Technologien des Performativen: Das Theater und seine Techniken 9783839453797

Die zunehmende Technologisierung der Gegenwart betrifft in vielschichtiger Art und Weise auch das Theater: von Körpertec

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Technologien des Performativen: Das Theater und seine Techniken
 9783839453797

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Theater im Zeichen seiner technologischen Bedingung
Chimärische Körper
What the Earth Repeats: Performing the Object, Technology, Art
Techniken des Technikvergessens
„Control Performance“
Tanz und Technoromantik
Within the Margins
The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology
Techniken des (Re-)Produzierens, Archivierens und Institutionalisierens
(Re)Produzierte Bewegung
Wiederholungswiderstände
Techniken des Reproduzierens
Nadel und Zwirn, Wind und Wetter, Auf und Ab
Dasselbe noch einmal?
Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden
Monumente in Bewegung?
Techniken des Körpers
Techné des Tanzes als ästhetische Strategie
Die Pose des Konquistadors
Technik von der Hand in den Mund?
Sprechtechnik als Zeitobjekt
Sprechtechnik(en) für alle?
Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre
Proben zwischen materiellen, körpertechnischen und institutionellen Logiken
Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse
Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz
Selbstermächtigung im Gefüge?
Techniken des Raumes. Prozesse der Verortung
Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur
„Eine Komödie liegt auf der Hand“
Kollektiverlebnis und Bühnentechnik
Techniken der Manipulation im immersiven Theater am Beispiel
Performing Technology. Theater und Digitalisierung
Dialogical Aesthetics
„You can upload yourself in a cloud“
Digitale Diagrammatologie des Tanzes?
Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis
Techniken der Entgrenzung. Zwischen den Künsten
DEAE EX MACHINA
Simon McBurney’s Binaural Mimesis: An Ethical Exploration of Otherness
Schlachten ohne Krieg
Repetition und Einmaligkeit
Wer inszeniert die Freiheit?
Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie
Autor*innen

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Kathrin Dreckmann, Maren Butte, Elfi Vomberg (Hg.) Technologien des Performativen

Theater  | Band 137

Für Anaïs Rödel

Kathrin Dreckmann (Dr. phil.) ist Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Acoustic Studies, Gender und Media Studies. Maren Butte (Dr. phil.) ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie forscht an der Schnittstelle von Performance und Medien. Elfi Vomberg (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Acoustic und Memory Studies.

Kathrin Dreckmann, Maren Butte, Elfi Vomberg (Hg.)

Technologien des Performativen Das Theater und seine Techniken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Silvia Sunderer Lektorat: Jana Weißenfeld, Don MacDonald Satz: Silvia Sunderer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5379-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5379-7 https://doi.org/10.14361/9783839453797 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Einleitung Technologien des Performativen   Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg | 11

D as T heater

im Z eichen seiner technologischen B edingung Chimärische Körper Zum Verhältnis von Tanz und Technik bei Pina Bausch, Florentina Holzinger, William Forsythe und Ola Maciejewska Gabriele Brandstetter  | 25

What the Earth Repeats: Performing the Object, Technology, Art Rick Dolphijn | 43

Techniken des Technikvergessens Zur Genealogie der Blackbox Ulf Otto | 49

„Control Performance“ Theater und Kybernetik anhand von Pasks Proposals for a Cybernetic Theatre Georg Döcker | 61

Tanz und Technoromantik Überlegungen zu ,Robot Choreography‘ Marcel Behn | 71

Within the Margins Szenen des Technischen Leon Gabriel, Zohar Frank, Bernhard Siebert, Julia Schade und Swoosh Lieu | 81

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology Or: What Can Dance Learn from Ludwig Feuerbach? Stefan Hölscher  | 101

T echniken des (R e -)P roduzierens , A rchivierens und I nstitutionalisierens (Re)Produzierte Bewegung Techniken der Archivierung von Tanz bei Kurt Petermann (1930–1984) Melanie Gruß | 115

Wiederholungswiderstände Christoph Winklers Spiel mit Ernest Berk und die paradoxale Technik des Rekonstruierens Patrick Primavesi | 127

Techniken des Reproduzierens Zur Sichtbarkeit des fotografischen Bildes in digitalen Archiven und Rechercheportalen Isa Wortelkamp | 137

Nadel und Zwirn, Wind und Wetter, Auf und Ab Drei Techniken der Unvorhersehbarkeit Franziska Bork Petersen und Anja Mølle Lindelof | 149

Dasselbe noch einmal? Zur kartographischen Technik der künstlerischen Erzeugung von ,Duplikaten der Welt‘ Johanna Zorn | 159

Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden Lisa Wolfson | 169

Monumente in Bewegung? Theater – Architektur – Praktiken Barbara Büscher, Verena Elisabet Eitel, Jan Lazardzig, Bri Newelesy und Marie-Charlott Schube | 177

T echniken

des

K örpers

Techné des Tanzes als ästhetische Strategie ,Formierungen‘ von Körper/Kräften Sabine Huschka | 195

Die Pose des Konquistadors Nicole Haitzinger | 207

Technik von der Hand in den Mund? Geste, Gestus und gestisches Sprechen aus der Perspektive der Technikreflexion Anja Klöck | 215

Sprechtechnik als Zeitobjekt

Elsie Fogertys The Speaking of the English Verse (1923) Wolf-Dieter Ernst | 223

Sprechtechnik(en) für alle? Zur Ambivalenz der Formung von Stimme und Sprechen am Vorbild des Theaters Dorothea Pachale | 235

Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre Überlegungen am Beispiel von Martha Rosler und Ulrike Rosenbach Miriam Dreysse | 245

Proben zwischen materiellen, körpertechnischen und institutionellen Logiken Eine Probenpraxeologie im zeitgenössischen Tanz Katarina Kleinschmidt | 255

Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse Techniken der Starkonstruktion Clara-Franziska Petry | 265

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz Anne Schuh und Kirsten Maar | 273

Selbstermächtigung im Gefüge? Szenographie als Prothese in aktuellen Performances Philipp Schulte | 293

T echniken

des

R aumes . P rozesse

der

V erortung

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur Überlegungen zu technologischen Bedingungen der Barockoper Elisabeth van Treeck | 305

„Eine Komödie liegt auf der Hand“ Friedrich Dürrenmatts Theatertheorie und Technikkritik in Felicia Zellers Wunsch und Wunder Birte Giesler | 317

Kollektiverlebnis und Bühnentechnik Eine wenig bekannte Veröffentlichung zur Theatertechnik von Franz Jung aus dem Jahr 1935 Klemens Gruber | 329

Techniken der Manipulation im immersiven Theater Theresa Schütz | 343

P erforming T echnology . T heater

und

D igitalisierung

Dialogical Aesthetics Reconfiguring Theatrical Spaces through Digital Technology Susanne Thurow, Dennis Del Favero und Caroline Wake | 357

„You can upload yourself in a cloud“ Wie ‚half past selber schuld‘ mit analogen Mitteln die Vision einer hochtechnisierten Zukunft hinterfragen Niklas Füllner | 367

Digitale Diagrammatologie des Tanzes? Zur Aufzeichnung und Annotation von Tanz mit der Piecemaker-Software David Rittershaus | 373

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis Robin Hädicke (machina ex) und Stefanie Husel | 385

T echniken

der

E ntgrenzung . Z wischen

den

DEAE EX MACHINA Technofeministische Perspektiven auf analoge, elektronische und digitale Pionierinnen musiktheatraler Performancekunst Anna Schürmer | 401

Simon McBurney’s Binaural Mimesis: An Ethical Exploration of Otherness Julien Alliot | 413

Schlachten ohne Krieg Technik in den militärischen Schauspielen des französischen Theaters im 19. Jahrhundert Romain Jobez | 421

Repetition und Einmaligkeit Theater als Denktechnik von Selbstermächtigung in 7 Days in Entebbe und Westworld Matthias Naumann | 431

Wer inszeniert die Freiheit? Biopolitische Regierungstechniken und inszenierte Stadträume – am Beispiel von Mariano Pensottis Diamante. Die Geschichte einer Free Private City Mattias Engling und Yasemin Peken | 439

Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie Eine Technoökologie der Performance Nadine Civilotti | 449

Autor*innen  | 459

K ünsten

Einleitung Technologien des Performativen Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg Ich erwiderte, daß man mir das Geschäft desselben [des Marionettenspielers] als etwas ziemlich Geist­l oses vorgestellt hätte: etwas was das Drehen einer Kurbel sei, die eine Leier spielt. Keineswegs, a­ ntwortete er. Vielmehr verhalten sich die Bewegungen seiner Finger zur Bewegung etwa wie Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel. Über das Marionettentheater, 1810 H einrich von K leist

Nach der historischen Wortbedeutung umfasst die antike ‚techné‘ Prozesse des Hervorbringens, Handwerk, Kunstfertig- und Geschicklichkeit sowie die Fähigkeit und das Wissen, Rohstoffe und Kräfte zur Produktion einzusetzen.1 Die ­Geschichte, Theorie und Ästhetik des Theaters scheinen eng mit der Frage der Technik und mit (medien-) technologischen Entwicklungen verwoben, jedoch zeigt sich diese Verbindung als „Unschärferelation“2: Die technische Grundstruktur von

1 | Vgl. Giorgio Agamben, „Poiesis e praxis“, in: L‘uomo senza contenuto, Macerata 1994, S. 103–141, hier S. 103; Aristoteles, Nikomachische Ethik, Köln 2009, VI,5; Ders., Poetik, Stuttgart 1994; Jean-Luc Nancy, Die Musen, Göttingen 1998, S. 17; Platon, „Georgias“, in: Joachim Dalfen (Hg.), Platon. Werke, Übersetzung und Kommentar, Bd. VI/3, Göttingen 2004, S. 175. 2 | Die Metapher bezieht sich auf das Konzept der Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation der Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr. Sie beschrieben hiermit 1927 einen Leitsatz der Quantenphysik: „Ort und Impuls eines Teilchens“, so Heisenberg, „können prinzipiell nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmt werden. Mit anderen ­Worten: Eine gleichzeitige Bestimmung von Ort und Impuls eines Teilchens ist nur möglich, wenn für beide Größen eine Unschärfe in Kauf genommen wird.“ Damit seien auch

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Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg

Theater tritt häufig hinter künstlerischen Entscheidungen und der Ästhetik zurück und fasst die Technik als einen getrennten Bereich auf. Das Theater unter dem Vorzeichen seiner eigenen ‚technologischen Bedingung‘ zu betrachten,3 ermöglicht die Frage danach, ob und auf welche Weise es auch durch nicht-menschliche Akteure wie Maschinen, Apparate, Dinge, Medien, Systeme und Infrastrukturen mitbestimmt wird und wie auch eine überpersonale oder intersubjektive Weitergabe von Praktiken und technisches Wissen in Produktionsprozesse einwirken.4 Im Anschluss an Gilbert Simondons ontologische Befragung der Existenzweise „fremder“ technischer Dinge aus dem Jahr 19585 beschreibt der Medienphilosoph Erich Hörl unsere Gegenwart im Zeichen ihrer „technologischen Bedingung“.6 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts habe sich eine radikale Kybernetisierung und Computerisierung der Welt vollzogen. Die Wissens- und Existenzräume seien durch die Technik neu organisiert worden. Jene versteht Hörl nicht als ein ‚Außen‘ oder Umgebung. Er schlägt einen ‚ökologischen‘ Technikbegriff vor und spricht von technischen Umwelten, in die wir eingelassen seien und mit denen wir interagierten. Auf diese Weise entstehe eine neue Form von Wahrnehmung, Erfahrung und Bedeutung. Maschinen seien hier nicht als Werkzeuge zu verstehen, sondern besäßen eigene Handlungsmacht. Menschliche und nicht-menschliche Akteure erzeugten erst im Zusammenspiel Sinn. Dies benennt Hörl als die „technologische Sinnverschiebung“.7

Bahnvorstellungen von Teilchen nicht mehr möglich. Vgl. Werner Heisenberg, „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik,“ in: Zeitschrift für Physik 43, 1927, S. 172–198, hier S. 173. Vgl. hierzu aktuell Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 97f., S. 247f. 3 | Vgl. Robert C. Scharff und Val Dusek (Hg.), Philosophy of Technology. The Technological Condition. An Anthology, Oxford 2 2014. 4 | Zu Fragen des Wissens bezogen auf das Theater vgl. aktuell Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß und Judith Schäfer (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2017; zu Praktiken Marcus Boon und Gabriel Levine (Hg.), Practice. Documents of Contemporary Art,­ ­M assachusetts 2018; und Georg Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Frankfurt a. M. 2014. 5 | Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Berlin/Zürich 2012, S. 9. 6 | Vgl. Erich Hörl, Die technologische Bedingung. Beitrag zu Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a. M. 2011. 7 | Erich Hörl und Marita Tatari, „Die technologische Sinnverschiebung“, in: Dies. (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich 2011, ­S . 43– 63, hier S. 44.

Einleitung

Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl der Beiträge, die vom 9. bis zum 11. November 2018 im Rahmen des 14. Kongresses der deutschen Gesellschaft für Theaterwissenschaft präsentiert und diskutiert wurden. Der Kongress wurde durch das Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in verschiedenen Kulturinstituten der Stadt Düsseldorf veranstaltet. Die vorliegenden Beiträge befassen sich damit, wie sich die Konzepte von Theater, Technik, Wissen und Subjektivität im Zeichen einer technologischen Bedingung verändern und wie sich die Beschreibungen der jeweiligen ‚Theatralitätsgefüge‘ wandeln.8 Es geht dabei darum, herauszustellen, was geschieht, wenn nicht von empirischen Technikgeschichten der Trennung und Alterität ausgegangen werden kann, sondern Technikgeschichten in ihrer Verwobenheit und situativen Bedingtheit betrachtet werden. In den Blick rücken also die Dinge des Theaters, seine Maschinen und Apparate in ihrer spezifischen Verbindung mit den theaterspezifischen Körper- und Kulturtechniken des Spielens, Übens, Trainierens, Entwerfens, Planens, Improvisierens, Komponierens, Anordnens, Aufzeichnens, Notierens, Dokumentierens usw., sowie dramaturgische und szenographische Praktiken. Es wird gefragt, auf welche Weise Künstler*innen Innovationen ihrer medientechnischen Umgebung aufnehmen und inwieweit diese zurück in die Praktiken anderer Bereiche wirken. Das Verhältnis von Theater und Technik zu untersuchen, bedeutet ver­ schiedene Diskurse aus unterschiedlichen Disziplinen von Anthropologie und philosophie über Medien- bis hin zur Theaterwissenschaft zu hinter­ Techno­ fragen. I­nsbesondere die Theaterwissenschaft verfügt über eine lange Tradition der Überlegungen zu Inter- und Transmedialitäten, zu Synthese, Synästhesie, Gesamtkunstwerk und zu weiteren Formen der Entgrenzung zwischen den Künsten und ihren jeweiligen medialen und technischen Verfahren. Sie war schon immer ein Feld der Erforschung von Gefügen, der Beziehungen zwischen Ereignissen, ­Körpern, Dingen, Licht und Sprache. Im Theater treten Körpertechniken und ­Apparate in Verbindung und figurieren sich gegenseitig, sie sind affektiv wirksam und in Bedeutungsprozesse eingebunden. Der vorliegende Band versteht ­Theater als eine Kontaktzone zwischen verschiedenen Akteuren, zwischen Mensch und Maschine,9 zwischen digital und analog, zwischen „Ding und Zeichen“,10 in der es vielfältige Schnittstellen zwischen Körpertechniken und technologischen ­Erweiterungen zu erforschen gibt. Theater ist als ein experimenteller Raum der

8 | Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 89. 9 | Vgl. hierzu den Beitrag von Gabriele Brandstetter im vorliegenden Band. 10 | Vgl. Gertrud Koch und Christiane Voss (Hg.), Zwischen Ding und Zeichen. Zur ­ä sthetischen Erfahrung in der Kunst, München 2006.

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Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg

Verflechtungen zu verstehen; ein Raum für neue Möglichkeiten, Utopien und noch unbekannte Formen der Interaktion. Dass bisher jedoch der Blick auf die Technik des Theaters und seine performativen Formen verstellt war, hat auch theatergeschichtliche Gründe. Trotz der Verfeinerung von Techniken im Verlauf der Institutionalisierung des Theaters – man denke an Formen der künstlerischen Virtuosität oder die fortschreitende Maschinisierung der Bühne seit dem 19. Jahrhundert11 – ist das Theater zeitweise auch durch ein Misstrauen gegenüber dem Technischen markiert gewesen. Theater besteht nämlich auf die Qualität eines unverstellten Blicks auf das ‚Hier und Jetzt‘, auf eine unberechenbare, nicht-wiederholbare und medial nicht speicherbare Ereignishaftigkeit und „leibliche Ko-Präsenz“ aller Beteiligten, der Gemeinschaft, Ritualität und Politizität eingeschrieben scheinen.12 Zudem durchziehen Vorbehalte gegenüber der Technik als einer Komplizin der kapitalistischen Verwertung die Geschichte des Theaters, vor allem jene im 20. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um eine mehr oder minder stille Kritik an der Kommodifizierung und Ökonomisierung des Theaters und an Formen einer entmenschlichenden Mechanisierung im Industriekapitalismus.13 Doch es war der marxistische Theatermacher und Denker Bertolt Brecht, der den Begriff ‚Technik‘ wendete, hervorhob und als kritisches Instrument für die Theatertheorie und -praxis einführte: Er entwickelte zwischen 1926 und 1940 eine neue Technik der Schauspielkunst, des „epischen Theaters“ und des Verfremdungseffekts, der bekanntermaßen das

11 | Vgl. u.a. Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Kai van Eikels (Hg.), ­S zenen des Virtuosen, Bielefeld 2017; Silke Koneffke, Theater-Raum: Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort 1900–1980, Berlin 1999; Christopher Balme, „Stages of Vision: Bilder, Körper und Medium im Theater“, in: Hans Belting, Dietmar Kamper und Martin Schulz (Hg.), Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 349–364; sowie den Beitrag von Ulf Otto im vorliegenden Band. 12 | Vgl. u.a. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; Samuel Weber, Theatricality as Medium, New York 2004; Philip Auslander, Liveness. Performance in a Mediatized Culture, New York/London 2008; Peggy Phelan, ­U nmarked. The Politics of Performance, New York/London 1993. 13 | Vgl. u.a. Franziska Schößler und Christine Bähr (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik – Produktion – Institution, Bielefeld 2009; Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München 2013. Das Motiv der entmenschlichenden Technik findet sich als Topos seit der Romantik in unterschiedlichen Diskursen manifestiert: so bspw. in Mary Shelleys Frankenstein (1823), in Texten von E.T.A. Hoffmann oder in Charlie Chaplins Film ­M odern Times (1936), der sich auf Karl Marx’ Konzept der entfremdenden Produktionstechnik beziehen lässt.

Einleitung

p­ sychologisierende Schauspiel und Einfühlung des Publikums durchkreuzen und kritisches Denken anregen sollte. Seine Schauspieltechnik wirkte bis in die postdramatischen Schauspieldiskurse und -praktiken ein und ging davon aus, dass diese Entpersonalisierung durch Technik produktiv für gesellschaftliche Veränderung sei.14 Solche vielgestaltigen und teils widersprüchlichen ‚Szenen des Technischen‘ werden im Band erforscht und kontextualisiert. Bezogen auf das Verhältnis von Theater und Technik stellt sich die Frage, wie sich Theater in einer computerisierten und digitalisierten Welt verortet und welche Verantwortung und welches Ethos daraus erwächst. Wie konstruieren Techniken und Gesellschaften die Welt, in der wir in Beziehung zueinander leben? Es wäre noch einmal mit Arnold Gehlen und Herbert Marcuse zu fragen,15 welche Chancen und Risiken neue Technologien bergen, zum Beispiel Kernenergie, Mikroelektronik, Gentechnik, Computerisierung des Arbeitsplatzes. Reflexive Formen des Theaters scheinen auch auf diese Veränderungen Bezug zu nehmen und andere Entwürfe des Technischen vorzustellen. Und so ließe sich fragen, in welchem Verhältnis distanzierend-verfremdende und immersive Effekte im Gegenwartstheater stehen, ist doch das Merkmal ­technologischer Bedingungen der Gegenwart eine Nähe und das ‚Umgeben-Sein‘ von Technik. Aktuelle Inszenierungen lassen ein Spiel mit Nähe und Teilhabe, aber auch Distanz entstehen – man denke bspw. an das Game-Theater16 von machina eX, die VR-Experimente von Fabian Prioville, das Technik-Spektakel Susanne Kennedys, die transgressiven Alltagstechniken bei Rimini Protokoll, Formen der Künstlichen Intelligenz und Raumanordnung bei Choy Ka Fai, die Drohnen­ choreographie von Éric Minh Cuong-Castaing/Shonen oder Elevenplay, die virtuellen Environments bei Mária Júdová oder die transgressiven Performances von ­SIGNA. Hier werden neue Begriffe von Technologie, Immersion, Gesellschaft und Verfremdung erprobt, die auch Kategorien des Kritischen neu arrangieren.17

14 | Vgl. Bertolt Brecht, „Vierter Nachtrag zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“, in: Klaus Lazarowicz und Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 282–285. Vgl. hierzu auch Wolf-Dieter Ernst, Der affektive Schauspieler, Berlin 2012 (= Recherchen Bd. 68). 15 | Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in den industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957; Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994. 16 | Vgl. Friedemann Kreuder und Stefanie Husel (Hg.), Spiele spielen: Praktiken, ­M etaphern, Modelle, Paderborn 2018. 17 | Zur Veränderung von Begriffen der Kritik bezogen auf das Theater vgl. aktuell Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert,

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Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg

Das Nachdenken über Technik fordert im abendländischen Diskurs seit der Antike bis zur computerisierten Gegenwart zu stets neuen Verortungen des Menschen in seinen Bezügen zur Umwelt, Gesellschaft und zum Verhältnis von Natur und Kultur heraus. Aus anthropologischer Perspektive bezeichnete Johann Gottfried Herder den Menschen zum Beispiel im Gegensatz zum Tier als „Mängelwesen“, das durch „Vernunft“ kompensiere, was ihm fehle.18 Sigmund Freud spricht vom Menschen als „Prothesengott“.19 Helmuth Plessner formuliert, „der Mensch ist von Natur aus künstlich“.20 Seine ‚Natur‘ ermögliche und befähige ihn zu Kultur und Technik, also zur technischen Geste und dem Denken in materiellen Symbolen und Abstraktionen.21 Diesen Fortschrittsdiskurs wendet Martin Heidegger im Jahr 1953 und beschreibt die ‚techné‘ im Rückgriff auf Aristoteles nicht „als Mittel zum Zwecke“ oder als „Tun des Menschen“, das im „Verfertigen, Benützen von Zeug, Gerät und Maschinen“ seine Ziele verfolgt.22 Vielmehr führt er den Begriff des „Ge-stells“ ein, der die binäre Unterscheidung von Natur und Technik, beziehungsweise Welt und Technik unterläuft und den Menschen als Teil eines Gefüges versteht. In Folge und in Abgrenzung von Heideggers vieldeutigem Begriff des Ge-stells finden sich bei Gilbert Simondon, Gilles Deleuze und Félix Guattari, Jean-Luc Nancy und Erich Hörl Positionen,23 die ebenfalls eine Verschiebung der Technik als „Utensil“ oder Werkzeug zur Technologie als „Ensemble“ nahelegen.24 Der Technologie-Begriff ist dem der Technik dabei nicht als ‚logos‘ und Lehre gegenübergestellt, vielmehr steht er für das ‚Gefüge‘ selbst, für die Ansammlungen von Geräten und Maschinen, Praktiken und Handlungen, Epistemen und Unbewusstem, das in den Subjekten wirkt und sie erst konfiguriert.25 Dieses Verständnis von Technologie rückt die unterschiedlichen menschlichen und nichtmenschlichen ‚Akteure‘ ihre Materialitäten, Dinge, Gebräuche, Kulturtechniken

Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der ­E nt-Unterwerfung, Bielefeld 2018. 18 | Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: Ders., Werke, Bd.1, Frankfurt a. M. 1985, S. 695–810, hier S. 715f. 19 | Siegmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1974, S. 191–270, hier S. 222. 20 | Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975 [1928], S. 309, S. 316. 21 | Siehe hierzu André Leroi-Gourhan, Le geste et la parole, Paris 1964. 22 | Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik [1953]“, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a. M. 2000, S. 5–36, hier S. 6. 23 | Siehe hierzu Scharff und Dusek (Hg.), Philosophy of Technology, 2 2014. 24 | Simondon, Die Existenzweise technischer Dinge, 2012, S. 12, S. 14. 25 | Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Capitalisme et shizophrénie 2. Milles ­P lateaux, Paris 1980, S. 49.

Einleitung

und Institutionen in den Blick.26 Diese Verschiebung stellt schließlich auch den Menschen als ‚homo faber‘, Werkzeugträger*in und als souveränes Künstlersubjekt oder Genie in Frage, wie auch die damit einhergehenden technophilen oder technophoben Narrative. Eine Revision des Verhältnisses von Theater und Technik eröffnet somit spezifischere Fragen nach der Verfasstheit und anthropologischen Positionierung des Subjekts. In dieser Perspektivierung können schließlich auch subjekt-, körper-, geschlechts- und gendertheoretische Fragen neu konturiert 27 sowie koloniale Verwicklungen kritisch befragt werden, da die (Medien-)Technik an dieser Stelle die Disziplinierung des Subjektes als physiologisches Apriori neu denken lässt. Jene Revision unterläuft die seit der Romantik verfestigte Vorstellung einer ‚Kluft‘ zwischen Kunst und Technik, ästhetischer und technischer Kunst, ‚poïesis‘ und ‚praxis‘, Dichtung und Handwerk.28 Vor diesem Hintergrund der Kontinuität technischer Hervorbringungen können die Formen des Theaters als technologische Ensembles, oder: Technologien des Performativen, in den Blick genommen werden: Aufführungen, Performances, Inszenierungen in politischen, sozialen, (nicht-)künstlerischen Kontexten, Popkonzerte, Kino, Film, Video, Installationen, Audiowalks, Demonstrationen und Alltagsrituale. Theater als Technologie aufzufassen bedeutet, die Produktions-, Hervorbringungs- und Erfahrungsweisen zu verflechten und somit ‚praxis‘, ‚poïesis‘ und ‚methexis‘ zusammenzuführen. Inszenierung und Aufführung wären hier nicht instrumentell-technisch, also in einer Kausalbeziehung oder kybernetischen Steuerung zu beschreiben, wie es beispielsweise die Zweckkonstellationen des „Industrie- und Technikkapitalismus“ vorführen.29 Vielmehr materialisieren sich die Phänomene als „Unbestimmtheitsspielräume“,30 in die zugleich Distanzierungs- und Intensivierungsmomente eingelassen sein können: Das Außen der Technologie im Theater wäre demnach, so der Vorschlag des Bandes, nicht als Objekt, Mangel oder Extension zu begreifen,

26 | Siehe hierzu Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007. 27 | Vgl. Anne Balsamo, Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women, Durham 1996; Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, ­B erlin 2015; Donna Haraway, „Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist ­Feminism in the 1980’s“, in: Socialist Review 80, 1985, S. 65–108; Katherine Hayles, How we became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago/London 1999. 28 | Vgl. Nancy, Die Musen, 1998, S. 16–18. 29 | Hörl, Die technologische Bedingung, 2011, S. 47. 30 | Simondon, Die Existenzweise technischer Dinge, 2012, S. 12.

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Kathrin Dreckmann, Maren Butte und Elfi Vomberg

sondern im Akt einer geteilten, von Spannungen durchzogenen Partizipation oder „partage“31 an den „aufkommenden Erscheinungen“.32

Über den Band Die Beiträge erarbeiten in thematischen Einzelstudien die technischen Bedingungen des Theaters im Wandel der Zeit: von der Barockbühne bis zum digitalen Game-Theater, der Virtual Reality, Künstlichen Intelligenz, Robotern und anderen digitalen Experimenten der Gegenwartskunst bis zu Pop-Praktiken und Alltagstechniken. Es werden so einerseits die basalen und historisch gewachsenen „Körpertechniken“ des Theaters – Schauspiel, Gesang und Tanz – in den Blick gerückt; andererseits aber auch die (medien-)technischen Voraussetzungen des Theaters selbst. Wenn performances als Vollzüge und wiederholende Akte Wirklichkeit erzeugen und Identitäten konstruieren, wie beispielsweise Judith Butler, Erika Fischer-Lichte oder Jon McKenzie argumentieren, stellt sich die Frage, welche Techniken als ein ‚Wissen-Wie‘ an diesen Prozessen und Praktiken beteiligt sind und wie diese ‚Technologien des Performativen‘ Wirklichkeiten (mit-)konstruieren.33 Dabei scheinen diesen Materialisierungen auch Machtstrukturen und potentieller Widerstand eingeschrieben.34 Techniken können affirmativ wirken oder als subversive Taktiken fungieren; die Funktion durch einen alternativen Gebrauch durchkreuzen.35

31 | Nancy, Die Musen, 1998, S. 20f. 32 | Hörl, Die technologische Bedingung, 2011, S. 47. 33 | Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, London/ New York 1990; Jon McKenzie, Perform or else. From Discipline to Performance, ­L ondon 2001; Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 2004. 34 | Vgl. Michel Foucault, „Subjekt und Macht“, in: Ders., Schriften in Vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4 (1980–1988), hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2005, S. 269–294; Ders., Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt a. M. 2006. 35 | Die Unterscheidung von Funktion und Gebrauch findet sich bspw. im aktuellen Körper-Diskurs der Disability Studies bezogen auf Prothesen. Für diesen Hinweis zur Unterscheidung der Kategorien danken wir Anaïs Rödel. Vgl. Sharon Betcher, „Putting My Foot (Prosthesis, Crutches, Phantom) Down: Considering Technology as Transcendence in the Writings of Donna Haraway“, in: Women‘s Studies Quarterly 29/3–4, 2001, „Women Confronting the New Technologies“, S. 35–53; Karin Harrasser, Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin 2016; sowie Julia Watts Belser, „Vital Wheels: Disability, Relationality, and the Queer Animacy of Vibrant Things“, in: Hypatia 31/1, 2016, S. 5–21.

Einleitung

Damit steht ein Thema im Fokus, das in der Breite und Tiefe im akademischen Diskurs bislang nicht ausreichend diskutiert wurde. Zwar gibt es im englischsprachigen Diskurs zahlreiche Forschungen zum Verhältnis von ‚Performance‘ und ‚Technology‘, bspw. von Mark B. Hansen, Johannes Birringer, Chris Salters und Peter Sellars, Steve Dixon, Josephine Machon, Ulf Otto und Cat Hope und John Charles Ryan, deren Perspektivierungen von historischen seit der Moderne bis zu phänomenologischen und Studien der Digital Arts reichen.36 Und auch im deutschsprachigen Raum haben sich besonders seit den 1990er Jahren Forscher*innen dem Thema gewidmet, beispielsweise Martina Leeker, Sönke Dinkla, Imanuel Schipper, Timon Beyes, Kerstin Evert, Julia Glesner oder Barbara Büscher.37 Helmar Schramm, Christopher Balme oder Henri Schoenmakers und Stefan Bläske reflektieren die Techniken des Theaters darüber hinaus unter dem Vorzeichen der Bild- und Medienwissenschaft oder der Wissenschaftsgeschichte.38 Zudem gibt es zahlreiche Einzelforschungen, bspw. zu Brechts Verfremdungstechnik, Erwin Piscators „Totaltheater“, zu Dada, Bauhaus-Ästhetik oder Adolphe Appias Bühnenreform, zu Performance-Installationen der 1960er Jahre, zu den Cyborg-Performances von Stelarc und den ikonischen Techno-Ästhetiken von Troika Ranch oder Dumb Type. Auf diese Forschungen greifen die Beiträge und das Konzept

36 | Mark B. N. Hansen, Bodies in Code. Interfaces with Digital Media, London/New York 2006; Chris Salters und Peter Sellars (Hg.), Entangled. Technology and the Transformation of Performance, Cambridge 2010; Josephine Machon, Immersive Theatres. Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Palgrave 2013; Johannes Birringer, Performance, Technology and Science, Cambridge 2008; Cat Hope und John Charles Ryan, Digital Arts. An Introduction to New Media, London 2016; Ulf Otto (Hg.), Algorithmen des Theaters, Berlin 2020; Susanne Foellmer, Katharina Schmidt und Cornelia Schmitz (Hg.), Performing Arts in Transition. Moving Between Media, Abingdon 2019 (= Routledge Advances in Theatre & Performance Studies ). 37 | Bspw. Barbara Büscher, „(Interaktive) Interfaces und Performance. Strukturelle Aspekte der Kopplung von Live-Akteuren und medialen Bild/ Räumen“, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 87–111; Julia Glesner, Theater und Internet. Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2005; Kerstin Evert, DanceLab: Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg 2003; Martina Leeker, Imanuel Schipper und Timon Beyes (Hg.), Performing the Digital: Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld 2016. 38 | Balme, „Stages of Vision“, 2002: Helmar Schramm; Ludger Schwarte, Jan Lazardig (Hg.), Instrumente in Wissenschaft und Kunst – zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2006; Henri Schoenmakers, Stefan Bläske, Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.), Theater und Medien/Theatre and the Media: Grundlagen – ­A nalysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008.

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des Bandes zurück und spannen einen weiten historischen und thematischen Bogen. Eine theoretisch-konzeptuelle Neurahmung bildet dabei der Vorschlag, die von den Beiträgen auf je eigene Weise aufgenommen, diskutiert und bearbeitet werden, das ‚Theater als Gefüge‘ verschiedenster Akteure, Dinge, Techniken und Praktiken zu sehen. Ästhetiken, selbst Dramen, sind nie nur künstlerische Entscheidung, sondern aus einem Milieu dieser Faktoren erwachsen und spiegeln die medienhistorische Bedingung der jeweiligen Zeit wider. Der Band ist in sechs Teile gegliedert. Auf die theoretischen Überlegungen und technikphilosophischen Zugänge zum Theater in Teil 1 Das Theater im Zeichen seiner technologischen Bedingung folgen sechs unterschiedliche Schwerpunkt­ setzungen, zunächst zu den Techniken des (Re-)Produzierens, Archivierens und Institutionalisierens (Kapitel 2). Diese Sektion widmet sich künstlerisch-­ technischen Praktiken, Verfahren und Strategien zur Hervorbringung von Aufführungen: etwa dem Planen, Anordnen, Improvisieren, Übertragen, Teilen, Markieren und Proben in Relation zu ihren jeweiligen medientechnologischen Umgebungen. Wann und zu welchem Zweck nehmen Künstler*innen technische Innovationen und Möglichkeiten auf (Film, Video, digitale Formate)? Wann gibt es eine bewusste Distanzsetzung zugunsten einer ‚medial-unverfälschten‘ Präsenz des agierenden Körpers? In welchem Verhältnis stehen Ritual, das Live-Ereignis und die „technische Reproduzierbarkeit“ zu Praktiken des Reenactments, Reperformings und Rekonstruierens von Aufführungen?39 Die Frage der (Re-) Produktion ermöglicht auch, die jeweiligen ökonomischen Bedingungen des Hervorbringens zu thematisieren. Einen eigenen Teil zu den Techniken des Körpers bildet Kapitel 3 zu Aspekten des Schauspiels, Tanzes und Gesangs als Körpertechniken40 und fragt, welche Kultur- und Disziplinierungstechniken des Theaters,41 welche Trainings, Entwurfspraktiken und Objekte die jeweilige ‚Form‘ des Sprechens, Spielens, Darstellens, Tanzens, Singens, Schreibens, Lesens und Vermittelns ausbildet. Wie bestimmt das technologische und diskursive Apriori des Akts seine jeweilige Aktualisierung, Materialisierung und Wahrnehmung mit? Was bedeutet es, über performative und soziale Konstruktion von Körpern, Identitäten und Subjekten in

39 | Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Zweite Fassung), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VII.1, Frankfurt a. M. 1974, S. 350–384; Adrian Heathfield und Amelia Jones (Hg.), Perform, Repeat, Record: Live Art in History, New York/ London 2012. 40 | Marcel Mauss, „Körpertechniken“, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 199–220. 41 | Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, ­Frankfurt a. M. 1993.

Einleitung

sich wiederholenden Akten inklusive ihrer technologischen Vermittlungen und Umwelt nachzudenken?42 Einige Beiträge des Bandes führen diesen Gedanken in Richtung technofeministischer Perspektiven fort und betrachten die Dimensionen von Körper, Gender und Geschlecht im Zeichen ihrer technologischen Bedingung. In Kapitel 4 Techniken des Raums. Prozesse der Verortung werden theatrale Raumprozesse im Zeichen ihrer technologischen Bedingung diskutiert. In welchem Verhältnis stehen jeweils Subjekte, Umwelten und Formen? Die Sektion bietet Raum für Recherchen zu historischen und aktuellen Perspektiven auf konkrete Raumfigurationen im Verhältnis zu ihren Umgebungen, ihren kulturellen, politischen und sozialen Kontexten: szenographische und Maschineneffekte, modulare und Montageelemente sowie kybernetische, postdramatische, intermediale und -aktive Settings. Wie verändern sich jene ‚visual cultures‘ der Zuschauer*innen und die Techniken der Betrachter*innen?43 Hier werden Fragen danach gestellt, welche anderen Sinne und Wahrnehmungen auf welche Weise organisiert werden und in welchem Verhältnis die jeweiligen Techniken, Perspektiven und Dispositive stehen. Einen wichtigen Teil bildet auch das Kapitel 5 zu Performing ­Technology. Theater und Digitalisierung. Hier rücken die digitalen Praktiken des zeitgenössischen Theaters in den Blick und somit Themen wie Game-Theater, Virtual Reality, Künstliche Intelligenz, Roboter auf der Bühne, Produktionssoftwares, Immersionseffekte, Algorithmen und Filter sowie interaktive Settings und Sensoren der Verbindung von Körper und Systemen. Der finale Teil Kapitel 6 Techniken der Entgrenzung. Zwischen den Künsten denkt noch einmal trans- und interdisziplinär über das Verhältnis zwischen den Künsten nach und stellt auf unterschiedliche Weise Fragen zu Steuerungsmetaphern und Unbestimmtheitsspielräumen der technischen Gefüge. Es geht hier auch um die – aus einer Perspektive der Techniken und Hervorbringungsweisen gedachten – Verwicklungen von Alltag und Kunst, die die Grenzen von U- und E-Kunst sowie zwischen Kunst und Handwerk (etwa im Design) unterlaufen. Die audiovisuellen Figurationen des Pop beispielsweise betonen die technischen, maschinellen, digitalisierten und reproduktiven Verfahrensweisen (Sampling, Zitation, Montage, Mixing usw.) und stellen in ihren spielerischen Bezugnahmen neue Verbindungen zwischen ­Subjekten, Techniken und Umwelten her.

42 | Siehe hierzu Judith Butler, Gender Trouble, 1990. 43 | Siehe hierzu John Berger, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996.

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Dank Unser Dank bezieht sich auf zwei Dinge: erstens das Gelingen des Kongresses 2018 sowie zweitens die Publikation des Kongressbandes. Wir möchten noch ­einmal der Gesellschaft für Theaterwissenschaft und unseren zahlreichen Ko­ operationspartner*innen und mitveranstaltenden Institutionen der Stadt Düsseldorf danken sowie unseren Förderern: dem NRW KULTURsekretari­ at, dem Kulturamt Düsseldorf, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, der Lütjen-Drecoll-Stiftung und der Anton-Betz-Stiftung der ­R heinischen Post sowie dem Fachinformationsdienst Darstellende Künste und Sigma Medientechnik Düsseldorf. Ein großes Dankeschön geht an Svenja Hoffeller für ihre wertvolle Mitarbeit am Kongressband. Jana Weißenfeld danken wir ganz herzlich für das unermüdliche Lektorat aller Beiträge. Don McDonald danken wir für alle Übersetzungen und Englisch-Lektorate. Silvia Sunderer gilt unserer Dank für das abschließende Design und den Satz für das vorliegende Buch.

DAS THEATER IM ZEICHEN SEINER TECHNOLOGISCHEN BEDINGUNG

Chimärische Körper Zum Verhältnis von Tanz und Technik bei Pina Bausch, Florentina Holzinger, William Forsythe und Ola Maciejewska Gabriele Brandstetter Tanz und Technik? Es ist ein Thema mit vielerlei Dimensionen. Eine Möglichkeit, die Verknüpfung von Tanz und Technik zu betrachten, wäre z.B. die Geschichte des Tanzes und der Bühnen-Maschinen: so etwa die Relation von Spitzentanz und Flugmaschinen als zweierlei Techniken des Schwebens im romantischen Ballett.1 Die Verbindung von Tanz und Technik ist freilich auch verkörpert in sogenannten „Tanz-Techniken“. Hier liegt der Ausgangspunkt meiner Überlegungen und der Fokus der folgenden Beispielanalysen aus dem zeitgenössischen Tanz. Bedenkt man den Begriff „Technik“ im griechischen Wortsinn von techné (d.h. alles, was von Menschen gemacht, herstellbar ist) und eng verbunden mit dem Begriff von poïesis (der sich u.a. auf das spezifische Wissen der Künste, des Singens, Tanzens, Lyra-Spiels bezieht2), so lassen sich Körper-Techniken im Tanz unter beiden Begriffen subsumieren: techné und poïesis. Körpertechniken sind, mit Marcel Mauss gesprochen, immer schon im Plural zu denken.3 Es sind jene Bewegungspraktiken, die das menschliche Tun, Verhalten und die Kommunikation ausprägen: Stehen, Gehen, Schlafen, Geräte handhaben. Sie unterliegen jeweils kulturellem und historischem Wandel; sie formen das, was Pierre Bourdieu „habitus“ nennt; ein spezifisches körperliches, sozial kodiertes implizites Wissen. Tanztechniken sind in einem Bereich des körperpraktischen „Knowing how“

1 | Vgl. dazu Mariama Diagne, Schweres Schweben. Qualitäten der „gravitas“ in Pina Bauschs „Orpheus und Eurydike“, Bielefeld 2019; Hannah M. Winter, The Pre-romantic Ballet, London 1974; sowie Christina Thurner, Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009. 2 | Vgl. Friedrich Kittler, „Techniken, künstlerische“ in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Band 6: Tanz-Zeitalter/Epoche, Stuttgart/Weimar 2005, S. 17. 3 | Vgl. Marcel Mauss, „Techniques of the body“, in: Economy and Society, 2/1, 1973, S. 70–88.

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Gabriele Brandstetter

a­ ngesiedelt und assoziiert mit körperpolitischen Konzepten, Ästhetiken und Praktiken, die je nach Diskurs durch Termini wie Üben, Exercise, Training, Tools, oder Skills bezeichnet werden. Dabei ist bis zu einem gewissen Grad schon die sich wandelnde, heute eher hybrid und nicht hierarchisch verfahrende Benennung dessen, was eine Tanz-Technik zu einer solchen macht und sie von anderen abgrenzt, ein Bestandteil von Tanz-Technik. In diesem Sinn gilt auch für den zeitgenössischen Tanz was Jean-Luc Nancy in seinem Text über „die Musen“ schreibt: „The Arts are first of all technical.“ Und das bedeutet: „knowing how“, oder präziser: „knowing how to make decisions.“4 Die Techniken des Bewegens im zeitgenössischen Tanz generieren sich freilich nicht mehr aus einer einzigen Praktik des Trainings, und ihre Ästhetik ist nicht definiert aus einem spezifischen Körperkonzept. Vielmehr gehört zur poïesis – zur Ausprägung von Tanztechniken heute – eine changierende Hybridisierung und Kreolisierung von beständig adaptierbaren Technikelementen: ein „tool kit“ (Andreas Reckwitz).5 Diese Praktiken und Prozesse der Aneignung, Überlagerung und Transformation dessen, was Tanz-Techniken als „Enactivity“ (Philipp Zarilli) produzieren, lassen sich nicht (mehr) auf eine bestimmte Körper- und BewegungsIdentität festschreiben. Dadurch werden vielmehr „Unbestimmtheitsspielräume“6 generiert, die wiederum Effekte in Choreographien und auch in Diskursen des zeitgenössischen Tanzes zeitigen. So z.B. die Ablehnung des Begriffs „Technik“. Ist der Begriff Technik, und das Nachdenken über und das Praktizieren von „Techniken“ im zeitgenössischen Tanz ein Tabu, wie die Erfinderin der Countertechnique, Anouk van Dijk, meint?7 Um diesen Fragen eine Plattform zu geben und die unterschiedlichen Diskurse in Tanz und Tanzpädagogik ins Gespräch zu bringen, haben Ingo Diehl und Friederike Lampert im Rahmen von Tanzplan Deutschland Tänzer*innen, Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen befragt und die Ergebnisse in einer umfangreichen Publikation versammelt.8 Die Vielfalt der aktuellen Ansätze und Körperkonzepte erscheint auf den ersten Blick schwierig zu systematisieren. Deutlich wird jedoch – in Interviews und Trainingskonzepten –, dass die Festlegung auf eine bestimmte Tanztechnik heute obsolet

4 | Vgl. Jean-Luc Nancy, The Muses, Stanford 1996, S. 24. 5 | Vgl. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4, 2003, S. 282–301, hier S. 286. 6 | Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2 2012, S. 12; sowie Erich Hörl, Die technologische Bedingung. Beitrag zu Beschreibung der t­echnischen Welt, Frankfurt a. M. 2011. 7 | Ingo Diehl und Friederike Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, Leipzig 2011, S. 10. 8 | Vgl. ebd.

Chimärische Körper

ist. Bewegungstechniken als eine einzige Trainingsform, wie das Ballett-Excercise, oder – beim Blick in eine andere Tanzkultur – das indische Bharatanatyam, die ein jahrelanges ausdauerndes, den Körper formendes Training erfordern, werden häufig abgelehnt; oder sie gelten als Basis, die noch durch andere Körperpraktiken und „Skills“ ergänzt werden muss, z.B. durch Bewegungskonzepte des Modern Dance, diverse Praktiken aus dem Bereich von Release9 oder somatische Praktiken. Man könnte in diesem Zusammenhang von „Ensembles“ von Praktiken innerhalb der Tänzer-Körper sprechen: eine Art Assemblage, die schon in diesem Vernetzen von Bewegungs-enactments das voraussetzt, was man als eine Vervielfältigung, eine Komplizierung des Tanz-Technik-Begriffs bezeichnen könnte: im Sinne der Begriffsverwendung bei Simondon.10 Zur Komplizierung eines Begriffes von Technik im zeitgenössischen Tanz, gerade auch da, wo eine kodifizierte Bewegungstechnik, die jahrelanges Training voraussetzt, präsent ist und von Tänzer*innen und Choreograph*innen in der Performance eingesetzt wird, ist somit eine „erweiterte Technikdefinition“11 (Ingo Diehl) vonnöten. Dies reicht bis zu dem Paradox einer Technik ohne Technik. Könnte man jenes Statement, das der Tänzer und Choreograph Gentian Doda in einem Podiums-Gespräch anlässlich seines Stücks was bleibt (2018, Staatsballett Berlin) äußerte – und das wohl auch andere Tänzer*innen und Choreograph*innen heute unterschreiben würden – im Sinne einer solchen paradoxen Idee einer „Technik über/oder Technik jenseits der Technik“ verstehen? Es reiche nicht aus, so Doda, eine Bewegung (formal) bloß auszuführen. Es komme viel mehr darauf an, im Moment der Bewegung (und in Bezug zum Raum, zu anderen Tänzer*innen, zum Publikum) eine spezifische Aufmerksamkeit/awareness zu entwickeln. Nur so sei es möglich, wie er sagt, „to create attention. You have to feel the moment exactly in the moment“. Es ist diese Ebene einer poïesis von Aufmerksamkeit, von Gewahrsein bzw. Gewahrwerden im Augenblick des Tuns, wodurch in der Ausführung einer Bewegung und über sie hinaus eine Dimension des Performativen angesprochen ist, die in der Tat einen erweiterten Technik-Begriff verlangt.

9 | Wobei „Release“, wie Chrysa Parkinson im Gespräch betont, nicht etwa „Entspannung“ meint, sondern das „Loslassen von Bewegungsmustern“, in: Diehl und Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010, 2011, S. 170. 10 | Vgl. Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2012; oder als eine Praxis von Gefügen, von agencements, die Jean-Luc Nancy mit dem Begriff der „struction“ (Nancy, The Muses, 1996, S. 66) fasst: als ein gefügtes und zugleich in Clustern disparates metamorphotisches Konglomerat. 11 | Vgl. „Keine Angst vor Technik“, Interview von Melanie Suchy, in: tanz – Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance 9/5, 2018, S. 68–71.

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Zur Körpertechnik als einem inkorporierten, habitualisierten Wissen (im Sinne von Gilbert Ryle’s „knowing that“) kommt hier eine Praxis, die erst im generierenden Moment, im „Jetzt“ der Bewegung aktualisiert wird – als ein „knowing how“. Auch für eine solche Dimension des Wissens als Gewahrwerden/awareness „im Moment“ existieren unterschiedliche Wege, Anleitungen, Übungen, die darauf vorbereiten, und damit das Potential der Körper- und Bewegungswahrnehmung erweitern. Unterschiedliche somatische Praktiken,12 Yoga oder ZEN-Meditation, sind heute selbstverständliche Elemente in den vielschichtigen Trainings-Erfahrungen von Tänzer*innen. Ist dies denn auch Technik? Oder eine andere Technik? Oder ist es damit getan, Selbst-Definitionen von Gründer*innen somatischer Praktiken oder Übungsweisen zu übernehmen, die explizit den Begriff „Technik“ zurückweisen oder umbenennen, oder: zum Label machen, wie z.B. Susan Kleins ‚Klein TechniqueTM‘; oder Ohad Naharin mit seinem System ‚Gaga‘? Eine eindeutige Antwort, die diese oder jene Praxis körperlichen Wissens einschließt und eine andere ausnimmt, gibt es meines Erachtens nicht. Selbst jener besondere Moment der „awareness“ im Jetzt der Bewegung, von dem Doda spricht, wäre hier noch eingeschlossen. Obwohl oder gerade weil dieses „Jetzt“ einer Präsenz „ungefähr“ (man bewegt sich hier in Grauzonen des Annäherns, des „Werdens“) dem entsprechen mag, was der Psychologe Daniel Stern, bewusst tautologisch, „Now Moments“ genannt hat.13 Denn diese Momente sind, wie auch das Zitat Dodas zeigt, prägnante Augenblicke, die man durchaus im Sinn von Lessings „fruchtbarem Augenblick“ verstehen kann. Es sind Zeitmomente der Interaktion – zwischen den Tänzer*innen, und ebenso zwischen Tänzer*innen und Zuschauer*innen. Auf beiden Seiten entsprechen diesen freilich nicht exakt, nicht „technisch“-mechanisch erzielbaren „moments of awareness“ spezifische Techniken der Aufmerksamkeit der (Selbst-)Beobachtung.14 Somit sind diese Techniken der Aufmerksamkeit – ohne, dass dies den Beteiligten bewusst sein muss – geschichtlich als Körper-Techniken codiert. Und dementsprechend sind sie einem ästhetischen, historischen, medial

12 | Anne Schuh, „Having a Personal (Performance) Practice: Dance Artists’ Everyday Work, Support, and Form“, in: Dance Research Journal 51/1, April 2019, S. 79–94. 13 | Michael B. Bucholz, „Momente und ihre Menschen. Können Now-Moments und Moments-of-Meeting genau bestimmt werden? Eine Parallelführung von Daniel Stern, Erving Goffman und Peter Fonagy“, in: Gabriele Brandstetter, Michael B. Buchholz, Andreas Hamburger und Christopher Wulf (Hg.), Balance – Rhythmus – Resonanz­ (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 27/1), Berlin 2018, S. 41–61. 14 | Vgl. Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge 1991.

Chimärische Körper

b­ eeinflusstem Wandel unterworfen. Genau hier zeigen sich in den Debatten um Tanz und Technik Reibungen und Widersprüche. Wenn diese Assemblagen und Ensembles von Körpertechniken schon in der Praxis zeitgenössischer Tänzer „chimärische Körper“ erzeugen: wie zeigt sich dies in Choreographien?

Terpsichore and the Bull: Pina Bauschs Kontakthof (1978/2004) und Florentina Holzingers Apollon (2017) Im Folgenden möchte ich zwei Ausschnitte aus zeitgenössischen Tanzstücken gegenüberstellen, die beide in mehrfacher Hinsicht „Tanz und Technik“ thematisieren. In beiden Szenen werden Bewegungssynchronisierungen zwischen Tänzerin und mechanischem Objekt gezeigt. Und in beiden Ausschnitten geht es in sehr unterschiedlicher Weise um die Bewegung des Reitens: In Pina Bauschs Choreographie Kontakthof (1978/2004) besteigen mehrere Tänzerinnen nacheinander ein elektrisch betriebenes Schaukelpferd. Und in Florentina Holzingers Dekonstruktion und Neuinterpretation (2017) von Georges Balanchines Apollon Musagète (1928) reitet eine der vier Tänzerinnen auf einer (elektronisch programmierten) Stier-Attrappe, wie diese für das Rodeo-Training verwendet wird. Abb. 1, Florentina Holzinger Apollon

Quelle: Screenshot, Performance Sophiensäle Berlin, 2017.

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Gabriele Brandstetter Abb. 2, Pina Bausch Kontakthof für Damen und Herren ab 65

Quelle: Screenshot aus der DVD: Kontakthof mit Damen und Herren ab 65. Ein Stück von Pina Bausch [Buch mit DVD], Paris L’Arche Éditeur 2007. Film: Deutschland 2001.

Die gezeigten Ausschnitte sind begleitet von folgenden Fragen: Welche Körpertechniken sind nötig und welche werden von den Tänzerinnen eingesetzt im dynamischen Zusammenspiel von mechanischem Objekt und (weiblichem) Körper? Welche Konzepte von Beherrschung, Kontrolle, Interaktion und rhythmischem Spiel sind hier impliziert und welcher Umgang mit Begehren? Und wie überträgt sich dieser enactive-Prozess auf die Zuschauer*innen? Die Szene aus Bauschs Kontakthof für Damen und Herren über 6515 ist in zwei gleichzeitig verlaufende Interaktionsfelder geteilt: In jene „Kontakte“, in denen Tänzer*innen verteilt im Bühnenraum und an der Rampe sich selbst berühren, und in der Annäherung zu anderen auch Kontakt – zärtlich bis aggressiv – zu Partner*innen finden.16 Währenddessen versucht eine Frau, das bunte, elektrisch betriebene Schaukelpferd durch Münzeinwurf in Bewegung zu bringen. Als dies gelingt, sitzt sie auf und lässt sich mit unbewegter Miene und in passiver Haltung

15 | Vgl. DVD in Pina Bausch, Kontakthof. With Ladies and Gentlemen over „65“. A piece by Pina Bausch, Paris 2007. 16 | Für eine ausführlichere Analyse dieser und weiterer Szenen aus Kontakthof vgl. Gabriele Brandstetter, „Dynamik einer Tanzperformance, Pina Bauschs Kontakthof“, in: Brandstetter, Buchholz, Hamburger, Wulf (Hg.), Balance – Rhythmus – Resonanz, 2018, S. 297–301.

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auf- und niederschaukeln.17 Als die durch den Münzeinwurf bemessene Zeit um ist, steigt sie mit unveränderter Miene und Haltung ab. Inzwischen stehen in einer Reihe hinter dem Pferd weitere Frauen in Warteposition für dieses Reit-KontaktErlebnis. Der Gestus von Langweile, von Melancholie, von „Geschehenlassen“ wiederholt und verstärkt sich in dieser Serie der Reit-Aktion. So entsteht erst im Gesamtgefüge der diversen Bühnenereignisse – in den (für den Blick der Betrachter*innen) disseminierten und doch synchronen Parallelaktionen des Ponyritts sowie der zunehmend aggressiveren und konfliktgeladenen Kontakte der Tanzpaare – eine Atmosphäre, die Abwesenheit, Begehren und Wiederholungen als Ersatzhandlungen suggeriert. Sie lädt den sexualisierten „mechanischen“ Ponyritt als ein Konglomerat – ein „agencement“, um mit Deleuze zu sprechen, gegenläufiger Bewegungsdynamiken – auf. Ein mikroanalytischer Blick (der hier aus Zeitgründen nicht möglich ist)18 auf die Interaktion zwischen Tänzerin und Schaukelpferd zeigt Details der Bewegungsqualitäten und ihrer kinästhetischen Übertragungen: Die Mechanik des Auf und Ab, in der die Tänzerin ihr Gewicht passiv und träge, ohne Aktivierung der „Körpermitte“ (Beckenboden19 und Tiefen-Bauchmuskulatur) auf das Objekt abgibt – sichtbar in der wellenförmig durch Hüften, Wirbelsäule und Kopfbewegung laufenden Schwingung sowie in den entspannt herabhängenden Armen und Beinen – überträgt die „Haltung“, d.h. die „Einstellung“ einer De- oder A-Synchronisierung einer tristen Kentaurin, eines weiblichen Don Quixote, des „Ritters von der traurigen Gestalt“, auf der Suche nach einem „Minuten“-Glück auf dem Rücken des Pferdes. Der Eindruck von Frustration, von Depression und Melancholie vermittelt sich über De-Synchronisierungen in diesem Ensemble von Körper-Objekt-Bewegungs-Interaktion.20 Bauschs Entschei-

17 | Nur en passant ist festzuhalten, dass hier Gender-Stereotypen ausgestellt werden: der Mann, der die technische Inbetriebnahme des Objekts „steuert“; die Tänzerin, die im Publikum – als erweitertem „Kontakthof“ – um eine Münze bittet. 18 | Siehe hierzu Veronika Heller, „Vom Geschlechterkampf des 17. Kapitels in Pina Bauschs Kontakthof oder: Wie sich der Tango tanzen lässt, ohne einen Tango zu tanzen. Am Beispiel von Kontakthof mit Damen und Herren ab 65“, in: Brandstetter, Buchholz, Hamburger, Wulf (Hg.), Balance –Rhythmus – Resonanz, 2018, S. 327–337; sowie Michael Dittmann, „Rhythmus als fundamentale soziale Orientierung“, in: Brandstetter, Buchholz, Hamburger, Wulf (Hg.), Balance –Rhythmus – Resonanz, 2018, S. 345–367. 19 | In der analytischen Betrachtung der Aufführung und der Aufzeichnung mit Studierenden von Tanz und Tanzwissenschaft fiel den Teilnehmer*innen auf, dass die „Gegenspannung“, die für das Reiten in der Aktivierung des sogenannten „power house“ ­( Pilates) bzw. Beckenbodens nötig ist, fehlte. 20 | Die hilflose Reaktion des Publikums; das Gelächter: „Das Lachen gefriert in den Stereotypen, die Insistenz der Wiederholung demaskiert die Langeweile: der Schmerz ist ihr Gesicht; der Griff unter die Schwelle des Bewusstseins, wo die Wünsche und

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dung, das 1978 choreographierte Stück als eine tanz-theatrale Reflexion über die ­Ä ngste, S ­ ehnsüchte, Orte und Misserfolge der Kontaktsuche21 an „Männer und Frauen über 65“ zu übergeben, impliziert auch noch eine weitere allgemeinere Aussage zu „Tanz und Technik“. Und auch diese wird in dem gezeigten Ausschnitt zu einem Faktor des „enactments“ von menschlichen und mechanischen Körpern. Die Tatsache, dass hier Laien-Tänzer*innen im Alter von über 65 Jahren das Stück Kontakthof präsentieren, enthält darüber hinaus auch ein Statement über „Vermögen“ (Möglichkeiten) des Körpers; über Körperästhetik und Tanz-Technik im Sinn von Training und „Skills“. Bei aller Genauigkeit in der Einstudierung der Abläufe (auf die Bausch Wert legte), wird hier – in einer alternativen Ästhetik zum Kult von Virtuosität, makellosen Körpern und Fitness auf der (Tanz-)Bühne – eine andere Idee von Körpern und ihrem Ausdruck zugrunde gelegt. Nicht „enhancement“ durch Technik, sondern die in die individuellen Körper und ihre Geschichte eingeschriebenen, die ‚getragenen patterns‘ sind hier die Basis: So wird der ‚habitus‘ des Erlernten und Erlittenen zum wesentlichen Beitrag für das „agencement“, für unterschiedliche Techniken der Interaktion. ‚Kontakt‘ wird erst dadurch überhaupt möglich: diese Unbestimmtheits-Spielräume zwischen technischem Können und einer Lösung von der (mechanischen) Perfektion übertragen in jedem Wortsinn bedeuten ebenso ein „Berühren“ zwischen Mensch und Objekt wie zwischen Bühne und Publikum. Der ‚Kontakthof‘ ist so nicht etwa nur der reale und imaginierte Ort der Begegnung, des erotischen Kontakts; sondern er wird zum Spielraum und zur Metapher für das gesamte Ensemble der Bedingungen, Möglichkeiten, Ökonomien und Interaktionen des Theaters: Seine Maschinerie konstituiert sich in der „Montage der Attraktionen“ (Sergej Eisenstein) – Attraktionen zwischen Körpern, magischen und banalen Aktionen auf der Bühne und über die Rampe hinweg, zwischen Tänzer*innen, Objekten und Publikum. In dieser Assemblage stellt sich für Bausch die immer wiederholte Frage, was „Tanz“ sei. Der Schauraum, der Ort an dem man sich zeigt und trifft, „um Kontakt zu suchen“, sei das Thema des Stücks; und ein anderes Thema war Jahrmarkt und Zirkus.22 Ist in Bauschs Kontakthof der Ritt auf dem Schaukelpferd ein kindlich-­ passives, nostalgisches Re-Play (weiblichen) Begehrens,23 so präsentiert

Ängste hausen, macht das Lachen wie das Weinen subversiv.“ Heiner Müller, „Für Pina“, in: Pina Bausch. Fotografien von Detlef Erler, Zürich 1995, S. 8. 21 | Vgl. Bausch, Kontakthof: With Ladies and Gentlemen over „65“, 2007, S. 38. 22 | Vgl. ebd. 23 | Zu Pina Bauschs Reflexion von weiblichen Stereotypen von Geschlechterszenarien als kritischem Kommentar zur BRD in der Nachkriegszeit vgl. Susanne Böhmisch, „Déhiérarchiser pour mieux dialoguer: danse et musique dans le Tanztheater Wuppertal“, in: Allemagne d’aujourd’hui 220 (2), 2017, S. 72–83, sowie Gabriele Brandstetter,

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­ lorentina H F ­ olzinger den Ritt auf dem mechanischen Bullen in Apollon (2017) als fulminantes und virtuoses Spektakel von Körper- und Bewegungskontrolle.24 Die Tänzerin-/Reiterin zeigt sich dem wilden und abrupten Auf und Ab, Seit- und Vorwärtsschwingen der programmierten Stier-Attrappe hervorragend gewachsen. In geschulter Manier des Rodeo-Trainings und seinen „event-specific exercises“, die Kraft, Arbeit mit der Körpermitte und zugleich Durchlässigkeit der Wirbelsäule erfordern – „balance, agility and coordination“, so Greg Turza in seinen „Training considerations for rodeo“ (1985)25 – ko-agiert die Tänzerin mit dem Objekt. Es ist eine Synchronisierung, die Spannung und Release, Antizipation der unvorhersehbaren Bewegung, Flexibilität der Richtungswechsel und Elastizität, Weichheit in der rhythmischen Balance einsetzt – kurz: es überträgt sich kinästhetisch das „Feeling“ einer Lust an der Dynamik, der Beherrschung und dem Sich-Überlassen der Unvorhersehbarkeit – bis zum Moment des (ebenfalls lustvollen) Sturzes auf die weiche Matratze. Ein ganz anderes Konzept der KörperChimäre wird hier inszeniert: nicht der traurige weibliche Kentaur, die mythische Mensch-Pferd-Einheit wie bei Pina Bausch, sondern die triumphale Stierbändigerin, eine an die mythische Jupiter-Europa oder Phädra-Minotaurus-Konfiguration erinnernde Chimäre. Dieser Abschluss des Stücks, das in seinem Widerstand, in seinem Gegen- und Miteinander von Körpertechniken zwischen klassischem Ballett, Zirkus, Varieté und Freak-Porno-Show oszilliert, legt eine feministischdekonstruktive Lesart von „Meister“-Konzepten in der Geschichte der Choreographie und von Disziplinar-Techniken des Schau(steller-)Körpers, insbesondere der weiblichen Repräsentation nahe. Holzinger selbst ist keine klassische Balletttänzerin, ebenso nicht die weiteren Tänzerinnen, die in Apollon mitwirken. Zeitgenössischer Tanz, Zirkustraining und Elemente aus dem Fitnessstudio (Laufband und Gewichtheben) werden im Stück in Parallelaktionen eingesetzt: ein Parcours aus Körpertechniken, Trainingsabläufen und ihre Ausdehnung bis zum Moment der Ermüdung, in dem die technische Steigerung und Perfektion kippen. Für die Auseinandersetzung mit

„Tanztheater als ‚Chronik der Gefühle’. Fallgeschichten von Pina Bausch und Christoph Marthaler“, in: Margit Bischof, Claudia Feest, Claudia Rosiny (Hg.), e_motion, Jahrbuch Tanzforschung 16, Münster 2006. 24 | Zu einer ausführlicheren Analyse der Arbeiten von Florentina Holzinger siehe: Gabriele Brandstetter, „Körpertheater als Iconoclash. Die Extrem-Performerin Florentina Holzinger“, in: Theater der Zeit 75/5, 2020, S. 8–9. 25 | Greg Tuza, „Training Considerations for Rodeo“, in: National Strength and ­C onditioning Association Journal 6/6, 1984, S. 38–41, hier S. 40. Vgl. auch Beatriz Calvo-­M erino, Daniel Glaser, Julie Greze, Richard Passingham und Patrick Haggard, „Action Observation and Acquired Motor Skills: An fMRI Study with Expert Dancers“, in: ­C erebral Cortex 15/8, 2005, S. 1243–1249.

