereiche‘ fokussiert werden, sei es in den weiter oben beschriebenen Grafiken oder in den während/nach den operativen Eingriffen aufgenommenen Bildern, werden hier Perspektiven privilegiert, die die Kandidatinnen in ‚Gänze‘ zeigen: In Schwenks, die den Körper und den Stoff der langen Abendkleider von oben bis unten ‚abtasten‘ und somit dem (selbst-) evaluierenden Blick der Kandidatin im Spiegel folgen, wird das Ergebnis der Transformation präsentiert. Die Kamera setzt so die zuvor minutiös fragmentierten Bestandteile des Körpers wieder zu einer Ganzheit zusammen, eine Funktion, die für die Kandidatin selbst der Spiegel übernimmt.19 Der Moment des Blicks in den Spiegel lässt sich als Moment der Konstitution eines gänzlich ‚neuen‘ Selbst lesen, produziert durch ‚innerliche‘ wie ‚äußerliche‘ Optimierung, durch eine Arbeit an sich selbst, die stets an Medien gebunden bleibt: Die ‚Spiegelszene‘ führt eine Form der Selbstkonstitution vor, die in radikaler Weise vom Aspekt der Sichtbarkeit abhängt. Der Augenblick des ‚Sich-Selbst-Sehens‘ fällt zusammen mit der Produktion von (neuem) Wissen über das eigene Selbst. Das ‚Sich-Selbst-Erkennen‘ im Spiegel stellt insofern einen Prozess dar, der den produktiven Charakter von Subjektivierung als ‚Herstellung‘ des Selbst, wie er den gesamten Transformationsprozess im Verlauf der Sendung bestimmt, in nuce wiederholt. Seine ‚Authentizität‘ erlangt dieses Selbst, das als Produkt eines Herstellungsprozesses deutlich markiert ist, gerade durch die stark emotionalisierte Betonung dieses eigens herbei geführten Prozesses. Dem an der Schnittstelle von Medizin und Medien hergestellten Selbst kommt demnach ein höheres Maß an ‚Authentizität‘ zu, als dem unbearbeiteten, ‚schicksalhaften‘ Selbst vor der Verwandlung. Der ‚affektive Imperativ‘ verlangt, das Selbst nicht nur zu ‚haben‘, sondern es auch bewusst, im doppelten Sinne von Bewusstsein und Wissen, zu erleben. Während die oben beschriebenen Grafiken, die entlang einer Visualisierung des Körpers der Kandidatinnen die ‚notwendigen‘ Prozesse der Transformation vorstellen, als Computeranimationen dem Diskurs wissenschaftlicher Bilder nahe stehen (vgl. Adelmann 2004: 55) und auf diese Art Evidenzeffekte zeitigen, vertrauen die Nachher-Sequenzen vor dem Spiegel auf die authentifizierende Wirkung der sorgfältigen Inszenierung von nicht kalkulier-

19 Der Moment des Sich-Erkennens im Spiegel ließe sich aus psychoanalytischer Perspektive als eine Art ‚Spiegelstadium zweiter Ordnung‘ beschreiben, in dem sich die Kandidatinnen als kohärente Subjekte (v)erkennen. 191

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bar erscheinenden Reaktionen. Wie andere, sich mit der Transformation des Selbst (oder auch der Wohnung, des Gartens etc.) befassende Sendungen, ist THE SWAN – ENDLICH SCHÖN „premissed […] upon a central moment of apparently unmediated, unedited response, a guarantee of intensity and authenticity […]. Makeover shows ask us viewers to draw upon our repertoire of personal skills, our ability to search faces and discern reactions (facilitated by the closeup) from the smallest details“ (Moseley 2000: 314).

Abbildung 7

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07813/index_35.php vom 07.05.2006. Die Inszenierung des Nachher geht einher mit einer Zuschaueradressierung, die zur Beurteilung der Intensität und Authentizität der Reaktion auf den Blick in den Spiegel auffordert. Ergänzend dazu werden die Zuschauerinnen eingeladen, anhand von eingeblendeten Vorher-/Nachher-Fotografien (vgl. Abb. 6 und 7) ihr zuvor erworbenes Wissen über die Kandidatinnen einzusetzen, um den ‚Erfolg‘ des Transformationsprozesses zu evaluieren. Die prozessuale Logik der Transformation wird an diesem Punkt, in der Statik der Vorher-/Nachher-Differenz, für einen Moment zum Stillstand gebracht. Die Einblendung fungiert an diesem Punkt jedoch nicht nur als zusätzliches visuelles Beweismittel für den Erfolg der Transformation. Von Bedeutung scheint vielmehr, dass die Vorher-/Nachher-Bilder nach dem emotionalen Höhepunkt der Show das Während oder Dazwischen, d.h. die Schmerzen und Anstrengungen des Transformationsprozesses für einen kurzen Moment vergessen und zugleich hervortreten lassen. ‚Märchenhafte‘ Transformation 192

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und die Vision von Machbarkeit, Kontrolle und Optimierung, extraordinäre, glamouröse Individualität und disziplinierter Arbeitseinsatz schließen sich nicht aus, sondern fallen zusammen. Hierin zeigt sich die gouvernementale Reg(ul)ierungsfunktion des Fernsehens der Mikropolitiken. Das Fernsehen fungiert sowohl als Wunsch erfüllende „fairy godmother“ (Bonner 2003: 128) als auch als Ort der niemals endenden ‚Arbeit‘ am Selbst. Abbildung 8

Quelle: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/gallery_video/ popup_gallery/07816/index_32.php vom 07.05.2006.

D i e m e d i a l e S u b j e k t i v i e r u n g d e s S c hw a n s Die typische, in Abb.6 gezeigte Handbewegung, mit der die Kandidatin auf ihr ‚neues‘ Selbst im Spiegel verweist, bringt das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Medien- und Selbsttechnologien auf den Punkt. Auf dem roten Teppich vor dem Spiegel platziert und dabei zugleich von der Fernsehkamera beobachtet ist das ‚neue‘ Selbst ein medial konstituiertes Szenario, das die Kandidatinnen nicht automatisch ‚haben‘ oder ‚sind‘. Dieses neue, ebenso fiktive wie reale Selbst, muss vielmehr eingeübt und angeeignet werden. Wie die Gesten des Zeigens und Ertastens deutlich machen, gilt es, sich mithilfe des Spiegelbilds an den chirurgisch und kosmetisch überarbeiteten Körper (wieder) anzuschließen und ihn dabei umso mehr zum ‚eigenen‘, den individuellen Wünschen unterliegenden Körper zu machen bzw. ihn als solchen zu ‚erleben‘. Dieses ‚Erleben‘ ist nicht nur abhängig von Spiegelbild und Kamera. Es ist, über den ebenso privaten wie öffentlichen Moment der Enthüllung hinaus, auch abhängig von den im Laufe des Transformationsprozes193

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ses gesammelten ‚Daten‘, d.h. von Wissensformationen, in die ihre medialen und diskursiven Bedingungen immer schon eingeschrieben sind. Es sind diese ‚Daten‘, die das ‚Erleben‘ dieses neuen Selbst und seiner spezifischen Individualität erst möglich machen. Dass das Szenario des schönen Schwans vor dem Spiegel äußerst normierte bzw. standardisierte Weiblichkeitsentwürfe zitiert, steht seiner Individualität keinesfalls entgegen, sondern zählt, wie seine mediale Verfasstheit, zu seinen Bedingungen. Im foucaultschen Sinne ist das ‚Schwanensubjekt‘ zugleich Produkt einer disziplinierenden Unterwerfung und einer an Bewusstsein und Selbsterkenntnis gebundenen Ermächtigung. Im Sinne der doppelten Wirkung der Disziplinarmacht erarbeitet sich die Kandidatin eine Form der Handlungsmacht, die sich auf die Fähigkeit bezieht, das eigene Selbst handhabbar zu machen und im Hinblick auf Stufen von ‚Normalitätsgraden‘ erfahrbar zu machen. Der Subjektivierungsprozess, um den es hier geht, ist durchaus als ein Zuwachs an Fähigkeiten, Können und in dem Sinne als ein Zuwachs von Macht zu beschreiben. Denn auch das Einhalten von ‚Normalitätsgraden‘ bedarf einer Form der Handlungsfähigkeit (agency): „An ‚Normalitätsgraden‘ können sich nur Subjekte orientieren, die das entsprechende Können gewonnen haben. Darin, normal sein oder funktionieren zu können, besteht hier der Sinn des übenden Erwerbs von Handlungsfähigkeit oder Macht über sich.“ (Menke 2003: 290)

Christoph Menke hat darauf hingewiesen, dass die beiden von Foucault untersuchten Subjekttypen, das disziplinäre und das ästhetisch-existenzielle Subjekt keinen prinzipiellen oder normativen Gegensatz darstellen, sondern „eine Kippfigur, die zwei Gesichter eines Januskopfes“ (ebd.: 285). Ihre größte Übereinstimmung liegt in ihrem Angewiesensein auf die Praxis der Übung. Beide, die Kunst des Lebens und die Prozeduren der Zurichtung sind Resultate von Übungen. Beide Techniken müssen als Techniken erlernt werden und sind auf Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung angewiesen. Erst die stetige Praxis der Übung gewährleistet die Beobachtung, Steigerung und Qualifizierung (vgl. ebd.). Medien sind in dieser Praxis des Beobachtens, Testens und Vergleichens (von Qualifizierungsstufen), wie am Beispiel der Transformationsprozesse in THE SWAN gezeigt, unumgänglich. Beiden Subjektfassungen, dem disziplinären und dem ästhetischexistenziellen ist, aufgrund des zentralen Stellenwerts der Übung, gemeinsam, dass sie das Subjekt als praktisches erfassen: „Zu üben heißt etwas einüben, und dies heißt, das Können eines bestimmten Tuns zu gewinnen“ (Menke 2003: 286). Etwas-Ausführen fällt dabei immer mit der Aufführung dieses Könnens und einem Sich-Führen-Können zusammen. Dies gilt sowohl für die Bewegungen und Bearbeitungen des Körpers als auch für die Übungen des Geistes, für das, wie es in THE SWAN heißt, mentale Training. Handlungs194

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macht ist somit immer eine dreifache, die Macht oder das Können der Ausführung, der Aufführung und der Selbstführung. Der Erwerb einer Fähigkeit, bestimmte Tätigkeiten auszuführen, geht einher mit dem Gewinn einer neuen Dimension der Selbstführung und Selbstaufführung. Im Sinne der Disziplinarmacht, so ließe sich argumentieren, geht es in THE SWAN stets um die Erweiterung des (übenden) Selbstbezugs von Kandidatinnen (und Zuschauerinnen). Zu berücksichtigen ist dabei, dass die durch die Arbeit am Selbst gewonnenen Dimensionen der Selbstführung zugleich auch ein Moment der Sozialisierung und Disziplinierung enthalten. Gerade weil die subjektkonstitutive Macht nicht natürlich gegeben ist, sondern durch Übungen erworben werden muss, ist sie sozial definiert: Die in der Übung erworbenen Fähigkeiten und Praktiken der Selbstkonstitution sind abhängig von einem Gelingensstandard, der ihnen voraus geht und das einzelne Subjekt immer schon übersteigt. Die Beurteilung des Gelingens und Misslingens führt prinzipiell eine soziale Dimension mit sich, so das Subjektivierungs- und Sozialisierungsprozesse ineinandergreifen. Die Normativität der Fähigkeiten und Praktiken zur Selbstführung ist es, die Subjektivierungsprozesse stets zu Sozialisierungsprozessen werden lässt. Insofern Subjektivierungsprozesse notwendigerweise auf die Anhäufung von Wissen angewiesen sind, sind sie darüber hinaus auch abhängig von den medialen Bedingungen dieser Wissensproduktion, wie etwa der Art der Daten/Informationen und den Möglichkeiten ihrer Speicherung. In diesem Sinne sind Subjektivierungsprozesse stets auch als Prozesse der Remediatisierung (des Selbst) zu begreifen. Die janusköpfige Kippfigur der zwei Subjektfassungen wird vor allem da produktiv, wo sie es erlaubt, die utopischen Weiblichkeitsentwürfe des Fernsehformats THE SWAN mit anderen, künstlerisch-feministischen Ermächtigungsphantasien in Beziehung zu setzen.20 Gegenüber feministischen Cyborgutopien, die sich vom Einsatz von Technologien eine Neu-Ordnung und Überschreitung traditioneller Körperund Subjektmodelle versprochen haben, stellt das chirurgisch-televisuelle Selbst des Schwans weniger einen normativen Gegensatz, als das andere Gesicht des oben zitierten Januskopfes dar. Cyborg und Schwan verweisen beide darauf, dass das vergeschlechtlichte Selbst eingeübt, aufgeführt und hergestellt muss, wobei der Körper nicht nur Material ist, sondern selbst zur (Selbst-)Technologie wird. Im Gegensatz zur Cyborg-Figur oder etwa den chirurgischen Selbstinszenierungen von Orlan, die darauf abzielen, etablierte Geschlechtergrenzen, sei es durch Dethematisierung oder Irritation, durch Verkehrung oder bewusst übertriebene Aneignung zu stören, sucht das Schwanen-Selbst seine Ermächtigung in der Re-Definition dieser Grenzen durch ihre absichtsvolle und in diesem Sinne eigenmächtige Herbeiführung. 20 Vgl. hierzu Brunner in diesem Band. 195

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In beiden Fällen spielt der Herstellungsprozess im Hinblick auf die Ermächtigung eine entscheidende Rolle und in beiden Fällen haftet dem Technikeinsatz ein utopisches Moment an. Die Utopien der Unterbrechung (z.B. Orlan) und der Vereindeutigung (THE SWAN) traditioneller Geschlechtergrenzen wären, im Sinne der zwei Gesichter des Januskopfes, zwei Verfahren, die sich normativ zwar unterscheiden, zugleich aber aufeinander angewiesen sind. Ihre jeweilige Produktivität erlangen sie nicht dadurch, dass sich eine der beiden Strategien dauerhaft gegen die andere durchsetzt, sondern dadurch, dass sie eine Problematisierung (im foucaultschen Sinne) des vergeschlechtlichten Selbst vorantreiben, die auf lange Sicht keine ‚Lösung‘ in Aussicht stellt. Vielmehr trägt sie dazu bei, Vergeschlechtlichungsprozesse im produktiven Sinne als ‚Problem‘ und als Ort kultureller und sozialer Auseinandersetzungen auf Dauer zu stellen. Für die feministische Kritik von Fernsehformaten wie THE SWAN ist die Kontinuität zwischen disziplinärem und ästhetisch-existenziellem Subjekt, und das wechselseitige Angewiesensein von Individualität und Norm aufschlussreich, insofern diese Zugänge einen ebenso differenzierten wie möglichst voraussetzungslosen Blick auf die durchlässigen und nicht vorhersehbaren Grenzverläufe zwischen feministisch-künstlerischen und televisuellen Technologien des Selbst erlauben. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt nicht nur darin, präzisere Analysen der Machtwirkungen von Subjektivierungs- und Vergeschlechtlichungsprozessen zu ermöglichen, und dies über die dafür bereits privilegierten Orte hinaus. Er liegt umgekehrt auch in der Möglichkeit, feministisch-strategische Lektüren von Selbstentwürfen vorzunehmen, die geradezu als (antifeministische) Gegenmodelle in Erscheinung treten. In diesem Sinne wäre anhand von THE SWAN etwa dem feministischen Cyborgpotenzial der Tele-Schwäne nachzugehen, auch wenn diese in der Regel beabsichtigen, dieses Potenzial vor allem in neoliberale Märkte zu investieren.

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ANDREA SEIER UND HANNA SURMA

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Vorher Nachher – Anmerkungen zur Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst SIMON STRICK „For the new […] must be unlike the old.“ (Howard Barker, GOLGO)

Sabine Maasen (2005) hat in ihrer Diskussion des Diskursfelds Schönheitschirurgie argumentiert, dass hier feministische Agency-Positionen und der medial verbreitete Weiblichkeitsimperativ oftmals eine unerwartete Allianz eingehen. Beide Stränge fungieren in ihrer Sicht als diskursive Unterfütterung der kosmetischen Chirurgie, indem sie die Normalisierungstechnologie als eine Arena der „Konstitution des Selbst“ installieren und damit sowohl gesellschaftlichen als auch persönlich-biografischen Sinnzusammenhängen zuführen. Innerhalb dieser kann, so Maasen, die kosmetische Chirurgie ebenso als Technologie der freien Entscheidung für ein bestimmtes Körperselbst erzählt werden, wie auch als eine am „gelehrigen“ Körper ausbuchstabierte Geschlechtsdisziplinierung. Schönheitschirurgie wird daher von Maasen als „kosmetisches Dispositiv“ (ebd.: 257) beschrieben, das immer gesellschaftlich in Reflexionen, Institutionen und mediale Präsenzen eingebunden und innerhalb dieser wirksam wird. In diesem Sinn wirken beide Einfassungen der Technologie in erster Linie normalisierend: „[D]ie ubiquitäre Bebilderung kosmetischer Eingriffe und die zu vielfältigen Zwecken einsetzbaren Strategien der Reflexion und Rechtfertigung führen zu ihrer allmählichen Normalisierung. Doch was genau normalisieren sie eigentlich? Sie gewöhnen uns an den Gedanken, das wir alle Cyborgs in einer durch Wissenschaftsund Technologieverhältnisse strukturierten Welt sind: In dieser Welt hat ein Bypass keinen anderen ethischen oder ontologischen Status als der fettabgesaugte Körper, die Zahnprothese keinen anderen als das Selbstmanagementtraining […] Alles dient der Arbeit an sich. Das Manifest für Cyborgs bricht sich in der alltäglichen Subversion gegen organische Ganzheiten Bahn.“ (Ebd.: 256)

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SIMON STRICK

Die kulturell-technologisch produzierte Natürlichkeit des kosmetischen Selbst ist für Maasen jedoch keineswegs die Erfüllung der harawayschen Utopie des Cyborgs. Sie reflektiere vielmehr eine spezifische Ambivalenz des kosmetischen Dispositivs, nämlich die Gleichzeitigkeit und Ununterscheidbarkeit von Agency und Unterdrückung innerhalb eines gouvernmentalen Machtsystems (vgl. Pühl/Schulz 2001), welches die Führung von Individuen primär durch Anreizung zur Selbstführung regelt. Im Diskursfeld Schönheitschirurgie fallen demnach die patriarchale Normierung des weiblichen Körpers und das emanzipative Potenzial einer (Selbst-)Konstruktion durch kulturalisierende (als ‚entnatürlichende‘) Körpertechnologien zusammen. Maasen argumentiert, dass die Differenz zwischen einer ‚ästhetisch-existenziellen‘ Selbst- und einer disziplinierenden Unterwerfungstechnologie letztlich keine inhaltliche sei, sondern „in der Freiheit zur Selbstüberschreitung“ läge (ebd. 258). Die Schönheitschirurgie wird daher von Maasen als eine inhärent „ambivalente Technologie“ beschrieben, der auch kritische Feminismen nicht nur mit Ja oder Nein begegnen könnten, sondern die ein „Ambivalenzmanagement“ (ebd. 250) erfordere. Maasen hat mit dieser Argumentation eine Problematik aufgegriffen, die foucault-inspirierte (Bordo 1999) feministische Kritikerinnen seit langem beschäftigt, nämlich die Gleichzeitigkeit emanzipativer Programme mit Programmen der Selbstdisziplinierung. So beschreibt z.B. Sarah Lee Bartky (1988) weibliche Schönheitspraktiken als sowohl komplizitär mit einem „internalized male gaze“, als auch verknüpft mit Lustgewinn und somit einer zumindest provisorischen Selbstermächtigung. Elizabeth Grosz (1994) argumentiert daran anschließend: „[T]he line between compliance and subversion is always a fine one, difficult to draw with any certainty. All of us, men as much as women, are caught up in modes of self-production and self-observation; these modes may entwine us in various networks of power, but never do they render us merely passive and compliant. They are constitutive of both bodies and subjects […] Its enmeshment in disciplinary regimes is the condition of the subject’s social effectivity, as either conformist or subversive.“ (Ebd.: 144)

Die kosmetische Chirurgie markiert innerhalb dieser Problematik einen kritischen Punkt, denn sie realisiert sowohl Disziplinierungs- wie Ermächtigungsprogramme am weiblichen Körper, und verhandelt somit Fragen der Geschlechtstechnologie auf dem Terrain einer klassischen Stereotypisierung der Weiblichkeit, der Festschreibung auf das „körperliche“ Geschlecht. In Kathy Davis empirischen (Davis 1995) und theoretischen (Davis 2003) Untersuchungen zu Konsumentinnen von plastischer Chirurgie wird daher betont, dass eine feministisch-kritische Behandlung des Komplexes Schönheitschirurgie der Doppelgesichtigkeit jeder Konstruktion einer verkörperten Weib200

VORHER NACHHER

lichkeit Rechnung tragen muss, nämlich einerseits der Produktion eines „embodied subject“ und andererseits eines „objectified body“ (Davis 2003: 85). In dieser diskursiven Arena, zwischen den Polen Ermächtigung und Normierung, zwischen Selbsttechnologie und Disziplinierungsapparat möchte ich die folgende Untersuchung der Erzählbarkeit des kosmetischen Selbst ansiedeln. Denn, mit Maasen übereinstimmend, wird eine Technologie erst durch ihre Einbettung in diskursive Programme und gesellschaftliche Narrative zu einer bedeutungstragenden, emanzipativen oder unterdrückenden Technik. Bei dieser Untersuchung soll es vor allem darum gehen, wie anhand einer kritischen Beleuchtung der ‚Erzählbarkeit‘ eine interpretative Position erarbeitet werden kann, von der aus die diskursiven Einfassungen der kosmetischen Chirurgie problematisierbar werden. Am Beispiel der Reality-TV Serie THE SWAN – ENDLICH SCHÖN! (Pro7) soll also einerseits die Ambivalenz dieser Diskurse der kosmetischen Umgestaltung des Körpers erläutert werden; weiter aber soll gefragt werden, welche Rolle die ‚Körperlichkeit‘ der Technologie bei der Narrativierung spielt, d.h. inwiefern kosmetische Chirurgie als eine somatische bzw. somatisierende Selbsttechnik zu begreifen ist.1 Hierin liegt eine spezifische Notwendigkeit der Erzählbarkeit, denn beide Verwertungen der Chirurgie fußen auf einem Modell des leidenden, schmerzenden Körpers um die Erzählbarkeit eines somatischen Selbst zu gewährleisten. Die Frage wird zu stellen sein, wie das ‚Leiden am Messer‘ bzw. das ‚Leiden am Diskurs‘ letztlich dafür verantwortlich ist, das ein technologischer Prozess als eine Selbstfindung erzählt werden kann, sei diese nun eine durch Ermächtigung oder Unterdrückung.

T H E SW AN Die Reality-Show THE SWAN – ENDLICH SCHÖN brachte es in Deutschland auf eine einzige 2004 gezeigte Staffel. In dieser Sendung konkurrierten 14 Kandidatinnen unter Leitung und Moderation von Verona Pooth um den Titel des ‚schönsten Schwans‘: Die Frauen durchliefen eine Serie von kosmetischen Eingriffen, sowie Fitness- und Psychologietraining und wurden abschließend von einem ‚Expertengremium‘ aus Chirurgen, Trainern und Psychologen daraufhin bewertet, welche Kandidatin „die größte Veränderung durchgemacht“ habe. Bei der Erzählung dieser „Veränderung“ wurde grundsätzlich auf das Narrativ vom unglücklichen Entlein zum selbstbewussten Schwanenselbst abgestellt. Die Sendung, die in jeder Folge zwei Kandidatinnen gegeneinander antreten ließ, bezog ihr Kontroversenpotenzial vornehmlich aus der oben beschriebenen doppelten Lesbarkeit: Wo Vertreter wie Bun-

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Zur Auseinandersetzung mit THE SWAN – ENDLICH SCHÖN vgl: auch die Beiträge von Seier/Surmann und Villa in diesem Band. 201

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desgesundheitsministerin Ulla Schmidt eine Verharmlosung der chirurgischer Eingriffe bzw. die Sendung als Zeichen eines eskalierenden „Schönheitswahns“ sahen, bewerteten andere THE SWAN als Anreiz für Frauen, ihr (Körper-)Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aus sich diejenige Frau zu machen, die sie eigentlich immer sein wollten. Am narrativen Aufbau, der jeder Folge zugrunde liegt, lässt sich die Doppelstrategie von Ermächtigung und Normierung der kosmetischen Erzählung ablesen. In Episode 3 z.B. treten die Kandidatinnen Annette und Klaudia gegeneinander an. Zu Bildern, die Annette mit Partner und Tochter beim Kuscheln und Scherzen zeigen, formuliert die Off-Stimme eine kurze Vorstellung der Kandidatin als Problemfall: „Die gelernte Altenpflegerin Annette fühlt sich unsicher und unzufrieden. Der Grund: Misshandlungen in der Kindheit. Ihre Mutter verließ den Vater, doch auch der neue Lebensgefährte ließ seine Wut an der kleinen Annette aus. Seit 16 Jahren lebt sie mit Franco zusammen. Für ihn ist Annette die Liebe seines Lebens, doch noch hat Annette Angst ihn zu heiraten. Sie hat Angst vor dem letzten Schritt. Das Trauma ihrer Kindheit wirkt sich auf ihr gesamtes Leben aus.“

Dieser Topos des traumatisierten oder beschädigten Selbstbildes, der schließlich in eine Verfehlung der Geschlechtsrolle (Heiratsweigerung) mündet, wiederholt sich bei allen Kandidatinnen in verschiedenen Begründungszusammenhängen. So wird bei der Inhaberin eines Motorradgeschäftes auf eine Störung des Geschlechtsbildes (bzw. der Wahrnehmung als Geschlecht durch andere) durch ‚maskuline Berufswahl‘ verwiesen: „Ihr größter Wunsch ist es, von ihren Kollegen und Bikerfreunden endlich als Frau wahrgenommen zu werden.“ Bei Annettes Konkurrentin Klaudia wird das Scheitern an der Geschlechtsrolle durch die strukturelle Diskriminierung als Hausfrau und Mutter belegt. Die Experten diagnostizieren die Mutter dreier Kinder und Frau eines Bundeswehrangestellten mit mangelndem Durchsetzungsvermögen den Söhnen gegenüber und genereller Unsicherheit, und führen diese Störung auf eine ‚Gefangenschaft‘ Klaudias in einer wenig attraktiven Rolle zurück: „Sie ist ja nicht Hausfrau aus Passion.“ Bei anderen Kandidatinnen wird auf das Motiv der ‚ungerechten Natur‘ abgestellt, welches eine Inkongruenz zwischen gefühltem und tatsächlichem Geschlechtskörper diagnostiziert. So stehen einige als ‚von der Natur betrogen‘ da, was sich in vollständiger Ablehnung von bzw. Behinderung durch die Körpergestalt äußert: „Claudia und Bianca: Zwei Frauen, die mit ihrem Äußeren gestraft sind.“ Die Eröffnungsdiagnosen, die sämtliche Kandidatinnen als verfehlte Geschlechtsbiografien – als ‚wounded women‘ – darstellen, greifen auf Rhetoriken zurück, die aus Erfahrungsdiskursen sexuell und geschlechtlich marginalisierter Identitäten bekannt sind. So finden sich Topoi wie das Gefühl der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit („Klaudia fühlte sich unsichtbar, doch diese 202

VORHER NACHHER

strahlende Frau wird ab jetzt im Mittelpunkt stehen“), Entfremdung vom eigenen Körper (z.B. durch Misshandlung), oder generell das Leben ‚im falschen Körper‘ – ein Fehler der Natur. Die Charakterisierung der Kandidatinnen, die narrativ den kosmetischen Eingriff motiviert, verläuft in dieser Sichtweise über Formulierungen von struktureller und persönlicher Diskriminierung, die letztlich eine Dissoziation vom eigenen Körperbild bewirken. Die jeweilige Geschlechtsverfehlung wird also sowohl über gesellschaftliche Verhältnisse erklärt, wie auch über Persönlichkeitsdeformationen pathologisiert – im Anschluss an die einleitenden Biografien formulieren die Kandidatinnen selbst die Veränderung der Körperskulptur als einzigen Ausweg: „Wenn ich heute in den Spiegel gucke, gefällt mir das alles nicht mehr. […] Ich bin bereit, mich so zu verändern, dass ich ein neues Leben anfangen kann.“ An diese expositorische Pathologisierung anschließend, zeigen die nächsten Aufnahmen stets die jeweilige Kandidatin beim ärztlichen Beratungsgespräch, wo konkrete Interventionsmaßnahmen an Brust, Hüfte und Zähnen projektiert werden, um „Annettes Wunsch nach Veränderung“ in ein „optimales Ergebnis“ (Off-Stimme) umzusetzen. Der Expertendiskurs übersetzt die Diagnosen in konkret zu bearbeitende Problemzonen und einen OP-Plan. Das Mikronarrativ der Wiederherstellung der Geschlechtsintegrität via Umgestaltung des Körpers wird die restliche Folge hindurch iteriert: So leiten Bilder der anästhesierten Annette im Operationssaal die erste Werbepause ein, begleitet von der Suspense-Formel: „Gelingt es Annette, ihr Kindheitstrauma zu überwinden?“ Die Kausalverkettung ‚psychologische Störung-Geschlechtsverfehlung-Körperablehnung‘ wird nach dem kosmetischen Eingriff nochmals rückwärts durchlaufen: Auf die postoperativen Schmerzen (Eingewöhnung in den Körper) folgt z.B. per Videobotschaft der Heiratsantrag von Annettes Lebensgefährten Franco, was der Off-Kommentar mit den Worten begleitet: „Völlig überwältigt, lässt Annette ihren Gefühlen endlich freien Lauf.“ Die Restitution des Geschlechts als nun geglücktes kulminiert schließlich nach bewältigtem Abheilungsprozess in der dramatischen Übergabe der neuen Körpergestalt. In voller Abendgarderobe und gestyltem Äußeren werden die Kandidatinnen tränenreich mit ihrem neuen Spiegelbild konfrontiert und schließlich als wiederhergestellte Frauen den jeweiligen Familien überantwortet.