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(Tanz-)Körpertechniken und einer Ästhetik des Tanzes öffnet sich genau hier der Riss zwischen Können, „knowing how“ und Dekonstruktion traditioneller, genderbasierter Bewegungskonzepte. So wird die Körper-Technik-Chimäre, die auf dem ­Simulator Rodeo-reitende Tänzerin zum Emblem ihrer Parodie auf Georges ­Balanchines Apollon Musagète (1928), das als inaugurales Werk des neoklassischen Balletts gilt.26 Es ist nicht nur ein Schlüsselwerk der Balanchine’schen Tanzästhetik, ­sondern auch ein Paradebeispiel seiner Genderposition: „Ballet is ­woman“. Der „Spitzen“-Stellung des Weiblichen im Tanz in der Abhängigkeit vom männlichen (Choreographen-)Schöpfer gilt deshalb auch die kritische ­„Um-Besetzung“ (mit Hans Blumenbergs Begriff, hier in der Doppelbedeutung von ­„Um-Schreibung“ und „cast“) von Holzingers rein weiblich besetzter Version des „Apollo“. Es gibt keine(n) Musen-Führer(in), die Musen und Apollo teilen sich die Tasks und die Show, und Terpsichore avanciert von der Lieblings-Muse zum stierbändigenden Cyborg. Holzinger aktiviert, anders als Bausch (die ­ laviatur der Theatralität, über die Rampe hinweg mit dem Bruch der auf der K vierten Wand spielt) alle Register des Spektakulären. Sie erweist sich damit als zeit­genössische Künstlerin, die Körper, Techniken, Objekte und Präsentationsmedien in einer Assemblage wider­sprüchlicher Tendenzen und Diskursspektren collagiert. Die Musen – und vor allem Terpsichore – sind für Jean-Luc Nancy das Denkbild für die Relation von Kunst und Technik: „The arts are first of all technical“.27 Das Ästhetische – in der Pluralität des Sinnlichen – ist modelliert durch unterschiedliche Techniken der „artes“, durch ihre Artikulation. Die Musen stehen für dieses „knowing how“, und für das Formen-schaffende „knowing how to make ­decisions“.28 Die beiden Szenenausschnitte bei Pina Bausch und Florentina ­Holzinger sind so gesehen Beispiele für das komplexe Gefüge von Tanz- und Be­ wegungstechniken, von Praktiken der Selbstdisziplinierung und Selbstermächtigung durch technische Aufgabenstellung/„tasks“ und Interaktionen von ­Körpern und Objekten. In der Interdependenz und Prozessualität dieser Relationen ließen sich diese „Gefüge“ der Konstellationen auch mit Latour verstehen: als ein ­„network“ oder „setting“, als „a perspective grid“ (in seinen Worten ein „Verfahrensmuster“); und damit nicht als ein (technisches) „Ding“, vielmehr „a concept, not a thing out there“.29 Technik befindet sich somit nicht jenseits, außerhalb von

26 | Vgl. u.a. Elizabeth Kattner-Ullrich, Early Life and Works of George Balanchine (1913–1928), Saarbrücken 2013. 27 | Vgl. Nancy, The Muses, 1996, S. 24. 28 | Vgl. ebd., S. 25. 29 | Vgl. Bruno Latour, Reassembling the Social: an Introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford 2005, S. 131.

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­ örpern, Subjekten, Handlungen – als Instrument, oder Objekt. Gerade im Tanz K wird offensichtlich: Techniken sind verkörpert. Sie sind in En-actments und Praktiken, die in Interaktionen und Traditionen aktualisiert werden. Und genau hier zeigen sich die Potentiale der Künste: ästhetische Entscheidungen in der Wahl der Mittel und der Verfahren. So verbindet sich Technik mit poïesis in der Hervorbringung von Bewegungsinteraktionen als Choreographie. Die beiden Beispiele, die ich abschließend – wiederum in Gegenüberstellung – skizzieren möchte, sind Choreographien, die ästhetische Entscheidungen in spezifischer Weise als Bewegungs-Technik inszenieren. Und beide generieren damit chimärische Effekte, nicht als Körperkomposition (wie der weibliche Kentaur oder die weibliche Minotaurus-Figur bei Bausch und Holzinger), sondern als beständig sich verformende Gebilde im Zeichen der Metamorphose.

Chimärische Objekte: Ola Maciejewskas Bombyx Mori (2016) und William Forsythes Black Flags (2014) Die leere Bühne ist halbdunkel, wenn zu Beginn des Stücks nacheinander drei Tänzer*innen (zwei Frauen, ein Mann) den Raum betreten, mit einem dunklen Stoffpaket, das sie auf dem Boden ablegen und mit klaren bedachten Bewegungen sorgfältig auseinanderfalten; solange, bis das Textil weit ausgebreitet den Boden bedeckt.30 Mit Raupen-ähnlichen Bewegungen schlüpfen die Tänzer*innen unter den Stoff, suchen die Öffnung für den Kopf und erheben sich allmählich, in kontrapunktischer Abfolge, zuerst die eine, dann die anderen beiden, bis sie als schwarz verhüllte Gestalten im Raum stehen. Das Trio wirft die hauchdünnen schwarzen Tücher in immer neue Figurationen, lässt sie flattern, fliegen, kreisen in spiraligen Wellen, statisch auf der Stelle stehend, oder sich im Raum bewegend und umeinander kreisend. Das Stück besteht aus einer kontinuierlichen Bewegungsinteraktion zwischen Stoff/Textil – verstärkt durch Stäbe, die die Bewegung vergrößern – und den Tänzer*innen-Körpern, unterstützt durch die Schwebungen der Luft. Aufblähungen und Widerstände in der Bewegungsdynamik sind auch ein Spiel mit den Aktionsmedien Luft und Licht. Letzteres variiert in vielerlei Schattennuancen zwischen dunklen oder dämmerigen Flächen und herausgehobenen hellen Spots. Das gesamte Setting, auch der Sound, folgt einer minimalistisch abstrakten Dramaturgie. Körper, Kleider, Licht, Ton und die Präsenz der Zuschauer*innen sind die Elemente dieser dynamischen Choreo-Skulptur. Für die Betrachter*innen formen sich die im Halbdunkel animierten Stoffgestalten entweder zu kinetischen, stets veränderlichen Skulpturen. Oder die Metamorphosen der Stoffe suggerieren Fabelwesen: Insekten, Riesenfalter, Vögel oder Tiefseefische mit Körperkonturen,

30 | Aufführung von Bombyx Mori bei ‚Tanz im August‘, Berlin 2018.

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die sich immer wieder verwandeln und auflösen. Chimärische Gestalten, die sich dennoch nicht zu einer eindeutigen Körperidentität fügen. Abb. 3, „Ola Maciejewska en Loïe Fuller“

Quelle: Research, Martin Argyroglo 2011.

Betrachtet man diese Choreographie unter der Perspektive von Körper und ­Technik, so zeigt sich diese Relation auf mehreren Ebenen. Zunächst ist eine ganz ­ spezifische Körpertechnik erforderlich, um die unterschiedlichen Auf­ gaben/„tasks“ und Anordnungen dieses Stücks auszuführen: Da ist zunächst das „Auslegen“ (im doppelten Sinn des Worts) und das Falten des Stoffs; dann die ­Schwierigkeiten der Armtechnik, um die Schwünge in großer Dynamik 60 Mi­ nuten lang zu bewältigen. Hinzu kommt die Technik des Drehens, um das lan­ ge Kreiseln/Spinning – das auch Bewegungen der sich verpuppenden Schmet­ terlingslarve, „Bombyx mori“ assoziiert – mit der nötigen Bein- und Kopfarbeit und den Armschwüngen zu koordinieren. Diese Körpertechniken bleiben freilich buchstäblich subkutan, verborgen, unter der Hülle der sich beständig neu aus­ bildenden Stoffkonfigurationen. Die Körpertechnik ist „ob-scene“, ein Verbor­ genes, geheimnisvoll ab­wesend-anwesend. Ein „secret“/Sekret, wie die Fäden des „Seidenspinners“, der dem Stück den Titel gegeben hat: „Bombyx mori“, die Raupe des Seidenspinners. Das ­Spinning markiert die Bewegung, die Biotechnik der Herstellung eines Kokons, in den die Körper der Tänzer*innen „verpuppt“ sind. Es ist ein Gefüge, das sie umgestalten: Metamorphosen des „Schmetter­ lings“. Die Konzeption und Praxis der Bewegungen und ihre imaginativen Effekte

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(für die Betrachter*innen) ­konvergieren in einem offen gehaltenem Assoziationsspielraum. Ola Maciejewska spricht in einem Interview von ihrer Absicht eines ­„collage-making“. In der Bewegung, in der Assemblage bewegter S ­ kulpturen, wird der Körper zum Teil eines ­„environment“. Den Bauhaus-Konzepten der Körper-Umraum-Choreographien verwandt, wird aus diesen Körper-Objekt-­ ­ Textil-Bewegungen etwas, das Aufmerksamkeit generiert; durch genau diese Körper-Technik-Interaktion entsteht das, was Maciejewska „attentive machine“ nennt: das Einfangen der Aufmerksamkeit der Betrachter*innen in die Ensembles der Stoffe. Die Referenz zum Avantgardetanz Loïe Fullers31 am Ende des 19. Jahrhunderts, zu ihren Licht-Stoff-Bewegungs-Skulpturen, die Titel trugen wie Serpentine-Dance, oder Butterfly, ist offensichtlich. Zudem organisiert Maciejewska ihre Choreographie als eine Kontrafraktur der Fuller-Experimentanordnung. Nicht der weiße, reflektierende Fallschirmseidenstoff und die Lichtspiele auf diesem „Screen avant la lettre“, wie bei Fuller, bilden bei Maciejewska das Material der Choreographie; sondern der schwarze feinste Kunststoff, der das Licht absorbiert – eine Art ‚Black Magic‘, die der ‚weißen Alchemie‘ des Jugendstils gegenübergestellt ist. Hier räumt ­Maciejewska im Publikumsgespräch auch die kritische Assoziation einer Revision der ‚whiteness‘ durch ‚blackness‘ ein. Zudem ist für die Dramaturgie des Stücks ein weiterer Aspekt der Technik relevant, der direkt mit dem Material, mit dem Stoff und seiner durch menschliche Körper hervorgerufenen Bewegung zusammenhängt: der Sound. Das, was die Zuschauer*innen hören, ist ein algorithmisch generierter Sound, der als Feedback Loop aus einer doppelten Quelle gefiltert ist: aus Stimmgeräuschen, die die Performer*innen während der Performance produzieren und aus dem Sausen, Knattern und Zischen, das durch die Friktionen des bewegten Stoffes entsteht. Das Rascheln von Seide, das spezifische Knistern (jenes „froufro“, das die Damen im Paris des 19. Jahrhunderts erregte) nennt man im Fachjargon den ­„Seidenschrei“, „le cri de la soie“.32 Der Sound von Bombyx mori – den schwarzen Riesenfaltern, die um die Jahrhundertwende in Schönbergs „Pierrot lunaire“ auftraten und deren Falten ein „Tierwerden“ (Gilles Deleuze) indizieren – ist ebenfalls eine Chimäre aus Körper und (Klang-)Technik: eine Sound-Chimäre, die die Betrachter*innen ebenso wie die schwarzen Bewegungsgestalten faszinieren,

31 |  Zu Loïe Fuller vgl. Gabriele Brandstetter und Brygida Maria Ochaim, Loïe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau, Freiburg i. Breisgau 1989; sowie Ann Cooper Albright, Traces of Light: Absence and Presence in the Work of Loïe Fuller, Middletown 2007. 32 | Vgl. Gabriele Brandstetter, „‚Ein Stück in Tüchern‘. Rhetorik der Drapierung bei A. Warburg, M. Emmanuel, G. Clérambault“, in: Wolfgang Kemp, Gert Mattenklott, Monika Wagner und Martin Warnke (Hg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4, Berlin 2000, S. 105–140.

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i­ rritieren und in Räume der eigenen Fantasien und Halluzinationen entführen. Der Klang der Dinge und der Formen. Riesige schwarze Stoff-Flächen werden auch in Forsythes Installation Black Flags (Dresden 2014) bewegt.33 Doch hier sind es nicht menschliche Körper, die mit dem Objekt, mit dem Material der Stoffe eine transformatorische Bewegungsskulptur generieren (wie bei Ola Maciejewska), sondern es sind zwei Industrieroboter, die in einer 28-minütigen Sequenz große schwarze Flaggen in einem Loop durch den Saal schwenken. Abb. 4, Installation view with Black Flags (2014)

Quelle: Artwork William Forsythe, Foto: Thomas Lannes.

Die wehenden Stoffe bewegen sich, geführt durch die Roboter-„Arme“ miteinander, parallel, synchron und de-synchron, mit wechselndem Tempo, begleitet von den sirrenden Betriebsgeräuschen der Robotermotoren. Forsythe hat mit dem Programmierer Sven Thöne einen Algorithmus entwickelt, der die schwarzen Flaggen in einem zweiteiligen Kontrapunkt choreographiert: Es entsteht ein BewegungsKontinuum, das abstrakt und zugleich gestisch, kontrolliert und doch unvorhersehbar wirkt. Ursprünglich kam die Idee zu diesem Projekt für Forsythe und sein Team aus dem alltäglichen Kult mit Nationalflaggen, etwa bei Fußballspielen. Entscheidend für die ästhetische, technische und politische Wirkung dieser Raum-

33 | Vgl. William Forsythe, Black Flags, readymade industrial robots, nylon flags, carbon fiber flagpoles, steel plates, Dresden 2014: Galerie Neue Meister; Paris 2017: Gagosian Gallery.

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installation ist dabei freilich die Absicht Forsythes, „action“ (d.h. Handlung und Bewegung) auf „Objekte“ zu übertragen, bzw. in der Interaktion von ­humanen Betrachter*innen mit technisch-kinetischen Apparaturen ­ ­ choreographische ­Strukturen erfahrbar zu machen. Im Fall der Flaggen ging es F ­ orsythe darum, „to decenter the anthropomorphic ideas“.34 Aus diesem Grund sind Roboter die ­A kteure. Die Komplexität der „moving flags“ bringe, so Forsythe, „an immensely complicated negotiation with physics“ hervor.35 Die Bewegung in „formal geometrical patterns“, mit „changing angles“, „changing speed“ und „distribution of forces“ creates „counter-spatial actions“ in einem, wie Forsythe betont, „extrahuman, suprahuman choreographic spectacle“.36 Gerade weil der Akzent auf dem Formalen, Mechanischen, durch Algorithmus gesteuerten Loop der Flaggen-­Choreographie liegt, ist sich Forsythe jedoch bewusst, dass durch die Betrachter*innen immer ein Narrativ in den Bewegungsablauf eingebracht wird. Schon die langen schwenkenden Arme der Roboter induzieren die Assoziation von Gestischem. Und doch liegt der Akzent des Spektakels nicht auf den Robotern als Bewegungsgeneratoren, sondern auf den faszinierenden, die Luft durchwehenden, in ­Schrauben und Wellen unvorhersehbare Muster formenden schweren Stoffbahnen. Diese sind die A ­ ttraktoren von Phantasmen. In den Assoziationen der Betrachter*innen ent­stehen so chimärische Wesen, Fantasygestalten und Bewegungshybride: Etwa wenn ein Besucher die dunklen Gestalten der Flaggenmonster mit außer­irdischen Seeungeheuern vergleicht; oder wenn ein anderer sich an die symbolische Funktion von weißen Flaggen erinnert, die für „Surrender“ stehen. Wieder andere ziehen kunsthistorische Parallelen, z.B. zu den dunklen Räumen der Bewegungsexperimente der Stäbe- und Reifen-Tänze im Bauhaus; oder zur Ästhetik des „schwarzen Quadrats“ von Kasimir Malewitsch. Für die Geschichte von K ­ örper und Objekt, von Tanztechnik und einer formal und medial neu definierten Idee von Choreographie ist es auch hier – wie bei Ola M ­ aciejewska – die Referenz zur Avantgardistin des Tanzes, Loïe Fuller, die als Folie der Über­ oboter, so Amy Verner in einem Artikel zur tragungen erscheint: Forsythes R ­Präsentation von „Black Flags“ in der ­Gagosian Gallery in Paris,

34 | Vgl. William Forsythe, Kommentar zu Black Flags in der Galerie Gagosian Le Bourget, Paris 2017, unter: https://gagosian.com/quarterly/2017/10/23/william-forsythechoreographic-objects/ [22.10.2019]. 35 | Ebd. 36 | Ebd.

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Gabriele Brandstetter might be the descendants of Loïe Fuller, whose mesmerising Serpentine Dance from 1896 was owing to wooden poles that she swirled from within diaphanous white robes to extend the range of her motion. Forsythe enthusiastically acknowledged the parallel – and the competitive edge an industrial robot has over joints and muscles.37

Und Forsythe kommentiert in seiner Präsentation: What you’re watching is something absolutely platonic, because all the geometries in this event are digital. So it’s a digital entity’s idea of horizontality or verticality or circularity or torque, [...]. On the other hand, human movement has more complexity because it deviates more.38

„Choreographische Objekte“, wie Forsythe seine installativen, zumeist in Galerien ausgestellten interaktiven kinetischen Skulpturen nennt, kreieren „Gefüge“ (im Sinne von Gilles Deleuze). Sie generieren komplexe, im Prozess des Entwurfes und Geschehens stets unvorhersehbar veränderliche Gebilde.39 Das Material, das Setting (d.h. die choreographische Anordnung im Doppelsinn des Wortes40) und die Interaktion mit Besucher*innen co-konstituieren die beweglichen räumlichen Chimären. Im Fall der Black Flags ist, ähnlich wie bei Maciejewskas Bombyx mori, auch die Luft ein Mitspieler der transformatorischen schwarzen Bewegungsplastiken: „It’s almost as if there’s a third actor – there’s the robot, the flag and the air“, so Forsythe.41 Zur Experimentieranordnung der „Black Flags“ und den Effekten dieser technikbasierten Choreographie gehört dementsprechend ein Fokus auf „collapsing space“.42 Der Algorithmus führt die Roboter durch ein auf der Basis von Kontrapunkt choreographiertes Duett: Tanz und Technik sind auf unterschiedlichen Ebenen konstelliert. Die Transfers und Transformationen, die

37 | Vgl. Amy Verner, „Choreographer William Forsythe on Melding Man, Machine and Dance“, unter: ­https://gagosian.com/media/gallery/press/2017/d8d8583077 fae418c0eb6172ce74a615.pdf [22.10.2019]. 38 | Vgl. Forsythe, Kommentar zu Black Flags, 2017. 39 | Vgl. Gabriele Brandstetter, „Ephemere Plastiken. Loïe Fullers Choreographien des Floralen“, in: Isabel Kranz, Alexander Schwan und Eike Wittrock (Hg.), Floriographie. Die Sprachen der Blumen, Paderborn 2016, S. 201–222; sowie Kirsten Maar, Entwürfe und Gefüge. William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen, Berlin 2019 (= TanzScripte 28). 40 | Vgl. Gabriele Brandstetter, „Choreographie“, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg, Tobias Vogt (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, Köln 2013, S. 33–38. 41 | Vgl. Forsythe, Kommentar zu Black Flags, 2017. 42 | Ebd.

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dadurch entstehen, generieren erst jene Spannung, die diese „choreographischen Objekte“ zu chimärischen tänzerischen Gestalten werden lässt. Dies gilt schon für die Industrieroboter. Sie werden aus ihrem alltäglichen Arbeitskontext herausgenommen, durch den Algorithmus wie in eine rhythmisch-kontrapunktisch geführte Bewegung – als ‚künstlerische Aufgabe‘ – programmiert und mit langen Flaggenstäben zur Führung der schwarzen Textilien ausgestattet, kurz: „We give them a poetic task“, so Forsythe.43 Er fährt – etwas ironisch – fort mit der Spekulation, ob dieser Ausflug in die Welt von „artistic expression“ nicht möglicherweise auch Effekte zeitigt – im Sinn von „Lernen“, von „artificial intelligence“. Interaktive Prozesse wie diese in hybriden Gefügen von technischen Objekten, intelligenten „Programmen“, institutionellem Setting und menschlichen Teilnehmern erzeugen im Verständnis von Kunst ebenso wie im Verständnis von Technik einen Twist. Für Forsythe freilich ist es wichtig, dass es hier nicht um visuelle Kunst geht; dass er nicht eine Skulptur oder Installation als Werk produziert. Sondern dass eine Arbeit wie „Black Flags“ ein „choreographic work“ (ebd.) im Sinn einer choreographischen Interaktion hervorbringt. So sind die Chimären der schwarzen wehenden Fahnen in anderer Weise wie in seinen früheren Arbeiten, ein „poetic instrument of (choreographic) writing“. Damit bleibt er konsequent bei jenem großen Projekt, das ihn seit den späten 90er Jahren beschäftigt, mit seiner Arbeit an einer Erweiterung, Veränderung – einer Neu-Besetzung dessen, was Choreographie als Potential hervorbringen kann: Bewegungsverknüpfungen und Interaktionen in chimärischen Technik-Körper-Gefügen. Gerade da, wo diese Anordnung streng formal bleibt, können die Übertragungen und Phantasmen entstehen. Es sind die Träume, die Monster gebären: Bilder und Assemblagen aller in den Prozess involvierten Körper/Techno-Apparate mit der unabschließbaren Vielfalt möglicher Zuschreibungen und Interpretationen. Die schwarzen Flaggen rufen so vielleicht auch die Assoziation der Muleta eines Stierkampfes hervor?44 Hier berühren sich womöglich die Tanz/Technik-Chimären bei Forsythe mit dem Technokörper der rodeoreitenden Terpsichore in Florentina Holzingers ­Apollon.

43 | Ebd. 44 | So die Assoziation einer Besucherin der Ausstellung.

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What the Earth Repeats: Performing the Object, Technology, Art Rick Dolphijn

Recurrence: on Time and Objects In the first Tarner Lectures, delivered at Trinity College, November 1919, Alfred North Whitehead says he will practice a philosophy of science by studying, as Mr Edward Tarner would have wanted it, how science takes nature as its subject matter.1 In the seventh lecture, Whitehead offers us two terms which are elementary to his take on how science works. First, the lecture proposes a theory of objects and he defines them as follows: Objects are elements in nature which do not pass. The awareness of an object as some factor not sharing in the passage of nature is what I call “recognition”.2

When it comes to the object, Whitehead stresses, what is recognized is a kind of sameness and a kind of difference. Between ignorance and knowledge, something recurs by other means, in another way, otherwise. What it is that recurs is by no means a “thing” in the pseudo-materialist sense of the word. Anything that recurs, anything recognized, anything that vaguely reminds us of the way it stood out before, is an object, or an object of analysis (if we insist on taking the science perspective). Central to this idea of the object, as Whitehead puts it forward, is a notion of time. Earlier in this lecture series, Whitehead talks some more about how time comes with the object, while introducing us to the other term that deserves our interests, which is “the event”.

1 | Cf. Alfred North Whitehead, The Concept of Nature: The Tarner Lectures delivered at Trinity, November 1919, Amherst/NY 2007, p. 14. 2 | Ibid. p. 118.

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Rick Dolphijn Events are only comparable because they body forth permanences. We are comparing objects in events whenever we can say, “There it is again.” Objects are the elements in nature which can “be again”.3

I take the liberty of distilling from this a theory of time which can be summarized as follows: in the recurrent fabrication of space, it is through objects that time bodies forth. This is to say that through processes of objectification and processes of subjectification, duration unfolds, producing lines, loopholes, circles, nets, tangents or any other figure of time. The present is about recognizing the object, the past offers us the idea of recognition and the future holds that which is recognized, the objects that matter. Nota bene; with Whitehead, there is no reason to link the object to the human being, as recognition can happen in many different ways. A stone can recognize the sun. Oxygen can recognize water. Plants and forests can recognize the machines that are about to demolish them. They have all been in this situation before. Or at least, their ancestors have been in this situation before. So they know. Note 1: Performing a Life. Can we say that the earth is an endless series of recurrences between which lives are spun? The life of a stone, desiring the sun or the water; the life of an infant desiring the mother’s breast or her heartbeat. Or, the life of the Kola Superdeep Borehole. 23 centimetres in diameter, 12,262 metres deep, situated in the northwestern part of Russia near the Finnish border, its long empty body, only 50 years old, recurs the sounds of the deep earth, the fossils of organic life that reach up to its waste. Here too, its perseverance in being follows from the recurrences it had to cope with. Thus, the borehole recognizes a Soviet history, a history of the Cold War, a history of nuclear tests… All of them echo deep into its being.

The next question to pose now is of course: How are the processes of subjectification and the processes of objectification reflecting each other in their mutual recurrences? Two terms defining both the subject and the object (their perseverance in being) seem to be crucial here: habit and memory. Contrary to what neurophysiologists traditionally claim, both habit and memory are in no way depending upon the human brain or consciousness, but, very much in line with the idea of recognition, they practice sameness and difference, at the same time, in the event. Habit and memory are called up with all the worldly experiments we are exposed to, sculpting the objects that make our world, characterizing the subjects that we relate to.

3 | Cf. pp. 18f.

What the Earth Repeats: Performing the Object, Technology, Art

In the event, habit and memory force us to think. As they force everything to think. What happened? At a depth of 7 kilometres no transition from granite to basalt was found, as the velocity of the seismic waves showed a discontinuity. And what is this water that flows there, coming from deep crust minerals? What is this other world that expresses itself through the borehole?

The quasi-object: How to stop time Contrary to the objects and the subjects that body forth from the event, that are by no means fixed but that can perhaps best be seen as series of metamorphoses, as the topological mechanosphere that we call the contemporary, Michel Serres notices the existence of quasi-objects, which are not objects at all, but pretend to be.4 Quasi-objects “themselves” do not recur; they do not appear to us through similarities and differences. They are instruments of power, created by those in power in order to stay in power, id est, to organize society, to isolate and dominate the means of production, human and non-human. It is indeed a very Marxist figure that Serres produces here as it is in the first place the amalgam of habit and memory which asks for its opiates, it seems. Michel Serres claims that there are three kinds of quasi-objects which have been very good in stopping time, maintaining the status quo, preventing change from happening. He refers to objects of religion, objects of war and objects of capitalism; from totems to arms to money. Interestingly enough, these quasi-objects themselves do not so much change or act but rather require permanent action. Rather than objects, quasi-objects are the ultimate permanences not sharing in the passage of nature. They demand full recognition, and have a strict strategy in how habit and memory need to be involved with their presences. The totem should not move, it should stand still so it can be worshipped. Arms should not be used in battles and in other acts of war, they should be stocked to prevent war. Money should not be spent, it should be protected as property. In many ways, these three quasi-objects intervene in any event, causing things to slow down. The State, almost a synonym for the stocking of arms and perhaps also the primary institute for the protection of money/property (much more so than banks, the executioners), is a very good example of how the quasi-object intervenes. In line with that, the State gave form to the dominant idea of science (Deleuze and Guattari called this “State Science”5). The State has clear ideas on what science is supposed to discover and what it should be blind to. And thus, science, in various ways, performs the State. Its data, its figures, its permanences,

4 | Michel Serres, Genesis, Ann Arbor 1995 [1982]. 5 | Gilles Deleuze and Félix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and ­S chizophrenia, Minneapolis 1987 [1980].

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as Whitehead would call them, are so strongly infiltrated by the ideas of property and stock that very often we have grown blind to for instance this other world that opens itself up to us at seven kilometres below the ground. Of course, another science is possible and it is for that reason that, in our days, Isabelle Stengers keeps stressing: no, there are no laws in physics.6 Yes, there are calculations and patterns, recurrences as I called them, and recognition. And consequently, there are many ways in which new data resonates with the world surrounding us. But the “ownership” that speaks from the word “law” in this setting is immensely deceiving. Any law, in that sense, is a perfect example of a quasi-object. Michel Serres sees the power of the State as symptomatic for the whole project of modern science since Galileo Galilei, who he critiques for being “the first to put a fence around the terrain of nature, take it into his head and say, ‘this belongs to science’, and find people simple enough to believe that this is of no consequence for man-made laws and civil societies, closed in on human relations as they are”.7 Stengers responds to this by saying: “this staging was without a doubt one of the most successful propaganda operations in human history as it has been repeated and ratified even by the philosophers who Galileo Galilei stripped of their claims to authority”.8 Serres, again, almost sound bitter when he concludes: […] science has gotten filled to the brim with fetishes, stakes and merchandise. Its objects have become fetishes to be worshipped, prize and competitive stakes, and desirable merchandise. Science is returning to the lost archaic of societies. It is not science anymore, it no longer resolves our crises or our terrors. […] We must find a different object if we want to survive.9 Note 2. A Soviet history, a history of the Cold War, a history of nuclear tests… Is the Kola Superdeep Borehole a quasi-object? Created by science and by the State, the aim of the hole was by all means “intelligence”. It was created to produce more scientific data, to re/produce the laws of physics and to expand these knowledges. It was also used to monitor nuclear tests, collect all sorts of military intelligence and as nationalist prestige (the USSR created the deepest artificial hole in the world)…

6 | See also Isabelle Stengers, Cosmopolitics I, Minneapolis 2010 [1997], Chapter 7. 7 | Serres, Genesis, 1995 [1982], p. 84. 8 | Isabelle Stengers, In Catastrophic Times: Resisting the Coming Barbarism, Ann ­A rbor 2015 [2009], pp. 70f. 9 | Serres, Genesis, 1995 [1982], pp. 90f.

What the Earth Repeats: Performing the Object, Technology, Art

What, of art, belongs to the present? As part of the “Dark Ecology” project, commissioned by “Sonic Acts”, sound artist and film maker Justin Bennett created two projects that concerned the Kola Superdeep Borehole. A sound walk organized on the site focused on the waste, which, due to the extreme weather conditions, will never disappear. This means for instance that the notes from all sorts of scientific experiments are still scattered around the whole site, together with all sorts of debris, machine parts and other traces of the high-profile research location this once was. Time only seems to have messed things up here, but wasn’t able to make significant changes to all the material as it was simply too cold for all sorts of microbes to survive (microbes are a key ingredient to our linear conception of time). Above all, of course, the sound walk invites us to listen to all the noise that is at work at the site. For although the seismic listening station that surrounded the borehole was closed in the 1990s due to the death of the Soviet State, which meant that the funding for the scientific experiments stopped, the borehole is still there, it is still alive, interacting with its environment, expressing all of its sounds. And it keeps on talking whether or not anyone is interested in hearing it. The documentary that concerns the borehole has an even more intricate story to tell. For whereas the sound walk still starts from the idea of the borehole as a quasi-object, expressing in the first place the power of the Soviet State (note that the USA also started project Mohole in 1957 and was abandoned by congress in 1966 because of increasing costs, and this project only reached 3.6 km), the documentary proposes a wholly other borehole, the life of the borehole that the quasiobject obscured. The documentary shows us a life more earthly, less human, and less static. Bennett interviews Viktor, who claims to be the last geologist on the scene, 25 years after the experiment stopped. Viktor continues his work. He has dropped microphones deep into the borehole and makes fantastic drawings of the sounds that happen in the deep. Obviously Viktor is the scientist gone mad, or better, turning sane again. Released from the State, released from the pressures of State science, which are “the Others” telling him how to conduct his experiments, telling him to implement the Laws of Nature. Viktor is the scientist in search of objects again, their many ways of realization, their different forms of duration. Viktor is the true scientist, who is able to declare, as Serres puts it: “I have attempted to think a new object, multiple in space and mobile in time, unstable and fluctuating like a flame, relational.”10 Viktor recognizes a very different borehole. The recurring noises from the deep body forth a life that the State does not care about, that his former colleagues

10 | Cf. p. 91.

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dismissed. Viktor is not distilling the seismic movements that would indicate nuclear tests from neighbouring states. Viktor is not interested in the Laws of Nature, in “discovering” the next addition to a law of physics… Viktor listens and looks… and sees the other borehole behind the borehole. Moving away from State science makes Viktor, of course, the true scientist. He is also the true artist. Deleuze and Guattari once stated that “art does not wait for the human being to begin”.11 In their last book they gave us the example of the Scenopoetis dentirostris, a bird in the Australian rainforest who cuts leaves, makes them fall to the ground and turns them over so the paler side contrasts with the soil of the woods, creating a stage for the song he intends to sing.12 Deleuze and Guattari call this bird a true artist and it is in this tradition that Viktor, the character in the documentary, is a true artist. A voice-over, a series of images, a series of unrecognizable melodies, harmonies and rhythms, all occupied with the borehole, giving it the stage to express the sounds we never heard and the images we were blind to: that is Viktor. Viktor is opening up our ears and our eyes to “a life”. To conclude I would like to return to the issue of time, to how time works differently this time. In the title of this paragraph I introduced you to “the present”, a very particular concept of time. “The present […] is what we are, and thereby, what already we are ceasing to be.”13 The present is the realm of the quasi-object, it concerns the economic, social and political realities of the day. The present is about the slowing down of time, about keeping the institutions in place. So the question I started with is a very urgent one, a very activist one I guess. What of art belongs to the present? Let us return to Viktor. Viktor surely has no present. Viktor performs a different past and to a different future. Though he hasn’t changed position for the past 25 years, Viktor is a nomad of the present, as he traverses it. Approaching the object, he stages a different past and a different future. He explores an object that was always already there but that we were blind to. Remembering Whitehead, Stengers, Serres and Deleuze, I therefore have to stop where I began, concluding that a philosophy of art is a philosophy of nature.

11 | Deleuze and Guattari, A Thousand Plateaus, 1987 [1980], p. 320. 12 | Gilles Deleuze and Félix Guattari, What is Philosophy?, New York 1994 [1991]. 13 | Ibid., p. 112.

Techniken des Technikvergessens Zur Genealogie der Blackbox Ulf Otto It had ceased to be a blank space of delightful mystery – a white patch for a boy to dream gloriously over. It had become a place of darkness. J oseph C onrad /H eart of Darkness

Ende des 19. Jahrhunderts ist das Außen in der europäischen Imagination von einem weißen Flecken auf der Landkarte zu einer in Dunkelheit gehüllten Projektionsfläche geworden, ein leerer Raum aber ist es in der Vorstellung geblieben.1 Auf dem Phantasma eines solchen leeren Raumes beruht das koloniale Projekt Europas. Die Leere rechtfertigt einerseits, an sich zu nehmen, was sich finden lässt, verspricht andererseits, sich ungehindert und zwanglos bewegen zu können. Weil er leer ist, lässt sich der Raum ausschöpfen und erschließen, und weil er leer ist, lässt sich eine neue Welt in ihm errichten. Die Leere des leeren Raumes besagt also nicht, dass vor Ort etwa nichts zu finden sei, als vielmehr, dass das, was sich dort befindet, nichts weiter als eine Anhäufung von unverbundenen Dingen sei, die sich zu keiner legitimen Ordnung fügten, und man sich ihrer bedienen dürfte, als sie einer Zivilisation entbehrten, die sie zusammenhielte. Das koloniale Projekt treibt daher eine Leerung des Raumes voran, die nichts anderes ist als eine praktische Dekontextualisierung. Es reißt Dinge und Körper aus ihren Zusammenhängen, löst noch die Zusammenhänge selbst auf und unterbindet die unzähligen Verbindungen zwischen den Dingen, aus denen Orte hervorgehen. Stattdessen platziert es die nun vereinzelten Dinge in einem Raum, der ein Container ist und nur aufbewahrt, was sich nun widerstandslos, weil kontextfrei, extrahieren, examinieren, exhibieren lässt. Bekämpft werden daher im Namen des Fortschritts all jene (nativen) Kulturtechniken, welche die Dinge und

1 | Vgl. Stephen Kern, The Culture of Space and Time: 1880–1918, London 1983, S. 164.

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Körper in ihren (magischen) Bezügen aufeinander beziehen, damit am Ende ein scheinbar natürlicher, das heißt technikloser Körper im leeren Raum des europäischen Kolonialtheaters als exotischer Osten, wilder Westen oder dunkler Süden auftreten kann. Spätestens seit dem Apollo-Programm ist dem Westen ein solches innerweltliches Außen jedoch weitgehend verloren gegangen,2 spätestens die Satellitentechnik hat die Welt als Raum lückenlos erschlossen. Leere findet sich nur noch im Weltraum, und Technik ist nicht länger das, was einer scheinbar vortechnischen Natürlichkeit gegenübergestellt werden könnte. Die Cyborg ist keine mögliche Zukunft mehr, als vielmehr die zu verhandelnde Gegenwart.3 Im Horizont digitaler Kulturen4 wird die technologische Bedingtheit von Sein und Sinn 5 unabweisbar und die Frage nach der Technik6 stellt sich neu, auch im Theater. Technizität, das wird angesichts der Invasivität digitaler Technologien auch in den performativen Künsten deutlich, erschließt sich eben nicht durch die Betrachtung der Videokamera auf der Bühne und ihrer künstlerischen Nutzung als medientechnisches Werkzeug zur Realisierung innovativer Konzepte von autonomen Regisseurssubjekten. Überhaupt scheint die diskursive Frontstellung des auf unmittelbare Anwesende bezogenen Theaters gegenüber einer technisch vermittelnden Medienwelt, d.h. die Distinktion zwischen theatralen Interaktionsund medialen Aufschreibesystemen, im Digitalen ihre Evidenz verloren zu haben. Damit aber verliert auch die theoretische Modellierung von Theater als einem in sich geschlossenen Zeitraum, als ereignishaftem Schauplatz von menschlichen Körpern und menschlicher Wahrnehmung an Deutungshoheit. Stattdessen gerät Theater immer häufiger als ein technisches Gefüge, als transversales Ensemble oder buntes Miteinander ungleicher Dinge und Tätigkeiten in den Blick. Das Interesse richtet sich zunehmend weniger auf das, was in Aufführungen erscheint, als vielmehr auf dasjenige, aus dem Raum und Zeit des Theaters überhaupt erst

2 | Vgl. Diedrich Diederichsen und Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. California and the Disappearance of the Outside (= Katalog zur Ausstellung „The Whole Earth“, Haus der Kulturen der Welt 2013), Berlin 2013. 3 | Vgl. Donna Haraway, „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-­ Feminism in the Late Twentieth Century“, in: Dies., Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, London 1995. 4 | Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 5 | Vgl. Erich Hörl, Die technologische Bedingung, Berlin 2003. 6 | Vgl. Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954.

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hervorgehen. Nach der phänomenologischen Perspektive braucht es eine phänomenotechnische Perspektive auf die Aufführung.7 Eine solche Frage nach der Technizität ist jedoch mit einer fundamentalen Technikvergessenheit des Theaters konfrontiert, die auf einer Theatertheorie fußt, deren dominanter Anthropozentrismus ein sinnvolles Sprechen über Theater und Technik bislang nahezu unmöglich gemacht hat. Hier soll daher vorerst nichts anderes unternommen werden, als eine kursorische Rekonstruktion dieser Technikvergessenheit des Theaters. Der erste Abschnitt problematisiert den Anthropozentrismus der Theatertheorie, der zweite argumentiert, inwiefern dieser Anthropozentrismus die Kehrseite einer Austreibung der Technizität aus dem Theater ist, und der dritte zeigt, dass die resultierende Technikvergessenheit paradoxerweise eine zutiefst technische Angelegenheit ist.

Empty Space: Theorie des Raumes „I can take any empty space and call it a bare stage.“8 – 1968 markiert Peter Brooks theatertheoretischer Bestseller The Empty Space den Nullpunkt9 des Theaters. Was das Theater hier theoretisch zusammenhält ist dasselbe, was nach Peter Szondi10 schon den Kern des Dramas bildet, nämlich zwischenmenschliche Gegenwart, auch wenn sich das Zwischenmenschliche im Falle des Theaters nicht mehr auf die Bühne begrenzt und in den Saal übergeht: „A man walks across this empty space whilst someone else is watching him, and this is all that is needed for an act of theatre to be engaged.“11 In nuce findet sich hier jener theatrale Interaktionismus, der Diskurs und Ästhetik des Theaters bis heute prägt.12

7 | Vgl. Ulf Otto, „Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung“, in: Benjamin Whistutz und Benjamin Hoesch (Hg.), Neue Methoden der Theaterwissenschaft [Druck i. Vorb.]. 8 | Peter Brook, The Empty Space, London 1968, S. 9. 9 | Vgl. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit [1953], Frankfurt a. M. ²2016. 10 | Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas: 1880–1950, Frankfurt a. M. 2004 [1962]. 11 | Brook, The Empty Space, 1968, S. 9. 12 | Seine Anfänge in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft sind durch die soziologisch gefärbte Interaktionstheorie geprägt, vgl. u.a. Arno Paul, Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln, Opladen 1971; Manfred Wekwerth, Theater und Wissenschaft. Überlegungen für eine Theorie des Theaters, Berlin 1970; aber auch die Ästhetik des Performativen (vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004) und rezentere Theorieansätze bauen auf diesem Fundament auf.

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Dieser theatrale Interaktionismus hat in den 1970er Jahren bei Brook und anderen eine anthropologisch angehauchte Suche nach einer universalen Theatersprache inspiriert.13 Ein Resultat dieses Projekts war ein interkultureller Primitivismus, der aus dem bunten Nebeneinander verschiedener essentialisierter Kulturen ein gemeinsames Vorkulturelles zu destillieren gedachte, und dessen ästhetische Strategie eben jener ähnelt, die Roland Barthes bereits 1957 für die Ausstellung The Family of Man analysiert hat: [Z]unächst bekräftigt man die Unterschiede [...]. Dann gewinnt man auf magische Weise aus diesem Pluralismus eine Einheit: der Mensch wird geboren [...]. [...] Wir werden an der Oberfläche einer Identität festgehalten und [...] gehindert, in den [...] Bereich [...] einzudringen, wo die historische Entfremdung jene ‚Unterschiede‘ schafft, die wir schlicht und einfach ‚Ungerechtigkeiten‘ nennen.14

Wie der theatrale Interaktionismus ließe sich insofern auch der interkulturelle Primitivismus als ein Diskurs im Sinne Foucaults beschreiben, der einen Gegenstand der Erkenntnis überhaupt erst hervorbringt. Zusammen bewirken sie, dass im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch einmal der Mensch auf dem Theater erscheint. Nicht jedoch der historische Mensch, dessen Menschlichkeit sich immer schon in dem Widerspruch zwischen der Gleichheit von Rechten und Ungleichheit von Verhältnissen abspielt, tritt hier auf. In Erscheinung tritt vielmehr das essentialistische Phantasma eines unmarkierten, also transparenten, geschlechtsneutralen und klassenlosen Subjekts. Es dient bei Brook und anderen vornehmlich als Projektionsfolie für eine hegemoniale Position, die über äußerliche Unterschiede hinwegsehen kann, weil sie selbst auf der privilegierten Seite dieser Unterschiede steht. Insofern die Theatertheorie, die sich als distinktes Genre im 20. Jahrhundert herausbildet, diesem theatralen Interaktionismus verbunden bleibt, ist sie von einem universalistischen Anthropozentrismus geprägt. Ein solcher Anthropozentrismus aber ist problematisch, weil er die Frage nach der Macht außen vor lässt, oder mehr noch, sie im Sinne der Herrschaft beantwortet. Wer nicht reflektiert, dass die Körper, die auftreten, einen Unterschied machen, bestätigt die herrschende Norm. Daher braucht es eine Kritik an der Theorie des Theaters, die zur Untersuchung der Macht zurückkehrt und an der theatertheoretischen Konstruktion des

13 | Zur postkolonialen Kritik an Brooks Ästhetik und Theorie vgl. u.a. Rustom ­B harucha, Theatre and the World, New Delhi 1992; David Williams, Peter Brook and The M ­ ahabharata: Critical Perspectives, London 1991. 14 | Roland Barthes, „Die große Familie der Menschen“, in: Mythen des Alltags, ­Frankfurt a. M. 1964, S. 16f.

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Menschen ansetzt. Diese Konstruktion aber ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch und vor allem eine Frage der Technik. Denn nichts anderes als die Ausgrenzung der Technizität aus dem Theater ist es, die dem Auftritt des Menschen die Bühne bereitet. Denn der ‚Mensch‘ tritt bei Peter Brook in einem leeren Raum auf.15 Die Leere dieses Raumes ist die Bedingung seines Erscheinens. Deshalb beginnt Brook, wie alle moderne Theatertheorie, mit dem Ausverkauf des Plunders, der Theater bis dahin metonymisch bestimmt hat. Yet when we talk about theatre this is not quite what we mean. Red curtains, spotlights, blank verse, laughter, darkness, these are all confusedly superimposed in a messy image covered by one all-purpose word. [...] we refer to the theatre as it was [...], a theatre of box office, foyer, tip-up seats, footlights, scene changes, intervals, music, as though the theatre was by definition these and little more.16

‚Alles muss raus‘ steht in blinkenden Lettern über der Theorie der Theatermoderne: Kippsitze und Vorhänge, Fußrampen, Blankvers und Szenenwechsel, aber auch das Handwerk des Darstellens, das kunstvolle Sprechen und Singen mit seinen gestischen und mimischen Konventionen, kunstvolle Kleider und handgeknüpfte Perücken, all das ist fortab nur noch konventionelle Akzidenz. Modernes Theater beginnt, wie auch die disziplinäre Initiation im Einführungskurs Aufführungs­ analyse immer wieder damit, Vorurteile und Missverständnisse auszuräumen: Mit der Abwendung von der Tradition gilt es, ein Eigentliches zu entdecken, das den Raum für neue Ästhetiken öffnet. Diese theoretische Entkernung des Theaters aber ist, wie deutlich bei Brook ablesbar, vornehmlich eine Austreibung der Technizität im Namen eines umfassenden Repräsentationsverdachts: Der theatrale Apparat ist deshalb verdächtig, weil er bürgerliche Innen- und Außenwelten ins Bild setzt. Futuristen, Dadaisten und Konstruktivisten, die historischen Avantgarden, arbeiten daher an einem Umbau der theatralen Maschinerie. Erst die Neoavantgarde der 1960/70er Jahre setzt alles daran, die Maschine und ihre Bilder überhaupt aus dem Theater und seinem Begriff zu vertreiben: Was bleibt und bestimmt, ist (zwischenmenschliche) Interaktion und zwar auch dort, wo die Apparate die Bühne bevölkern. Dahinter aber steht, anno 1968, auch die Angst des Theaters vor den Medien, die sich auch bei Brook bemerkbar macht. „We talk of the cinema killing the theatre“, heißt es in dem oben ausgelassenen Satz des Zitats, „and in that phrase we

15 | Tatsächlich ist es in der deutschen Übersetzung bezeichnenderweise kein „Mensch“, sondern ein „Mann“, dem ein anderer „Mann“ zusieht, während er über eine „nackte“, und nicht „kahle“ oder „schmucklose“ Bühne geht, vgl. Peter Brook, Der leere Raum, Berlin 2016 [1969]. 16 | Brook, The Empty Space, 1968, S. 9.

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refer to the theatre as it was when the cinema was born, a theatre of box office, foyer, tip-up seats, footlights, scene changes [...]“.17 Das Kino bedroht das Theater, aber, so geht die rhetorische Volte, eben nur jenes uneigentliche (konventionelle) Theater, das ohnehin schon tot ist, das „dead theatre“, dem das erste Kapitel von Brooks Schrift gewidmet ist. Das eigentliche, weil entrümpelte Theater aber, dem Brook in den folgenden Kapitelunterschriften die Attribute „holy“, „rough“ und „immediate“ verleiht, ist unsterblich und so auch vom Kino unverwundbar: Weil ihm die Technizität abgeht, fällt es als Medium reiner Menschlichkeit aus der Geschichte heraus. Das Theater, so könnte man zusammenfassen, überlebt den Angriff des Kinos durch das theoretische Opfer seiner Technizität. Die Folge aber ist ein Theater, das vom Laien manchmal nicht mehr als solches wiederzuerkennen ist, und vollends zur Kunst wird. Denn im leeren Raum des modernen Theaters wird mit der menschlichen Interaktion fortan ins Zentrum gerückt, was in der Kommunikation der Gesellschaft radikal an Bedeutung verliert. Das Theater selbst ist zum οὐ-τόπος (ou-tópos), zum verheißungsvollen Nicht-Ort geworden, der tendenziell außerhalb der Gesellschaft steht und diese von dort aus kritisch in den Blick zu nehmen gedenkt. Eine solche theoretische Konzeption des Theaters als leerer Raum wäre mit Lefebvre18 deutlich von der Realisierung des Raumes sowie der räumlichen Praxis, die diese hervorbringt, zu unterscheiden. Letztere sollen in den folgenden beiden Abschnitten besprochen werden.

Blackbox: Rhetorik des Raumes Die Blackbox ist im Theater ein schwarz ausgekleideter Kasten. An der Decke findet sich meist ein Gestänge mit Technik, der Boden ist nicht selten mit Tanzteppich bedeckt, und eine Podesterie mit Bestuhlung, die zumindest theoretisch flexibel ist, beherbergt das Publikum. Es fehlen die Ausschmückungen, die Rundungen und die Einteilungen, der Stuck, das Portal, die Galerie, es fehlt im Grunde die Architektur überhaupt: Blackboxes werden in Baukörpern installiert, sie sind selbst keine, die Baugestalt verschwindet, damit etwas anderes in Erscheinung treten kann.19

17 | Ebd. 18 | Vgl. Henri Lefebvre, The Production of Space, Malden/Oxford u.a. 2005. 19 | Entsprechend finden Blackboxes wenig Erwähnung in den Architekturgeschichten des Theaters, wie David Wiles (A Short History of Western Performance Space, ­C ambridge 2003) festgestellt hat; er verweist auf die 1942 gebaute Royce Hall der University of California als einflussreichsten Bau (vgl. Walden P. Boyle, Central and Flexible Staging; a New Theater in the Making, Berkeley 1956) sowie die Inszenierung Kaspariana des Odin Teatret in Holstebro im Jahr 1967 (vgl. Marc Fumaroli und Frank

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Anders als das théâtre a l’italienne, das es mit seiner allegorischen Ausschmückung und seinem stratifizierten Auditorium anfangs intern, später auch extern auf Repräsentation anlegt, insinuiert die Blackbox das Gegenteil: Sie eröffnet einen Raum, der zeitlos, ortlos und bedeutungslos erscheint, ein ideales Gefäß, das ganz darin aufgeht, gefüllt zu werden, selbst aber nichts zum Inhalt beiträgt. Wie der Container lebt die Blackbox ganz von ihrem Inhalt und ist austauschbar, dazu gemacht, Kunst zu beinhalten, zu transportieren. Für das, was hier gespielt wird, die tourenden Produktionen der freien Szene, macht es keinen Unterschied, ob man sich auf Kampnagel in Hamburg, im Hebbel in Berlin oder im Mousonturm in Frankfurt befindet. Die Blackbox eröffnet insofern einen Raum, der die Örtlichkeit negiert, weil er selbst keine Bedeutung hat. Aber welchen Sinn macht so ein Raum, der keine Bedeutung haben will? Der Sinn ergibt sich historisch aus der Opposition zum bedeutungsvollen Raum des Theaters. Ende der 1960er Jahre entsteht die Blackbox als dominante Raumkonstellation eines alternativen Theaters, das, wie die frühen Avantgarden, ein Studio, Workshop oder Labor für die Arbeit an der Kunst verlangt und im Namen dieser Kunst einen doppelten Bruch zelebriert: mit der Vergangenheit und der Gegenwart, der bürgerlichen Kultur und ihren repräsentativen Musentempeln, wie auch dem kommerziellen Mainstream der Mediengesellschaft. Der Bruch ist radikal insofern er als Negation auftritt. Kein neuer Stil und keine neue Form sollen geschaffen, keine historischen Bezüge hergestellt werden, keine Neoklassik stellt den Neobarock in Frage. Mit der Blackbox kommen die Geschichte und Politik des Stils im Theater ans Ende. Aus der Negation von Tradition und Konvention entsteht ein zeit- und ortloser Raum, schwerelos und zur sozialen Wirklichkeit hin hermetisch geschlossen, abstrakt und von jeder Konkretion gereinigt, der sich ganz und gar in der ästhetischen Funktionalität erschöpft, einer Kunst des Theaters zur Erscheinung zu verhelfen. Der kulturelle Ort des Theaters wird zugunsten eines flexibel und total zu gestaltenden ästhetischen Raumes zurückgedrängt.20 Darin ähnelt die Blackbox dem, was der White Cube für die Kunst ist. Wie Brian O’Doherty gezeigt hat, lässt sich dieser als eine Nachfolgetechnik des Bil-

Paul Bowman, „Eugenio Barba’s“, in: The Drama Review 13/1, 1968, S. 46–56; sowie Ian Watson, Towards a Third Theatre, London/New York 1993, S. 121–125). 20 | Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Blackbox nicht selten in ehemaligen Industriegebäuden installiert wird, deren Geschichtlichkeit damit nur noch dekorative Funktion übernimmt. So zum Beispiel in Deutschland auf ‚Kampnagel‘ in Hamburg, im ‚Mousonturm‘ in Frankfurt, in Frankreich in der ‚Cartoucherie de Vincennes‘, in Großbritannien in der ‚Royal Exchange‘ Manchester, der ‚Tramway‘ Glasgow und im ‚Roundhouse‘ London.

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derrahmens beschreiben, dessen Funktion in der Transformation von Alltag in Kunst besteht.21 Dieser White Cube geht in O’Dohertys Erzählung aus der Krise der Repräsentation und der Thematisierung des Mediums durch die Malerei der Moderne hervor. Mit dem Verlust der Raumtiefe im Bild und der Betonung seiner Flächigkeit würde der Rahmen gesprengt und die autonom gewordene Kunst den Raum der Galerie betreten, in dem sie sich fortan ästhetisch und institutionell abspiele. „Schattenlos, weiß, clean und künstlich – dieser Raum ist ganz der Technologie des Ästhetischen gewidmet.“22 Eine solche formale Künstlichkeit aber, die sich aller Inhaltlichkeit konsequent entledigt, betont O’Doherty, solle nicht mit einer wertfreien Neutralität verwechselt werden. Der Anschein von Neutralität, der der weißen Wand anhaftet, ist eine Illusion. Sie steht für eine Gesellschaft mit festen Ideen und Werten. Die Entwicklung der freischwebenden weißen Zelle gehört zu den Triumphen der Moderne, eine Entwicklung, die ihre ästhetischen, ökonomischen und technischen Aspekte hat. In Form eines spektakulären Striptease entblößte sich die Kunst im Innern der Zelle immer mehr, bis ihr formalistischer Endzustand erreicht war oder einige Zitate der Außenwelt übrig blieben.23

Interessant ist im Vergleich mit der Blackbox, die eine ähnlich formalistische Modernität im Theater realisiert, die andere und in der westlichen Kulturgeschichte anders besetzte Farblichkeit: Repräsentiert das farblose Weiß, beispielsweise in der modernen Architektur, eine strahlende Lichtfülle, die in Tradition der Aufklärung (frz. Lumières, eng. Enlightenment) ein vergangenes Dunkel vertreiben will, steht das ebenfalls farblose Schwarz, die Abwesenheit von Licht, in der Moderne gerade für die romantische Kehrseite und ist mit dem Nachtleben urbaner Kulturen assoziiert.24 Während Blackbox und White Cube sich insofern funktional ähneln, könnten sie doch zugleich inhaltlich als Kehrseiten voneinander verstanden werden. Das Weiß prangt in den Höhen der modernistischen Architektur, die Blackbox findet sich eher in den Kellern und Souterrains der Moderne. Die Körper von denen O’Doherty schreibt, dass sie in der sterilen Umgebung des White Cube eigentlich fehl am Platz seien, stehen in der Blackbox, deren Verwandtschaft zum

21 | Vgl. Brian O’Doherty, Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Santa Monica 1986, S. 34f. 22 | Ebd., S. 10. 23 | Ebd., S. 88f. 24 | Vgl. Le Corbusier, When the Cathedrals Were White, McGraw-Hill 1964.