Biographical Work Die Korrektur der Körperskulptur wird in diesen Narrativen als ein Weg zur glücklichen Identifikation und Ausfüllung der Geschlechtsrolle innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds gefasst, und weiter als Möglichkeit, eine verloren gegangene Integrität des Geschlechtsselbst wiederherzustellen. Die biografischen Skizzen und Versinnhaftungen in THE SWAN replizieren dabei einen 203

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therapeutischen Diskurs, dessen Verständnis Kathy Davis als unabdinglich für die Einschätzung von kosmetischen Eingriffen beschreibt. In ihrer Rekonstruktion von Agency innerhalb von „Surgical Stories“ argumentiert Davis (Davis 2003: 73ff), dass sich Frauen aus einem Gefühl des Nicht-NormalSeins and Schönheitschirurgen wenden, da sie sich durch einen nichtnormativen Körper behindert, diskriminiert und sich selbst entfremdet sehen. Diese Frauen befinden sich einem von Davis als „trajectory of suffering“ (ebd.: 79) bezeichneten Kreislauf, der ein normales Leben verhindert und der durch eine symbolische Ablösung vom pathologisierten Selbst unterbrochen werden muss. Davis schildert den Fall Diana folgendermaßen: „The trajectory begins with the recipient’s realization that something is seriously amiss with her body. Gradually she comes to see her body as different, as uprooted from the mundane world […] As she discovers she can’t do anything to alleviate the problem, she is overcome by hopelessness, despair, and, finally, resignation. Her body becomes a prison from which there is no escape. In this context, cosmetic surgery becomes a way to ,interrupt‘ the trajectory.“ (Ebd.: 79)

In Davis’ Sichtweise funktioniert der kosmetische Eingriff demnach als ein inszenierter Bruch mit dem alten Selbst, der für die Installierung einer therapeutischen Erzählung notwendig ist. Die Schönheitschirurgie stellt so weniger eine Unterwerfung unter ein Weiblichkeitsideal dar, sondern dient als rhetorisches Mittel das eine Distanzierung vom pathologischen Selbstbild erzeugt. Patientinnen ermöglichen sich durch den Eingriff als selbstverfügter Bruch die Beschreibung des Selbst innerhalb einer Temporalität des ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘, und leisten somit „biographical work“ (ebd.: 80), durch die die Konstruktion eines selbstgewählten Selbstbildes im Sinn einer Ermächtigung erst erzählbar wird. Davis plädiert für eine Einschätzung der Chirurgie als Mittel zur biografisch-therapeutischen Arbeit am Selbst; als Konstruktion eines Umschlagpunktes, der in dieser Sichtweise die kosmetische Normierung der Körpergestalt als Moment der Selbstbestimmung über das Geschlechtsselbst und die Geschlechtsbiografie verstehbar macht. Diese Figuration der kosmetischen Chirurgie als Mittel eines biografischen Bruchs lässt sich in THE SWAN dramaturgisch nachvollziehen: Die Sendung inszeniert den Prozess zunächst über eine soziale Dekontextualisierung der Kandidatinnen. Jede Episode beginnt mit dem Abschied der Frauen aus ihren Familien oder Freundeskreisen. Sie verlassen ihre gesellschaftlichen Positionen und Rollen, um sich im SWAN CAMP als Frau neu erfinden zu lassen. Der Wechsel des Lebenskontextes wird von der Off-Stimme als Abschied von Gewohnheiten und Rollen dargestellt, die mit dem falschen Selbst verbunden sind. Die kontextuelle Isolierung der Kandidatinnen vollzieht sich ebenso auf einer Gestalt-Ebene: So behandelt jede Episode den Einzug der Frauen ins SWAN CAMP, bei dem sie zunächst ihre Kleidungsstücke gegen 204

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graue Fitness-Einheitswäsche eintauschen. Diese erste Etappe erzählt somit die Loslösung von Rollen, Selbstbildern und Masken und das Ablegen des falschen, sozialen Geschlechtsselbst. Die Kandidatinnen werden dabei von den Therapeuten mit ihren jeweiligen „trajectories of suffering“ (Davis 2003: 79) konfrontiert und auf die notwendige biografische Arbeit hingewiesen, die sie zur erfolgreichen Ablösung vom alten Selbst leisten müssen: „Du musst diesen Schritt jetzt machen! Das werden die wichtigsten Wochen deines Lebens!“ Im Sinn von Davis inszeniert THE SWAN demnach einen biografischen und sozialen Ausnahmezustand, in dem sich Kandidatinnen von ihrem falschen Geschlechtsselbst lösen und in ein therapeutisches Narrativ der (auch ermächtigenden) Selbstführung einpassen können, oder, wie Davis formuliert, „an intervention in identity“ (ebd.: 82).

Body Work Diese Anleitung zur biografisch-therapeutischen Arbeit am Geschlechtsselbst kann als Teil der gouvernmentalen Funktion von THE SWAN interpretiert werden, die auch für andere Reality-TV Formate mehrfach konstatiert wurde (vgl. Biressi/Nunn 2005; Palmer 2003). Reality-Formate artikulieren aus gouvernmentaler Sicht Wissensfelder, die die Möglichkeiten der Wahrnehmung des Selbst, die Parameter der Beurteilungs- und Optimierungsarbeit, also die Weisen der Selbstführung präskriptiv formulieren. Die inszenatorische Einfassung der Schönheitschirurgie in ein therapeutisches Narrativ des ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ generiert somit ein Modell der Selbstführung und -kontrolle, in dem die kosmetische Umgestaltung des Körpers anhand biografischer Muster als Selbstfindung und ermächtigende Technik des Selbst erfahrbar bzw. erzählbar wird. Wie wird aber aus der biografisch-therapeutischen Selbsttechnik eine somatische, und mit welchen Konsequenzen? Besonders Biressi und Nunn (Biressi/Nunn 2005: 6-8, 131-143) heben hervor, dass Reality-Formate neben der Formulierung von Möglichkeiten der Selbstkontrolle und -bewertung immer auch Momente der extremen Traumatisierung und körperlicher Ausnahmezustände inszenieren, die Subjekte am Rande der Selbstregierbarkeit zeigen. Zu diesen viszeral-affektiven Momenten zählen z.B. die an Ekel- und Toleranzgrenzen gehenden BIG BROTHER CHALLENGES, oder die vielfachen emotionalen und körperlichen Zusammenbrüche in Formaten wie SURVIVOR oder ICH BIN EIN STAR – HOLT MICH HIER RAUS (aka DAS DSCHUNGELCAMP). In THE SWAN lässt sich diese Einwebung einer körperlich-viszeralen Erzählebene auf zweierlei Arten nachvollziehen: zum einen in der schrittweisen Reduktion der Kandidatinnen auf den bloßen Körper, der als Austragungsort der Ablösung vom alten und der Instituierung des neuen Selbst inszeniert wird. Zum anderen durch die vielfachen Darstellungen der Kandidatinnen als zusammenbre205

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chende, leidende, weinende und stöhnende Schmerzensfrauen. Der Plot der psychologisch-therapeutischen Selbstfindung wird orchestriert von einer exzessiven Darstellung von Körper- und Gefühlszuständen auf physiologischschmerzhafter Ebene: Die Kandidatinnen brechen angesichts ihrer aufgedeckten Traumata in Tränen aus, beschreiben wiederholt ihre Ekelgefühle vor dem alten Körper-Ich, erleben Panikattacken und Pseudoschmerzen vor den Operationen, leiden im operationsvorbeitenden Fitnessraum und stöhnen postoperativ-bandagiert im Krankenbett. Die Inszenierung stellt den Marsch durch die einzelnen Stadien der Verwandlung als Schmerzensweg, mithin als Passion der Kandidatinnen her. Die biografische Ausnahmesituation, der selbstverfügte Umschlagspunkt vom alten Selbst ins neue, wird in dieser Sichtweise auf körperlicher Ebene nachempfunden. Kann das körperliche Leiden für das neue Selbst also im Sinn der biografischen Arbeit als body work verstanden werden, also als somatische Technologie des Selbst? Die Inszenierung des Körpers in THE SWAN legt dies einerseits nahe: So wie die traumatische Konfrontation des falschen Selbst von den psychologischen Experten gefordert wird, so z.B. ermutigen die Fitnesstrainer der Sendung die Kandidatinnen, sich ihren neuen Geschlechtskörper durch ein rigoroses Trainingsprogramm zu erarbeiten. Die individuelle Leidensperformance funktioniert später als ein wichtiges Kriterium in der Beurteilung, welche Kandidatin „am meisten durchgemacht“ und somit den Titel des schönsten Schwans verdient hat. Die vielfachen Darstellungen von Schmerzen stellen das Leiden so als Leistung und Investition – mithin als Handlungen – her, die als aktive Performances seitens der Kandidatinnen das neues Geschlechtselbst erwirtschaften und zudem eine Art ‚Rückgewinnung‘ des entfremdeten Körpers repräsentieren. Durch die Leidensarbeit wird einerseits das kosmetische hergestellte Selbst erzählerisch „eingeleibt“, wie auch die Kandidatinnen selbst als „embodied subjects“ authentifiziert werden (vgl. Strick 2005).

Gutting Out In dieser Sichtweise erzählt THE SWAN via eine Gouvernementalisierung des Schmerzes die Herstellung des kosmetischen Selbst durch Akte der körperlichen Selbstführung, mithin also eine körperlich ausbuchstabierte Variante von Maasens Konzept der „Freiheit zur Selbstüberschreitung“ (Maasen 2005: 258). Diese Narration einer Schmerzensökonomie kann, wie es Davis in ihrer Beschreibung tatsächlicher Konsumentinnen von Schönheitschirurgie getan hat, als wichtige Instanz einer Versinnhaftung des kosmetischen Körpers verstanden werden: Durch die Investition von Schmerzen in das neue Körperselbst konstituieren sich diese Frauen als „sentient and embodied female subjects“ (ebd.: 115), und gewinnen den Körper als Erfahrungsraum, in dem 206

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Identität neu verhandelt werden kann. Die Erzählung des fühlenden (sentient) und leidenden bzw. erlittenen Körpers als Ort einer (zumindest partiell) selbstbestimmten Identitätsbildung kulminiert in THE SWAN jedoch in einem dramaturgischen Höhepunkt, der im folgenden zur Problematisierung des Konzepts einer Körperarbeit dienen soll. Die Sendung fokussiert dabei auf eine spezifische Inszenierung eines körperlichen Ausnahmezustandes, der – analog zur biografischen „rupture“ – den Umschlagspunkt des ‚VorherNachher‘ darstellt und somit die kosmetische Transformation als somatische Selbsttechnik erzählbar macht. Diese vollzieht sich in zwei Schritten, der Schematisierung und der Auslöschung.

a) Schematisierung Die mit dem Einzug ins SWAN CAMP vollzogene Aufgabe des sozialen Geschlechts in der präoperativen Phase von THE SWAN eröffnet eine erste Perspektive auf den unverstellten Geschlechtskörper, der nun den medizinischtechnischen Vermessungen und Manipulationen der Spezialisten überantwortet wird. Die plastischen Chirurgen analysieren den Körper, markieren wünschenswerte Kurven und Linien für den Eingriff und fragmentieren den Körper in Problemzonen. Die Kandidatinnen sind in dieser Sequenz bereits auf eine lediglich sich-zeigende Anwesenheit reduziert, während die Ärzte mit Filzstiften die (künstlerisch-technische) Deutungs- und Gestaltungshoheit über den Körper einnehmen. Der ärztliche Fachdiskurs wird in der nächsten Sequenz in Schemabilder übersetzt, die den Zuschauern den Frauenkörper als technisches Projekt vergegenwärtigen: Vor einem rosa eingefärbten Hintergrund, in dem schemenhaft die jeweiligen Eingriffe antizipiert werden, schwebt losgelöst ein Mugshot des Kandidatinnenkörpers in indifferentgrauer Unterwäsche. Während auf der rechten Bildschirmseite die einzelnen Manipulationen aufgeführt werden (Nasenkorrektur, Liposuction, …), verweisen rosa Pfeile auf die entsprechenden Ausbesserungszonen des Körpers. Das Übergangsstadium des Schemas ist in mehrerer Hinsicht essentiell für die Narration. Zum einen antizipieren die betont schlaffen, ausdruckslosen Körperhaltungen die Formlosigkeit während der Operation, in der die anästhesierten Körper als formbare Maße auftreten. Komplementär dazu wird der Körper von erläuternden Pfeilen und ‚point of impact‘-Kreisen überlagert, die die jeweilige Wirkungsstelle der Eingriffe anzeigen, so dass eine diagrammatische Körperlichkeit entsteht, in welcher der Körper als eine Zusammensetzung von Baustellen bzw. Problemzonen erscheint. Die Off-Stimme beschreibt den OP-Plan an dieser Stelle als ein „individuell auf die Kandidatin abgestimmtes Programm“ und verstärkt damit die Überlagerung der Körperlichkeit durch den technischen Diskurs. Die Schematisierung lässt sich so als eine Substituierung der Individualität der Kandidatinnen durch die Individua207

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lität des ‚Programms‘ lesen: Der als Schema auftretende Körper wird typisiert, in Einzelprobleme aufgelöst, von seinen Bezügen auf die Person der Kandidatin befreit und erscheint als ein schrittweise zu bearbeitendes Objekt.

b) Auslöschung Nachdem sowohl das soziale wie auch das individuelle Geschlecht vom Körper subtrahiert bzw. amputiert wurden, folgt im kosmetischen Narrativ die Phase der Operation, die als erster Höhepunkt der Sendung nach dem zweiten Werbeblock platziert ist. Die dem Splatterfilm sehr ähnliche Operationssequenz besteht primär aus ‚technischen‘ Bildern, die die medizinische Arbeit vergegenwärtigen: Die betäubte Kandidatin wird in den Operationssaal geschoben; das rhythmische Stochern der Kanüle bei der Fettabsaugung; das Hantieren mit schwabbligen Brustimplantaten, die in den Körper hineingleiten; das Aufschneiden von Nasen, Brüsten, Bäuchen. In diesen Bildern erscheinen die Kandidatinnen nicht mehr als tendenziell therapeutisch handelnde Subjekte, sondern als vollständig objektivierte Materialien eines medizinisch-technologischen Apparates: Nach der Isolation von den signifikanten Bezügen und der Schematisierung zum Projekt, figurieren die Körper hier als reine, form- und gefühllose Materie – als Fleischmasse, die einer Manipulation bzw. Formung unterzogen wird. Auf körperlicher Ebene wird der Umschlagpunkt zwischen altem und neuen Selbst, zwischen ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘, also nicht nur als körperliche Grenzsituation erzählt, sondern als eine vollständige Auslöschung des Selbst und die totale Reduktion auf einen Materialstatus. An den für Davis zentralen Moment von agency, wo Schönheitschirurgie als eine Unterbrechung des „trajectories of suffering“ funktionieren soll, setzt die Erzählung des kosmetischen Selbst in THE SWAN demnach eine explizite Darstellung eines Nullpunktes der Subjektivität, durch die vollständige Objektivierung des Körpers als formbares Ding. Während also die Konstruktion der biografischen ‚Vorher-Nachher‘-Logik an Entscheidungen und Reflexionen der Kandidatinnen zurückgebunden und so als Identitätsarbeit erzählbar wird, stellt sich der Umschlagspunkt des Körperselbst keineswegs als eine kontrolliert-emanzipative Ablösung dar. Vielmehr wird er erzählt als die Auslöschung des Körperselbst und die Einpassung des entsignifizierten Materials in einen männlich konnotierten technischen Apparat, der die abjekte Fleischmasse resignifiziert. Zurückkommend auf Maasens Frage nach der „Freiheit zur Selbstüberschreitung“ ist demnach anzumerken, dass die zur Identitätskonstitution notwendige Selbstüberschreitung innerhalb der Sendung als eine symbolische Vernichtung von Subjektivität figuriert, eine Negation von Embodiment durch die vollständige Objektivierung des Körpers. Diese Figuration des Körpers als abjektes Fleisch ist von Valerie Fournier in ihrem exzellenten Aufsatz 208

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„Fleshing out Gender“ (Fournier 2002) als zentraler Bestandteil der Konstruktion von Weiblichkeit beschrieben worden. Fournier geht in ihrem Artikel der Frage nach, wie die Einschreibung von Geschlechtsnormen auf körperlicher Ebene zu denken ist. Dabei argumentiert sie, ausgehend von der feministischen Theorie der negativen Konstitution von Weiblichkeit durch Ausschluss, dass die Konstruktion von Weiblichkeit als Körperlichkeit ebenfalls negativ zu denken ist, nämlich als Reduktion auf ohnmächtigen Schmerz, Fleischlichkeit und Entsignifizierung: „[…] gendered mechanisms do their work of inscription on women’s bodies by hurting and injuring, and more specifically […] by gutting out or emptying out“ (ebd.: 57). In Anlehnung an die ActorNetwork-Theorie, welche Subjektbildung als die relationale Anbindung an signifikante Materialien definiert, formuliert Fournier daher die Konstruktion von Weiblichkeit als die Abtrennung und Entleerung des Körpers von diesen Signifikationen, versinnbildlicht im referenzlosen Schmerz: „[T]he very constitution of womanhood works through fracturing the connections that make us into something, that give us ,ontological security‘. The gutting out of materials that count in the making of the self, like pain, serves to detach womanhood from connections to networks, attachments to materials that would fill and give substance to, the self.“ (Ebd.: 64)

In dieser Sichtweise der Konstruktion von Weiblichkeit via eine Auslöschung dessen, was einem Subjekt Bedeutung verleiht, signifiziert der nur mehr fleischliche, schmerzende Körper einen notwendigen Nullpunkt an Subjektivität. Er stellt gewissermaßen eine tabula rasa des rein Abjekten dar, durch dessen Figuration die Konstruktion des Weiblichen erst ermöglicht wird: „[W]e could think of gendering as something involving the distribution of pain and embodiment. The constitution of woman through her effacement or immateriality […] involves a stripping of materials that count in the making of the self, a process of evisceration that is done and experienced in the body, and that hurts. By drawing on the symbolism of pain, I [suggest] that becoming woman involves a sense of being emptied out and reduced to a mass of abject […] flesh.“ (Ebd.: 62)

In THE SWAN, das die technisierte Produktion eines verkörperten weiblichen Subjekts erzählt, wird, wie ich bisher versucht habe zu zeigen, diese Form der Konstruktion von Weiblichkeit sichtbar. So wie die narrative Aufwerfung des biografischen Bruchs die Loslösung aus den sozialen und materiellen Netzwerken vollzieht, so wird der körperliche Umschlagpunkt durch die schrittweise Auslöschung („gutting out“) von Subjektivität und schließlich der Inszenierung als passives Material erzählt. Die Institution des neuen Geschlechtsselbst verläuft demnach über eine symbolische Negation des Subjekts überhaupt, und markiert so die präzise Gegenposition zu der von Maasen angeführten „Freiheit zur Selbstüberschreitung“. Die narrative Überformung

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der kosmetischen Weiblichkeit formuliert den ‚Vorher-Nachher‘-Bruch als einen Punkt der Ohnmacht und des Nicht-Seins.

Visceral Relations Wie Fournier argumentiert, dient die symbolische Verknüpfung von Schmerz und Weiblichkeit auch zur Authentifizierung, d.h. zur Materialisierung von Geschlecht, das auf körperlicher Ebene eingeschrieben wird: „[S]ubstantiating and ‚making real‘ involves the disassemblage and reassemblage of bodies“ (Fournier 2002: 69). Wie aber vollzieht sich die Resignifizierung der passiven Materialien, wie werden aus den anästhesierten Fleischmassen verkörperte Weiblichkeiten? Dieser Prozess der Etablierung eines geschlechtlich wieder aussagekräftigen Körpers vollzieht sich in mehreren Schritten, von denen ich einige nur kurz skizzieren will: So liegt einerseits im chirurgischen Akt selbst eine Resignifizierung als Formung, die der jeweilige Spezialist am passiven Körper vornimmt, und die – wie Experten und Kandidatinnen im weiteren Verlauf der Sendung wiederholt feststellen – aus den bearbeiteten Körperbereichen gewissermaßen Sprechakte einer kohärenten, sexualisierten Weiblichkeit macht. Weiter reinstalliert THE SWAN die Kandidatinnen als neue Frauen, indem inszenatorisch Situationen entworfen werden, in denen der kosmetische Körper als weiblich wahrgenommen und geschlechtlich bedeutungsvoll beschrieben werden kann. So dienen die verschiedenen Kameraeinstellungen während der feierlichlacanschen Spiegelszene, in der die Kandidatinnen ihre neue Körpergestalt „überreicht“ bekommen, dazu, die Frauenkörper in heterosexuelle (durch die anerkennenden Blicke der Chirurgen und Zuschauer), emanzipativ-weibliche (das Lob der Moderatorin Verona Pooth), kompetitiv-ökonomische (die Kontrahentin) und familiär-mütterliche (das Staunen der Kinder, die Erleichterung des Ehemannes) Sinnzusammenhänge einzugliedern. Der neue Körper wird auf diese Weise durch die schrittweise Etablierung von „looking relations“ als Träger einer spezifischen Weiblichkeit resignifiziert und die Kandidatinnen einer glücklichen Geschlechtsexistenz zugeführt (vgl. auch Dietze in diesem Band). Über diese Resignifizierung durch Kontextualisierung hinaus bietet die kosmetische Narration THE SWAN jedoch eine weitere Interpretationsebene an, die letztlich das Gelingen einer verkörpten Weiblichkeit entscheidet und zu deren Nachvollzug eine rezeptionsästhetische Überlegung interessant ist. Wie sich aus dem bereits Dargestellten schließen lässt, vereinen Narration und visuelle Inszenierung in THE SWAN verschiedene Topoi, die als spezifisch für sogenannte „Body Genres“ zu interpretieren sind. Linda Williams (2003) hat in ihrer Systematisierung dieser Genres – Horror, Melodram und Porno – argumentiert, das sich jedes auf eine spezifische kulturelle Fantasieleistung 210

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sowie deren Verbindung mit exzessiven Ausreizungen des Körpers konzentriert. Diese finden sich in THE SWAN wieder: So vollzieht die Sendung Motive und erzählerische Arrangements aus dem Melodram nach durch die exzessive Ausstellung von emotionalen Zusammenbrüchen und Tränen – „primal […] emotions“ (ebd.: 269) – zirkulierend um die Fantasie der Herkunft, Schicksal und Identität. Die oben ausgeführten Szenerien des körperlichen Leidens und der Auslöschung umkreisen die klassischen Ängste des Horrorfilms, sowie dessen Figurationen von Fleischlichkeit, Wunden und Todesangst. Die Pornografie schließlich kommt zum Abschluss der Sendung zum tragen, wenn die hypersexualisierten Kandidatinnen durch die anerkennendbegehrlichen Blicke von Experten, Ehemännern und Zuschauenden in Begehrensobjekte transformiert werden. THE SWAN stellt ein spektakelhaftes und exzessives Narrationsamalgam aus „sex, violence and emotion“ (ebd.: 268) dar, das den Zuschauenden primär eine „viszerale“ (vgl. ebd.: 271) Identifikation mit den verhandelten Körpern via die Grundemotionen von „pleasure, fear, and pain“ (ebd.: 270) anbietet. In diesem Sinn sind z.B. die oben beschriebenen Schmerzakte zu verstehen, die einerseits körperliche Ekel-, Schmerz- oder Mitleidsreaktionen seitens der Zuschauenden auslösen, so die Tiefendimension des gezeigten Geschlechtskörpers herstellen und diesen als lebbar und sentient konstruieren. Weiter wird durch die explizite Darstellung der Operationsvorgänge eine Art community of shock hergestellt, d.h. die Inszenierung von Blut, Aufschneidevorgängen und Verletzungen des Körpers sowie die unvermeidliche Schockreaktion seitens der Zuschauenden konstruiert eine gemeinsame körperliche Erfahrung zwischen Publikum und Kandidatin. Wie im Horrorfilm die lustvolle Identifikation mit dem Opfer als „gut reaction“ über dessen Versehrung und Verstümmelung verläuft, so geschieht die Identifikation in THE SWAN ebenfalls auf Körperebene: Schockiert von den brutalen Bildern der Körpervernichtung, leiden wir mit. Die maßgebliche symbolische Arbeit dieser viszeralen Identifikation wird deutlich angesichts der problematischen Figuration des Nullpunktes an Subjektivität, wie er an der Operationsszene erläutert wurde. Denn die unfreiwillige körperlich „mit-leidende“ Reaktion unterstellt dem ausgeleerten und entsignifizierten Abjekten auf dem OP-Tisch eine grundsätzliche Fähigkeit zur Schmerzerfahrung und zur Verletzbarkeit, projiziert also mit anderen Worten eine Körperlichkeit auf die entkörperte Fleischlichkeit. Judith Butler hat diese unterstellte Reziprozität der Körper und die Anerkennung von Verletzbarkeit in „Precarious Life“ (Butler 2004) als einen ebenso gewaltvollen wie unabdingbaren Mechanismus beschrieben: „A vulnerability must be perceived and recognized in order to come into play in an ethical encounter, and there is no guarantee that this will happen. […] when a vulnerability is recognized, that recognition has the power to change the meaning and 211

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structure of the vulnerability itself. In this sense, if vulnerability is one precondition for humanization, and humanization takes place differently through variable norms of recognition, then it follows that vulnerability is fundamentally dependent on existing norms of recognition if it is to be attributed to any human subject.“ (Ebd.: 43)

Die mit Williams zu konstatierende „visceral[…] manipulat[ion]“ (Williams 271) des Zuschauers durch die exzessiv-spektakulären Darstellungen in THE SWAN mündet hier also letztlich in die machtvolle Projektion einer Verkörperung auf das Abjekte; und zwar an jener dramaturgischen Stelle, wo die Auslöschung des Selbst erzählt wird. Die Anerkennung der Schmerzen, der Ohnmacht, und dadurch einer Körperlichkeit inszeniert so eine Restitution des sentient body in jenem Moment, wo seine Auslöschung vollzogen ist. Dies geschieht gemäß „existing norms of recognition“, d.h. das entsignifizierte Abjekte wird durch die Anerkennung als vergeschlechtlichter Körper wieder eingesetzt: In Anlehnung an Fourniers Analyse kann so gesagt werden, dass dieses inszenatorische Arrangement Leiden, Ohnmacht, und Auslöschung als eine spezifische Bedingung der weiblichen Verkörperung (embodiment) festschreibt.