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Varieté nicht zu verleugnen ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ihre Ausstellung ist in gewisser Weise Programm.25

Projektion: Technik des Raumes Die technische Voraussetzung der Blackbox ist daher die Elektrifizierung des Theaters. Dank ihr können die Dinge aufhören sich zu bewegen und werden Unter-, Seiten- und Hinterbühnen verzichtbar, von denen aus sich die Strippen ziehen ließen. Kabel haben die Seile ersetzt, denn aus der Kulissenbühne, die ein mechanisches Uhrwerk war, wird in der Moderne ein Kraftwerk, das Ströme zirkulieren lässt: Scheinwerfer und Lautsprecher erzeugen Schall- und Lichtwellen, die von Körpern entkoppelte Sinnesdaten durch den Raum senden. Nicht mehr die Szenen wechseln in der Blackbox, sondern die Stimmungen schwanken, und das heißt konkret das elektrische Licht. Dank dieses Lichts lässt sich auf Mechanik verzichten; es ist die Schuld dieses Lichts, dass Kulissen und Wandelpanoramen auf einmal albern wirken, und es ist im Namen dieses Lichts, dass Marinetti und andere das Theater der Zukunft fordern. Die entscheidende technische Operation dieser ästhetischen Modernisierung des Theaters ist seine Entkernung – und zwar theoretisch wie auch ganz praktisch. Sie verdankt sich den historischen Avantgarden und kommt der Austreibung der Dekoration im Namen der Kunst gleich. Einerseits werden die Freifahrten, Kulissenwägen und Versatzstücke auf der Hinterbühne demontiert, andererseits wird auch aus dem Auditorium die Dekoration entfernt. Entscheidend ist daher, was mit dem Samt passiert: Anstelle des roten Vorhangs, der als Zeichenträger und Zeichenverhüller den Raum quer zu den Sichtachsen teilt, tritt ein schwarzer Stoff, der die Innenwände des Kastens auskleidet, nichts mehr darstellt, nichts mehr verbirgt und nur noch schluckt, nämlich Schallwellen und Lichtwellen, die sich sonst ungerichtet und unkontrolliert ausbreiten könnten. Es gilt die Reflektion zu unterbinden, um die Konzentration zu steigern.26

25 | So hat der Theaterhistoriker David Wiles beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Blackbox ihre Durchsetzung den alternativen Theaterkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den ‚Arts Centres‘ oder ‚Maisons de la culture‘, verdankt, und gezeigt, inwiefern die ästhetische Neutralität und Flexibilität der Blackbox auch mit einem Verständnis von dieser als von gesellschaftlichen Zwängen befreiter Raum einhergingen. „The dream was of free and infinite space controlled by the dimmer switch, involving intellectual and moral liberation from the spatial constraints of the past.“ David Wiles, A Short History of Western Performance Space, Cambridge 2003, S. 248. 26 | Vgl. den auch von Wiles erwähnten Bericht Stanislavskys über die (Wieder-) Entdeckung der ästhetischen Möglichkeiten des schwarzen Samts im Kontext der

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Sinn wird im leeren Raum der Blackbox insofern vornehmlich von Projektionsapparaten erzeugt, der gleichen Technologie, die auch das theaterbedrohende Kino einsetzt: Denn durch Elektrizität wird die Bündelung eines gereinigten Lichts möglich, das von der Verbrennung entkoppelt ist und sich als Schein werfen lässt. So entstehen ästhetische Fernwirkungen, die in Kolonialkriegen, Warenhäusern und Weltausstellungen eingesetzt werden, aber auch die Grundlage eines immateriellen Illusionismus im Theater bilden. Die Ausbeutung fossiler Energien, elektrischer Kraftübertragung und die Regulierbarkeit der Spannungen lässt eine moderne Magie entstehen, denn mit der Elektrifizierung werden die ästhetischen Mittel in unbekanntem Ausmaß regulierbar und undurchsichtig. Wenn der Regler hochgezogen wird und der Scheinwerfer angeht, strahlt nur noch das Objekt. Die Blackbox ist insofern nichts anderes als eine Maschine zur Kontrolle und Regulation von Aufmerksamkeit, ähnlich dem bereits oben erwähnten Pendant des White Cube in der bildenden Kunst, und arbeitet an der Herauslösung der Dinge aus ihrer Umgebung und ihrer Zuführung zu einer ästhetischen Wahrnehmung. Anstelle der Rahmung der Dinge, wie sie Bilderrahmen und Bühnenportal betreiben, tritt die Erzeugung ästhetischer Kraftfelder, die Räume einnehmen und Aufmerksamkeiten dynamisch regulieren. Diese Blackbox steht am Ende einer Entkernung des Theaters, die aus einem Ort einen Apparat macht. Der leere Raum der Theatertheorie aber ist eine Täuschung in zweifacher Hinsicht: Seine Leere ist erstens eine dynamische Angelegenheit, immer schon von Attraktoren verzerrt und von Atmosphären erfüllt. Zweitens entsteht diese Leere überhaupt erst, wenn der Starkstrom angeschaltet wird und die Energien zirkulieren, im Arbeitslicht sieht es aus, wie in einer mit Apparaten vollgestopften Fabrik. Denn diese Leere ist alles andere als einfach und gegeben, sondern hergestellt und künstlich, sie beruht auf mathematisierten Ingenieurswissenschaften, der Ausbeutung fossiler Energien, industriekapitalistischen Konzernbildungen und konsumgesellschaftlichen Geschäftsmodellen. All das aber ist nicht mehr sichtbar wenn das Licht angeht, und zwar sozusagen in zweiter Ordnung: Die Kulisse diente auch schon dazu, den Apparat hinter sich zu verstecken, der Scheinwerfer hängt offen an der Stuckdecke und ist doch nicht sichtbar. Leer ist dieser Raum also nur im Sinne eines Zaubertricks. Dessen Magie besteht ja darin, dass man die Technik, von der man weiß, dass es sie geben muss, nicht sehen kann, weil der Aufmerksamkeit ein alternatives Angebot gemacht wird, das sie nicht zurückweisen kann. Im Falle der Theatertheorie ist dieses Angebot der selbstgefällige Gang des Menschen durch den Raum, dessen Betrachtung allein ausreichen soll, damit es Theater gibt. Er lenkt von den aufwendigen

I­nszenierung von Maeterlincks Der Blaue Vogel, Constantin Stanislavsky (1924), My Life in Art, London 1924, S. 488–492.

Techniken des Technikvergessens

Voraussetzungen des Theaters ab, von seiner Technizität, von ihrer Geschichte und Politik. Denn zu behaupten, es bräuchte nichts anderes als einen Mann, der durch einen leeren Raum geht, damit Theater entsteht, ist natürlich in etwa so sinnvoll wie zu behaupten, dass alles, was es für einen erfolgreichen Zaubertrick bräuchte, eine dünne Frau und eine scharfe Säge wären. Je mehr man sich mit der Praxis des Theaters beschäftigt, desto absurder erscheint einem die Behauptung. Denn in der Praxis stolpert ja selten jemand in einen jungfräulichen Raum, der nur auf das Theater wartet, das in ihm entstehen kann. Meist ist da zuerst diese Maschinerie aus Honorarverträgen, Probenzeiten und Weisungsbefugnissen, die erst nach sechs Wochen mühsamen Probierens, Einrichtens und Durchlaufens ein komplexes Gefüge aus Dingen, Zeichen und Abläufen hervorbringt – und erst der Auftritt des Menschen in diesem Gefüge erzeugt jenen vermeintlich leeren Raum, in dem sich die Maschinerie verbirgt, die ihn überhaupt erst erscheinen lässt. In der Leere des leeren Raumes, die durch den Auftritt des Menschen im Theater eingesetzt wird, findet sich nichts anderes als die Technikvergessenheit des Theaters. Erstens wollte ich also nahelegen, dass die Theatertheorie, die sich seit den 1960er Jahren als distinktes Genre herausgebildet hat, auch in ihren postmodernen Fortschreibungen einem theatralen Interaktionismus und damit einem hochproblematischen Anthropozentrismus verhaftet. Zweitens habe ich argumentiert, dass dieser Anthropozentrismus auf der theoretischen Konstruktion eines leeren Raumes beruht, der einer Austreibung der historischen Technizität des Theaters gleichkommt. Drittens schließlich, hat der Blick in die bauliche Realisierung dieses leeren Raumes gezeigt, dass die Technikvergessenheit der Theorie nur die Kehrseite eines technischen Verhältnisses des Theaters ist.

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„Control Performance“ Theater und Kybernetik anhand von Pasks Proposals for a Cybernetic Theatre Georg Döcker Man muss nicht mit Erich Hörl d’accord gehen, demzufolge die Kybernetik ­konstitutiv für das Technologische bzw. die von ihm so bezeichnete ­technologische Bedingung ist und dergestalt eine neue Epoche techno-kultureller Sinn­stiftung kennzeichnet,1 um anerkennen zu können, dass die technologische ­Geschichte, womit sie auch eingesetzt haben mag, ab den frühen 1940ern, in denen sich die Kybernetik als moderne Wissenschaft formiert, nicht mehr sinnvoll ohne e­ benjene geschrieben werden kann. Auch die Geschichte der Technologie im Theater lässt sich kaum ohne Einbezug der Kybernetik in Angriff nehmen, zumindest dann nicht, wenn es sich zugleich um eine Geschichte der Gegenwart des Theaters ­handeln soll, die von den Effekten der Kybernetik geprägt ist, auch wenn sie kaum noch explizit erwähnt wird. Es reicht ein Blick auf Arbeiten von A ­ nnie ­Dorsen ­(Algorithmic Theatre), machina eX (Real Life Game Theatre), ­R imini ­Protokoll (Staat 1, Staat 3, Uncanny Valley), Maxted Orion ([The Machine]) oder auch Anne Imhof (Faust u.a.), um den Einfluss kybernetischer Modelle auf die zeit­genössische Theaterpraxis abschätzen zu können: distribuierte Netzwerke, ­algorithmisch regulierte Handlungsverläufe und informationstechnische Rückkopplungswege bestimmen vielfach Zeigen und Zuschauen.2 Nichtsdestotrotz hat die Theaterwissenschaft bis dato nur vereinzelt zu einer historischen und theoretischen Vermessung des Nexus von Theater und

1 | Vgl. Erich Hörl, „Die technologische Bedingung“, in: Ders. (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin 2011, S. 7–53. 2 | Vgl. u.a. Annie Dorsen, „On Algorithmic Theatre“, unter: http://www.anniedorsen. com/useruploads/files/on_algorithmic_theatre.pdf [05.03.2020]; Imanuel ­ S chipper (Hg.), Rimini Protokoll: Staat 1–4, Berlin 2018; Orion Maxted, „Cybernetics vs. ­D escartes. The Mind of non-Cartesian Theater“, 18.12.2018, unter: https://e-tcetera.be/ cybernetics-vs-decartes/ [05.03.2020]; Susanne Pfeffer (Hg.), Faust. Anne Imhof, ­L ondon 2017.

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­Kybernetik angehoben,3 obwohl allerdings das eigene Instrumentarium des Fachs untergründig von der Kybernetik geprägt ist, hat doch Erika Fischer-­Lichte in ihrer trotz aller Einwände wirkmächtigen Aufführungsdefinition den Begriff der autopoietischen Feedbackschleife eingebracht, ohne ihn aber als ­k ybernetisch auszuweisen, ­ weshalb ihr zu Recht die Ontologisierung kybernetischer An­ nahmen angelastet wurde.4 Während Hörl und andere aus Philosophie, ­Medienund ­ Kulturwissenschaft die erneute Beschäftigung mit dem k­ybernetischen Erbe forciert haben – eine Auseinandersetzung, die seit gut 20 Jahren unter dem ­Deleuze’schen Stichwort der Kontrollgesellschaften die machtpolitischen Implikationen der Kybernetik fokussiert und damit kritisch an 1980er- und ­90er-­Diskurse zu Simulation und Cyberspace anschließt5 –, bleibt für die Theater­ wissenschaft weitgehend eine Analyse zu ­leisten, die im Folgenden skizziert werden soll anhand der Kreuzung von Theater und Kybernetik in der Person des britischen K ­ ybernetikers Gordon Pask und s­einen unveröffentlichten Proposals

3 | Nach Verfassen dieses Aufsatzes erschienen: The Drama Review 244 (Winter 2019) zu „Algorithms and Performance“, vgl. darin v.a. Ulf Otto, „Theatres of Control. The Performance of Algorithms and the Question of Governance“, S. 121–138, dessen aufschlussreiche Thesen zu algorithmischer Kontrolle mit den Argumenten aus diesem Aufsatz korrespondieren; dazu auch: Ders., Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medin, Bielefeld 2013; vgl. auch Jon McKenzie, Perform or Else. From ­D iscipline to Performance, London/New York, 2001, v.a. Teil I, Kapitel 2 zu kybernetischem Feedback in „organizational performance“, S. 55–94; Robert Krajnik, Vom ­T heater zum Cyber­s pace. Körperinszenierungen zwischen Selbst und Algorithmus, Bielefeld 2016, eine pädagogische Studie zur Theatralität der Selbstinszenierung im Cyberspace. 4 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, v.a. S. 284–294. Zur Kritik an Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff vgl. exemplarisch: André Eiermann, Postspektakuläres Theater, Bielefeld 2009, v.a. „Einlass“ und „Programm“, S. 11–46. Zur Kritik an ihrer kybernetischen Ontologisierung etwa die Andeutung in: Ulrike Haß, „Was einem Dispositiv notwendig entgeht, zum Beispiel Kleist“, in: Lorenz Aggermann, Gerald Siegmund und Georg Döcker (Hg.), Theater als Dispositiv, Frankfurt a. M. 2017, S. 89–102, hier S. 91. 5 | Vgl. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften,“ in: Ders., ­U nterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262; Tiqqun, Kybernetik und Revolte, Berlin/Zürich 2007; Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde, Hamburg 2015, Kapitel „Fuck Off Google“, S. 79–101; Alexander Galloway, Protocol. How Control Exists After Decentralization, Cambridge 2004; zu früheren Studien vgl. ­D onna ­H araway,­ „A Cyborg Manifesto,“ in: Robert Con Davis und Ronald Schleifer (Hg.), Contemporary Literary Criticism, London/New York 31994, S. 567–595; Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 82015; CCRU, Writings 1997–2003, Falmouth 2017.

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for a ­Cybernetic T ­ heatre von 1964.6 Der Fokus liegt dabei auf der Verschränkung von Kommunikations- und Machttechnologien, die das Theater zum informations­ technisch gestützten, kontrollphantasmatischen Raum sich selbst steigernder ­Regulation als Lustprinzip und Selbstzweck macht.

Kybernetik, Steuerung des Werdens Die Einlassungen Pasks auf das Theater fallen in die 1950er und 60er, in denen sich Philosophie, Künste und Kybernetik vielfältig begegnen und einerseits eine Kunsttheorie im Zeichen der Informationsästhetik hervorbringen,7 andererseits interaktive und selbstregulative Skulpturen, Installationen, Ausstellungen oder Aufführungen zeitigen,8 wie etwa die heute kanonischen Nine Evenings (1966).9 Dass dabei Kunst und Wissenschaft wechselseitige Verbindungen eingingen, ist nur konsequent, denn schon ab den späten 40ern changierte die K ­ ybernetik z wischen mathematisch-logischer Abstraktion und Experimenten in allen ­ ­möglichen Bereichen, die rückwirkend kybernetische Axiome festigten oder verschoben. Damit wäre ein Zugang zu der Frage genannt, was eigentlich das Kybernetische der Kybernetik ist – nämlich Konzepte direkt anhand technischer oder sozialer ­Apparaturen zu entwickeln, wie 1948 im Fall des als erste kyber­netische Maschine bezeichneten Homöostat, mit dem W. Ross Ashby kybernetische Grundannahmen revidierte.10

6 | Vgl. Gordon Pask, „Proposals for a Cybernetic Theatre“, unveröffentlichtes M anuskript, 1964, unter: https://www.pangaro.com/pask/ProposalCyberneticTheatre ­ Pask1964r.pdf [05.03.2020]. 7 | Vgl. Claus Pias, „‚Hollerith ‚gefiederter‘ Kristalle.‘ Kunst, Wissenschaft und ­C omputer in Zeiten der Kybernetik“, in: Erich Hörl und Michael Hagner (Hg.), Die Transformation des Humanen, Frankfurt a. M. 2008, S. 72–106. 8 | Vgl. Christoph Asendorf, „Die Künste im technischen Zeitalter und das utopische Potential der Kybernetik“, in: Erich Hörl und Michael Hagner (Hg.), Die Transformation des Humanen, Frankfurt a. M. 2008, S. 107–124. 9 | Vgl. Sabeth Buchmann, „Feed Back. Performance in der Bewertungsgesellschaft“, in: Texte zur Kunst 110, 2018, S. 34–53. 10  |  Vgl. Andrew Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin 2007, viertes ­K apitel, S. 127–155; vgl. auch Hörl/Hagner und deren ähnliches Argument der kybernetischen Kreuzung von ‚techne‘ und ‚episteme‘: Michael Hagner und Erich Hörl, ­„ Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen“, in: Die ­Transformation des ­H umanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008, S. 7–37, S. 20; zum Homöostat vgl. Thomas Rid, Rise of the Machines. A Cybernetic History, New York/ London 2016, Kapitel 2, S. 43–72.

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Ungeachtet dieser möglichen Antwort bleibt die Verfasstheit der Kybernetik von Polaritäten durchzogen: zwischen dem Status der Kybernetik als wissenschaftlicher Unternehmung und anvisierter Universalwissenschaft, die unter anderem moderne Physik, Mathematik, Behaviorismus, Kommunikationstheorie oder Biologie vereinen sollte, und ihrer Breitenwirkung fernab vom wissenschaftlich Nachvollziehbaren, die den Cyberpunk oder Scientology hervorbrachte;11 ­z wischen der historischen Einkreisung, welche die Kybernetik auf 1945 bis 1975 begrenzt, und dem Verständnis der Kybernetik als imaginärem Standpunkt, der in die Gegenwart sowie die Vergangenheit des 19. Jahrhunderts weist;12 zwischen dem Selbstverständnis als reiner oder angewandter Wissenschaft, letzteres unter frühen Kybernetikern hinsichtlich des Sozialen umstritten;13 zwischen der Politik der Kybernetik als „neue[r] Herrschaftstechnologie“ und „Politik des ‚Endes des Politischen‘“14, und der akzelerationistischen Sicht von der Selbstrevolutionierung der Kybernetik hin zu einer Zukunft bar jeder sozialer Normierung.15 Scheint bisweilen die Pluralität der Kybernetik ihr einziges Bestimmungs­ kriterium zu sein, so lässt sich dennoch in Wieners Gründungsgeste, mit dem Begriff der Kybernetik die Etymologie von „kybernetes“ und damit die Technik des Steuermanns auf hoher See aufzurufen,16 eine Prägung dahingehend erkennen, dass die Kybernetik, um im Bild der Schifffahrt zu bleiben, zwar das Meer und mit ihm das Werden assoziiert, in dessen Mitte jedoch ein Moment der Lenkung einrichtet, als immanente, idealerweise selbstgenerierte Kontrolle der ­Bewegungen zwischen Schiff und Meer. Im Übrigen wurde das griechische ­“kybernetes“ im Lateinischen zu „gubernator“, im Englischen schließlich zu „governor”. So gestaltet sich die Kybernetik als die Lehre der abstrahierten Einheit vom ­System, das notwendig im Werden seiner Umwelt verortet ist, nur um in der ­Kommunikation mit dieser Umwelt die Kontrolle über seine Eigenexistenz zu

11 | Zu Kybernetik und Scientology vgl. ebd., Kapitel 5, S. 156–194. 12 | Vgl. Hagner und Hörl, „Überlegungen zur kybernetischen Transformation des ­H umanen“, S. 7f.; vgl. Joseph Vogl, „Regierung und Regelkreis“, in: Claus Pias (Hg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 2, Berlin/Zürich 2004, S. 67–79; Seb Franklin, Control. Digitality as Cultural Logic, Cambridge 2015, Teil I. 13 | Ebd., Teil I, Kapitel 2. 14 | Tiqqun, Kybernetik und Revolte, S. 12, S. 20 [Hervorh. original]. 15 | Vgl. Sadie Plant und Nick Land, „Cyberpositive,“ in: Armen Avanessian und ­Robin Macky (Hg.), #Accelerate. The Accelerationist Reader, Berlin/Falmouth 2014, S. 303–313; Nick Srnicek und Alex Williams, Inventing the Future. Postcapitalism and a World Without Work, London/New York 2016. 16 | Vgl. Norbert Wiener, Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge 2 2013 [1948], S. 11f.

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s­ ichern. Die in der Kybernetik zentrale Zirkularität der Kommunikation zwischen System und Umwelt birgt allerdings eine paradoxe Definition des Systems, wie Dirk Baecker in der „mathematischen Fundamentalgleichung der Kybernetik [...] S ≠ S, wenn S = S (S,U)“17 anzeigt, die nicht nur besagt, dass der Kontakt des ­Systems mit der Umwelt auf das System zurückwirkt, sondern dass das System zugleich sich selbst in Differenz zur Umwelt wie auch die Funktion des Austauschs zwischen System und Umwelt bezeichnet.

Pasks Proposals: die Wiedergeburt des Theaters aus dem Ungeist der Maschine Pasks Approach to Cybernetics bestimmt die neue Wissenschaft als das interdisziplinäre Studium „how systems regulate themselves, reproduce themselves, evolve and learn“,18 wobei das Lernen bzw. die Didaktik im Zentrum von Pasks ­k ybernetischem Interesse stand,19 welches sich ausgerechnet im Theaterkontext ausbildete:20 1953 entwarf Pask den Musicolor, einen Apparat für die Bühne, der das Klavierspiel eines Pianisten nach technischen Parametern wie der Ton­ frequenz erfasste, um es in Lichtsignale zu übersetzen. Pask beschäftigte ­weniger die S ­ ynästhesie des Musicolor als die kommunikativen Lerneffekte zwischen Klavierspieler und Automat, nämlich dass die Maschine Varianz im Spiel ihres menschlichen Gegenübers provozieren konnte, indem sie auf gleichbleibenden ­Input mit Streik oder unvorhersehbaren Lichteffekten reagierte. Anders als der Musicolor oder das Colloquy of Mobiles21 von 1968 wurden die 1964 aus der Zusammenarbeit mit Theaterregisseurin Joan Littlewood hervorgegangen Proposals for a Cybernetic Theatre nicht umgesetzt, doch ihre Anleitung zur kybernetischen Revolutionierung der Gesamtanlage des Theaters machen sie zu einem bevorzugten Analysegegenstand. „The crux of a Cybernetic Theatre is that its audience should genuinely participate in a play“,22 postuliert Pask, dazu präzisierend, dass das Theater aufgrund ebendieses Partizipationsproblems für

17 | Dirk Baecker, „Rechnen lernen“, in: Pias (Hg.), Cybernetics – Kybernetik. The ­M acy-Conferences 1946–1953, Bd. 2, S. 277–298, hier S. 280. 18 | Gordon Pask, An Approach to Cybernetics, London 1961, S. 11. 19 | Vgl. ders., The Cybernetics of Human Learning and Performance, London 1975. 20 | Vgl. Margit Rosen, „The control of control. Gordon Pasks kybernetische Ästhetik“, in: Ranulph Glanville und Albert Müller (Hg.), Pask Present, Wien 2008, S. 130–191, hier S. 76, S. 88; Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, S. 116. 21 | Zu „Musicolor“ und „Colloquy of Mobiles“ vgl. auch Gordon Pask, „A Comment, a Case History and a Plan“, in: Jasia Reichardt (Hg.), Cybernetics, Art, and Ideas, Greenwich 1971, S. 76–99. 22 | Pask, „Proposals for a Cybernetic Theatre“, 1964, S. 1.

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die Kybernetik prädestiniert sei, und dass eine Aufführung „is only successful if a measure of participation is achieved.“23 Pasks Zugriff auf das Theater in ­Hinblick auf die Zuschauerbeteiligung bestätigt Wieners, Bigelows und Rosenblueths ­erste Formulierung der modernen Kybernetik als behavioristische Wissenschaft von zielgerichtetem Verhalten.24 Da die Kybernetik Aussagen über die Verfasstheit von Systemen nur aufgrund der Beobachtung zielbedingter Vorgänge trifft, ist das Theater für Pask ein System, dessen Gewinn sich alleine am nachvollziehbaren Verhalten der Zuschauer*innen messen lässt. Der kybernetische Zuschauer hat so gesehen kein Innenleben, er ist, mit Tiqqun gesprochen, „fleischlose ­Hülle“,25 reine Äußerlichkeit des Beobachtbaren – und dennoch erfüllt sich sein Tun für Pask nur in der innerlichen Identifikation mit den Charakteren. Pasks letztlich bürgerliches Theaterverständnis will es, dass die Teilnahme noch im Rahmen von Handlung, Figuren, Einfühlung und Repräsentation gedacht wird, was zu einem innerlich mitfühlenden Zuschauer führt, der sich jedoch mitteilen, sein Innen nach Außen stülpen muss, damit das Theater als zielführend überprüft werden kann. Aus der Diagnose unzureichender Veräußerungsmittel im ­existierenden ­Theater schließt Pask die Notwendigkeit zur technischen Aufrüstung: im ­k ybernetischen Theater sollen die Zuschauer*innen erstens via Kopfhörer und S ­ ignalleitung mit einem Sprecher verbunden werden, der ihnen Details über die Charaktere ­souffliert; zweitens sollen sie anhand einer Bedieneinheit ihre ­Präferenzen zu ­gegebenen Optionen A oder B des Handlungsverlaufs mitteilen können, ­genauer gesagt über das Verhalten A oder B der Figuren, mit denen sie sich ­identifizieren.26 Das Publikum würde damit im Sinn der Handlungsbeeinflussung a­ ktiv, was die Steigerung von Identifikation und ästhetischer Lust erlernbar machen s­ollte; doch die zentrale Konsequenz für den Begriff des Theaters besteht darin, dass die theatrale Wahrnehmungsarchitektur der Repräsentation unter die Bedingung der Information gestellt wird. Denn jedes Zeigen, jeder signifikante Aussage­ gehalt, jedes Detail zu den Figuren und jede Zuschauerreaktion soll sich nur noch inner­halb der Rahmung von Signalwegen, Schaltkreisen und deren a­ signifikanter Semiotik einstellen. Information in ihrem kommunikations­ theoretischen und ­k ybernetischen Sinn bezeichnet nicht nur den mathematisch-digitalen Binärcode von A oder B, 0 oder 1, den schon Wiener als besonders geeignet, weil gegenüber analogen Zeichenregimen weniger ambiguitäts- und störungsanfällig beschrieb. Sie verweist zugleich, wie jüngst Franco Berardi oder Dieter Mersch betonten, auf die Substitution von Bedeutung durch Rechengrößen, von Kausalität, ­Synthese

23 | Ebd., S. 4. 24 | Vgl. Norbert Wiener, Arturo Rosenblueth und Julian Bigelow, „Behavior, Purpose and Teleology“, Philosophy of Science 10/1, 1943, S. 18–24. 25 | Tiqqun, Kybernetik und Revolte, S. 32 [Hervorh. original]. 26 | Vgl. Pask, „Proposals for a Cybernetic Theatre“, 1964, S. 5–10.

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und Selbst-Reflexivität durch Korrelation, Addition und Rekursivität, kurzum auf die Einrichtung einer universellen Logik des Sicht- und Sagbaren, unter der semantische, narrative, repräsentative Inhalte bloßes Rauschen darstellen, so sie nicht als Information aufbereitet sind.27 Im kybernetischem Theater ist ­Repräsentation nicht passé, aber sekundär gegenüber dem Primat der I­ nformation. Wichtig ist dabei, dass die Kybernetik Information nicht bloß in technischen ­Leitungen, sondern im Organismus selbst verortet, Information also ins Innere der Materie verlegt und damit als auch im Menschen natürlich angesiedelt behauptet.28 Die derart verstandene, organisch gegebene und technisch kanalisierte ­Information liefert die Basis für die Konzeption des kybernetischen Theaters als allumfassender Kontrollmatrix: In the first place, actors, playing the parts of given characters, aim to control their ­audience. Next, any member of the audience aims to control the character with whom he is at the moment identified […]. Finally, the actions of the characters either purport to or […] actually do control the sequence of dramatic situations.29

Genau genommen ist diese Passage noch Teil von Pasks kybernetischer ­Diagnostik der Aufführung als solcher, nicht seiner Präskription des Modell-Theaters ­inklusive Kopfhörer und Abstimmgeräte, und dennoch pointiert sie wie keine andere die kybernetische Vorstellung vom erneuerten Theater als einer exzessiven, mehrfach gefalteten Kontrollanordnung, in der sich das informativ gestützte Zusammenspiel aller Beteiligten selbstregulativ vervollkommnet. Den Begriff der Kontrolle hat Pask in einem verwandten Text als Problemlösung und damit als Lern­vorgang gefasst,30 zugleich jedoch wirkt in den Proposals und besonders in den zitierten Zeilen der Wiener’sche Kontrollbegriff, der negatives Feedback als teleologische Anpassung des Verhaltens zur Korrektur seiner Auswirkungen meint, wie auch antizipative Verhaltensadaption.31 Die von Pask beschriebene Kontrolle ­z wischen Zuschauer*innen, Schauspieler*innen und fiktiven Figuren kommt daher einem Kreis aus Rückkopplungen gleich, der sich immerzu ­normativ in Richtung Erhaltung und Steigerung seiner selbst korrigiert und in dem sich ästhetische

27 | Vgl. Franco Berardi, Futurability. The Age of Impotence and the Horizon of ­P ossibility, London/New York 2017, S. 107–111; Ders., After the Future, Edinburgh 2011, S. 38–41; Dieter Mersch, Ordo ab chao – Order from Noise, Berlin/Zürich 2013. 28 | Vgl. Peter Janich, Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt a. M. 2006. 29 | Pask, „Proposals for a Cybernetic Theatre“, 1964, S. 5. 30 | Pask, „A Comment, a Case History and a Plan“, 1971, S. 76. 31 | Vgl. etwa Norbert Wiener, The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, New York 1988 [1950], S. 24–25; auch formuliert in: Wiener, Rosenblueth u. Bigelow, „Behavior, Purpose and Teleology“, 1943, S. 19.

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Lust nicht, wie Andrew Pickerings Analyse von Pasks Theaterdenken nahelegt,­ aus der A ­ ffirmation des unvorhersehbaren Werdens speist,32 sondern aus der Erfahrung des restriktiven Verschaltet-Seins. Tatsächlich betrifft die Lust in letzter Konsequenz weniger den Zuschauenden oder das Subjekt, sondern das ­System als solches, das sich an seinem eigenen Funktionieren erfreut. Das kybernetische Theater ist, mit Pasks Bezeichnung einer Musicolor-Aufführung gesprochen, die Lust der „control performance“33 an sich selbst, ein Prozess, an dem ­Zuschauer*innen wie Schauspieler*innen, wiederum mit Deleuze gesagt, nur als Dividuen teilhaben, als jene diskretierten Teile des Selbst, die für das Aufrechterhalten der Kontroll-Aufführung notwendig sind.34

Nicht-repräsentative, nicht-informatische Differenz Dass Pasks Vorschläge für ein kybernetisches Theater keinen unerheblichen ­Sonderfall darstellen, sondern mit bedeutenden Strängen der Theorie von Theater und Theatralität korrespondieren, lässt sich zum Schluss am Beispiel von Roland Barthes’ Philosophie veranschaulichen. In einer wenig bekannten Einlassung zur Theatralität von 1963, verfasst Jahre nach dem einflussreichen Essay zum ­„Theater Baudelaires“,35 notiert Barthes: Qu’est-ce que le théâtre ? Une espèce de machine cybernétique. […]; en tel point du spectacle, vous recevez en même temps six ou sept informations (venues du décor, du costume, de l‘éclairage, de la place des acteurs, de leurs gestes, de leur mimique, de leur parole) […]; on a donc affaire à une véritable polyphonie informationnelle, et c‘est cela la théâtralité: une épaisseur de signes.36

Wo Pask die Information noch in den Dienst der Repräsentation stellt und die ­beiden Semiotiken damit zwar als zusammenwirkend, aber doch getrennt ­vorstellt, da vereint Barthes asignifikante und signifikante Semiotik ­unterschiedslos – eine Naturalisierung der Information, welche die Kybernetik nicht besser hätte

32 | Vgl. Andrew Pickering, „Ontologisches Theater. Gordon Pask, Kybernetik und die Künste“, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig (Hg.), Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin/Boston 2008, S. 454–476. 33 | Vgl. Rosen, „The control of control“, Abb. 5. 34 | Vgl. Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, 1993, S. 258. 35 | Vgl. Roland Barthes, „Das Theater Baudelaires“, in: Ders., „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“, Berlin 2001, S. 265–274. 36 | Roland Barthes, „Littérature et signification“, in: Ders., Essais critiques, Paris 1964, S. 258–276, hier S. 258 [Hervorh. original].

„Control Performance“

­erträumen können. Zehn Jahre später wird Barthes die Differenz von ­signifikanten und asignifikanten Zeichenregimen allerdings markieren, indem er das Enden des Theaters von Repräsentation und Bild mit dem Aufkommen eines mathematischen und musikalischen Theaters kontrastiert.37 Barthes’ späte Gegenüber­ stellung ermöglicht besonders einen abschließenden Blick auf das Außen des Theaters unter den Bedingungen von Repräsentation oder Information, hebt er doch als das unrepräsentierbare Andere des Repräsentations-Theaters das Gesetz in seiner ­transzendenten Idealität, aber auch die radikale Negativität des Todes hervor;38 dem gegenüber kennt das Informations-Theater kein Unrepräsentier­ bares, ­sondern nur ein Unverrechenbares, das heißt das Produkt der irreversiblen Auflösung jeglicher Information und Ordnung durch das Wirken der Entropie, deren Gesetz die Kybernetik aus der Thermodynamik entlehnt hat. Wenn Repräsentation und Information bei Pask sowie in aktuellen Auf­ führungen vermischt auftreten, wenn das Andere des Theaters ein Monster in der Unform des entropischen Todes oder des informatischen Gottes gebiert, ist die Möglichkeit von Veränderung vielleicht noch in jenem Dritten zu vermuten, das Félix Guattari in seiner Nietzscheanischen Reinterpretation der k­ ybernetischen Autopoiesis bereithält, nämlich im Konzept der Chaosmose, die anders als k ybernetische Chaos der Entropie nicht Entdifferenzierung sondern das ­ ­Re-Differenzierung bezeichnet. Wo die Kybernetik Chaos nur als Abwesenheit von Differenz denken kann, weil es Differenz ihr zufolge nur gibt, wo Information ist, und Chaos der Abwesenheit von Information entspricht, da schlägt ­Guattari Chaosmose als Differenzproduktion vor, deren Differenz weder informatischer repräsentativer, sondern materieller und virtueller Art ist.39 Der Name noch ­ eines ­solchen Theaters ist bekannt: es ist das Theater der Grausamkeit des späten ­A ntonin Artaud.

37  |  Vgl. Roland Barthes, „Diderot, Brecht, Eisenstein“, in: Ders., Der ­e ntgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 94–102. 38 | Ebd., S. 101. 39 | Vgl. Félix Guattari, Chaosmose, Wien 2014, S. 103–105.

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Tanz und Technoromantik Überlegungen zu ,Robot Choreography‘ Marcel Behn Dieser Beitrag beschäftigt sich mit ,Robot Choreography‘1, einem Spezialgebiet der Robotik, das sich der Entwicklung (nicht-)humanoider Roboter für den Einsatz in Theateraufführungen widmet. Inwiefern der diesbezügliche Forschungsdiskurs technoromantische Züge aufweist, auf welche tanzgeschichtlichen Diskurse er dabei wiederum implizit zurückgreift und welche epistemischen Herausforderungen sowie kritischen Problemstellungen sich hieraus ergeben, wird in diesem Beitrag aus theoretischer Perspektive umrissen.

,Robot Choroegraphy‘ Mitte der 1980er Jahre befasst sich die Tanzwissenschaftlerin und TelerobotikExpertin Margo K. Apostolos in einer Studie mit der Frage nach der Nutzerakzeptanz von Industrierobotern im Bereich der ambulanten Rehabilitation von Tetraplegie-Patient*innen.2 Darin geht sie von der Beobachtung aus, dass Roboter, die in der Rehabilitationsmedizin zur Unterstützung von Patient*innen eingesetzt werden, oftmals von diesen aus ästhetischen Gründen abgelehnt werden. Um diesem Hemmnis zu begegnen, hypothetisiert Apostolos, dass Roboter, deren Bewe-

1 | Dieser Begriff geht auf Margo K. Apostolos zurück, die ihn erstmals 1986 anführt. Vgl. Margo K. Apostolos, „Robot Choreography. An Aesthetic Application in User Acceptance of a Robotic Arm“, in: Proceedings. Institute of Electrical and Electronics Engineers [IEEE] International Conference on Robotics and Automation, Bd. 3, San Francisco 1986, S. 753–756. 2 | Erstmals veröffentlicht wurde diese Studie 1984 unter dem Titel Exploring User Acceptance of a Robotic Arm. A Multidisciplinary Case Study, Univ.-Diss., Stanford University. Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Aufsatz von 1986 (s. Anm. 1), in welchem Apostolos eine Fokusverschiebung von der Rehabilitationsrobotik hin zu jener künstlerischen Anwendung robotischer Systeme vornimmt, die in diesem Beitrag von Interesse ist.

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gungsabläufe mit Musik synchronisiert und die in ihrem Bewegungsduktus ‚choreographiert‘ erscheinen, möglicherweise eher akzeptiert würden. Zwar gelingt es ihr nicht, den Mehrwert solcherart ‚choreographierter‘ Industrieroboter in der Rehabilitationsmedizin eindeutig zu belegen.3 Jedoch, so lautet ihre weiterführende These, könnten diese Roboter jenseits ihrer klinischen Funktionalisierung auch als künstlerische Ausdrucksmittel in eigenem Recht angesehen werden. Dieser These geht Apostolos in einer Reihe von Folgeaufsätzen nach, in welchen sie u.a. eine von ihr entwickelte Methode zur Programmierung ,anmutiger‘ bzw. ,ästhetisch ansprechender‘ Roboterbewegungen vorstellt.4 Das ihren Aufsätzen zugrunde liegende Schönheitsverständnis folgt jedoch einer klar binären Logik: Da die kantigen, stakkatohaften Bewegungen von Robotern, die in der industriellen Produktion eingesetzt werden, gemeinhin nicht als ästhetisch ansprechend wahrgenommen werden,5 müssten sie, so der Umkehrschluss, eine diametral entgegengesetzte Bewegungsführung aufweisen, um als wohltemperiert oder eben ,ästhetisch‘ empfunden werden zu können: So etwa [...] a sustained effort in the actions, smoother transitions from point to point, curved lines replacing many of the straight and sharp angular motions, and a varied sequence in the timing of movement phrases.6

Als modellhaft für diese von Industrierobotern zu approximierende Bewegungsqualität weist Apostolos dabei explizit jene des klassischen Balletts aus.7 Diese Verquickung von Anmut und Tanz ist nur ein Beispiel für eine Reihe essenzialistischer oder reduktionistischer Annahmen nicht nur hinsichtlich der normativen Vorstellungen dessen, wie Tanz auszusehen habe, sondern auch betreffend der affektiven Funktionen, die er als darstellende Kunst zu erfüllen habe, wie sie den naturwissenschaftlichen Diskurs zu ,Robot Choreography‘ durchziehen. Julián Angel Fernandez und Andrea Bonarini zum Beispiel betrachten in ihrem Aufsatz Towards an Autonomous Theatrical Robot ‚realistische‘ Darstellung als grundsätzliche Bedingung für das Gelingen von Theateraufführungen:

3 | Vgl. Apostolos, Robot Choreography, 1986, S. 756. 4 | Vgl. Margo K. Apostolos, „A Comparison of Artistic Aspects of Various Industrial Robots“, in: Proceedings. 1st International Conference on Industrial and Engineering Applications of Artificial Intelligence and Expert Systems [IEA/AIE], Bd. 1, Tullahoma 1988, S. 548–552, hier S. 548. 5 | Vgl. Margo K. Apostolos, „Robot Choreography. Moving in a New Direction“, in: Leonardo 23/1, 1990, S. 25–29, hier S. 26. 6 | Ebd. 7 | Vgl. ebd., S. 27.

Tanz und Technoromantik Theatre [...] demand[s] that actors show credible human-human interactions. This means that actors have [...] to make their movements as natural as possible, and coherent with the played situation. When actors do not play like this, people lose interest in their performance, because they think that actors are not showing correctly emotions or intentions.8

Chyi-Yeu Lin und ihre Ko-Autor*innen wiederum gehen in ihrem Aufsatz ­Versatile Humanoid Robots for Theatrical Performances von der Annahme aus, humanmimetisch ‚agierende‘ Roboter machten ihren Zuschauenden Identifikations- und Empathieangebote: „The more robot performers resemble human beings, the easier it becomes for the emotions of audiences to be bonded with robotic performances.“9 Diese Annahme führen Lin und ihre Ko-Autor*innen an anderer Stelle weiter aus, indem sie konstatieren: „[...] when a human watches humanoid robots with appearance like himself/herself performing mankind skills, his/her mind would be filled with special passion and satisfaction.“10

8 | Andrea Bonarini und Julián M. Angel Fernandez, „Towards an Autonomous Theatrical Robot“, in: 2013 Humaine Association Conference on Affective Computing and Intelligent Interaction, hg. von IEEE, Genf 2013, S. 689–694, hier S. 689, unter: http://ieeexplore.ieee.org/stamp/stamp.jsp?tp=&arnumber=6681511&isnumber=66813 89 [24.04.2019] 9 | Chyi-Yeu Lin, Li-Chieh Cheng, Chun-Chia Huang u.a., „Versatile Humanoid Robots for Theatrical Performances“, in: International Journal of Advanced Robotic Systems, Bd. 10, 2012, S. 1. Auch die Theaterwissenschaft geht vereinzelt von dieser klar aristotelisch geprägten rezeptionsästhetischen Annahme aus, vermutet dabei aber (anders als Lin und ihre Ko-Autor*innen), szenisch funktionalisierte Roboter würden dieses anthropologische Bedürfnis nach Empathie eher durchkreuzen als bedienen. So schreibt etwa Simon Hagemann: „Theaterzuschauer werden zukünftig immer länger brauchen, um zwischen menschlichen und androiden Schauspielern zu unterscheiden. Dies kann das Verständnis des Publikums einer Theateraufführung wesentlich verändern. So kann Empathie, welche Zuschauer für eine Theaterfigur empfinden und welche ein zentrales Gefühl für das Verständnis von Bühnengeschehen darstellt, auf die Probe gestellt werden.“ Gerko Egert, Stefan Apostolou-Hölscher, Maximilian Haas, Mariama Diagne, Simon Hagemann und Daniela Hahn, „Bühnen des Nicht-Menschlichen“, in: Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 193–216, hier S. 209. 10 | Chyi-Yeu Lin, Chang-Kuo Tseng, Wei-Chung Teng u.a., „The Realization of Robot Theatre. Humanoid Robots and Theatric Performance“, in: 2009 International Conference on Advanced Robotics, S. 1–6.

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Jimmy Or wiederum führt in seinem Aufsatz Towards the Development of ­Emotional Dancing Humanoid Robots die historische Entwicklung ebensolcher Roboter auf ein anthropologisches Bedürfnis nach Tanz als Kommunikationsmittel zurück und zitiert diesbezüglich die Tanzwissenschaftlerin Judith Lynne Hanna, die emphatisch meint: TO DANCE IS HUMAN, and humanity almost universally expresses itself in dance. [...] When dance is suppressed for moral, religious, or political reasons, it rises phoenixlike to assert the essence of humanity.11

,Technoromanticism‘ Die Forschung zu ,Robot Choreography‘ lässt sich aufgrund dieser vorherrschenden Annahmen als eine diskursive Konfiguration dessen begreifen, was Richard Coyne als ,technoromanticism‘ bezeichnet. Mit diesem Begriff weist er in seiner Monographie Technoromanticism. Digital Narrative, Holism, and the Romance of the Real auf eine Dialektik hin, die vielen zeitgenössischen Erzählungen zu künstlicher Intelligenz eingeschrieben ist. Einerseits, so Coyne, wird in diesen Erzählungen ein unverhohlen utopischer, an digitale Technologien geknüpfter Fortschrittsglaube vertreten.12 Andererseits aber erweisen sich diese Erzählungen als noch immer dem Projekt der Romantik verpflichtet, indem sie gerade jene Fragmentierungs- und Dissoziationserfahrungen des Subjekts zu überwinden beanspruchen, die selbiger Fortschrittsglaube mit sich bringt.13 Die Dialektik der Technoromantik besteht also darin, dass sie, je mehr sie dem postmodernen Subjekt (s)eine vermeintliche vormoderne Ganzheitlichkeitserfahrung mittels digitaler Technologien zu restituieren versucht, umso entschiedener zu dessen Desintegration beiträgt. Diese Dialektik vor Augen haltend, stelle ich die Hypothese auf, dass der naturwissenschaftliche Forschungsdiskurs zu ,Robot Choreography‘ gerade deshalb als technoromantisch aufzufassen ist, weil er, auf sentimentalische Vorstellungen hinsichtlich des Identifikationspotenzials von Theater und Tanz rekurrierend, Aufführungen mit Robotern unterstellt, Zuschauenden eine durch die Hochtechnologie der Robotik vermittelte Holismuserfahrung zuteilwerden lassen zu können.

11 | Lynne Hanna, zitiert nach Jimmy Or, „Towards the Development of Emotional Dancing Humanoid Robots“, in: International Journal of Social Robotics 1/4, 2009, S. 367– 382, hier S. 369. 12 | Vgl. Richard Coyne, Technoromanticism. Digital Narrative, Holism, and the Romance of the Real, Cambridge/MA, 2001, S. 19–21. 13 | Vgl. ebd., S. 2–7.

Tanz und Technoromantik

Einzuräumen ist natürlich fairerweise, dass Verquickungen von Anmut und Tanz, Behauptungen der transkulturellen Universalität und kommunikativen Unmittelbarkeit von Tanz, oder auch normative Annahmen hinsichtlich der ‚richtigen‘ dramaturgischen Verfasstheit und affektiven Funktion von Theater bzw. Tanz, wie sie den Diskurs zu ,Robot Choreography‘ durchziehen, stets in gutem Glauben gemacht werden. Für die jeweiligen Wissenschaftler*innen, die zu den designund anwendungsorientierten, ingenieurtechnischen sowie informationstechnologischen Aspekten von Robotern forschen, ist eine nämlich Reflexion der historischen Kontingenz und der Implikationen solch geläufiger Annahmen weitgehend irrelevant. Jedoch basieren diese Annahmen – mit welchen, gerade weil ihnen Evidenz unterstellt wird, ein Wahrheitsanspruch erhoben wird – selbst wiederum auf bestimmten Diskursen, von denen sie ihre jeweilige Legitimation ableiten. Ich möchte deshalb im Folgenden versuchen, 1.) die der ,Robot Choreography‘-Forschung zugrunde liegenden Tendenz zur Technoromantik diskursgeschichtlich zu kontextualisieren, 2.) die nach wie vor zentrale epistemische Bedeutung von Tanz für technoromantische Erzählungen aufzuzeigen und 3.) auf ein mögliches Problem hinzuweisen, welches ,Robot Choreography‘ als theatrales Phänomen mit sich zu bringen droht.

,Robot Choreography‘ als diskursive Konfiguration von ,Technoromanticism‘ Die techno-romantische Tendenz, die ,Robot Choreography‘ zu eigen ist, speist sich aus zwei historisch wirkungsmächtigen Tanzdiskursen: jenem der ,doppelten Bewegung‘ und jenem der ,Dancing Machines‘. In ihrer Monographie Beredte Körper, bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten zeigt die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner auf, wie ab Mitte des 18. Jahrhunderts die Vorstellung von Tanz als bewegt-bewegende Kunstform diskursiv konstruiert wurde und bis heute fortwirkt. In ihren theoretischen und kritischen Schriften hätten Ballettreformer und Journalisten, so Thurner, weniger das Bühnengeschehen ihrer Zeit als Faktum beschrieben, als vielmehr eine spezifische Rezeptionsästhetik von Tanz als körperlich bewegte und emotional bewegende Kunstform erschrieben.14 Diese sich in einem historisch diskontinuierlichen Prozess nur langsam sedimentierende Vorstellung von Tanz als rührende Bewegungskunst informiert dabei die bis heute geläufigen Annahmen hinsichtlich der darstellerischen Authentizität, universalen Intelligibilität und metakinetischen Unmittelbarkeit ‚des‘ Tanzes. Das Problem einer solcherart naturalisierten Tanzkunst besteht jedoch darin, dass sie von jeder weiteren intellektuellen Theoreti-

14 | Vgl. Christina Thurner Beredte Körper, bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, S. 22.

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sierung ausgeschlossen wird.15 Dass der ,Robot Choreography‘-Diskurs auf eine ebensolche pathetische Vorstellung von Tanz zurückgreift, ist dabei anhand der bereits zitierten Forschungsarbeiten ersichtlich. Als zweiten Diskurs, der die techno-romantische Tendenz von ,Robot Choreography‘ unterfüttert, ist jener der ,Dancing Machines‘ zu nennen. In ihrer gleichnamigen Monographie Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction untersucht die Tanzwissenschaftlerin Felicia McCarren das Verhältnis zwischen den Tanz- und Maschinenkulturen des 20. Jahrhunderts. Was die mechanischen Ballette des Avantgardekinos, die automatenhaften Bewegungsabläufe Tayloristischer Fabrikarbeit und die militärische Präzision der Chorus Lines des Revues dabei trotz ihrer offensichtlichen Differenz gemeinsam haben,16 ist, so McCarren, ihre jeweils internalisierte „modernist economy of gesture“.17 Forschende von ,Robot Choreography‘ schreiben diesen Diskurs dabei offensichtlich fort, indem sie die von ihnen imaginierten und programmierten Roboter – nachgerade Verkörperungen dieser „modernist economy of gesture“ – zum ,Tanzen‘ bringen und damit buchstäblich als ,Dancing Machines‘ inszenieren. ,Robot Choreography‘, so das Zwischenfazit der bisher angestellten Überlegungen, inszeniert Roboter entlang des historisch spezifischen Tanzverständnisses der ‚doppelten Bewegung‘, damit diese als wortwörtliche ,Dancing Machines‘ die dem Theater zugeschriebenen affektiven Funktionen der Identifikations- und Empathieerzeugung erfüllen. Auf die potenziellen Probleme, die ein solches Tanzbzw. Theaterverständnis mit sich bringen könnte, wird gleich noch zu sprechen sein. Zuvor sei jedoch auf die zentrale epistemische Bedeutung von Tanz für technoromantische Erzählungen über künstlerische Intelligenz hingewiesen, die, gerade weil solche Erzählungen auf einem scheinbar selbstevidenten Tanzverständnis basieren, allzu leicht übersehen wird.

Zur epistemischen Bedeutung von Tanz für technoromantische Erzählungen McCarren greift zu Beginn ihrer Arbeit ein geläufiges tanzhistoriographisches Narrativ auf, demzufolge die Tanzkunst maßgeblich an der Formierung eben jener Maschinenkultur beteiligt gewesen ist, die sie nach und nach von der Spitze der kulturellen Ordnung des frühen 20. Jahrhunderts verdrängen sollte.18 Bezugnehmend auf Simon Schaffers Aufsatz Babbage’s Dancer and the Impresarios of

15 | Vgl. ebd., S. 15. 16 | Vgl. Felicia McCarren, Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction, Stanford 2003, S. 4. 17 | Ebd., S. 10. 18 | Vgl. ebd., S. 4.

Tanz und Technoromantik

Mechanism fügt sie diesem Narrativ jedoch hinzu, dass die Tanzkunst trotz ihres vordergründigen historischen Bedeutungsverlusts eine zwar weniger sichtbare, aber dennoch zentrale epistemische Stellung innerhalb des zunehmend technophilen kulturellen Gefüges des 20. Jahrhunderts behaupten konnte, wie sie sie bereits im 19. Jahrhundert innehatte.19 Dass ‚dem‘ Tanz eine solche Stellung auch noch im 21. Jahrhundert zugesprochen werden kann, möchte ich im Folgenden skizzieren. McCarren zufolge beschreibt Schaffer in seinem Aufsatz, wie Charles Babbage – dessen mechanische Rechenmaschine als Vorläufer des modernen Computers gilt – einen etwa 20 cm hohen Automaten in Form einer silbernen Tänzerin gekauft und neben seine noch unfertige Differenzmaschine in seinem Londoner Wohnzimmer platziert habe.20 Für Schaffer ist diese räumliche Nähe zwischen dem Automaten und der Rechenmaschine dabei alles andere als zufällig. Denn, so schreibt er: „The intelligence attributed to machines hinges on the cultural invisibility of the human skills which accompany them.“21 Der Automat in Form einer Tänzerin steht, so fasst McCarren das Argument Schaffers zusammen, symbolisch für jene „concealed labour and mechanical determination in the shape of aesthetic seduction“,22 wie sie auch die mechanische Rechenmaschine auszeichnet. Und die wissenschaftsethische Moral, die Schaffer von dieser geschichtlichen Anekdote ableitet, lautet deshalb: If such machines look intelligent because we do not concentrate on where their work is done, then we need to think harder about the work which produces values and who performs it.23

Diese Moral auf ihren eigenen Gegenstand übertragend, demonstriert McCarren in ihrer Monographie, dass es gerade der Tanz in seinen verschiedenen mechanischen, thermodynamischen und kinematographischen Manifestationen gewesen ist, der maßgeblich an der Produktion der „machine logic and aesthetic“24 des 20. Jahrhunderts mitbeteiligt gewesen ist, dessen Beitrag hierzu aber weitestgehend übersehen wird. Dieser Erkenntnis McCarrens möchte ich nun an dieser Stelle die Beobachtung hinzufügen, dass es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor ‚der‘ Tanz – d.h. eine spezifisch technoromantische Vorstellung von Tanz – ist, an und in dem die ,Robot Choreography‘-Forschung ihre eigene Fortschrittlichkeit inszeniert. Die Herstellung ‚tanzender‘ Roboter beschränkt sich nämlich oft nur

19 | Vgl. ebd., S. 14. 20 | Vgl. ebd., S. 12. 21 | Schaffer 1996, zitiert nach McCarren, Dancing Machines, 2003, S. 14 (Herv. orig.). 22 | McCarren, Dancing Machines, 2003, S. 14. 23 | Schaffer 1996, zitiert nach McCarren, Dancing Machines, 2003, S. 14. 24 | McCarren, Dancing Machines, 2003, S. 14.

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vordergründig darauf, die szenische Einsatzfähigkeit von Robotern zu verbessern. Vielmehr verfolgt ,Robot Choreography‘ (als ein Schwerpunkt der Robotik) das globalere Ziel der Entwicklung und Verbesserung des Ausdruckspotenzials autonomer Systeme zwecks ihrer Implementierung in verschiedene Bereiche des Sozialen,25 und bedient sich hierfür des Theaterraums als experimentellem Testfeld. Dass nun die Robotik zur Umsetzung dieser Ziele die Konstruktion gerade tanzender Roboter anvisiert, ist dabei nicht zufällig. Insofern nämlich das Mapping menschlicher Bewegung (wie etwa das bipedale Gehen) auf robotische Systeme ein nach wie vor anspruchsvolles technisches Unterfangen ist,26 stellt ,der‘ Tanz, diese allermenschlichste und doch zugleich kinetisch hochkomplexe Ausdrucksweise, den Prüfstein der Leistungsfähigkeit von Robotern dar. In anderen Worten: Tanz erweist sich als Demonstrationspraxis, an und in der die ,Robot Choreography‘-Forschungsgemeinschaft ihre eigene technologische Innovativität ostentativ zur Schau stellt. Und es ist in genau dieser Funktion, in der dem Tanz eine nach wie vor hohe epistemische Bedeutung zukommt.

,Robot Choreography‘ als Theaterphänomen Schaffers Aufforderung, über die Unsichtbarkeit der Produzent*innen kultureller Werte nachzudenken, ist durchaus berechtigt. Was dabei jedoch nicht aus dem Blick geraten darf, sind die kulturellen Werte selbst, die in technoromantischen Diskursen und Phänomenen sichtbar reproduziert werden. Zweifelsohne ist die Herstellung und Programmierung ‚tanzender‘ Roboter eine anerkennenswerte technische Leistung von Forschenden, die hinter ihren spektakulären Gegenständen zu verschwinden drohen. Ein mögliches Problem aber, dass ,Robot Choreography‘ als Theaterphänomen mit sich zu bringen droht, hängt jedoch genau mit jener engen Vorstellung von Tanz als bewegt-bewegende Kunstform zusammen, auf welche die Forschenden rekurrieren. Dieses Problem betrifft den kulturellen Wert der Bewegung, der ihrem Tanzverständnis stets latent zugrunde liegt. Mit den politischen Implikationen von Bewegung als kultureller Wertvorstellung und vermeintlicher Ontologie des Tanzes setzt sich der Tanzwissenschaftler André Lepecki in seiner Essaysammlung Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung eingehend auseinander. Aus historischer Perspektive, so

25 | Vgl. Bonarini und Angel Fernandez, „Towards an Autonomous Theatrical Robot“, 2013, S. 689. 26 | Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass einige Forscher*innen ein von Schauspieltheorien ausgehendes Innovationspotenzial zur Gestaltung robotischer Systeme erkennen. Vgl. hierzu Mick Wallis, Sita Popat, Joslin McKinney u.a., „Embodied Conversations. Performance and the Design of a Robotic Dancing Partner“, in: Design Studies 31/2, 2010, S. 99–107.

Tanz und Technoromantik

Lepecki, habe sich der Tanz erst nach und nach „mit dem Ideal ständiger Motilität verbunden“.27 Warum also, fragt er, ist man trotz der ganz offensichtlichen Kontiguität dieser Vorstellung von Tanz „so besessen von der Darstellung bewegter Körper und fordert so nachdrücklich, dass Tanz permanente Mobilität sein solle?“28 Die komplexe Antwort, die Lepecki unter Bezugnahme auf Louis Althusser und Peter Sloterdijk hierauf formuliert, lautet dabei im Wesentlichen wie folgt: Einerseits lässt sich eine historische Konvergenz der Entwicklungen von Tanz und Moderne als jeweils einem „kinetischen Modus des In-der-Welt-Seins“29 zustrebend feststellen. Diese Konvergenz hat jedoch andererseits Folgen für die Interpellation des Subjekts: „Da [...] das ewige Symbol der Moderne die Bewegung ist, folgt, dass die Moderne ihre Subjekte anruft, um sie als emblematische Darstellung ihres Wesens zu konstituieren: Mobilität.“30 Nun ist jener Körper, der in und durch ,Robot Choreography‘ zu einem solchen kinetischen In-der-Welt-Sein diszipliniert wird, nicht (mehr) der eines menschlichen Subjekts, sondern der eines technischen Artefakts. Auf den ersten Blick scheint also ,Robot Choreography‘ die disziplinäre Macht der Moderne, die Lepecki mit so viel Argwohn betrachtet, glücklicherweise vom Subjekt auf das Artefakt zu lenken. Falls aber zutrifft, dass, wie Richard Coyne sagt, digitale Narrative uns etwas über unsere eigene derzeitige Ontologie verraten,31 dann stellt sich dennoch die Frage, ob Roboter, die zur Erfüllung, eines vermeintlichen, an Bewegung geknüpften Identifikations- und Empathiebedürfnisses programmiert werden, nicht ebenfalls die Disziplinierung des Subjekts gemäß der politischen Ontologie der Moderne leisten. ,Robot Choreography‘-Performances aufführungsanalytisch auf ebensolche Subjektivierungseffekte hin zu befragen – dies wäre ein Schritt hin zu einem besseren Verständnis der sozialen Implikationen von ,Robot Choreography‘ als diskursive Schnittstelle von Theater und Technik.

27 | André Lepecki, „Einführung. Die politische Ontologie der Bewegung“, in: Ders., ­O ption Tanz. Performance und die Politik der Bewegung, Berlin 2008, S. 8–34, hier S. 11. 28 | Ebd., S. 10. 29 | Ebd., S. 16. 30 | Ebd., S. 19. 31 | Vgl. Coyne, Technoromanticism, 2001, S. 15.