Devisceration: Orlan Um das Argument der Festschreibung von Geschlecht in der Narration des körperlichen Ausnahmezustandes zu schärfen, möchte ich in aller gebotenen Kürze noch auf die Chirurgie-Performances der Künstlerin Orlan (vgl. Ince 2000; Wegenstein 2002; Zimmermann 2003) eingehen, die innerhalb der feministischen Debatte um kosmetische Chirurgie oft einen zentralen Diskussionspunkt bilden. So hat z.B. Kathy Davis versucht, das kritische Potenzial des Orlanschen Werks in einer Konfrontation mit dem Dilemma der kosmetischen Konsumentinnen – die Gleichzeitigkeit von Normierung und Selbstbestimmung – herauszuarbeiten. In ihrer Analyse der mehrfachen kosmetischen Operationen, denen sich Orlan in den 1990er Jahren unterzogen hat, konstatiert Davis (2003: 105-116), dass es der Künstlerin um die Konstruktion eines eigenen Gesichts ginge – mithin also um Selbstbestimmung: „For Orlan, plastic surgery is a path towards self-determination – a way for women to regain control over their bodies. […] Orlan […] is the creator, not just the creation, the one who decides and not the object of another’s decision“ (ebd.: 109f). Davis Bewertung des (von ihr so genannten) Orlanschen Selbstprojektes als „feminist utopia“ artikuliert jedoch ein spezifisches Unbehagen, dass sie mit einer Anekdote illustriert: „In August 1995, […] Orlan was invited to give a lecture at a multimedia festival in Amsterdam. […] the artist read a statement about her art while images of one of her operations flashed on the screen behind her. The audience watched as the surgeon

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inserted needles into her face, sliced open her lips, and […] severed her ear from the rest of her face with his scalpel. While Orlan seemd to be unmoved by these images, the audience was clearly shocked. Agitated whispers could be heard and several people left the room. […] Finally, one young woman stood up and exclaimed: ,You act as though it were not you, up there on the screen!‘“ (Ebd.: 105)

Davis bewertet diese „gut reaction“ gegen Orlans Gefühllosigkeit zwar als naiv, argumentiert aber weiter, dass die Reaktion eine wichtige Problematik von Orlans kritischer Aneignung der kosmetischen Chirurgie beleuchte. In Davis Einschätzung ist nämlich eine solche abstrakte und abstrahierende Behandlung des eigenen Körpers nur als künstlerische Geste möglich, nicht aber im „wirklichen Leben“: „Orlan’s project is not about a real-life problem; it is about art. She does not use cosmetic surgery to alleviate suffering with her body, but rather to make a public and highly abstract statement about beauty, identity and agency“ (ebd.: 110). Davis schlussfolgert, dass die Gefahr Orlans künstlerischen Aussagen darin liegt, das sie „… a non-sentient female body – a body which feels no pain“ (ebd.: 114) voraussetzen. Dadurch devaluieren und negieren sie potenziell die Erfahrungen und Schmerzen von Frauen, die für die Formulierung politischer und feministischer Interventionen generell notwendig sind: „[This] reminds us of what Orlan and, indeed, any utopian approach to cosmetic surgery leaves out: the sentient and embodied female subject, the one who feels concern about herself and about others“ (ebd.: 115). Im Rückgriff auf die hier unternommene Analyse in THE SWAN möchte ich jedoch eine andere Bewertung des orlanschen Operationstheaters vorschlagen. Denn jener Moment der operativen Auslöschung des Subjekts, wo durch die körperlich mit-leidende Reaktion der Zuschauenden die Restitution des Geschlechts geleistet wird, wird in Orlans Performances und den dazugehörigen Vorträgen systematisch verweigert. Die in der „gut reaction“ unterstellte Reziprozität der Körper – hier schmerzt das Zuschauen, weil dort ein „embodied subject“ verletzt wird – läuft auf doppelte Weise ins Leere: zum einen, weil Orlans Körper während der Performances und in den Videos lokalanästhesiert und souverän agiert, spricht und Anweisungen gibt. Und zum zweiten wird diese Verweigerung des Schmerzes nochmals von der präsenten, ruhig referierenden Orlan wiederholt. Orlans Strategie der simultanen Provokation des Viszeralen und seiner Ablehnung als Identifikationsangebot ermöglicht so die Kritik von sowohl embodiment, d.h. der Verbindung zwischen Identität und Körper, als auch von einer „common corporeality“, d.h. einer Anrufung und Übercodierung als Körper durch das geschockte Publikum. Die Beobachter geraten so in das Dilemma, dass sie mit einem Körper mitleiden, der keinerlei sentience oder Verletzbarkeit beansprucht, sondern diese als machtvolle Einschreibungen zurückweist. In dieser Sichtweise hat Davis zwar recht, wenn sie Orlans Projekt als wenig alltagstauglich beschreibt. Zugleich 213

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jedoch übersieht sie, dass gerade Argumente für die Anerkennung von sentience und Verkörperung anhand von Orlans Arbeiten als diskursive und vergeschlechtlichende Überformungen problematisiert werden können.

Fazit Aus der Analyse der erzählerischen Struktur, durch die THE SWAN das kosmetische Selbst formuliert, möchte ich abschließend versuchen, einige Thesen abzuleiten, die auf das generelle Problem der Erzählbarkeit abstellen. Wie ich versucht habe zu zeigen, verknüpfen gouvernementale Erzählungen des Selbst Elemente der Selbstbestimmung und der Normierung zu narrativen Modellen der Selbstführung, die sowohl emanzipativ als auch im Sinne einer Unterdrückung gelesen werden können. In dieser Hinsicht ist Maasen zuzustimmen, wenn sie fordert, dass die Kritik dieser Machtausformung den Ambivalenzen Rechnung tragen muss, allerdings sowohl im Hinblick auf die Mehrdeutigkeit der Technologie ‚Schönheitschirurgie‘, wie auch ihrer narrativen Überformungen. Ferner jedoch ist es als problematisch einzustufen, wenn Autorinnen wie Davis versuchen, den Schmerz und das ‚Leiden am Diskurs‘ als Momente der Selbstbestimmung bzw. der Widerständigkeit gegen Normierung zu lesen. Denn jener Moment, wo diese Schmerzen als Erfahrungen in Programme eingepasst und zu vermeintlichen Selbsttechniken werden, vollzieht zugleich die Projektion einer normierenden Form geschlechtlicher Verkörperung. Sowohl Erzählungen der Selbstbestimmung wie auch der Unterdrückung evozieren notwendigerweise diesen Moment der vergeschlechtlichenden Resignifizierung. Damit wird das Leiden, die Disfiguration des Körpers politisch angeeignet und in einen Sinnzusammenhang gestellt, der eine machtvolle Übercodierung bedeutet, mithin die gewaltsame Verkörperung von Geschlecht. Die von Maasen als entscheidendes Kriterium bestimmte „Freiheit zur Selbstüberschreitung“ muss demnach selbst als äußerst ambivalente Konstruktion verstanden werden. Der Umschlagpunkt der Auslöschung markiert in dieser Sichtweise jenen Ort, wo die Materialisierung von Geschlecht stattfindet. Diese Materialisierung ist zugleich die Vorbedingung jener therapeutischen oder ermächtigenden Erzählungen, die die kosmetische Chirurgie als Selbsttechnik bzw. Selbstfindung artikulieren. Diese nämlich sehen die Verfügung des körperlichen und biografischen Bruchs als selbstbestimmte Konstruktion einer dichotomen Temporalität des ‚Vorher-Nachher‘, des Unterdrückten und der Befreiung. Die rhetorische Konstruktion eines Umschlags verläuft dabei, wie ich versucht habe zu zeigen, über eine gewaltsame Evokation und Inszenierung von Schmerzen und körperlichen Ausnahmezuständen, vollzieht also jenen diskursiven Akt, durch den Weiblichkeit materialisiert und Geschlecht einge214

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schrieben wird (Fournier). Angesichts der Tatsache, dass THE SWAN letztlich die komplexe Unternehmung anstrengt, eine vollkommen technisierte und kulturelle Produktion von Körpern als die therapeutische Selbstfindung einer „natürlichen“ Weiblichkeit zu erzählen, so wird die Relevanz der Figurationen des Viszeralen und Körperlichen deutlich: Die Darstellung der Ausnahmezustände, in denen Verkörperung produziert wird, sind essenziell für das Gelingen der naturalisierenden Erzählung des kosmetischen Selbst. Sie dienen somit der notwendigen Verschleierung des kulturellen und konstruierenden Einschreibungsapparates Schönheitschirurgie. Durch die Evokation des körperlichen Ausnahmezustandes wird mit anderen Worten agency dort simuliert, wo Geschlecht als Natur eingeschrieben wird. Die Herstellung eines Selbst mittels kultureller Techniken, also mithin die Entnatürlichung des weiblichen Körpers, vollzieht auf diese Weise zugleich die Rückführung des Selbst auf eine geschlechtliche Natürlichkeit. Dieses führt mich zur letzten These, die auf jene von Maasen konstatierte Normalisierungsleistung der Diskursivierungen von kosmetischer Chirurgie Bezug nimmt, nämlich die Normalisierung der Cyborgisierung bzw. Kulturalisierung des Körpers durch somatische Technologien. Ich habe versucht die Erzählung des kosmetischen Selbst als die gewaltsame Konstruktion eines Bruchs zu zeigen, der die Weiblichkeit des kontinuierlich sich technisierenden Körpers reinstalliert und ihn in eine Erzählung des ‚Vorher-Nachher‘ einpasst. Diese Temporalisierung ‚entnennt‘ den immer transitorischen und deontologisierenden Charakter des kosmetischen Cyborg-Körpers, und reterritorialisiert ihn in einer Narration von geschlechtlicher, heterosexueller Selbstfindung und wiedergewonnener Natürlichkeit. Das Unmenschliche bzw. „Transkategoriale“ des kosmetischen Selbst wird in dieser Sichtweise nicht normalisiert, sondern als Abjektes verworfen, und in eine – so naturalisierende wie schmerzvolle – Selbstführung transponiert.

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SIMON STRICK

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Zw ischen Hormonen, Mönchspfefferkraut und Luna yo ga – Somatisc he Selbs ttec hnike n in der Kinderw unschbehandlung CHARLOTTE ULLRICH „Es wird alles viel wichtiger, als es normalerweise ist. Und die ganzen Vorgänge, die man hat und die sich im Körper so tun, die werden plötzlich unheimlich, die stehen absolut im Mittelpunkt. Von so einem Gefühl, es funktioniert ja alles, warum soll ich mich drum kümmern und dann fragt man sich plötzlich, spinne ich, läuft doch alles richtig. Ja. Das ist wirklich eine ganz komische Situation.“ (P9R: 62)1

„Der Körper ist nicht unser Privateigentum. Wir sind unser Körper“ – in diese Formel fasste Maria Mies 1985 die Stoßrichtung der Kritik auf dem ersten bundesdeutschen Kongress Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie. Eine deutliche Kritik von Feministinnen und Geschlechterforscherinnen begleitet die Neuen Reproduktionstechnologien seit ihren Anfängen.2 Seitdem ist ‚der Körper‘ wichtiger Referenzpunkt in der Diskussion um Biotechnolo-

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Zur Kennzeichnung von Interview- und Gesprächsausschnitten nutze ich folgende Kürzel: 1. Stelle: P für Patientin, A für Ärzte/innen und EG für Erstberatungsgespräch, 2. Stelle: laufende Nummer, 3. Stelle: R für Reproduktionsmedizin und N für Naturheilkunde. Die Ziffer nach dem Semikolon verweist auf den Abschnitt im jeweiligen Transkript. Ich beziehe mich hier auf die deutschsprachige Debatte. Im angloamerikanischen Raum wurde die eher politische feministische Auseinandersetzung um Neue Reproduktionstechnologien früher und breiter um gesellschaftswissenschaftliche, v.a. ethnologische, Untersuchungen ergänzt. Vgl. exemplarisch die Sammelbände von Edwards et al. 1993 und Ginsburg/Rapp 1995 sowie Franklin 1997. Für einen deutschsprachigen Überblick siehe Mense 2004. 219

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gien, und die Reproduktionsmedizin gilt als ein wichtiges Beispiel für einen verobjektivierenden, entfremdenden Zugriff auf den (Frauen-)Körper.3 Maria Mies (1986) argumentiert von einem marxistischen Standpunkt aus, dass die Gen- und Reproduktionstechnologien den Körper zum Privateigentum machen. Mit einem „Wir sind unser Körper“ will sie zu einem Protest gegen körperliche Entfremdung und die Kommerzialisierung des Körpers durch die Medizin aufrufen. Dominanter als die Kritik an der kapitalistischen Verwertbarkeit des Körpers ist jedoch die Kritik am (bio-)technischen Eingriff in den Reproduktionsprozess. Dieser wird beispielsweise als Ablösung eines „natürlichen körperlichen Vorgangs“ von Befruchtung und Schwangerschaftsbeginn durch eine „Technisierung der Zeugung“ (Barbian 1997) oder „Technisierung des Menschen“ (Streletz 1991) beschrieben. Durch die Entkoppelung von Sexualität und Reproduktion werde außerdem, so exemplarisch Giselind Berg (2002), vor allem der weibliche Körper fragmentiert und müsse nach einer „Logik des Systembaukastens“ funktionieren: „Die notwendigen Bestandteile werden aus dem Zusammenhang des (weiblichen und/oder männlichen) Körpers genommen und entsexualisiert“ (Berg 2002: 35). „In Verbindung mit Rationalisierungsprozessen innerhalb der Reproduktionsmedizin und dem Herauslösen weiterer Phasen des Fortpflanzungsprozesses aus dem Körper der Frau […] erfährt“ – so Berg weiter – „der weibliche Körper eine weitere Marginalisierung“ (Berg 2002: 38). Luise Berthe-Corti (2002) spitzt ihre Kritik an der Reproduktionsmedizin auf die Frage zu, inwieweit „wir“ bereits den menschlichen Körper in seiner „biologisch-funktionalen Ganzheit“ (bzw. seiner „biologischen Integrität“) verlassen hätten und der Körper zu einem „biotechnologischen Konstrukt“ geworden sei. Die genannten Arbeiten greifen den Körper allerdings nur als einen Punkt unter anderen auf, um ihre generelle Kritik an den Gen- und Reproduktionstechnologien festzumachen. Was den Körper ausmacht, wird als nicht erklärungsbedürftig vorausgesetzt. Seine Analyse hat in der ethnografischen Studie zu Organtransplantation und Reproduktionstechnologie von Brigitta HauserSchäublin, Vera Kalitzkus, Imme Petersen und Iris Schröder (2001) einen systematischeren Ort: Diese stellen in ihrer Untersuchung Der geteilte Leib heraus, dass der Körper als Behandlungsgegenstand eine Objektivierung voraussetzt. Diese stehe im deutlichen Widerspruch zur subjektiven Befindlichkeit – der Leiblichkeit – der Patientinnen. Zentrales Ergebnis ist, dass „[d]ie Regionalisierung und Parzellierung […] einerseits den Körper und seine Teile [betrifft]. Sie beinhaltet jedoch auch […] Abtrennung und Loslösung nicht nur eines Teiles vom Ganzen, sondern auch ein Abspalten des Körpers von der Person“ (Hauser-Schäublin et al. 2001: 25).

3

Vgl. hierzu ausführlicher auch Ullrich 2007.

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SOMATISCHE SELBSTTECHNIKEN IN DER KINDERWUNSCHBEHANDLUNG

Die Reproduktionsmedizin scheine spätestens heute, wie Cornelia Helffrich et al. es formulieren, „an einem Punkt angekommen zu sein, wo der Gewinn an Freiheit in der Nutzung dieser Erfindung umschlägt in neue Zwänge, so wie die Dialektik der Aufklärung den Umschlag der Zivilisation in Barbarei beschreibt“ (Helfferich et al. 2002: 46). Seit der Geburt von Louise Brown in England 1978 – dem ersten ‚Baby aus dem Reagenzglas‘ – sind die Neuen Reproduktionstechnologien zu einem medizinischen Standardverfahren geworden und haben nicht nur durch ihre zunehmende diskursive Verhandlung an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. In Deutschland Anfang der 1980er Jahre eingeführt, hat sich die Anzahl der Behandlungszyklen von Mitte der 1980er Jahre bis heute vervielfacht: Waren es 1986 noch unter 5000 Zyklen im Jahr, sind es gegenwärtig mehr als 100.000, die in bundesweit knapp 120 Zentren durchgeführt werden.4 Geht dieser (Absatz-)Erfolg mit einem Verschwinden des Körpers einher, lässt sich die reproduktionsmedizinische Behandlung auf einen rein medizinischen, verobjektivierenden Ablauf reduzieren? Meine These ist, dass Körper mehr als ‚stumme Zeugen‘ der Entwicklung und Praxis der Reproduktionsmedizin sind. Ich gehe davon aus – wie im Folgenden in Bezug auf körpersoziologische Ansätze genauer ausgeführt wird –, dass in der alltäglichen Praxis der ‚Kinderwunsch‘5-Behandlung biomedizinisches Körperwissen und verobjektivierende medizinische Behandlungen unauflöslich und reflexiv mit dem laienhaften Körperwissen der Patienten/innen und ihrem Körperempfinden verbunden sind. Im Folgenden möchte ich am Beispiel einer fokussiert ethnografischen Fallstudie zu Kinderwunschbehandlung analysieren, welche somatischen Selbsttechniken bzw. körperlichen Umgangsweisen mit sich selbst die medizinische Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch verlangt, welche sie voraussetzt und welche die Patienten/innen zunächst ganz unabhängig von der Behandlung praktizieren. Abschließend möchte ich die herausgearbeiteten Umgangsweisen mit dem eigenen Körper in der Kinderwunschbehandlung in Hinblick auf ihre Anschluss- und Verbindungslinien zu allgemeineren Tendenzen veränderter Selbst- und Körperverhältnisse, der Wirkmächtigkeit biowissenschaftlichen Wissens sowie wohlfahrtsstaatlicher und gesundheitsheitspolitischer Umstrukturierung beleuchten. 4 5

Vgl. Deutsche IVF Register (DIR). Das DIR erfasst sei 1982 Daten zur humanen Reproduktionsmedizin in Deutschland. Der Begriff ‚Kinderwunsch‘ wird nicht nur in der Benennung von reproduktionsmedizinischen Einrichtungen, sondern auch von Ärzte/innen in der Anamnese, von und gegenüber den (gesetzlichen) Krankenkassen als Indikation für die Teilkostenübernahme der Behandlung sowie von den Patienten/innen für die Beschreibung ihrer Lage genutzt. Die vollständige Bezeichnung lautet „unerfüllter Kinderwunsch“ – das „unerfüllt“ fällt aber in der mündlichen Kommunikation fast immer weg. 221

CHARLOTTE ULLRICH

1 . R e f l e x i ve K ö r p e r ( t e c h n i k e n ) Während die bisherige Diskussion der medizinischen Unfruchtbarkeitsbehandlung, wie oben aufgezeigt, den Fokus ihrer Analyse und Kritik auf den ‚entfremdenden‘ biotechnisch vermittelten Umgang mit dem Körper setzt, möchte ich nun im Anschluss an die neuere Körpersoziologie den Blick darauf lenken, wie Kinderwunschpaare mit ihrem Körper umgehen und in welchem Verhältnis diese somatischen Selbsttechniken zu dem fremdbestimmten Umgang mit dem Körper durch die Medizin stehen. In der Soziologie wird der Körper in den letzten Jahren vermehrt zum Ausgangspunkt v.a. theoretischer Überlegungen gemacht.6 Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass es ihnen nicht um eine letztendliche soziale Bestimmung der ‚körperlichen Natur‘ geht, sondern dass sie fragen, wie Körper in und als soziale Verhältnisse gesetzt werden. Dieser „body turn“ (Gugutzer 2006) fußt auch auf der Beobachtung, dass der Körper in modernen Gesellschaften eine neue Relevanz erhält. So schreibt beispielsweise Anthony Giddens in Modernity and Self-identity (Giddens 1991) der „Sorge um den Körper“ einen zentralen Stellenwert zu: „The body cannot be any longer merely ‚accepted‘, fed and adorned according to traditional ritual; it becomes a core part of the reflexive project of self-identity. A continuing concern with bodily development in relation to a risk culture is thus an intrinsic part of modern social behaviour. […] Like other aspects of the reflexivity of self-identity, body-planning is more often an engagement with the outside world than a defensive withdrawal from it.“ (Ebd.: 178)

Für die Vielzahl moderner Umgangsweisen mit dem Körper, die sowohl auf Erhalt wie auf Veränderung des Körpers zielen, schlägt der britische Soziologie Nick Crossley den Begriff „reflexive Körpertechniken“ vor. Diese sind Techniken, „that turn us back upon ourselves, thematize our bodily aspect within our own embodied intentionality and thereby put us into a relationship with an objectified image of our self“ (Crossley 2005: 13). Das Konzept der reflexiven Körpertechniken lässt ein kollektiv geteiltes Körperwissen als unmittelbar verbunden mit dem subjektiven Körperbild

6

Für gute deutschsprachige Überblicke zur Körpersoziologie vgl. Gugutzer 2004 und Jäger 2004 sowie für die Geschlechterforschung Villa 2001. Ein Einblick in die englischsprachige Debatte ist seit 1995 in der Zeitschrift Body & Society zu finden. Breiter angelegte empirische körpersoziologische Untersuchungen sind eher selten; Nick Crossleys Reflexive Embodiment in Contemporary Society (2006) sei hier beispielhaft genannt. Crossley untersucht quantitativ den Zusammenhang eines relativ breiten Spektrums von Körperpraktiken und sozialer Lage.

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denken, ohne dass das eine das andere ersetzt. Leibphänomenologisch7 weitergeführt steht dieses Wissen über den Körper darüber hinaus in einem unauflöslichen, eher reflexiven als substanziellem Wechselverhältnis mit dem subjektiven, leiblichen Körperempfinden. Meine These, dass Körper mehr als zum Objekt degradierte, stumme Zeugen der Kinderwunschbehandlung sind, lässt sich so konkretisieren: Ich gehe davon aus, dass sich in der alltäglichen Praxis der Kinderwunschbehandlung geteiltes Körperwissen der Biomedizin, hier spezifischer medizinische Konzepte der Reproduktion, mit dem ‚verobjektivierten Körperbild‘ und dem Körperempfinden der Paare verbindet und in reflexiven Körpertechniken reflektiert wird. Mit Foucault lassen sich reflexive Körpertechniken als somatische Techniken der Selbstführung, der „Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten“ (Foucault 1994: 255), die auf den Körper zielen, verstehen. Die (hier: medizinische) „Fremdführung“ als „Tätigkeit des ‚Anführens‘ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmaßnahmen)“ (ibid.) eröffnet hier also einen gewissen, bereits konfigurierten Möglichkeitsrahmen, der bestimmte Handlungen und somatische Selbsttechniken nahe legt, aber gleichzeitig die konkrete Ausgestaltung und Entscheidung den einzelnen überlässt. Die einzelnen können und müssen „sich selbst zu einem Feld von vorgegebenen Möglichkeiten reflexiv […] verhalten“ (Hark 1999: 48). Körper bilden einen facettenreichen Fluchtpunkt der durchaus nicht ungebrochenen oder widerspruchsfreie Programme der Fremd- und Selbstführung, des Regierens und Selbstregierens der Kinderwunschbehandlung, die das Denken, Handeln und Spüren der Patienten/innen bestimmen. Im Folgenden geht es mir also nicht darum zu zeigen, wie die Medizin den Körper der Patienten/innen verobjektiviert. Sondern ich möchte – mit umgekehrter Perspektive, ausgehend von einer alltäglichen Praxis – die mit der Behandlung verbunden Körperkonzepte und reflexiven Körpertechniken als eine Art Mikrotechnik verstehen, die sich mit anderen Mikrotechniken und Denkweisen „zu ‚Makrostrukturen‘ und Diskursen verdichten und verstetigen“ (Bröckling et al. 2004: 9). Ich werde daher untersuchen, auf welches Körperwissen die Patienten/innen zurückgreifen und welche Umgangsweisen und -strategien sie verfolgen. Welche somatischen Selbsttechniken und „reflexiven Körpertechniken“ etwa die Behandlung von den Paaren einfordert, welche Maßnahmen für

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Vgl. Plessner 1975 und beispielhaft zur Bedeutung der Struktur der leiblichaffektiven Erfahrung für die kontinuierliche Aufrechterhaltung der sozialen Konstruktion von Geschlecht bei Lindemann (z.B.: 1992). 223

CHARLOTTE ULLRICH

Erhalt, Verbesserung und Optimierung der Fertilität empfohlen werden und welches Wissen sie zur Erklärung unfruchtbarer Körper bereitstellt.

2 . K ö r p e r i n d e r K i n d e rw u n s c h b e h a n d l u n g In meinem Beitrag beziehe ich mich auf zwei „fokussiert ethnografische“ (Knoblauch 2005) Fallstudien, die ich 2005 in der Frauenklinik eines deutschen Universitätskrankenhauses durchgeführt habe: In einer konventionellen reproduktionsmedizinischen und einer naturheilkundlichen Klinik8 konnte ich insgesamt zwölf Wochen den Klinikalltag der Kinderwunschbehandlung teilnehmend beobachten, Erstberatungsgespräche aufzeichnen und problemzentrierte offene Leitfadeninterviews mit Ärzten/innen sowie IVF/ICSIPatientinnen führen.9 Darüber hinaus beziehe ich gesammelte Dokumente (wie medizinische Fragebögen), Fotografien der Räumlichkeiten, die Internetpräsentation der Kliniken sowie drei populärwissenschaftliche Ratgeber, die von örtlichen Ärzten/innen verfasst wurden, in die Analyse mit ein. Die Kontrastierung einer reproduktions- und einer alternativmedizinischen Klinik bietet die Möglichkeit, die Relevanz ‚hochtechnisierter‘ Verfahren und Eingriffe für die Gestaltung des Umgangs mit dem Körper oder der Wahl somatischer Selbsttechniken in der Kinderwunschbehandlung vergleichend herauszuarbeiten. Scheint Unfruchtbarkeit eine relativ klare medizinische Indikation, bleiben die Ursachen häufig unklar: In der Reproduktionsmedizin wird grob geschätzt (vgl. z.B. AOK 2007) dass bei je 30% der Fälle die Ursache bei Männern, Frauen und beiden Partner/innen liegt; bei den verbleibenden 10% kann keine Ursache gefunden werden (ideopathische Sterilität). Auch wenn ein medizinisch eindeutiger Befund vorliegt – wie geschlossene Eileiter oder eine unzureichende Spermienqualität – wird der Unfruchtbarkeit während der Behandlung eine Vielzahl eher sozialer Faktoren zugeschrieben: das gestiegene Erstgeburtsalter, ungesunde Lebensführung oder Stress am Arbeitsplatz. In der Naturheilkunde wird zudem auf eine allgemeine Zunahme von Umweltgiften und auf die mögliche schädliche Wirkung von Amalgam verwiesen. Neben den medizinischen Eingriffen wie Hormonstimulation und In-Vitro8

9

Schwerpunkte dieser alternativmedizinischen gynäkologischen Abteilung sind Homöopathie- und Akupunkturbehandlungen; zum Selbstverständnis gehört eine ‚ganzheitliche Behandlung‘, die auch Ernährungs- und Umweltberatung umfasst. Im Falle der reproduktionsmedizinischen Kinderwunschklinik lag der Fokus auf der Behandlung mittels Verfahren der In-Vitro-Fertilisation (IVF), also der Befruchtung im Reagenzglas mit den Sonderformen der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) und dem neueren Verfahren der In-Vitro-Maturation (IVM). Kinderwunschzentren bieten häufig auch ‚alte Reproduktionstechnologien‘ wie Zyklusmonitoring und Insemination an.

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Fertilisation gilt – mal impliziter, mal expliziter – der Umgang mit sich selbst und seinem Körper als wichtiger Faktor des Gelingens der Behandlung.

2.1 Medizinische Eingriffe in den Körper Die Entscheidung, sich – häufig nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, schwanger zu werden – in reproduktionsmedizinische Kinderwunschbehandlung zu begeben, geht mit der Anerkennung und Lokalisierung einer ‚körperlichen Ursache‘ einher. Zunächst geht die Mehrzahl der Paare allerdings davon aus, ‚wie alle anderen‘ zum gewünschten Zeitpunkt ein Kind zeugen zu können. Im Gegensatz zu der Behandlung anderer Krankheiten erleben die Patienten/innen sich und ihren Körper in der Regel zunächst als gesund – medizinisch leiden sie an keiner Krankheit, die ihr Leben aktuell oder in der Zukunft beeinträchtigt. Wird das Nicht-Eintreten einer Schwangerschaft an körperlichen Anzeichen – prominent der Menstruation – festgemacht, spielt der Körper in der medizinischen Erstdiagnose ‚ungewollt kinderlos‘ häufig eine untergeordnete Rolle. Letztendlich bestimmt nicht nur das Ergebnis einer medizinischen Untersuchung des Körpers die Diagnose, sondern das Verstreichen von Zeit: Je nach Alter gilt ein Paar,10 das nach ca. einem Jahr regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs kein Kind zeugt, für Medizin und Krankenkassen als behandlungsbedürftig bzw. -würdig. Mit dem Beginn der Behandlung rückt der Körper als Erklärung für diese zunächst nur zeitliche ‚Anormalität‘ in den Mittelpunkt. Von der Erstanamnese über die operative Follikelentnahme bis zum Schwangerschaftstest wird der Körper Wegweiser für weitere Entscheidungen und medizinische Interventionen. Die Suche nach körperlichen Ursachen der Unfruchtbarkeit wird zur Voraussetzung für eine zumindest ‚partielle‘ und ‚temporäre Heilung‘: Zur Überprüfung der Spermienqualität genügen meist ein bis zwei Spermiogramme. Der männliche Körper wird ansonsten aus der Behandlung ausgeklammert,11 Männer nehmen häufig im weiteren Verlauf nur am Rande und nur als Teil des Paares an der Behandlung teil. Bei der Frau hingegen ist eine längere Beobachtung verschiedener Faktoren notwendig: Im Laufe eines Zyklus – dem ‚körperlichen Takt‘ der Behandlung – werden mehrmals Blutpro10 ‚Paar‘ benutze ich im Folgenden, weil nicht nur in Deutschland die reproduktionsmedizinische Behandlung von alleinstehenden Frauen eine große Ausnahme darstellt und sie medizinisch als ‚Paartherapie‘ verstanden wird. 11 Die ungleiche Integration von Frauen und Männern in die Behandlung spiegelt sich in meiner Fallstudie auch darin wider, dass sich – obwohl Paare angesprochen wurden – nur Patienten/innen zu einem Interview bereit erklärten (meist mit dem pragmatischen Hinweis, sie seien ja ohnehin häufig in der Klinik). Nichtsdestotrotz trifft die Ausbreitung der Reproduktionsmedizin auch Männer spezifisch, wie etwa die Etablierung der Andrologie zeigt (vgl. Wöllmann 2004). 225

CHARLOTTE ULLRICH

ben für Hormonbestimmungen entnommen sowie Ultraschalluntersuchungen durchgeführt, die die Gebärmutterschleimhaut und Follikelproduktion beobachten. Diese Prozesse werden dann im Folgenden mit Hormongaben ‚optimiert‘ und auf die jeweiligen Ziele abgestimmt. Für die In-Vitro-Fertilisation werden Einsprung und Reifung der Eizellen bis zur Follikelentnahme (Punktion) hormonell gesteuert und überwacht. Die Punktion erfolgt in der Regel in ambulanter Operation unter Vollnarkose. Anschließend werden die Eizellen mit aufgearbeitetem Sperma im Reagenzglas – bei der ICSI mithilfe der direkten Injektion des Spermiums in die Eizelle – befruchtet und nach kurzer Kultivierung ein bis drei Embryonen in den Uterus transferiert (eventuell weitere vorhandene Embryonen werden kryokonserviert). Dieser kulturell bedeutungsvollste und oft mit der Zeugung während eines Geschlechtsverkehrs verglichene Akt12 ist medizinisch eher unaufwendig: Mit einem sehr dünnen Schlauch werden die Embryonen vaginal eingesetzt. Vierzehn Tage später wird ein Schwangerschaftstest durchgeführt. Im Laufe der Behandlung wird der Fokus auf den Körper zum einen verstärkt, zum anderen aber auch verschoben. Der Körper wird zergliedert in verschiedene Funktionsbereiche – was durchaus als Fragmentierung oder Marginalisierung des Körpers beschrieben werden kann –, deren Überprüfung an Normwerten alltägliche Praxis ist: Dies betrifft beim Mann vor allem die Anzahl und Beweglichkeit der Spermien, bei der Frau Regelmäßigkeit, Länge und Hormonwerte des Menstruationszyklus sowie den Auf- und Abbau der Gebärmutterschleimhaut und die Anzahl und Größe der Follikel. In vitro werden dann Befruchtungsquoten ermittelt, anschließend Schwangerschaftsraten, die auch bei Fehlgeburten wichtig für die Abschätzung weiterer Erfolgsaussichten sind. Kryokonservierte Embryonen können sowohl im Spontanzyklus als auch im hormonell unterstützten Zyklus eingesetzt werden – auch hier ist nicht nur eine Schwangerschaft entscheidend, sondern auch die ‚Überlebensquote‘ der aufgetauten Embryonen. So wird der Körper nicht nur in verschiedene Funktionsbereiche zergliedert, sondern auch die Behandlung in ihrem zeitlichen Ablauf: „Wenn man schon Embryonen hat, ist man ja schon einen ganz schönen Schritt weiter“ (A5R: 71), lautet nicht nur die Meinung der Ärzte/innen, sondern im Behandlungsprozess auch die der Patienten/innen. Diese Gliederung der Behandlung

12 Dieser wird von den Patienten/innen als reproduktionsmedizinisches Äquivalent der natürlichen Zeugung nach einer „schönen Nacht mit seinem Schatzi“ (P1R: 35) beschrieben. Die Klinik reagiert auf den vermuteten Bedarf an Intimität, indem sie während des Einsetzens klassische Musik laufen und dem Paar (der Mann ist meist anwesend) anschließend einige Minuten Ruhe lässt. Zugleich wird dieser Schritt auf Seiten der Paare häufig von einer kurzen Skepsis begleitet, ob auch der richtige Embryo (und nicht der des ‚dicken Paares‘, das als nächstes dran ist) eingesetzt wird. 226

SOMATISCHE SELBSTTECHNIKEN IN DER KINDERWUNSCHBEHANDLUNG

in einzelne, in sich zunächst abgeschlossene Schritte führt häufig sogar so weit, dass, wie eine Ärztin formuliert, bei einem Eintritt einer Schwangerschaft, „[die Paare es] gar nicht glauben [können], weil sie dann im Geiste beim nächsten Zyklus sind und dann am Anfang, weil am Anfang rechnen sie ja mit Erfolg und dann sind sie irgendwie noch so drin, wie geht der nächste Schritt jetzt.“ (A5R: 81)

Die reproduktionsmedizinische Behandlung therapiert eine mehr oder weniger klar zu lokalisierende körperliche Unzulänglichkeit. Der Körper als Objekt wird Messverfahren und Optimierungsversuchen unterzogen, an allgemeinen Normwerten ausgerichtet, die Behandlung folgt einem relativ fest gelegten Fahrplan mit wenig individuellen Abweichungen. Die naturheilkundliche Kinderwunschbehandlung greift zwar auch auf Ergebnisse von Hormonuntersuchungen, Spermiogramme oder Bauchspiegelungen zurück, hier steht aber im Rahmen der ganzheitlichen Ausrichtung die einzelne Patientin und der einzelne Patient mit all seinen körperlichen Befindlichkeiten im Zentrum.13 Doch auch in der Reproduktionsmedizin bleiben die Prozesse der Fragmentierung in verschiedene Funktionsbereiche als auch die Marginalisierung von Körpern nicht als solche stehen. Als Expertinnen ihres Körpers (und seiner Geschichte) sind die Patientinnen mehr als Stichwortgeberinnen, der Behandlungserfolg ist von ihrer aktiven Mitarbeit abhängig. Diese umfasst Aspekte der Selbstbeobachtung und allgemeinen Lebensführung sowie Techniken des reflexiven Umgangs mit dem eigenen Körper.

2.2 Patientinnen als Expertinnen ihrer selbst Die medizinische Verwaltung der ‚Körperfragmente‘ setzt die Mitarbeit der Patienten/innen voraus, die diese Verwaltung in ihr ‚laienhaftes‘ Körperwissen und ihre Körperwahrnehmung integrieren. Ohne die aktive Teilhabe der Patienten/innen, wie zum Beispiel das eigenständige Spritzen der korrekten Dosis an Hormonen zu einer bestimmten Tageszeit und der Zyklusbeobachtungen, ist eine Behandlung nicht möglich. Sie müssen eine gewisse reproduktionsmedizinische Expertise erwerben. So formuliert eine Ärztin: „[W]enn [die Patientinnen] einen Fehler machen, dann kann es relativ schnell zu einem Abbruch kommen, aus medizinischer Sicht, weil die Eier springen und wir darauf nicht vorbereiten waren.“ (A2R: 114)

Eine Kollegin beschreibt ähnlich:

13 Wobei sich in der homöopathischen Behandlung das spezifische Problem stellt, dass nur Symptome behandelt werden können. Wenn es keine Symptome gibt (und Kinderlosigkeit an sich ist kein Symptom), kann keine Therapie erfolgen. 227

CHARLOTTE ULLRICH

„[D]iese auslösende Spritze müssen sie zwei Tage vorher abends sich geben. Wenn sie das nicht machen, ist die ganze Behandlung umsonst.“ (A4R: 67)

Diese Übertragung von Verantwortung auch für medizinische Behandlungsschritte wird zum einen damit begründet, dass die Patientinnen ansonsten jeden Tag für ihre Dosis Hormone in die Klinik kommen müssten, zum anderen wird dies von den Ärzten/innen aber auch als eine besondere Herausforderung gesehen: „Das ist auch nicht einfach. Sich selbst zu spritzen, das exakt terminiert zu machen, alle Regeln so einzuhalten“ (A7R: 110). Eine andere Ärztin weist auf die „Riesenfehlerquelle“ und „Riesengefahr“ aufgrund der möglichen Nebenwirkungen hin (A5R: 59). Die verschiedenen Körperteile werden nicht bloß ‚abgespalten‘, sondern bekommen auch für die Kinderwunschpaare eine neue Relevanz, indem sie in ihrer Funktion für Schritte innerhalb der potenziellen Behandlungen gesehen werden. Für die Patientinnen haben insbesondere die durch Ultraschall konstruierten Ergebnisse (prominent Anzahl und Größe der Follikel) große Bedeutung und Erklärungskraft. Blutuntersuchungen und Hormonwerten wird selten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Erklärung ihrer Kinderlosigkeit, des eingeschlagenen Behandlungsweges, der Untersuchungen und körperlichen Symptome wird den Paaren durch Erläuterungen der Ärzten/innen ein reproduktionsmedizinischer Rahmen an die Hand gegeben. Alle von mir interviewten Patientinnen formulierten darüber hinaus ein großes Interesse an den medizinischen Erklärungen und informierten sich zusätzlich über Medien und Internet-Foren. So verfolgt eine Patientin den Fortschritt der Reproduktionsmedizin online: „Aber ich weiß, wo die in Behandlung sind und die haben auch so Sachen über das Internet. Somit kann ich mich auch international informieren. Was sind die neuesten Studien in Amerika? Was sind die neuesten Studien zum Beispiel in der Tschechei? Oder in Belgien, woher ja überhaupt die ICSI kommt?“ (P3R: 295)

Ein Paar ersteigert bei Ebay ein Mikroskop, um selbst die Bewegung der Spermien beobachten zu können. Die Paare nutzten den angebotenen medizinischen Erklärungsrahmen ebenfalls, indem sie die medizinischen Maßstäbe für das Gelingen der Behandlung übernahmen. Ein Gelingen, das nicht mehr alleine auf die Geburt eines gesunden Kindes beschränkt ist. Ein Arzt formuliert dies wie folgt: „Dann ist so ein Knackpunkt: […] Wie reagiert die Frau von den Eierstöcken her? Wie viele Eibläschen sehen wir? Wie viele Eizellen werden gefunden? Wie viele werden davon befruchtet, v.a. bei ICSI. Und dann natürlich beim Einsetzen, für die kommt dann, denk’ ich, die ganz schwierige Zeit, die vierzehn Tage danach bis zum Schwangerschaftstest.“ (A4R:89)

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Der Körper bezeugt für Ärzte/innen und Patienten/innen gleichermaßen Fortschritt und Gelingen der Behandlung. Die Patientinnen lernen dabei, ihren Körper aus reproduktionsmedizinischer Sicht zu sehen. Dies geht aber meiner Beobachtung nach nicht zwangsläufig mit einer vollständigen Übernahme eines ‚klinischen‘ oder ‚objektivierenden‘ Blicks einher. Das neue Wissen wird auch zu einer eigenständigen Interpretation des Behandlungsverlaufes (vor allem des Absehens von Chancen auf einen Erfolg) genutzt, die diejenige der Ärzten/innen gelegentlich auch konflikthaft hinterfragen und z.B. zum Klinikwechseln führen kann. Die Übergabe an Verantwortung für die Behandlung an die Patienten/innen ist jedoch nicht auf den medizinischen bzw. ‚objektiv messbaren‘ Bereich beschränkt, sondern die Patientin ist als subjektive Expertin ihres Körpers gefordert. Charis Cussins (1996) weist darauf hin, dass Patientinnen exklusive Auskunft über zwei Arten von Informationen geben: über Schmerzen und über die Geschichte ihrer Fertilität. Das Erstberatungsgespräch war in der von mir untersuchten Klinik der Ort, an dem mit einer ausführlichen Anamnese die Weichen für die weitere Behandlung gestellt wurden. Dabei spielt die persönliche Auskunft über die allgemeine Krankheitsgeschichte sowie Menstruation, Sexualität und Länge des Kinderwunsches eine ebenso wichtige Rolle wie die medizinische Dokumentation. Auch während der Behandlung ist es wichtig, darauf verwies eine Ärztin in einem Interview, „dass [die Patientinnen] auch erzählen, wenn es irgendwelche Besonderheiten gibt bei ihnen. Weil wir das oft nicht erraten können, wenn es da irgendwelche Probleme gibt.“ (A5R: 111)14

Neben der medizinischen Beobachtung körperlicher Vorgänge durch Ultraschall und Blutanalysen spielt die Selbstbeobachtung des Zyklus eine Rolle. In der naturheilkundlichen Behandlung ist ein zentraler Aspekt: „Ob eine Frau fruchtbar ist oder nicht, kann sie an vielfältigen Signalen erkennen. Sie kann lernen, diese körperlichen Veränderungen auf rein natürlichem Wege zu interpretieren und die fruchtbaren Tage um ihren Eisprung genau vorherzusagen. So erhöhen sich nicht nur die Chancen für eine spontane Schwangerschaft. Durch die genauere Kenntnis des eigenen Zyklus können Frauen auch aktiver an der Planung von Untersuchungen mitwirken und besser einbezogen werden.“ (Presseerklärung N 2005: 1)

In der naturheilkundlichen Behandlung wird in der Regel die kombinierte Erfassung der Basaltemperatur und der Beschaffenheit des Zervixschleims zur Zykluskontrolle und v.a. der Bestimmung des ‚fertilen Fensters‘ über mehrere Monate empfohlen. So erläutert eine Ärztin im Erstberatungsgespräch: 14 Umgekehrt ist für die Patienten/innen häufig schwierig abzuschätzen, was denn relevante „Besonderheiten“ im Sinne der jeweiligen Behandlung sind. 229

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„Ganz wichtig, also dass man einfach mal eine Basaltemperatur misst. Also, krieg ich überhaupt wirklich einen Eisprung. Und wenn Sie das noch nie gemacht haben in den ganzen Jahren, dass Sie das wissen, wenn Sie normal basal ihren Eisprung zwischen dem zehnten, elften, zwölften Tag haben, dann ist das schon mal eine Beruhigung. Dann wissen Sie, also ich habe einen normalen Zyklus.“ (EG8N: 88)

Für die reproduktionsmedizinsche Behandlung ist diese Form der Zyklusbeobachtung in der Regel ein vorgelagerter Schritt, der in der Anamnese abgefragt wird. Die Selbstbeobachtung des Zyklus wird häufig als frühe selbständige – manchmal auch von den niedergelassenen Gynäkologinnen und Gynäkologen empfohlene – Maßnahme gewählt, wenn keine Schwangerschaft eintritt. Hierbei wird auch auf computerunterstütze Verfahren, die Hormonwerte im Urin messen, zurückgegriffen. So berichtet beispielsweise eine Patientin: „Ich hab’ alles schon gemacht. Temperaturmethode, Ovulationstest, Persona15. Hab’ ich alles schon durch.“ (EG7N: 143) Die Erfahrung reicht von Begeisterung über die einfache Durchführbarkeit über Belastung durch die täglichen Messungen bis zu Ernüchterung, wie auch die Erfahrung einer anderen Patientin zeigt: „Ich habe mir so einen kleinen Computer gekauft, wo ich dann morgens mit gemessen habe und habe das auch parallel mit der Hand geführt. Ich habe es wieder eingestellt, weil dieses morgendliche Immer-daran-Denken ist auch belastend.“ (EG4N: 50)

2.3 „Fertilitätsschädigende Faktoren eliminieren“ – Gesunde Lebensführung Die Beteiligungsmöglichkeiten der Paare gehen jedoch weit über den medizinischen Bereich im engeren Sinne hinaus. Im Behandlungszyklus wird immer wieder darauf hingewiesen, dass mit einem ‚eigentlich gesunden‘ Körper die Chancen, schwanger zu werden, im Grunde gut sind. Bei guten, d.h. gesunden, Ausgangsbedingungen sind diese sogar genauso gut – dies wird sehr häufig erwähnt – wie bei einem ‚normalen‘ Paar: „[W]enn sie [die Paare] fragen […], wie sind die Chancen, [dann sage ich]: „Na, wir haben im Moment so 20 bis 25% Schwangerschaftsrate bei IVF/ICSI“ – da schlucken die schon erstmal heftig. Das relativiere ich dann wieder dadurch, dass ich dann sage, jedes andere Paar hat halt auch nur 20% Schwangerschaftschance, wenn sie versuchen, schwanger zu werden.“ (A4R:107)

Vor allem in der Naturheilkunde, aber auch in der Reproduktionsmedizin ist deshalb das Ziel der Anamnese, „fertilitätsschädigende Faktoren zu eruieren

15 Zur Verhütung entwickelter kleiner Computer, der mit Hilfe von Hormonmessungen im Urin fruchtbare und unfruchtbare Tage ermittelt. 230

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und die dann möglichst durch die Behandlung zu eliminieren“ (A6N: 22). Die Paare sollen deshalb darauf achten, „dass sie ja die natürliche Fertilität, die ja bei praktisch allen, die hier sind, noch in einem altersentsprechenden Maße [vorhanden ist], dass sie die auf alle Fälle nicht zusätzlich einschränken. Durch eigenes Zutun. Also dass man da erstmal sagt, also das ist eine kostbare Körperfunktion letztlich auch. Oder eine kostbare Möglichkeit und die sollte man nicht schädigen, weil man eben mit dem, was man dann von ärztlicher Seite tun kann nicht so viel erreicht, wenn eben praktisch dagegen gearbeitet wird.“ (A6N: 110)

Die Möglichkeiten, die Fertilität zu erhalten bzw. zu verbessern, sind zahlreich. Als fertilitätsschädigend werden externe Faktoren, vor allem aber Aspekte der Lebensführung, angesprochen. Diese Empfehlungen zur ‚gesunden Lebensführung‘ treffen die Paare meist nicht unvorbereitet; viele sind bereits gut über ‚weichere‘ Mittel zur Fertilitätssteigerung informiert. In der Naturheilkunde werden die Paare sehr viel stärker als in der Reproduktionsmedizin aufgefordert, alle äußeren „Störfelder zu beseitigen“ (EG9N: 179) – hierzu gehören z.B. der Umgang mit Giftstoffen und Amalgam als Zahnfüllung sowie verschiedene Faktoren am Wohnort: Vor einem bevorstehenden Umzug rät deshalb eine Ärztin: „Dann achten Sie darauf, wohin Sie ziehen, dass Sie sich das auch ausmessen lassen von jemanden bezüglich Wasseradern, Elektrosmog. Dass keine Hochspannung in der Nähe ist. Und solche Sachen“ (EG9N: 197). Parallel zur medizinischen Behandlung wird von den Ärzten/innen vor allem der Verzicht auf Nikotin, Kaffee und Alkohol angeraten sowie Normalgewichtigkeit und mäßiger Sport. In der naturheilkundlichen Behandlung gehört der Rat zum Nikotinverzicht bei beiden Partnern zur ganzheitlichen Beratung. In der Reproduktionsmedizin ist das Rauchen der entscheidende Punkt, an dem die Männer verantwortlich gemacht werden: „Also, eine Schachtel am Tag über mehrere Jahre ist einfach Gift. Jetzt sagen Sie, es gibt aber auch ganz viele Raucher, die Kinder haben. Eigentlich schon. Haben Sie völlig Recht. Aber die Raucher haben, was weiß ich, als Kind keinen Hodenhochstand gehabt oder irgendetwas, was sie als Kind hatten, was keiner mitgekriegt hat, so Sie da einfach ein Fertilitätsproblem von sich aus sowieso schon haben. Ja, dann das Rauchen oben drauf und schon sind wir da, wo wir jetzt sind.“ (EG15R:72-73) „[…] die Embryonenqualität kommt immer von Eizelle und Spermium. Und wenn die nicht wirklich gut sind, dann ist die Chance einfach schlechter. Ich meine nicht, dass Sie jetzt nicht schwanger werden, wenn Sie jetzt rauchen, aber die Wahrscheinlichkeit ist um dreißig Prozent höher. Das ist ordentlich viel. Und da gibt es Studien zu, wo es wirklich bewiesen ist, dass das um dreißig Prozent schlechter ist bei Rauchern als bei Nichtrauchern. Und dreißig Prozent bei zwanzig Prozent Schwangerschaftsrate von Anfang an, dann sind wir halt bei zur Zeit zwölf bis fünfzehn Pro231

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zent und schon ist es einfach schlechter, als wenn man zwanzig volle hätte.“ (EG15R: 76)

Entsprechend dieser Überzeugung verfolgt die Klinik die Politik, keine IVF aufgrund eines schlechten Spermiogramms durchzuführen, solange der Mann noch raucht. So wendet sich eine Ärztin im Beratungsgespräch an ein Paar: „Wollen Sie ihm nicht mal den Kopf waschen? Wir machen keine ICSI, solange Sie rauchen“ (EG15R: 64f.). Wird in der Reproduktionsmedizin zu mäßigem Kaffee- und Alkoholkonsum geraten, so ist der Umgang mit Kaffee in der naturheilkundlichen Klinik umstritten: Während eine Homöopathin sehr strikt und v.a. an die Männer gerichtet vertritt: „Ich verbiete denen Kaffee. Und das müssen die Männer hören, weil die ja oft die Kaffeetrinker sind“ (A3N: 59) und in einem Erstberatungsgespräch entsprechend rät: „Kaffee, sagt man zum Beispiel, ist Zellgift. Also ist es auch mal ganz gut, den Kaffee bei beiden Partnern ruhig mal weglassen drei Monate“ (EG9N: 136), sieht ihre Kollegin dies als weniger entscheidenden Punkt: „Aber Kaffee, also ich fahr’ ja regelmäßig nach Locarno und dann, der Chef von dieser homöopathischen Klinik, der sagt auch, ich kann keinem eine Tasse Kaffee verbieten.“ (EG3N: 84)16

In der naturheilkundlichen Beratung nimmt außerdem eine ‚ausgewogene‘ Ernährung einen zentralen Stellenwert ein. „[D]ie pflanzliche Ernährung [soll] im Vordergrund stehen. Also wenig Fleisch, wenig Käse, wenig Quark. Also wenig Tierprodukte. Und ausreichend Trinken gehört auch dazu“ (EG9N: 178), und „[w]enn es irgendwie geht, ökologische Produkte. Also Produkte, die nicht so gespritzt, vergiftet sind“ (EG4N: 79). Auch hier wird vor allem eine Verbesserung der Spermienqualität erwartet: „Und dann hat man [in einer Studie] auch mal die Spermiumqualität von Männern untersucht, die eben so ökologisch biologisch sich ernährt haben, und die andere Gruppe, die eben alle so aus dem Supermarkt sich ernährt haben, da war die Gruppe, da hat die Gruppe auch eine deutlich bessere Spermiumqualität gehabt.“ (EG8N: 69)

Normalgewichtigkeit v.a. der Frauen wird ebenfalls in beiden Kliniken als wichtige Bedingung für die Verbesserung der Erfolgschancen angesehen. So formuliert eine Ärztin in der Naturheilkunde: „Gewicht in den normalen gesunden Bereich zu [bringen], das ist sowohl für diejenigen, die Übergewicht haben, als auch für diejenigen, die Untergewicht haben und

16 Auffallend ist hier, wie auch bei anderen ‚weicheren‘ Empfehlungen, die Berufung auf nicht näher erwähnte Autoritäten (Studien, Spezialisten) – diese Strategie wird in beiden Kliniken genutzt. 232

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damit dem herrschenden Schönheitsideal entsprechen, hm, nicht so leicht zu verstehen und auch nicht so leicht umzusetzen.“ (A6N: 24)

Empfohlen wird neben einer Ernährungsumstellung – „[a]lso wenig Kohlenhydrate essen, frisches Obst und Gemüse“ (EG4N: 87) – vor allem mäßiger Sport: „Sie sollten unbedingt noch Sport machen. Also, unser Ziel wäre 100 Kilo. Sie würden einfach deutlich besser auf alles [anspringen], weil Sie haben mit Übergewicht immer gleich ein erhöhtes Risiko für Thrombose und so. Wir haben das schon durch die Behandlung erhöht. Und das wird in der Schwangerschaft natürlich nicht besser.“ (EG14R: 509)

Auch für Männer verspricht regelmäßige Bewegung eine Verbesserung der Fruchtbarkeit, da diese den Stoffwechsel anregt und eine bessere Durchblutung der Hoden und somit die Spermienproduktion fördert.