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Within the Margins Szenen des Technischen Leon Gabriel, Zohar Frank, Bernhard Siebert, Julia Schade, Swoosh Lieu

Dieser gemeinsame Beitrag ist das Ergebnis einer längeren Zusammenarbeit im Rahmen des zweisprachigen GTW-Nachwuchspanels zum Verhältnis von Technologien und Bühnen oder Szenen. Mit dem Begriff des Technischen im Untertitel wird etwas benannt, das weder auf spezifische Techniken oder Technologien reduziert werden kann, noch die Essenz einer Existenzweise bezeichnet. Vielmehr soll es dabei um eine Denkweise von Prozeduren oder Verfahren gehen sowie um einen den Einzelkapiteln gemeinsamen ‚dichten‘ Beschreibungsmodus.

Abb. 1, Swoosh Lieu, Performance Who Cares?! – eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden, Foto: David Rittershaus, 2016.

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L. Gabriel, Z. Frank, B. Siebert, J. Schade und Swoosh Lieu

Der Artikel wird illustriert durch Szenenfotos zweier Arbeiten des Kollektives Swoosh Lieu, dessen Mitbegründerinnen Katharina Pelosi und Rosa Wernecke ebenfalls Teil des GTW-Nachwuchspanels waren. In ihren Projekten nimmt diese Gruppe (Bühnen-)Techniken und (Theater-)Technologien aus szenischer Sicht neu in den Blick: Das Stück Who Cares?! – eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden (2016) beruht auf der Auseinandersetzung mit CareArbeit anhand der Repräsentation von Frauen im Theater. Die folgende Arbeit, Who Moves?! – eine performative Montage der Beweggründe (2017) bringt Medienbilder von Migration aus einer feministischen Perspektive als Installation in Bewegung. Swoosh Lieu verbinden so die Arbeit an der Technik im Theater mit technologisch-gesellschaftlichen Fragen in ihren wechselseitigen Abbildungsverhältnissen. Techniken und Technologien sind als Teil des theatralen Erscheinens hervorzuheben, und für deren spezifische Szenen gilt es Beschreibungsweisen zu entwickeln. Abb. 2, Swoosh Lieu, Performance Who Moves?! – eine performative Montage der Beweggründe, Foto: Hanke Wilsmann, 2017.

Zugleich sind Techniken und Technologien mit dem abzugleichen, was sie wiederum selbst an Randphänomenen hervorbringen. Denn technologische Fragen sind ihrerseits mit Bereichen oder Praktiken verknüpft, die uns umgeben, informieren, unsere Beziehungsweisen formen – auch und gerade dort, wo die Rede von ‚der‘ Technik als etwas an sich diese Verzahnung mit scheinbar ‚untechnischen‘ Aspekten zu vergessen droht. So lassen sich beispielsweise in den akademischen Diskursen zur sogenannten Technosphäre, zu technologischen Ökologien oder zur globalen technologischen Bedingung (die ihrerseits längst einen Widerhall in

Within the Margins

populärwissenschaftlichen Publikationen und Kulturproduktionen wie etwa TVSerien gefunden haben) drei oftmals eher übersehene Felder aufzeigen, zwischen welchen sich auch die hier vorgestellten Überlegungen bewegen: Da ist erstens das Feld Körper, also vor allem auch Körper derjenigen, die in die Technosphäre eingebunden sind, diese dabei sowohl erfahren und stützen als auch erzeugen und verändern. Zweitens geht es um Infrastrukturen der Extraktion, der (Re-)Distribution und der Zirkulation: Glasfaserkabel in der Hochsee, Daten-Hubs, Ölbohrungen, Sonnenkollektoren, Coltanminen und Fabriken in Schwellenländern bilden die Manifestationen dieser infrastrukturellen Inszenierungen auf industrieller Ebene. Drittens aber muss sich der Blick auch richten auf die Reste und damit auf das, was in der technologischen Produktion und Reproduktion einen ständigen Überschuss bildet, also nicht zuletzt gigantische Mengen an Müll. Diesen drei für das Nachdenken über Techniken und Technologien konstitutiven, aber oftmals ausgeschlossenen Bereichen widmen sich die Unterkapitel jeweils in unterschiedlicher Gewichtung. Wenn Swoosh Lieu also dezidiert die Frage nach dem Menschlichen im Technischen stellen (Who Cares? – Who Moves?), dann wird diese Frage auch rückbezüglich für das Technische selbst gestellt: What cares? Welche geschaffenen Strukturen können für Notwendiges Sorge tragen? What moves? Was bleibt in den zeitgenössischen techologischen Zusammenhängen kontingent und beweglich? Aufgezeigt werden in den folgenden Einzelbeiträgen Szenen dessen, was technologische Bedingungen zu denken aufgeben.

Bezugnahmen in technologischen Umwelten. Verweisungen und Endlichkeiten Leon Gabriel Was ist eine Bühne, die einer technologisch bedingten Umwelt Rechnung tragen könnte? Technologien formen unsere Lebenswelten – besonders im Zeichen der Verschiebung vom optischen zum algorithmischen Paradigma. So entscheidend diese Formung sein mag, so sehr ist Skepsis gegenüber Postulaten eines Überganges in verallgemeinerte Abstraktionen wie etwa demjenigen einer „allgemeinen Ökologie“1 der Technologien geboten. Nicht nur übersehen solche Markierungen

1 | Erich Hörl, „Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die allgemeine Ökologie“, in: Diedrich Diederichsen und Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. California and the Disapearance of the Outside, Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt, Berlin/New York 2013, S. 121–130.

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von Epochenschwellen die in der Einleitung erwähnten Ausschlüsse (Reste, Infrastrukturen, Körper), sondern geraten auch durch den allgemeinen und absoluten Anspruch oftmals in die Nähe einer behaupteten Überwindung von Endlichkeiten zugunsten eines Unendlichen. Stattdessen werde ich anhand der szenischen Installation Vanitas (2018)2 von Sebastian Blasius die Möglichkeit aufzeigen, einer ständigen Verknüpfung von Endlichkeiten eine Bühne zu geben.

Vanitas von Sebastian Blasius Dortmund, Favoriten Festival im September 2018: Ich betrete als einziger Besucher einen White Cube, in dem ich mich eine halbe Stunde aufhalten darf. Zuvor wurde mir ein kleiner Pulsmesser um den Arm gelegt und erläutert, ich möge mich drinnen an dem freien Platz an der gedeckten Tafel hinsetzen. Dort sitzen bereits 13 Performer*innen in unauffälliger, eher altmodischer Kleidung – und alle beobachten mich. Kaum habe ich Platz genommen, wird ein dumpfes Schlagen langsam lauter: Es ist mein Herzschlag, der über den Pulsmesser in den Raum übertragen wird (so wirkt es immerhin). Während mir die ältere Dame rechts neben mir einen Teller Suppe einschenkt, beginnt ein Zucken: In unterschiedlicher Weise bewegen die Performer*innen minimal Körperpartien im Rhythmus meines Herzschlags, so wie ein Zittern. Ist mein Teller eingeschenkt, so ziehen alle wortlos ihre Teller zu sich und beginnen teilweise zu essen. Das Gefühl sozialer Kontrolle ist durch die ständige Beobachtung fast unerträglich und meine Versuche, cool zu wirken, werden vom extrem schnellen dumpfen Schlagen Lügen gestraft, doch mit der Zeit habe ich den Eindruck, tatsächlich meinen Herzschlag ‚runterfahren‘ zu können. Der Mann mir gegenüber am Kopfende beginnt eine Art Handreichung für die konkrete Durchführung von Abschiebungen vorzulesen.3 Als er fertig ist, erheben sich zwei junge Männer, einer verlässt den Raum, der andere geht an eine Wand, entkleidet sich und fällt auf einmal wie ein Sack zu Boden, wo er mit dem Gesäß in meine Richtung wie ein Kadaver liegen bleibt. Nach und nach verlassen immer mehr Performer*innen den Raum, während ein damaszenisches Linsenrezept (‚Mujadara‘) und eine extrem brutale Passage aus Schillers „Der dreißigjährige Krieg“4 vorgelesen werden. Als Letzte gehen die ältere Dame und der Vorleser ab, ich bleibe allein mit dem regungslosen Körper am Boden zurück bis die Übertragung meines Herzschlags verstummt – mein Signal den Raum wieder zu verlassen.

2 | https://sebastianblasius.com/2018/04/19/vanitas-2017/ [28.12.2019]. Für den anre­ regenden Austausch danke ich Sebastian Blasius. 3 | Ein Auszug aus: Miltiadis Oulios, Die Logistik der Abschiebung, in: Ders., Blackbox Abschiebung, Berlin 2015, S. 261–276. 4 | Friedrich Schiller, Der dreißigjährige Krieg, München 1975 [1790].

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Das auffälligste und zugleich zentrale Element der Inszenierung bildet der kleine Pulsmesser samt der akustischen Übertragung der Rhythmen sowie deren Fortsetzung in den sich verändernden Zuckungen der Performer*innen. Indem Blasius’ Arbeit den individuellen Rhythmus – oder vielleicht auch nur die Täuschung, es handele sich um diesen und nicht etwas Vorproduziertes – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, erhält sowohl die durch Technologie geschaffene Verbindung meiner selbst mit meiner Umgebung als auch die trotzdem bestehende Trennung eine Bühne. Die Figuren, die mir hier begegnen, sind wie ich durch die Apparatur bedingt, verstärken aber für mich sichtbar diese Vermittlung durch ihr Zucken. Ihnen prägt sich – sichtbar, erfahrbar gemacht – eine sonst verdeckte Formierung mittels individualisierter Rhythmen in einem vereinheitlichenden System ein. Dadurch sind sie, so wie ich, zurückverwiesen auf unsere Vermittlung im Sinne einer „Teilsouveränität“ des Handelns in einem geteilten „Milieu“.5

Verweisungszusammenhang und Allegorie Die Beschäftigung mit der uns formierenden Vermittlung von Techniken und Technologien erlaubt einen Perspektivwechsel: Verstanden als das, was weder eine totalitäre Ganzheit ausmacht, noch voluntaristisch völlig kontrolliert werden könnte, erweisen sich Technologien und Techniken als Angebote einer anderen Denkweise. Mit dieser Denkweise, die wir in der Einführung auch als ‚das Technische‘ bezeichnet haben, treten Prozesse und darüber Teilungen und Bezugnahmen umso deutlicher hervor. Das Technische erlaubt es, unsere ‚Umweltlichkeit‘ nicht als Gegebenheit, sondern als „Verweisungszusammenhang“6 aufzufassen: Als etwas, in dem die Verbindungen mit und Spuren von Praktiken und anderen Akteuren gefunden werden können. Technische Umwelten erweisen sich als Netzwerke von Relationen und eine Bühne wäre folgerichtig sowohl ein solches eigenständiges, künstlerisch geschaffenes Geflecht, als auch zugleich Teil einer weiter gefassten Verstrickung. Zu diesem Verhältnis aber gibt Vanitas mehr zu denken, als es ein Verständnis dieser Arbeit gemäß einer Suche nach einem Sinn oder einer klaren Aussage vermitteln mag. Vielmehr bündelt die Inszenierung diese Gedanken zum Technischen, aber auch zur Frage der Endlichkeit, in einer allegorischen Konstellation. Denn die Strategie sowie das Thema dieser Inszenierung liegen in der Verknüpfung verschiedenster Kontexte, die wiederum mich als Besucher in ein dichtes

5 | Vgl. Karin Harrasser, „Teilsouveräne statt verbesserte Körper“, in: Dies., Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013, S. 111–131, hier S. 127. 6 | Martin Heidegger, Sein und Zeit (= Gesamtausgabe Bd. 2), Frankfurt am Main 1977, S. 118.

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Geflecht von Verweisungen auf mich und meine vermittelte Position in der Welt ziehen, sich dabei als Allegorie ständig neu entfalten. Zum einen begebe ich mich in ein Setting, welches Referenzen auf soziale Enge bis hin zu häuslicher Gewalt hervorruft, was nochmal besonders durch den nackten, in sich zusammengebrochenen Körper an der Wand verstärkt wird. Auf textlicher Ebene setzt sich die Gewalt (teils in extremer Weise) fort, zugleich wird diese aber auch durch das Suppenrezept gebrochen und ebenso aktuelle Kriegskontexte (Damaskus) angerissen. Der Bezug zum 30-jährigen Krieg wiederum eröffnet eine historische Fluchtung, die sich mit derjenigen zum barocken Motiv der Vanitas im Titel der Installation doppelt.

Endlichkeiten Durch das Erfahrbarmachen der technologisch implementierten Taktung legt Vanitas einen Selbstbeziehungsmodus offen: Ein Selbst, welches weniger optisch konstituiert, denn umweltlich eingebettet auftritt. Das Offenlegen der Technik weist mich auf meine Vermittlung zur Welt zurück sowie darauf, dass meine Position innerhalb dieses technischen Weltzuganges aber eben endlich ist. Das betrifft nicht einfach nur das in Vanitas offenkundige Motiv des Todes, also eine Endlichkeit im Sinne von Sterblichkeit. Vielmehr kreist die Inszenierung um einen leeren Kern. Ich bin als jeweilige*r Zuschauer*in zwar eingebunden, doch dadurch entsteht die entscheidende Leerstelle, wie ich nun Bezug nehme zum Geschehen. Das mache ich jedoch nicht im Allgemeinen, sondern je spezifisch – d.h. bedingt und damit endlich. Und dies dürfte den wohl zentralen Punkt im Umgang mit technologischen Umwelten verstanden als Verweisungszusammenhänge ausmachen: Wir befinden uns nicht in einem Unendlichen der technologischen Welt, das uns ‚als solches‘ erscheinen könnte, sondern immer in spezifischer, bedingter Konstellation. Als endliche, solchermaßen „situierte“7 Akteure stehen wir jedoch mit einer Vielzahl anderer endlicher Akteure in einer potentiellen Unendlichkeit an Bezügen.8 Als problematisch erweist sich an den neuen wie alten Technologien nach Gilbert Simondon deren Transparenz,9 die unsichtbar macht, was Technologien

7 | Vgl. zu diesem Begriff Donna J. Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt 1995, S. 73–98. 8 | Karen Barad, What Is the Measure of Nothingness? Infinity; Virtuality; Justice / Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualitat, Gerechtigkeit, Kassel/Ostfildern 2012, S. 33. 9 | Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Berlin/Zürich 2012 (frz. Original von 1958), S. 9–18.

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ermöglichen und ausschließen. Der kleine Pulsmesser speist unsere jeweiligen Rhythmen in den Takt der größeren Maschinerie der Inszenierung – worüber die zunehmende Implementierung gouvernementaler Techniken mit, an und durch massenhaft individualisierte Körper hervortritt, denn wie auch Erich Hörl als einer der Vertreter der eingangs problematisierten These eines Überganges in eine allgemeine technologische Sphäre oder Ökologie hervorhebt: „Gouvernementalität findet in der Environmentalität, die zuallererst medientechnisch implementiert wird, ihre zeitgenössische Gestalt.“10 Das Potential eines Denkens auf der Höhe der technologischen Bedingtheit läge dann darin, einerseits unsere Vernetzung und die uns stetig verändernde Vermittlung mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren zu bemerken (etwa im Sinne dessen, was beispielsweise Donna Haraway „sympoietische Arrangements“ nennt)11 und dem Rechnung zu tragen; andererseits die ebenso technologisch stattfindenden und ausschließlichen Normierungen dieser Vernetzungen zu kritisieren ohne einen ‚eigentlichen‘, ‚natürlichen‘ Zustand zu behaupten. Anstatt ein technologisch verwirklichtes Unendliches zu proklamieren, lässt sich dann vielmehr auf der je singulären Endlichkeit – etwa eines Körpers – insistieren und zugleich die Unendlichkeit der Verweisungen und Bezüge, die jedem Moment innewohnen, stark machen – ein Umstand, der nicht erst durch einen vermeintlichen Epochenwechsel hervorgerufen, wohl aber durch die massiv erhöhte technologische Durchdringung der Lebenswelt umso deutlicher wird.

The Scene of the Body (as a Natural Instrument, Technical Object, and Technical Means) Zohar Frank What is a body? Or rather, what do we mean when we say “body”? The OED defines it as “the physical form of a person, animal, or plant” or “the assemblage of parts, organs, and tissues that constitutes the whole material organism”.12 Taken metaphorically, “body” can also mean “the main portion”, a collection, or a “col-

10 | Erich Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/14, 2016, S. 33–45, hier S. 36. 11 | Vgl. Donna J. Haraway, Unruhig Bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im ­C hthuluzän, Frankfurt/New York 2018, S. 86. 12 | body, n. OED Online, Oxford University Press, March 2018, www.oed.com/view/ Entry/20934. [Accessed 29 April 2018].

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lective mass” of either persons or things.13 Nonetheless, when we say “the body”, we usually mean the human body, while referring to it as the body makes it into the only – or the most important – kind of body, thereby implying that we know what we mean by “body”, a meaning that is self-explanatory and universal; a givenness of the body supposedly made manifest in its appearance. And yet we know that not all bodies are seen the same and are being treated in the same manner. Scenes of the body, or the body as scenes, is an understanding of the body as a physical site or a location where various activities occur; a site that presents a series of events, an always already staged performance of sorts. In Techniques of the Body, Marcel Mauss defines the body as “man’s first and most natural instrument [...] natural technical object, and at the same time technical means”.14 The body as object and means, as an instrument used for what? Our panel thinks through a forgetting of the body in a supposed “new era of general ecology”. But what is the body we forget? How can we forget when we don’t even know what to forget? Perhaps we have forgotten that, as Jean-Luc Nancy claims, “we didn’t lay the body bare: we invented the body”, together with its instrumentality and technique.15 And we keep on inventing it by setting rules of behaviour for bodies – rules that become techniques of handling one’s own body and others’. When the body is defined as a natural instrument, or natural technical object, it seems that there are no alternatives for bodies that fall outside the so-called ­natural. Natural would be that which is in accordance with nature, suitable, appropriate, or proper to nature. A proper body would be a pure body, a body that can and cannot do certain things, or rather should and should not do certain things. Yet the proper body is merely an appearance, something to aspire to, some­ thing transcended, imagined, or as Nancy argues, invented. Served as a meal, an apparition, the proper body is reserved for God. It is a body that is not tainted by bodily needs, or by the mundane biology that makes it similar, perhaps too ­similar, to the body of the animal. A proper body would be, again in Nancy’s words, ­“property itself, Being-to-itself embodied” in a sense that I am a body at the very same time that I have a body.16 And yet the nature of my body, or its property if you will, is that it is never fully in my possession, since it is not independent of observation and of being determined from the outside, but also since my body’s

13 | Ibid. 14 | Marcel Mauss, „Techniques of the Body“, trans. Ben Brewster, in: Economy and Society, Volume 2, Issue 1 (1973), pp. 70-88, here p. S. 75, my emphasis. 15 | Jean-Luc Nancy, Corpus, New York 2008, p. 9. 16 | Ibid, p. 5.

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reactions are not always within my control.17 As Maurice Merleau-Ponty makes clear, the human body exists in a double state – as seeing and being seen, as sensed and sentient. Yet moreover, we cannot regulate processes within our body, for example our own pulse as our heart beats faster in an automatic reaction to external stimuli; an ironic realization in the light of a general fear of technology as something that can never be fully controlled. The body’s self-produced excess, then, revolts against the notions of what it – or bodies altogether – should do, reminding us that bodies can only be manipulated and controlled to a certain degree. In their respective studies of the comical, both Henri Bergson and Sigmund Freud argue that we expect certain things from other bodies. Bergson argues in a case of a man who stumbles and falls, that we would have expected the man to move in a certain manner, to adapt to his surroundings. His mechanical inelasticity, as Bergson calls it – that is, his failure of technique – fails our expectations and therefore we laugh. Similarly, Freud argues that we laugh when we have recognized that some other person’s movements are exaggerated and inexpedient [...] by making a comparison [...] between the movement I observe in the other person and the one that I should have carried out myself in his place.18

Interestingly, while both Bergson and Freud expect the other to act and move properly, thus exercising control over their bodies, the bodily reaction they introduce to another’s failure of control is exactly a failure of control in itself, i.e. laughter. According to Freud, laughter is a withdrawn unpleasurable energy which is transformed, by discharge, into pleasure.19 Yet from a strictly physiological point of view (if such is at all possible), the production of laughter (or tears for that matter) is a reflex, a reaction to stimuli that we have limited control of. It is an automatic reaction serving our psychic economy: a regulatory operation of the body hidden from itself, a defence strategy and a physiological mechanism. The body is revealed as uncanny since it is, as Judith Butler argues, both “mine and not mine” and is inherently incapable of being made proper.20

17 | I allude here to Frantz Fanon’s notion of his “fact of blackness” while being “overdetermined from the outside”. See Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 2008, p. 95. 18 | Sigmund Freud, “Jokes and their Relation to the Unconscious”, in: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Volume VIII, London 1960 [1905], pp. 189–190 my emphasis. Freud also gives reference to Henri Bergson’s Laughter (1900) in this work. 19 | Ibid, p. 232. 20 | Judith Butler, Undoing Gender, New York 2004, p. 22.

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Another form of bodily discharge – though not exclusively human, humans have trained themselves to control it to a certain extent – is faeces. However, unlike laughter (or tears), the display of faeces, or even its discussion, is a cultural taboo. Romeo Castellucci’s piece Sul concetto di volto nel figlio di Dio (2010) [“On the Concept of the Face, Regarding the Son of God”] makes use of this prohibition in its exploration of the notion of Christ as an icon, through the relationship between a son and his sick elderly father, whom the son nurses. In his old age, the father is a man who has lost the control over his body and his bodily functions, among which are speech and defecation. As we are presented with the father’s “shitty mess”, so to speak, we are reminded that we are not only, as Martin Heidegger tells us, beings toward death – toward an experience that cannot be experienced, to which we are subjected and over which we have no control – but that we are also beings toward loss of control; the loss of that mastery we have gained through a process of socialization, and which granted us – in our own eyes – superiority over the animal. The lack of control over one’s excrements, which we are subjected to as infants and in old age, is performed here as excess, as if that is the only way it could be performed, since one’s waste, or namely shit, is outside the order of what one should talk about, let alone present; an impure practice that one, even though subjected to it in a daily routine, should keep to oneself. That we all keep to ourselves. The father’s aging body ‘betrays’ him, as if a body can deceive, as if the body swears alliance to a person, or signs a contract with declared date of expiration. And as if it abides, in its physiology, to what is proper, appropriate, or dignified. The shitting of the animal, on the other hand, is not subjected to such social considerations and therefore the animal’s act of shitting can never stand for something other than what it is, as the shitting group of sheep indifferent to the audience of the Schaubühne in Oedipus der Tyrann (2015), another Castellucci production, has proved. Human defecation is revealed to be the representation of the body as uncanny, of the human body when it is “making a scene”. Human defecation is that thing which, in the same way Freud defines the uncanny, is “intended to remain secret, hidden away, and has come into the open”; not only a feeling of familiar strangeness but a production thereof, generated in one’s body and expelled, in a literal and metaphorical sense, from it.21 Not only a discharge but something that is banished from the site of its production. Mauss defines technique as “an action which is effective and traditional”.22 Among the techniques of the body he recounts are swimming, diving, digging, marching, walking, and yet he does not mention the techniques of the body that

21 | Sigmund Freud, “The Uncanny”, in: The Uncanny, London 2003, pp. 121-162, here p. 132. 22 | Mauss, „Techniques of the Body“, p. 75, emphasis in original.

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turn it into a site of disgust, shame, embarrassment, or humiliation. He also does not mention techniques for bodies, yet only certain bodies, of traditional and effective discrimination, being humiliated, and treated as disgusting, shameful, ­embarrassing. The educative process Mauss describes consists of successfully imitating actions performed by a figure of authority where “the action is imposed from without, from above, even if it is an exclusively biological action, involving his body”,23 concluding that “there is perhaps no ‘natural way’ for the adult”.24 We all know, however, that there is a normal way, or a proper way for the adult, a way to control and normalize bodies, making the body exactly into an instrument as it becomes the arena and the surface on top of which social and cultural notions overlay, thereby making us forget that the body, our body, is after all – in its nature – a body of excess. As we struggle to define the body in its yet another double state, in it being regulated both from within by its bodily functions, and from without through socialization and education, we should be reminded that some bodies are still overdetermined from the outside, effectively and traditionally, and that eventually, and essentially, every body makes a scene.

Entering Organs. Notes on Tarek Atoui’s, Léo Maurel’s and Xulia Rey Ramos’s WITHIN Bernhard Siebert How does perception work, and in how far is the thinking about perception linked to the thinking about techniques and technology? In his Monadology, Leibniz claims that perception is “inexplicable on mechanical principles”,25 and to stress his argument, he presents us with a scene of the technical: He wants us to imagine “a machine whose structure allowed it to think, to feel and to perceive”, and to “conceive of it as being enlarged while conserving its proportions and so permitting us to enter it as into a mill”.26 By entering this model of an artificial intelligence, Leibniz claims, we would only “come across parts exerting pressure on one

23 | Ibid, p. 73. 24 | Ibid, p. 74. 25 | Gottfried Wilhelm Leibniz, The Monadology. This is the translation done by Anthony Savile, published in his book: Anthony Savile, Leibniz and the Monadology, London and New York 2000, pp. 227–239. The passage cited here is from section 17, to be found on page 229. 26 | Ibid.

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another”,27 and therefore will not find an explanation for the workings of perception itself. This passage has sparked a philosophical discussion about materialism, and the margins of the understanding of the workings of the body. Taken from a theatre and performance studies perspective, Leibniz talks about the intimate relationship of theatricality, technology, and perception. Those inner workings of a mill – “parts exerting pressure on one another” – maybe do not give away an explanation of perception itself,28 but they offer a mechanical spectacle that can be watched, and that, first and foremost, allows to understand the process of perception as a spectacular process in itself: The process of perception is something that can be perceived.29 From this angle, Leibniz’s statement could be read as an aesthetical problem that holds up.30 Leibniz’s metaphor of the mill can be used to reflect on a work of art that links this intricate relation of theatricality, technology and perception: New music specialist Tarek Atoui has tried to establish, for some time now, a so-called “orchestra” of instruments, a collection of newly invented musical machines that specifically question the very conditions of what musical

27 | Ibid. 28 | Cf. the actual discussion about those phrases, among others in: Hans Poser, “­I nnere Prinzipien und Hierarchie der Monaden (§§ 8-29, p. 82 f.)”, in: Hubertus Busche (ed.), Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie (= Klassiker auslegen 34), Berlin 2010, pp. 81-94: “[Leibniz] hat dazu ein Bild geprägt, das bis in die heutige Diskussion um das Verhältnis von Denken und neurophysiologischem Apparat als Schlüsselproblem gilt – das Gedankenexperiment von einer Perzeptionsmaschine (M § 17), die zu den Ausmaßen einer Mühle vergrößert ist: In ihr finden wir, in die Gegenwart übersetzt, Neuronen und Synapsen, Transmittersubstanzen und elektrochemische Vorgänge – aber doch keine einzige Wahrnehmung, keinen einzigen Gedanken!” 29 | Dennis Des Chene writes that Leibniz uses this example to come back to the ­m achinical scene that Descartes had created in his Traité de l’homme: “Im frühen 18. Jahrhundert versetzt sich Gottfried Wilhelm Leibniz in der Monadologie mitten unter die Teile einer vergrößerten Maschine und kehrt damit genau zu der Szene zurück, die Descartes für seine Leser im Traité de l’homme kreieren wollte.” Des Chenes talks about the “exhibition value” (“Ausstellungswert”) of this machine. Dennis Des Chene: “Imaginierte Maschinen und wirkliche Welt”, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (eds.), Spuren der Avantgarde: Theatrum machinarum (= Theatrum Scientiarum 4), Berlin, New York 2008, pp. 122–141, here p. 124. 30 | Cf. Charles Landesman, Leibniz’s Mill. A Challenge to Materialism, Notre Dame 2011, p. 21: “Suppose on our stroll we discover a complex discharge D1 taking place among a bunch of neurons N. D1, let us suppose, exemplifies a variety of chemical and electrical principles. Are we now in a position to tell what the person is thinking? Is the physical description of D1 sufficient to determine the nature and content of the person’s thoughts?”

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instruments are. The name of this long-term project is WITHIN, and it aims at persons that have lost hearing or are hearing impaired and have therefore a radically different approach to producing and perceiving music. For Dortmund’s Favoriten Festival in September 2018, he built, together with Léo Maurel and Xulia Rey Ramos, a new “member” of the orchestra for WITHIN, namely an organ. Studying quite closely the build-up of a church pipe organ, the two instrument makers Maurel and Rey Ramos, both working in Eastern France, had been interested in changing a church organ in several ways: Firstly, they wanted to make it mobile, so they could go on tour with it; secondly, they wanted to take it out of the church context to secularize it; and thirdly, they wanted to decentralize the way to play it, and put an end to playing it only through the keyboard and the pedal board.31 They named their new instrument “L’Organou” which, if you hear it in French (l’orgue-à-nous), means so much as “our own organ”, and they reworked this concept together with Tarek Atoui. The trick is to take apart the classic church organ: to dismantle it, but to keep the basic dispositif, and just displace, and mobilize, the different parts. And the basic set-up of the new WITHIN instrument is quickly explained: There’s an electronic air pump that, via transparent tubes, feeds air into a huge, bright red cushion. From this air cushion, the air is led to different organ pipes that take the form of cuboids. Those cuboid pipes can be accessed freely, and therefore be played in different manners, by manipulating the hole for the air entering the pipe, by using the membrane as a drum, and by putting objects onto it that rattle along with the beat. This produces not only acoustic but also tactile as well as visual sensations. Also, there’s still some kind of central keyboard, but this time, it is a computer that can open and close the connections between the central air cushion and the pipes and is able to send pre-recorded sounds back into the instrument. Atoui, Maurel, and Rey Ramos offered a concert as result of the workshop with hearing and hearing-impaired participants, and playing the instrument had an immense theatricality:32 Not only was it interesting to discover how people used the instruments, went on and off stage, reacted to each other, used everyday objects to enhance or alter the sounds; but the audience, organized in a rectangular form around the organ set-up, was interesting to watch as well. During the whole concert, a silent sign-language communication between an audience member and a sign language interpreter could be followed; people who, instead of holily and sternly watching the concert, laid open their amusement, understanding, and bewilderment to what happened as they saw this new organ at work. Now, the

31 | I had the chance to translate, together with Julia Schade, the conversation between Atoui, Maurel and Rey Ramos, and their workshop participants, on Tuesday, September 11, 2018, within the framework of Favoriten Festival. It was there that they explained how the new organ came about, and what their original thoughts had been. 32 | The concert took place in Theater im Depot, Dortmund, on September 16, 2018.

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word ‘organ’ can of course be traced back to the Greek notion of the organon, to the sheer instrument itself, from which not only the church pipe organ but also the organs of the body and Bertolt Brecht’s Short Organon for the Theatre33 as a tool kit for theatre have their names. In my opinion, the new organ is the result of a mix of two ideas, and an organon, an ‘instrument’ or ‘tool’ for two intentions: Firstly, Atoui, with his project WITHIN, wanted to create an ensemble of instruments that can be played by the hearing impaired; and secondly, Maurel and Rey Ramos wanted to radically reinvent and liberate the instrument of the organ, to make it accessible to musicians outside of the church context. Therefore, in a way, two goals of accessibility merge here, and serve as complements for each other. Furthermore, by interweaving those two intentions, another form of collaboration is opened, which could be described as a choreographic one: The instrument can be played, ideally, by a mixed-ability group, as the are coming together by playing together.34 Atoui, Maurel and Rey Ramos have laid bare the inner functioning of an organ and invite their colleagues, and the audience, to a certain extent, to take a step into this instrument, creating a scene where it possible for them to watch and hear, to perceive, a fourfold ‘within’: The within of an organ (1), the within of the body responding to the vibrations of the instrument (2), the within of the group playing the instrument, and their “inner” logic of communicating silently with one another (3), and lastly the within of a society that constantly deals, through notions of inclusion and exclusion, inside and outside, with group dynamics and the trope of interiority (4). Here, we deal neither with a body with organs nor with a body without organs, nor with bodiless organs; it is one already multilayered and extendable organ interacting with several bodies. The organ, freed from its traditional, highly formalized structure, lies on the floor as if dissected, open for analysis. The theatrical effect is striking because by entering an organ and its perceivability, we are reminded of Leibniz’s entering into the mill, and can have a closer look at the opaqueness of perception. Beyond the question of art genres such as music, fine arts, theatre, installation etc., in its performance, WITHIN blends the political, aesthetical and theatrical implications of artistic practice and artistic representation, and therefore, in a Leibnizian sense, offers entrances into the mill of perception here. In its performativity, Atoui, Maurel and Rey Ramos make it possible to reflect on theatricality, perception and technology.

33 | Bertolt Brecht, Short Organon for the Theatre, in: Marc Silberman, Steve Giles, Tom Kuhn (eds.), Brecht on Theatre, New York 2015, pp. 229–258. 34 | Interestingly enough, this also has been a recurrent theme in Favoriten Festival, as making music together has been strong in Ariel Efraim Ashbel’s DIVA, and Lea Letzel’s and Luísa Saraiva’s A CONCERT.

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Die anthropozäne Illusion Julia Schade Was wäre, wenn wir jene erdgeschichtliche Phase, in der die Technologie zur Bedingung alles Menschlichen und Nicht-Menschlichen wird und die Erich Hörl anstelle des Anthropozäns als „Technosphäre“35 bezeichnet, von einem imaginären Außen betrachten könnten? Wenn wir also heraustreten könnten aus der komplexen Verwobenheit von Mensch und Technologie und diese von einem phantasmatischen Punkt im Außen dieser Technologie beobachten könnten? Was für eine Szene täte sich hier auf? Wie wäre diese Szene oder Bühne konstituiert? Und, vor allem: Was würde auf ihr erscheinen? Und was nicht? In dieses Gedankenexperiment führt uns die Performance Boundaries. Ein Archiv zukünftiger Fundstücke (2018) des Kollektivs ‚andpartnersincrime‘ in der alten Villa des Weltkulturenmuseums in Frankfurt am Main.

Das postapokalyptische Archiv des Homo Terminus Zu Beginn wandele ich in einer Art Hybrid aus Ausstellung, Archiv und Versuchslabor umher: In einem der Räume bereiten vier Performerinnen an sterilen weißen Tischen Archivfundstücke vor, die säuberlich beschriftet in großen Vitrinen liegen – das Stück eines Zauns, Bodenproben aus Singapur, eine alte Ausgabe des Wörterbuchs marxistischer Philosophie und der kaputte Flipflop eines Geflüchteten. Im Nebenraum läuft währenddessen die Projektion einer sich langsam fortbewegenden, zähen blauen Masse in Endlosschleife. Schnell wird klar: Ich befinde mich inmitten eines dystopischen post-apokalyptischen Szenarios, die Katastrophe – welche genau, ist noch nicht bekannt – hat bereits stattgefunden, die Erde ist unbewohnbar, ein Teil der Menschheit ist auf den Mars emigriert und die hier ausgestellten Fundstücke sind alles, was von dieser – unserer – Zivilisation übrig geblieben ist. Erfahrbar wird hier ein Sprung im Zeitkontinuum, die ausgestellten und untersuchten Objekte sind Fossilien einer zukünftigen Gegenwart, die nicht mehr stattfindet. Im Sitzungssaal des Museums beginnt nun ein Live-Videovortrag, der vom Nebenraum in den Saal mit Zuschauer*innen übertragen wird und mit dem die Inszenierung vom installativen Teil in die Performance übergeht. Der Vortrag beginnt mit den folgenden Worten:

35 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, S. 42. Hörl übernimmt diesen Begriff vom Geologen Peter Haff und dessen These, die „technosphere“ repräsentiere „a new stage in the geologic evolution of the Earth“. Peter Haff, „Humans and Technology in the Anthropocene: Six Rules“, in: The Anthropocene Review 1/2, 2014, S. 126–136, hier S. 127; Erich Hörl und Peter Haff, „Technosphere and Technoecology“, Gespräch im Rahmen von „A Matter Theater“, HKW Berlin Oktober 2014.

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L. Gabriel, Z. Frank, B. Siebert, J. Schade und Swoosh Lieu Mein Name ist Anya Sukhova. Ich bin von Beruf Anthropologin und beschäftige mich mit dem Planeten Erde und da insbesondere mit Fossilien aus der letzten Phase des Zeitalters des Anthropozäns – dem Homo Terminus.

Während ich ihre Stimme vernehme, sehe ich auf der Leinwand das live von den Performerinnen im Laboratorium nebenan produzierte Video. In einer Archivästhetik durchsuchen weißbehandschuhte Hände altmodische Karteikästchen nach Stichworten, begutachten archivierte Objekte und bringen sie in unterschiedlichen Konstellationen zusammen: Zeitungsausschnitte über Donald Trump, eine Feder einer kanadischen Wildgans sowie eine „bei der letzten Exkursion zum Planeten Erde in einer Region namens Mitteleuropa geborgen[e]“ Kassette, auf der die Stimme eines Mannes über Techniken der Grenzziehung, Flucht, aufflammenden Nationalismus und Krieg um Rohstoffe berichtet. Im Laufe der Performance folgen wir der Anthropologin bei ihren Bemühungen, mithilfe der Fossilien die Beweggründe des sogenannten Homo Terminus und seines Jahrhunderts zu verstehen, das offensichtlich seiner Hybris erlegen ist, den Menschen qua Technologie zu einer „neuen Mündigkeit“,36 wie es Gilbert Simondon über die Kybernetik sagt, zu führen. Doch der Versuch, Kausalzusammenhänge herzustellen und eine große Erzählung des Homo Terminus an der Schwelle zu einer neuen nicht-mehr-erdgeschichtlichen Epoche zu stricken, scheitert. „Was suche ich eigentlich?“, fragt die Anthropologin zum Schluss ratlos und lässt ihren Kopf auf die Tischplatte sinken.

Der Blick aus dem Außen Von ihrem fiktiven extra-terrestrischen Punkt aus verschließen sich vor ihr die Phänomene des 21. Jahrhundert als ein fremdes Denksystem. Inszeniert wird hier also ein invertiertes, rückwärts aus der Zukunft auf die Gegenwart projiziertes Befragen unseres Jahrhunderts als einer Grenzzeit von einem fiktiven Punkt außerhalb der Erde, außerhalb unserer Zeit-, Raum-, Geschichts- und ­Repräsentationsraster. Genau durch diese Fiktionalisierung eines in die Zukunft projizierten externen B ­ eobachtungspunktes, durch die In-Szene-Setzung einer phantasmatischen anti-immanenten Denkfigur also, befragt die Performance gerade den imaginären Punkt, von dem aus eine Paradigmenbestimmung des Anthropozäns oder ein Moment der radikalen Zäsur des Denksystems allererst möglich zu sein scheint.37 Indem die Performance also von einer ­post-anthropozänen

36 | Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, 2012, S. 96. 37 | Hier sei am Rande bemerkt: Die Figur der Anthropologin, die aus der Zukunft heraus versucht, unsere Gegenwart als Paradigma zu bestimmen, ist ein wiederkehrendes Motiv in vielen zeitgenössischen Versuchen, eine nach-moderne Sinnsuche zu diskursivieren. Z.B. bei Bruno Latour, wo eine Anthropologin die Existenzweise der ‚Modernen‘

Within the Margins

Epoche ausgeht, problematisiert sie genau jene Überwindungsmetaphorik und Rhetorik der linearen Ablösung, die in neueren Theoretisierungsversuchen des Anthropozäns zu beobachten ist. Besonders deutlich findet sich dies bei Erich Hörl und dessen An­nahme eines radikalen Paradigmenwechsels zwischen Anthropozän und ‚Technozän‘. Hörl geht von „einem entscheidenden geschichtlichen Momentum“38 der Ab­lösung des einen Paradigmas durch das andere aus und impliziert damit einen r­ adikalen Umbruch des Denksystems. In diese Ablösungsmetaphorik schleicht sich eben jene Setzung eines Außen der Technologie ein, von dem aus der jeweilige historische Moment der Umwälzung vermeintlich festlegbar wird. Dies zeigt sich aber bezeichnenderweise genau an der Stelle, an der Hörl eine Theatermetaphorik für sein Denkmodell wählt – nämlich eine Metaphorik der Illusion und des ­Erscheinens. Als „anthropozäne Illusion“ bezeichnet Hörl in Die Ökologisierung des ­Denkens das Phantasma des menschlichen Wirkungsmonopols im ­A nthropozän.39 Die Illusion des Menschen als rationalistisches handlungsmächtiges Subjekt also. Die Technoökologie markiert damit das geschichtliche Momentum einer ­Entzauberung eben jener Illusion menschlicher Hybris. Als Konsequenz eines ­Zusammenbruchs dieser Illusion beschreibt er nun das Technozän und die Herausbildung einer Technoökologie. Am Kreuzungspunkt von Kontroll-, Rationalitätsund Relationalitätsgeschichte tritt dann das hervor, was er das „Erscheinen der Technosphäre“40 nennt. Welcher Art dieses Erscheinen jedoch ist, bleibt unklar.41

am Kreuzungspunkt zur Ökologisierung zu dechiffrieren sucht (Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2018) und in Tom McCartys Roman Satin Island, in dem ein Anthropologe von einer Google ähnelnden Company dafür bezahlt wird, eine Universaltheorie der Gegenwart zu formulieren (Tom McCarthy, Satin Island, München 2016). 38 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, S. 45; Vgl. Erich Hörl, „Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die allgemeine Ökologie“, in: Diedrich Diederichsen und Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin 2013, S. 121–130; Erich Hörl und Marita Tatari, „Die technologische Sinnverschiebung“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Berlin/Zürich 2014, S. 43–63. 39 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, S. 44. 40 | Ebd., S. 45. 41 | Hier wäre mit Jean-Luc Nancy, auf den sich Hörl maßgeblich bezieht, und seiner Logik des Mit-Erscheinens in der Ökotechnie anzuknüpfen: „[A]lles erscheint zusammen und alles erscheint allem. […] Alles verweist auf alles, und alles zeigt sich also durch alles hindurch. Ohne Ziel und Zweck.“ Jean-Luc Nancy, „Von der Struktion“, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin 2011, S. 54–72, hier S. 68. Hier bliebe zu fragen, ob denn jenes Er-

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An dieser Stelle gilt es kurz innezuhalten und zu fragen: Was evoziert der Begriff der Illusion und der Erscheinung hier? Welche Schauanordnung wird dadurch auf den Plan gerufen? Hörl bedient sich mit dem Begriff der Illusion eines Denkmodells, das selbst Überbleibsel eines aufklärerischen Theaterbegriffs zu sein scheint. Wenn das Ende des Anthropozäns und die neue technozäne post-rationalistische Epoche mit einer Metaphorik von Illusion und Enttarnung eingeläutet wird, dann steht dieses Denkmodell schlussendlich im gleichen Repräsentationsmodus und rationalistischen Register wie dasjenige, was sie überwunden zu haben glaubt. Damit findet sich bei Hörl das Festhalten an einer Schauanordnung, die derjenigen ähnelt, die in Boundaries in Szene gesetzt ist: Die Annahme eines distanzierten, außenstehenden Beobachtungspunktes, von dem aus sich das Anthropozän als menschliche Illusion enttarnen und ein neues Paradigma ausmachen lässt. Nun liegt aber der große Unterschied darin, dass die Inszenierung gerade die Unmöglichkeit dieses äußeren Beobachtungspunktes bzw. dessen Scheitern vorführt. Das phantasmatische Außen wird durch eine Bildlichkeit von immanenter Verbundenheit konterkariert: Die Anthropologin findet sich als wissenschaftliche externe Beobachterin irgendwann mit ihren eigenen Anwendungstechniken, Untersuchungsobjekten, deren Materie, Erscheinung und Zeitlichkeit so sehr verstrickt, dass sie letztendlich daran scheitert, das Sinn- und Ordnungssystem des Homo Terminus und seiner Epoche nur ansatzweise nachzuvollziehen.

Rationalitätsgeschichtliche Zäsuren Während Metatheorien wie diejenige Erich Hörls gerade in der Beschreibung des neuen Technoökologieparadigmas jene anthropozäne Illusion und damit Schauanordnung einer vom Menschen ausgehenden Beobachtung reproduzieren, die sie eigentlich als Grundannahme eines europäischen Rationalismus verwerfen, liegt der kritische Einsatz der Performance darin, die Theaterhaftigkeit dieser Schauanordnung zu reflektieren, die von Erich Hörl wie auch z.B. Bruno Latour weitestgehend außer Acht gelassen wird. Deutlich wird: Auch nach jener verheißungsvollen rationalitätsgeschichtlichen Zäsur und dem Anbruch einer relationalen Ökologie bleibt diese im Trennungsgestus dennoch dem Begriff der Rationalität und damit eben auch einer Bühne des souveränen Beobachters verhaftet – und dies vielleicht sogar notwendigerweise. Hier möchte ich trotz aller Kritik an Hörl festhalten: Auch er erachtet die Romantisierung der Relationen als problematisch, die im Eifer der Beschreibung einer neuen technologischen Ökologie ohne Natur diese ontologisieren. Auch verliert er die Gefahr einer Environmentalität r­elationaler

scheinen, von dem Hörl schreibt, vor diesem Hintergrund überhaupt noch der gleichen Ordnung wie derjenigen der Illusion entsprechen kann.

Within the Margins

Technologie keineswegs aus den Augen, auf die sich Leon Gabriel in seinem Beitrag bezieht. Trotzdem bleibt zu betonen: Entgegen dieser Romantisierung und Ontologisierung gilt es, die Proklamierung rationalitätsgeschichtlichen Zäsuren mit Vorsicht zu behandeln, vielleicht gerade wenn diese behaupten, die Geburt einer neuen „ökologischen Rationalität“42 zu sein. Die Stärke der Inszenierung liegt dagegen darin, ihre eigene Verstrickung in die technologische Bedingung im Modus der Darstellung zu reflektieren. Mehr noch: Was in dieser Verstrickung deutlich wird, ist ein Durchscheinen anderer, abweichender Zeitlichkeiten, die nicht mehr der gewohnten Alternative von Diachronie und Synchronie oder einem linearen Abfolgemodus unterliegen. Damit entwirft sie eine Szene des Technischen, die nicht allein über, sondern vor allem aus ihren eigenen Rändern heraus denkt, und nach einem Zusammenhang von Existenzweisen fragt, die vielleicht gerade nicht in gewohnter Form in Erscheinung treten können.

42 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, S. 38.

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The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology Or: What Can Dance Learn from Ludwig Feuerbach? Stefan Hölscher

This contribution to the topics connecting theatre and technology proposes to re­ think the workshop format in the field of dance in terms of a group technology being based on a sensuousness without prejudice of its participants which as such enables dance as a primarily sensuous practice to enter yet unknown terrains. Whilst the first step of the argument is referring to Mårten Spångberg’s recent and rather binary prioritisation of the notion of dance over that of choreography, the second step is reconsidering a historical and philosophical constellation, precisely the one of Ludwig Feuerbach’s aversion to Georg Friedrich Wilhelm Hegel’s system of thought.1 In both positions there seems to be a parallel between choreography and “prejudiced thinking” on the one hand and dance and “unprejudiced sensuousness” on the other. With regard to Hegelian spirit Feuerbach asks: “If the essence of being is constituted by what is merely a determination of thought, how should being be distinguished from thought?”2 Thereby he highlights s­ ensuousness

1 | This text was written in early Autumn 2018, at a moment when two research fields the author is involved in intersected: On the one hand his interest in the philosophy of Feuerbach and on the other hand his focus on the field of choreography and performance in the context of a Fritz Thyssen project entitled Collective Realization. The Workshop as an Artistic-Political Format he has been conducting together with Kai van Eikels since May 2018. Later on, his investigation of Feuerbach´s problem of sensuousness brought him to post- and decolonial questions. Now he is writing a habilitation with the working title On the Sensuousness of the Human. With Ludwig Feuerbach in the Postcolonial Anthropocene of Contemporary Art. 2 | Ludwig Feuerbach, Principles of Philosophy of the Future, https://rowlandpasaribu. files.wordpress.com/2013/09/ ludwig-feuerbach-principles-of-philosophy-of-the-future. pdf, p. 45 [accessed 10-09-2018].

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as the realm outside of spirit with an intrinsic value independently from thought. In his Principles of Philosophy of the Future from 1843 he remarks: In thought, I am an absolute subject; I let everything exist only as my object or predicate; that is, as object or predicate of myself as a thinking being. I am intolerant. In relation to the activity of my senses, I am, on the other hand, a liberal; I let the object be what I myself am – a subject, a real and self-activating being. Only sense and only sense perception give me something as subject.3

In a book publication which is based on a conference in Stockholm entitled PostDance held at MDT theatre in 2015, choreographer Mårten Spångberg claimed that after the strong emphasis which had been put on the term choreography by some dance makers as of the 1990s, in recent years one could witness a return to the notion of dance, though under other circumstances than in its modernist heritage. According to Spångberg during the last years, “somehow since 2012”4 (which was when, with his group piece Epic, his own aesthetic style changed quite drastically), “dance has caught up and is currently in the middle of its emancipation from choreography”5 From this state of affairs he even draws the conclusion: “Dance is not the sister of choreography but rather its complete opposite.”6 Whilst in the modernist tradition, as in Doris Humphrey’s The Art of Making Dances (1958), choreography was an ordering principle primarily framing and making dance possible as such a “technique”, in the last years dance has been developing technologies on its own in order to insist on its own right and its incoherence with choreography.7 In this context Spångberg distinguishes technique from technology by arguing that “technique seems to connect with expertise”,8 its purpose being “to fulfill something”,9 whilst in contrast to that technology had more to do with “the opportunity to question, develop, rearrange, transform”10. Because of the subordination of dance under choreography, Spångberg claims, dance classes usually still were rather based on technique in the sense of tools than on technology.

3 | Ibid., p. 46. In the context of French philosophy around 1968, similar movements of thought can be found in Michel Serres, The Five Senses. A Philosophy of Mingled Bodies, London 2016. 4 | Mårten Spångberg, Post-dance. An advocacy, in: Danjel Andersson, Mette E ­ dvartsen and Mårten Spångberg (eds.), Post-Dance, Stockholm 2017, pp. 349–393, p. 359. 5 | Ibid. 6 | Ibid., p. 370. 7 | See Doris Humphrey, The Art of Making Dances, Princeton 1991. 8 | Spångberg, Post-dance, 2017, p. 366. 9 | Ibid., p. 377. 10 | Ibid., p. 367.

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology Tools, with some generalization, connect to technique: an ensemble of tools that are coordinated in order to facilitate something. That is to say that a technique is also directional and operates within realms of success, accomplishment and measurability. In dance, technique is still central and the dancer is often training to master a certain technique.11

In contrast to technique he describes technology as follows: Technology, which evidently is not causal to machines, steam engines, Tin Woodman or laptops, is a different affair. Technology is not directional but can be understood as an entanglement of possibilities which can, in a multiplicity of ways, be given direction. It has no goal, no inherent interest, but is instead, at least initially, a neutral ensemble of opportunities. If a technique has already told you what to do even before you start, a technology is a reversed opportunity.12

Both techniques and technologies can be embedded in workshop-like formats which are obviously more and more replacing or at least complementing dance classes in their narrow sense nowadays.13 The recent emphasis on the notion of practice is another sign of the same conjuncture.14 Workshops have always been implying assemblies in which also various practices join forces. In a workshop, human bodies as much as other bodies or things are assembled. Without assemblies, there are no workshops. There are no solo workshops but only workshops taking place with a group of people and stuff being involved. Nowadays the phenomenon of the workshop has been spreading into various social fields and can be found almost everywhere – like practices themselves. People seem to prefer to gather in the frame of workshops almost as much as at birthday parties, for Christmas, or for other private occasions. After participating in a workshop they sometimes say they had a transformative experience because together with others they went through a

11 | bid., p. 364. 12 | Ibid., p. 365. 13 | In regard to the historical emergence of the workshop format in the milieu of the colonial plantation system, see Richard Sennett, Together. The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation, London 2013. An analysis of the contemporary phenomenon of the workshop see e.g. Gavin Andersson, Raff Carmen, Iván Labra and Howard ­R ichards, Organisation Workshop. Beyond the Workplace: Large Groups, Activity and the Shared Object, https://seriti.org.za/wp-content/uploads/2018/01/organisation-workshops.pdf [accessed: 2-7-2020]. 14 | See Marcus Boon and Gabriel Levine (eds.), Practice. Documents of Contemporary Art, Massachusetts 2018. Cf. also the research by dance scholar Anne Schuh (Berlin). The author thanks her for the tip about this edited volume.

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process that changed something. Change is seen as improvement then: A common understanding of the workshop format puts it all too close to training in the sense of exercising and gaining a certain knowledge. As a consequence of this approach, which can be found in the history of modernism and in more or less contemporary contexts alike, workshops are first and foremost about the transmission of specific techniques, usually from one individual to the collective of those participating in them. This is the case not only in dance workshops but also in business or coaching as well as in esoteric formats in which a number of people are gathering in order to learn certain things from one or more teachers or from one another. In all these cases the workshop format is deeply linked to what Michel Foucault in his later writings on governmentality called pastoral techniques; they establish, as it can be put not only due to polemical reasons, a link similar to the one between shepherds and their sheep.15 The kind of dance workshop to be discussed in this paper is very different from exercise, training, teaching, and the transmission of technique in general. It has less to do with individuals coming together than with what exceeds them. It is a group technology being developed out of the sensuous qualities being inherent in an assembly, stemming from the sensuous relations amongst its participants, which could bring forth unpredictable practices and lead to yet unknown territories of acting together. In the course of his polemic against Hegel and the prioritisation of sensuousness over spirit it is based upon, Feuerbach asks a question touching on the relation between dance and choreography as well: How can different independent entities or substances act upon one another [...]? [I]n so far as this question was an abstraction from sensuousness, in so far as the supposedly interacting substances were abstract entities, purely intellectual creatures, philosophy was unable to resolve it. The mystery of their interaction can be solved only by sensuousness. Only sensuous beings act upon one another.16

Following Feuerbach’s critique of intelligibility with regard to Hegelian spirit, the workshop as a group technology shall be understood here along the sensuousness without prejudice of its participants and the sensuous qualities emerging in between those being assembled in its frame.17 Sensuous qualities are not fully intelligible and different from any thinking which tries to grasp them. They are rather

15 | For a critical investigation of this phenomenon see Bojana Cvejić, Bojana Kunst and Stefan Hölscher (eds.), Commons/Undercommons in Art, Education, Work..., ­B elgrade: TkH. Journal for Performing Arts Theory, no. 23, 2015. 16 | Feuerbach, Principles of Philosophy of the Future, p. 61. 17 | See also Stefan Hölscher, Judging Choreography, in: maska – Performing Arts Journal, Autumn-Winter 2014.

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology

sensed than thought, more like sensations circulating than signs being registered on the level of language. The dance workshop as a sensuous group technology can be part of a rehearsal, as in the series of group pieces Spångberg has been developing for almost ten years, e.g. Epic (2012) and The Internet (2015); it could be the means to the production of a piece as its end, but not necessarily so. What has characterized Spångberg’s works since 2012 is their focus on the problem of ecology: Instead of something, they put some things on the stage.18 This can be understood in terms of the very fabric between human and more-than-human bodies, i.e. their complex entanglement which is represented by the simultaneity and reciprocity of always relational elements. In the sense of an ecological ethics, Spångberg’s pieces since 2012 share their relational quality on the level of reception rather than of production aesthetics with some works of choreographers around 1968: In their emphasis on texture and entangled materiality they can make one think of e.g. Trisha Brown’s Floor of the Forest (1970).19 Nevertheless, instead of ending up in pieces, a workshop could also be an end in itself, an assembly of bodies investigating in how far their togetherness is more than the individuals participating in it, since the sensuous fabric of the assembly would change with each single member being replaced by another one. How does sensuousness without prejudice differ then from the transmission of technique as it is well-known from the exercises and training currently taking place everywhere, not only in workshop-like formats and not only in the dance world? Previously, dance could not be thought of without choreography; now, in Spångberg’s recent pieces, it seems dance proves itself to be something in its own right. Being outside of choreography implies being outside of prejudiced thinking. What does this mean? In his contribution to the publication following the conference on Post-Dance, Spångberg confessed a couple of years ago: In fact I dance in order to be anonymous, to for a moment be on vacation from myself, from that self that I’m obliged to perform everyday all the time independently of who I am or what kinds of inscriptions I carry. […] I believe it is possible to consider dance to address a properly corporeal or embodied experience but we must take into account that this is not an experience that is in any respect helpful, therapeutic, supportive or in

18 | See André Lepecki, Singularities. Dance in the Age of Performance, London/New York 2016. 19 | The author thanks Maren Butte for her reference to Trisha Brown’s Floor of the Forest (1970). Maximilian Haas has been discussing Spångberg’s recent ecological aesthetics along the line of Anna Tsing’s understanding of entanglement: See Maximilian Haas, “Einheit und Kontingenz der Dinge in der dritten Natur”, in: Johannes Birringer and Josephine Fenger (eds.), Tanz der Dinge/Things that dance (= Jahrbuch Tanzforschung 2019), Bielefeld 2019.

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Stefan Hölscher Fig. 1, Mårten Spångberg, Epic, Foto: Mårten Spångberg, 2012.

Fig. 2, Mårten Spångberg, Epic, Foto: Mårten Spångberg, 2012.

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology Fig. 3, Mårten Spångberg, The Internet, Foto: Tani Simberg, 2015.

Fig. 4, Mårten Spångberg, The Internet, Foto: Tani Simberg, 2015.

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Stefan Hölscher any other aspect sympathetic, it is namely an experience that is contingent to cognition and takes place solely on the territory of the body, the individual’s body which is not your body but a generic body, or a body[.]20

Spångberg’s statement from 2015 seems to point in a direction far away from his own understanding of the relation between choreography and dance in the 1990s. In those days, the term “dance” had often been devalued in regard to that of choreography; for some makers of this generation, it was connected to the activity of simply moving around in time and space without too much thinking independently from the technique being involved in a specific movement. Choreography was seen as an expanding practice, drawing its input from poststructuralist theory, involving a radical reconsideration of many previous assumptions about what a body is and can do.21 At stake in choreography during the 1990s and early 2000s was not so much a sensuousness without prejudice but rather semiotics, readability, and, in the last instance, intelligibility. Now Spångberg, as it seems, has not only returned to dance but even to dance as a primarily sensuous practice. What happened in the meantime? There is a striking parallel to be investigated between Feuerbach´s emphasis on a supposedly excluded sensuousness with regard to Hegelian spirit – which he accuses to transform “this sensuous activity which contradicts the essence of thought into a logical or theoretical activity”22 , respectively to abstract “from all that is immediately or sensuously given, or from all objects distinguished from thought”23 – and the recent reflection on a revised notion of dance as something different and even independent from choreography by some contemporary makers. Although Spångberg refers to specific branches of so-called speculative realism, object-oriented ontology, and more recently to ecological approaches24 instead of Feuerbach’s sensualism when he talks about the dance pieces he has made since 2012, his gesture seems similar to Feuerbach´s deviation from Hegel in the 1830s and 1840s. The dominance of choreography over dance, including the dominance of semiotic and poststructuralist models of reading dance and the analogy between the activity of

20 | Spångberg, Post-dance, 2017, p. 377. 21 | See e.g. Gerald Siegmund, Jérôme Bel. Dance, Theatre, and the Subject, Basingstoke 2017. 22 | Feuerbach, Principles of Philosophy of the Future, p. 16. 23 | Ibid., p. 20. 24  |  Especially Reza Negarestani, Cyclonopedia. Complicity With Anonymous ­M aterials, Prahran 2008. More recently he became more optimistic and is interested in E ­ manuele Coccia, The Life of Plants. A Metaphysics of Mixture, Cambridge 2018, which also tells a lot in regard to the important indirect links between his recent works and Trisha Brown’s Floor of the Forest (1970).