2.4 Fertilitätssteigerung ohne Rezept Zwar sind Verzicht auf Nikotin und übermäßigen Konsum von Genussmitteln sowie regelmäßiger Sport und ein entsprechender Body-Mass-Index auch für Kinderwunschpaare Teil dessen, was sie sich unter einer gesunden Lebensweise vorstellen. Doch greifen sie, um die Chancen auf eine Schwangerschaft zu steigern, zusätzlich auch auf weitere Maßnahmen zurück. Zur Zyklusregulierung nehmen die Frauen sehr häufig Mönchspfefferkraut ein, das häufig in Internet-Foren von Betroffenen empfohlen wird. Eine Patientin beschreibt z.B. Mönchspfefferkraut als ersten Schritt in die richtige Richtung, während die gynäkologische Behandlung noch ohne Ergebnisse war: „Und dann fingen die Ärzte halt an so rumzuexperimentieren. Aber die haben ja auch nicht dieses fundierte Wissen, auf diesem Spezialgebiet, mit diesem Mönchspfefferkraut“ (P1R: 22). Viele Frauen und Männer berichten im Erstgespräch, dass sie regelmäßig Vitaminpräparate und Mineralien einnehmen. Auch während der Behandlung wird dies häufig für eine sinnvolle Unterstützung gehalten. So erzählt eine Patientin von ihrer ersten IVF-Behandlung: „Ich habe zum ersten Mal habe ich dann, habe ich extrem so einen Polypragmatismus gekriegt. Ich habe alles eingeworfen, was ich, was ich gedacht habe, was ich irgendwo mal gehört habe, was gut tut. Teures Zeug auch gekauft. Bei der Internetapotheke, bei diesem Doc-Morris. Ortomol ich weiß nicht, ob Sie diese Serie kennen, die gibt es für alles und nichts. Also Pülverchen, die man mixt und sich reinkippt (lacht) und ein Schweinegeld für Bezahlen für das Immunsystem. Ich habe mir dann so eine Immuntheorie aus dem Internet zusammengebastelt. Weil ja das Abstoßen oder Annehmen vom Embryo auch mit dem Immunsystem zu tun hat.“ (P6R: 170) 233

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Die Ärzte/Ärztinnen empfehlen allerdings eher eine ausgewogene, vitaminreiche Ernährung als die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln. Auch der Selbstbehandlung durch rezeptfreie Medikamente stehen sie eher skeptisch gegenüber. Mit zwei Ausnahmen: Männern wird gelegentlich zur Steigerung der Spermienqualität empfohlen: „Zink und [Vitamin] C [zu] nehmen, dann haben Sie alles Gute für das Spermiogramm getan“ (EG7R: 342). Allen Frauen in reproduktionsmedizinischer Behandlung wird darüber hinaus zu einer vorsorglichen Einnahme von Folsäure geraten. Denn, so der typische Rat im Erstberatungsgespräch: „[M]an sollte spätestens vier Wochen vor Schwangerschaft[sbeginn], lieber noch länger vor Schwangerschaftsbeginn, [Folsäure] einnehmen. Das kann bei einem Kind einen offenen Rücken und eventuell auch verschiedene Herzerkrankungen verhindern. Und da es nicht schadet und für die Nerven ganz gut ist, sollten sie das einnehmen.“ (EG1R 70-72)

Die Einnahme von Folsäure gehört für viele Patientinnen schon vorher zur Selbstverständlichkeit. Skeptisch sind hier lediglich einige Ärztinnen aus der Naturheilkunde, die häufig von einer längerfristigen Einnahme abraten. Eine Homöopathin rät den Paaren stattdessen zur regelmäßigen Einnahme von Omega-3-Fettsäuren: „Das einzige, was wirklich gut ist, was man nehmen kann heute, ist das Omega-3“ (EG4N: 145), „weil die wirken auch gegen Entzündungen“ (EG3N: 90).

Entspannung und positives Denken Die Mehrzahl der Medizinerinnen sieht im gestiegenen Erstgeburtsalter und einem aktiven und bisweilen mit Stress verbundenen Berufsleben insbesondere von Frauen einen wichtigen Grund für die gestiegene Nachfrage nach Kinderwunschbehandlungen. Hierbei wird in der Beratung ein direkter (biologisierter) Zusammenhang zwischen bestimmten Lebenssituationen und Fruchtbarkeit hergestellt, wie beispielsweise auch in einem der untersuchten Ratgeber: „Wenn Frauen eigentlich gerne ein Kind möchten, gleichzeitig aber fürchten, Familie und Beruf nicht vereinbaren zu können und finanzielle und berufliche Nachteile zu erleiden, kann sich der innere Konflikt körperlich in Unfruchtbarkeit ausdrücken […] In schwierigen Lebenssituationen wehrt sich der Körper gegen eine Schwangerschaft, um Kräfte zu schonen, zum Beispiel bei Berufswechsel, Prüfungen oder Erkrankungen eines Angehörigen.“ (Ratgeber1R: 84f.)

Alter und Stress werden jedoch auf gesellschaftliche Veränderungen zurückgeführt, die zwar aus medizinischer Sicht der Fertilität eher abträglich sind, aber als Teil eines normalen Lebensentwurfes gelten. Belassen es die Ärzten/innen in der Reproduktionsmedizin bei eher allgemein gehaltenen Ver234

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weisen, ist das Ziel der naturheilkundlichen Behandlung, insbesondere der Homöopathie, eine ganzheitliche Ausgeglichenheit, welche als Voraussetzung für die Erfüllung des Kinderwunsches gesehen wird. So lautet eine typische Empfehlung einer Ärztin: „Erstmal ein bisschen besinnen, erholen und mal so zu Ruhe kommen. Also ich denke schon, in der Zeit würde ich Entspannungsübungen machen, vielleicht ein bisschen Akupunktur, mich homöopathisch behandeln lassen. Das ist ja auch für die Psyche wichtig.“ (EG8N: 171)

Außerdem werden regelmäßige Spaziergänge – „[f]rische Luft ist immer wichtig“ (EG9N: 153) –, Entspannungsübungen, (Luna-)Yoga, Autogenes Training und Psychotherapie empfohlen. Häufig wird auch darauf verwiesen „dass man auch eher schwanger wird, wenn man im Urlaub ist, wenn man entspannt ist“ (A3N: 77). Patientinnen und Paare berichten selten davon, diese Betätigungen vor allem mit dem Ziel der Fruchtbarkeitssteigerung zu verfolgen. Eine Ausnahme bildet eine Patientin, die zu diesem Zweck einen Kurs in Luna-Yoga belegt hat: „Das ist eine spezielle Yoga-Form für Frauen. Das hat mit Fruchtbarkeit zu tun. Das ist eben auch für Frauen mit Kinderwunsch. Also man kann – man hat Erfahrungen damit gemacht. Luna-Yoga, dass man eben bis zu einem gewissen Grad die Fruchtbarkeit steigern kann, durch bestimmte Beckenbodenübungen. Yoga auch. Hab’ da angefangen, hat mir auch sehr gut getan. So im seelischen Bereich. Nur schwanger wurde ich trotzdem nicht.“ (P1R: 26)

Die Patientinnen selbst sehen sich meist erst durch die Behandlung einer hohen Belastung (etwa in Bezug auf Vereinbarkeit mit dem Beruf) und Stress ausgesetzt. Vor allem nach längerer Behandlung versuchen die Paare bewusste Erholungszeiten zu schaffen, etwa die Behandlung in den Urlaub zu legen, sich nach dem Embyronen-Transfer frei zu nehmen oder auch längere Pausen – wie eine Patientin beschreibt, „erstmal ein halbes Jahr Regeneration“ (P4R: 34) – zwischen den Behandlungen einzulegen. Entspannungstechniken werden häufig erst nach mehreren gescheiterten Versuchen gewählt, ‚um sich selbst wieder aufzubauen‘ – hierbei spielt allerdings häufig, wie auch oben im Fall des Luna-Yoga, die Hoffnung eine Rolle, auf diese Weise nicht nur die allgemeine Zufriedenheit, sondern auch die Fruchtbarkeit zu steigern. Neben alternativmedizinischer Begleittherapie durch Akupunktur oder Homöopathie wird vor allem auf nicht-westliche Praktiken zurückgegriffen. So erzählt eine Patientin von der positiven Wirkung der Fußreflexzonenmassage: „Oder, was ich jetzt noch nebenher mache, ist für mich, ich habe mich entschieden, Fußreflexzonenmassage machen zu lassen, ein bisschen unterstützend für mich, dass 235

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ich da ruhiger werde, und dass, man sagt mir auch, dass Blockaden gelöst werden. Also, in die Richtung und ich gucke, ob ich noch mal Akupunktur […].“ (P11N: 90)

Eine andere Patientin setzt neben der Akupunktur auf das chinesische Tai Chi: „Insofern, glaube ich, vielleicht etwas entspannter, weil ich mir sage, ich mache jetzt meine Akupunktur-Behandlung, Tai Chi, Ich stimme mich positiv auf die Welt ein, Und, hm, ja, mal gucken […].“ (P9R: 72)

Und eine weitere hat gute Erfahrung mit progressiver Muskelentspannung, insbesondere wenn sie befürchtet, dass die Behandlung scheitert: „[D]as ist so ein Anker“ (P2R: 160). Diese Patientinnen gehen wie viele andere auch davon aus, dass eine positive Einstellung sich förderlich auswirkt. Denn „[d]er Gedanke [, dass es nicht klappt,] an sich oder tut irgendwo das ganze Thema irgendwie negativ beeinflussen“ (P2R:162). Die Entspannungstechniken sind hierzu ein Weg. In der Reproduktionsmedizin wird kein direkter Zusammenhang zwischen Positivem Denken und gestiegenen Erfolgschancen gesehen, wie eine Ärztin erläutert: „Es gibt sicher optimistische Patientinnen, die das Ganze entspannter sehen. Es gibt sicher die Gruppe der einfach von vorneherein eher pessimistischen Patientinnen […], wobei weder das eine noch das andere eine Schwangerschaft ausschließt. Im Endeffekt habe ich nicht den Eindruck, dass das wirklich auf das Endergebnis irgend[eine Auswirkung] hat.“ (A2R: 64)

Nichtsdestotrotz rät dieselbe Ärztin in demselben Beratungsgespräch, dass das Paar „es möglichst entspannt angehen [sollte], soweit wie möglich“ (A2R: 136). Darüber hinaus ist die ganze Behandlung so aufgebaut, dass alle Zweifel und Fragen im Erstberatungsgespräch erläutert werden sollen, denn anschließend „läuft nur noch Schema [F], da fragt auch keiner mehr, die müssen sich im Klaren sein, dass sie das auch wirklich wollen“ (A7R: 144). Als ‚Expertinnen ihrer selbst‘ übernehmen die Patientinnen die Verantwortung für das Gelingen. Die Gründe für ein (statistisch ohnehin ziemlich wahrscheinliches) Scheitern der Behandlung werden so selten im medizinischen Ablauf wie etwa einer ungünstigen Stimulierung gesucht oder als Schicksal oder Pech akzeptiert. Vielmehr hinterfragen sich die Patientinnen und ihren Umgang mit ihrem Körper: „Warum ging das nicht? Und dann fängt man an zu grübeln: War es mein Kopf? War es mein Bauch? Mein Mann? Hab ich zu viel Stress gehabt? Bin ich ungesund gewesen? Habe ich mich nicht gut ernährt? Habe ich vielleicht Alkohol getrunken? Man denkt wirklich alles Mögliche.“ (P9R:68)

An einer anderen Stelle betont dieselbe Patientin noch einmal, dass allein die Einstellung möglicherweise entscheidende körperliche Auswirkungen hat: 236

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„Aber es ist immer die Frage, wie weit man sagt, man kniet sich da voll rein. Weil, wenn es nicht klappt, muss man sich selber auch vorhalten, vielleicht war ich selber nicht genug hinterher. Vielleicht hab ich das nicht wichtig genug genommen“ (P9R: 31).

Die Wichtigkeit der aktiven Teilhabe am Behandlungsgeschehen (und der Beitrag zum eventuellen Erfolg) deckt sich auch mit der Beobachtung der Ärzten/innen, die den Eindruck haben, dass das Warten bis zum Ergebnis des Schwangerschaftstests das Schwierigste für die Paare ist: „Trotzdem durch das Agieren habe ich manchmal das Gefühl, sie stecken das besser weg als hinterher die zwei Wochen Wartezeit. [ … Vorher] können sie etwas tun. Sie tun was und haben dann die Hoffung, dass es zu was führt. Die Übelkeit bringt ja vielleicht auch was.“ (A16R: 127-129)

Scheint der Körper hier berechenbar und durch medizinische Interventionen wie somatische Selbsttechniken zumindest bedingt steuerbar, nutzten Paare und Ärzten/innen‚Unberechenbarkeit der körperlichen Natur der Reproduktion‘ als Argument, um ‚Sinn‘ aus der Behandlung und insbesondere Misserfolgen zu machen und Erfolgsaussichten abzuschätzen. Die grundsätzliche Frage, ob die Erfüllung des Kinderwunsches mit IVF/ICSI ethisch vertretbar ist, stellt sich für die Ärzten/innen – nach eigenen Aussagen – eher selten. In diesem Fall wird der Natur die Funktion eines Sicherheitsnetzes zugewiesen: „Es gibt immer noch sehr, sehr viele Grenzen, die trotzdem noch überwunden werden müssen. Also es ist nicht so, dass man alles aufhebt, und plötzlich wird befruchtet, was vorher nicht befruchtet worden wäre. Es gibt schon noch Barrieren des Körpers.“ (A16R: 149)

Steht für diese Ärztin die allgemeine Frage im Vordergrund, wie weit technische Eingriffe in die natürlichen Reproduktionsabläufe eingreifen dürften, verlässt sich eine Kollegin ganz praktisch auf eine sozialdarwinistische Funktion der Natur: „Bei manchen IQs, da wundert man sich. Hm, ich glaube, die Natur hat immer noch so viele Sicherheitsmaßnahmen eingebaut, dass, wenn bei wirklich drastischen Fällen, die dann auch nicht schwanger werden. Sag’ ich jetzt mal – so ein bisschen gemein gesagt. Also, da sind noch genügend Sicherheitsraster drin, denke ich, die wir nicht überspringen können.“ (A13R: 132)

Auf diese unsichtbaren ‚natürlichen‘ Barrieren wird v.a. dann verwiesen, wenn die Behandlung scheitert und wenn, wie es häufig der Fall ist, keine eindeutige Ursache benannt werden kann. Eine Patientin formuliert dies so: „Also, ich bin der Meinung, dass Empfängnis und Geburt […] eins der größten Geheimnisse [sind] und da doktort die Medizin gerade relativ viel dran herum. Also, 237

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die Quote ist auch ein Indikator dafür. Trotz allem, was man macht. Das Milieu verbessert, hier und da, kriegt man keine bessere Quote hin. Und das ist irgendetwas, wo die Natur über dem Menschen steht. Finde ich.“ (P6R: 128)

3. Fazit oder „Protect Your Fertility“ Immer häufiger und selbstverständlicher greifen ‚ganz normale‘, oft nach herkömmlichen Definitionen ‚ganz gesunde‘, Menschen auf reproduktionsmedizinisches Expertenwissen zurück, um mit Hilfe von Biotechnologien die ‚quasi-natürliche Selbstverständlichkeit‘ des Kinderkriegens einzulösen. Ich habe am Beispiel der medizinischen Behandlung von Kinderwunschpaaren zu zeigen versucht, dass auch in der Reproduktionsmedizin der Körper nicht etwa verschwindet, sondern vielmehr ein wichtiger Kristallisationspunkt der Aushandlungsprozesse zwischen Ärzten/innen auf der einen und den behandelten Paaren auf der anderen Seite, der Rückversicherung über Grenzverschiebung, der Selbstversicherung der Patienten/innen ist. So werden Körper zwar durch medizinische Zu- und Eingriffe objektivierte Gegenstände, und die Übernahme biowissenschaftlicher Erklärungsmodelle – prominent das der Hormone oder der Gene – sind für die Paare zentral, um dem medizinischen Geschehen einen Sinn zu geben. Gleichzeitig werden die Patienten/innen aber eingebunden in ein ambivalentes Feld reflexiver Selbsttechnologien mit neuen Normierungen, Unsicherheiten, Risiken und Verantwortungen. Medizinische Beratung übernimmt hier die Strukturierung der Selbstreflexion und, wie Duttweiler es allgemein für Beratung formuliert, liefert „Informationen und Deutungsvorschläge und kann zur Lösung hinführen, doch all dies bereitet die Entscheidung lediglich vor, getroffen werden sie von den einzelnen selbst“ (Duttweiler 2004: 26). Gerade in der reproduktionsmedizinischen Behandlung ist die ‚Mitarbeit‘ und ‚Eigenverantwortung‘ der Patienten/innen Voraussetzung für ihre Durchführbarkeit. So werden sie einschließlich ihrer Körperwahrnehmung auf spezifische Weise „aktiviert“ (Kocyba 2004), in die Behandlung integriert und für den (erfolgreichen) Verlauf verantwortlich gemacht. Informationen und Deutungsvorschläge beziehen die Paare in der Regel nicht nur aus der gerade behandelnden Klinik: als ‚mündige Patienten/innen‘ informieren sie sich vielmehr über eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten und -risiken, Kliniken und Alternativen und begreifen ein breites Spektrum ihrer Lebensweise als potenzielles medizinisches Problem. Gerahmt wird diese Entwicklung auch in Deutschland zum einen von einer Tendenz zur Individualisierung von Krankheit und zur Verantwortung für den Gesundheitserhalt sowie von einer neoliberalen Umstrukturierung von Wohlfahrtsstaat und Gesundheitsvorsorge zu mehr Eigenverantwortung. Zum anderen

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lassen sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ähnliche „Mikrotechniken“ beobachten: „Konzepte wie Aktivierung, Empowerment, Partizipation und Flexibilität, deren Wurzeln auf die Kämpfe sozialer Emanzipationsbewegungen zurückweisen, haben sich in institutionelle Anforderungen und normative Erwartungen verwandelt – Subversion ist zur Produktivkraft geworden. So scheint es, als müssten die Menschen nicht mehr diszipliniert werden, sondern würden sich durch die ihnen auferlegten institutionellen Arrangements hindurch selbst verwirklichen; als müssten sie nicht angeleitet werden, sondern würden sich selbst mobilisieren.“ (Bröckling et al. 2004: 14)

Die Ver(natur)wissenschaftlichung, oder mit Adele Clarke et al. (2003) „Biomedikalisierung“, die sich nicht auf eine unmittelbare Behandlungspraxis beschränkt, sondern vielmehr in verschiedene Lebensbereiche diffundiert und dort relevant gemacht wird, bereitet den von der Kinderwunschbehandlung eingeforderten somatischen Selbsttechniken einen fruchtbaren Boden. Diese somatischen Selbsttechniken sind deshalb nicht zufällig höchst anschlussfähig an die von den Paaren zunächst unabhängig von der Behandlung praktizierten. Viele Aspekte des Alltagslebens, die den Umgang mit sich selbst und dem eigenen Körper betreffen – wie Ernährung, Bewegung, Genussmittelkonsum, Arbeitsbelastung, Urlaubsplanung und Sexualität – werden nun als medizinische, v.a. individuell zu verantwortende Probleme verstanden. Aber auch bei den Versuchen, Sicherheit und Zuversicht während der belastenden Behandlung wiederzugewinnen, werden häufig somatische Selbsttechniken gewählt, die nur oberflächlich der Schulmedizin zu widersprechen scheinen: In ‚fernöstlichen‘ Praktiken wie Yoga oder Tai Chi wird ein anderes Verhältnis von Körper und Geist gesucht, aber einfach eine noch weitergehende Form der spezifischen (medikalisierten) Sorge um sich selbst gefunden. So gehen in der alternativmedizinischen Behandlung die Anforderungen an sich selbst, die Beherrschung und der Einsatz somatischer Selbsttechniken, eher noch weiter als in der Reproduktionsmedizin: Im Rahmen einer ganzheitlichen Behandlung wird häufig eine grundlegende Lebensumstellung verlangt, und gleichzeitig wird von den Patienten/innen erwartet, „dass sie sich in der Behandlung beobachten“ (A15N: 134). Eine der naturheilkundlichen Ärztinnen betont darüber hinaus die allgemeine Notwendigkeit, die Fruchtbarkeit bewusst zu erhalten. Hierzu schlägt sie öffentliche Kampagnen als ein geeignetes Mittel vor: „Es gab in Amerika, da war wirklich mal eine Kampagne von der Gesellschaft für Reproduktionsmedizin in allen Supermärkten, wo überall stand, protect your fertility, und was man eben alles tun und lassen sollte, um eben seine Fertilität zu schützen. […] Aber, und trotzdem muss man eben wissen, Fertilität kann eben auch ge239

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stört und behindert werden, und zwar nicht nur durch äußere Faktoren, sondern eben auch durch das eigene Verhalten. Und es gilt sie zu bewahren. Wie alle anderen Körperfunktionen letztlich auch.“ (A6N: 112, 118)

Dieser Zustand der ‚biomedikalisierten Vorschwangerschaft‘ mit einer umfassenden Verantwortung für den eigenen körperlichen Zustand und das Wissen darüber ist nicht auf die Kinderwunschbehandlung beschränkt. Er findet seine Parallelen, wenn ‚ganz normale Paare‘ schwanger werden wollen – etwa wenn der Zeitpunkt des Eisprungs mit dem Fruchtbarkeitscomputer abgepasst, im Terminkalender eine Lücke für die Zeugung zum richtigen Zeitpunkt gefunden werden muss oder aber Monate vor dem Eintreten der Schwangerschaft der Kaffee- und Weinkonsum zugunsten der Einnahme von Folsäuretabletten aufgegeben wird. In der Schwangerschaft findet dies seine Fortsetzung – mit einer kontinuierlichen ärztlichen Kontrolle und einer Vielzahl von Risiken, aber auch in alternativeren, somatisch-selbstreflexiven Formen: Was für den Kinderwunsch Luna-Yoga, ist für die Schwangere Schwangeren-Yoga und für die junge Mutter Baby-Yoga oder Pekip. Charakteristisch ist, dass die Biomedikalisierung v.a. Frauen adressiert – hier ist der frühen feministischen Kritik nach wie vor recht zu geben. Männer werden jedoch nicht nur im eher privaten Rahmen als Teil eines Kinderwunschpaares in medizinischer Behandlung angesprochen, sondern durchaus auch in öffentlichen Appellen: so etwa, wenn sie (und wir alle) auf Zigarettenschachteln gewarnt werden: „Rauchen kann Spermatozoen schädigen und schränkt Ihre Fruchtbarkeit ein.“

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Habe den Mut, Dich Deines Körpers z u be dienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenw art zw ischen Selbstermächtigung und Selbs tunte rw erfung PAULA-IRENE VILLA Laut Schätzungen unterziehen sich in der Bundesrepublik derzeit zwischen 700.000 und 900.000 Menschen pro Jahr einer plastischen Chirurgie. Tendenz: steil steigend. In den USA unterzogen sich laut Statistiken 1997 ca. 2,1 Millionen Frauen in den USA einer plastischen Chirurgie, 2007 waren es mehr als 10 Mio. – das ist eine Steigerung von beinahe das fünffache in zehn Jahren und zwar in einem bezogen auf die Gesamtbevölkerung quantitativ relevanten Sinne. Frauen machen (nach wie vor) das Gros der Klientinnen/Patientinnen aus, nämlich ca. 90%. Anders gesagt: Auch wenn die Tendenz steigend ist, so machen in den USA Männer einen Anteil von knapp 10% an denjenigen aus, die sich einer kosmetisch orientierten plastischen Chirurgie unterziehen. An erster Stelle der ‚Hitliste‘ der entsprechenden Eingriffe standen 2007 bei den Frauen Brustvergrößerung, gefolgt von Fettabsaugung und Nasenveränderungen. Bei den Männern wurden am häufigsten Nasen verändert, dann Augenlider und an dritter Stelle stand die Fettabsaugung. Beide Geschlechter nehmen gleich ‚gern‘ Faltenbehandlungen, allen voran mit Botox in Anspruch, wenn man die so genanten ‚minimalinvasiven‘ Eingriffe auswertet. Und schließlich, als letztes quantitatives Exempel, das Alter: In den USA machten die 13-19 Jährigen im Jahr 2007 einen Anteil von 5% an der Gesamtzahl der Behandelten aus; das Gros stellt laut Selbstaussage des amerikanischen Verbandes der plastischen Chirurgie die Brustreduktion bei männlichen Jugendlichen dar, gefolgt von Ohranlegen bei beiden Geschlechtern. Anders als weithin kolportiert, verzeichnet der Fachverband in dieser Altersgruppe einen Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahr – al-

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lerdings ist dies ein Durchschnittswert; Brustvergrößerungen und Brustreduktionen sind im selben Zeitraum um 14% bzw. 18% gestiegen.1 Viele weitere, drastische Zahlen ließen sich anführen. Das sozialwissenschaftlich Interessante sind allerdings weniger die quantitativen Details als vielmehr die Relevanz des Phänomens ‚plastische Chirurgie‘ für unser aller Alltag durch die in den Praxen und in den auch medialen Auseinandersetzungen um das Thema eingelassenen, ungeklärten und hochgradig irritierenden normativen Dimensionen der Körperarbeit. Ein nüchterner, interessierter und soziologisch informierter Blick auf das Phänomen der plastischen Chirurgie – wie ich ihn werfen möchte – zwingt zunächst zur gesteigerten Reflexivität. Denn es wird schnell deutlich, dass wir es bei der plastischen Chirurgie (vor allem, wenn sie als ‚Schönheitschirurgie‘ betitelt wird) zugleich mit Medizin wie mit ‚Wellness‘ zu tun haben, mit Leid und Frivolität, mit Wissenschaft und Kommerz, mit Freaks und ‚Frau Mustermann‘ bzw. ‚Otto Normalverbraucher‘. Eines ist dabei sicher: Die gegenwärtige Thematisierung der plastischen Chirurgie, etwa in den Medien oder in der Politik, fordert zu Grenzziehungen heraus, eben weil sie diese in Frage stellt. Das ist nicht zuletzt an den politischen Debatten rund um das Thema zu sehen – diese schwanken, kurz gesagt, zwischen Voyeurismus und Alarmismus, zwischen tabuisierenden Verbotsgelüsten und intensiver Diskursivierung.2 Schienen bis dato die Grenzen zwischen medizinischer Therapie einerseits und Wohlfühlbehandlung andererseits konsensuell – und sei es nur, weil darüber nicht hörbar viel gesprochen wurde –, so wird heute öffentlich thematisiert und debattiert, was denn das eine überhaupt vom anderen trenne. Als Soziologin möchte man zunächst sagen: Und das ist auch gut so! Das meine ich hier auch gänzlich ironiefrei: Es ist tatsächlich grundsätzlich und immer begrüßenswert, wenn über ehedem

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Allerdings ist den entsprechenden Zahlen mit der üblichen sozialwissenschaftlichen Skepsis zu begegnen: Die Dimensionen werden sicher stimmen, aber verlässliche Zahlen über das Ausmaß der plastischen Chirurgie sind deshalb schwer zu bekommen, weil sie nicht von einer neutralen Stelle erfasst werden. So beruhen die Schätzungen auf Selbstaussagen der (verschiedenen) Berufsverbände, z.B. der GÄCD, der DGÄPC, der ASPS/PSEF (USA) und auf verschiedenen journalistischen Recherchen. Vgl.: Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland e.V.: Neue Statistik der Schönheitsoperationen 2004 (http://www. portal-der-schoenheit.de/News/08.09.2005-GAeCD-mit-neuer-Statistik-zuSchoenheitsoperationen.php vom 19.5.08). Dass mit diesen Zahlen durchaus auch (Selbst-)Werbung gemacht wird,lässt schon der Name entsprechender Internet-Portale erkennen (z.B. „Portal der Schönheit“, „Schönheit und Medizin“). Ein genauerer Blick in die Seiten belegt dies deutlich. So etwa, wenn der Bundestag in einer Anhörung am 23.4.2008 über ein gesetzliches Verbot der Anwendung der plastischen Chirurgie bei Minderjährigen debattierte. Vgl. die fraktionsübergreifende Vorlage zur Anhörung Drucksache 16/6779 des 16. Deutschen Bundestags unter http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/16/067/1606779.pdf. vom 19.5.2008.

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tabuisierte oder tradierte und damit bislang eingeschränkte Handlungsoptionen öffentlich verhandelt wird. Denn dies zeigt nicht mehr – aber eben auch nicht weniger –, als dass sich Optionen des alltäglich Möglichen vervielfachen. Wie ich noch darstellen werde, gehe ich – mit einer Reihe Autoren/innen – davon aus, dass gesellschaftliche Reflexivierung ein zentrales Moment sozialer (Post-)Modernisierung ist und dass das genuin modernisierende Element in der Freisetzung von individuellen Handlungsoptionen liegt. Aus der Entscheidungsmöglichkeit – tue ich etwas? Was tue ich? Tue ich es nicht? – folgt die Begründungsnotwendigkeit – warum tue ich etwas, etwas anderes aber nicht? – und es folgt immer auch die Entscheidungszumutung, d.h. die gesellschaftliche Anforderung, sich mit Handlungsoptionen auseinanderzusetzen. Das Letzere zudem nicht jenseits von Herrschaftskonstellationen und nicht jenseits mehr oder weniger handfester Interessenskonflikte liegen, macht dies noch schwieriger. Kurz gesagt: Gesellschaftliche Modernisierung ist im Kern Reflexivierung und dieser Prozess ist notwendigerweise ambivalent: Er eröffnet Handlungsspielräume und Alternativen zu vormals vorgegebenen Pfaden, bringt aber Menschen zugleich nicht nur in Handlungszwänge und Rechtfertigungsnöte, sondern tut dies immer auch in einem herrschaftsförmigen Rahmen: Nicht alle Optionen sind für alle gleichermaßen verfügbar, nicht alle Begründungen gleichermaßen legitim, nicht alle Positionen finden auf dem ‚öffentlichen Markt der Meinungen‘ gleiches Gehör. Handlungsspielräume sind immer also auch Arenen im Kampf um Deutungshoheiten: Wer darf was wann warum (nicht)? Das ‚was‘ ist dabei nicht unwichtig; tatsächlich macht es eben einen großen Unterschied für Fragen der sozialen Legitimation, der wirtschaftlichen Dimension, der Verfügbarkeit von Optionen usw., ob Menschen einen chirurgischen Eingriff mit dem eitlen Streben nach ‚Schönheit‘ und individuellen Wohlgefühl begründen – ‚Schönheitschirurgie‘ – oder ob sie aus einer Position des krankmachenden Leidensdrucks handeln, der sie zudem in ihrer sozialen Teilhabe beschränkt – unter der sprachlichen Bezeichnung ‚plastische Chirurgie‘.3 In manchen Fällen wird z.B. die Krankenkasse für Kosten aufkommen, in anderen nicht; in manchen Fällen wird das soziale Umfeld mit Verständnis und Unterstützung reagieren, im anderen Fall mit Fassungslosigkeit, Vorwürfen und womöglich mit Spott oder gar Ausgrenzung. Auf die plastische Chirurgie gewendet, werden derzeit entsprechende Fragen virulent: Geht es dabei überhaupt (noch?) um Medizin oder (bereits?) um Lebensstil und Optimierung? Sind die betroffenen Menschen Patienten/innen oder Kunden/innen? Sind sie Opfer eines perversen ‚Körperkults‘, der nur

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Zur kritischen Diskussion der ‚Schönheit‘ aus soziologischer Perspektive vgl. Degele 2004 sowie Degele in diesem Band. Für die Grenzziehungen im Feld vgl. Meili in diesem Band. 247

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vordergründig etwas mit Schönheit zu tun hat, in Wirklichkeit aber auf die Zurichtung wettbewerbsfähiger Körper abzielt? Oder sind diejenigen, die sich etwa Zähne richten, Bauch straffen oder die Augenlider heben lassen besonders selbstbewusste und handlungsmächtige Personen, die ihren Körper selbst in die Hand nehmen und damit im besonderen Maße die moderne individuelle Autonomie in rationaler Absicht praktizieren? Frei nach Kant: Habe den Mut, Dich Deines eigenen Körpers zu bedienen.4 Demnach wäre die Inanspruchnahme der plastischen Chirurgie unter Umständen die real geworden Verkörperung des bürgerlichen Subjekts, das – wie Reckwitz ausführt (z.B. 2006: 112) – eine souveräne Selbstregierung betreibt, die ihrerseits die Disziplinierung des Erratischen in Körper und Geist sowie das individuelle Management sozialer Risiken und Kontingenzen beinhaltet.

1. These: Die Geburt einer neuen Geschlechterdifferenz im Z e i c h e n i h r e r t e c h n i s c h e n M ac h b a r k e i t Zugespitzt lautet vor diesem Hintergrund meine These, die ich am empirischen Exempel der plastischen Chirurgie entfalten möchte, dass wir derzeit der Geburt einer ‚neuen‘ Geschlechterdifferenz aus dem Geist spezifischer Reflexivierungsdiskursen und im Lichte technischer Machbarkeiten beiwohnen. Geburtshelferinnen sind, auch dies werde ich noch ausführen, u. a. die zweite Frauenbewegung und die sich daraus entwickelnde Geschlechterforschung. Bei gleichzeitiger Dramatisierung der Geschlechter-Differenz (etwa in den Medien) geht es, so meine ich, zunehmend nicht mehr darum, diese praxeologisch als Ausdruck einer inneren Natur zu inszenieren – vielmehr geht es zunehmend darum, die mühsame Arbeit ihrer Herstellung offensiv zur Schau zu stellen und erst dadurch zu einem geschlechtlichen Subjekt von Gewicht zu werden.5 Die neugeborene Differenz ist also nicht mehr als natürliche kodiert, sondern als Effekt sichtbarer (mehr oder minder arbeitsintensiver) Körpermanipulationen, die ihrerseits spezifischen normativen Mustern folgen. Diese diskursive Umstellung – von einer ‚natürlichen‘ zur selbst gemachten Geschlechterdifferenz unter Zuhilfenahme verschiedener, vor allem medizinischer Technologien – enthält sowohl Kontinuitätsmomente als auch Brüche

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Wie weithin bekannt, besteht ja der Kern der Aufklärung als normatives, politisches und gesellschaftliches Projekt in dem Gebot, sich „seines Verstandes selber zu bedienen“ anstatt sich dies von Experten oder (z.B. religiösen) Traditionen abnehmen zu lassen. Es geht, so Kant, um den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wobei Letztere nichts anderes ist als die ‚Feigheit‘ vor dem eigenen Verstand bzw. die „Faulheit“ diesen zu benutzen. Vgl. Kant 1784: A481f. Frei nach Butlers Titel „Körper von Gewicht“ (Butler 1995).

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zu vorgängigen Semantiken und performativen Inszenierung der Geschlechterdifferenz. Denn die Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz, ihre ‚Wohlgeformtheit‘ (vgl. Lindemann 1993: 179) war noch nie die bloße Verwirklichung eines natürlichen Tatbestands im biologistischen Sinne, etwa als Materialisierung eines objektiven Programms, das menschliche Körper als weibliche oder männliche jenseits sozialer Praxen ausweist. Die Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz ist und war vielmehr immer schon eine Naturhaftigkeit, die paradoxerweise sozial hergestellt wird (und wurde) und deren soziale Herstellung lediglich ein gut gehütetes, aber weithin offenes Geheimnis darstellt(e).6 Die Erzeugung der Geschlechterdifferenz qua sozialer Praxen und im Kontext realitätsmächtiger Diskurse ist also nicht neu, insofern stellt dies eine historische Kontinuitätslinie dar. Gleichwohl ist der gegenwärtig sich abzeichnende Modus dieser Erzeugung anders als historisch vorgängige. Es gibt also auch Brüche. Einer von ihnen besteht, so meine Annahme, in der Hegemonie eines spezifischen ökonomisch inspirierten Optimierungsgebots als gewissermaßen übergeordnete Subjektivierungsweise. Körperarbeit, auch die geschlechtlich relevante, folgt zunehmend der Logik eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007), das unter „dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes“ steht (ebd.: 283). Geklammert werden die Kontinuitäten und Brüche also durch die, im Übrigen immer gegebene, Amalgamierung diskursiver Normen der Geschlechterdifferenz einerseits mit anderen gesellschaftlichen ‚Großdiskursen‘, insbesondere denjenigen zur Subjektförmigkeit, andererseits. Diese „gesellschaftlichen Subjektkulturen“ (Reckwitz 2006) bilden gewissermaßen den Intelligibilitätsrahmen für auch geschlechtliche Subjekte. Der aktuelle Subjekt-Diskurses ist nämlich ein anderer als die entsprechenden Semantiken etwa der Romantik im 19. Jahrhundert oder der subkulturellen (und postmodernen) Konstellationen im späten 20. Jahrhundert (vgl. Reckwitz 2006: Kap. 3 und 4). Vor diesem Hintergrund behaupte ich also, dass die sich neu abzeichnende Fassung einer arbeitsintensiven Geschlechterdifferenz als Phänomen eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) betrachtet werden muss, dessen Mantra die Optimierung in ökonomischen Sinne ist. Körperarbeit, so meine ich, materialisiert dieses Mantra möglichst überzeugend in nach außen sichtbarer und nach innen spürbarer Weise.7 Nicht mehr die Entfaltung einer inneren Natur

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Vgl. aus der Fülle an wissenschaftshistorischen und -soziologischen Arbeiten z.B. Bourdieu 2005; Fausto-Sterling 1992; Hirschauer 1994; Honegger 1992; Laqueur 1992. Vgl. für die Binnendimension der beständigen Körperoptimierung als Thema der Literatur den Beitrag von Fleig in diesem Band. Auch Pauly Morgan greift in ihrem Beitrag das affektiv-biografische Erleben von Körpermanipulationen einer (‚übergewichtigen‘) Frau auf. 249

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ist also das Leitmotiv der Geschlechterdifferenz, sondern die fortdauernde, nie abschließbare Optimierungsarbeit am – körperlichen – Selbst.

2. These: Selbstermächtigung und Selbstbeherrschung qua Körper sind gleichursprünglich Meine zweite These ist, dass die Emergenz dieses Diskurses, vor allem hinsichtlich seiner somatisch wirksamen Dimension – ökonomisch inspirierte Körperarbeit zur Erzeugung der Geschlechterdifferenz – im Zusammenhang mit der Neuen Frauenbewegung steht. Dieser Zusammenhang ist höchst unfreiwillig und für kritisch-feministische Perspektiven (wie auch ich sie vertrete) enorm irritierend. Denn wer möchte schon der Neuen Frauenbewegung eine Mitverantwortung an der ‚Zurichtung‘ von Frauenkörpern durch Skalpell und Lasertechnik am Maßstab der Körper von Pamela Anderson (pornoweiblich) oder Sharon Stone (ewig jung, fit, erfolgreich) geben? Und doch gilt es anzuerkennen, dass die Verwandlung von individuellen Körperleibern in zu bearbeitende Fleischblobs (vgl. Strick in diesem Band) auch zehrt von der ‚Rohstoffisierung‘ des Körpers, den die Frauenbewegung katalysiert hat und auch von der Durchsetzung einer Konstruktivismus-Rhetorik innerhalb der Geschlechtertheorien, die allzu willig popularisiert und damit auf fragwürdige Weise vereinfacht wurde. Die feministische Selbstermächtigung qua Körper – „Mein Bauch gehört mir“; „Our Bodies, Our Selves“ (Boston Health Colletive 1980) – ist im Kontext einer Individualisierungsideologie ‚light‘ zum Geburtshelfer geworden für eine radikal individualistische Manipulation des Körpers, die oft nicht weiß um die sozialen Zwänge bzw. Entscheidungskorridore, die jede noch so autonome Entscheidung mit-konstituieren. So gesehen, ist jede selbst-ermächtigende Körperpraxis – und die qualitativen Studien etwa mit Klientinnen der ‚Schönheitschirurgie‘ zeigen deutlich, dass dies ein ganz zentraler Aspekt ihrer durchaus reflektierten, selbstbewussten Entscheidungen ist – immer auch eine Unterwerfung unter soziale Normen.8 Die Beherrschung des Selbst durch die bewusste Manipulation des Körpers im Dienste hegemonialer Normen ist also die eine Seite der Medaille, deren andere Seite die Selbstermächtigung durch die Verfügbarkeit des eigenen Körpers. Auch hierauf werde ich noch ausführlicher eingehen.

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Vgl. zu den qualitativen Studien mit Klienten/innen der ‚Schönheitschirurgie‘ Borkenhagen 2003, Davis 2003 sowie Davis in diesem Band.

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3. These: Zw i s c h e n F r i s e u r , P e r m a n e n t M a k e - u p , Botox-Spritze und chirurgischer Brustvergrößerung liegt ein Kontinuum Körpermanipulationen – sei es die plastische Chirurgie oder der Friseurbesuch und alles was dazwischen liegt – sind weder neu noch singulär. Dass wir als Menschen unseren Körper haben, gehört zu unserer sozialen Natur. Wir sind ein Leib, wir haben einen Körper (Gugutzer 2004: 146ff; Villa 2007). Über unseren Körper können wir demnach durchaus verfügen, fast so wie wir über Objekte wie einen Schreibtisch oder Kleidung verfügen.9 An dieser Tatsache entzünden sich denn auch die ethischen Fragen, die die Körperlichkeit des Menschen betreffen. Im Kern laufen diese immer auf die Frage zu: Wie sehr ist unsere körperliche Natur verfügbar? Wie sehr können wir mit ihr instrumentell umgehen? So sehen derzeit manche Bioethiker/innen die „technische Neuerfindung des Menschen“ (Siep 2006: 22) nicht nur als ein Möglichkeitshorizont mit Chancen und Risiken, sondern vor allem ein Gebot: „[A]uch die Höherzüchtung des Menschen ist ein Akt menschlicher Kreativität, d.h. eine genuin menschliche Fähigkeit.“ (Ebd.) Andere warnen vor den gravierenden Problemen und immanent eingebauten Widersprüchen, wenn wir Menschen uns am Ideal des „perfekten Menschen“ orientieren und dabei vergessen, dass Perfektion und Menschlichkeit keinesfalls einen logischen Zusammenhang bilden (vgl. Böhme 2003). Und wieder andere sehen gar die sträfliche Anmaßung der Menschen „Gott spielen“ zu wollen, wenn sie sich an die Körpermanipulation machen (von Rohr 2004). Gott allerdings hat hiermit herzlich wenig zu tun – es ist unsere menschliche Natur, die uns diese Probleme schafft. Denn ebenso gut könnte man die gesamte Medizin oder Architektur als Häresie abtun insofern sie dem göttlichen Schicksal ins Handwerk pfuscht.10 Man mag nun um die Semantik und um die politischen Implikationen von „Höherzüchtung“ oder „Perfektion“ streiten – und sollte dies in meinen Augen auch unbedingt11 –, doch es ist unbestreitbar so, dass unsere genuin menschliche Kreativität eben auch darin besteht, unsere Körper (bzw. unsere 9

Aber auch nur fast! Denn als Menschen haben wir eben nicht nur einen Körper, wir sind zudem ein Leib. Und zwar beides gleichzeitig und gleichursprünglich. Die leibliche Dimension ist weitaus weniger instrumentell verfügbar als der Körper, da sie das radikal subjektive Binnenerleben bezeichnet, zu der keine (etwa kognitive) Distanzierung möglich ist. Vgl. hierzu Villa 2007. 10 Eine einführende Übersicht zu den Ambivalenzen der Bioethik leisten Ach/Pollmann 2006. 11 Eine in meinen Augen hervorragende zivilgesellschaftliche Debatte zu diesen Fragen findet statt im Internetportal www.1000fragen.de, das von der „Aktion Mensch“ (vormals „Aktion Sorgenkind“) 2002 ins Leben gerufen wurde. 251

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auch physiologische Natur) zu gestalten. Die Verfügbarkeit unseres Körpers ist demnach keineswegs eine kontingente Dimension unserer Sozialität, sondern ein zwingender Konstituens selbiger. Und doch ist die Art und Weise, auch die ‚Tiefe‘ dieser Verfügbarkeit historisch, politisch, sozial je spezifisch. Wir können mit unseren Körpern alles Mögliche machen – aber es ist nicht überall alles für alle möglich. In diesem Sinne gilt es genau hinzuschauen, wie gesellschaftlich mit dieser sozialen Natur unseres Körperhabens umgegangen wird. Denn noch so individuelle, ja intime Verfügungen über den eigenen Körper sind immer durchtränkt von gesellschaftlichen Normen, von Traditionen, strategischen Kalkülen und Phantasien. Dass im 19. Jahrhundert bürgerliche Frauen Korsetts trugen, dass diese erst im Zuge avantgardistischer und/oder emanzipatorischer Praxen sich anmaßten, Hosen zu tragen; dass (manche) Männer einen Bart trugen bzw. nicht, wie lang ihre Haare waren/sind oder was das richtige Frühstück für arbeitende Menschen ist – all dies sind auch politische Fragen, die aufs engste zusammen hängen mit wirkmächtigen gesellschaftlichen (Ordnungs-)Diskursen. Es geht bei Haarlängen, Kleidungsstücken, Diäten und selbst bei der Fingernagelform immer auch um die angemessene Verkörperung sozialer Positionen und Ambitionen. Gerade auch dann, wenn diese nicht bewusst sind. Die intuitive Auswahl der Kleidung am Morgen folgt unserem sozial erworbenen Wissen um die öffentliche Person, die wir alle auch sind; der Rotwein schmeckt (nicht), weil wir (nicht) gelernt haben, ihn zu mögen, wir fühlen uns wohl in unserer Haut, weil wir um uns in sozialen Situationen wissen usw. Es gibt also, darauf kommt es mir an, keinen Weg ‚zurück‘ zu einer Authentizität, die den Körper als Ausdruck einer nicht-entfremdeten Existenz postuliert. Es gibt diesen Zustand schlicht nicht. In diesem Sinne sind Haarschnitte oder Frisuren, Diäten, Kleidungsmoden, Schminktechniken, Sport, alle Art von Drogen, Tatoos, plastische Chirurgie usw. auf einem Kontinuum angesiedelt. Allerdings heißt dies ebenso wenig, auch darauf kommt es mir an, dass es dadurch gewissermaßen egal wäre, was wir an, in und mit unseren Körpern machen. Auch hier gilt es, zumindest soziologisch, einen genauen Blick auf die normativen Deutungen zu werfen, die je spezifische Körperpraxen konstituieren. Manche von ihnen, auch zu einem solchen Urteil können Soziologen/innen und Kulturwissenschaftler/innen kommen, können womöglich ideologisch motiviert, problematisch, müssen kritisierbar sein.12 12 Eine Kritik besteht etwa in dem Insistieren auf die ‚Lebendigkeit‘ des Körperleibes als unverfügbare anthropologische Dimension unserer Menschlichkeit und Sozialität. So plädiert Barkhaus für eine „Rückkehr zur Lebendigkeit“ jenseits der hegemonialen Biowissenschaften, d.h. für eine verstärkte Deutungsmacht über das Leben leibbezogener Perspektiven (Barkhaus 2002: 44ff.). Kritisch äußert sich Degele in Bezug auf die Schönheitspraxen insofern diese ideologisch sind (Degele 2004: 16ff; 90ff; 151ff; 167ff.). Im Prinzip äußern sich 252

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Schaut man nun auf die gegenwärtige mediale Inszenierung von plastischer Chirurgie stellt man fest, dass von einer Dramatisierung als ‚FreakShow‘ nicht mehr die Rede sein kann. Sorgte ein Format wie THE SWAN, das im Jahr 2004 mit mäßigem kommerziellen Erfolg in deutschen Privatfernsehen lief, noch – zu Recht – für ein gehöriges Blätterrauschen im Feuilleton und auch für kontroverse politische Debatten ob der Drastik der Bilder und der Verharmlosung sowie der Kommerzialisierung ursprünglich medizinischer Techniken und schließlich der unverblümten Ausstellung der Künstlichkeit von Körpern (vgl. etwa von Rohr 2004), so können wir heute, im Frühjahr 2008, eine Sendung wie SPIEGLEIN, SPIEGLEIN … (VOX, täglich 17 Uhr seit März 2008) sehen, ohne dass dies weiter für größeres Aufsehen sorgt. Dabei ist gerade Letztere die in meinen Augen dramatischere Sendung: Diese nämlich stellt chirurgische Eingriffe etwa zur Brustvergrößerung oder zur Entfernung einer ‚Fettschürze‘ dramaturgisch und rhetorisch gleich mit dem ‚Styling‘ beim (Star-)Friseur oder der ‚Auffrischung‘ von Brustwarzen durch eine mittelfristig haltbare Hautbehandlung mit Farbpigmenten: „Das 60-minütige Format beschreibt die Ängste, Wünsche und Hoffnungen, lässt kritische Stimmen zu und dokumentiert den manchmal einfachen, oft aber auch recht schmerzhaften Weg zu einem besseren Lebensgefühl. Kosmetiker, Diätberater, Stylisten und Chirurgen kommen zu Wort und beschreiben, wie sie die Wünsche ihrer Klienten professionell umsetzen.“ (http://www.vox.de vom 15.5.2008)

Ob Kosmetiker oder Chirurg – sie alle arbeiten, gleichermaßen, am Wohlbefinden ihrer Klienten. Die plastische Chirurgie, die bislang als extreme Form des Eingriffs in den Körper galt und die nach wie vor überwiegend dann als legitim wahrgenommen wird, wenn sie sich auf ihre medizinischen Kernbereiche wie Behandlungen nach Unfällen oder Korrekturen gravierender ‚Mängel‘ beschränkt, die die Lebenschancen der Menschen deutlich einschränken (zusammengewachsene Finger, Gaumenspalte, uneindeutige Genitalien z.B.), mutiert hier zur Wellness-Dienstleistung am Kunden. Darin liegt die Dramatik der Sendung. Und darin liegt sicher auch ihre Anschlussfähigkeit an den ‚Zeitgeist‘ im oben beschriebenen Sinne. Denn das „bessere Lebensgefühl“, das den Kunden in ihrem post-operativen oder neu gestylten Leben versprochen wird, das ist in der Sendung immer aufs Engste gekoppelt mit beruflichen Ambitionen und ökonomischen Motivationen. Es geht, kurz, um ein erfolgreiche(re)s Leben. Und dieses braucht, das ist in der Sendung

auch in diesem Band alle Autoren/innen in verschiedener Hinsicht kritisch zu den gegenwärtigen Inszenierungen von Körpermanipulationen, vor allem in den Medien. Allerdings tun wenige dies aus einer auch hermeneutischen Position, die die individuellen Erfahrungen der Menschen ernst nimmt. Auch ich vernachlässige diesen Aspekt zugunsten der Diskursivierungsweisen der plastischen Chirurgie – und formuliere am Ende ein entsprechendes Forschungsdesiderat. 253

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lediglich plakativer als in unser aller Alltag, einen beständig zu optimierenden Körper. Die drei hier präsentierten Thesen möchte ich nun argumentativ und unter Einbeziehung illustrierender Beispiele erläutern. Zunächst skizziere ich die Genealogie des jetzigen Zustands, wobei ich mich auf spezifische Semantiken und Praxen der zweiten Frauenbewegung und der sich daraus entwickelnden Frauen- und Geschlechterforschung konzentriere, die m.E. in einem direkten, wenn auch ungewollten, Zusammenhang mit der aktuellen Körperarbeit stehen, wie sie auch in der Nutzung der plastischen Chirurgie zum Ausdruck kommt. Im Anschluss daran werde ich anhand medialer Inszenierungen der plastischen Chirurgie und anhand einiger Ergebnisse qualitativer Studien zeigen, welche Formen die ‚Rohstoffisierung‘ des Geschlechtskörpers inzwischen angenommen hat. Es wird sich zeigen, dass das lange Zeit herrschende Naturalisierungsimperativ bzgl. des Geschlechtskörpers dem Imperativ der Optimierung gewichen ist. Am Ende steht ein kurzes Fazit, in dem ich für soziologische Nüchternheit plädiere.