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology

dancing and speech act theory in the field during the 1990s, resonates deeply with and can be considered a variation of the dominance of spirit over sensuousness in the field of German idealism in the first half of the 19th century – which has been driving forward the modernist tradition of dance as well.25 With regard to the unfolding of spirit and the all-too-smooth sublation of sensuousness in its all-encompassing interiority, Feuerbach states: A breathing being is necessarily referred to a being outside itself, that is to say, it has the essential object, through which it is what it is, outside itself, but the thinking being is referred only to itself, is its own object, carries its essence within itself and is what it is only through itself.26

Both this kind of dance in the present field of performing arts and sensuousness as a concept and historical counter model to the unfolding of Hegelian spirit can be understood as “breaths”, i.e. technologies exceeding already set techniques which thereby enable other practices and bring forth new possibilities. Whilst spirit and choreography alike can be seen as systems which sublate and appropriate everything external to them, dance understood as a sensuousness without prejudice is the very outside of any system in its own right. Therefore current developments in dance are embedded in historical problematics which are still not solved and continue to persist. The problem being at stake in the dance workshop as a group technology being based on a sensuousness without prejudice of its members can be summarized in the following three questions. First: How to enable the assembly of more than one body present in a given time and space to be out of line and more than the sum of its parts? Second: How to avoid being sucked into a system which determines the encounter of more than one body beforehand? Third: How to think about principles of dance of the future (Spångberg) in terms of principles of philosophy of the future (Feuerbach)? Feuerbach’s aversion to Hegelian spirit becomes almost congruent with Spångberg’s aversion to the notion of choreography as it was put forward by some dance makers, including himself, in the 1990s when he writes: Thought that ‚seeks to reach beyond its other‘ – and the ‚other of thought‘ is being – is thought that oversteps its natural boundaries. This reaching beyond its other on the part of thought means that it claims for itself that which does not properly belong to thought but to being. That which belongs to being is particularity and individuality, whereas

25 | See e.g. Noël Carroll, “The Philosophy of Art History, Dance, and the 1960s”, in: Sally Banes and Andrea Harris (eds.), Reinventing Dance in the 1960s. Everything Was Possible, Wisconsin 2003, pp. 81–97. 26 | Feuerbach, Principles of Philosophy of the Future, p. 7.

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Stefan Hölscher that which belongs to thought is generality. Thought thus lays claim to particularity; it makes the negation of generality, that is, particularity, which is the essential form of sensuousness, into a moment of thought.27

It was not only during the 1990s that choreography indeed claimed dance for itself. The parallels between choreography and the unfolding of what Hegel called spirit go much deeper and can maybe even be traced back to the very beginnings of choreography.28 What follows from a concept of dance as a sensuous practice being different from choreography? What are the consequences of a dance workshop being based on the unprejudiced sensuousness of its participants?29 What Spångberg describes as technology in terms of an “entanglement of possibilities”30 by contrasting it to technique as something more “directional”31 is connected to what Feuerbach was aiming at when he insisted on the incoherence of sensuousness with spirit. For Feuerbach, sensuousness is the realm of a radical otherness, where the object of thought turns out to be a subject in its own right, and where the I is confronted with a You which he also calls “objective ego”32. If choreography was located on the side of the I, dance would be dwelling in the You. In his Principles of Philosophy of the Future from 1843, Feuerbach states: An object, i.e., a real object, is given to me only if a being is given to me in a way that it affects me, only if my own activity – when I proceed from the standpoint of thought – experiences the activity of another being as a limit or boundary to itself. The concept of the object is originally nothing else but the concept of another I – everything appears to man in childhood as a freely and arbitrarily acting being – which means that in principle the concept of the object is mediated through the concept of You, the objective ego. [A]n object or an alter ego is given not to the ego, but to the non-ego in me; for only where I am transformed from an ego into a You – that is, where I am passive – does the idea of an activity existing outside myself, the idea of objectivity, really originate. But it is only through the senses that the ego is also non-ego.33

27 | Ibid., p. 51. 28 | See Stefan Hölscher, Vermögende Körper. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik, Bielefeld 2015. 29 | See Ana Vujanović and Livia Andrea Piazza, A Live Gathering. Performance and Politics in Contemporary Europe, Berlin 2019. 30 | Spångberg, Post-dance, 2017, p. 365. 31 | Ibid., p. 364. 32 | Feuerbach, Principles of Philosophy of the Future, p. 61. 33 | Ibid., 60f.

The Dance Workshop as a Sensuous Group Technology

In contrast to training formats and the transmission of technique from individuals to individuals being at stake therein, the dance workshop as a group technology stemming from a sensuousness without prejudice would be aiming at such a nonego and at the transformation of I into You for all its participants. Only in their sensuous simultaneity and reciprocity would the participants of this kind of dance workshop bring forth something out of the sensuous qualities of their specific togetherness which could not be set choreographically beforehand. In the discourse of Performance Studies, Giulia Palladini has recently recoined the notion of foreplay to describe the pleasure being involved in processes which bear their purpose in themselves.34 There would be no pregiven direction to this workshop but only a navigation via the encounters between those dwelling sensuously in a time and a space together. The assembly then was more than the bodies it consisted of. No system external to the process would determine its means and ends teleologically. In this light, sensuousness without prejudice was a technology supporting the navigation through the sensuously interwoven and entangled fabric of an assembly of bodies. These are the principles of dance of the future resulting from Feuerbach´s philosophy of the future: One shall not frame dance before one listens to its own unfoldings, which are unfoldings in their own right taking place outside of and exceeding choreography. The unpredictable and unprejudiced sensuousness of bodies being neither subjects nor objects for each other but being truly with each other.

34 | See Giulia Palladini, The Scene of Foreplay. Theater, Labor, and Leisure in 1960s New York, Evanston 2017.

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TECHNIKEN DES (RE-)PRODUZIERENS, ARCHIVIERENS UND INSTITUTIONALISIERENS

(Re)Produzierte Bewegung Techniken der Archivierung von Tanz bei Kurt Petermann (1930–1984) Melanie Gruß Moderne Aufzeichnungstechniken wie der Film spielen für die ephemere Kunstform des Tanzes eine ganz besondere Rolle und sind mittlerweile wesentlicher Bestandteil ihrer Dokumentation. Bereits 1957 legte Kurt Petermann ein umfassendes Konzept zur Archivierung von Tanz- und Bewegungskulturen vor, das sprachbasierte Archivtechniken mit speziell für den Tanz ausgearbeiteten Dokumentations- und Erfassungsmethoden kombinierte. Besondere Bedeutung maß Petermann den „mechanischen Aufnahmetechniken“1 in Form von Film- und Tonbandaufnahmen zu, wie er 1984 in einem Interview darlegte: Der Tonfilm ist das wichtigste Mittel, um Tänze – ob nun Volkstanz, Ballett, Jazztanz oder Gesellschaftstanz – in der Einheit von Musik und Bewegung festzuhalten. Unser Archiv gehört zu den wenigen seiner Art, die selbst Filme produzieren.2

Petermanns Konzeption wurde zur Grundlage für den Aufbau des Tanzarchivs der DDR, das er bis zu seinem Tod 1984 leitete. Dessen Ziel war nichts weniger als die Sammlung und Systematisierung des gesamten verfügbaren Wissens über Tanz. Dafür entwickelte Petermann „die geschlossene Informationseinheit Tanzarchiv“3 als ein umfassendes Verweissystem, das aus heutiger Sicht als Vorwegnahme ,vernetzter‘ Wissensorganisation und Vorläufer digitalen Wissensmanagements betrachtet werden kann.

1 | Kurt Petermann, „Tanz als archivalisches Dokument. Über Aufbau und Sammlungen des Tanzarchives der Akademie der Künste der DDR“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 380/1/263, 1979, S. 3. 2 | Christa Marx, „Der Tanz – Ausdruck, Lebensfreude. Interview mit Kurt Petermann“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 399, 1984. 3 | Kurt Petermann, „Gestaltete Bewegung in Raum und Zeit als Dokumentationsobjekt. Bericht über Aufbau und Arbeitsweise des Tanzarchivs der DDR“, 1979, S. 10.

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Petermanns Überlegungen fügten sich einerseits in die seit dem frühen 20. Jahrhundert aufkeimenden Bestrebungen einer Neubewertung des Körpers und des ihm innewohnenden eigenen Wissens ein, das von Ethnolog*innen und Kulturtheoretiker*innen als kulturelles Wissen verstanden und mittels modernster Techniken wie Photographie und Film erfasst wurde.4 Andererseits fokussierten sie auf die Entwicklung eines spezifisch sozialistischen Verständnisses vom Tanz und seiner Geschichte. Die (filmische) Dokumentation der tänzerischen Praxis spielte bei der Etablierung einer nationalen Tanzkunst und eines kulturellen Tanzerbes der DDR im Sinne der offiziellen, materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung eine wichtige Rolle. Für eine differenzierte Betrachtung muss Petermanns Tanzarchiv daher als historische Erscheinung im Kontext gesellschaftspolitischer, kultur- und mediengeschichtlicher Zusammenhänge verortet werden, die seine Entstehung wie auch die Sammlung und deren Systematik selbst bedingten. Nach der Wiedervereinigung bestand das Tanzarchiv als eigenständige Institution mit der von Petermann entwickelten Systematik weiter, bis 2011 die Bestände in die Universitätsbibliothek Leipzig und die dort vorhandenen Katalog- und Recherchesysteme überführt wurden, wo sie als Teil der Sondersammlungen für Nutzer*innen zugänglich sind. Rekonstruierbar sind Aufbau und Geschichte des Tanzarchivs der DDR heute nur noch aus dem Nachlass Petermanns, der selbst Teil der Tanzarchivbestände geworden ist. Bisherige Verhandlungen der Konvergenz von Tanz und Archiv zielen meist auf den ephemeren Charakter der Kunstform und die damit verbundene Paradoxie ihrer Archivierbarkeit ab, die sich bereits in dem Begriff ,Tanzarchiv‘ manifestiert.5 Dagegen erfordert der konkrete Fall des Leipziger Tanzarchivs eine historisierende und kontextualisierende Betrachtung seiner Konstituierung und Institutionalisierung wie auch seiner Archivpraktiken, die Fragen nach dem Zweck der Sammlung und nach den Kriterien, die bestimmen, was darin aufgenommen und wie es als Wissen systematisiert und archiviert wird, in den Blick rücken. Zur Anwendung kommt dabei ein erweiterter Archivbegriff, der Archiv nicht mehr nur als „Ort der fachkundigen Bewahrung alter Urkunden, Akten und anderer Dokumente“6 versteht, sondern im Anschluss an Kulturtheorien des aktiven und strukturierenden Archivs bei Michel Foucault, Jacques Derrida, Michel de Certeau oder Jan und Aleida Assmann, dessen Partizipation an der Konstruktion von

4 | Vgl. dazu Inge Baxmann, „Der Körper als Gedächtnisort. Bewegungswissen und die Dynamisierung der Wissenskultur im frühen 20. Jahrhundert“, in: Dies. (Hg.), ­D eutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne, München 2005 (= Wissenskulturen im Umbruch Bd. 1), S. 15–35. 5 | Vgl. etwa Janine Schulze, Are 100 Objects Enough to Represent the Dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz, München 2010. 6 | Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2008, S. 9.

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Sinnentwürfen und Sinnkontexten betont.7 Gleichzeitig erwachsen daraus Ansätze zur Übertragung des Archivbegriffs auf Prozesse der Speicherung mittels digitaler Informationstechnologien.8

Inszenierung und Konstruktion. Die Volkstanzdokumentation Ungarn Bei dem großangelegten Projekt, das innerhalb der Tanzforschung bis heute einzigartig ist, machte Petermann in den Jahren 1972, 1976 und 1977 zahlreiche Filmaufnahmen in ungarndeutschen Dörfern. Ziel war die Dokumentation deutscher Volkstänze, die, so nahm Petermann an, bei der deutschen Minderheit in ‚ursprünglicherer‘ Form erhalten seien. Darauf lassen Aufzeichnungen in seinem Filmtagebuch wie „Hier leben Sie noch!“, „Hier sind Sie schon verklungen!“ oder „Durch ungarische Formen überdeckt!“ schließen.9 Die zwischen einer Länge von fünf bis 25 Minuten schwankenden Aufnahmen zeigen verschiedene Tänze wie Siebenschritt, Walzer oder Polka, ausgeführt von Tanzgruppen oder Dorfbewohner*innen im Freien, in privaten Wohnungen oder einem Tanzsaal. Kopien dieser Filme kursierten noch Jahre später in den Dörfern, um die Pflege ‚deutscher‘ Traditionen zu unterstützen und damit „einen Teil des Kulturerbes der Ungarndeutschen zu bewahren.“10 Interessant sind diesbezüglich die Erinnerungen Antal Reménys, der Petermann bei den Filmaufnahmen in Ungarn kennenlernte. Remény hatte 1954 als Dorflehrer in Pula ein Bühnenprogramm einer ‚typisch deutschen‘ Dorfhochzeit erarbeitet, mit Liedern und alten Festtänzen, die im Ort getanzt wurden. Fast zwanzig Jahre später kam Petermann nach Pula und fragte nach überlieferten Tänzen. Remény versuchte nun, die mittlerweile recht alten Musiker und Frauen zu aktivieren und „tatsächlich erschienen dann am 26.9.1972 […] vier Musikanten und neun Frauen festlich gekleidet auf dem Hof der damals noch betriebenen Schule“.11

7 | Ebd., S. 18. 8 | Vgl. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. 9 | Kurt Petermann, „Filmtagebuch Volkstanzdokumentation Ungarn“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 399. 10 | Antal Remény, „Ein Mann kam… Gedanken und Erinnerungen an Kurt Petermann“, in: Ilsedore Reinsberg (Hg.), In Memoriam. Dr. Kurt Petermann, Berlin 2002, S. 31. 11 | Ebd., S. 29.

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Melanie Gruß Abb. 1, Tanzende Alte in Pula

Quelle: Dokumentation zu Volkstanz in Ungarn 1972 von Kurt Petermann, Universitätsbibliothek Leipzig, Fotografische Sammlung des Tanzarchiv Leipzig.

Petermann ließ eine Kopie des Filmes zur Bewahrung der Tänze in Pula zurück, die jedoch Mitte der 1980er Jahre verloren ging. 1998 konnte Remény sich eine Ersatzkopie aus dem Tanzarchiv besorgen und die Tänze mit einer Kindertanzgruppe neu einstudieren. „Die inzwischen völlig vergessenen deutschen Tänze“, so Remény, „leben […] in dem Programm der Kinder […] weiter“, und er fügt hinzu: „Das ist zwar eine Kleinigkeit, aber Beweis dafür, daß die Reise und Arbeit Dr. Petermanns erfolgreich waren“.12 Die in der Volkstanzdokumentation aufgezeichnete Bewegung einer bereits mehr als zwanzig Jahre alten Inszenierung wird auf diese Weise zur Grundlage für eine neue (re)produzierte Bewegung, wobei der Film als Vermittler zwischen den Zeiten fungiert. Die mediale Aufzeichnung tritt als Stellvertreter an die Stelle des eigentlichen historischen, tänzerischen Ereignisses.13 Wirft das Filmmaterial eine Reihe von Fragen auf,14 so verwirklicht sich in der mehrfachen und medialen Transformation eine Verbindung tänzerischer Praxis mit tanzwissenschaftlicher Forschung, auf die alle von Petermann etablierten Praktiken und Techniken zur

12 | Ebd., S. 32. 13 | Vgl. dazu Janine Schulze, „Tanzarchiv sind Perpetuum Mobiles“, in: Dies. (Hg.), Are 100 Objects Enough to Represent the Dance?, 2010, S. 8–17, hier S. 11. 14 | Als empirische Feldforschung betrachtet sind beispielsweise die Rolle Petermanns und die Durchführung des Projekts methodisch durchaus kritisch zu bewerten.

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Archivierung von Tanz letztlich abzielten. Fordern die Aufnahmen Petermanns die Frage nach der Authentizität des Gefilmten geradezu heraus, so begründete die filmische ‚Dokumentation‘ des bereits Verschwundenen seine erneute Tradierung. Dieser Prozess war von Petermann bewusst intendiert: Unsere Dokumentationsarbeiten haben sich für die Entwicklung der Volkstanzpflege bei den Ungarndeutschen sehr positiv ausgewirkt, weil unsere Filme unwiederbringliches […] Material eindeutig fixiert haben und so Tanzgruppenleiter diese Dokumente […] nutzen konnten. Des Weiteren haben unsere Aktivitäten der Bevölkerung in den Dörfern bewußt gemacht, daß sie in ihren Tänzen ein Kulturerbe bewahren, das nicht nur alt, sondern auch sehr aufschlussreich für die kulturelle Entwicklung ihrer Region ist. Aus dieser Erkenntnis heraus haben sich in den Dörfern spontan kleinere und größere Tanzgruppen gebildet […].15

Deutlich wird daran, inwieweit Dokumentationsmethoden immer auch Momente der Inszenierung und Konstruktion bergen. Bringt gemäß Derrida „[d]ie Archivierung […] das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie es sie aufzeichnet“,16 so war die Volkstanzdokumentation keine Aufzeichnung alter, im Leben der Menschen verankerter Traditionen, sondern stellte diese erst mit einigem Aufwand her. Dabei muss unbedingt der gesellschaftliche Kontext mitgedacht werden, der bestimmte, was und wie ‚aufgezeichnet‘ und ‚archiviert‘ wurde. So verfolgte die Volkstanzdokumentation auch eine politische Strategie, die im deutsch-deutschen Verhältnis der 1970er Jahren verortet ist.17 In die Volkstanzdokumentation schrieb sich damit auch eine politisch-gesellschaftliche Ordnung ein.18

15 | Kurt Petermann, „Reisebericht zur Ungarnreise vom 21.–30.9.1982“, in: Nachlass Kurt Petermann, Korrespondenz Ministerium für Kultur, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 399. 16 | Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 35. 17 | So betonte Petermann gegenüber seinen Vorgesetzten, dass sich bereits auch westliche Forscher um die Ungarndeutschen bemühen und dadurch der Einfluss der DDR gefährdet sei. Vgl. Petermann, „Reisebericht zur Ungarnreise vom 21.–30.9.1982“. 18 | Vgl. dazu Patrick Primavesi, Theresa Jacobs, Juliane Raschel und Michael Wehren, „Körperpolitik in der DDR. Tanzinstitutionen zwischen Eliteförderung, Volkskunst und Massenkultur“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Ausg. 2015, S. 9–44.

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Verzettelung und Systematisierung. Vom Volkstanzarchiv zum Tanzarchiv der DDR Mit der Instrumentalisierung des Volkstanzes als kulturellem Erbe und seiner Reaktivierung mittels Filmaufnahmen vereint die Volkstanzdokumentation wesentliche Elemente, die bereits die Gründung des Tanzarchivs prägten. In den 1950er Jahren installierte die DDR auf allen Ebenen eine neue Volkskultur des Arbeiterund Bauernstaates und griff dafür vor allem auf volksnahe Formen zurück. Bei der Begründung eines nationalen Tanzerbes wurde neben dem Ballett der Volkstanz favorisiert, der auch für Laien zugänglich war und für die Anpassung an die Maßgaben des sozialistischen Realismus, wie sie mit den Bitterfelder Konferenzen 1959 und 1964 doktrinär verankert wurden, besonders geeignet schien. Dadurch entstand der Bedarf an fundiertem und ideologisch gesichertem Volkstanzmaterial auch im Sinne einer Abgrenzung von der Vereinnahmung des Volkstanzes im Dritten Reich.19 Die Einrichtung des Volkstanzarchivs als Sammlung traditionell überlieferter Folklore zum 1. Januar 1957 am Zentralhaus für Volkskunst20 zielte demnach auf die Wiederbelebung des Volkstanzes unter sozialistischen Vorzeichen. Als Leiter und einziger Mitarbeiter schilderte der Musikwissenschaftler Kurt Petermann in einem Manuskript von 1957 ausführlich seine Konzeption des zunächst gesamtdeutsch gedachten Archivs, aus der die politisch-ideologische Prägung des Sammlungsauftrages sowie die damit in Verbindung stehende systematische Herangehensweise klar hervorgehen: Da […] uns auf diesem Gebiete unseres nationalen Kulturerbes gewaltige Schätze überliefert sind, die auch für die Gegenwart nutzbar gemacht werden können, kann der ideelle und wissenschaftliche Wert eines solchen Archivs gar nicht hoch genug veranschlagt werden.21

19 | Vgl. dazu Hanna Walsdorf, Bewegte Propaganda. Politische Instrumentalisierung von Volkstanz in den deutschen Diktaturen, Würzburg 2010. 20 | Gegründet 1952 als Zentralhaus für Laienkunst der DDR in Leipzig, wurde die Institution 1954 in Zentralhaus für Volkskunst der DDR und 1962 in Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR umbenannt. Vgl. Miriam Norman, „Kultur als politisches Werkzeug? Das Zentralhaus für Laien- bzw. Volkskunst in Leipzig 1952–1962“, in: Kulturation. Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 42/22, 2019, unter: http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=113 [26.10.2019]. 21 | Kurt Petermann, „Gedanken zur Begründung und zum Ausbau eines Volkstanzarchivs in Deutschland“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 380/2/357, 1957, S. 6.

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Von dieser Begründung wurden die Aufgaben des Archivs abgeleitet, die nicht allein in der Sammlung und Erfassung des noch im Volke lebendigen Tanzgutes bestanden, sondern auch dessen Ordnung und Aufbereitung nach den Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus umfassten. In diesem Sinne erarbeitete Petermann die Systematik nach den neuesten Erkenntnissen der Katalogisierungstechnik als eine Kombination aus sprachbasierten archivarischen und bibliothekarischen Erfassungstechniken und speziell für das Medium der Bewegung ausgearbeiteten Dokumentationsmethoden, zu denen neben einer Tanznotation (Labanotation) auch Film- und Tonbandaufnahmen zählten. Daraus resultierten insgesamt sechs Abteilungen: Bibliographie, Materialsammlung, Bildsammlung, Filmarchiv, Schallaufnahmen sowie Neben- und Hilfswerke.22 Die Materialsammlung enthielt die Aufzeichnung der Tänze, die mehrfach katalogisiert und verzettelt wurden, um ergänzende Informationen in die Systematik aufzunehmen.23 Wurde dadurch das Auffinden der Tänze aus verschiedenen Perspektiven und die Herstellung von Beziehungen zwischen ihnen möglich, so lieferte die Katalogisierung zugleich auch deren Systematisierung nach diversen Ordnungsmustern. Sprengte die Fülle an Katalogen „den allgemeinen Rahmen der gebräuchlichen Verzettelungstechnik“,24 so schien Petermann einzig dieses Vorgehen dem zu archivierenden Gegenstand angemessen zu sein: Da der Volkstanz ein komplexes Gebilde ist, dessen Gestalt und Ausprägung von mindestens drei Faktoren (Musik, Bewegung und brauchtümlicher Inhalt) maßgeblich beeinflusst […}} wird, führt eine […] Ordnung der Tänze nach nur einer dieser Triebkräfte zu keiner befriedigenden Lösung. Bei einer Systematik, die den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, müssen neue Wege und Methoden gesucht werden, die es ermöglichen, alle wesentlichen Elemente des Tanzes gleichzeitig und anschaulich darzustellen.25

Fokus dieses gigantisch anmutenden Verzettelungsprojekts war die Bereitstellung von Tanz- und Bewegungsvokabular für praktizierende Volkstanzgruppen, d.h. die Möglichkeit zur Übersetzung des Materials in tänzerische Praxis. Die anhand der Volkstänze erarbeitete Systematisierung wurde in der Folge zur Grundlage der

22 | Vgl. ebd. S. 7. 23 | So gab es einen alphabetischen, einen musikalischen und einen topographischen Katalog, einen nach Verwandtschaft und Varianten der Volkstänze aufgebauten systematischen Sachkatalog, einen die Tänze nach gemeinsamen Bewegungselementen sortierenden choreographischen Katalog und einen Namenskatalog aller Sammler und Bearbeiter. Vgl. ebd. 24 | Ebd., S. 25. 25 | Ebd.

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gesamten Sammlung, die in der Logik Petermanns bald alle Tanzformen umfasste und zu epistemologischen Diskursen zum Tanz vordrang: Die sich mit der Gesellschaft wandelnden Funktionen und die die jeweilige Zeitepoche widerspiegelnden Tanzinhalte und vielfältigen Formen des Tanzes auf der Bühne, im geselligen Kreis, zur Repräsentation oder eingebunden in Sitte und Bräuche lassen sich nur durch komplexe Betrachtungen des Gesamtphänomens als Zeitdokument genau erfassen und wahrheitsgetreu interpretieren.26

Tanz wird hier weniger als Kunstform, sondern vielmehr als Repräsentation spezifischer historischer, gesellschaftlicher Verhältnisse beschrieben und dergestalt in die Logik des Marxismus-Leninismus eingepasst. So wurde das Volkstanzarchiv bereits zwei Jahre nach seiner Gründung 1959 in Deutsches Tanzarchiv umbenannt.27 Entsprechend differenzierte sich die komplexe Systematik bis zum Ende der 1960er Jahre in sieben Bereichen weiter aus: Literaturnachweis, Programmheftsammlung, Filmsammlung, Diskothek, Photosammlung, Manuskriptsammlung und Thesaurus Tanz. Alle Sammlungen waren durch ein komplexes Katalogsystem erschlossen und durch Verweisungen miteinander verbunden: Aus dem Bereich Literaturnachweis, der eine Handbibliothek und eine Mikrofilmsammlung enthielt, ging die ab 1966 in mehreren Bänden erscheinende Tanzbibliographie hervor, die den utopischen Versuch unternahm, die gesamte deutschsprachige Literatur zum Tanz mit Standortnachweisen sowie inhaltlichen und kritischen Annotationen zu erfassen.28 Zur Koordination der gesamten Sammlung diente der 1973 begonnene Thesaurus Tanz, der als „zentraler Wissensspeicher […] Quellen, Termini technici, systematische Ordnungskategorien und Hierarchien, Personennamen und topographische Begriffe ebenso wie Ballettinitien und Volkstanznamen“29 zusammenfassen sollte. Als „ein Großraumregister mit ausgeklügeltem Verweis­ system“30 ist der Thesaurus aus heutiger Sicht als eine Art Hypertextwerkzeug oder Suchmaschine und Vorwegnahme digitaler Strategien zu verstehen. Die hinter der A ­ rchivarchitektur liegende Denkordnung speiste sich dabei sowohl aus der

26 | Petermann, „Gestaltete Bewegung in Raum und Zeit als Dokumentationsobjekt“, 1979, S. 8. 27 | Vgl. Anne Bergel, „Interview mit Norbert Molkenbur“, in: Reinsberg (Hg.), In Memoriam. Dr. Kurt Petermann, Berlin 2002, S. 70–82, hier S. 73. 28 | Für die Photosammlung plante Petermann mit einer Tanzikonographie ein analoges Großprojekt, das über eine Sammlungsphase jedoch nie hinausgekommen ist. 29 | Petermann, „Gestaltete Bewegung in Raum und Zeit als Dokumentationsobjekt“, 1979, S. 22. 30 | Ebd.

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Technologiebegeisterung Petermanns wie auch aus dem sozialistischen Weltbild. „Archive“, so Sven Spieker, sind eben „nicht nur Sammlungen von Daten oder Informationen, sondern organisierte Räume, mehr oder minder komplizierte Topologien, die als solche der Tätigkeit des Archivierens keinesfalls äußerlich sind“.31 Die inhaltliche wie auch räumliche Ausweitung des Archivs führte um 1970 im Zentralhaus zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen die Abstoßung der nicht den Volkstanz betreffenden Teile zur Diskussion stand.32 Im Rahmen einer Neuordnung der Kulturarchive der DDR erfolgte stattdessen jedoch 1975 der Anschluss an die Akademie der Künste in Berlin (Ost), welcher bessere Arbeitsbedingungen in Aussicht stellte.

Dokumentation und Vermittlung. Zwischen Tanzpraxis und Tanzwissenschaft Als Außenstelle der Akademie erhielt das Tanzarchiv eine neue Ausrichtung, indem Petermann es ab 1975 gezielt als Basis einer zu schaffenden sozialistischen Tanzwissenschaft in Stellung brachte. Diese könne, so Petermann, „die vielfältige Bedeutung des Tanzes und seiner Funktion bei der Ausbildung der Gesellschaft […] nachweisen und […] neue Quellen und Fakten zum Geschichtsbild einer Epoche zur Verfügung stellen“.33 Auftrag des Tanzarchivs war es damit, das „synthetische Kunstwerk Tanz dokumentarisch zu erfassen“,34 so dass es unter wissenschaftlichen Fragestellungen untersucht werden kann. Diese Neuausrichtung auf den künstlerischen Tanz und die Tanzforschung schlug sich in den Beständen nieder, die nun Künstlernachlässe, z.B. von Rudolf von Laban, integrierte. Ergänzend fügte Petermann den bisherigen Arbeitsbereichen außerdem die Beratung von Choreograph*innen und jungen Künstler*innen hinzu.35 Dabei verband er Wissenschaft und künstlerische Praxis mit dem Ziel der Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Denn nur „wenn die Rückkopplung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die künstlerisch praktische Arbeit gewährleistet ist, werden Leistungssteigerungen, die den Bedürfnissen unserer Gesellschaft adäquat sind, zu verzeichnen sein“.36 Dahingehend plädierte Petermann energisch für den Einsatz der Filmtechnik im Bereich der Dokumentation:

31 | Sven Spieker, „Die Verortung des Archivs“, in: Ders. (Hg.): Bürokratische Leidenschaften. Kultur- und Mediengeschichte im Archiv, Berlin 2004, S. 7–25, hier S. 9. 32 | Vgl. Bergel, „Interview mit Norbert Molkenbur“, 2002, S. 75. 33 | Kurt Petermann, „Aufgaben und Möglichkeiten der Tanzwissenschaft in der DDR“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 380/1/263, S. 2f. 34 | Ebd., S. 2. 35 | Petermann, „Tanz als archivalisches Dokument“, 1979, S. 6f. 36 | Petermann, „Aufgaben und Möglichkeiten der Tanzwissenschaft in der DDR“.

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Melanie Gruß Für den Tanzpraktiker ist der Film […] eine ideale Aufzeichnungstechnik, die zwar finanziell sehr aufwendig ist, die er aber jederzeit anfertigen lassen und mit der er ohne besondere Vorstudien arbeiten kann.37

Seit Bestehen des Tanzarchivs produzierte Petermann zahlreiche filmische Dokumentationen in der Überzeugung, dass „in Zukunft […] in Tanzarchiven der Tanzfilm als primäres Dokumentationsobjekt den größten Raum“38 einnehmen wird. Hinter den Filmaufnahmen der Volkstanzfeste, der Arbeiterfestspiele, der Ballettwettbewerbe, der Palucca-Unterrichtsmethode oder eben der Volkstänze der Ungarndeutschen stand natürlich ein kulturpolitischer Auftrag. Abb. 2, Petermann bei Filmaufnahmen in Ungarn

Quelle: Dokumentation zu Volkstanz in Ungarn 1972 von Kurt Petermann, Universitätsbibliothek Leipzig, Fotografische Sammlung des Tanzarchiv Leipzig.

Konnte das Tanzarchiv an der Akademie seinen Wirkungsradius zwar deutlich erhöhen, so stellte sich eine Tanzwissenschaft ebenso wenig ein wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der Briefwechsel zwischen Petermann und der Akademie lässt darauf schließen, dass finanzielle Schwierigkeiten im Kontext des

37 | Ebd., S. 6. 38 | Petermann, „Gestaltete Bewegung in Raum und Zeit als Dokumentationsobjekt“, 1979, S. 7.

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zunehmend maroden Staatshaushaltes der DDR zu einem Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit beitrugen. Dieser Umstand traf besonders die Kosten für die technische Ausstattung des Tanzarchivs und den Bereich der filmischen Aufzeichnung. So wurden die Mittel für Filmaufnahmen in den 1980er Jahren immer weiter gekürzt und Anträge auf einen Filmprojektor, Kassetten-Rekorder oder eine Kleinbildkamera immer wieder abgelehnt, trotz mehrfachen Appellen Petermanns.39 So bat er beispielsweise 1983 bereits das fünfte Jahr hintereinander um einen Videorekorder, der nur im westlichen Ausland erhältlich war. Allein die Kosten für eine 1981 beantragte elektronische Schreibmaschine, die für die umfassende Verzettelung eine große Arbeitserleichterung bedeutete, beliefen sich auf 13 000 Mark.40 Gelang es Petermann, vertraut mit den neuesten Datenverarbeitungs- und Informationstechnologien, dennoch eine erstaunliche, gut systematisierte Sammlung zusammenzutragen, so scheiterten viele seiner Bemühungen an der Mangelwirtschaft der DDR. Mittlerweile sind die Bestände des Tanzarchivs größtenteils in digitalen Katalogen erfasst und Petermanns Vorstellungen scheinen eingelöst. Bei genauerer Betrachtung erwachsen mit der digitalen Informationstechnologie jedoch neue Schwierigkeiten der inhaltlichen, semantischen Verknüpfung der einzelnen Daten in riesigen Datenbanken, die Petermann mit seiner Verzettelungstechnik unter den damals gegebenen Umständen bereits praktizierte. So schlug er mit den für das Tanzarchiv entwickelten Archivierungsmethoden eine Brücke zwischen den Zeiten, und zwischen Wissenschaft und tänzerischer Praxis, die es zu rekonstruieren gilt.41 Auf welche Weise sich darin die Machtstrukturen der sozialistischen Diktatur eingeschrieben haben und umgekehrt über das Tanzarchiv wiederum auf reale Körper in der DDR zurückwirkten, wird im Einzelnen noch zu untersuchen sein.

39 | Vgl. Kurt Petermann, „Korrespondenz Akademie der Künste 1975–1983“, in: Nachlass Kurt Petermann, UB Leipzig/Tanzarchiv Leipzig, NL 399. 40 | Ebd. 41 | Siehe dazu auch Patrick Primavesi und Sabine Huschka, „Archiv/Praxis. Verkörpertes Wissen in Bewegung“, in Milean Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß und Judith Schäfer (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 425–449.

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Wiederholungswiderstände Christoph Winklers Spiel mit Ernest Berk und die paradoxale Technik des Rekonstruierens Patrick Primavesi We came from beyond. Coming from beyond to have a look at these creatures called men, we have established that they are intelligent, extremely perceptive, and sensitive. Yet, we failed to understand their behaviour, their actions, their way of life. Look, look! That‘s queer. What’s up?

Was zunächst wie der Beginn eines Science-Fiction B-Movies aus den 1960er ­Jahren wirkt, ist ein Element der Materialmontage, die Christoph Winkler an den Anfang seiner erstmals im Januar 2018 gezeigten Produktion Ernest Berk. The Complete Expressionist gesetzt hat. Während die Worte aus dem Off zu hören sind, beginnt eine Art Zeitreise in die 1960er und 70er Jahre als Phase der Experimente, mit denen elektronische Musik, bildende Kunst, Performance Art und Tanz an die Avantgarden der 1920er Jahre anknüpften und doch ganz andere Perspektiven auf das Verhalten, Handeln und Kommunizieren dieser seltsamen, Menschen genannten „Kreaturen“ entwickelt haben. So eröffnet der Prolog mit seiner quasi anthropologischen Mission zugleich einen fremden, ,außerirdischen‘ Blick auf die Akteure, und – wie sich noch zeigen wird – auch auf das Publikum dieses Abends, das in den Versuch einer Wiederholung involviert ist, die ihre eigene Unmöglichkeit demonstriert. Diese Paradoxie hat die neuerliche Praxis der Rekonstruktion oder des ­Re-enactments moderner Tanzstücke stets begleitet, als ein Spannungsverhältnis zwischen den Spuren vergangener Ereignisse und den stets unzulänglichen Formen ihrer Rekonstruktion. Wenn fraglich bleibt, ob es überhaupt ein Rekonstruieren geben kann, das nicht bloß auf die ein oder andere Weise die Unmöglichkeit der Wiederholung zu manifestieren gezwungen wäre, sind es doch gerade diese ‚Arten und Weisen‘, Künste und Kunstgriffe, welche als Spielarten einer­­paradoxalen Technik genauer zu beschreiben sind. Dafür ist nicht nur zu ­berücksichtigen, dass die vielfältigen Techniken des Reproduzierens in der Aus­einandersetzung mit verschiedenen körperlichen Techniken des Tanzes und der Bewegung entstanden sind. Außerdem sind diese Prozesse zumeist auch geprägt von T ­ echniken und

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Technologien der medialen Aufzeichnung, Speicherung, Reproduktion und Verknüpfung einzelner Spuren von Tanz und Bewegung. Die besondere Medialität des Rekonstruierens soll hier am Beispiel von Christoph Winklers Ernest BerkProduktion skizziert werden. Dabei wird es vor allem um die Widerstände gehen, die den Versuch des Wiederholens gerade insofern zu einer Technik machen, als sie ihn zugleich antreiben und durchkreuzen. Berk war aber nicht nur Tänzer und Choreograph, sondern auch ein Pionier elektronischer Musik, der mit Tonband­ maschinen zu komponieren begann und Techniken wie das Sampling vorwegnahm. Winklers Projekt hatte zugleich mit der choreographischen Arbeit von Berk auch dessen Gebrauch der damals neu entwickelten Tonbandtechnik zum Gegenstand, durch die er selbst schon Verfahren der Rekonstruktion und Manipulation von Geräuschen und Klängen anwenden konnte.

Voraussetzungen: Technik und Reproduzierbarkeit Die Potentiale und Probleme künstlerischer Rekonstruktionen lassen sich kaum unabhängig vom Begriff der Technik beschreiben. Dabei geht es nicht nur um die Verfahrensweisen der künstlerischen Praxis und um die von neuen Technologien bewirkten Veränderungen im Status des Kunstwerkes, sondern auch um eine wechselseitige Durchdringung von Kunst und Technik, die schon in begriffsgeschichtlicher Perspektive auffällt: Im griechischen Wort techné überlagern sich die allgemeinen Bedeutungen von Geschicklichkeit, Handwerk, Kunst und Wissen mit der speziellen Idee von Kunstgriff und List wie auch mit der Bedeutung des Kunstwerkes als Erzeugnis und Produkt. Das Adjektiv technikós steht für kunstgemäß, kunstvoll oder kunstverständig. Im neuzeitlichen Verständnis von Technik überwiegt jedoch die Bedeutung ‚Verfahren‘ und ‚Vorgehensweise‘ und in der Moderne auch die Auffassung von Technik als einem Mittel oder Instrument zur Erreichung bestimmter Zwecke. Mit dieser Entwicklung einhergehend hat sich auch das Verhältnis von Kunst und Technik grundlegend gewandelt, wie es vor allem Walter Benjamin in dem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit reflektiert hat. In der Geschichte von Medien der technischen Reproduktion sieht Benjamin Lithographie, Photographie und Tonaufzeichnung als entscheidende Etappen. Mit der Tonaufzeichnung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts habe die technische Reproduktion schließlich „einen Standard erreicht, auf dem […] sie sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen eroberte“.1 Indem das „Hier und Jetzt“, die Echtheit bzw. die

1 | Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Erste Fassung), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1980 [1935], S. 431–469, hier S. 437.

Wiederholungswiderstände

Aura eines Kunstwerkes durch technische Reproduzierbarkeit an Bedeutung verliert, wird auch die geschichtliche Zeugenschaft des Werkes, seine Einbettung in die Tradition, in Frage gestellt. Diese „Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“, die Ablösung des „Kultwertes“ eines Kunstwerkes durch seinen neuen „Ausstellungswert“,2 manifestiert für Benjamin zugleich eine Emanzipation der Technik von früheren Bindungen an magische Prozeduren und Rituale. So wird die technische Reproduktion schließlich zur Voraussetzung des Kunstwerks: „Das reproduzierte Kunstwerk ist in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.“3 Diese Eigendynamik, die Benjamin vor allem für den Film hervorhebt, entspricht auch seinem Denken der Transformationen, die von Kunstwerken durchlaufen werden im Prozess ihres Fortlebens, durch Kommentar, Kritik und Übersetzung, aber auch im Theater. Verfahren der Dekonstruktion vorwegnehmend hat er diese Praktiken daraufhin analysiert, inwieweit sie den Werken inhärente Dynamiken zur Geltung bringen, die deren eigene Totalitätsbehauptung unterlaufen.4 Auch das Verfahren der künstlerischen Rekonstruktion wäre eine solche Praxis, insofern es häufig gerade die disparaten Momente einer Aufführung sind, die nach erneuter Bearbeitung verlangen. Hinzu kommt aber das Moment der technischen Reproduktion, das Benjamin insofern konkretisiert, als damit die soziale Funktion von Kunst nicht mehr auf das Ritual, „sondern auf eine andere Praxis“ fundiert ist, auf „Politik“.5 Die darauf basierende – rückblickend als zu optimistisch erscheinende – Auffassung des Films als Medium, das durch seine Kollektivrezeption ein fortschrittliches „Verhältnis der Massen zu Kunst“ begünstige, wird im Text schon teilweise relativiert. So hebt Benjamin angesichts der Zerstörungsphantasien des Futurismus und auch im Hinblick auf die „Ästhetisierung der Politik“ im Faschismus eine strukturelle Verknüpfung des Films gerade mit den destruktiven Bedingungen des Krieges hervor: „Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren.“6 In der neueren Medientheorie ist dieses Verhältnis zwischen Krieg und Medientechnik zu einem zentralen Topos geworden, von dem neben Jean Baudrillard und Paul Virilio auch Friedrich Kittler in seiner Studie Grammophon Film ­Typewriter ausging. Darin kommt der Aufzeichnung auf Magnettonband eine besondere Rolle zu, verband sich dessen maßgebliche Verbesserung um 1940 durch

2 | Ebd., S. 439, 441, 443. 3 | Ebd., S. 442. 4 | Vgl. dazu Patrick Primavesi, Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Frankfurt a. M. 1998. 5 | Benjamin, Das Kunstwerk, 1980 [1935], S. 442. 6 | Ebd., S. 459, 468.

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Techniker von BASF und AEG doch bald mit dem Zweck der propagandistischen Reportage von Kriegsschauplätzen und der Kontrolle von Funksprüchen im Informationskrieg der Spione und Doppelspione.7 Es ermöglichte neben Aufzeichnung und Wiedergabe erstmals auch die beinahe spurlose Manipulation von Daten, als Grundlage für den Betrieb von Computern ebenso wie für den Ausbau der Unterhaltungsindustrie: Das Weltkriegstonband eröffnete die musikalisch-akustische Gegenwart. Über Speicherung und Übertragung, Grammophon und Radio hinaus schuf es Imperien der Simulation. […] Eine vom Tonband revolutionierte Soundproduktion hat Befehle erübrigt. Speichern, Löschen, Auslesen, Vorlaufen, Rückspulen, Schneiden – die Zwischenschaltung von Tonbändern in den Signalweg vom Mikrophon zur Masterplatte macht Manipulation selber machbar.8

Das Verhältnis von Kunst und Technik hat sich in dieser Perspektive weitgehend umgekehrt: Wie schon von Benjamin angedeutet, werden Reproduktion und Reproduzierbarkeit immer mehr zur Voraussetzung von Kunst. Darauf verweist auch Kittler mit der an anderer Stelle formulierten Frage, „ob nicht die Medien selber zu Künsten einer technischen Zeit geworden sind und ihren Stellenwert übernommen haben“.9 Was von den Künsten bleibt, wenn sie in zunehmendem Maße von medialen Techniken ersetzt werden, ist allerdings nicht mehr die Hervorbringung von Werken, so sehr sich die Debatte um urheber- und verwertungsrechtliche Bestimmungen daran noch orientieren mag. Ins Zentrum rücken eher die Praktiken, das hieße Techniken und Technologien nicht nur im Sinne zweckmäßig eingerichteter Apparaturen, sondern ein komplexes Feld von Verfahrensweisen, Methoden und auch Taktiken. Martin Heideggers Aufsatz Die Frage nach der Technik weist bereits in diese Richtung, indem er zwar einerseits für das „Wesen der Technik“ eine metaphysische, nur außerhalb des Technischen zu leistende Bestimmung andeutet, andererseits aber von Praktiken ausgeht: „Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten sind Weisen des Entbergens.“10 Technik wäre als „herausforderndes Entbergen“ von dem „hervorbringenden Entbergen“ der Kunst zu unterscheiden, gleichwohl noch daran orientiert. Wie Andreas Luckner gezeigt hat, kann Kunst in

7 |  Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 162–164. 8 | Ebd., S. 164–166. 9 | Ders., „Synergie von Mensch und Maschine“, in: Florian Rötzer und Sara R ­ ogenhofer (Hg.), Kunst machen? Gespräche über die Produktion von Bildern, Leipzig 1993, S ­ . 83– 102, hier 88. 10 | Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13–44, hier 24.

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diesem Kontext als ein notwendiges Korrektiv von Technik gelten, da sie das ‚Herstellen‘ nicht wie diese nur zweckmäßig rationalisiert und optimiert, sondern als Prozess und als Spiel mit den unkontrollierbaren Möglichkeiten des Seins „selbst durchschaubar macht“.11 Dieses Ideal eines zugleich durchschaubaren und kreativen Spielens lässt sich aber nicht mehr auf ein metaphysisches Wesen der Technik verpflichten, sondern hätte eher schon mit Benjamins Forderung nach einer Kollektivierung der Kunst zu tun, die ihre Werkstatt öffnet, ihre Verfahren ausstellt und weitergibt. In dieser Perspektive ist Christoph Winklers Spiel mit der choreographischen und technologischen Praxis von Ernest Berk auch als ein Experiment anzusehen, das die Frage nach der Rekonstruktion individueller Techniken in eine kollektive Technik des Rekonstruierens überführt.

Rekonstruktion als paradoxale Technik Seit etwa zwei Jahrzehnten arbeiten Choreograph*innen und Tänzer*innen zunehmend mit Rekonstruktion als einer eigenen Technologie, im Sinne eines spezifischen Wissens, das in komplexen Praktiken zum Ausdruck kommt und diese reflektiert. Paradoxal können die Techniken des Rekonstruierens und das von ihnen ausgehende Wissen insofern genannt werden, als sie stets ihre eigene Unmöglichkeit manifestieren. Diese ist nicht etwa bloß einem Mangel an Materialien, Dokumenten und Erfahrungen geschuldet, sondern eng verknüpft mit einem auf Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit abzielenden Selbstverständnis künstlerischer Praxis. So begegnen Widerholungswiderstände nicht nur in Bezug auf die Anfänge des modernen Tanzes, sondern auch bei Versuchen, neuere Formen von Tanztheater oder minimalistische und postmoderne Tanzformen zu bearbeiten. Auch hier geht es weniger um das Ideal einer genauen Rekonstruktion als um die Formulierung einer jeweils eigenen Position in der Arbeit mit Verlust und Differenz, woran sich zugleich Veränderungen im Verhältnis von Gegenwart und Tradition abzeichnen. Als sich die künstlerischen Praktiken von Performance, Live Art und ­Happening seit den 1960er Jahren dem einmaligen Augenblick verschrieben, der Unwiederholbarkeit des intensiv erlebten Moments, folgten sie bereits einer von den historischen Avantgarden etablierten Ökonomie der Verausgabung. Diese Tendenz bestimmt bis heute das Selbstverständnis einer Praxis, die sich oft noch an den Aufbruchsbewegungen im modernen Tanz orientiert. Umso aufschlussreicher sind die Probleme und offenen Fragestellungen, die mit den Techniken der Rekonstruktion einhergehen. Oft machen sie Diskontinuitäten und Brüche erfahrbar, in der künstlerischen Praxis und dem damit verbundenen Körperwissen ebenso wie im kulturellen Gedächtnis von Dokumenten, Medien und A ­ rchiven.

11 | Vgl. Andreas Luckner, Heideggers Denken der Technik, Bielefeld 2008, S. 121–123.

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Versuche zur Rekonstruktion erweisen sich ja zugleich als eine notwendige Auseinandersetzung des zeitgenössischen Tanzes mit seiner eigenen Historizität. Gerade d­ arin liegt aber eine genuine Möglichkeit theatraler Praxis, dass sie im Unterschied zur technischen Reproduktion den Vorgang der Wiederholung als einen nicht auf Identität, sondern auf Differenz, Abweichung und Verfremdung gerichteten Prozess begreifen kann. Ansätze in dieser Richtung sind in der aktuellen Tanzpraxis vielfältig, reichen von Martin Nachbars Urheben Aufheben über Fabian Barbas Mary Wigman Dance Evening bis hin zu Christina Ciupkes und Anna Tills Undo, Redo and Repeat, in dem auch die Weitergabe künstlerischen Wissens thematisiert wurde. Sobald Rekonstruktion nicht mehr nur als Bemühen um die Wiederherstellung eines verlorenen Werkes angesehen wird, kommen vor allem Techniken in den Blick, ökonomische und politische Kontexte und eine Dynamik der Überschreitung, die sich der Konstruktion kultureller Identität entzieht. Dementsprechend ist auch Winklers Berk-Projekt genauer zu verorten, bei dem sich drei verschiedene Techniken oder Technologien überlagern: die Körper­ techniken des Tanzes und der Bewegung, die medialen Technologien der Aufzeichnung, Bearbeitung und Reproduktion von Geräuschen und Tönen, sowie die Arbeit an der choreographischen Montage und Synthese, die bei Berk zu einer Vielzahl von kombinierten Praktiken geführt hat, die weit über das für den Ausdruckstanz und seine Rezeption ansonsten vorherrschende Verständnis von Kunsttanz hinausreichen. Indem Winklers Auseinandersetzung mit Berk diese drei Ebenen von Technik bearbeitet und spielerisch produktiv macht, kann seine Rekonstruktionsarbeit zugleich als paradoxale Technik und als eine Technik des Paradoxalen gelten: als die Vorführung einer Wiederholung, die ihre eigene Unmöglichkeit zum Ausdruck bringt.

Ernest Berk – The Complete Expressionist 1909 in Köln geboren, kam der Sohn eines englischen Architekten nach ­seiner Schulzeit in Berührung mit dem Buddhismus.12 Nach ausgedehnten ­ Reisen studierte er Musik und Tanz bei einem javanischen Tänzer und bei Chinita ­Ullmann, einer aus Brasilien stammenden Schülerin Mary Wigmans. Mit Lotte ­Heymansohn, die ebenfalls bei Ullmann Tanz studierte, begann er ab 1930 eine gemeinsame Karriere als Ausdruckstänzer. Damals arbeitete er auch für Max Reinhardt, spielte unter anderem den Puck in dessen Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum. Da er sich nach 1933 mit antifaschistischen Satiren engagierte und da Lotte Berk jüdischer Herkunft war, mussten sie schließlich aus

12 | Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Studie von Martin Köhler, „Dann kommt zusammen, macht Musik, singt und seid fröhlich“. Die elektronische Musik Ernest Berks, Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 37–54.

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Deutschland fliehen. Eine 1934 nach ihrer letzten Aufführung anonym erschienene Kritik schildert Berk als agilen, rhythmisch bewegten Tänzer mit exotischer Aus­strahlung: Gern macht dieser Tänzer von dem geschmeidigen Spiel der Arme und Hände Gebrauch, das an exotische Tanzformen erinnert und wie ein biegsames Ornamentgeranke im Raum lebt, wie überhaupt seine Tanzkunst weniger von einem bewussten Willen als von einem fließenden rhythmischen Spiel der Bewegungen geleitet wird. […] Die stärkste Leistung: ein weiträumig gegliederter exotischer Tanz, der seine immer beschwingte Form spielend zwischen Kult und Dämonie fand.13

In London konnten Ernest und Lotte Berk nach dem Zweiten Weltkrieg eine Tanzschule gründen und die Modern Dance Group. Über den mit seiner Tochter befreundeten Konzeptkünstler Yves Klein lernte Berk Anfang der 1950er Jahre in Paris die musique concrète bei den Komponisten Pierre Schaeffer und Pierre Henry kennen. Von ihren Experimenten inspiriert trat er selbst bei einer TanzAufführung am 17. März 1952 im Théâtre du vieux Colombier auf – zu Musik von Schlagzeug und Ondes Martenot, einem Vorläufer des Synthesizers. In London richtete er sich dann 1953 – mit Hilfe des ihm befreundeten Experten Rupert Neve – ein Studio mit eigenen Tonbandmaschinen, Verstärkern und Mischpult ein, wo er elektronische Musik komponierte, die er auch für Tanztraining und Improvisation nutzte. Schon von Chinita Ullmann hatte Berk viel über lateinamerikanische und ­indianische Traditionen in rituellen Tänzen erfahren, die stets auch mit speziellen Instrumenten begleitet wurden. Mit einer großen Sammlung solcher Instrumente und sonstigen Schallquellen entwickelte er Techniken des Sampling und der Manipulation von Klängen, die ihn bald zu einem Pionier der elektronischen Musik in England werden ließen.14 Neve half ihm, seine technische Ausstattung weiter zu verbessern. Bis in die 1980er Jahre führte er seine Schule für Tanz und Bewegung in einem Londoner Basement, wo sein Studio die Möglichkeit bot, TanzSessions mit einer jeweils speziell darauf abgestimmten Musik zu begleiten. Mit seiner zweiten Frau Ailsa gründete Berk in den 1970er Jahren die Dance Theatre Commune und eine zusätzliche production group, mit der er zahlreiche Stücke aufführte, von Improvisationen und Happenings bis hin zu dem Antikriegs-Spiel The Shield of Achilles und der Hommage to Soledad Brothers, in Erinnerung an den militanten schwarzen Bürgerrechtler George Jackson, der bei einer Gefängnis-

13 | E., „Tanzabend E. H. Berk“, in: Kölnische Zeitung/Stadt-Anzeiger, 30.10.1934, hier zitiert nach Köhler, „Dann kommt zusammen“, 2006, S. 42. 14 | Vgl. dazu Ian Helliwell, „A Diversed Mind & Body“, in: The Wire, Ausg. 380, Oktober 2015, S. 26–31.

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revolte umkam. Die Dance Theatre Commune hatte wie Berks Arbeit insgesamt eine antiautoritäre, transkulturelle und transdisziplinäre Ausrichtung, verband die verschiedenen Medien und Künste ebenso wie Laien und professionelle Akteure: Electronic Music and Modern Ballet are of special importance but Dance Theatre Commune is striving for total theatre where lights, electronic music, dance, poetry, film, etc. are blended to create an exciting art form. The Commune includes a wide variety of people – some professional, some not – working together performing, choreographing, composing, designing, lighting, etc. under the inspiration and guidance of Ernest and Ailsa Berk. […] Dance Theatre Commune has already presented its work with success, to the public. Studio concerts of electronic music and workshop productions at Stanhop Institute are held regularly. The workshop provides an opportunity for Commune members to explore dance as a media for communication of ideas and concepts in relation to music, poetry, light, sound, film, costumes, etc. The Commune also incorporates an active Street Theatre group which meets every Sunday morning to experiment with encounter work, sensitivity training, dance movement and drama.15

Mit Kindern zu arbeiten war für Berk ebenso wichtig wie das regelmäßige Perkussions-Training und diverse Formen von Straßentheater, mit denen er die im Studio entwickelten Bewegungsstrukturen im öffentlichen Raum testen konnte. Auch damit nahm er bereits vieles vorweg, was sich an ortsspezifischen und interventionistischen Praktiken später entwickeln sollte. Zu Berks Eigenheiten zählte seit den 1970er Jahren außerdem ein freizügiger Umgang mit körperlicher Nacktheit, Ausdruck einer weitgehend anarchischen Lebensweise, die ihrerseits schon als Wiederaufnahme der vor dem Ersten Weltkrieg u.a. von Rudolf Laban initiierten kultischen Inszenierung von Nacktheit auf dem Monte Verità in Ascona erscheinen kann. Die Mischung aus der Begeisterung für die elektronische Medientechnik und einer auf die Contact Improvisation vorausweisenden Körpertechnik erweist Berk als eigensinnigen Künstler, der stets an einer Überschreitung kultureller Konventionen und Grenzen gearbeitet hat. Dementsprechend schwierig und problematisch muss von daher allerdings der Versuch einer einer Rekonstruktion von Berks Tanzstücken erscheinen, bei denen es ja vor allem um den Prozess und um die Erfahrung einer körperlichen Begegnung auch mit dem Publikum ging.

Techniken der Rekonstruktion Christoph Winklers Annäherung an Ernest Berk ging von der Notwendigkeit aus, so viel wie möglich über Zeitzeug*innen zu erfahren, die noch selbst mit ihm gearbeitet hatten. Eine von ihnen, Rebecca Wilson, hatte in ihrer wissenschaftlichen

15 | Werbeblatt der ‚Dance Theatre Commune‘, Anfang 1970er Jahre, Privatsammlung.

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Studie The Complete Expressionist auch das Motto vorgegeben, das Winkler über seine Rekonstruktionsarbeit gestellt hat (wobei completeness weniger im Sinne von Ganzheit oder Vollständigkeit, sondern vielmehr als Intensität zu verstehen ist). Wie sich Biddy Barcley, eine weitere Schülerin und langjährige Mitarbeiterin erinnerte, hatte Berk als Tänzer zugleich einen starken mimischen Ausdruck, als das im modernen Tanz sonst noch kaum üblich war: „He was very interested in using the face […] every atom, every bit of him down to his tiny toe, the hairs on his head, would be expressing something.“ Die von Winkler geführten Gespräche über die Erfahrungen mit Berk wurden (von Andrea Keitz) in den Wohnungen der Befragten gefilmt und in Auszügen auch in die Aufführung integriert.16 Dabei war die Ebene des Materials und der Dokumente von Anfang an präsent, in einer Montage aus den für Berks Musik elementaren Details seines medientechnischen Labors und Erinnerungen an seine auf Improvisation basierende und mit dem Aufbau innerer Energie arbeitende Körper- und Tanztechnik. Weitere Grundlage für Winklers Rekonstruktion einzelner Stücke aus verschiedenen Phasen von Berks Schaffen war eine Sammlung seiner Kompositionen in 180 Tonaufnahmen, die sich in Martin Köhlers musikwissenschaftlicher Studie noch erhalten hatten, nachdem die im Kölner Stadtarchiv aufbewahrten Originale beim skandalösen Einsturz des Gebäudes im Jahr 2009 verschüttet und teilweise zerstört worden waren. Mithilfe der Musik sowie einiger Fotos und Beschreibungen und schließlich der Aussagen ehemaliger Mitarbeiter*innen und Schüler*innen, darunter auch Royston Muldoon, konnte Winkler eine ungefähre Idee für die Atmosphäre und Struktur der Stücke erhalten. Für die zehn jungen Tänzer*innen, mit denen er die Szenen des über zweistündigen Abends entwickelte, musste er zunächst Situationen für die Annäherung an das Material schaffen. Und auch das Publikum, das im Theatersaal des Hebbel am Ufer (HAU 2) auf dem Boden sitzen oder liegen konnte, wurde mit ganz verschiedenen Impulsen an die disparaten Elemente der Inszenierung herangeführt. Der Kontext für die Uraufführung war das Festival für elektronische Musik CTM im Januar 2018. Der Beginn des Abends verdeutlichte bereits die mehrfachen Rahmungen, die Winkler der eigentlichen tänzerischen Rekonstruktionsarbeit vorangestellt hat: Zuerst sind die Akteure, wie mit sich selbst beschäftigt, Teil der Bühnenlandschaft, aus Stücken von Berk zitiert, noch stärker futuristisch eingefärbt. Nach den auf der Leinwand eingeblendeten Fotos und Texten beginnt das erste Stück „What‘s up“ mit dem verzerrten, vermutlich von Berk selbst gesprochenen Text des Außerirdischen, der aus einer anderen Welt („from beyond“) gekommen ist, um das sonderbare Verhalten der Menschen besser verstehen zu

16 | Siehe dazu auch die Dokumentation auf der Website des ‚Tanzfonds Erbe‘, der das Projekt ermöglicht hat: https://tanzfonds.de/en/project/documentation-2017/thecomplete-expressionist [24.10.2019].

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lernen. Wenn die Gruppe der Tänzer*innen näherkommt, sehen wir nicht nur die Menschen, die sich uns und einem mit der Stimme assoziierten fremden Blick präsentieren. Zugleich können die Tänzer selbst als die Außerirdischen erscheinen, deren Blick auf das Publikum fällt, das sich damit ebenfalls fremd wird. Dieser schon von Brecht beschriebene Effekt der Verfremdung und Historisierung bezieht sich also nicht nur auf die 1970er Jahre, sondern auch umgekehrt, im Spiegel der damaligen Zeit auf unsere Gegenwart. Mit diesem fremden Blick erscheint der Abend, an dem später noch mehrere Stücke in völliger Nacktheit und mit ebenso exzessiven wie differenten Bewegungstechniken gezeigt werden, nicht mehr nur als Rekonstruktion eines vergangenen Werkes, eher als ‚Tanz der Zukunft‘. Winklers Ensemble zeigt mit großer Präzision und kreativer Energie Samples aus ganz unterschiedlichen Phasen von Berks choreographischer Arbeit, von pantomimischen Kammertänzen bis hin zum kollektiven Workout im Trance Dance. Mit dem Schluss des Abends, wenn die DJs group A, Rashad Becker und Pan Daijing die Musik von Berk ihrerseits bearbeiten, wird die Rekonstruktion auch akustisch durchkreuzt, für die Gegenwart geöffnet. Dabei führt das live zu erlebende Komponieren die Techniken weiter, die Berk in seinem Studio und in der Dance Theatre Commune entwickelt hat. Am Ende geht es auch hier nicht um Werktreue und Revival, sondern um die Spannung zwischen Differenz und Wiederholung. So arbeitet eine sich selbst aufs Spiel setzende Technik der Rekonstruktion mit Techniken, die – gerade als Praxis des Sampling und Re-Processing – weit über ihre Zeit hinausgingen. Die Produktivität dieses Spiels mit den Paradoxien der Rekonstruktion liegt eben darin, die Impulse von Berks Arbeit nicht aus der Vergangenheit wieder zu beleben, sondern aus der Zukunft zurückkehren zu lassen.