Am b i v a l e n z e n d e r R e f l e x i v i e r u n g : Feministische body politics zwischen Selbstermächtigung und ‚Rohstoffisierung‘ Die Zweite Frauenbewegung hat, wie andere soziale Bewegungen auch, die westlichen Gesellschaften maßgeblich modernisiert.13 Mit Modernisierung ist hier nicht mehr und nicht weniger als eine systematische Reflexivierung lebensweltlich relevanter Wissens- und Deutungsbeständen gemeint. D.h. eine, z.B. mit Habermas gesprochen, ‚Verflüssigung‘ von lebensweltlichen Wissensbeständen zugunsten ihrer öffentlichen Debattierbarkeit (z.B. Habermas 1987: 106ff.). Modernisierung meint demnach die Erosion von Traditionen und institutionell sedimentierten Sinnbeständen, weshalb etwa Giddens für unsere Gegenwart von „posttraditionalen Gesellschaften“ spricht (Giddens 1996). Es wird in diesen politisch, medial und auch in den Mikropolitiken von Beziehungen verhandelbar und verhandlungsbedürftig, was ehedem normatives Apriori war und oftmals durch die Anrufung der Natur der (Tat-)Sache auch als solches definiert wurde: „Modernisierung der Moderne meint […] nicht linear zunehmende Rationalität und Kontrolle. […] Tiefliegende, meist erst mit der Industriegesellschaft entstandene oder von ihr durchgesetzte Routinen und Gewissheiten verlieren ihre institutionellen Stützen. Das bedeutet erstens Unsicherheit, und zwar eine besondere Art, nämlich ‚hergestellte Unsicherheit [Giddens]‘. Diese wird durch die reflexive Modernisie-

13 Vgl. hierzu Gerhard 1999. 254

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rung erzeugt und gerade nicht abgebaut oder überwunden.“ (Beck/Giddens/Lash 1996: 9, Hervorh. i.O.)

Dass Aspekte der Lebensgestaltung verhandelbar und verhandlungsbedürftig werden heißt, dies ist zunächst trivial, dass sie verfügbar werden. Es wird den Individuen gestaltbar, was ihrem praxeologischen Zugriff ehedem entzogen war. Lebensweltliche Sinnhorizonte stehen im Prozess solcher Reflexivierungen zudem nicht nur zur Disposition; die Menschen, die in diesen Sinnhorizonten agieren, wissen dies auch. Entscheidend ist dabei, dass die Definition von ‚natürlichen Tatsachen‘ im Zuge von gesellschaftlich wirksamen Reflexivierungsprozessen als ‚von Menschen gemachte‘ sichtbar wird. Herrschaftskritische Reflexivierung, wie sie auch die zweite Frauenbewegung angestoßen hat, macht überdies bestimmte Interessen (und Akteure) aus, die aus im Prinzip arbiträren Definitionen natürliche Tatsachen machen. Zudem ist gerade die Verfügbarkeit von Wissen und Praxen für eine kritische Perspektive, wie sie Foucault mit seinem Gouvernementalitäts-Konzept entwickelt hat, ein zentraler Modus neuartiger Herrschaftstechniken: „Das Wort verfügen ist wichtig. […] Hier [in der Gouvernementalität, P.-I.V.] geht es nicht darum, den Menschen ein Gesetz aufzuerlegen; es geht darum, über die Dinge zu verfügen.“ (Foucault 2000: 54)

Für Foucault liegt in der Verfügbarmachung von Dingen, Existenzweisen und Subjektformen eine neue Qualität des Herrschens, die ohne Verbote und externe Zwänge auskommt, sondern auf die Selbstregierung der Menschen im Modus rationaler Auswahl zwischen Alternativen setzt. Wirkmächtige Diskurse – etwa das ökonomisch begründete Optimierungsimperativ – lassen dabei einige Alternativen rationaler als andere erscheinen und so wird aus der Verfügbarkeit ein Einfallstor für die Selbstbeherrschung aus freien Stücken. Selbstermächtigung als emanzipatorische Praxis ist demnach unauflöslich verstrickt in Herrschaftskonstellationen insofern die praxeologischen Alternativen normativ konstituiert sind.14 Reflexivierungsprozesse sind geschlechtersoziologisch besonders interessant. Denn das Recht auf ein „eigenes Leben“ wie Beck-Gernsheim bündig formulierte (1983), betrifft eben nicht nur die Berufswahl, die Form der Partnerschaft oder die egalitäre Aufteilung von Hausarbeit. Sie betrifft auch, und womöglich gerade, das Recht auf den eigenen Körper, das Recht über die eigene Natur nachzudenken und diese für sich zu beanspruchen. Und so kann man mit Sicherheit sagen, dass ein wesentlicher ‚Gegenstand‘ der feministisch inspirierten, dabei gesamtgesellschaftlich wirksamen Reflexivierung

14 Vgl. hierzu auch Maasen in diesem Band. 255

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durch die Zweite Frauenbewegung der (Geschlechts-)Körper ist.15 Körperbezogene Modi, die Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen, dass das Private politisch sei, war eine der sichtbarsten und nachhaltigsten ReflexivierungsStrategien der Zweiten Frauenbewegung. Körperlich wurde die Grenze zwischen öffentlich und privat überschritten, körperlich wurde Widerstand gegen Medikalisierung und Pathologisierung gelebt, körperlich wurde die ebenso bürgerliche wie marxistische Trennung von Produktion und Reproduktion thematisiert, körperlich war auch und insbesondere das Thema der Gewalt und ihre Sexualisierung: „Fast alle Forderungen der Frauenbewegung konzentrierten sich auf Körperliches“, so Barbara Duden in einer rückschauenden Bilanz (Duden 2004: 505). Diese Konzentration bedeutete die theoretische und praxeologische Ent-Naturalisierung des (Frauen-)Körpers.

15 Dies wirkt bis heute fort und hat nichts von seiner Relevanz eingebüsst, wie etwa die aktuellen Debatten um die Thematisierung des weiblichen Körpers im aktuellen Beststeller FEUCHTGEBIETE von Charlotte Roche zeigen. Dass es der Autorin mit diesem Buch auch um die (Wieder-)Aneignung des eigenen weiblichen Körpers gegen seine Entfremdung durch Hygiene- und andere (sexistische) Normen geht, hat sie selber immer wieder betont. Vgl. z.B. http://www.sued deutsche.de/kultur/artikel/44/174521/6/ vom 15.5.2008. 256

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Abbildung 1: Die „Dollen Minnas“ aus den Niederlanden

Quelle: http://www.frauenmediaturm.de/vorfruehling.html vom 11.07.2008 Abbildung 2

Quelle: o. A.

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Abbildung 3: Protest zur Miss America-Wahl 1968

Quelle: http://www.frauenmediaturm.de/vorfruehling.html (© Jo Freeman) Damit wurde der (weibliche) Körper explizit zu einer Ressource, zu etwas, dessen man sich bedienen konnte: „Mein Bauch gehört mir.“ So wichtig das ‚mir‘ dieses Slogans im Sinne neuer Vergesellschaftungs- und Subjektangebote war (und ist) und so relevant die darin eingelagerte Semantik von Befreiung aus der Unmündigkeit qua Autonomie, so wenig ist bislang das ‚gehören‘ dieses Mottos beachtet worden. Der Bauch kann einem gehören. Das deutsche „Mein Bauch gehört mir“ impliziert, jedenfalls potenziell, den Nachsatz ‚und ich mache damit, was ich will‘. Damit impliziert es, auch wieder zunächst potenziell, ein (potenziell) autonomes Subjekt, das in der zeithistorischen Konstellation der Frauenbewegung vor allem als jenseits von Experten wie Ärzte und Richter und deren paternalistischen ‚Wissen‘ entworfen ist. Autonomie ist überhaupt das Leitmotiv der zweiten Frauenbewegung, das hegemoniale Subjekt-Paradigma.16 Selbstermächtigung qua Körper ist die bevorzugte entsprechende Praxis. Dies ist ganz im Sinne Kants: Dieser hatte bekanntlich das Versprechen der Reflexivierung – als Aufklärung – auf den Punkt gebracht: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ (Kant 1783: A482) 16 Vgl. hierzu ausführlicher Villa 2004: 249ff. 258

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Wo selbst ernannte Experten sind, soll das eigene Denken werden. Wo patriarchale Medizin und sexistische Jurisprudenz ist, soll ich werden. Wo sexistische Männer über die Natur wachen, soll ein authentisches Körperselbst werden. Der Körper, der als Objekt politisiert wird, ist im feministischen Kontext zudem Ausgangspunkt neuer und neuartiger ‚Normalitäts‘-Vorstellungen. Aktionen der Zweiten Frauenbewegung zielten darauf ab, von den gelebten Erfahrungen, von der faktischen Vielfalt sowie der eben nicht normierbaren Einzigartigkeit konkreter Frauenkörper auszugehen. In den feministischen Bewegungen spielt die Kritik an Schönheitsnormen und der Normierung von Frauenkörpern in den Medien eine zentrale Rolle. Dabei war die Sichtbarkeit (qua Körper) Dreh- und Angelpunkt des Politischen; die öffentliche Sichtbarmachung ‚normaler‘ Körper war zentral, Sichtbarmachung war – und ist weiterhin – die bevorzugte Arena politischer Auseinandersetzungen um Deutungshoheit.17 Ihre analytisch-begriffliche Entsprechung findet dies in den Legion gewordenen Studien der Frauen- und Geschlechterforschung zur herrschaftsförmigen und z.T. leidvollen sozialen Herstellung von Normalität, in der Normalisierung also (qua Sozialisation, Disziplinierung, Interaktion usw.). Der feministische Versuch, Selbstermächtigung qua Körper zu erlangen und dies mittels der Sichtbarmachung un-normierter Körper zu tun, war auch der Versuch, den „Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, den Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten“ zu öffnen (Butler 1995: 11). Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil in den gegenwärtigen Inszenierungen geschlechtlich markierter Körper, z.B. in den Massenmedien, ein gegenteiliges Normalitätskonzept praktiziert und propagiert wird, wie ich noch zeigen werde. Und, auch dies werde ich noch ansprechen, weil der Unterschied zwischen Selbstermächtigung im feministischen Sinne und der Selbstbeherrschung im etwa foucaultschen Sinne im Umgang mit der Verfügbarkeit des (geschlechtlichen) Körpers liegt – auch wenn beiden Effekten dieselbe Logik zugrunde liegt. Die hier kurz skizzierte feministische Objektivierung hat einen immanent ambivalenten Charakter. Denn feministische Selbstbestimmung und Selbstermächtigung hat faktisch – wohl entgegen jeglicher Absicht – den Weg bereitet für die „Sorge um sich“ im foucaultschen Sinne (Foucault 1977), für die Verwandlung von Frauen z.B. in Klientinnen des Gesundheitssystems, ihre Metamorphose in Risikoträgerinnen und Patientinnen, die sich dauernd selbst beobachten und bewerten müssen. Feministische Körperpraxen haben gewis17 Dies gilt selbstverständlich weit über feministische Politik hinaus: Sichtbarkeit – sei diese wörtlich im Sinne von Bildern, etwa in den Medien, oder metaphorisch, etwa im Sinne einer sprachlichen Präsenz – ist die Grundvoraussetzung für soziale Wahrnehmbarkeit und damit für gesellschaftliche Relevanz. Vgl. hierzu u. a. Franck 1998 259

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sermaßen ihren historischen Anteil an der Normalisierung der Selbstbeobachtung, der Selbstkontrolle und der Selbstregulierung, die für die gegenwärtige „Optimierung durch Selbstbestimmung“ (Duttweiler 2004: 23) typisch sind. Was nun mit der Ressource, dem Rohstoff Körper geschehen soll, wie dieser zu verwenden ist, das war und bleibt theoretisch wie praktisch-politisch außerordentlich umstritten – auch und gerade in feministischen Auseinandersetzungen. Nicht zufällig gab es etwa im Zuge etwa der Butler-Rezeption eine – gelinde gesagt – lebhafte Debatte um den Stellenwert des Körpers (vgl. Feministische Studien 11/1993). Die Härte der Bandagen, mit denen dabei gestritten wurde, zeugt auch davon, wie schmal der Grat ist, den der reflexive Körper sprich- und wortwörtlich gehen muss. Er wandelt auf dem Grat zwischen den Abgründen der Befreiung des und der Befreiung vom leibhaftigen Körper.

S c h n i p p e l n u n d S t yl e n : Selbstermächtigung, Selbstbeherrschung und S u b j e k t i va t i o n i n d e n M e d i e n Die plastische Chirurgie ist seit einigen Jahren nicht nur als gesellschaftliches Phänomen quantitativ gewachsen, wie ich eingangs andeutete, sondern auch in den Medien zunehmend präsent. Sie steht dabei nicht allein da, sondern muss m.E. als Teil einer visuell unterfütterten Diskursivierung von Körpermanipulationen verstanden werden, die unsere Massenmedien – allen voran das Fernsehen – flutet. Es gibt seit Jahren eine auffällige Zunahme von Formaten, die sich mit der ‚Bearbeitung‘ des Körpers befassen, sei dies in Form von ‚turnover‘-Sendungen (die etwa Jugendlichen dazu verhelfen, auszusehen wie ihre populärkulturellen Idole, z.B. wie Britney Spears, Brad Pitt oder J. Lo) oder in Form von Diät-Doku-Serien.18 Solche Sendungen, die generell ein neuartiges „instrumentelles Selbstverhältnis“ (Thomas 2007: 237) in den Medien plakativ inszenieren – und dies gerne bzw. überwiegend im so genannten ‚Casting-Format‘ tun, weil damit die Konkurrenz einen Maßstab zur Bewertung der individuellen Instrumentalität der ‚Kandidaten‘ bildet und weil der (Miss-)Erfolg die Chance bietet, gesellschaftliche Anerkennung (bzw. dessen Verweigerung) zu inszenieren – gibt es in den letzten Jahren in Bezug auf alle möglichen Aspekte. Immer geht es um die Frage: Wer ist besser? Genauer: Wer hat am härtesten (an sich) gearbeitet? Ob es dabei um Kochen, Stylen, Partnerschaft, Jobs oder das Leben überhaupt geht (Stichwort Big 18 Abnehm-Formate wurden eingeläutet durch den Erfolg der Serie „Abnehmen in Essen“, 2001 WDR/Arte und gefolgt von einer Reihe zunehmend voyeuristischer und vor allem konkurrenzorientierter Formate wie SCHWER IN ORDNUNG! KINDER SPECKEN AB, VOX 2004, LIEBLING, WIR BRINGEN DIE KINDER UM!, RTL II 2006 oder JEDES KILO ZÄHLT! Kabel 1 2008. 260

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Brother), das ‚casting‘-Prinzip ist die mediale Logik des neoliberalen Diskurses.19 Es kulminiert im „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007), welches seine Daseinsberechtigung und seinen Lebenssinn in der Optimierung sieht. Überall im Fernsehen treten Menschen, nein: Kandidaten, gegeneinander an, um – meist begleitet von selbst ernannten Experten/innen – besser zu ein. Das bloße ‚besser-als-sein‘ ist Sinn und Zweck der Existenz, so jedenfalls suggerieren es diese überaus erfolgreichen Formate, die meist nachmittags flimmern, manchmal aber auch zur Prime Time (wie etwa DSDS oder Klums‘ Suche nach dem Supermodel). Es geht darum, den Konkurrenten zu übertrumpfen, und dies geschieht im Modus des ‚hart an sich Arbeitens‘. Die Anerkennungswürdigkeit der Person speist sich aus ihrer filmbaren Arbeit an sich. Dabei wird die Selbstoptimierung im Management-Modus rhetorisch befeuert durch Autonomie-Imperative. Das Tuning der Person soll ja nicht den ‚anderen‘ dienen, soll nicht aufgezwungen sein – vielmehr folgt sie, so die Medienformate, immer den eigenen Wünschen, Vorstellungen, Sehnsüchten und vor allem dem eigenen Willen! Es geht darum, sich durch eigene Anstrengungen und Leistungen besser zu fühlen, gesünder zu sein, zufriedener mit sich, aus sich etwas zu machen, den eigenen Typ zu entwickeln, es geht darum, „extrem hart an sich zu arbeiten“ (http://www.prosieben.de/lifestyle _magazine/05473/ vom 01.12.2007) – und das vor allem selbst zu wollen. Diese Logik greift in den letzten Jahren zunehmend auch auf den Körper im Fernsehen über. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der plastischen Chirurgie, der Medialisierung des ‚nip ’n tuck‘ (schnippeln und schneiden). Interessant, und womöglich besonders perfide, ist, dass bei all diesen Formaten der Autonomie-Diskurs die Begleitmelodie bildet: ‚Mein Bauch gehört mir – deshalb lasse ich mir die Fettschürze‘ wegoperieren. Soll doch jeder mit seinem Körper machen, was er will‘. THE SWAN war ein aus den USA importiertes Fernsehformat, das unter demselben Namen, ergänzt um den Zusatz „endlich schön“, 2004 auf dem Privatsender Pro7 lief.20 Zur Teilnahme wurden Frauen gecastet, die – wie es heißt – „unglücklich mit sich bzw. mit ihrem Körper sind“.21 Die Auserwählten wünschten sich, so wurde die Serie beworben, nichts sehnlicher, als „endlich schön“ zu sein. „Endlich schön“ heißt allerdings ‚endlich richtig‘, ‚endlich normal‘, wie sich noch zeigen wird. Um dies zu erreichen, steckte der 19 Vgl. Thomas 2004 und Seier/Surma in diesem Band. 20 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Sendung auch die Beiträge von Seier/Surma und Strick in diesem Band. Die nachfolgenden Abschnitte basieren z.T. auf Villa 2008. 21 Alle Zitate zur Sendung sind der Website http://www.prosieben.de/lifestyle _magazine/swan entnommen, die allerdings nicht mehr online ist. Eine fast vollständig archivierte Version der Seite kann unter http://web.archive.org/web/ 20050419154749/www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/ abgerufen werden vom 08.06.2008. 261

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Sender sie für einige Zeit in ein so genanntes ‚Camp‘, d.h. in ein geradezu paradigmatisches foucaultsches Panoptikum. Getrennt von ihren Familien und Freunden/innen musste jede für sich und unter dem permanenten Kamerablick diverse Trainings und andere Prozeduren durchlaufen. Dabei wurden sie ‚gecoacht‘ – Experten/innen für Fitness, Gesundheit, Psyche, Motivation, Ernährung waren ihre jeweils einzigen Ansprechpartner/innen. Am Ende jeder Folge bewerteten die Juroren/innen die jeweils zwei gegeneinander agierenden Frauen und entschieden über den Verbleib oder den Rauswurf der Teilnehmerinnen. Am Ende der Staffel wählen die Zuschauer/innen eine Siegerin, den sprichwörtlichen Schwan. Es war die 28-jährige Katja, da sie, so die Bewertung, „die größte Veränderung durchgemacht“ hatte. Alle Kandidatinnen, so unterstellt die Webseite der Serie, denselben träumen denselben Traum: „Ob Single oder verheiratete Mutter, ob Selbstständige oder Hausfrau – das Spektrum der Kandidatinnen ist breit. […] Eines haben sie jedoch gemeinsam: Sie sind unzufrieden mit sich und ihrem Körper. Bei THE SWAN – ENDLICH SCHÖN! bekommen sie Gelegenheit, das zu ändern. Aber nur, wer wirklich an sich arbeitet und sich nicht allein auf die Schönheitschirurgie verlässt, kann sich dauerhaft verändern.“

Damit ist bereits deutlich ausgesprochen, worum es geht: einerseits um die Koppelung von Selbst und Körper, andererseits und daraus folgend, um die Arbeit an diesem Körper-Selbst. Zu dieser Arbeit gehören medizinische Technologien wesentlich dazu. Maßstab für die Bewertung der einzelnen Kandidatinnen bei den Zuschauer/innen, den Experten/innen sowie den einschlägigen Foren bei Pro7 ist deren Ernsthaftigkeit bei der Arbeit an sich selbst. Authentische Ernsthaftigkeit bei der Arbeit am Selbst wird in der Sendung performativ zugleich inszeniert wie durch Leid/en erzeugt. Es soll nie nur darum gehen, sich ein bisschen „unters Messer zu legen“, wie es auch Zuschauer/innen im entsprechenden Internet-Forum formulieren, den Pro7 auf seiner Webseite eingerichtet hatte. Vielmehr sollen Silke, Helena, Tatjana und die anderen noch hässlichen Entleins vorführen – und zwar im wörtlichen Schweiße ihres Angesichts –, dass sie auch „innen hui“ sind. An- und erkannt wird dies anhand der Verkoppelung von Geständnis, die ja historisch allzu oft die Form der Selbst-Ermächtigung annimmt einerseits und der entsprechenden biopolitischen Selbst-Regierung im foucaultschen Sinne andererseits.22 Selbsterkenntnisse der Kandidatinnen und die sich anschließende Einfädelung der Frauen in die jeweiligen Expertendiskurse (Diät, Fitness, Schönheit, Psychologie usw.) sowie die Koppelung beider Ebenen durch die Bewertung jeweiliger Selbstprüfungen und -beobachtungen bilden

22 Vgl. zur Selbst-Regierung Foucault 2004. 262

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letztlich die gesamte Handlung der Sendung. Die Kandidatinnen werden nicht nur befragt, gewogen, gemessen und geprüft – sie müssen sich vor allem selber prüfen und befragen zu den verschiedensten Aspekten ihrer Selbst und ihrer Körper. Möglichst Vieles soll offenbart und damit nicht vorrangig verhandelbar, sondern vor allem verfügbar gemacht werden. Der feine, aber alles entscheidende Unterschied zwischen Verhandlung und Verfügung markiert das Umschlagen von Selbstermächtigung zu Selbstbeherrschung. Denn der hierarchisch gesetzte Horizont der Wissensproduktion in der Sendung ist die Erzeugung von Normalität. Der konstitutive Rahmen für die Beurteilung der individuellen Konstruktionspraxen ist der einer Normalisierung qua Optimierung. Und in diesen konstitutiven Rahmen sind die vorgängigen emanzipatorischen Diskurse der Selbstermächtigung, ihrer sozialen Einbettung jedoch entkleidet, eingebaut. Unter der Hand nämlich, aber auch explizit, z.B. in den Diskussionen im Zuschauerforum zur Sendung, ist das Recht auf die autonome Verfügung über den eigenen Körper das basso continuo der Show. Das individualisierte Subjekt wird auch in den einzelnen Sendungen immer wieder leibhaftig angerufen, so z.B. dann, wenn den einzelnen Frauen vorgeworfen wird, ihre Familie zu vermissen und damit zu wenig ernsthaft bei der Sache – der Arbeit am Selbst – zu sein. Mangelnde Autonomie wird zum Vorwurf in diesem hochgradig expertisierten Kontext. Genau dies ist die biopolitische Logik, wie sie für eine Reihe entsprechender Kontexte zutrifft, so etwa die pränatale Diagnostik (vgl. Samerski 2003). Normalisierung ist der Dreh- und Angelpunkt in THE SWAN. Es geht jedoch nicht um eine Normalität, die am faktischen ‚Normalen‘ und seiner unausweichlichen Vielfalt ansetzt, wie es noch die feministische Praxis versucht hatte. Vielmehr geht es um die Verkörperung spezifischer, dabei aber immer phantasmatischer Geschlechtsnormen. Natalia, Claudia, Helena sollen nicht die werden, die sie bereits sind – sondern zu denen, die sie werden wollen sollen: „Katja und Daniela leiden beide unter ähnlichen Problemen. Fettpölsterchen, kleine Brüste und wenig Selbstbewusstsein haben sie gemeinsam. Aber auch den unbedingten Willen zur Veränderung!“ heißt es in der Darstellung von Episode 9 auf der Pro7-Webseite. Die semantische Koppelung von Fett, ‚kleinen Brüsten‘ und dem Mangel an Selbstbewusstsein deutet schon an, wohin die Transformation des Selbst qua Körper gehen soll: den Normen einer Norm-Frau zu entsprechen. Die konkrete Umgestaltung der Körper wird als (Wieder-)Herstellung einer „verlorenen Geschlechtsintegrität“ (Strick 2005: 111) vollzogen. „Ihr [Manuelas] großes Problem: Sie ist klein, mollig und flachbrüstig. Manuelas Leidenschaft gehört dem Eishockey, was ihr aber auch nicht unbedingt hilft, als anmutige Frau wahrgenommen zu werden. Ihre männlichen Vereinskollegen sehen nur den guten Kumpel in ihr.“

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Richtige – normale – Frauen, so erzählen die gecasteten Frauen und so erzählt es der Sender, haben vor allem einen richtigen Körper – aber im medialen Narrativ wird erst umgekehrt ein Schuh draus: Nur wer den richtigen Körper hat, ist eine richtige Frau. Hatten Frauenbewegung und Frauen- und Geschlechterforschung auf ein Normalitätskonzept gesetzt, welches von der realen und irreduziblen Vielfalt der weiblichen Körper als Maßstab von Normalität ausging, so setzt die Logik der plastischen Chirurgie an einer imaginären, ideologischen Norm an. Statistische Maße wie BMI, WHR, obskure FitnessWerte einerseits und deren augenscheinliche Verkörperungen à la Verona Feldbusch-Pooth (Jurorin) andererseits ergeben eine normative Melange, an denen sich die realen Körper dieser realen Frauen zu messen haben. Dabei ist „[d]ie Norm ein Maß und Mittel, um einen allgemeinen Standard hervorzubringen“ so Butler. Ein Beispiel für die Norm zu werden“, so Butler weiter „[…] heißt von einer abstrakten Allgemeinheit subjektiviert zu werden“ (Butler 2004: 53). Im Prinzip ist das nicht neu. Neu ist auch nicht, dass konkrete Personen aufgerufen werden, sich den Normen der Geschlechterdifferenz performativ durch harte (Körper-)Arbeit anzunähern und damit zu weiblichen Körpern von Gewicht zu werden – Diäten, Korsetts, High Heels, kalte/warme Bäder, abgebundene Füße, schwere Perücken sind nur einige Beispiele aus einer langen Liste schmerzhafter Weiblichkeitsprothesen. Was allerdings am Swan neu ist, ist die offensive und voyeuristisch inszenierte Betonung der Arbeit, der Künstlichkeit und des Leides, die die Annäherung an eine Norm beinhaltet. Neu ist, dass es weniger um das Ergebnis geht als viel mehr um den arbeitsreichen Weg der beständigen, schmerzhaften, sich an Experten orientierenden, dabei aber immer den eigenen Willen beschwörenden Arbeit an sich. Der Prozess der Annäherung an Normen ist das, was Butler als Subjektivierung beschreibt (Butler 2001); eine Perspektive, die ich als plausible Theoretisierung dessen verwende, was in der Soziologie unter Vergesellschaftung bzw. Sozialisation verhandelt wird. Subjektivation besteht nun eben nicht darin, die Vielfältigkeit identitätslogisch zu leben, sondern darin, unordentlichen Praxen auf ordentliche identitätswirksame Nenner zu bringen. So bedeutet Subjektwerdung den doppelten, paradoxen Prozess der gleichzeitigen Unterwerfung unter phantasmatische, normative Ideale einerseits und der dadurch gegebenen Existenzmöglichkeit (Intelligibilität) und Handlungsfähigkeit andererseits. Subjekte sind dabei keine konkreten, realen Personen, sondern diskursive Positionen, exemplarisch Anreden/Titel (Frau, Schwuler, Dozentin, Moderatorin usw.). Subjektivation bedeutet, als einzigartiges Individuum einen solchen Platz in sozial angemessener Weise zu besetzen (Butler 2001: 15f). Dies geschieht auch – und wie ich meine vorrangig – körperlich. In THE SWAN sind ‚richtige, normale Frauen‘ keine real existierende Frauen in ihrer ganzen auch körperlichen Vielseitigkeit, sondern die abstrahierte, phantasierte 264

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Idealnorm eines perfekten Körpers: optimaler BMI, fit wie Pamela Anderson in Baywatch, Hauptsache heterosexuell begehrbar, zugleich absolut unauffällig unter dem schützenden Dach einer Gaußschen Normalverteilung. Darin liegt die eingangs erwähnte Dramatisierung der Geschlechterdifferenz. In diesem Sinne lassen sich Brustvergrößerungen, Brustwarzenpigmentierungen oder die Verengung des so genannten ‚love channels‘ als Versuche der Annäherung an eine Hyperfeminität lesen, die pornografisch gerahmt ist (Weiblichkeit als sexuelles Objekt heterosexueller Begierden). Die Pointe ist allerdings die, dass der ideale Norm(al)körper niemals wirklich ‚gehabt‘ werden kann – ebenso wenig wie eine Subjektposition wirklich sicher und endgültig von Individuen eingenommen werden kann. Umso wichtiger ist deshalb, dass der willentliche Prozess der Normalisierung sichtbar verkörpert wird. Die Arbeit am Körper-Ich, der Willen zur perfekten Normalisierung, das ist der Maßstab für den ‚richtigen‘ Körper: „Die Zuschauer haben per Telefonvoting entschieden: Katja hat am härtesten an sich gearbeitet und die größte Veränderung hinter sich.“ Dass in der Sendung die individuelle Anstrengung der Selbsttransformation wichtiger ist als das ohnehin in diesem Rahmen kaum ‚messbare‘ Ergebnis (schöner als vorher, zufriedener als vorher, etc.) lese ich als Bestätigung der Butlerschen These vom notwendigen Scheitern der Verkörperung von Diskursen. Dies meint, dass Verkörperungen von Normen bzw. von Subjektpositionen grundsätzlich nicht vollständig gelingen können. Der Prozess der körperlichen Mimesis, den ich in Erweiterung der defizitären post-strukturalistischen Reflexionen zum Körper hieran andocke, dieser Prozess als Anähnlichung an idealisierte Normen kann nicht abgeschlossen werden, da die (diskursive) Subjektposition ‚richtige Frau‘ von realen Personen mit ihrer Einzigartigkeit nicht vollständig besetzt werden kann.23 In diesem Sinne, so kann man vereinfachend sagen, muss jede immer und immer wieder an sich arbeiten, um als ‚richtige Frau‘ anerkannt zu werden. Dies trifft für uns alle zu – für die Frauen in der Schwanensendung aber in besonders brutaler Weise. Allerdings ändert sich dies m.E. unter unseren (Fernsehen schauenden) Augen. Denn der Modus der Körperselbstarbeit in THE SWAN ist, anders als (noch?) bei den meisten Menschen bundesrepublikanischer Mittel- und Oberschichten, nicht die nonchalante Naturalisierung, sondern die offensiv inszenierte und ebenso offensiv thematisierte Manipulation des eigenen Körpers, der wiederum als Rohmaterial verwendet wird. An der sich m.E. hier andeutenden milieuspezifischen Körper-Selbst-Kulturen ließe sich weiter forschen. Interessant an der Sendung sind nämlich auch die Reaktionen des deutschen Bildungsbürgertums: In der Wochenzeitung Die

23 Zum Mimesis-Begriff als somatische Dimension von Vergesellschaftung vgl. Gebauer/Wulf 1998. Für eine soziologische Wendung des Konzepts im Spannungsfeld von Körper und Leib vgl. Villa 2007. 265

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Zeit befand ein Journalist: „Dieses Frankensteinhafte, dieser endgültige Triumph des Künstlichen über das Echte ist das eigentlich Gruselige“ (von Rohr 2004). Arbeit am (Geschlechts-)Körper als Unterschichtenfernsehen; Ästhetik der protestantischen Ethik für diejenigen, die es ‚nötig haben‘? Soziologisch lässt sich dies so sagen, denn die Differenz von natürlich und künstlich ist, wie Bourdieu herausgearbeitet hat, eines der wesentlichen „feinen Unterschiede“, die ihrerseits in der Gesamtheit eine stabile „Doxa“ bilden (u. a. Bourdieu 1991: Kap. 5 und 757 ff.). Und das ideologische an der Diagnose ist, dass der Redakteur beim Schreiben ziemlich wahrscheinlich eine Brille trug, einige Kariesfüllungen im Mund hatte und womöglich gerade vom Friseur zurückgekommen war. Inzwischen wird, ich hatte es anfangs angedeutet, in den Medien ein Umgang mit der plastischen Chirurgie inszeniert, der dieses tatsächlich gegebene Kontinuum mit Körpermanipulationen ernst nimmt. So etwa bei SPIEGLEIN, SPIEGLEIN … (VOX, 17 Uhr seit März 2008). In diesem Format werden pro Sendung drei narrative Stränge neben- und ineinander geschnitten, die das Kontinuum zeigen: Friseurbesuch bzw. Styling, mittelfristig wirkende kosmetische Eingriffe (Hautpigmentierungen, Permanent Make-up, Aknebehandlungen usw.) und plastische Chirurgie. Hier werden auch nicht Kandidaten/innen gegeneinander inszeniert, sondern ‚normale Menschen‘ mit dokumentarischem Gestus begleitet, die ihrerseits selbstbewusst, durchaus reflektiert und aus ihrem Alltag heraus scheinbar souveräne Entscheidungen über ihren Körper treffen. Die jeweiligen Eingriffe sollen es ihnen ermöglichen, im Beruf erfolgreicher, im Alltag unbeschwerter und schlicht glücklicher ein neues Leben anzufangen. Die Rhetorik der Wiedergeburt ist, ähnlich wie bei „THE SWAN“, zentral: Körpermanipulationen sind demnach die Chance auf ein zweites, ein besseres und selbst bestimmteres Leben. Und hier zeigt sich die Logik der Gouvernementalität qua Verfügbarkeit in der Individualisierungsmoderne: Die Alternativen im Umgang mit dem eigenen Körper bestehen von vorneherein immer darin, am Körper zu arbeiten, diesen zu optimieren. Sie bestehen nie darin, etwa sich dafür zu engagieren, dass eine gesellschaftliche Debatte über die Normierung von Körpern in Gang kommt. Dass Menschen – authentisch, unzweifelhaft und glaubwürdig – leiden, weil sie körperliche ‚Makel‘ haben, wird nie thematisiert als ein gesellschaftliches Problem. Analog zur berühmten Zeile des Filmemachers Rosa von Praunheim: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (von Praunheim 1971), ließe sich die Problematisierung einiger Körperlichkeiten denken. Frauen leiden an ungleich großen bzw. zu kleinen Brüsten, weil (und womöglich nur weil) andere ihnen deshalb das Leben schwer machen. Männer leiden an einem ‚dicken‘ Bauch insofern sie einen Wettbewerbsnachteil – im privaten wie im beruflichen Feld – erleiden. Menschen leiden unter Aknenarben, weil andere sie dafür diskriminieren. Menschen lei266

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den unter altersbedingte Gesichtsfalten weil unsere Gesellschaft einen paradoxen – dafür aber gnadenlosen – Umgang mit dem Alter entwickelt hat: In einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der Menschen ab 65 nun als lebenslustige, kaufkräftige, gebildete Konsumenten/innen porträtiert werden, soll das Alter zugleich unsichtbar sein. Anti-Aging und ‚ewig jung‘ sind die Begriffe, auf die wir das Altern zunehmend bringen. Doch der Zusammenhang zwischen individuellem Leid und gesellschaftlichen Normen wird eben in einer Sendung wie SPIEGLEIN, SPIEGLEIN … nie erwähnt; diese Deutung existiert schlicht nicht. Privates wie das individuelle Aussehnen oder die individuellen Körperformen sind, das zeigen solche Formate deutlich, öffentlich. Aber sie sind privat bzw. individuell qua Geld und Arbeit zu lösen.

Z u m Ab s c h l u s s : P r o g r a m m a t i s c h e P r o g n o s e n Die notwendige Objektivierung, die es braucht, um den eigenen Körper nicht als Eigenleib, sondern als instrumentell manipulierbaren Stoff zu behandeln, ist eine anthropologische Konstante menschlicher Sozialität und in der Popularisierung ehemals kritischer body politics mitsamt ihrer Entnaturalisierung und Reflexivierung angelegt. Dass der (Geschlechts-)Körper nicht (mehr) nur gegeben ist, sondern auch gemacht wird, das ist, so machen es uns etwa die Schwäne vor, längst keine radikale These avantgardistischer Konstruktivisten/innen mehr, sondern alltägliches Wissen und – so meine Prognose – wird zunehmend die Rationalität alltäglicher Praxen bilden. Eine soziologische Genealogie von Reflexivierungen – die auf die gesellschaftlichen Bedingungen, Konstellationen, Akteure und auch auf womöglich unintendierte Effekte von Reflexivierungsprozessen schaut – zeigt, dass diese als Ent-Naturalisierung immer beides enthält: Das Versprechen auf Selbst-Ermächtigung und die Gefahr der Selbst-Beherrschung. Denn die starke Version von Selbst-Ermächtigung im Sinne individueller Autonomie ist soziologisch schlichtweg absurd. Sie verkennt die konstitutive Wirkmächtigkeit des Sozialen, um es mal krude zu formulieren, für individuelle Selbst-Thematisierungen und Selbst-Verhältnisse. Sie verkennt eben auch, dass jede noch so utopischemanzipative Rede vom Bauch, vom Körper usw. immer eine diskursive Praxis ist. Gesellschaftliche Rationalisierungen und Reflexivierungen gehen Hand in Hand mit Subjektivierungsprozessen auf der individuellen Ebene. Und doch sind die Individuen widerspenstiger als der einseitige Blick auf Diskurse sehen lässt. Deshalb ist die auch von mir hier vorgelegte Analyse der diskursiven Ebene der Geschlechterdifferenz nur die halbe Wahrheit. Eine Praxeologie der Geschlechterdifferenz im Kontext von Subjektkulturen darf nicht den alten soziologischen Fehler begehen, Subjekte und Individuen gleich zu setzen, sie darf nicht wie gebannt vor der Normenschlange stehen, während handelnden Menschen immer auch ihre Wege finden, mit dieser zu 267

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Leben, ohne von ihr vernichtet zu werden. Wären wir alle nämlich Verkörperungen von Diskursen, wie auch ich hier suggeriert habe, dann gäbe es weder vielfältige Praxen, sozialen Wandel oder widersprüchliche Diskurse. Hierauf verweisen die Frauen in THE SWAN, die sich nicht um die innere und äußere Optimierung scheren und stolz die Sendung verlassen, nachdem sie ihre Zahn- oder Busen-OP hatten. Diese gab es, so etwa Brigitte („Außen hui, innen pfui: Brigitte hat ihre innere Einstellung nicht geändert“; http://www.pro sieben.de/lifestyle_magazin/swan; nicht mehr verfügbar). An ihnen ist ein Diskurs gescheitert, sie selbst sind dennoch oder genau deshalb mit sich zufrieden. Und nicht zuletzt zeigen die empirischen Studien mit Klientinnen/Patientinnen der plastischen Chirurgie, dass es – wie immer – verfehlt ist, ausschließlich die entfremdende und entfremdete Seite der plastischen Chirurgie an Frauenkörpern zu sehen. Kathy Davis z.B. zeigt in ihren Interviews mit Frauen, dass den Motiven der Patientinnen eine Ambivalenz innewohnt, die das Phänomen komplexer macht als es zunächst scheint. Zwar betont auch Davis den Normierungs-Charakter der kosmetischen Chirurgie, doch arbeitet sie in der Analyse der Interviews auch deutlich und nachdrücklich heraus, welche Handlungsmächtigkeit sich in den durchaus informierten Entscheidungen konkreter Frauen verdichtet. Sie betont die Rationalität und das Recht von Frauen, von Menschen überhaupt, ein unerträgliches Leid zu überwinden.24 Es ist gerade aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive wichtig, dass individuelle Körper-Entscheidungen wie die, sich die Nase, den Busen oder den Bauch operieren zu lassen, beides zugleich sind: souveräne Entscheidung handlungsmächtiger Personen, die das Recht darauf haben, ihren Körper gemäß ihren eigenen Maßstäben zu verändern einerseits und eine Anpassung an vorherrschende Normen der ‚normalen‘ Geschlechtlichkeit andererseits. Die Gleichzeitigkeit von Selbstermächtigung – als „Versprechen der Moderne“, wie Ulrich Beck, durchaus im Kantschen Sinne, formuliert – und Selbstunterwerfung – wie etwa Max Weber oder die kritische Theorie die rationalisierte Moderne eben auch zu Recht kennzeichnen –, die Gleichzeitigkeit und Ambivalenz ist das wirklich faszinierende reflexiv-moderner Praxen, vor allem in ihrer somatischen Dimension. Wie gehen wir als Soziologen/innen nun um mit einer Sendung wie THE SWAN? Gibt es hier etwas zu bewerten? Ich meine, es gilt zunächst und einerseits nüchtern festzustellen, dass eine mediale Inszenierung soziologisch gelesen werden muss als Schauplatz von Verhandlungen und von unterschiedlichen Rationalitäten und Absichten. Hier treffen unterschiedliche Haltungen im Sinne Foucaults (Foucault 1992: 9; 41) aufeinander. Haltungen folgen aber, gegenwärtig mehr denn je, heterogenen Rationalitäten. Soziologisch gilt es zu beachten, dass die Emergenz von individuellen Haltungen und Rationa24 Vgl. Davis 2003, Davis in diesem Band und die darin enthaltene Literatur. 268

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litäten eben keine Entscheidung im voluntaristischen Sinne ist, aber eben auch keine, die den einen Großdiskurs abbildet. Haltungen entwickeln sich soziologisch betrachtet vielmehr in fortwährenden und komplexen Vergesellschaftungsprozessen; individuelle Haltungen – etwa zur Gestaltung der Geschlechterdifferenz – sind Teil gesellschaftlicher Strukturen, doch werden sie von diesen nicht determiniert. Soziologiesystematisch formuliert: Konstitutive Diskurse und Konstruktionspraxen bedingen sich wechselseitig, aber sie gehen nicht ineinander auf.25 Weiterhin ist zum anderen gerade für die Beforschung der Geschlechterdifferenz – in Theorie und Praxis – wichtig zu sehen, dass die derzeitige Subjektkultur der Geschlechterdifferenz womöglich immer weniger der Naturalisierungsnorm folgt. Im Horizont nämlich einer alltagsweltlich hegemonial gewordenen, dabei feuilletonistisch simplifizierten Individualisierungsdiagnose, wird das eigene Leben als eine relativ autonom verfügbare „Bastelexistenz“ (Hitzler/Honer 1994) wahrgenommen. Und so scheinen nun auch tief unter die Haut gehende Baumaßnahmen am eigenen Körper möglich. Das ist sicherlich eine Zunahme von Reflexivität, eine Verfügbarkeit über ehedem Unverfügbares. Und wie dies meistens so geht, gibt es auch hier sofort wieder Versuche der Expertisierung und der Schließung solcher Entscheidungsräume. Folglich, so meine Diagnose, werden Baumaßnahmen zunehmend auch für immer mehr Menschen notwendig. Der Optimierungsgedanke hat sich verselbständigt, er ist zum Wert an sich geworden. Hatte Marx noch formuliert, dass der Arbeiter seine Haut zu Markte trägt, wenn er in die Fabrik geht, so wird nunmehr die Haut selbst zur Währung, der „Körper zu Bioaktie“ (Maasen 2005: 245). Der Imperativ der Optimierung wird für zunehmend mehr Menschen von Belang werden; es gibt hierfür zahlreiche Evidenzen. Doch für die – meist unbeabsichtigte – kreative Widerspenstigkeit gibt es mindestens ebenso viele interessante Anzeichen. In diesem Sinne sind wir alle gefordert, uns kritisch und doch nüchtern mit Selbsttechniken und ihren Technologien zu befassen, ob wir nun Fitnesstrainings machen, uns die Zähne richten oder das Ohrgerät verschreiben lassen – oder eben nichts von alledem.

25 Gerade die gegenwärtige Geschlechterforschung, zwischen konstruktivistischem doing gender einerseits und der Konstitutionsstarre der Gouvernamentalitätsanalysen andererseits, tut sich bisweilen schwer mit der Anerkennung dieser Komplexität, indem sie unter der Hand die Vielschichtigkeiten und heterogenen Handlungs- wie Diskursrationalitäten auf einen begrifflichen Nenner zu bringen versucht. 269

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Au torinne n und Autore n B r u n n e r , M a r k us Studium der Sozialpsychologie und Soziologie in Zürich und Hannover mit Schwerpunkt Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse. Magisterarbeit über psychoanalytische Traumatheorien und den Diskurs über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Themenschwerpunkte Derzeit arbeit an einer Dissertation über Selbstverletzungen in der Performacekunst. Aktuelle Publikationen Brunner, Markus (2006): „Körperschnitte. Selbstverstümmelung als kritische Kunstform.“ In: ROSA – Die Zeitschrift für Geschlechterforschung, Nr. 33, Zürich, S. 27-29. Brunner, Markus (2007): „Blutbilder. Der Wiener Aktionismus zwischen Subversion und Metaphysik.“ In: Ikonen: – Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart, Nr. 10, 5. Jg., Mainz, S. 4-8. Brunner, Markus (2008): „Eros und Emanzipation. Zur Dialektik der sexualrevolutionären ‚Radikalisierung‘ der Freudschen Psychoanalyse.“ In: Dehmlow, Raimund et al. (Hg.): „… da liegt der riesige Schatten Freuds jetzt nicht mehr auf meinem Weg.“ In: Die Rebellion des Otto Gross. 6. Internationaler Otto Gross Kongress, Wien, 8.-10. September 2006, Marburg, S. 270-287.

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Davis, Kathy Sozial- und Kulturwissenschaftlerin, Professorin am Institut für Geschichte und Kultur der Universität Utrecht (NL). Sie war zudem Gastprofessorin und Gastwissenschaftlerin an zahlreichen internationalen Universitäten, z.B. Wellesley College, Columbia University, Harvard (alle USA) und im Winter 2006 Inhaberin der Marie-Jahoda Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum. Themenschwerpunkte Ethische, politische und soziale Aspekte von Schönheit und plastischer Chirurgie, insbesondere aus feministischer Perspektive. Ausgewählte Publikationen Davis, Kathy (1995): Reshaping the Female Body. Routledge. Davis, Kathy (1997): Embodied Practices: Feminist Perspectives on the Body. Sage. Davis, Kathy (2003): Dubious Equalities and Embodied Differences: Cultural Studies on Cosmetic Surgery. Lanham. Degele, Nina Seit 2000 Prof. für Soziologie und Gender Studies an der Universität Freiburg. Themenschwerpunkte Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Körpersoziologie, Modernisierung, qualitative Methoden. Neuere Publikation: Sportives Schmerznormalisieren. Aktuelle Publikationen Degele Nina (2006): „Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie.“ In: Robert Gugutzer (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld, S.141-161. Degele Nina (2004): Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Opladen. Degele Nina (2008): Einführung Gender/Queer Studies. München.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

F l e i g , An n e PD Dr. phil., Akad. Rätin (auf Zeit) am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Themenschwerpunkte Kulturwissenschaftliche Zugänge zur Literatur des 18.-21. Jh., Theater, Körper, Sport und kulturelle Moderne. Aktuelle Publikationen Fleig, Anne/Fischer-Lichte, Erica (Hg.) (2002): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen. Fleig, Anne/ Barkhaus, Annette (Hg.) (2002): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle. München. Fleig, Anne (2008): Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin (In Vorbereitung). Maasen, Sabine Professorin für Wissenschaftsforschung/Wissenschaftssoziologie an der Universität Basel. Themenschwerpunkte Wissensdynamiken (Inter- und Transdisziplinarität), gouvernementale Technologien des Selbst (Therapeutisierung, Beratung, Selbstmanagement), Biopolitk (der Schönheit, der Neurowissenschaften) Diskursanalyse (auch: Metaphern- und Bildanalyse). Aktuelle Publikationen Maasen, Sabine (1998): Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste. Frankfurt a.M. 1998. Maasen, Sabine/Sutter, Barbara (Hg.) (2007): On Willing Selves. Neoliberal Politics vis-à-vis the Neuroscientific Challenge. Palgrave. Maasen, Sabine (2008): „Zwischen Dekonstruktion und Partizipation: Herausforderungen der Transdiziplinarität durch und für die Geschlechterforschung.“ In: Lucht, Petra/Paulitz, Tanja (Hg.): Recodierungen des Wissens. Stand und Perspektiven der Geschlechterforschung in Naturwissenschaft und Technik, Frankfurt/New York (erscheint Herbst 2008).

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Meili, Barbara Studium der Soziologie an der Universität Bern. Aktuell Doktorandin am Programm für Wissenschaftsforschung der Universität Basel. Themenschwerpunkte Bildungs-, Körper- und Wissenschaftssoziologie. Aktuelle Publikationen Meili, Barbara (2006): „Ist der kleine Unterschied nicht offensichtlich? Heranführung an die Dekonstruktion von Geschlecht.“ In: soz:mag, Nr. 10, 2006, Basel/Bern/Genf/Zürich: Verein virtuelle Soziologinnen. Meili, Barbara (2008): Experten der Grenzziehung. Legitimationsstrategien von Schönheitschirurgen, Lizentiatsarbeit, 2007 (Veröffentlichung geplant für Herbst 2008, erscheint bei Neue Berner Beiträge zur Soziologie). M o r g a n , K a t h r yn P a u l y Professorin für Philosophie und Frauen-/Geschlechterforschung an der University of Toronto. Themenschwerpunkte Feministische Bioethiken, feministische Theorien des Körpers, Wissenschaftstheorie (besonders zur Biologie), Foucault, kritische ‚disability studies‘. Ausgewählte Publikationen Morgan, Kathryn Pauly (2005): „Gender Police.“ In: Tremain, Shelley (Hg.): Foucault and the Government of Disability. (Univ. of Michigan Press) Morgan, Kathryn Pauly (1998): „Contested Bodies, Contested Knowledges: Women, Health, and the Politics of Medicalization.“ In: Feminist Health Care Ethics Research Network/Sherwin, Susan (Hg.): The Politics of Women’s Health: Exploring Agency and Autonomy. Morgan, Kathryn Pauly (1996): „Gender Rites and Rights: The Biopolitics of Beauty and Fertility.“ In: Sumner, L.W./Boyle, J. (Hg.): Philosophical Perspectives on Bioethics, Toronto.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

S e i e r , An d r e a Medienwissenschaftlerin, seit 2007 Gastprofessorin an der Universität Wien, Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft. Themenschwerpunkte Medien- und Kulturtheorie, Prozesse und Formen der Remediatisierung, Gender und Medien. Aktuelle Publikationen: Seier, Andrea (2007): Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien. Münster. Seier, Andrea (2007): „Falsche Ge-Fährten. FRAUENTAUSCH als LifestyleFernsehen.“ In: Patric Blaser/Andrea B. Braidt/Anton Fuchsjäger (Hg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Maske und Kothurn. 53. Jg, H. 23. Wien, S. 287-296. Seier, Andrea (2008): „Im Fernsehen der Mikropolitiken: Televisuelle Formen der Selbstführung.“ In: Hanne Loreck/Kathrin Mayer (Hg.): Visuelle Lektüren-Lektüren des Visuellen. Bild-Praktiken. Bild-Prozesse. BildVerhältnisse. Berlin. (Erscheint Sommer 2008). Strick, Simon Studium der Amerikanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Köln und Berlin. Aktuell Promotionsstudent am Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt Universität Berlin. Themenschwerpunkte Derzeit arbeit an einer Dissertation mit dem Titel „Naming Pain“ zum Zusammenhang von Schmerzdiskursen und Subjektivierung im nordamerikanischen 19. Jahrhundert. Aktuelle Publikationen Strick, Simon (2007): „Erlösendes Make-Up: Männlichkeit, Medialität und Mel Gibsons Passion of the Christ.“ In: Glawion, Sven/Husmann-Kastein, Jana/Yekani, Elahe Haschemi (Hg.): Erlöser – Figurationen männlicher Herrschaft. Bielefeld. Strick, Simon (2005): „Geschlecht als Gewinn: Zum Spektakel der Normierung in The Swan.“ In: Plurale. Heft 5: Gewinn. Eds. Mirjam Goller et al. Berlin.

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Surma, Hanna Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft, RuhrUniversität Bochum; Fellow der Ruhr-Universität Research School. Themenschwerpunkte Fernseh-/Medientheorie, Governmentality Studies, Gender Studies. Aktuelle Publikationen Surma, Hanna (2005): Vielfältig und identisch statt öffentlich und privat: Theoretische Grundlagen. In: Die Philosophin: Forum für feministische Theorie und Philosophie 32, Dezember 2005, S. 9-25. Surma, Hanna et al. (2005): „Ihrsinn (1990-2004) – ‚lesbisch-feministische‘ Klänge con affeto.“ In: Die Philosophin: Forum für feministische Theorie und Philosophie 32, Dezember 2005, S. 91-106. Surma, Hanna et al. (2001): „Exceeding the limits of representation: screen and/as skin in Claire Denis’s Trouble Every Day (2001).“ In: Studies in French Cinema 8/1, S. 5-16. Ullrich, Charlotte Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin der Marie-JahodaGastprofessur für Internationale Geschlechterforschung, Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Themenschwerpunkte Derzeit Promotion zu Wissenstransfer und Körperlichkeit in der medizinischen Kinderwunschbehandlung. Inhaltliche Schwerpunkte: Körper-, Geschlechter- und Medizinsoziologie. Aktuelle Publikationen Lenz, Ilse/ Ullrich, Charlotte/Fersch, Barbara (Hg.) (2007): Gender Orders Unbound. Globalisation, Restructuring and Reciprocity. Leverkusen. Lenz, Ilse/ Ullrich, Charlotte/Mense, Lisa (Hg.) (2004): Reflexive Körper? – Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Wiesbaden. Ullrich, Charlotte (2007): „Marginalisierte Reproduktion? Der Körper in der medizinischen Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch.“ In: Junge, Torsten/Schmincken, Imke (Hg.): Marginalisierte Körper. Münster, S. 187-204.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Villa, Paula-Irene Studium der Diplom-Sozialwissenschaften, Professorin für Allgemeine Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Themenschwerpunkte Soziologische Theorien und Geschlechtertheorien, Körper- und Kultursoziologie, Elternschaft. Aktuelle Publikationen Villa, Paula-Irene (2006): Sexy Bodies. Eine Soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden. (3. Auflage) Villa, Paula-Irene (2003): Judith Butler. Frankfurt a. M. Villa, Paula-Irene (2008): „Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol.“ In APuZ 18/2007, S. 18-26 Villa, Paula-Irene (2008): „Körper.“ In: Baur, Nina/Löw, Martina/Korte, Hermann/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden (im Erscheinen).

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KörperKulturen Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst Oktober 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-889-6

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken Oktober 2008, ca. 264 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-8376-1001-7

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen Juli 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-954-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung April 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-227-6

Carsten Würmann, Martina Schuegraf, Sandra Smykalla, Angela Poppitz (Hg.) Welt.Raum.Körper Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum

Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-579-6

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-428-7

Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-464-5

Claudia Franziska Bruner KörperSpuren Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-298-6

2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-757-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper 2005, 222 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-336-5

Michael Cowan, Kai Marcel Sicks (Hg.) Leibhaftige Moderne Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933 2005, 384 Seiten, kart., ca. 50 Abb., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-288-7

Monika Fikus, Volker Schürmann (Hg.) Die Sprache der Bewegung Sportwissenschaft als Kulturwissenschaft 2004, 142 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-261-0

Mirjam Schaub, Stefanie Wenner (Hg.) Körper-Kräfte Diskurse der Macht über den Körper 2004, 190 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-212-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de