Abb. 1, Christoph Winkler, Ernest Berk – The Complete Expressionist (Berlin, Hebbel am Ufer, CTM-Festival 2018), Foto: Udo Siegfriedt.

Techniken des Reproduzierens Zur Sichtbarkeit des fotografischen Bildes in digitalen Archiven und Rechercheportalen Isa Wortelkamp Öffnet man das Rechercheportal ,Digital Collections‘ der New York Public Library, werden verschiedene Reproduktionsformen und -formate der von mir ausgewählten Fotografie angeboten: ,Stretched Canvas‘, ,Framed Art Print‘ oder ,Vintage Wood Sign‘. Wie im ,Fotoparadies‘ einer Drogeriekette kann ich die Fotografie aufgezogen auf eine Leinwand, gerahmt als Kunstdruck auf Papier oder auf Holztafel in verschiedenen Größen bestellen. Direkt neben den ,Download Options‘ für 300 und 760 Pixel wird außerdem der ,Original Scan‘ als Tiff-Datei von 50 bis 800 US-Dollar angeboten. Dabei handelt es sich um eine hoch aufgelöste TiffDatei, die ich für 50 bis zu 800 Dollar erwerben kann. Der Preis richtet sich nach dem Verwendungszweck, den ich im Nachdruckantragsformular – Permissions Request Form – angeben kann, wie etwa für den hier vorliegenden Text. Fürs Erste genügt jedoch die Ansicht der Fotografie auf der Seite der ,Digital Collections‘: Mary Wigman im Hexentanz. Sie dient hier als Beispiel einer Suche – oder auch beispiellosen Suche – im Internet, wie sie in unterschiedlichsten Forschungskontexten wohl immer wieder erfahren wird. Mit einem Klick begegnet uns eine Vielzahl von Dokumenten, die meist isoliert aus ihrem ursprünglichen Kontext in immer wieder anderen Konstellationen sichtbar werden. Das ist durchaus anregend – aus der Suche kann eine Sucht werden, oder ein Fluch, weil das gesuchte Objekt entweder gar nicht oder in unterschiedlichsten Ansichten und mit voneinander abweichenden Angaben erscheint. Anders als von der New York Public Library angegeben, handelt es sich hier nicht um eine Aufnahme von Hans Dursthoff, sondern von Hugo Erfurth, der Mary Wigman anlässlich des 1914 aufgeführten Hexentanzes in seinem Studio in Dresden fotografiert hat. Der Name Dursthoff – wie bei einem zweiten Blick zu ersehen – bezieht sich nicht auf den Autor, sondern auf den Verlag der Postkarte. Damit wäre auch ein genauerer Hinweis auf die Beschaffenheit des Mediums gegeben, das im Rechercheportal der Digital Collections nicht als Postkarte, sondern als Fotografie gehandelt wird.

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Isa Wortelkamp Abb. 1, Screenshot der Website Digital Collections NYPL, Postkarte Mary Wigman. Hexentanz, Foto: Hugo Erfurth, 1926.1

Weniger als die Frage nach den korrekten Angaben interessieren mich hier die Auswirkungen der medientechnischen Bedingungen der Fotografie und ihrer digitalen Reproduktion auf ihr ästhetisches Erscheinungsbild und auf eine historiografische Praxis in der Tanz- und Theaterwissenschaft. Hat sich diese lange Zeit mit Fragen der möglichen und unmöglichen Darstellbarkeit der Aufführung durch Fotografie befasst, rückt mit der Digitalisierung verstärkt das Dokument in seiner materiellen und medialen Beschaffenheit in den Blick. Mit ihr stellt sich einmal mehr die Frage, was erhalten bleiben soll und was nicht; was sichtbar gemacht werden soll und was nicht. Archive des Tanzes und des Theaters suchen seit geraumer Zeit nach geeigneten Mitteln, ihre Bestände zu digitalisieren und über Onlineportale zugänglich zu machen. Dabei ist die Recherche in digitalen Bildarchiven wie den Digital Collections der New York Public Library, der Agence photo de la Réunion des Musées nationaux et du Grand Palais, dem Prometheus-Bildarchiv, dem Archivportal der Deutschen Digitalen Bibliothek, aber auch kommerziellen Bilderdiensten wie Ullstein und Google schon lange Praxis der Forschung geworden. Ihre Oberflächen und Suchmaschinen bestimmen den Zugang zu Dokumenten, deren Sichtbarkeit durch die Technologien der Digitalisierung bedingt ist. Dies betrifft in einem hohen Maße die materiellen Bestandteile der visuellen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, die wesentlich von der Fotografie geprägt wurden.

1 | https://digitalcollections.nypl.org/items/929554b2-bcdd-b122-e040-e00a180612c3 [21.03.2020].

Techniken des Reproduzierens

Die Postkarte zum Hexentanz von Mary Wigman kann als exemplarisch für die Tanzfotografie der Moderne gelten und ist hier doch ‚nur‘ Beispiel für eine Recherchepraxis. Die Auswahl ist in der Prominenz von Fotograf und Tänzerin begründet, die hier weniger zu einer weiteren Kanonisierung beitragen, als auf die Bedeutung der medialen Präsenz von Tanzfotografie in digitalen und analogen Publikationsmedien hinweisen will. Der Sichtung einer Fotografie im Archiv geht meist die Recherche in digitalen Bildarchiven voraus oder ist gefolgt von der Betrachtung des digitalisierten Objektes am Bildschirm eines Computers. Im Folgenden sollen entlang dieser Rechercheerfahrungen die technologischen Bedingungen in ihren Auswirkungen auf das ästhetische Erscheinungsbild der Tanzfotografie und den historiografischen Umgang mit diesem näher beleuchten werden. Dazu werden verschiedene Ansichten der Postkarte präsentiert, wie sie mir im Zuge meiner Recherche – analog und digital – begegnet sind.

Ansichten einer Postkarte Die Postkarte ist die erste Bildquelle, die erscheint, wenn man auf der Seite der Digital Collections den Namen Mary Wigman eingibt. Wie so oft in der OnlineRecherche ist das Ergebnis der Suche eine Vielzahl von Bildern, die Eingang in die digitalen Datenbanken gefunden haben. Eine Bildersammlung, die durch den Namen des Rechercheportals der New York Public Library auch wortwörtlich aufgerufen wird. Dabei lässt sich der Begriff der ,Collection‘ nicht nur auf die Ansammlung verschiedener Bilder, sondern auch auf das Format ihrer Ausstellung beziehen. Die Referenz an die Sammlung als Präsentationsformat lässt sich in der Gestaltung der Hauptseite der New York Public Library sowie der fotografischen Sammlung nachvollziehen. In beiden Fällen ist das Bild im Plural organisiert und arrangiert. Plurale Formen der Sichtbarkeit sind, so wird auch im Begriff der Sammlung deutlich, keineswegs neu und aus der Kunstgeschichte bekannt – als Beispiel oft zitiert etwa der Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg. Er kann, wie Gabriele Brandstetter im Blick auf plurale Formen der Tanzfotografie hervorhebt, als Modell für eine tanzwissenschaftliche Perspektive gelten, die sich auf die Anordnungen und Konfigurationen der Bilder und darüber hinaus „auf das Erscheinen und Verschwinden, die Archiv-Präsenz und Latenz der Vielfalt von Tanzfotografie beziehen“.2 Sie rekurriert in ihrer Perspektive einer „kontingenten Pluralität“ auf David Ganz und Felix Thürlemann, die in ihrer Einführung zu Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart eine Systematisierung verschie-

2 | Gabriele Brandstetter, „Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne“, in: Tessa Jahn, Eike Wittrock und Isa Wortelkamp (Hg.), Tanz! Foto. Bewegung im Kontext, Bielefeld 2015, S. 41–50, hier S. 43.

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dener Formen der pluralen Bildlichkeit vornehmen. Dazu zählen auch Ausstellungen und Publikationen, die per se auf eine plurale Sichtbarkeit hin angelegt sind und sich nicht nur „permanent selbst auf temporäre Arrangements mehrerer Bilder“3 stützen, sondern sie auch produzieren. Dies betrifft nicht nur die Kunst- und Bildwissenschaft, sondern auch die Theaterwissenschaft, wenn auf Kongressen in zahlreichen PowerPoint-Präsentationen Beziehungen zwischen Bildern hergestellt werden, in dem sie nebeneinander, übereinander und hintereinander folgend – ­digitalisiert – an die Wand projiziert werden. Wenngleich Ganz und Thürlemann sich in ihrem Buch nicht auf plurale Bildformen im Internet beziehen, beschreibt folgendes Zitat doch besonders treffend, wie sich die Seite der Digital Collection auf die Wahrnehmung der Bilder auswirken kann: Das Zusammensehen von Bildern fordert vom Rezipienten zusätzlich eine Abstraktionsleistung, ein auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Bildern hin ausgerichtetes vergleichendes Sehen. Dieser kognitiv orientierte Blick unterscheidet sich radikal vom ‚einfühlenden‘ oder ‚verlebendigenden‘ Sehen, das eine isolierte Betrachtung einzelner Bilder provozieren kann. [...] Mit der Zahl der beteiligten Elemente vermehren sich die Möglichkeiten solcher Zuordnungen so rasant, dass man sich fragen kann, ob plurale Bildformen nicht bisweilen auf eine systematische Überforderung des Betrachters hinauslaufen können bzw. sollen.4

Nur scheinen diese Bilder weniger grafisch als zufällig arrangiert, wie beispielsweise die Deutsche Digitale Bibliothek und die kommerziellen Bilderdienste Google und Ullstein zeigen. Anders als in Publikationen und Ausstellungen unterliegt ihre Anordnung weniger formalästhetischen Prinzipien, die mitunter zu einer Beruhigung des Blickes beitragen kann, als einer algorithmischen Ordnung, in der unterschiedlichste Bilder in voneinander abweichenden Formaten und Farbigkeiten, Ausschnitten und Auflösungen miteinander kombiniert werden. Die Handhabung erfolgt am Computer per Mausklick – nicht durch das Umwenden einer Buchseite, das Wandeln durch Ausstellungsräume oder die Anhörung eines Vortrags. Den Weg, den wir auf einer Internetseite gehen, begehen wir meist alleine am Bildschirm und die systematische Überforderung, die beim Besuch einer oder auch mehrerer Rechercheportale eintritt, scheint Teil des Systems. Dazu tragen neben der pluralen Erscheinungsform der Bilder auch die variierenden Kontexte bei, die das gesuchte Bild in immer wieder anderen (Bezugs-) Rahmen stellen. Das vergleichende Sehen, das durch plurale Bildformen gefordert ist, wird hier zu einem Mit- und Zusammensehen in einer Ordnung, für die es

3 | Vgl. David Ganz und Felix Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural, Berlin 2010, S. 15. 4 | Ebd., S. 18.

Techniken des Reproduzierens

scheinbar keine Regeln gibt.5 Und doch: Die Ansicht einer Postkarte auf der Seite der Digital Gallery ist das Ergebnis digitaler (bild-)technologischer Prozesse, die die Ästhetik der Fotografie bzw. das, was man von ihr wahrnimmt, prägen. Sie ist, wie Gerlin, Holschbach und Löffler in ihrer Einleitung zu dem jüngst erschienenen Buch Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur6 schreiben, „nur die sichtbare Oberfläche eines komplexen Gefüges aus Hardware und Software, aus menschlichen und apparativen Aktivitäten, aus technologischen und ökonomischen Imperativen“.7 Die entscheidende Differenz zur analogen Fotografie liege dabei nicht nur im technologischen Wandel vom Korn zum Pixel, sondern in den Praktiken, die mit deren Einbettung in digitale Infrastrukturen entstanden sind und diese mitgestalten. Historiografische Praxis hat es dabei meist mit Hybridformen der Fotografie zu tun: mit digitalisierten analogen Fotografien. Die Digitalisierung erfolgt meist durch Scannertechnologien, durch die Bilder etwa als JPEG, TIFF oder PNG formatiert werden. Dabei erhalten sie Metadaten, die für computerisierte Datenanalysen genutzt werden: sie werden durch Suchmaschinen algorithmisch sortiert, weiterverarbeitet und verteilt. Diese Suchmaschinen übernehmen, wie Petra Löffler betont, „neben den traditionellen Archivfunktionen (Sammlungskorpora und deren Indizierung bzw. Katalogisierung) auch eine temporäre Ordnungsfunktion und organisieren Wissen.“8

Das Wissen um die Bilder – Fotografie als Reproduktionsmedium „Ein Wissen durch Bilder ist ohne Wissen über eben dieses Bild nicht zu haben“9, so pointiert der Kunst- und Medienwissenschaftler Steffen Siegel die leitende Hypothese der jüngeren bildwissenschaftlichen Forschung. Dieses Wissen um die Bilder – ihre Geschichte der Entstehung, ihrer Herstellung, Handhabung und Ver-

5 | Bettina Dunker zieht hier die Grenze, wenn sie sagt: „Doch nicht überall, wo mehrere Bilder aufeinandertreffen, handelt es sich um plurale Bilder. [...] Es ist die bewusste künstlerische Entscheidung, die eine Bildansammlung zum Bilder-Plural macht.“ Bettina Dunker, Bilder-Plural. Multiple Bildformen in der Fotografie der Gegenwart, Paderborn 2017, S. 10. 6 | Winfried Gerlin, Susanne Holschbach und Petra Löffler (Hg.), Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018. 7 | Ebd., S. 18. 8 | Ebd., S. 223. 9 | Steffen Siegel, „Ich sehe was, was du nicht siehst – Zur Auflösung des Bildes“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58/2, 2013, hg. v. Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald, S. 177–202, hier S. 180f.

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wendung in unterschiedlichsten Kontexten – ist dabei ebenso zu wahren und zu bewahren wie die Bilder selbst. Dazu zählen auch die medientechnischen Bedingungen, unter denen ein Bild in Erscheinung tritt und die unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit ihm bestimmen. Die plurale Sichtbarkeit der Fotografie ist wesentlich durch ihre Eigenschaft als Medium der Reproduktion bedingt oder ist ihr, wie die Kunsthistorikerin Martina Dobbe in ihren Ausführungen zu Fotografischen Bildanordnungen betont, immer schon eingeschrieben:10 Dies gilt natürlich in technischer Hinsicht, insofern die Fotografie als reproduzierendes Medium aufgefasst wird. ‚Reproduktion‘ kann im Bereich der Fotografie zweierlei bedeuten: einmal die Wiederholung der Wirklichkeit im Bild, dann aber auch die massenweise Vervielfältigung dieser Wiederholung – das reproduzierende und das reproduzierte Bild.11

Dabei interessiert hier weniger die Frage, was die Fotografie vom Tanz reproduzieren kann, als die Art und Weise ihrer Reproduktion, die mit der Digitalisierung der Archive zur Disposition steht. Die Möglichkeit zur Vervielfältigung hat zu einer Vielzahl an Erscheinungsformen beigetragen, die uns in zahlreichen tanzwissenschaftlichen Publikationen, in Zeitschriften, Internetportalen und Archiven begegnen. Das einzelne Erscheinungsbild der Fotografie ist dabei abhängig von ihrer Reproduktion als historischer oder aktueller Abzug, als künstlerisch aufbereitetes Unikat, als Abdruck in zeitgenössischen Büchern, Katalogen und deren Digitalisaten in Online-Datenbanken.

Die Postkarte im Archiv Im Kölner Tanzarchiv ist die Postkarte in einem der vielen transparenten Umschläge einer Mappe mit den Fotografien Erfurths enthalten. Meine Erinnerung an die Sichtung und die entstandenen Notizen – und, wenn möglich, auch die Aufnahmen – bilden die Grundlage einer Bildbetrachtung, wie ich sie in etwa formulieren würde:

10 | In den vielfältigen Formen fotografischer Bildanordnungen lassen sich selten feste Strukturen festmachen. Ihnen ist „aufgrund der medienästhetischen Besonderheiten der Fotografie ein ganz anderer tendenziell serieller pluraler Charakter eingeschrieben [...].“ Martina Dobbe, „Fotografische Bildanordnungen. Visuelle Argumentationsmuster bei Francis Galton und Bernd & Hilla Becher“, in: Ganz und Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural, 2010, S. 331. 11 | Ebd., S. 333.

Techniken des Reproduzierens Die Bildseite der Postkarte zeigt Mary Wigman in einer ausfallenden, der Kamera leicht zugewandten Sprungbewegung. Die Tänzerin, im Sprung begriffen, bewegt sich mit weit geöffneten Armen und leicht erhobenem Kopf dem Boden entgegen. Ihr Blick ist in dem unscharf gezeichneten Gesicht nicht zu ersehen. Das rechte Bein ist nach hinten erhoben, während das linke sich bereits dem Boden entgegen bewegt – ihn berühren wird. Der durch die Bewegung erzeugte Luftzug spannt das den Torso und die Arme der Tänzerin bedeckende Gewand auf als würde es das kommende Ende der Bewegung an- und aufhalten. Die Lichtgestaltung hebt den Faltenwurf des fließenden Stoffes hervor, der zwischen Bild und Bewegung changiert. Der helle Lichtkegel im Bereich des Solarplexus – zugleich der goldene Schnitt des Bildes – betont die nach dem Lichteinfall entgegenstrebende Bewegung, während ihr Schatten im linken Bildrand in die Vergangenheit weist. In der Helligkeit verliert das Profil an Schärfe und die Grenze von Figur und Grund an Konturen.

Die weiße Rahmung des Bildes sowie die Angaben zu Motiv, Verlag und Seriennummer verweisen auf die medientechnische Reproduktion der Fotografie als Postkarte. Als solche ist sie einer anderen Bewegung ausgesetzt, als sie durch die verschiedenen Arrangements der digitalen Bildarchive und Rechercheportale erfährt: Die spezifische Bewegung der Übertragung von Text- und Bildbotschaften, die seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich ist. Mit dem Aufkommen geeigneter Druckverfahren finden wenig später auch fotografische Reproduktionen auf Bildpostkarten Verwendung, was nicht zuletzt auch zu einer starken Verbreitung der Tanzfotografie führt. Die Bildpostkarte dient als zentrales Werbemittel der Tänzerinnen und Tänzer der Moderne. Fotografen wie Hugo Erfurth (Dresden) und Hanns Holdt (München) Postkarten im Selbstverlag an und machen sich Postkartenverlage wie der bereits genannte Dursthoff-Verlag mit Serien die Popularität des Ausdruckstanzes und wachsende Bildersammelleidenschaft zu Nutze. Auch diese hier ist eine von vielen, die Mary Wigman von Hugo Erfurth fotografiert zeigen. Die Nummer 1331 am rechten Bildrand lässt darauf schließen, dass es sich hier um eine solche Serie handelt. Hier sehen wir sie als eine von vier Postkarten, die von Hugo Erfurth zu Mary Wigman entstanden sind.

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Isa Wortelkamp Abb. 2, Postkarte Mary Wigman. Hexentanz, Foto: Hugo Erfurth, 1914.

Quelle: Digitalisat des Deutschen Tanzarchivs Köln.

Die Abbildung ist dem Katalog Hugo Erfurth. Photograph zwischen Tradition und Moderne, erschienen 1992 im Wienand Verlag in Köln, entnommen, der in dieser pluralen Anordnung eine Zusammenschau einzelner Abbildungen ermöglicht und damit auch die serielle Eigenschaft der Fotografie betont.

Techniken des Reproduzierens

Bilderseiten – Fotografische Reproduktion im Buch zum modernen Tanz Ein weiteres Mal begegnet mir die Fotografie in der Publikation Lebendige Form von Fritz Hanna Winther von 1920 (1924) – diesmal nicht als Postkarte, sondern mutmaßlich als Reproduktion eines Silbergelatineabzugs, der in der Akademie der Künste in Berlin vorliegt. Das Buch ist eines der zahlreichen Publikationen zum modernen Tanz, mit denen – befördert durch die fotomechanischen Reproduktionsverfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Tanzfotografie große Verbreitung erfährt. Bis zu 150 Abbildungen sind in einzelnen Publikationen vertreten, die in Zweier- und Dreierkonstellationen oder als serielles Arrangement den Blick des Betrachtenden dynamisieren und rhythmisieren. Es entstehen Korrespondenzen, Relationen und Narrationen, die das Erscheinungsbild der Tanzfotografie prägen. Die grafische Komposition folgt dabei nicht unweigerlich einer fotografischen Konzeption bzw. Konzeption durch den Fotografen. Vielmehr ist sie in Seitenaufbau und -folge, in der Kombination und Formatierung der Bilder in die Ordnung des Buches eingebettet, die nicht zuletzt auch drucktechnischen Bedingungen unterliegt. Im Buch Lebendige Form12 herrscht die Anordnung der Fotografien auf zwei gegenüberliegenden Bildseiten vor. Sie legt eine vergleichende Betrachtung nahe, die sich hier auf die Bewegungsfigur des Sprungs – links von Anita Hölzer und rechts von Mary Wigman – bezieht. Dabei gehen die bewegungs- und bildästhetischen Aspekte eine wechselseitige Beziehung ein, die wesentlich durch die Gegenüberstellung der Fotografien – beide von Erfurth – bedingt ist. Während die Komposition des Bildes, die Betonung von Licht- und Schattenwurf und die mittig angeordneten Zentren der Körper eine vergleichbare Ästhetik der Fotografien prägen, zeigt sich eine Differenz in ihren Motiven. Zur Linken ist eine eher geschlossene, im Profil erfasste und nach oben gerichtete Sprungfigur ersichtlich, in der die Tänzerin die Knöchel von hinten umgreift. In der rechten Abbildung sieht man die Tänzerin, wie bereits beschrieben, in einer ausfallenden, der Kamera leicht zugewandten Sprungbewegung mit weit geöffneten Armen. Eine ausgleichende Wirkung hingegen haben die auf gleicher Seitenhöhe angeordneten in der Bildmitte platzierten Körperzentren. Die Differenz in den Bewegungen wird bildästhetisch durch die unterschiedlichen Zeitpunkte der Aufnahme verstärkt: Anders als der sich zum Boden bewegende Sprung auf der rechten, zeigt die linke Fotografie den Sprung auf dem Höhepunkt der Bewegung. Die unterschiedlichen Sprunghöhen werden zudem durch die voneinander abweichenden Höhen der ­Bodenlinie

12 | Fritz Hanna Winther, Lebendige Form. Rhythmus und Freiheit in Gymnastik, Sport und Tanz, Karlsruhe 1920.

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Isa Wortelkamp

­ erstärkt. Unterschiede zeigen sich auch in der Schärfe der Einstellung, die die v verschiedenen Bewegungsqualitäten der Sprünge unterstreichen: Die Prägnanz des Sprungs Anita Hölzers wird durch die insgesamt schärfer konturierten Formen und Strukturen des Körpers und der Kleidung hervorgehoben, während die Unschärfe in der Ablichtung Wigmans das Moment der ‚Auflösung‘ im Sprung des Körpers noch verstärkt. Ein weiterer Unterschied zeigt sich im Blick der Tänzerinnen, der in unmittelbarer Beziehung zu den im Sprung verkörperten ‚Bewegungsbildern’ steht: Das scharf abgeblichtete Gesicht Hölzers orientiert sich, den Blick auf die Kamera gerichtet, an einem Außen, während das unscharf gezeichnete Gesicht Wigmans den Blick in der Bewegung hält. Die unterschiedlichen Konzepte der Bewegung – einer nach außen gewandten Bildwerdung und der nach innen gerichteten Intuition – prägen auch die Differenz in Bewegung und Bild.13

Digitalisat Auf der Seite der Digital Collection ist dieser Kontext – so wie andere, in denen die Fotografie oder ihre Reproduktion als Postkarte erschienen sind – nicht nachvollziehbar. Für diesen Kontext habe ich das Digitalisat, anders als vielleicht zu vermuten, nicht von der Digital Collection, sondern – sehr viel günstiger, wenngleich mit weniger Auswahl an Druckversionen – beim Tanzarchiv Leipzig erstanden. Von dort wird sie am 24.10.2018 als JPEG-Datei zugesandt. Sichtbar werden Flusen und Knicke, Schraffuren und Schlieren, deren Herkunft auf den Entstehungsprozess der fotografischen Reproduktion und weniger der Digitalisierung zuzuordnen sind. Die Aufmerksamkeit wird abermals auf die helle Stelle, an der sich die Zentren von Bild und Bewegung verbinden, gelenkt. Die Möglichkeit der Vergrößerung nutzend, nähere ich mich dieser Stelle bzw. nähere sie mir, bereit mehr zu sehen: die Grenze zwischen Figur und Grund – dort, wo die Helligkeit die Grenze des Körpers aufzulösen scheint. An dieser hellen Stelle schlägt die Fläche des analogen Bildgrundes in das Raster der digitalen Bildelemente um. Die Grenze, nach der ich suche, verschwindet in den verschiedenen Farbtönen der Pixel – den ,picture elements‘, die das fotografische Detail in eine orthogonale Ordnung aus Quadraten überführen. Im Modus der Skalierung, dem bis ins Extrem getriebenen Zoom, entzieht sich der Grund der Sichtbarkeit.

13 | Die vergleichende Betrachtung, durch die Komposition der Bilder evoziert, wird durch den Text des Autors verstärkt, der den Sprung der Hölzer als eine „akrobatische Einheit“ beschreibt, in der sich die Tänzerin ihres Bewegungsbildes und seiner Wirkung dieses Bildes auf das Publikum bewusst sei, während der Sprung der Mary Wigman mehr der „kühnen Intuition“, „einem körperliche[n] In-Eins“-Sein folge. Vgl. Fritz Hanna Winther, Lebendige Form, 1920, S. 10f.

Techniken des Reproduzierens

Je näher man ihm rückt, desto weniger ist erkennbar. Dieses Phänomen ist jedoch nicht nur auf die Ästhetik der digitalen und digitalisierten Fotografie zu beziehen: Mit dem Blick aus nächster Nähe auf die materielle Oberfläche eines fotografischen Bildes tritt das Motiv hinter dem Raster eines Kupfertiefdrucks oder dem der Körnung eines Silbergelatineabzugs zurück. Die materiellen Bedingungen – analog und/oder digital – in die Betrachtung einzubeziehen, ist Aufgabe jener, die Wissen durch Bilder generieren, sie archivieren und reproduzieren. Es bedeutet, sich jenem Wissen zuzuwenden, das wir über ein Bild erfahren können; mehr zu sehen, als das, was eine Fotografie sichtbar werden lässt. Mit in den Blick gerät dabei das, was diese Sichtbarkeit (mit-) begründet und sich dieser zugleich entzieht: der Grund der Fotografie (das Raster des Bildträgers der des Farbcodes), das Un-gewisse der amorphen Formen, diffuse Spuren oder endlos sich auflösende Elemente. Fotografie wird dabei – über die Gewissheit eines visuellen Datums und die mimetische Referenzialität hinaus – in ihrer medienspezifischen Ästhetik sichtbar. Diese ist abhängig von einer Vielfalt an Produktions- und Reproduktionstechniken, die unsere Wahrnehmung und unseren Zugang zum fotografischen Bild ermöglichen und bedingen. Die Art und Weise wie eine Fotografie uns in Erscheinung tritt und wie wir sie in Erscheinung treten lassen – auf der Seite eines Online-Portals, als Abbildung in einem Buch oder Objekt in einem Archiv – prägt mit unserer Praxis des Sehens auch die des Schreibens von Geschichte. Und dazu zählt nicht zuletzt auch, die Dinge die wir sehen und sichten zu drehen und zu wenden.

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Nadel und Zwirn, Wind und Wetter, Auf und Ab Drei Techniken der Unvorhersehbarkeit Franziska Bork Petersen und Anja Mølle Lindelof

Zu Lee Mingweis The Mending Project (2017) bringen die Ausstellungsbesucher*innen idealerweise ein kaputtes Kleidungsstück mit. Dieses wird der Künstler (oder jemand an seiner Stelle) nach Absprache mit den Besitzer*innen reparieren und währenddessen eine Geschichte des Kleidungsstücks und seines Trägers erzählt bekommen. Ist dieser Austausch abgeschlossen bleibt das Kleidungsstück mit anderen seiner Art im Ausstellungsraum zurück. Ein Faden verbindet es mit einer der farbenprächtigen Garnspulen, die an der Wand installiert sind. Szenenwechsel. Zehn Jahre zuvor schließt die dänische Gruppe ‚Superflex‘ einen Vertrag mit dem Königlichen Dänischen Theater in Kopenhagen ab. Dessen Mitarbeiter*innen ist es für die Geltungsdauer des Vertrags verboten, im Zusammenhang mit einer der königlichen Bühnen in jeglicher Kommunikation die Worte Theater, Schauspieler*in, Bühne, Regisseur*in, Ticket, spielen, Probe, Premiere und Publikum zu gebrauchen. Und ein letztes Eingangsbeispiel, das uns an den Amager Strand in Kopenhagen führt: Hier installiert Pierre Sauvageots im Jahr 2010 in Harmonic Fields eine Reihe Musikinstrumente: Streicher, Bläser und Schlaginstrumente. Diese sind in der Landschaft wie eine Art Sinfonieorchester organisiert, das Wind in Musik umsetzt. Es entfaltet sich eine in stetiger Veränderung befindliche Soundscape, die durch Stärke und Richtung des Windes definiert ist. Ein zentrales und einendes Element in diesen sehr unterschiedlich erscheinenden Kunstprojekten ist ihre Unvorhersehbarkeit. Die Näher*innen in Lee Mingweis Arbeit kennen vor ihrer Interaktion mit einzelnen Besucher*innen weder die Beschaffenheit des Materials, mit dem sie arbeiten, noch die Geschichte, die sie erzählt bekommen werden. Auch wie sie das Kleidungsstück reparieren werden, wird erst in Absprache mit den Besucher*innen festgelegt. Superflex gebrauchen in ihrem ebenfalls höchstgradig partizipativen Projekt Wissen über einen bestimmten Arbeitsplatz, um gewohnte Handlungs- und Kommunikationsmuster zu verunmöglichen und improvisierte Alternativen auf den Plan zu rufen. Harmonic

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Fields hat einen vergleichbar radikal offenen Charakter: Ohne vorher festlegbaren Handlungsverlauf kann – je nach Wetterlage – alles oder nichts passieren. Abb. 1, Harmonic Fields von Pierre Sauvageot/Lieux publics, Foto: Thomas Seest / Metropolis 2011.

In der dramatischen Bühnenkunst wird das Unvorhersehbare traditionell zu kontrollieren versucht. Schauspieler*innen mögen so für ihr Vermögen gerühmt werden, einen (unvorhersehbaren) Patzer sofort ins illusionistische ‚Als ob‘ zu integrieren, ohne aus der Rolle zu fallen. Andere Arten performativer Kunst zielen dagegen auf genau diese Offenheit explizit ab. Das Theater ist somit auch der Ort, an dem Unvorhersehbares, mehr oder weniger radikal ‚andere‘, unerwartete Formen des Zusammenseins und Erfahrens erlebbar gemacht werden können. Insofern ist Unvorhersehbarkeit zentral in der Avantgarde- und neuerer Performance-Kunst. Dieser Beitrag ist ein Versuch der Konkretisierung von Unvorhersehbarkeit und der Erforschung praktischer Möglichkeiten ihrer Produktion. Die so genannte „experience economy“ bietet unendlich viele, vermeintlich einzigartige Erlebnisse zum Konsum an, deren Andersartigkeit vom Alltag allerdings oft in recht vorhersehbaren Bahnen verläuft.1 In diesem Beitrag soll nicht zuletzt ein gewisser tatsächlicher Kontrollverlust zelebriert werden, der auf bestimmten Live-Interaktionen beruht.

1 | B. Joseph Pine und James Gilmore, Experience Economy, Boston 2011.

Nadel und Zwirn, Wind und Wetter, Auf und Ab

Eingangs wird ein Blick auf das Feld der Performance Studies geworfen, wo Unvorhersehbarkeit als zentrales Konzept in ihren unterschiedlichen Spielarten diskutiert wird. Anschließend soll eine Unterscheidung verschiedener Arten der künstlerischen Unvorhersehbarkeit vorgenommen werden, wozu u.a. Daniel Sacks After Live zurate gezogen wird.2 Schließlich widmet sich der Beitrag der zentralen Frage, mit welchen Techniken sich Unvorhersehbarkeit produzieren lässt. Hierfür werden Prozesse der Ingangsetzung, Rahmung und Obstruktion geprüft und, entlang von künstlerischen Beispielen der letzten Jahre, als spezifische Techniken dargelegt. Die Herangehensweise an den Technikbegriff beruft sich dabei auf den Theaterpraktiker und -wissenschaftler Ben Spatz, der definiert: „Technique is knowledge that structures practice.“3 Dabei kann Wissen als praktisches Körperwissen figurieren – wie bei Spatz, der über Körpertechniken schreibt. Um konkreten Techniken zum Hervorbringen von Unvorhersehbarkeit auf die Spur zu kommen, wird hier hingegen eine Perspektive vorgeschlagen, die das strukturelle Element hervorhebt.

Unvorhersehbarkeit in den Performance Studies Zunächst lässt sich innerhalb der Performance Studies von einem konzeptuellen und definitorischen Verständnis des Unvorhersehbaren als zentralem Teil des Performance-Begriffs sprechen. In Erika Fischer-Lichtes Feedback-Schleife macht Live-Interaktion entscheidend die Unvorhersehbarkeit aus: Diese „sich permanent verändernde Feedback-Schleife“, schreibt Fischer-Lichte, sei in ihrem „Ablauf […] nicht vollständig planbar und vorhersagbar“.4 Die Tatsache, dass es sich um Interaktionen handelt, die hier und jetzt stattfinden, ist in diesem Verständnis von zentraler Bedeutung und an sich eine Qualität. Dies ist unabhängig davon, ob eine konkrete Aufführung auf die Beseitigung möglichst vieler unvorhersehbarer Elemente durch Planung und Professionalität abzielt, oder eine Produktion Unvorhersehbarkeit hervorhebt und untersucht – wie in den eingangs genannten Beispielen. Ein weiterer, verwandter Zugang zu Unvorhersehbarkeit in Performances und Performance Studies ist, das liminale Potential der Situation in den Fokus zu r­ ücken. Hier kommt zum Tragen, was Fischer-Lichte als eine Uneindeutigkeit der Grenze zwischen Kunst und Alltag bezeichnet, als Aus­löser einer gewissen Unvorhersehbarkeit der Situation: Wie soll ich mich als teilnehmende*r Zuschauer*in verhalten? Welche Codes sollen gelten? Dieser Zugang ist nicht der avant-

2 | Daniel Sack, After Live: Possibility, Potentiality, and the Future of Performance, Ann Arbor 2015. 3 | Ben Spatz, What a Body Can Do: Technique as Knowledge, Practice as Research, London/New York 2015, S. 1. 4 | Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 59.

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gardistischen Performancekunst vorbehalten, sondern auch aus anderen Formaten bekannt, die eine klassische Interaktion zwischen Bühne und Saal aufheben. Beispiele sind 1-zu-1-Theater, angewandtes Theater und ortsspezifische Performances, die einerseits eine Offenheit für die Aktionen und Beiträge des Publikums ermöglichen, andererseits aber oft eine gescriptete Teilnahme nahelegen.5 Ein weiterer in Performances untersuchter und in Performance Studies erforschter Faktor ist, dass Körper als Live-Material nicht vollständig berechenbar sind.6 Insbesondere sind Kinder, Tiere oder auch autonome Roboter in einer Inszenierung typischerweise Quellen für Unvorhersehbarkeit – und als solche Objekte der Forschung.7 Hier findet das Unvorhersehbare explizit auf der Bühne statt, wo Darsteller*innen, die nicht auf die gleiche Weise wie professionelle Schauspieler*innen instruier- und steuerbar sind, dazu beitragen, dass Abläufe sich nicht planen lassen oder geplante Abläufe sich mit einer gewissen Zufälligkeit und ­Variation entwickeln. In Wetten und Wettkämpfen ist in besonderem Maße die Unvorhersehbarkeit des Resultats reizvoll. Wenn auch der Verlauf spannend sein kann, ist doch die Faszination in der Ungewissheit zu suchen, wer gewinnt oder wie das Endergebnis sein wird. Dies gilt für Beispiele wie Hahnenkämpfe und Fußballspiele, oder auch den Eurovision Song Contest. Als Gegenstück zu diesem Resultat-Fokus, ist Unvorhersehbarkeit zuletzt als Kompositionstechnik zu nennen: Sie kommt als Aleatorik im postmodernen Tanz und auch im musikalischen Modernismus vor, in denen es allerdings oft vornehmlich um Zufall in der Produktion und weniger um Unvorhersehbarkeit in der Vorstellung geht.8 Eine andere, verwandte Technik ist die Einbeziehung eines

5 | Für 1-zu-1-Theater siehe z.B. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Berlin 1999; für angewandtes Theater Tim Prentki und Sheila Preston, The Applied Theatre Reader, London/New York 2009; und für ortsspezifische Performances Mike Pearson, Site-specific Performance, London 2012. 6 | Siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 2004, S. 129–176; Elizabeth Grosz, Volatile Bodies: Toward a Corporeal Feminism, Bloomington/Indianapolis 1994; Susan Leigh Foster, „Dancing Bodies“, in: Jonathan Crary und Sanford Kwinter (Hg.), Incorporations no. 6, New York 1992, S. 480–495; sowie Franziska Bork Petersen, „Fashion Bodies: Swinging between the Animate and the Inanimate,“ in: Dead or Alive: Tracing the Animation of Matter in Art and Visual Culture, Aarhus 2019, S. 349–370. 7 | Siehe Lourdes Orozco (2010) „‚Never Work with Children and Animals‘: Risk, Mistake and the Real in Performance“, in: Performance Research 15/2, S. 80–85; sowie Nicholas Ridout, Stage Fright, Animals, and Other theatrical Problems, Cambridge 2006. 8 | Für Yvonne Rainers Kritik daran, die sich nicht zuletzt auf die Begrenztheit von Unvorhersehbarem in Cage und Cunninghams ‚Chance procedures‘ bezieht, siehe Yvonne Rainer, „Looking Myself in the Mouth“, in: October Vol. 17, Sommer 1981, S. 65–76;

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(­ potenziellen) Publikums in frühen Stadien des Produktionsprozesses, zum Beispiel schon in den ersten Phasen eines Konzeptentwicklungsprozesses.9 Aus dieser Übersicht wird deutlich, dass das Unvorhersehbare in Performances auf mehreren Ebenen stattfindet: als Prozess, aber auch als Resultat; auf einer (wie auch immer gearteten) Bühne und zwischen Bühne und Auditorium; als Element einer Vorstellung oder Teil des Entstehungsprozesses. Allen diesen Bereichen ist gemeinsam, dass Unvorhersehbarkeit zentraler Bestandteil einer bestimmten Produktion sein kann – während dem Unvorhersehbaren verschiedene Eigenschaften zugeschrieben werden und unterschiedlich ist, wie und wann im Prozess es zum Tragen kommt und für wen es von Bedeutung ist.

Möglichkeiten und Potentiale Zudem fällt bei dieser (provisorischen) Durchsicht auf, dass das Unvorhersehbare häufig mit Interaktion und Liveness in Verbindung gebracht wird. Beide Begriffe sind Gegenstand weitreichender Diskussionen, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Performance Studies. Es gilt allerdings zu beachten, dass weder Interaktion noch Liveness notwendigerweise zu Unvorhersehbarkeit führen. Interaktion im Rahmen einer streng gescripteten Teilnahme gibt dem Publikum nicht unbedingt mehr Autorität oder besondere Möglichkeiten für das Eintreten von Unvorhergesehenem.10 Die Interaktion, auf die beispielsweise Superflex’ One Two Three Swing! oder einige von William Forsythes ‚Choreographic Objects‘11 abzielen, ist keineswegs tatsächlich besonders unvorhersehbar. Vielmehr sind die Möglichkeiten zur Interaktion in den Designs relativ klar angelegt und voraussehbar. Ebenso wird der Liveness-Begriff als ontologisch eindeutiges Phänomen für seinen Produktionsfokus kritisiert, sowie dafür, erfahrungsbezogene Aspekte zu übersehen.12 Die besonderen Qualitäten, die mit Liveness verbunden sind (Präsenz, Ko-Präsenz, Risiko, Unmittelbarkeit), sind disziplinübergreifend und weder

sowie André Lepecki, Singularities. Dance in the Age of Performance, London/New York 2016, S. 33. 9 | Siehe Erling Bjögvinsson, Pelle Ehn und Per-Anders Hillgren, „Design Things and Design Thinking: Contemporary Participatory Design Challenges“, in: Design Issues 28/3, 2012, S. 101–116. 10 | Siehe z. B. Claire Bishop, Artifical Hells. Participatory Art and the Politics of ­S pectatorship, London 2012. 11 | Siehe https://www.williamforsythe.com/essay.html [31.01.2020]. 12 | Siehe Martin Barker, Live to Your Local Cinema: The Remarkable Rise of Livecasting, Basinstoke 2013; Matthew Reason und Anja Mølle Lindelof (Hg.), Experiencing Liveness in Contemporary Performance: Interdisciplinary Perspectives, New York/London 2017, insbes. „Introduction“, S. 1–15.

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spezifisch für Performances,13 noch notwendigerweise Resultat von räumlicher und zeitlicher Übereinstimmung. Reason und Lindelof heben in Bezug auf den Bildungsphilosophen Martin Buber „the mutual surprise“ als eine Art und Weise hervor, von Liveness-Erfahrung zu sprechen – und es ist keineswegs so, dass diese gegenseitige Überraschung in allen Aufführungssituationen eintritt.14 Der Theaterwissenschaftler Daniel Sack schlägt vor, ‚Möglichkeiten‘ von ‚Potentialen‘ zu unterscheiden: ‚possibilities‘ von ‚potentialities‘.15 Beide beinhalten Unvorhersehbarkeit, allerdings verschiedene Arten davon: Möglichkeiten projizieren eine bekannte Begebenheit in die Zukunft; eine Zukunft, die so durch die Begriffe und Konventionen der Vergangenheit und der Gegenwart schon gewissermaßen determiniert ist.16 Wie typischerweise im Drama, dessen Aufführung auf einem festen Textsubstrat basiert, sind solche Situationen nur begrenzt und in Ausnahmefällen wirklich unvorhersehbar. Dagegen seien Potentiale zwischen der Gegenwart und vielen möglichen Zukünften lokalisiert.17 Sie lassen sich – nach Sack in Anlehnung an Donald Rumsfeld – als „unknown unknowns“ beschreiben, während Möglichkeiten als „known unknowns“ vorkommen.18 In seiner Differenzierung streift Sack die Auseinandersetzungen verschiedener Philosophen wie Aristoteles, Gilles Deleuze oder Giorgio Agamben mit verwandten Konzepten. Den Reiz seines Verständnisses macht aus, dass es eine Sicht auf Unvorhersehbarkeit gewährt als Teil des Potentials, welches „might actively dismantle the certain futures – narrative, dramatic, visual, and otherwise – that authorities impose upon an individual or an event“.19 Anders als zum Beispiel Jill Dolans oder José Muñoz’ Konzepte von Potentialität und Queerness, deren utopische Herangehensweisen auf eine explizit ‚bessere Zukunft‘ abzielen,20 geht es Sack allerdings nicht vornehmlich darum, konkrete Alternativen zu problematischen Situationen zu finden. Vielmehr ist das Forschungsinteresse darauf gerichtet, wie Situationen auch anders funktionieren oder betrachtet werden könnten. Somit ist wichtig zu unterstreichen, dass diese Alternativen keineswegs immer zu ‚besseren‘ Situationen führen. Der Raum, den

13 | Barker, Live to Your Local Cinema, 2013. 14 | Reason und Lindelof, Experiencing Liveness in Contemporary Performance, 2017. 15 | Sack, After Live, 2015. 16 | Ebd., S. 6. 17 | Ebd., S. 9. 18 | Ebd., S. 1. 19 | Ebd., S. 189. 20 | Jill Dolan, „Performance, Utopia, and the ‚Utopian Performative‘“ in: Theatre Journal 53/3, 2001, S. 455-479; Muñoz, José Esteban, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/London 2009.

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Theater schafft, eröffnet nicht nur positives Potential und ist eben nicht automatisch progressiv besetzt.21 Im Folgenden soll an dieser Unterscheidung in Möglichkeiten und ­Potentiale festgehalten werden – mit der Frage, wie sich Unvorhersehbarkeit planen/produzieren/herstellen lässt. Hierfür kehren wir noch einmal auf die Beispiele vom Anfang zurück und nehmen vergleichend weitere Arbeiten in den Blick. Welche Techniken liegen ihrer Produktion zugrunde? Aus der analytischen Arbeit an dieser Frage gehen die im Folgenden dargelegten drei Ansätze als Vorschläge zur ­Betrachtung hervor: ‚Ingangsetzung‘, ‚Rahmung‘ und ‚Obstruktion‘. Wenn Technik sich mit Spatz als durch Wissen strukturierte Praxis beschreiben lässt,22 kann als hier besonders relevantes Wissen ein Verständnis der Spielarten von Unvorhersehbarkeit in den genannten Zusammenhängen der Performance Studies gelten. Aber auch Wissen über die spezifische Situiertheit der zu konstruierenden Begebenheit. Zudem umfassen Praxen, Verfahren und Tasks, die im Produktionsprozess eine Rolle spielen, verschiedene Formen des Experimentierens mit Rahmen, Interaktionen und Verläufen.23 Die besprochenen Beispiele geben zudem Anlass, unser besonderes Augenmerk auf das strukturelle Element zu richten.

Drei Techniken Ingangsetzung Unvorhersehbarkeit lässt sich produzieren, indem bestimmte Prozesse eingeleitet werden, deren Ausgang sich nicht vorhersagen lässt. Von zentraler Bedeutung ist hier fundiertes Wissen über die Charakteristika der spezifischen Situation, der involvierten Materialien und Akteure. Die Idee eines ‚mutual surprise‘ bietet eine Möglichkeit zum Verständnis der Arbeit von Lee Mingwei in unserem Eingangsbeispiel. Als Ausgangspunkt wissen die jeweilige Näher*innen nicht, was für Geschichten sie erwartet. Für die visuelle Beschaffenheit der einzelnen Versionen des Mending Project ist außerdem wichtig – und unvorhersehbar – wie welche Art von Kleidungsstücken in Absprache mit den Besitzer*innen repariert werden und wie sie sich in das bestehende Haufengefüge einordnen. Eine Reihe anderer Arbeiten operieren in vergleichbarer Weise mit der Ingangsetzung von Gesprächen als (normalerweise) u­ nvorhersehbare

21 | Sack, After Live, 2015, S. 13. 22 | Siehe Spatz, What a Body Can Do, 2015. 23 | Zu künstlerischen Verfahren und Tasks siehe z.B. Maren Butte, Fiona McGovern, Kirsten Maar, Marie-France Rafael and Jörn Schafaff (Hg.), Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin 2014; Yilmaz Dziewior und Barbara Engelbach (Hg.), Yvonne Rainer: Raum Körper Sprache/Space Body Language, Bregenz/Köln 2012.

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­ egebenheiten, so z.B. in der choreographisch-konzeptuellen Arbeit This ProB gress von Tino Sehgal (2010).24 Ein anderes hier relevantes Beispiel wurde fürs dänische Fernsehen produziert: Vor einigen Jahren wurde bekannt, dass es in Dänemark wieder wildlebende Wölfe gibt. Der Fernsehproduzent Lars Ostenfeld suchte daraufhin einen unvorhersehbaren Prozess in Gang zu setzen, indem er einen Hirschkadaver im vermeintlichen Jagdrevier eines Wolfes auslegte. Auf den Kadaver gerichtet installierte Ostenfeld eine Kamera, die live ins Fernsehen übertrug. Hier wusste Ostenfeld also etwas über eine spezifische Situation und hoffte, durch einen bestimmten Input eine Veränderung dieser Situation auszulösen. Der Live-Charakter bedeutet allerdings, dass wir uns der genauen Art der Veränderung (und ob sie überhaupt eintritt) nicht sicher sein können. Im Fall des Beispiels trat sie nicht ein: das Fernsehpublikum verfolgte allerdings – in recht verblüffend hohen Zuschauerzahlen – die fortschreitende Verwesung des Kadavers als ‚durational performance (ohne Wolf)‘. Im Sinne von einem ‚Wissen, das Praxis strukturiert‘ ist wiederum deutlich, dass beträchtliches Wissen über und Tests der verschiedenen Materialien und Elemente vonnöten ist, um diese Arbeit zustande zu bringen. Rahmung Eine Rahmung macht bestehende Unvorhersehbarkeit wahrnehmbar. Eingangs wurde auf Pierre Sauvageots ‚environmental performance‘ Harmonic Fields verwiesen, die sich als Rahmung des Mediums Wind verstehen lässt. Durch situative Rahmung exponiert wird hier die Offenheit des Verlaufs besonders deutlich: im Sinne von Sack’schen Potentialen – also Situationen, in denen sich eine Reihe verschiedener Szenarien abspielen könnte. In einer Serie von environmental performances wendet bspw. auch der Künstler James Turell buchstäblich ‚Rahmung‘ als Technik an, wenn er Unvorhersehbarkeit exponiert, indem er 1974 in Sky Spaces einen Raum mit Guckloch in die Landschaft stellt.25 Turell rückt so allgegenwärtige, aber für gewöhnlich ‚unsichtbare‘ Naturprozesse in den Blick. Rahmungen betreffen aber nicht nur Naturprozesse, sondern können ebenso in sozialen Situationen vorkommen. So exponiert z.B. Augusto Boals ‚Invisible Theatre‘ Machtstrukturen und unterdrückerische Mechanismen in mehr oder weniger öffentlichen Räumen, indem er Alltagssituationen als Theater inszeniert.

24 | Hier inszenierte Sehgal Gesprächssituationen zum Thema ‚Fortschritt‘, während Museumsbesucher*innen sich die Rampe des New Yorker Guggenheim Museums hinaufbewegten. 25 | Siehe hierzu auch Anja Mølle Lindelof, Ulrik Schmidt und Connie Svabo, „Environmental performance. Framing Time“, in: Reason und Lindelof (Hg.), Experiencing liveness in Contemporary Performance, S. 229–240.

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Ohne dass die Zuschauer*innen sich ihrer Rolle als Publikum bewusst sind, werden hier durch eine bestimmte Rahmung bekannter sozialer Prozesse Interaktionsformen und soziale Konventionen ausgestellt. Zwar werden die Situationen durch Boals Schauspieler*innen initiiert. Allerdings ergibt sich für die Zuschauer*innen eine Rahmung ihres Blicks nicht nur auf die sich ereignende, sondern vor allem auch auf andere, in der Zukunft liegende soziale Situationen. Sind auch diese ein ‚invisible theatre‘? Gehören sie zum sozialen Alltag oder sind sie Teil einer Inszenierung? In all diesen Fällen lässt sich also von einer Rahmung sprechen, die den Blick auf bereits existierende Prozesse schärft, von denen man vorher nicht weiß, wie sie sich entwickeln werden. Obstruktion Als eine letzte Technik zum Hervorbringen von Unvorhersehbarkeit soll auf eine besondere und vielschichtige eingegangen werden: die Obstruktion. Als Begrenzungen, die, wie im Eingangsbeispiel von Superflex, ein Handeln in gewohnten Bahnen verunmöglichen. Die Spezifik der gewählten ‚verbotenen Worte‘ setzt Wissen über die Institution Theater voraus, das – in der gewählten, obstruktiven Weise angewandt – eine unvorhersehbare Praxis generiert. In seiner ‚Drawing Restraint‘-Serie beschäftigte sich auch der Künstler Matthew Barney seit 1987 mit verschiedenen, hier allerdings hauptsächlich körperlichen, Obstruktionen. Bevor er 1990 begann, auf cinematische Formate zurückzugreifen, machte Barney es sich in der ersten Serie (Drawing Restraint 1–6, 1987–1989) zur Aufgabe, die Decke und Wände seines Studios zu bemalen, während er auf einem Trampolin sprang oder an den Oberschenkeln in einer an Gummis hängenden Halterung befestigt war. Er verglich seine Aktivitäten in dieser Serie mit Athleten, die ebenfalls Herausforderungen und Hindernisse überwinden um an ihr Ziel zu kommen. Ziele allerdings, die im Falle dieser künstlerischen Produktion an sich relativ uninteressant sind. Denn es ist auffällig, dass es weder bei Superflex noch bei Barney vordergründlich um das Resultat der vollzogenen Aktivitäten geht, also das während des geltenden Wörterverbots produzierte Theaterstück oder die entstandenen Wand- und Deckengemälde.

Schluss Den beschriebenen Techniken zur Hervorbringung von Unvorhersehbarkeit sind zwei Charakteristika gemeinsam: Autorschaft wird von Einzelpersonen oder Künstlerkollektiven an andere Teilnehmer*innen oder Instanzen abgegeben, außerdem kommt Prozessen besondere Wichtigkeit zu. Aus unseren Beispielen geht das Zusammenspiel verschiedener Akteure als zentral hervor. Während Agens auf verschiedene menschliche und nicht-menschliche Instanzen verteilt ist, lässt sich feststellen, dass die Künstler*innen – so sie an der sich ereignenden Situation nicht direkt praktisch beteiligt sind – kaum

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Kontrolle über ihren Verlauf haben. Weder vermag Superflex den Austausch der Theaterschaffenden am königlichen Theater zu steuern, noch, ob sich letztendlich an das Verbot der Wörter gehalten wird. Pierre Sauvageot kann den Wind am Amager Strand nicht kontrollieren und Ostenfeld nicht – was in diesem Fall besonders deutlich wurde – ob der Wolf kommt. Wie es typisch für performative Kunst ist, resultieren die besprochenen Arbeiten zudem nicht in einem fixierbaren Produkt: Resultate sind z.B. bei Sauvageot, Barney oder Boal entweder inexistent oder relativ uninteressant – der Prozess ist, was zählt.26 In den exponierten Prozessen ist das angewandte Wissen zudem meist untrennbar mit Praxis verbunden. Das strukturelle Element geht in den ausgewählten Ingangsetzungen, Rahmungen und Obstruktionen also nicht als die einseitige und ausschließliche Strukturierung von Praxis durch Wissen hervor. Vielmehr zeichnen sich die in unseren Beispielen beleuchteten Techniken zur Erzeugung von Unvorhersehbarkeit durch situiertes Wissen aus, das Praxis strukturiert und vice versa. Ein solches Einander-Bedingen von praktischem und kontextualisierendem oder analytischen Wissen und Tun wird in diesem Zitat über Marcel Mauss’ Technikverständnis deutlich: „To weave a fabric, to navigate a canoe, to construct a spear, to set a trap – all are actions which suppose and at the same time generate knowledge. “27 Hier ist ein Verständnis von Wissensproduktion implizit, das dem in ‚Practice as Research‘ (oder: ‚Practice-based Research‘) nicht fernliegt: ‚Wissen produziert Praxis produziert Wissen produziert Praxis‘, in einem Forschungsprozess, der sich oft in einem stetigen Wechsel zwischen Studio und Bibliothek vollzieht. Das Unvorhersehbare erscheint so nicht nur als Resultat in einzelnen performativen Situationen, sondern kann als Art und Weise gelten, in der Akteure Wissen in bestimmten Praxen ausprobieren, es in neue Praxen übertragen und in diesem Prozess neues Wissen produzieren.

26 | Lee Mingweis Mending Project – das Beispiel, das unter den hier genannten am eindeutigsten der Bildenden Kunst zugeordnet werden kann – bildet hier eine Ausnahme. Über den zentralen Prozess der Kreation hinaus wird auch eine andauernde – allerdings in ihrer genauen Ausformung wiederum unvorhersehbare – Installation geschaffen. 27 | Nathan Schlanger (Hg.), Marcel Mauss: Techniques, Technology and Civilization, New York 2006, S. 20.

Dasselbe noch einmal? Zur kartographischen Technik der künstlerischen Erzeugung von ,Duplikaten der Welt‘ Johanna Zorn „Alles Denken ist Übertreibung“1 –, diese Überzeugung Adornos lässt sich spielend auf künstlerische Praktiken übertragen: In seinem „phantastischen Nonsens-Roman“ Sylvie und Bruno setzt Lewis Carroll im Jahr 1893 eine ‚Karte im Maßstab 1:1‘ als wirkmächtige Metapher für das Prinzip wissenschaftlichen Fortschritts ein. Aufgrund ihrer Detailgenauigkeit zunächst als „wahrhaft grandiose Idee“2 eingeführt, widersetzt sich diese Karte – ein Modellfall von Repräsentation mithilfe der Technik – gerade aufgrund ihrer präzisen Abbildungsfähigkeit im Handumdrehen ihrem Gebrauch und wird folglich obsolet, wie es entsprechend bei Carroll heißt: Bisher wurde sie [die Karte, Anm. d. Verf.] noch nicht ausgebreitet [...]. Die Bauern haben Einspruch erhoben und behauptet, das ganze Land würde zugedeckt und das Sonnenlicht ausgesperrt! Deshalb verwenden wir jetzt das Land selber als Karte, und ich darf Ihnen versichern, es leistet uns beinah ebensogute Dienste.3

Über 50 Jahre später greift Jorge Luis Borges das Gedankenspiel um eine ‚Karte im Maßstab 1:1‘ auf. In seinem Aphorismus Von der Strenge der Wissenschaft verleiht er der Idee von einer Karte, die in ihren absoluten Ausmaßen an die Stelle des abzubildenden Gebietes tritt, allerdings eine andere Stoßrichtung: Nicht der Gebrauch des Landes selbst als Karte, wie bei Carroll, steht bei ihm am Ende der Reflexion über die Deckungsgleichheit zwischen dem Territorium und dessen

1 | Theodor W. Adorno, „Meinung, Wahn, Gesellschaft“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1977, S. 577. 2 | Lewis Carroll, Sylvie und Bruno, München 2006, S. 389. 3 | Ebd.

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Vermessung. Zur Disposition stellt Borges nichts weniger als den komplexen Begriff der Mimesis selbst. In einem fiktiven Reich einer längst vergangenen Zeit skizziert er Perfektionierung und Verfall der Kartographie. Im Bestreben nach Genauigkeit wollten Kartographen, so Borges, Karte und Gebiet sukzessive zur Deckung bringen. So entstand zwar eine Darstellung, die sich mit dem abgebildeten Reich in jedem Punkt deckte. Durch die Weigerung gegenüber jeglichem Vorgang der Abstraktion und Verdichtung kehrt sich die Funktion der Karte allerdings in ihr Negativ um: Sie erweist sich als unbrauchbar, da sie das Territorium nicht mehr en ­miniature, sondern total abbildet. Diese Kehrseite von Repräsentation bringt letztlich das Ende der Kartographie mit sich, die sich in ihrem maximalistischen Anspruch auf Perfektion selbst in die Bedeutungslosigkeit befördert hat. Und so überlassen die nachfolgenden Generationen, wie Borges am Ende seiner Parabel andeutet, die Karte ihrer eigenen Zersetzung, übergeben sie den Mächten von Sonne und Winter, sodass vom einstmalig erdachten, vollkommenen Abbild der Welt lediglich „zerstückelte Ruinen“4 übrig bleiben. Zugleich mit dem mimetischen Phantasma, die Natur – mithin das Leben – in ein anderes Medium zu überführen, wird der dialektische Umschlag von Repräsentation in die Unmöglichkeit einer Darstellung zwingend. Damit liefert Borges einen literarisch-philosophischen Kommentar über ein mögliches Ende jeglicher Darstellung, vielleicht sogar eines Begriffs von Mimesis, der unter den Vorzeichen seiner relationalen Bestimmung, die Distanz zwischen Vor- und Abbild zu verkürzen sucht, indem er den Schein der Scheinlosigkeit, die Figur der dissimulatio artis beim Wort nimmt. In der Borges’schen Fabel von der Karte, in der das kartographische Abbild nicht mehr als Instrument einer Erschließung des realen Territoriums zu gebrauchen ist, sah der Simulationstheoretiker Jean Baudrillard in den 1970er Jahren schließlich eine zutiefst anachronistische Geste – anachronistisch deshalb, weil sie noch der Vorstellung verhaftet bleibe, dass es eine vorgängige Präsenz gebe, die nachträglich in ein Bild gefasst, repräsentiert werden könnte. Demgegenüber, so Baudrillard, habe die Karte im Zeitalter der umfassenden technologischen Simulation und Virtualisierung von Lebenswelt das Territorium längst hinter sich zum Verschwinden gebracht, mithin sei auch die „souveräne Differenz“ zwischen Karte und Gebiet „und damit der Charme [von] Abstraktion“ als solcher verschwunden.5 Mit dem in Philosophie und Literatur wiederkehrenden Gedankenspiel um die wechselseitige Transformation von Land und Karte ist die Idee ästhetischer Korrespondenz vom Extrempunkt her gedacht, der an der kategorialen Differenz

4 | Jorge Luis Borges, „Von der Strenge der Wissenschaft“, in: Ders., Universalgeschichte der Niedertracht und andere Prosastücke, Berlin 1972, S. 71. 5 | Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 8.

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zwischen substantieller Präsenz und nachbildender Vergegenwärtigung erheblich kratzt. Das Konzept einer ‚vollkommenen Wiederholung‘, mit der die Welt vollständig zu erfassen sei, verkommt dabei zur Bedeutungslosigkeit: Während es im Licht poststrukturalistischer Medientheorie im Zweifel liegt, ob ‚Welt‘ überhaupt noch existiert, so gilt unterdessen als unzweifelhaft, dass Nachbildung von etwas bereits Vorhandenem nicht mehr möglich ist, sich die Pole von Original und (Re-) Produktion nicht im Kausalnexus der zeitlichen Aufeinanderfolge auflösen lassen. So ist uns in dieser Logik auch die Borges’sche Karte kein Medium mehr, mit dem man sich die Welt von einem beobachtenden Standpunkt aus erschließen könnte, sondern sie eröffnet dem Subjekt lediglich einen quasi-tautologischen Erfahrungsraum, einen Raum, in dem sich irgendwie etwas wiederholt. Die Konklusion, die daraus hervorgeht, lautet schlicht: Wenn Mimesis den Vorgang der Nachahmung zu einer totalen Darstellung von Welt zuspitzt, wie es die Technik der Kartographie im Maßstab 1:1 leistet, dann fällt sie in sich zusammen. Denn das für Mimesis konstitutive komplexe Verhältnis von Identität und Differenz, das sich auch in der Fabel der Karte am Maßstab der Repräsentation messen lassen muss, also dem Einsatz von etwas für etwas anderes, wird in eine Wiederholungsstruktur aufgelöst, die nur mehr als Verdopplung des Vorhandenen erscheint, allerdings nicht mehr als ‚Abbildung‘ im eigentlichen Sinne, die stets abweichen muss vom Abgebildeten. Mit dem paradoxen Ansinnen, dasselbe noch einmal zu erzeugen, wofür das gewählte Beispiel von der Karte einsteht, ist allerdings zugleich ein Spiel mit der Deckungsgleichheit eingeleitet, welches das für den gesamten Postmoderne-Diskurs konstitutive Prinzip der Wiederholung an eine ‚Korrespondenz‘, also die Übereinstimmung zwischen Vorbild und Nachbildung zurückbindet und das hier zugleich als Treibstoff aktueller Ästhetik benannt werden soll. Weist insofern nicht gerade die aporetische Metapher der Deckungsgleichheit einen Denkweg, um gegenwärtige künstlerische Praktiken zu betrachten, die in widersprüchlicher Weise mit dem schöpferischen Mythos der Verdopplung arbeiten? Können wir also im zeitgenössischen Spektrum theatraler, performativer und installativer Verdopplungs-Kunst nicht auch etwas grundlegend anderes als den selbstreferentiellen Gestus künstlerischer Praktiken sehen? Und schließlich: Wäre ein Blick auf Wiederholungsstrukturen möglich, den an der Wiederholung nicht lediglich die immanente Kategorie der „Differenz“6 interessiert, sondern, im Gegenteil, der sich zunächst auf die Dimensionen der Ähnlichkeit richtet? Das wäre dann eine Perspektive, die Prinzip und Wirkung der imitatio wieder und nunmehr kritisch mit dem ihr historisch zugeordneten Prinzip der aemulatio,

6 | Vgl. hierzu exemplarisch Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1997; Jacques Derrida, „Die différance“, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 29–52.

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der Überbietung zusammenbringt. Besteht also im gegenwärtigen Spektrum performativer Künste nicht eine Tendenz zur Wiederholung des „großen Ganzen“, die geradezu modellhaft mit der Formel der Verdopplung und vor allem mit der Aussicht auf die Erfahrung eines sinnlichen Eintauchens in Weltgleiches spielt? Kommt der kartographischen Technik dabei nicht die Rolle zu, Kunst an den Rand der Kunst zu treiben?

Aporien der Deckungsgleichheit Borges’ Karte markiert gewissermaßen den Endpunkt einer historischen Kritik am Mimesis-Konzept. Der Verlust der stabilen Größen Wahrheit, Subjektivität und Vernunft bedingte bekanntermaßen die nicht lediglich metaphorisch einsetzende „Krise der Erzählungen“7 und vorerst auch das programmatisch hervorgebrachte Ende der Repräsentation. In diesem Zug avancierte die selbstreferentielle Geste der Künste seit den 1970er Jahren zu einem übergreifenden ästhetischen Prinzip. Der ‚Wiederholung‘ kam dabei eine strukturbildende Qualität zu. Als performative Geste, die das ‚Hervorbringen‘ selbst zum Ziel hat, wie es die imitativ aneignenden Praktiken der Appropriation Art exemplarisch vorführen, markierte sie eine Leerstelle im Mimesis-Konzept. Obwohl die Herausgeber des Standardwerks Ästhetische Grundbegriffe der ‚Wiederholung‘ keinen eigenständigen Eintrag zudachten, so reklamiert sie doch beharrlich für sich, nicht nur ein grundlegendes Verfahren künstlerischer Komposition zu sein, das Strukturen überhaupt erst zur Evidenz bringt, sondern sich zu einem Gestaltungsprinzip autonomisiert zu haben, das dem Gleichen seine Differenz einprägt. Dementsprechend zeigen sich seit Jahrzehnten ästhetische Praktiken, in denen dem Funktions- und Strukturprinzip der Wiederholung eine entscheidende thematische Rolle zukommt. Von den im Umfeld der Minimal Art in Performances und Videos hinterfragten Zeitkonzepten über die im postdramatischen Theaterpanorama zur Verfügung gestellten Reflexionen über Retardierung und Beschleunigung bis hin zum beunruhigenden Charakter von Wiederholung selbst, wird Wiederholung als strukturelles Verfahren eingesetzt, um auf die Differenz im Gleichen zu zeigen. Das ästhetische Phänomenfeld der Wiederholung umschließt dabei bekanntlich eine ganze Bandbreite an künstlerischen Praktiken. Reproduktion, Aneignung, Serie, Variation, Pastiche, Zitat, Reenactment oder Sampling sind nur einige der Modi, in denen sich Wiederholung als konstitutive Technik zeigt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich in ihrem Produktionsverständnis programmatisch dem avantgardistischen Dogma des Neuen wie der Originalität entziehen. Mit dieser omnipräsenten Formel der ‚Wiederholung‘, mit dem der Mimesis-Diskurs in Differenz produzierende Gesten des H ­ ervorbringens

7 | Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 13.

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invertierte, sind eine Reihe von künstlerischen Praktiken, die mit Aporien der Deckungsgleichheit spielen, allerdings nicht mehr so ohne Weiteres zu fassen. Im intermedialen Rahmen, in Installationen und Computerspielen, werden gegenwärtig Darstellungsstrategien der vollständigen Verdopplung auf der Höhe der technischen Möglichkeiten entfaltet, die das Theater der Gegenwart wiederum mit eigenen Mitteln aufnimmt. Ein prominentes Anschauungsbeispiel dafür liefert der monumentale Filmloop The Clock. Der Film, der erstmals 2010 in London gezeigt wurde, imitiert das Funktionsprinzip einer Uhr. Aus einem gigantischen Archiv von tausenden Filmen montierte der Regisseur Christian Marclay einzelne Ausschnitte zu einem 24-stündigen Film zusammen, der echtzeitsynchronisiert immer eine der realen Zeit entsprechende Filmszene zeigt. So folgt man als Zuschauer*in etwa um Punkt 12 Uhr der 12 Uhr schlagenden Standuhr aus High Noon, und sieht um Mitternacht die Kirchturmuhr aus Orson Welles’ The Stranger schlagen. Dieses Prinzip wiederholt sich exakt 24 Stunden lang, bevor sowohl der Film als auch ein neuer Tag von vorne beginnen. Die Traditionslinie der Aneignungstechnik aus dem Bereich des Found Footage, die ‚gefundenes‘ Material kompiliert, ist dabei zunächst ebenso evident wie die Arbeit mit filmischen Fragmenten. Allerdings übt nicht nur der Blick in die schiere Größe des heterogenen Archivs, die Marclay aufbietet, eine Faszinationskraft aus. Vielmehr zeigt sich das übergreifende Kompositionsgesetz als Vorgang, Fragmente zur totalen Form zusammen zu montieren, sodass der tatsächliche Nachvollzug und die filmische Spiegelung eines Tagesablaufs augenscheinlich erfahrbar gemacht werden. Die Tatsache, dass der Film exakt einen Sonnenumlauf dauert, macht ihn zu einem Modellfall zeitgenössischer ästhetischer Verdopplungsstrategien, die mit der Korrespondenz physikalischer Zeit und ästhetischer Zeiterfahrung arbeiten. Der Loop imitiert nicht nur den zeitlichen Verlauf eines Tages, sondern verkörpert metaphorisch auch die Erfahrungswelt des großen Ganzen und thematisiert überdies das Prinzip einer sogar unendlichen Wiederholung. Denn die Pointe der zugrundeliegenden durativen Ästhetik liegt darin, dass mit jedem neuen Tag auch der Film wieder von vorne beginnt und einer Never Ending Story gleicht, die auch dann noch weiter läuft, wenn das individuelle Erfahren, mithin das Leben, bereits vorbei ist. Ebenfalls in der formalen Dimension von 24 Stunden erzählt Jan Fabre seit 2015 die große Geschichte des Theaters und des Lebens. In seiner Performance Mount Olympus sind die 24 Stunden der Nukleus, ja der symbolische Vollzug von Ganzheit. In dieser Metonymie für das Leben selbst macht er sich durchaus repetitive Verfahren zu eigen und spielt die zeitliche Klaviatur von der Dehnung der Dauer bis hin zur Dynamisierung der Attraktion. Dabei steht aber gerade nicht mehr die Erfahrung einer zerstückelten Zeit, wie im postdramatischen Theaterdispositiv, im Zentrum, nicht die Absage an traditionell gebaute Ganzheiten, nicht

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die „Verneinung des Zeitverlaufs selbst“8, sondern geradezu die Steigerung der Erfahrung von Lebenszeit, die das Ganze modellhaft im Vollzug eines Tages in Aussicht stellt und doch aufgrund ihrer schieren Größe über die individuellen physischen Fähigkeiten hinausgeht.

Das unendliche Prozessgeschehen als totales Werk Neben diesem Spiel mit der totalen Erfahrung von Zeit, steht in den künstlerischen Aporien der Deckungsgleichheit die Verselbstständigung des unendlichen Prozessgeschehens des Lebens im Mittelpunkt. Damit ist auch die Erfahrungsqualität der Immersion angesprochen, eines, der Idee nach, in Aussicht gestellten, distanzlosen Eintauchens in eine primär sinnliche, aber auch intellektuell erfahrbare Umgebung. Im Jahr 2017 veröffentlichte der Filmregisseur und Künstler David O’Reilly dazu passend das Computerspiel Everything. Zugleich mit diesem programmatischen Titel verspricht das immersive Spiel nicht lediglich eine Simulation des gesamten Universums zu sein, in dem alle Spieler*innen jede vorstellbare Perspektive einnehmen können, sondern lanciert auch ein quasi-religiöses Konzept totaler Erfahrung. Denn das Spiel bietet schlicht einen Gang durch das Universum, in dem man sich spielend nach Wunsch von einem Wesen in ein anderes verwandeln kann und im daraus entstehenden ständigen Perspektivwechsel sogar die Möglichkeit erhält, die Dinge der nächsten Umgebung und die Welt als Ganzes aus den Augen anderer Wesen oder Dinge zu betrachten. Man errichtet sich förmlich seine Welt und die Welt der Anderen mit dazu, die wiederum erklärtermaßen auf einem umfassenden religionsphilosophischen Konzept von Entsprechung basieren, nämlich auf dem Mythos von der Korrespondenz zwischen Makro- und Mikrokosmos. Das Ansinnen, ein totales Behältnis für jede denkbare Verbindung zu kreieren, legte bereits Stéphane Mallarmé Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem maximalistischen Vorhaben des Le Livre vor, das als Hyperbel aller existierender Bücher angelegt war. Auf der Grundlage eines polyphonen Modells sollten in ihm potentiell unendlich viele Themen gleichzeitig existieren – das Buch als Multiplikation seiner selbst und somit „Expression der Welt“9 schlechthin. Dieses letztlich nie realisierte literarische Projekt speiste sich aus der Überzeugung Mallarmés, dass alles auf der Welt existiert, um in sein Buch einzugehen.10 Dieser Anspruch findet in O’Reillys Projekt seine späte Realisierung im interaktiven Medium des

8 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 42008, S. 336. 9 | Anke Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006, S. 42. 10 | Vgl. hierzu die entsprechende Formulierung Mallarmés im frz. Original: „[...] tout, au monde, existe pour aboutir à un livre.“ Zit. n. Robert Greer Cohn, Mallarmé’s Divagations. A Guide and Commentary, New York 1990, S. 277.

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­ omputerspiels. Dabei ist das Spiel, das über einen Automodus verfügt, der „das C diegetische Weiterexistieren einer Spielwelt“11 garantiert, nicht einmal mehr darauf angewiesen, von einer Spieler*in gelenkt zu werden. Die individuelle Erfahrung jeder einzelnen Spieler*in geht aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten hervor, aus denen das spielende Subjekt in Everything schöpfen kann. Mit einer derartigen Individualisierung der Erfahrung im ästhetischen Heterokosmos, dessen Existenz die persönliche Erlebniszeit übersteigt, arbeiten schließlich auch zahlreiche immersive Theaterformen der Gegenwart. Exemplarisch verkörpert etwa durch das Performancekollektiv SIGNA wird von Arbeiten wie Die Erscheinungen der Martha Rubin (2007) bis hin zu Das halbe Leid (2017) in mehr oder weniger expliziter oder eindringlicher Weise über die Einladung, mithin das Diktat des Agierens, das an die Besucher*innen dieser weltenähnlichen Konstruktionen ergeht, eine kritische Durchdringung der eigenen Wahrnehmung, des eigenen Handelns und des Raumes angeregt, in dem all das stattfindet. Allerdings tun dies derartige Performance-Installationen nur unter der Bedingung einer vollkommenen Durchgestaltung von fiktionalisierten Parallelwelten und sind insofern Verdopplung des Geschehens des Lebens selbst, an dem man nur in Ausschnitten partizipiert. In diesem Sinne ergibt sich die radikale Individualisierung der persönlichen Erfahrung, das Versprechen eines Eintauchens gerade aus der Inszenierung eines totalen ästhetischen Heterokosmos, der Karte im Maßstab 1:1.

Die Mise en abyme des ,großen Ganzen‘ Derartige Akte der (Re-)Produktion als Extremform künstlerischer Wiederholungsstrategien schälen zunächst den Modus der imitatio, der in der Rhetorik den ästhetischen Grundprinzipien der inventio und dispositio nebengeordnet ist, als Provokation heraus. Als historisch signifikantes Beispiel entzieht sich bereits das Tableau vivant explizit dem künstlerischen Erfindungsprinzip, Neues aus dem Vorhandenen zu gestalten und strebt – ganz im Gegenteil – nach einer Transposition des bereits Existierenden, das es ‚noch einmal‘, nunmehr im anderen Medium darstellt. Das 20. Jahrhundert kennt die Praktiken des seriellen Readymades à la Andy Warhol und des Reenactments, die ebenso die Differenz in der Wiederholung offenbaren.12 In der Tat produziert jede der Wiederholungen, die für die gerade gezeigten Aporien der Deckungsgleichheit konstitutiv sind, unweigerlich Differenz. ­Zugleich

11 | Stephan Schwingeler, „System Everything“, in: The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien, hg. v. Berliner Festspiele, Berlin 2018, S. 6–8, hier S. 7. 12 | So konstatiert etwa Gilles Deleuze, dass „[d]ie exakteste, die strengste Wiederholung mit dem Maximum an Differenz“ korreliert. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 1997, S. 14.

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allerdings speist sich aus den technischen und technologisch avancierten Möglichkeiten des Produzierens von Doppelungen, Kohärenz oder Wiederholungsschleifen eine Faszination für das potentiell unendliche Prozessgeschehen selbst. Und so zeigen die eben skizzierten künstlerischen Strategien der Gegenwartskunst im Gegensatz zur hinlänglich diagnostizierten „Dekonstruktion von [...] Formtotalität“13 eine starke Tendenz zur Erzeugung von ‚Duplikaten der Welt‘ und sind darin kritisch auf einen spezifischen Mimesis-Begriff zurückzuführen, der vor allem auf der historischen Kategorie der aemulatio, der Überbietung aufbaut. Im Zusammenhang mit den immersiven Verdopplungswelten der gegenwärtigen Theater-, Performance- und Installationskunst soll an dieser Stelle der Begriff der aemulatio, der Überbietung eingebracht werden, dem in Geschichte und Gegenwart zweifelsohne deshalb ein ideologisch problematisches Potential zukommt, weil er einen Herrschaftsdiskurs aufruft. Noch mehr als mit der imitatio ist mit der aemulatio als Überbietung ein normativer Bezugsrahmen gesetzt, der die Logik des Fortschritts sichert. Die Borges’sche Karte geht in dieser Stoßrichtung so weit, dass der Fortschritt sich selbst annulliert und die Karte unbrauchbar wird. Zugleich wird Mimesis dabei ex negativo als ästhetisches Paradigma aufgerufen. Im konventionellen Verständnis von Mimesis spielt die aemulatio, die Borges spielerisch ausleuchtet, eine untergeordnete Rolle. So hatte etwa Husserl ein semiotisches Verweissystem zwischen Bild und Vorbild im Sinn, das die Überbietung, verstanden als künstlerische Hervorbringung von Welt-Adäquanzen geradezu ignoriert. Für ihn repräsentiert vielmehr das „inadäquate“ Zeichen idealtypisch eine Welt. Es „‚repräsentiert‘ die Sache und erinnert zugleich an sie, ist für sie Zeichen. Letzteres so, daß es sich als geeignet erweist, eine adäquatere Vorstellung von ihr herbeizuziehen.“14 Nicht die identische, mithin exakt formatierte Nachbildung der Sache, nicht die Karte im Maßstab 1:1 bildet vollkommen ab, lautet der Gemeinplatz mimetischer Theorie, sondern gerade das inadäquate Zeichen trägt zur Vervollkommnung des Gesamtbildes bei. Entgegen Husserl, der von einer für den Diskurs der Mimesis typischen Relation der Inadäquatheit zwischen Zeichen und Sache ausgeht, gibt der Begriff der aemulatio eine Idee aus, in der die Adäquatheit des Zeichens im Zentrum der Mimesis verankert ist. Die aemulatio, die der imitatio als dem Vorgang der Übung an den Vorbildern, die Kunst der Überbietung zur Seite stellt, soll die nachgeahmten Vorbilder letztlich schlicht noch übertreffen. Das Panorama simulierter Verdopplung in der Gegenwartskunst akzentuiert dabei weder den ikonoklastischen Bruch (das wäre das Mythologem der

13 | Lehmann, Postdramatisches Theater, 42008, S. 336. 14 | Edmund Husserl, „Logische Untersuchungen“, in Husserliana, Bd. 19/1, Dordrecht 1984, S. 524.

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­historischen Avantgarde) noch den postmodernen Zitat- und Fragment­charakter, sondern die mise en abyme des ‚großen Ganzen‘ in die Kunst. Als Ersatz einer totalen Erfahrung des ‚In-der-Welt-seins‘ stellt sie dabei nicht selten deren ­Steigerung (aemulatio) in Aussicht, ein ästhetisches ‚In-der-Welt-sein‘. Auf diese Weise brachte der horror vacui der Kunst nach dem „Ende der Geschichte“15 ­vielleicht seine eigene Kompensation hervor. Diese besteht darin, mit einer eigentümlich kartographischen Technik fiktionale Welten zu kreieren, die letztlich so groß werden wie das Leben selbst. Dass dieser strategische Zug zur Verdopplung die Vision eines ästhetischen Heterokosmos mit sich bringt, der in widersprüchlicher Weise mit der Überbietung und der Übertreibung spielt, zeigt sich an künstlerischen Phänomenen, die den Erfahrungsraum als totale Immersion ausweisen, wie an jenen, die mit der Verdopplung der lebensweltlichen Zeit arbeiten. Um noch einmal auf Borges zurückkommen: Es zeigt sich der Aufbau der ‚Welt-Karte‘ aus deren i­ genen Ruinen.

15 | Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992.

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Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden Lisa Wolfson

Vier Bearbeitungstechniken ‚Kürzen‘ (oder Ein-Streichen) ist eine Technik der Entfernung des Überflüssigen und für den konkreten Verwendungszusammenhang Unnötigen. Es geht darum, einen Text zu reduzieren, seine Essenz, seinen Bedeutungskern freizulegen, genauer: die für das Thema oder die jeweilige soziale und politische Situation relevanten Elemente heraus zu präparieren. ‚Pfropfen‘ ist ursprünglich eine Agrartechnik, mit der Erträge gesteigert und verfeinert werden. Als Kulturtechnik betrachtet ist es ein Verfahren zur Steigerung und Modifikation von Sinn. Die kunst- und literaturwissenschaftlichen Theorien, die sich mit diesem Verfahren beschäftigen, widmen sich in erster Linie der Frage nach der besonderen Beschaffenheit der Schnittstellen, an denen der Text aufgetrennt und durch die Einführung eines fremden Elements erweitert und verändert wird. Neben der Metapher des Pfropfens kommen auch medizinische Begriffe wie Impfen und Transplantieren1 ins Spiel. Ein wichtiger Aspekt bei diesen Techniken ist ihr experimenteller und innovativer Charakter. Insgesamt lässt sich bei der Diskussion über das Pfropfen eine Abkehr vom Diskurs über Intertextualität, der primär an der Aufdeckung latenter oder verleugneter Bezüge innerhalb von Texten interessiert war, und eine Hinwendung zu den bewussten und konstruktiven Eingriffen in Texte konstatieren. ‚Kommentieren‘ ist ein hermeneutisches Verfahren, das auf direkte Eingriffe in den Text verzichtet. Der Kommentar tritt gleichsam neben den Text und macht seinen zuweilen erheblichen und maßgeblichen Einfluss von einer externen Position aus geltend. Er kann das Verständnis des gesamten Textes bestimmen oder sich darauf beschränken, nur einzelne ‚dunkle Stellen‘ aufzuhellen und die Herkunft bzw. den sozial- und ideengeschichtlichen Kontext des Textes zu erläutern.

1 | Vgl. Uwe Wirth (Hg.), Pfropfen, Impfen, Transplantieren, Berlin 2011.

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In der Moderne erhält der Kommentar eine Sonderstellung. Seit Adorno und Gehlen die Kommentarbedürftigkeit einer Kunst, die das Prädikat ,modern‘ verdient, behauptet und durch den Hinweis auf die fehlende Rücksichtnahme der neuen Kunst auf Verständlichkeit und ihre forcierte Verwendung unkonventioneller Materialien begründet haben, gelten Kommentare als unverzichtbare Bestandteile von Werken, die radikal, hermetisch und auf der Höhe der Zeit sein wollen. Bei Theaterinszenierungen kann das Programmheft die Kommentarfunktion übernehmen. Aber ehrgeizige Aufführungskonzepte machen es sich zur Aufgabe, Kommentare in das Bühnengeschehen einzufügen; zum Beispiel durch Texteinblendungen oder auch dadurch, dass eine Figur aus sich heraustritt und eine distanzierte Haltung zu sich einnimmt, eine quasi ,exzentrische Positionalität‘ (im Sinne von Helmuth Plessner) bezieht und das eigene Tun und Lassen reflektiert. Neben diesen drei Techniken existiert noch eine vierte Technik, der besondere Aufmerksamkeit gebührt. Denn hier werden zwei (oder auch mehr) eigenständige Texte unter einem bestimmten Gesichtspunkt zusammengeführt, um eine neue durchaus spannungsvolle und mitunter sogar konflikthafte Einheit zu bilden. Gemeint ist das von Regisseur*innen, Dramaturg*innen und von der Theaterkritik gelegentlich sogenannte ‚Verschneiden‘ von Texten. Anders als die drei zuvor erläuterten Begriffe (Kürzen/Ein-Streichen, Pfropfen, Kommentieren) hat sich das Verschneiden – trotz der vielfachen Verwendung bei Praktiker*innen und Rezensent*innen – noch nicht als wissenschaftlicher Fachterminus etabliert. Hier herrschen noch die gängigen Begriffe Montage, Collage und Bricolage vor. Auf dem Feld der Musik ist zumeist von ,Sampling‘ die Rede. Dieser Aufsatz schlägt vor, im Bereich des Theaters den Begriff ‚Verschneiden‘, der sich zur Bezeichnung spezieller Tabak- und Alkohol/(Wein)-Mischungen als geeignet erwiesen hat, für Verfahren zu benutzten, die folgende Merkmale oder Eigenschaften aufweisen: 1. Die miteinander kombinierten Werke (Stücke oder Texte) können auch unabhängig voneinander bestehen und besitzen genuine Eigenschaften bzw. Besonderheiten. 2. Die zusammengefügten Anteile der Werke befinden sich in thematischer Hinsicht im Gleichgewicht und werden auch in quantitativer Hinsicht derart berücksichtigt, dass ihre Eigenständigkeit kenntlich bleibt. 3. Sie repräsentieren unterschiedliche, klar voneinander abgrenzbare Medien, Genres, Formate.

Verhältnis zum Text Die bislang genannten Verfahren ‚benutzen‘ den Text unter bestimmten Perspektiven und mit bestimmten Zwecken. Sie nehmen eine mittlere Position zwischen zwei anderen prominenten Haltungen zu Texten ein. Gemeint ist:

Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden

1. die Einstellung der Werktreue, die dem Werk eine leitende Idee, einen fixierbaren Gehalt, eine intrinsische Bedeutung zuschreibt und die Auslegung oder szenische Umsetzung an dieser (inhaltlich bestimmbaren) Idee orientiert bzw. auf diese Idee verpflichtet, 2. eine Einstellung, die ich als Dramaturgie der Einfälle bezeichnen möchte. Sie betrachtet den Text als pures Mittel oder Material, um ästhetische Innovationen zu ermöglichen, mit denen man das Publikum verblüffen, in Erstaunen versetzen, verzücken, irritieren oder auch schockieren kann.  ährend sich das erste Vorgehen dem (vermeintlichen bzw. unterstellten) ‚obW jektiven‘, immanenten Sinn des Textes unterwirft, instrumentalisiert das zweite Vorgehen den Text zu Zwecken, die ihm im Grunde äußerlich sind und nur die ästhetische Kraft und die Virtuosität der Interpreten ins rechte Licht setzen sollen. Die Verfahren des Streichens, Pfropfens, Kommentierens und Verschneidens, denen meine Aufmerksamkeit gilt, haben ebenso wie die Dramaturgie der Einfälle, die beim sogenannten ,Regietheater‘ im Zentrum steht, eine funktionale Einstellung zum Text oder Material; aber sie stellen die Kunst der Herstellung ganz in den Dienst einer Idee, die freilich – anders als im Konzept der Werktreue – nicht als objektiver Gehalt des Textes ausgegeben wird, sondern als eine zeitgebundene, situative, vom interpretierenden Subjekt und der jeweiligen Interpretationsmethode abhängige Größe gilt.

Die Eigenart des Verschneidens Die Vorzüge dieses Verfahrens liegen darin, dass es die von ihm vorgeführte Doppel- oder Mehrfach-Perspektive durchhält und keine Amalgamierung oder Vermischung anstrebt. Das Verfahren beansprucht analytische Schärfe und zielt auf Prägnanz und die Akzentuierung von Differenzen. An einigen signifikanten Beispielen möchte ich darlegen, welche Inszenierungsstile und Kombinationstechniken nicht unter den Begriff des ,Verschneidens‘ fallen. Gemeint sind zwei gegensätzliche Vorgehensweisen: 1. der Einbau bzw. das Aufpfropfen einzelner, besonders auffälliger und aussagekräftiger Zitate aus fremden Texten (dieses Verfahren bewährt sich bei der Inszenierung ‚klassischer‘ Texte) und 2. die Überwucherung von Dramentexten namhafter zeitgenössischer Autor*innen durch fremde Texte (dieses Verfahren erweist sich bei Erstaufführungen als besonders effektvoll und ggf. auch als skandalträchtig). Zitat-Aufpfropfung: Exemplarisch für diese Methode ist Klaus Michael Grübers Inszenierung der Bakchen des Euripides im Rahmen des Antikenprojektes der Berliner Schaubühne im Jahr 1974. Pentheus, dem König von Theben, gespielt von Bruno Ganz, wird eine Passage aus der Feder des jungen Wittgenstein in den Mund gelegt. Diese Texte verdeutlichen Pentheus’ rationalistische Einstellung gegenüber religiösen Kulten, die seine Herrschaft gefährden könnten. Es handelt

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sich um Einträge in Wittgensteins Tagebuch vom 31.05.1915 und vom 08.07.1916.2 Pentheus erscheint auf der Folie dieser grundsätzlichen Bemerkungen über Welt, Sprache und das Göttliche als radikaler Positivist, dessen Weltinterpretation sich im Verlauf der Handlung als unhaltbar erweist. Überwucherungsstrategie: Hier geht es um Inszenierungen, bei denen nur wenig vom Originaltext übrigbleibt. Der Original- oder Basistext wird durch andere Texte, assoziationsstarke Bilder, Choreographien von Personen und Dingen sowie optische und akustische Eindrücke regelrecht marginalisiert, ausgedünnt, verfremdet oder gar überfremdet. Einar Schleef inszeniert 1993 die Uraufführung von Rolf Hochhuths Wessis in Weimar. Verwendet werden nur etwa 10 % des Textes – der Autor verwahrt sich jedoch gegen diese Aufführung und besteht darauf, dass jedem Zuschauer das publizierte Buch mit dem vollständigen Stücktext als Geschenk des Hauses überreicht wird. Christoph Schlingensief inszeniert 2003 Jelineks Bambiland und verwendet nur ca. 5 % des Textes. Diesen Restbestand ergänzt er themenbezogen mit eigenen Fundstücken und (seiner Ansicht nach) passenden kulturellen Ablagerungen aller Art. Er radikalisiert damit die Vorgehensweise der Autorin, die Sprachmaterialien verschiedenster Herkunft kompiliert. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass Jelinek diesen Umgang mit ihrer patchworkartigen Vorlage billigt.3

Beispiele für das Verschneiden von Stücken Von derartigen Formen der Verknüpfung von Basistext und Ko-Text unterscheidet sich die idealtypische Verschneidungstechnik durch den Versuch, zwei (u.U. auch mehrere) gleichrangige Texte zu verknüpfen und beiden (oder allen benutzten) Texten gerecht zu werden. Besonders attraktiv ist die Verbindung von Texten, die unterschiedlich bewerteten Genres zugeordnet werden (z.B. Trivialliteratur und ‚Höhenkammliteratur‘). Exemplarisch zu nennen wäre hier Frank Castorfs Kombination von Pension Schöller (Wilhelm Jacobi/Carl Laufs, 1890) und Die Schlacht (Heiner Müller, 1951–1974) aus dem Jahr 1994. Zu nennen wäre ferner die Verknüpfung von Oskar Panizzas Liebeskonzil (1911) mit Heinrich Lautensacks Pfarrhauskomödie (1894), die Thomaspeter Goergen und Helmut Schäfer 2010 am Theater an der Ruhr zur Aufführung brachten. Castorf „presst“ – wie es in der Rezension von Benjamin Henrichs heißt – in die Berliner Posse von 1890, die ins Kriegsjahr 1939 verlegt wird, Szenen aus Hei-

2  |  Siehe hierzu die Analyse bei Erika Fischer-Lichte, Tragedy‘s Endurance: ­P erformances of Greek Tragedies and Cultural Identity, Oxford 2017, S. 284. 3 | Siehe hierzu Lisa Wolfson und Lutz Ellrich, „Komik-affine Spielweisen in den ­I ­n szenierungen von Jelineks Theatertexten“, in: Pia Janke und Christian Schenkermayr (Hg.), Komik und Subversion – Ideologiekritische Strategien, Wien 2020 , S. 393-408.

Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden

ner Müller Die Schlacht „gewaltsam hinein“.4 Dieses Verfahren steigert den Kontrast von Grauen und banaler Komik. Bei Schäfer und Ciulli hingegen werden laut Kritiker Stefan Keim die Szenen aus beiden Dramen „so geschickt [...] ineinander montiert, dass der neue Text wie aus einem Guss wirkt.“5 Dieses äußerst gelungene thematische Verweben der Handlungsstränge aus den gewählten Stücken lässt freilich den Unterschied der Schauplätze (Erde und Himmel) und der jeweils verwandten Sprechweisen besonders deutlich hervortreten. Die Überzeugungskraft der genannten Inszenierungen beruht auf der prägnanten Akzentuierung beider Momente: Einheit und Differenz. Ein besonders interessantes Beispiel für das Verschneiden zweier Stücktexte liefert die Inszenierung König Ubu # Am Königsweg, die Alfred Jarrys König Ubu und Elfriede Jelineks Am Königsweg kombiniert und 2017 am Theater an der Ruhr Premiere feierte. Regie führte Philipp Preuss,6 als Dramaturg fungierte Helmut Schäfer. Beide Stücke kreisen um autoritäre Herrscher, die ihre Macht hemmungslos ausüben und die Motive bzw. Ziele ihrer Anordnungen und Handlungen in einer Sprache artikulieren, welche zugleich verschleiernd und entlarvend ist. Die Inszenierung möchte durch Kombination eines Stückes, dessen Uraufführung im Jahre 1896 zu einem Theaterskandal führte, mit einem zeitgenössischen Text einen Beitrag zum besseren Verständnis aktueller politischer Phänomene und Tendenzen liefern, die unter den Stichwörtern Populismus, Selbstzerstörung der Demokratie, Rückkehr autoritärer Strukturen, Demagogie, Täuschung etc. diskutiert werden. Jelineks Stück liefert – obschon etwa Zweidrittel des Textes gestrichen sind – die sprachliche Basis der Inszenierung; aus Jarrys Ubu werden nur ganz wenige Sätze entnommen. Dennoch erreicht die Aufführung ein delikates Gleichgewicht7 zwischen den Anteilen der beiden Vorlagen. Jelineks anspielungsreiche, semantisch überdeterminierte ,Textflächen‘8 und die in Jarrys Wortbrocken präsente Körperlichkeit halten sich die Waage.

4 | Siehe Benjamin Henrichs, „Pension Hitler oder das fidele Grauen“, in: DIE ZEIT, Nr. 18, 09.04.1994. 5 | Stefan Keim, „Sünden der gelähmten Seeelen [sic!]. Theateraufführung vereint Liebeskonzil und Pfarrhauskomödie“ in:, Deutschlandfunk Kultur, 15.09.2010, unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/suenden-der-gelaehmten-seeelen.1013. de.html?dram:article_id=170955 [30.11.2019]. 6 | Preuss hatte bereits 2013 am Schlosstheater Moers Jelineks Kein Licht mit Aischylos' Prometheus verschnitten. 7 | Vgl. das Stück von Edward Albee A Delicate Balance. 8 | Zur Verwendung dieses Begriffs bei Jelinek siehe Wolfson/Ellrich, „Komik-affine Spielweisen“, 2020.

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Insgesamt gibt es fünf Ubu-Szenen, die ca. 5 bis 7 Minuten dauern (die Gesamtlänge der Aufführung beträgt 2 Stunden und 20 Minuten) und sich in das JelinekStück einfügen. Diese Szenen fungieren als Kontrast auf der Ebene der Sinne und als semantische Ergänzung, als eine Art primitiver Subtext – übrigens nicht nur sprachlicher Natur – für Jelineks Rhetorik der Tabubrüche, politischen Unkorrektheiten, Fake-News etc. Die Einschübe bezwecken aber keine intellektuelle Aufschlüsselung von Jelineks mäandernden Sätzen, sondern sind höchst artistische physische Demonstrationen, die das unbewusste Begehren des Machthabers zum Ausdruck bringen. Die golden schimmernde Dreidimensionalität des königlichen Lametta-Saals, in dem vier männliche Königsanwärter in Feinripp und Bademänteln sowie eine ‚Seherin‘ agieren, weicht einem riesenhaften zweidimensionalen Ekel-Geschöpf. Dieses wird auf einen weißen Vorhang projiziert, der zuerst unvermutet aus dem abgedunkelten Nichts erscheint und die Hinterbühne abtrennt, für spätere UbuParts aber wirkungsvoll aufgezogen wird. Erst auf den zweiten Blick lässt sich der abartige, puppenhafte und zugleich lebendig-fleischliche Körper-Kopf als ein menschlicher Leib identifizieren – geschminkte Brustwarzen in nichtblinzelnde runde Augen verwandelt, der rot markierte Nabel umgestaltet zu einem gefräßigen Mund, die aufgemalten flachen Nasenlöcher dazwischen. Ein anderer Schauspieler leiht dem grotesken Wesen Arme und Stimme. Die Animation dieses Ubu findet – durch Einsatz der Kamera vollendet – live hinter dem Vorhang in der goldenen Tiefe des königlichen Gemachs statt und lässt sich als Mini-Silhouette erahnen. Sobald der Vorhang zur Seite geschoben wird, kommt das sich auflösende Ubu-Arrangement unverschleiert zum Vorschein.9 Das Motiv der Verschleierung und Entschleierung, das Spiel mit Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit wird auch und gerade durch das Programmheft zur Inszenierung herausgestellt. Es erfüllt seine Funktion der (oben definierten) dramaturgischen Technik des Kommentierens auf doppelte Weise. Zum einen erläutert und legitimiert es das angewandte Verschneiden argumentativ, zum anderen rückt es mithilfe der Bild-Sprache ein zentrales Thema des Stücks in den Blick. Auf dem Cover des Heftes befindet sich nämlich unter den durch eine Raute verbundenen Titeln der aufgeführten Stücke (ALFRED JARRY – ELFRIEDE JELINEK / KÖNIG UBU # AM KÖNIGSWEG) das Bild zweier sich küssender

9 | Zum Charakter der Ubu-Teile siehe auch Christine Dössel, „Ich, ich, ich und ich“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.11.2017, unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/amkoenigsweg-in-muehlheim-an-der-ruhr-ich-ich-ich-und-ich-1.3762905?reduced=true [24.12.2019]; Wolfgang Platzeck, „Das Todernste: urkomisch – Jelineks Trump-Stück ,Am Königsweg‘ am Theater an der Ruhr umjubelt“, in: Westfälische Rundschau, 20.11.2017, unter: https://www.wr.de/kultur/trump-stueck-am-koenigsweg-am-theateran-der-ruhr-­u mjubelt-id212599535.html [24.12.2019].

Dramaturgische Techniken: Kürzen, Pfropfen, Kommentieren und Verschneiden

Personen, deren Köpfe mit Tüchern umwickelt sind, sodass man die Gesichter nicht erkennen kann. Es handelt sich um eine Reproduktion von René Magrittes Gemälde Die Liebenden, welches u.a. das Zusammenspiel von Latenz und Offenbarkeit symbolisiert. Auf die Inszenierung bezogen bedeutet dies: Ubu und (der von Jelinek nicht ausdrücklich beim Namen genannte) Donald Trump wirken zunächst wie völlig unverstellte, direkte Machtmenschen. Sie sprechen aus, was sie wollen und denken, brutal und offen, sie halten sich nicht an die Codes der politischen Korrektheit, sie erweitern das öffentliche Sprechen um bislang eher tabuisierte Elemente, die für den Stammtisch oder die Umkleidekabine typisch sind. Aber diese vermeintliche Offenheit, die Ehrlichkeit und Unverblümtheit signalisiert, ist in Wahrheit eine Maske, hinter der sich Interessen verbergen, die mit den Bedürfnissen des sogenannten ‚Volkes‘ oder der permanent beschworenen ‚Menschen‘ nicht übereinstimmen. Laut Preuss sind es die Erniedrigten, Beleidigten und Enttäuschten, die jetzt nach Täuschung suchen in unserer medialen Realität und einen König brauchen oder einen Königsweg, der sicher auch der Holzweg ist.10

Fazit Ich möchte dafür votieren, den Begriff des Verschneidens für bestimmte dramaturgische Techniken zu reservieren, mit denen zugleich ein Konzept zur Gewinnung von Einsichten verbunden ist. Es geht keineswegs um eine Art postmoderner Verquickung und Simulation, nicht um Camouflage und das Vergnügen an Verwechslungen. Die Zuschauer*innen sollen also zum Beispiel nicht Passagen aus alten Texten für Erzeugnisse der Gegenwart halten oder umgekehrt aktuelle Texte für Ausschnitte aus alten Büchern. Es geht vielmehr um Erkenntnisse, die aus der Dialektik von Einheit und Differenz des in Szene gesetzten Materials gewonnen werden können. Unangemessen wäre es daher auch, das Verschneiden mit dem in den letzten Jahren viel diskutierten ,Referenzialismus‘11 zu verwechseln. Anders als die Montage oder Collage, die für die „Erfahrung der vielen Brüche innerhalb der Moderne“ sowie deren „Fragmentierung und Zerrissenheit eine neue ästhetische Form“ bietet, werden in den „referentiellen Verfahren [...] die Teile [...] weniger zusammen- als [vielmehr] ineinandergefügt, indem [man] sie verändert, anpasst

10 | „Philipp Preuss im Gespräch mit Helmut Schäfer“ im Programmheft zu König Ubu # Am Königsweg, S. 2. 11 | Vgl. André Rottmann, „Reflexive Bezugssysteme/Annäherungen an den ‚Referenzialismus‘ in der Gegenwartskunst“, in: Texte zur Kunst 18/71, 2008, S. 78–94.

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und transformiert [...]. Nicht die Brüche zwischen den Elementen […] stehen im Vordergrund, sondern deren Synthese [...].“12 Das Verschneiden zielt nicht auf solche Formen der Synthetisierung. Es arbeitet zwar mit Überblendungen, löst die Differenzen des Materials aber nicht auf, um „etwas Neues, in sich Stimmiges“13 zu schaffen. Während die klassisch-modernen Verfahren der Montage und Collage besonderen Wert darauf legen, die Kontingenz der jeweiligen Zusammenstellungen als Signatur der Epoche zu betonen, soll das Verschneiden verborgene Sinnzusammenhänge sichtbar machen, ohne freilich Brüche und unheilbare Differenzen durch künstliche Synthesen zu kaschieren. Abschließend ist noch ein weiterer Aspekt zu betonen: Angesichts der oben genannten Beispiele lässt sich kaum übersehen, dass die Verschneidungstechnik für ein politisch ambitioniertes Theater besonders attraktiv ist, weil diese Technik Mittel an die Hand gibt, um die gegenwärtige Lage ästhetisch zu bewältigen. Die Wirklichkeit wird – aufgrund der Globalisierungsprozesse und der veränderten medialen Strukturen – zunehmend als heterogen und hybride wahrgenommen. Dies führt bei vielen Menschen zur Desorientierung14 und zur Suche nach einfachen Erklärungen. Allerdings geht es nicht nur um die Wahrnehmung von Wirklichkeit (und ihre computer-technisch versierten Manipulationen), sondern darum, dass die Komplexität der Welt tatsächlich ansteigt. Machtstrategisch eingesetzte hybride Strategien (die von Informationskriegen bis zu bewaffneten Konflikten reichen) sollen diese Unübersichtlichkeit potenzieren. Ein zeitgemäßes politisches Theater, das nicht nur den Finger in die Wunde legen will, indem es bestimmte für uns hier und heute relevante ‚Kerne‘ von aktuellen, älteren oder klassischen Texten freilegt, sondern auch darauf zielt, die zunehmend hybride Struktur der Gegenwart auf der Bühne zu veranschaulichen und zu reflektieren, wird sich daher in den Techniken des Verschneidens, die Darstellung und Kritik zugleich ermöglichen, üben (müssen).

12 | Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016, S. 99. 13 | Ebd. 14 | Siehe Lutz Ellrich und Lisa Wolfson, „Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart – Modelle, Positionen, Diskursverläufe. Versuch eines Überblicks“, in: Marietta Böning und Lutz Ellrich (Hg.), Werte-(De)Konstruktionen. Die Problematik starker Orientierungen, Berlin 2019, S. 20–53.

Monumente in Bewegung? Theater – Architektur – Praktiken Barbara Büscher, Verena Elisabet Eitel, Jan Lazardzig, Bri Newelesy und Marie-Charlott Schube1

Eine Vielzahl deutscher Theaterbauten und deren Träger – zumeist die Kommunen – stehen vor der Notwendigkeit einer Re-Konstruktion bzw. diverser Umbau- und Erhaltungsarbeiten. Kaum wird ein öffentliches Nachdenken über die Perspektivierung dieser Architekturen, ihre historische Grundlegung und der damit verbundenen Funktionen für je historische gesellschaftliche Konstellationen sowie den Möglichkeiten zeitgenössischer Aneignung sichtbar. Stattdessen geht es, wenn überhaupt, um spektakuläre Finanzierungsgrößen. In diesen Fragen spielen sowohl die innere Raumanordnung, in den meisten Fällen geprägt vom Gegenüber von Bühne und Zuschauerraum, wie auch die Platzierung des Gebäudes im Stadtraum sowie seine repräsentative Funktion durch die Gestaltung des Baukörpers und seiner Außenansicht eine Rolle. Beide bilden eine Technik im umfassenden Verständnis des Begriffs, die die Bedingungen des Spielens und Schauens, des Zeigens und Agierens determinieren, fördern und herausfordern. Architektur ist hier Technik im doppelten Sinne: Sie integriert handwerkliches Wissen und Ingenieurswissen, durch das die materielle Herstellung des Gebauten ermöglicht wird; und sie schafft durch Raum Situationen, die Aufführungen erst ermöglichen. Zwischen dem Charakter als Monument einer historisch begründeten Praxis und Beweglichkeit als Anforderung an einen immer wieder aktualisierten Zugang zu ihr möchten wir nach den Bedingungen aktueller Architekturen für Theater fragen. Die beiden Forschungsprojekte, die im Panel Monumente in Bewegung? Theater – Architektur – Raumpraktiken ihre Fragestellungen und (erste) Überlegungen vorstellten, bewegen sich aus zwei unterschiedlichen Richtungen aufeinander zu und ergänzen sich so. Während das erste Projekt von Entwicklungen

1 | Anmerkung zur Autorschaft: B. Büscher (Einleitung Gesamttext, Teil I a.), V. E. Eitel (Teil I b.), J. Lazardzig, B. Newelesy, M.-C. Schube (Teil II).

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seit den 1960er Jahren ausgeht und eine Bestandsaufnahme der aktuellen Theaterhäuser in einem erweiterten Sinne verstanden als Orte und Räume für die Aufführungskünste zugrunde legt, geht das zweite Projekt von der Theaterbausammlung der TU Berlin aus und stellt die Frage nach Theaterbau als epistemischem Konstrukt, das in seinen Prozessen der (Re-)Konstitution und Transformation ein Wissen in Bewegung konturiert. Schnittstellen der Projekte finden sich in der Frage nach dem Zusammenhang von Theaterbau und Öffentlichkeit einerseits, der auch Prozesse des Monument-Werdens einschließt, wie in der Verschränkung der spezifisch standardisierten Bauform (Bautyp Theater) mit sich verändernden Produktionsweisen und Spielformen, die als historische im Bautyp festgeschrieben sind.

Bewegliche Architekturen für die Aufführungskünste: Historische Entwürfe und aktuelle Praktiken Architektur und Raum für die Aufführungskünste: Entwicklungen seit den 1960er Jahren ist der Titel des Forschungsprojektes, aus dessen laufender Arbeit wir im Folgenden einige Beobachtungen und Überlegungen vorstellen.2 Der Gegenstandsbereich umfasst im Begriff Aufführungskünste Orte und Räume der ganzen Bandbreite künstlerischer Formen und Formate, die sich als Auf- oder Vorführung ereignen können, von Theater, Tanz, Performance bis hin zu Konzert, Ausstellung und Interventionen. Es geht dabei u.a. um Erweiterungen, die den Bautypus Theater überschreiten, und die offene, durchlässige oder bewegliche Architekturen3 für Programme und Produktionsweisen zur Verfügung stellen, die die räumlichen Spezifika einzelner Kunstgattungen verbinden oder aufheben. Um 1960 sind zahlreiche Theaterbauten in Deutschland neu- oder wiederaufgebaut, umgebaut und erweitert worden, einige stehen kurz vor der Fertigstellung.4 Andererseits beginnt im Gefolge der Entwicklung von Aktionskunst, Happening und Fluxus, aber auch eines veränderten Verständnisses von Raum als Inszenierungsparameter, wie etwa bei Peter Brook, Luca Ronconi oder der

2 | Architektur und Raum für die Aufführungskünste: Entwicklungen seit den 1960er Jahren ist ein transdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Leitung von Barbara Büscher (HMT Leipzig) und Annette Menting (HTWK Leipzig) und wird seit 2017 von der DFG gefördert. Mehr dazu unter: https://www.hmt-leipzig.de/de/home/fachrichtungen/ dramaturgie/forschung/architektur-und-raum [24.03.2020]. 3 | Unter dem Titel Bewegliche Architekturen – Architektur und Bewegung fand im Januar 2018 die erste Konferenz des Projektes in Leipzig statt. Vgl. http://www.perfomap. de/news/bewegliche-architekturen [24.03.2020]. 4 | So berichtet von der Fertigstellung der Häuser in Wuppertal und Bochum: Theater heute 11/1966.

Monumente in Bewegung?

Schaubühne Berlin um Peter Stein,5 ein Nachdenken über räumliche Anforderungen veränderter Spielweisen. Die Entwürfe, die damals entwickelt wurden, und der sie begleitende Diskurs über die Anforderungen an Architektur(en) für die Aufführungskünste, interessieren uns als mögliche Modellierungen für aktuelle Überlegungen und Entscheidungen. Um 1980 beginnt – zunächst in Form von Besetzungen (Stollwerck Köln 1980; Kampnagel Hamburg 1982) – die Etablierung von Orten der ‚freien‘ Theater- und Kunstszene in vor allem umgenutzten Industriearchitekturen. Diese Entwicklung wird mit dem in den 2000er Jahren durchgeführten Projekt IBA Emscherpark und der staatlicherseits geförderten Umnutzung der zahlreichen Zechenanlagen im Ruhrgebiet in eine Art repräsentativer Höhepunkt gewendet6 und bekommt in der Nutzung der monumentalen Architekturen durch das Festival Ruhrtriennale einen besonderen Charakter. Nicht zuletzt ist in den letzten Jahren deutlich geworden, wie viele Häuser der deutschen Stadttheater umfangreich saniert, umgebaut und erneuert werden müssen, u.a. um aktualisierten technischen Standards genügen zu können. Bei all diesen Vorhaben stellt sich die Frage, inwiefern, wo und wie die sich verändernden Verhältnisse zwischen Architektur und Raumpraktiken in den Aufführungskünsten zwischen wissenschaftlichen, künstlerischen und entwurfsplanerischen Positionen besprochen und ausgehandelt werden können. Architektur und Raumordnung im Inneren der Gebäude bedienen oder erfordern spezifische Spielweisen und Aufführungspraktiken und implementieren ein je spezifisches Verhältnis zwischen Publikum und Spielern bzw. den verschiedenen Gruppen von Akteuren zueinander.7 Merkmale eines bestimmten Bautyps (z.B. Theater, Konzerthaus, Oper etc.) sind aus spezifischen historischen Praktiken entstanden und bewahren sie auf, schreiben sie fest. Welche Konzepte, Entwürfe und raumbildende Praktiken gab es und gibt es dagegen, die Aspekte einer veränderlichen, beweglichen Nutzung und Nutzbarkeit reflektieren und ausprobieren? a.) Veränderbarkeit, Beweglichkeit spielt in der Verbindung von architektonischen, urbanistischen und theater-/kunst-konzeptionellen Diskursen der 1960er Jahre im Begriff der ‚offenen Form‘ eine Rolle. Man denke u.a. an Umberto Ecos

5 | Siehe Silke Koneffke, Theater-Raum: Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort 1900–1980, Berlin 1999, S. 393ff. 6 | Siehe u.a. Andrea Höber und Karl Ganser (Hg.), IndustrieKultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen 1999; Christine Schranz, Von der Dampf- zur Nebelmaschine. Szenografische Strategien, Bielefeld 2013. 7 | Siehe Barbara Büscher, „Mobile Spielräume“, in: Dies., Verena Elisabet Eitel und Beatrix von Pilgrim (Hg.), Raumverschiebung. Black Box – White Cube, Hildesheim 2014, S. 43–60.

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Schrift Das offene Kunstwerk8 oder an den polnischen Architekten und Kunsttheoretiker Oskar Hansen, dessen Überlegungen und Praktiken zu und mit offenen Formen in der Architektur seit einiger Zeit wieder rezipiert werden.9 1969 beschäftigt sich z.B. die Zeitschrift Bauwelt mit dem „Entwerfen von ‚offenen Räumen‘, die die Funktionen vermischen, umdeuten oder erst nachträglich entstehen lassen“.10 Eines der denkwürdigsten Beispiele neu konzipierter Bauten für die Aufführungskünste dieser Zeit ist der vom britischen Architekten Cedric Price in der ersten Hälfte der 1960er Jahre für die und mit der Londoner Theaterregisseurin Joan Littlewood entworfene „Fun Palace“, der unrealisiert blieb. Transparent nach außen und variabel in der inneren Zusammensetzung sollte er die verschiedensten räumlichen Konstellationen ermöglichen und diese den Bedürfnissen seiner Nutzer*innen gemäß adaptieren. Die Schnittperspektive, mit der Price den Innenraum des Fun Palace 1964 der Öffentlichkeit präsentierte, zeigte bewegliche Vortragssäle und Bühnen, die von der Decke in einer offenen Stahlstruktur hingen. Mit einem Schiffskran, der das Dach des Hallentragwerks quer überspannte, konnten die verschiedenen Raumelemente, Stege und Plattformen zu unterschiedlichen Kompositionen zusammengestellt werden.11

So beschreibt die Architekturhistorikerin Tanja Herdt den Entwurf von Price. Joan Littlewood selbst sprach von einem „laboratory of fun“ und „a university of the streets.“ Ihre Konzeption für die Nutzung und Bespielung dieses Palastes verband Lernen und Spielen, (Zu-)Schauen und selbst Agieren und erweiterte die Vorstellungen von Partizipation in/mit den Künsten zu einem kulturellen Handlungsraum, der mit seiner Platzierung im Londoner East End auch auf gesellschaftliche Teilhabe in einem umfassenden Sinne zielte.12 Schon auf dem Papier und in den Zeichnungen erweckt der „Fun Palace“ den Eindruck eines gigantischen, nun beweglich verstandenen Monuments einer technikbegeisterten Moderne, die den Raum (oder das Gefüge von Räumen) programmierbar denkt, als kybernetisches Modell.13

8 | Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1977 [1962/1967]. 9 | Siehe Oskar Hansen, Opening Modernism. An Open Form Architecture, Art and Didactics, hg. von Aleksandra Kedziorek/Lukasz Ronduda, Warschau 2014. 10 | Bauwelt 45/1969 (Umschlag vorne). 11 | Tanja Herdt, Die Stadt und die Architektur des Wandels: Entwürfe und radikale Konzepte im Werk von Cedric Price, Zürich 2015, S. 25. 12 | Siehe Nadine Holdsworth, Joan Littlewood, London 2017. 13 | Zum Zusammenhang von Kybernetik-Diskurs und zeitgenössischen Technologien u.a. in Bezug zu „Fun Palace“ siehe Mary Louise Lobsinger, „Cybernetic Theory and

Monumente in Bewegung?

Vergleichbare Entwurfsideen, wenn auch in reduzierter Dimension, finden sich z.B. in zwei Projekten der 1960er Jahre: das eine, initiiert von der Zeitschrift Theater heute (1965) unter dem Titel Entwurfsaufgabe – Theater für morgen, wurde u.a. von einer Gruppe von Studierenden an der TU Stuttgart bearbeitet, die ihre Ergebnisse 1970 veröffentlichte.14 Das zweite Projekt unter dem Titel Mobiler Spielraum – Theater der Zukunft war eine Planungsaufgabe an Architekturstudierende der TU Darmstadt 1969, deren Ergebnisse und die Aufgabe begleitende Überlegungen ebenfalls 1970 veröffentlicht wurden.15 In einem konzeptionelle Grundlagen zusammenfassenden Text heißt es dazu: Simultaneität und Mannigfaltigkeit der Ereignisse als Voraussetzung, wird in der Alltagsumwelt eine offene Spiellandschaft angestrebt mit einer einstellbaren Umgebung. Hierfür wird ein Baukasten vorgeschlagen aus spezifischen, jedoch vieldeutigen Bauelementen. [...] Die Räume dienen auf diese Weise als vorstrukturierte Aktionsfelder für Ereignisse von beliebigem Mediencharakter (von einfachen, alltäglichen Ereignissen bis hin zu komplizierten Multi-Media-Prozessen), bei denen jeder Teil in einem neuen Beziehungssystem eine funktionelle und assoziative Rolle spielen kann.16

Das Interesse, zumindest wie es sich in diesen Ideen und Entwürfen äußert, hat die Spezifika einzelner Aufführungskünste überschritten und sich dem zugewandt, was um den Begriff des Spiels zentriert ist und ganz unterschiedliche kulturelle und künstlerische Aktionen/Ereignisse umfassen soll. Die Entwürfe folgen den Prinzipien der Variabilität, Flexibilität und Mobilität. Sie alle denken Architektur als bewegliche, veränderbare Raumanordnung, als etwas, was sich den unterschiedlichen Bedürfnissen der Nutzer*innen anpassen können sollte. Diese grundlegende Tendenz der Entwürfe zu temporären Architekturen wirft u.a. die Frage nach Verbindungen zu den seit den 2000er Jahren entstanden Projekten ­temporärer Bauten

the Architecture of Performance“, in: Sarah Williams Goldhagen und Réjean Legault (Hg.), Anxious Modernisms. Experimentation in Postwar Architectural Culture, Cambridge/London 2000, S. 119–140; Stanley Mathews, „The Fun Palace as Virtual Architecture. Cedric Price and the Practices of Indeterminacy“, in: Journal of Architectural Education 59/3, 2006, S. 39–48; sowie eine genauere Betrachtung in Barbara Büscher, „1969–1964–2004...: Mobile Spielräume und urbane Paläste. Modellierung beweglicher Aufführungs-Architekturen“, in: MAP 10, Oktober 2019, http://www.perfomap.de/map10/ modellieren/mobile-spielraeume-und-urbane-palaeste [25.03.2020]. 14 | Heinrich Job und Roland Ostertag, Theater für morgen, Stuttgart/Bern 1970. 15 | Karlheinz Braun (Hg.), Mobiler Spielraum – Zukunft des Theaters, Frankfurt a.M. 1970. 16 | Jochem Jourdan, „Mobiler Spielraum“, in: Karlheinz Braun (Hg.), Mobiler Spielraum – Theater der Zukunft, Frankfurt a.M. 1970, S. 6–31, hier S. 21f.

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an der Schnittstelle von Architektur, Stadtplanung, Kunst und Intervention (z.B. Raumlabor Berlin oder OSA office for subversive a­ rchitecture)17 auf. b.) In der Betrachtung offener, durchlässiger oder beweglicher Architekturen nehmen die Produktionshäuser der freien Szene eine besondere Rolle ein. Sowohl in Hinsicht auf ihre Entstehungsgeschichte als auch auf (historische und aktuelle) Nutzungskonzepte und künstlerische Gebrauchsweisen/Praktiken sind sie unter dieser architektonisch-räumlichen Perspektive ein bisher noch kaum betrachteter Forschungsgegenstand.18 Im Verlauf der 1980er Jahre entstehen die ersten Produktionshäuser als ein Ergebnis der beginnenden Institutionalisierung der freien Szene. Die bisher innerhalb einer mobilen Struktur ohne feste Aufführungsorte und festen organisatorischen Kontext agierenden freien Gruppen und Künstler*innen begannen gegenüber der Kulturpolitik Forderungen nach infrastruktureller Förderung zu erheben.19 Der bereits angesprochene Aneignungs- und Umnutzungsprozess von Industriebauten und Bautypen jenseits traditioneller Theaterarchitektur ging mit den sich verändernden Ästhetiken durch Einflüsse aus anderen Kunstsparten und Spielweisen, die neue Anforderungen an den Theaterraum stellten, einher. In einem langwierigen Besetzungs- und zunächst provisorischen Bespielungsprozess hatten sich Akteur*innen der freien Szene den heute für ein Produktionshaus exemplarischen Bau mit mehreren nebeneinander liegenden Hallen auf dem Gelände des ehemaligen Eisenwerks Nagel & Kaemp erkämpft.20 1988 wurde das

17 | Siehe http://raumlabor.net; http://osa-online.net/cms/about-us/ [24.03.2020] und dazu Verena E. Eitel, „Theater in Bewegung. Eine Befragung des ‚Architektonischen‘ anhand mobiler und temporärer Aufführungsanordnungen“, in: MAP#10, Oktober 2019, http://www.perfomap.de/map10/mobilitaet/theater-in-bewegung [25.03.2020]. 18 | Seit 2016 besteht das Bündnis Internationaler Produktionshäuser als ein Zusammenschluss von sieben Institutionen der zeitgenössischen performativen Künste, die deutschlandweit zu den bedeutendsten gehören: Kampnagel Hamburg, PACT Zollverein Essen, tanzhaus NRW Düsseldorf, FFT Düsseldorf, Mousonturm Frankfurt a.M., Hellerau – Zentrum für Europäische Künste Dresden. Das Bündnis wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Siehe https://produktionshaeuser.de/produktionshaeuser/ [24.03.2020]. Die Untersuchung der Produktionshäuser, zu der große wie auch kleine Häuser ebenso wie die Situation in Flächenregionen zählen, ist ein zentraler Aspekt des Forschungsprojekts. 19 | Siehe u.a. Henning Fülle, „Theater für die Postmoderne in den Theaterlandschaften Westeuropas“, in: Manfred Brauneck/ITI Zentrum Deutschland (Hg.): Freies ­T heater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Berlin 2016, S. 285–334. 20  |  Siehe https://www.kampnagel.de/de/service/kontakt/historie/ [24.03.2020]; M. Tschermak, „Theater in den Hallen. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg in der

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Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main in einem denkmalgeschützten Turm der ehemaligen Seifenfabrik Mouson eröffnet.21 Neben diesen umgenutzten Industriearchitekturen finden sich auch Beispiele für gänzlich andere Bautypen wie beispielsweise Gewerbebau, Bürokomplex oder ein ehemaliges Straßenbahndepot (tanzhaus NRW, Düsseldorf). Trotz ihrer jeweiligen Umgestaltung zu Spielstätten behalten diese Bauten eine Eigendynamik. Dies betrifft den Standort und die Architektur des Gebäudes ebenso wie seine Materialien und die sich darin eingeschriebene Nutzungsgeschichte.22 Daraus resultieren architektonisch anders beschaffene Räume für Aufführungen, die häufig nicht nach Kunstsparten getrennt, sondern gleichermaßen für Konzert, Performance, Tanz, Ausstellung usw. bis hin zur Diskurs-Veranstaltung genutzt werden. Die Variabilität der Räume ist zugleich Bedingung als auch Aufforderung für diese programmatische Überlagerung. Auch in aktuellen Beispielen findet sich die Diskussion um Konzepte permanenter Umnutzung von Bauten oder Arealen. Hierzu kann der baldige Umzug des Forum Freies Theater in Düsseldorf zählen, das 2021 mit weiteren kulturellen Nutzer*innen in das ehemalige, sich aktuell im Umbau befindende, Postgebäude am Hauptbahnhof ziehen wird.23 Konzepte von Mischnutzungen zwischen verschiedenen kulturellen oder gänzlich diversen Nutzer*innen kommen auch in der Gestaltung sogenannter Kreativ- oder Kulturareale wie das Kreativquartier München oder das Kraftwerk Mitte in Dresden zum Tragen. Das Kreativquartier München bringt auf dem fünf Hektar großen Gelände der ehemaligen Luitpoldkaserne verschiedenste kreative Nutzer*innen zusammen, die dort ihre Galerien, Studios, Werkstätten, Proben- und Aufführungsräume unterhalten. Der Fortbestand und die Entwicklung des Areals sind ein Prozess, der gewachsene wie sich neu gründende Strukturen und Interessen vereinen will und dafür durch ein von der Stadt München gefördertes Quartiersbüro unterstützt wird.24 Eine andere Variante der gemeinsamen Gebäudenutzung erproben seit 2016 das tjg. theater junge generation Dresden und die Staatsoperette Dresden auf der ehemaligen Industrieanlage

Kampnagelfabrik“, in: Bühnentechnische Rundschau, 2/1983, S. 15–18 und F. Bars, „Kampnagelfabrik – 2. Akt“, in: Bühnentechnische Rundschau, 5/1986, S. 33. 21 | Siehe https://www.mousonturm.de/ueber-uns/ [24.03.2020]. 22 | Siehe u.a. Hermann Sturm, Industriearchitektur als Kathedrale der Arbeit. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, Essen 2007; Christine Schranz, Von der Dampfzur Nebelmaschine. Szenografische Strategien zur Vergegenwärtigung von Industriegeschichte am Beispiel der Ruhrtriennale, Bielefeld 2013. 23 | Siehe Jan Lemitz und Kathrin Tiedemann, „Gedanken zu einem Theaterumzug im Kontext stadträumlicher Dynamiken“, in: MAP#10, Oktober 2019, http://www.perfomap. de/map10/aneignung/gedanken-zu-einem-theaterumzug [25.03.2020]. 24 | Siehe http://www.kreativquartier-muenchen.de/ [24.03.2020].

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Kraftwerk Mitte, indem sie sich ein gemeinsames Foyer teilen. Neben ihnen sind weitere Nutzer*innen auf dem Gelände ansässig. Vom Aufführungsraum über das Gebäude bis hin zum Areal sind temporäre, variable und sich überlagernde Nutzungen möglich. In Bezug auf die Praxis vieler Produktionshäuser werden die Räume sowohl in beweglichen und offenen Anordnungen als auch in traditionellen Bühnen-Zuschaueranordnungen bespielt. Faktoren hierfür können die technische Ausstattung des Raumes, die zeitlichen und personellen Kapazitäten für Auf- und Abbauarbeiten sowie dispositionelle Rahmenbedingungen sein ebenso wie die Praxis tourender Gastspiele, die in verschiedensten Räumen unterschiedlicher Häuser gezeigt werden sollen. Wie kann sich eine spezifische und variable Raumnutzung gestalten und welche Formate oder Praktiken damit einhergehen? Können offene Architektur- und Bühnenanordnungen traditionell codierte Verhaltens- und Handlungsweisen für Publikum und Akteur*innen aufbrechen und neue Zugänge schaffen? Beispielhaft sei hier das Projekt IMPACT16 skizziert, das 2016 im Produktionshaus PACT Zollverein stattfand. 2002 wurde PACT Zollverein – Choreographisches Zentrum NRW offiziell in der ehemaligen Waschkaue auf dem Areal der 1986 stillgelegten Zechenanlage der Zeche Zollverein in Essen eröffnet und dient bis heute als eines der bekanntesten Beispiele im Zuge der Revitalisierung von Industriearchitekturen durch Kultur im Ruhrgebiet. Zwischen 1999 und 2000 wurde es vom Architekturbüro Christoph Mäckler aus Frankfurt am Main umgebaut. Sein Charakter als Industriebau wurde dabei bewusst erhalten, indem auch Details der bestehenden Architektur wie Fliesen, Seifenschalen und Terrazzoböden in Fluren, Foyers, Büros oder Waschräumen sichtbar blieben. Nur wenige Wände wurden herausgenommen oder neu eingefügt und damit Anlage und Größe der ursprünglichen Räume weitestgehend erhalten.25 Dies gilt z.B. für die Große Bühne, neben der es eine Kleine Bühne und mehrere Studios gibt, die ebenfalls für Aufführungen und Präsentationen genutzt werden können. Die Große Bühne verfügt über einen hellen Holzboden und hohe Fenster an einer der Längsseiten, die Tribüne – die zu einer klassischen Bühnen-Zuschaueranordnung beiträgt – kann komplett entfernt werden. Auch hier sind weiße Fliesen an mehreren Wänden erhalten worden. Das transdisziplinäre Symposium IMPACT16 bot seinen Teilnehmer*innen aus der erweiterten Praxis von Kunst und Wissenschaft Raum und Zeit für intensiven Austausch sowie für theoretische und praktische Experimente.26 Im Verlauf der Veranstaltung fand auf der Großen Bühne und in weiteren Räumen eine Mischung aus Arbeitssituationen und Präsentationen, aus Entwickeln und Zeigen kurzer szenischer Situationen statt. Die räumliche Anordnung bot

25 | Vgl. Ursula Baus, „Less Is More. Choreographisches Zentrum in der ehemaligen Zeche Zollverein, Essen“, in: deutsche bauzeitung 135/9, 2001, S. 52–58. 26 | Siehe https://www.pact-zollverein.de/plattformen/impact/impact16 [24.03.2020].

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­ ffenheit für eine wechselseitige Beziehung von Zuschauen und Zeigen jenseits O üblicher Zuordnungen von Probe und Aufführung, Publikum und Darsteller*innen. Gleichzeitig strahlt der Raum eine hohe Eigendynamik aus, die keine Neutralität, sondern Widerstand produziert. Für eine zukünftige Forschungsperspektive stellt sich die Frage nach individuellen und übergeordneten Betrachtungen des Verhältnisses von Spielweisen, Raumanordnung und Architektur für die Produktionshäuser der freien Szene. Wie lassen sich Bedingungen oder Entwurfsparameter aus der Praxis der Produktionshäuser für kommende Entwurfsprozesse ableiten? Und inwiefern können diese Räume durch ein künstlerisches Team im Sinne der Offenheit und Beweglichkeit kuratiert werden?

Theaterbauwissen in Bewegung Transfer- und Transformationsprozesse von Theaterbauwissen stehen im Mittelpunkt einer gemeinsamen Forschungsinitiative der Technischen Universität, der Freien Universität und der Beuth Hochschule in Berlin.27 Das Vorhaben gilt der interdisziplinären Erforschung der sogenannten „Theaterbausammlung“, einer umfangreichen und in dieser Art wohl einzigartigen Lehrsammlung zur Geschichte des Theaterbaus in Europa.28 Die Theaterbausammlung, seit 1969 an der Technischen Universität beheimatet (heute im Bestand des dortigen Architekturmuseums), umfasst Materialien aus den 1920er bis 1980er Jahren zu mehr als 500 Theaterbauten in Deutschland, Österreich, Frankreich, Slowenien, Polen, der Tschechischen Republik und Russland. Die bildlichen Quellen – Grundrisse, Schnitte, Fotografien und Schrift-Dokumente – geben Einblick in Situierung, Umfang und Zustand mitteleuropäischer Kulturbauten im 20. Jahrhundert. Über 5000 Sammlungsobjekte dokumentieren die baulichen Neuerungen der 1920er und 1930er Jahre, zeigen die theaterbaulichen Neu-, Um- und Rückbaumaßnahmen in der Zeit des Nationalsozialismus und dokumentieren den architektonischen Aufbruch der Nachkriegsmoderne.

27 | Das Forschungsvorhaben Theaterbauwissen – Epistemische Kontinuitäten und Brüche im Spiegel der Theaterbausammlung basiert auf dem Anfang 2018 erfolgreich abgeschlossenen, DFG-geförderten LIS-Projekt zur Erschließung und Digitalisierung der Theaterbausammlung der TU Berlin. Siehe http://www.tu-buehnenbild.de/ forschung/theaterbausammlung/ [24.03.2020]. 28 | Siehe Bri Newesely und Franziska Ritter, „Für die Öffentlichkeit zugänglich machen – Einzigartiges Digitalisierungsprojekt der Theaterbausammlung der TU Berlin“, in: Bühnentechnische Rundschau 4/2016, S. 58–61. Die Objekte sind im Online-Katalog des Museums recherchierbar: https://architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/index. php?p=610 [24.03.2020].

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Der bauhistorische Inhalt der Sammlung ist dabei nicht zu trennen von ihrer sich wandelnden epistemologischen Funktion. Begonnen als ein umfangreiches Dokumentationsprojekt zum Baubestand in der NS-Zeit, wird sie zu einem Instrument der Theaterbaulehre in der Nachkriegszeit, zuletzt am Institut für Theaterbau der TU Berlin. Diese funktionale Transformation hat wiederum auch neue Bestandsschichten hervorgebracht, so dass Inhalt und Verwendung, Wissensobjekte und Wissenspraktiken eng miteinander verbunden sind.29 Anhand der Theaterbausammlung lässt sich beobachten, wie wandelnde Semantiken von Gesellschaft und Öffentlichkeit die Bauaufgabe Theater immer wieder neu bestimmen und (re-) funktionalisieren, wodurch sich Brüche und Kontinuitäten in der Episteme ergeben, die wiederum in den Realisierungen von Theaterbau gesellschaftlich manifest werden. Aufgrund ihres epistemologischen Stellenwerts als Dokumentations-, Forschungs- und Lehrsammlung weist die Theaterbausammlung über sich hinaus und ermöglicht die Behandlung sehr grundlegender Fragen zur Geschichte des Theaterbaus im 20. Jahrhundert. Im Fokus der Forschungsinitiative Theaterbauwissen steht die wissens- und sammlungsgeschichtliche Konstruktion von ‚Theaterbau‘. Theaterbau wird demnach nicht (bzw. nur sehr eingeschränkt) auf der Ebene baulicher Manifestationen adressiert, sondern viel mehr als ein epistemisches Konstrukt, das sich in unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten durch spezifische Praktiken immer wieder (re)konstituiert, transformiert und vermittelt, also ein Wissen in Bewegung ist. Wissen (‚episteme‘) verstehen wir hier in Anlehnung an Michel Foucault als Wissen von etwas, als ein Wissen mit Geltungsanspruch.30 Diesen Geltungsanspruch gilt es durchzusetzen, er ist Gegenstand historischer Aushandlungsprozesse. Theaterbauwissen ist in dieser Hinsicht stets verbunden mit spezifischen Praktiken, Materialien, Medien und Darstellungsweisen, die eine Episteme konstituieren, tradieren, bestätigen, widerlegen, etc. Diese Prozesse bringen das epistemische Objekt ‚Theaterbau‘ hervor – womit keinesfalls nur intentionale und explizite, sondern ebenso diskrete und implizite Vorgänge angesprochen sind. In unserem Kontext sind es vor allem drei Praxisfelder, die Aufmerksamkeit erfahren: Dokumentieren, Standardisieren und Institutionalisieren.

29 | Die Theaterbausammlung ließe sich entsprechend mit Günther Abel als „metaepistemisches Objekt“ beschreiben. Siehe Günther Abel, „Sammlungen als epistemische Objekte und Manifestationen von Ordnungen des Wissens“, in: Uta Hassler und Torsten Meyer (Hg.), Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich 2014, S. 109–132. 30 | Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum und Anita Traninger, „Institution – Iteration – Transfer. Zur Einführung“, in: Dies. (Hg.), Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer, Wiesbaden 2015, S. 1–13.

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Für die Theaterbausammlung lassen sich außerdem grundsätzlich drei verschiedene Akkumulationsphasen ausmachen, die mit jeweils unterschiedlichen epistemischen Funktionen in Zusammenhang stehen. Jede Phase lässt sich schwerpunktmäßig einem der drei genannten Praxisfelder zuordnen. a.) Dokumentieren Die erste Phase (1939–1944) stellt die Grundlegung der Sammlung dar. Albert Speer gab 1939 in seiner Funktion als „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin“ (kurz: GBI) ein Publikationsprojekt in Auftrag: Geplant war ein umfassendes Handbuch mit dem Titel Das Deutsche Theater.31 Bis 1943 wurden an die 500 Theaterbauten im Deutschen Reich mithilfe eines standardisierten Fragebogens erfasst, in Plänen und in eigens angefertigten Fotografien dokumentiert. Speer beauftragte mit der Durchführung den in Berlin ansässigen Bauforscher Theodor von Lüpke (1873–1961) sowie ein Team aus Architekten, Kunsthistorikern und Bauzeichnern. Zum erweiterten Beraterkreis gehörten der Regisseur und Schauspiellehrer Joseph Gregor, der „Reichsbühnenbildner“ Benno von Arent und der Bühnentechniker Friedrich Kranich. Die Arbeit am Handbuch wurde 1944 kurz vor Fertigstellung eingestellt und das Werk blieb unveröffentlicht.32 Unter ‚Dokumentieren‘ verstehen wir im Fall der Theaterbausammlung eine (v.a. auch fotografische) Praxis der Authentifizierung und Evidenzialisierung, der zugleich eine je spezifische „Mitteilungs- und Zeigeabsicht“ innewohnt, die es bildanalytisch und ideologiegeschichtlich zu bestimmen gilt.33 Die Re-Funktionalisierung der ursprünglichen Dokumentationszusammenhänge nach 1944/45 lässt die Frage nach der praktischen Wirksamkeit dieser diskreten Mitteilungsabsichten der Dokumentation – gerade auch mit Blick auf die theaterbauliche Lehre und bühnentechnische Ausbildung – virulent erscheinen. b.) Standardisieren Die zweite Phase (1944–1969) beleuchtet den Übergang des Sammlungsmaterials in einen Lehr- und Forschungskontext. 319 Theater-Mappen wurden durch Lüpke über das Kriegsende hinweggerettet und 1946 nach Hannover in die Obhut von Friedrich Kranich Jr. (1880–1964) gegeben. Kranich, dessen Vater ebenfalls Bühnentechniker war, hatte seine ersten praktischen Erfahrungen am Theater unter Leitung des Bühnentechnikers Fritz Brandt gesammelt. Er wurde technischer Lei-

31 | Vgl. Theodor von Lüpke, BArch, R 4606/RE3-ANH-40, Bl. 4, 1946. 32 | Vgl. Harald Zielske, Deutsche Theaterbauten bis zum Zweiten Weltkrieg. Typologisch, historische Dokumentation einer Baugattung, Berlin 1971. 33 | Vgl. Friedrich Balke und Oliver Fahle, „Dokument und Dokumentarisches. Einleitung in den Schwerpunkt“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6/2, 2014, S. 10–17, hier S. 11.

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ter der Städtischen Bühnen in Hannover und des Bayreuther Festspielhauses. Bis ins 20. Jahrhundert wurde Bühnentechnik in der ingenieurswissenschaftlichen Ausbildung vor allem als praktische Aufgabe am künstlerischen Produktionsort gesehen. Mit seinem zum Standardwerk avancierten Handbuch Bühnentechnik der Gegenwart (1929/1933)34 trägt Kranich entscheidend zur Verschriftlichung und Standardisierung bühnentechnischen Wissens und zur Etablierung und Professionalisierung bühnentechnischer Lehre an den technischen Hochschulen bei.35 Bei der Übernahme des Sammlungsmaterials wirkt er – neben Gerhard Graubner – am Lehrstuhl für Theaterbau und Bühnentechnik an der Technischen Hochschule Hannover sowie als Direktor eines außeruniversitären Instituts für Theaterwissenschaft (1944–1947).36 Kranich ergänzt das GBI-Material sukzessive um eigenes Lehr- und Forschungsmaterial. Das Fach Bühnentechnik sollte an Hochschulen zum Hauptfach für technische Leiter sowie zum Nebenfach für künstlerische Vorstände gemacht werden, um für ein besseres gegenseitiges Verständnis zu sorgen. Der Gesamtnachlass Kranichs wird nach dessen Tod von der TU Berlin erworben. Die Re-Funktionalisierung der GBI-Bestände durch Kranich als Teil seiner Lehr- und Forschungssammlung erlaubt es, die Standardisierung bühnentechnischen Wissens im Rahmen einer historischen Epistemologie in den Blick zu nehmen. Mit ‚Standardisieren‘ ist hier das Explizieren und Vereinheitlichen von ausgewählten Routinehandlungen zum Zweck ihrer möglichst weitreichenden Verbreitung gemeint. Die Standardisierung bühnentechnischen Wissens vollzieht sich dabei im Verhältnis zu anderen Technikfeldern vergleichsweise spät,37 trägt aber umso entschiedener zur umfassenden Transformation und Vereinheitlichung bühnentechnischen Wissens bei.

34 | Friedrich Kranich, Bühnentechnik der Gegenwart, Bd. 1–2, Berlin/München 1929/1933. In Kranichs Nachlass in der Theaterbausammlung finden sich ferner Manuskripte für die Nachfolgebände Bühnentechnik der Vergangenheit und Bühnentechnik der Zukunft. 35 | Vgl. Klaus Wichmann, „80 Jahre ‚Bühnentechnik der Gegenwart‘“, in: Bühnentechnische Rundschau, Sonderband, 2009, S. 19–23. 36 | Friedrich Kranich gründet noch während des Krieges im Jahr 1943 das theaterwissenschaftliche Institut der Stadt Hannover, das er selbst als Direktor mit sechs Mitarbeiter*innen leitet, bis es 1947 aufgrund fehlender Bezuschussung zur Auflösung kommt. Jegliche Versuche, es an die Technische Hochschule, die Stadtbibliothek oder auch dem Bundesland anzugliedern, scheitern. 37 | Vgl. Friedrich Steinle, „Wissen, Technik, Macht: Elektrizität im 18. Jahrhundert“, in: Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens – Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln 2004, S. 515–537.

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c.) Institutionalisieren Nach 1945 wird der Bauaufgabe Theater – nicht zuletzt auch im Zeichen des Systemwettstreits zur Zeit des Kalten Krieges – ein hoher gesellschaftlicher und kultureller Wert zuerkannt.38 Im Zuge des rasch einsetzenden Wiederaufbaus und Neubaus von Theatern werden historische Wissensbestände angesichts veränderter politischer Anforderungen an die Bauaufgabe neu bewertet.39 Neue Wissensordnungen, Konzepte und Theaterbautheorien entstehen. Die baulichen und epistemischen Bewegungen der Nachkriegszeit rücken Theaterbau auch in den Fokus der Architektenausbildung, die unter dem Gesichtspunkt der Institutionalisierung von Theaterbauwissen im Fokus des dritten Untersuchungsschwerpunktes (19691987) steht. Unter Institutionalisierung verstehen wir soziale Formierungen, die qua habitualisierter Praktiken eine stabile Wiederholbarkeit (Re-Iteration) ermöglichen und sicherstellen.40 Wir gehen dabei davon aus, dass Institutionen ihren Akteuren nicht äußerlich sind, sondern durch deren Tätigsein erst hervorgebracht, definiert und verändert werden. Durch Fixierung und Kodifizierung von Wissen zielen sie auf langfristige, stabile Vermittlung, induzieren jedoch gerade durch diese Praktiken Wandel.41 Mit der Gründung des Instituts für Theaterbau an der TU Berlin kommt es 1969 zur Übernahme des Nachlasses Kranich. Er bildet den Grundbestand der Lehr- und Forschungssammlung des Instituts. Zu den umfangreichen Ergänzungen der Folgejahre gehört der ca. 1500 Objekte umfassende Foto-Nachlass Gerhard Graubners (1899–1970). Mit insgesamt neun realisierten Bauten (und zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen) ist Graubner einer der profiliertesten Theaterarchitekten der bundesdeutschen Nachkriegsmoderne. Er hatte bis 1967 als ordentlicher Professor auf dem Lehrstuhl Theaterbau und Bühnentechnik an der TH Hannover gelehrt und eine eigene Theaterbautheorie verfasst.42 Am neu gegründeten ­Institut

38 | Vgl. Claudia Blümle und Jan Lazardzig (Hg.), Ruinierte Öffentlichkeit. Zur Politik von Theater, Architektur und Kunst in den 1950er Jahren, Zürich 2012. 39 | Siehe zum Theaterbau der Nachkriegszeit in der BRD u.a. Gerhard Storck, Probleme des modernen Bauens und die Theaterarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Bonn 1971; Rolf Johannsen, „Das Ende vom Anfang. Theaterbau nach 1945“, in: Opernwelt 40/8, 1999, S. 21–28. 40 | Vgl. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, London 1967. 41 | Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum und Anita Traninger, „Institution – Iteration – Transfer. Zur Einführung“, in: Dies. (Hg.), Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer, Wiesbaden 2015, S. 1–13, hier S. 1–7. 42 | Graubner war ab 1933 Mitglied nationalsozialistischer Organisationen wie bspw. dem NSV und trat am 01.09.1939 in die NSDAP ein (Mitgliedsnr.: 7243289). Seine Berufung zum ordentlichen Professor für Entwerfen und Gebäudekunde an die TH Han-

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für Theaterbau wird diese im Kontext einer Analyse des Theaterbaus der Nachkriegsmoderne einer grundlegenden Kritik unterzogen.43 In Abgrenzung von den konventionellen Lösungen der Wiederaufbauphase findet man schließlich zu Konzepten des multifunktionalen Versammlungsbaus. Ein paralleler Institutionalisierungsprozess vollzieht sich in der DDR. Die 1951 gegründete Bauakademie der DDR verfügte bereits über eine Abteilung Theaterbau, die 1960 im Büro, später Institut für Technologie kultureller Einrichtungen aufgeht. Aus ihm geht dann das Institut für Kulturbauten (1975–1990) am Ministerium für Kultur als zentrale Vermittlungs- und Forschungsinstanz hervor.44 Diese Verschiebung reflektiert auch eine Neubewertung historischer Wissensbestände zum Theaterbau. Während der Theaterbau in der DDR als historisches Phänomen und als Rekonstruktionsaufgabe im Sinne des Erhalts des nationalen kulturellen Erbes figuriert, kommt es zeitgleich zu einer Besinnung auf sozialistische Traditionen des Kulturhausbaus. Unter Beibehaltung tradierter Theaterbausprachen wird hier die Abgrenzung zum traditionellen, bürgerlich-monofunktionalen Theaterbau gesucht.45 Die Arbeiten des Instituts für Kulturbauten finden wiederum Eingang in die ideologiekritischen Reflexionen am Institut für Theaterbau. Unsere forschungsleitenden Fragen lassen sich abschließend wie folgt zusammenfassen: Wie wird Theaterbauwissen durch Praktiken des Sammelns, Ordnens und Vermittelns transformiert? Wie zirkuliert Theaterbauwissen und welche personellen und institutionellen Netzwerke sind dabei wirksam? Wie ändert sich die

nover 1940 verdankte sich seiner Anbiederung an den NS. Vgl. Michele Barricelli u.a., Nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen an der Technischen Hochschule Hannover. Beeinträchtigungen und Begünstigungen von 1933–1945, Hannover 2016, S. 100. Zu Graubners Theaterbautheorie siehe Gerhard Graubner, Theaterbau. Aufgabe und Planung, München 1968; Christoph Rodatz, Der Schnitt durch den Raum. Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld 2010, S. 86ff. und Storck, Probleme des modernen Bauens, 1971, S. 568–594. 43 | Vgl. Rolf Pausch, Theaterbau in der BRD. Zur Ideologiekritik des monofunktionalen Theaterbaus seit 1945, Berlin 1974; Nikolaus Müller-Schöll, „Theaterarchitektur als gebaute Ideologie“, in: Theater heute 12/2018, S. 44–50. 44 | Vgl. Institut für Theaterbau (Hg.), Theater in Mehrzweckräumen, Berlin 1971; KurtWerner Knoll und Manfred Fiedler, Geschichte der Theatertechnik in der sowjetisch besetzten Zone und in der ehemaligen DDR, Stolzenhagen 2005, S. 47f. 45 | Vgl. u.a. Simone Hain, Stephan Stroux und Michael Schroedter, Die Salons der Sozialisten. Kulturhäuser in der DDR, Berlin 1996; Ulrich Hartung, Arbeiter- und Bauerntempel. DDR-Kulturhäuser der fünfziger Jahre, Berlin 1997; Christine Meyer, Kulturpaläste und Stadthallen der DDR. Anspruch und Realität einer Bauaufgabe, Hamburg 2005, v.a. S. 48–51 und S. 238–258.

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s­ oziale, politische und ästhetische Funktion und Legitimation von Theaterbauwissen im Laufe des 20. Jahrhunderts? Angesichts der zahlreichen Umbau- und Erhaltungsarbeiten am Theaterbauerbe der Nachkriegsmoderne scheint es geboten daran zu erinnern, dass Theaterbau mehr umfasst als Baupläne und Stadtmarketing. Ohne Einsicht in die vielfältigen Transformationen von Theaterbauwissen, muss die Bauaufgabe Theater unverstanden bleiben.

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Techné des Tanzes als ästhetische Strategie ,Formierungen‘ von Körper/Kräften Sabine Huschka Die Geschichte des europäischen Bühnentanzes durchzieht eine Geschichte der Ausbildung seiner ästhetisierten Körper. Tanzstile und ihre Bühnenästhetiken basieren grundständig auf der Verkörperung bewegungstechnischer Prinzipien und ihrer körperformierenden Maßnahmen. Schulungsmethoden, Wahrnehmungsstrategien und regelgeleitete Systematiken instruieren die Tänzer*innen und strukturieren gezielt eine körperlich-mentale Aneignung der jeweiligen ästhetischen Prinpizien. Ausgearbeitet finden sich divergente Trainingsformen, Körper- und Bewegungsübungen und deren bildliche und sprachliche Anleitungen, die spezifische Zugänge zum Köper und seiner ästhetischen Kunstfertigkeit sich-zu-Bewegen ausbilden. Ihre jeweilige ,techné‘1 des Tanzes kommt mit einer kulturellästhetischen Praktik überein, Körper zu Tanzkörpern zu (trans-)formieren. Die mal systematisierten, mal regelgeleiteten, mal forschend-experimentellen Aneignungsmethoden des Ästhetischen bergen Verfahren und prekäre Strategien der ,Formierung‘ von Kräften. Zwischen Disziplinierung, Ökonomisierung und einer empfindungsintensiven Initiierung, zwischen Aktivierung, Mobilisierung und Regulierung, zwischen Ausrichtung, Sensibilisierung und Öffnung des Körpers strukturieren sie Kräftefelder. Ausgebildet werden spezifische Kräfteverhält-

1 | ‚Techné‘ bezeichnet in seiner philosophischen Grundbedeutung eine Kunst oder ein Handwerk, das im Sinne der Philosophin Ursula Wolf ,eine praktische Disziplin bzw. ein praktisches Können‘ ausbildet. Als ein dergestalt praktisches Wissen, das in der antiken Philosophie eng mit Erkenntnis als epistêmê verbunden ist, eröffnet der Begriff für die folgende Untersuchung die Möglichkeit, methodologisch das ‚körperpraktischhandwerkliche‘ Wissen spezifischer Aneignungstechniken als eine praktizierte Kunstfertigkeit zu analysieren. Damit ermöglicht der Begriff, den bewegungs- und körpertechnischen Zugang als Aneignungsvorgang in den Blick zu nehmen, ohne dass dieser mit einer regelrechten Ausbildungssystematik im Sinne einer Tanztechnik identifiziert sein muss. Ursula Wolf, zit. nach: Wolfgang Streitbörger, Texnh – Techne: eine anwendungsorientierte terminologische Analyse dieses Wortes, Würzburg 2013, S. 12.

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nisse des Körpers-in-Bewegung und seiner ästhetischen Erscheinungsweise. Jener ,Formierung‘ von Körper/Kräften gilt im Folgenden das Interesse einer kursorisch angelegten Untersuchung. Beleuchtet werden historische Stationen der ästhetisierenden Bestrebungen im Bühnentanz, die Gabe des Körpers, sich zu bewegen, einer spezifischen Organisationsform und Mobilisierungsweise zu unterwerfen und ein ästhetisches Kräftespiel auszutragen: Etwa um physiologisch und mental eine Positionierung der Glieder im Umgang mit der Schwerkraft zu idealisieren (Anmut), eine spezifische Ausdrucksqualität in den Bewegungen hervorzurufen (Empfindung) oder etwa verstörende Erscheinungsweisen von Körperlichkeiten zu bewirken (Energetisierung).2 Mit ihren divergenten Schwerpunkten schaffen sie jeweils ein ästhetisches Programm des Tanzes, um die Blicke der Zuschauer gezielt zu adressieren.

Tanz/en als Disziplin Nicht vergessen werden sollte, dass sich die Kunst des europäischen Tanzes maßgeblich über die Einsetzung eines codierenden, überwachten und schriftlich fixierten Schulungssystems formiert hat und aus dessen institutionell-lehrendem Kontext als Disziplin hervorgegangen ist. So markiert die Gründung der Pariser ‚Académie royale de danse‘ (1661) durch Jean-Baptiste Colbert 3 eine weitreichende – und überdies geschichtlich prägende – ästhetische Formierung theatraler Tanzkunst. Wie in ihren Statuten, den Lettres Patentes du roy, pour l’établissement de L’Acadé-mie royale de danse en la ville de Paris (1661/1662)4 niedergelegt, erfuhr die höfisch-theatrale Tanzpraxis durch die ‚Académie royale de danse’ nicht nur schrittweise eine Systematisierung ihrer Tanzschritte und einzunehmenden

2 | Im Sinne von Michel Foucault ließen sich Tanztechniken als spezifische Kulturtechniken der Aneignung von Körpern sprechen. Vgl. etwa Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1976. 3 | Als eine der ersten Akademiegründungen, der zwei Jahre später die ‚Académie des Inscriptions et Belles Lettres‘ (1663) und darauf im Jahr 1666 die Académie des Sciences folgten, stand die ‚Académie royale de danse‘ ganz im Zeichen der Zentralisierungsbestrebungen des französischen Absolutismus und der repressiven Politik von Colbert. Vgl. Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 33; vgl. Frances A. Yates, The French Academies of the Sixteenth Century, London 1988, S. 299. 4 | Die Lettres Patentes du roy, pour l’établissement de L’Académie royale de danse en la ville de Paris wurden dem Parlament von Paris im März 1661 vorgestellt, am 30.03.1662 vom Parlament ratifiziert und schließlich 1663 veröffentlicht. Vgl. Mark Franko, Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993, S. 108–113.

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Körperpositionen. Vor allem wurde jegliche tanzpraktische Ausübung einer exklusiven Gelehrtengesellschaft unterstellt, die eine streng überwachte und regelgeleitete Lehrpraxis einführte.5 Mittels eines klar umrissenen und systematisierten Lehrkorpus strebten die Akademisten eine körpertechnische Verfeinerung der Hoftanzkultur an, kontrollierten ihre Lehrpraxis und verfügten ein kanonisches Repertoire an ausgewählten und eigens von ihnen entworfenen Hoftänzen. Damit regulierte die ‚Académie royale de danse‘ nicht allein die tanztechnische Ausführung der Tänze, um eine bewegungsästhetische Professionalisierung der Tänzer zu bewirken. Vielmehr etablierte sie eine Praxis der Überprüfung der Performanz von Hoftänzen, in denen sie die höfischen Tanzkörper instruierte, und hielt die Rechtevergabe der ‚Erfindung‘ und Distribution jeglicher Tänze in den Händen – kurz: die ‚Académie royale de danse‘ formte Körper und mit ihm den Korpus der Kunstdisziplin Tanz.

Das mechanische Kräftespiel der Anmut: Carlo Blasis Die Einbindung des Körpers in umfassende Schulungsmethoden bildet für den klassischen Tanz im Laufe seiner europäischen Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein den Kern seiner Ästhetik. Aufgespannt zwischen mimetischen und ­medialen Methoden und ihrer mitunter grafischen und schriftlichen Vermittlungspraxis veranschaulicht gerade Carlo Blasis 1820 veröffentlichtes Elementarlehrbuch Traité élémentaire die ästhetische Tragweite einer Schulungsmethode, die den Körper als Kräfte-Spiel organisiert.6 Dieses Elementarlehrbuch theoretischer und praktischer Art, wie der Gesamttitel – Traité élémentaire. Théorique et P ­ ratique de l’Art de la Danser 7 – anzeigt, legt weit mehr als ein praktisches Übungsbuch vor. Der Traité richtet sich maßgebend an Tänzer und versammelt pädagogische Vorschriften, anatomische Ratschläge, wissenschaftliche Modelle und ästhetische Leitgedanken. Detailliert und systematisch beschreibt Blasis den richtigen

5 | Vgl. zur Bedeutung der Institutionalisierung von Wissenspraktiken Lorraine Daston und Peter Galison (Hg.), Objektivität, Frankfurt a. M. 2007. 6 | Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008. 7 | Carlo Blasis, Traité élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse contenant les développemens, et les démonstration des principes généraux et particuliers, qui doivent guider le danseur, Mailand 1820. Blasis schuf ein grundständiges Regelwerk, das heute als zentrales tanztechnisches Kompendium des klassischen Balletts gilt. Vgl. André Levinson, Meister des Balletts, Potsdam 1923, S. 110; vgl. Oskar Bie, Der Tanz, Berlin 1923, S. 301f.; vgl. Rolf Liechtenhan, Ballett & Tanz, Geschichte und Grundbegriffe des Bühnentanzes, München 2000, S. 77f.

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­ ebrauch des Körpers, die Stellung von Füßen, Beinen, Armen und dem Kopf, um G den Körper im Gesamtbild in aufrechter Haltung und dergestalt herausgehoben in Tanz-Figurinen präsentieren zu können. Die korrekte Haltung und das rechte Maß an regelmäßigen Übungen, die keine Unterbrechung zulassen, bilden das oberste Prinzip einer umfassenden Ausbildungsökonomie, die stets einen Ausgleich von Kräften zu bewirken sucht. Dies betrifft die zeitliche Beanspruchung des Körpers – nachlassende Übungsaktivität markieren ebenso wie übermäßige Verausgabung Grenzen des Erfolgs – und die Exaktheit für eine plastische Modellierung des Körpers zum choreografischen Schaukörper. Blasis sucht den tanzenden Körper in einen – im wörtlichen Sinne – festen Stand zu versetzen, der eine austarierte Gestaltungskompetenz seiner Figuren garantiert. Endeavour to hold your body in perfect equilibrium; to which end never let it depart from the perpendicular line that should fall from the centre of the collar bone down through the ankles of both feet.8

Blasis Ausführungen orientieren sich an einer Körperformation für den ,danse théatrale‘ und den Blicken der Zuschauer*innen, um ihnen den Tanzkörper als Gesamtbild zu präsentieren. Dessinez-vous avec gout, et naturrellement, dans la moindre des poses. Il faut que le sanseur puisse, à chaque instant, servir de modèle au peintre et au sculpteur.9

Die anatomischen und bewegungsspezifischen Anweisungen des Traité leiten primär eine grundlegende Stabilität im Körper an, die einer statischen Ausgewogenheit gilt und seiner Gestalt Plastizität verleiht. Hierzu sollen die Wirkungskräfte des eigenen Körpers – die Schwerkraft des Eigengewichts, die Fliehkraft der Bewegungen und die Muskelkraft des Organismus – dergestalt harmonisieren, dass ein stabiles Äquilibrium verkörpert wird. Das prägende Modell der Körperaneignung entlehnt Blasis der Mechanik und ihren Prinzipien von Bewegung. Als ältester und grundlegender Zweig der Physik,10 der Bewegung unter dem Einfluss von Kräften untersucht, die auf materielle Systeme einwirken, adaptiert Blasis

8 | Carlo Blasis, The Code of Terpsichore. The Art of Dancing: Comprising its Theory and Practice, and a History of its Rise and Progress, from the earliest Time: Intended as well for the Instruction of Amateurs as the Use of professional Persons, London 1828, S. 72. Der Traité wurde in das enzyklopädische Gesamtwerk The Code of Terpsichore integriert. 9 | Blasis, Traité Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820, S. 23. 10 | Vgl. Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, hg. v. Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski, Berlin 1988 [1883].

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deren naturwissenschaftliche Gesetze. Denn der Körper soll einen Umgang mit Kräften erlernen, die eine konzise Ausgeglichenheit seiner Bewegungsgestalt bewirken. So mahnt Blasis stets das ästhetische Gebot an, immer ein Gleichgewicht zu wahren, wie es in einer korrekten Haltung als ausgeglichenes Kräfteverhältnis erlernbar ist. Jegliche Wirkungen des Eigengewichts sollen durch Gegenspannungen beantwortet werden, ohne ausladende Emotionen oder Affekte zu erzeugen. Der Fixier- und Referenzpunkt dieser Haltung markiert eine stets stabile Aufrechte im Körper, mit der seine Figuration in umfassender Eleganz zur Erscheinung komme. Die Tarierung der Kräfte verleihe dem Körper klare Kontur und Geschmeidigkeit und erzeuge überdies ein malerisches Moment seiner Figuration, das ihn als bildhaften Gesamtkomposition in Erscheinung bringt und ein Bild der Anmut zeigt. Entgegen der contenance des höfischen Tanzes fügt Blasis den tanzenden Körper damit in ein ikonografisches Programm ein. Abb. 1: Blasis’ Strichfiguren zur Körperausrichtung

Quelle: Blasis, Traité élémentaire, S. 15.

Blasis’ Instruktionen präsentieren die mechanischen Operationen des Körpers als geometrische Skizze, die inmitten des leeren Körperraums einer mathematischen Matrix folgt, die in jedem Körper unabhängig seiner physischen und individuellen Konstitution wirksam werden soll. Für Blasis verfügen diese Zeichnungen über die Lösung des lästigen Problems, Bewegungsanweisungen wie sonst üblich versprachlichen zu müssen, denn die Zeichnungen veranschaulichten mit einem Blick alle Prinzipien und zeigen an, wo welche Körperglieder in Beziehung zu

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anderen Körpergliedern im Raum liegen sollen. Die Orientierungsachse der Haltung bildet eine senkrechte Linie, die mathematische Lotrechte, die Blasis explizit als Perpendikularlinie benennt. Als Instruktionsmethode entwickelt, will Blasis Tänzer ermächtigen, fortan für sich alleine das ästhetische Haltungsmodell zu lernen. Die Linienzeichnungen bilden geometrische Gerüste, die eine Vorstellung von dem bilden, wo und in welchem Abstand Rumpf, Becken, Beine und Arme zu- und gegeneinander zu positionieren sind.11 Die Tänzer üben dabei einen Wahrnehmungsmodus ein, der ihre Körpergestalt an eine formalisierte Strichzeichnung anzulehnen sucht. Der Körper soll entlang der gezeichneten Achsen ein Wissen über seine räumlich exakt strukturierte Gestalt und Gliederpositionen erarbeiten. Ausgebildet wird ein neuer Wissenshorizont zur Memorierung von Positionen, die mit mathematischer Eloquenz überprüft werden. Die ästhetische Programmatik des Traités wird indessen in den Tanzfiguren ‚Arabeske‘ und ‚Attitude‘ deutlich, die interessanterweise beide die eingeforderte geometrische Exaktheit der Positionierung und statischen Körperhaltung unterlaufen. Blasis verhandelt die Arabeske stets als Ausnahme der systematisch erarbeiteten geometrisch-mechanischen Ordnung seines Codes, denn in ihr gerät das statische, an der Perpendikularlinie orientierte Äquilibrium aus dem Lot. Ja, es wächst einer organischen Ordnung zu, die den Körper dynamisch in die Nähe des Kippmoments führt: Das ausgewogene Gleichgewicht der Lotrechte wird überschritten und transgrediert zu einem ästhetischen Bild des schwebenden Körpers und seiner schwebenden Anmut. Anders als bei anderen Körperformationen und Bewegungsarten, z.B. im Stand oder beim Gehen, dramatisiert sich mit der Arabeske das körperlich zu leistende Gleichgewichtsmoment, da die Figur an der Schwelle des Umschlagpunktes agiert. Die Arabeske entbehrt der Statik, ja sie reicht ihrer Figuration das Dynamische zu, ohne selbst in Bewegung zu kommen. Das Gleichgewicht ist in der Arabeske selbst in der Schwebe. Damit kulmiert die Arabeske als eine im wörtlichen wie übertragenen Sinn herausgehobene Figur den klassischen Code und überführt ihn ästhetisch in den Raum des Idealistischen und Traumschönen.

11 | Dabei übernimmt die Geometrie eine triviale Form der Herrschaft, wie Georges Didi-Hubermann für die Strategien des Anthropomorphismus in der Kunst anmerkt, eine Geometrie, „die in idealer – aber ebenso gut trivialer – Weise verstanden wird als Herrschaft angeblich vollkommener und bestimmter Formen über angeblich unvollkommene und unbestimmte Stoffe“. Vgl. Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, Köln 1999, S. 119.

Techné des Tanzes als ästhetische Strategie

Das Kräftespiel der Empfindung: Das ballet en action und seine techné vom wahren Ausdruck der Empfindung 12 Ergänzend zu dem im 17. Jahrhundert ausgearbeiteten Bewegungssystem des theatralen Tanzes formiert sich mit dem ballet en action ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein ästhetisches Reforminteresse, den akademischen Bewegungscodes mittels eines eingesetzten Empfindungsgeschehens zu überschreiten. Das ballet en action überschreibt sich einer affizierenden Darstellungsästhetik, der eine geradezu gesteigerte Evozierung von Empfindungen vor Augen steht. Leidenschaftlich geprägte Regungen von Körper und Geist sollen als Bewegungs- und Handlungsgeschehen ,Feuer und Energie haben‘ und als ,rührende‘ Empfindungsgestalt wirksam werden. Programmatisch skizziert Jean Georges Noverre die hierfür notwendige körperästhetische Konfiguration, aus der heraus die Tänzer eine solche Ballettkunst zu ,verkörpern‘ verstünden. Wenn der Tänzer, von einem innigen Gefühle belebt, sich in tausend verschiedne Gestalten, mit den einer jeden, nach Beschaffenheit der Leidenschaft, gehörigen Zügen, werde zu verwandeln wissen; […] und ihre Blicke alle Bewegungen ihrer Seele ausdrücken werden; […] wenn sie, durch richtige Stellungen, alle auf einander folgende Regungen einer jeden Leidenschaft werden ausdrücken können; kurz, wenn sie Geist und Genie mit ihrer Kunst verbinden werden: so werden sie in einem ganz andern Glanze erscheinen; […] alles wird sprechen; jede Bewegung wird eine Redensart seyn, jede Stellung wird eine Situation schildern, jede Gebehrde wird einen Gedanken enthüllen; jeder Blick wird eine neue Empfindung ankündigen; alles wird entzücken und täuschen, weil alles wahr ist, weil die Nachahmung aus der Natur selbst geschöpft ist.13

Empfindungen dergestalt zu erzeugen, um sie körperlich hervortreten und auf der Bühne ausstellen zu können, markiert eines der wohl wichtigsten Aufgabenfelder der Compositeure, Ballettmeister und Tänzer des ballet en action. Welche körperprägenden, bewegungsspezifizierenden, mentalen und überdies imaginären Zugänge und Verfahren eine erwünschte ,wahre Erhitzung‘ des tänzerischen Bewegungsgeschehens einlösen können, wird neben zentralen kompositorischen Überlegungen ausgiebig diskutiert. Dabei wohnt jener empfindungssteigernden Theatralisierung des Körpers allein bewegungsästhetisch betrachtet eine markante und überdies untergründige Rätselhaftigkeit bei, die auf paradoxalen Strukturen beruht. Sie bestehen darin, Empfindungen mit geradezu ubiquitärer Qualität

12 | Jean Georges Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette von Herrn Noverre, übersetzt v. Gotthold Ephraim Lessing u. Johann Joachim Christoph Bode, hg. von Kurt Petermann, München 1977 [1769], S. 47. 13 | Ebd., S. 94f.

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zu wandelbaren Körpergestalten zu formen und mit ihnen eine ästhetische Wirkungskraft (der Natur) und zugleich eine wahrhaftige Sinnhaftigkeit zu erzeugen. Tatsächlich eingefordert wird eine Medialisierung des Körpers, mit der er – Hort von Empfindungen – als Mittler von Natur und Wahrheit hervortritt. Da das Empfinden aber selbst unsichtbar ist, bedarf es spezifischer Vermittlungsakte, mit denen eine wirkungsintensive Sichtbarmachung von Empfindungs- und Emotionsgestalten am Körper ermöglicht wird.14 Die Ballettmeister theoretisieren die ästhetischen Dispositionen des Empfindsamen-Wahren in geradezu drängenden praxeologischen und konzeptionellen Überlegungen über die Ausbildungsoptionen für ihre Tänzer und suchen eine techné zu entwickeln, die – anleitend und ggf. zusammengeführt zu spezifizierten Lernschritten – deren Körper und Geist adäquat eine Empfindungsstärke zu lehren versteht. Gleichwohl die ästhetische Grundidee eines von Empfindungen erfüllten, ausdrucksintensiven Theatertanzes von Noverre, Gasparo Angiolini und ebenso Louis de Cahusac klar umrissen wird, markiert die Überführung der Empfindungsstärke in eine körperliche Ausdrucksgestalt eine Leerstelle. Wie Tänzer zu einem inneren Gefühl finden können, das ihre Körper in Gänze belebt und zu verwandeln versteht, um als Rollenfigur wirksame Affizierungen zu bewirken, berührt einen unbekannten Bereich von techné. Eine ausdrucksintensive Empfindsamkeit ästhetisch im Tänzer/Körper zu verankern, so dass mit ihr die Seele berührt erscheint, bleibt für die Ästhetik des ballet en action daher ein prekäres Projekt. Der wahre Ausdruck einer umfassenden Empfindungsstärke zeige sich, so betont Noverre, in einem gestischen Akt, der den ganzen Körper umfasst und in all seinen Bewegungen wirksam wird. Emphatisch entwirft er eine nahezu totalitäre Konzeption, dernach „an dem Tänzer alles mahlen, alles reden: jeder Gestus, jede Stellung, jeder Port de Bras einen unterschiedenen Ausdruck haben muss.“15 Vielfach legt Noverre die qualitativen Merkmale und Charakteristika jener neuen Kunstfertigkeit in seinen Lettres dar und mahnt zugleich einen Ausschluss rein tanztechnischen Könnens an. Eingefordert wird eine Empfindungssteigerung im Tanz. Die Tänzer dürften daher nicht sinnlos herumwedeln, nicht herumtrippeln, „nicht blos Figranten tanzen“16 und eine Seele tragen, die sie nicht haben. Kurz: sie sollen nicht bloß tanzen, sondern mit Verstand und Geist die Bewegungen ausführen, um „auf gewisse Weise ihre Füsse und Schenkel zu vergessen, und auf ihre Physiognomie und Gebehrden zu denken.“17 Wie aber ein Wissen von den

14 | Vgl. ausführlicher: Sabine Huschka, Choreographierte Körper im Theatron. Auftritte und Theoria ästhetischen Wissens, München 2020. 15 | Noverre, Briefe, 1977 [1769], S. 197. 16 | Ebd., S. 197. 17 | Ebd., S. 103.

Techné des Tanzes als ästhetische Strategie

Empfindungen als erfüllter Körper- und Bewegungsausdruck anzueignen und zu erlernen ist, bleibt gegenüber den wortreichen Ausführungen über deren ästhetische Qualität sehr ungefähr. Der Weg zu einer meisterhaften Verkörperung wird eindringlich über den Ausschluss ,alles Mechanischen‘ im Tanzen beschrieben, ohne detailliert auszuführen, wie die Tänzer einen empfindungserfüllten Vollzug ihrer Bewegungen realisieren können. Jeder Tänzer, der durch Anstrengung seine Züge verändert, und dessen Gesicht in beständiger Convulsion ist, ist ein Tänzer ohne Seele, der nur auf seine Beine denkt, der das A.B.C. seiner Kunst nicht weiß, der nur an den großen Theilen seiner Kunst hängt, und ihr wahres Wesen niemals gefühlt hat. […]; weil er, statt zu studieren, wie er empfinden soll, sich nur auf das Mechanische seiner Prozeßion beflissen hat, weil endlich seine Physionomie da, wo sie mir Leidenschaften und das Gefühl seiner Seele zeigen sollte, nichts weiß, als ängstliche Mühe: kurz, ein solcher Mensch ist ein Stümper, dessen Execution allezeit schwerfällig und unangenehm bleibt. 18

Noverre entwirft ebenso wie Angiolini nicht explizit eine Tanztechnik, die über bewegungstechnische Codierungen oder wahrnehmungsspezifische Anleitungen eine körperliche Aneignung jener ästhetischen Kraft des Tanzes lehrt, mit der Tänzer es verstünden, „zu bewegen und zu interessieren.“19 Vorgestellt wird vielmehr ein Zugang zu der Empfindungskraft gemäß einer erzeugten Wirkungsintensität, durch die sich ein ‚Empfinden‘ quasi in die Bewegungen hineinspielt. Es werden Wege einer imitatio entworfen, auf denen eine empfindungserfüllende Nachahmung des Gesehenen als ‚commercium corporis et mentis‘ statthaben soll: „Wenn eure Einbildungskraft von dem Gegenstande, den ihr mahlen wollt, lebhaft gerührt ist, so wird sie euch Züge und Farben und Pinsel geben.“20 Die tänzerischen Ausdrucksbewegungen sind gerade nicht über einen Katalog differenter Qualitätsmerkmale ausgewiesen oder über einen kanonisierten Gestenkatalog im Sinne eines Codex von rhetorisch verfassten Repräsentanzen vermittelbar, widerspräche dies doch ursächlich einer ausdrucksästhetischen Tanzkonzeption. Ausgearbeitet finden sich weder Anleitungen noch Übungen, die auf eine aufmerkende Wahrnehmung von spezifischen Empfindungen zielen oder gar ein Spektrum spürender Qualitäten aufschließen. Entworfen wird vielmehr eine ästhetische Konzeption von techné, die die zu erlernende Kunstfertigkeit der Empfindungsstärkung als eine spezifische Gabe der Tänzer vorstellt. Das Empfinden wird als ästhetische Praxis entworfen, die eine imaginierende Praxis von ein-gesetzten Einbildungskräften einfordert, eine von Gefühl und Ver-

18 | Ebd., S. 167. 19 | Ebd., S. 23. 20 | Ebd., S. 47.

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stand gleichermaßen vollzogene Praxis der An/Rührung. Hierdurch senkt sich das Empfinden quasi unmittelbar in den Körper hinein, ein Prozess, der sich gerade jenseits einer vermittelten oder angeleiteten techné vollzieht, wie sie etwa durch körperlich spürende Ausdifferenzierungen vorstellbar ist. So sind es nicht spezifische Empfindungsgestalten, die ein ,Natürliches‘ in den Bewegungen des Körpers in Anklang bringen, vielmehr tragen alle Bewegungen, wenn sie aus den Leidenschaften heraus ,initiiert‘ sind, d.h. aus der Seele, unabhängig ihrer tatsächlichen Bewegungsgestalt die ,evidentia naturalis‘. Dabei ist die Bewegtheit der Seele nur unzureichend als ein Inneres vorzustellen, etwa in der Weise eines im Inneren des Körpers ‚Waltenden‘, das in den Bewegungen des Körpers nach Außen tritt und durch dessen Bewegungen verkörpert und transparent ansichtig wird. Vielmehr wird die bewegte Empfindungsgestalt des Körpers selbst als Seele vorgestellt und bezeichnet, wie sich mit Jean-Luc Nancy und seinen Ausführungen über Aristoteles De anima pointieren lässt, genau jene Zone, „die spürt, da sie Körper ist. Oder: die Seele ist die Bezeichnung für das Spüren des Körpers.“21 Das ballet en action adressiert die Seele als Empfindungsgeschehen einer ästhetischen Kraft, die im Körper selbst transparent bleiben soll und im ‚Malerischen‘ ihre qualitative Ausgestaltung gewinnt. Vorgestellt wird eine ausdrucksästhetische Darstellungsordnung des Seelischen, die als Geschehen ästhetischer Kräfte operiert: ,Triebfedern‘ der Seele und der Leidenschaften sollen als Kraft im Körper wirksam werden, sich als Natur und Wahrheit zeigen und der Herzen der Zuschauer bemächtigen. Konzipiert ist ein transgredierender Imaginationsvorgang, der, als Einbildungskraft gefasst, eine dergestaltete Empfindung in die Bewegungsausführung spielt, dass die Bewegungen die Wahrheit „mahlen“. Dabei wird die Einbildungskraft, wie Christoph Menkes philosophischer Entwurf über Kraft als Grundbegriff ästhetischer Anthropologie herausstellt, gerade so beschrieben, „daß sie dem, was sie hervorbringt, durch die Art und Weise seines Hervorgebrachtwerdens Macht, Stärke, Eindringlichkeit, Evidenz verschafft.“22 Alle Bewegungen, die durch eine ,rechte Durchwirkung‘, die sich der Einbildungskraft verdankt, hervorgebracht werden, malen als „Züge und Farben und Pinsel“ die Wahrheit. Sonach ist der tänzerische Ausdruck weit mehr, als ein einträchtiges ‚commercium corporis et mentis‘ vor Augen zu stellen. Die Ausdruckskörper der Tänzer unterliegen der autopoeisis einer Einbildungskraft, die den Körper-in-Bewegung zu einem energetischen Bewegungsprozess zu medialisieren sucht. Die Tänzerkörper sind letztlich einer absolut konzipierten Verwandlungskraft unterstellt. Denn es ist eine stete Verwandlung ihrer Erscheinungsweisen und damit ihrer „Materialitäten“, die die Tänzer im ballet en action ergreifen und deren Kraft sie in Bewegung aufzuschließen haben. Die ästhetische Kraft des Ausdrucks zeigt

21 | Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin 2000, S. 119. 22 | Menke, Kraft, 2008, S. 19.

Techné des Tanzes als ästhetische Strategie

sich explizit im Modus der Verwandlung, der den Körper „in tausend verschiedene Gestalten“ durchwirkt. Das Wissen und Können der Tänzer richtet sich damit auf einen Kunstakt des Durchdrungen-Seins, den sie sich voll und ganz zu unterwerfen haben.

Transgressionen: Die ästhetische Arbeit an einer Energetisierung Die Suche im Bühnentanz nach spezifischen Intensitäten – tranformatorisch und transformierend zugleich – begleitet mit dem einhergehenden Streben, ästhetische Kräfte mit sich-bewegenden Körpern zu erzeugen, bis heute körpertechnische Verfahren. Eine besondere Dringlichkeit dieser Suche nach geradezu transformatorischen Transgressionen zeigt sich in der Arbeit der isländischen Choreografin Margrét Sara Guðjónsdóttir. Während ihrer langjährigen Recherche sucht sie energetisierende Zustände im Körper freizulegen, die eine Herauslösung aus unserer gesellschaftlich-kulturellen Prägung von effizienzgetriebener Überforderung und physischer Erschöpfung praktiziert. Guðjónsdóttirs ästhetisches Interesse gilt, ,andere Kräfte‘ im Körper zu aktivieren, die über eine imaginative Entspannungsarbeit – einer ,bone visualization meditation‘ – initiiert werden.23 Benannt als ,full drop into the body‘ exploriert diese Technik eine Wahrnehmungsarbeit in langandauernden Bodenphasen des Liegens, die sprachlich angeleitet einen veränderten Wahrnehmungshorizont auf organische, muskuläre und fasziale Bewegungsprozesse erschließt. Erarbeitet wird ein Zugang zu eigenwilligen Bewegungsprozessen, die jenseits willentlicher Steuerung sich in den Tanzstücken wie Conspiracy Ceremony – HYPERSONIC STATES (2017) als langanhaltende Zustandsphasen artikulieren. Der Körper gerät in ein sensuell-affektives Kräftegefüge, das sich kaum als ausladende Szenerie von Mobilisierungsarten zeigt, sondern szenisch eine Tiefenzeit von Initiierungsphasen ausbreitet. Ästhetisch ausgehandelt werden energetische Prozesse, die dem transformatorischen Potential des Körpers gelten. Guðjónsdóttirs choreografische Arbeit operiert an der Grenze von Sichtbarkeiten, um Zustände und Intensitäten der Verwandlungskraft von Körperlichkeiten ästhetisch freizulegen.

23 | Margrét Sara Guðjónsdóttir und Susan Kozel, „Margrét Sara Guðjónsdóttir’s ,Full Drop into the Body‘. A Conversation with Susan Kozel and a Public Discussion“, in: ­S abine Huschka und Barbara Gronau (Hg.), Energy and Forces as Aesthetic ­I nterventions. Politics of bodily Scenarios, Bielefeld 2019, S. 177–192.

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Die Pose des Konquistadors Nicole Haitzinger

Die Pose des Konquistadors, so viel sei einleitend vorweggenommen, stellt die normative und repräsentative Grundposition eines souveränen männlich attribuierten Subjekts innerhalb der kolonialen Matrix der europäischen Neuzeit dar, eines Idealtypus also, in dem sich die Erfindung der modernen Individuation ankündigt. Die folgende diskursgeschichtliche und bewegungsanalytische Freilegung dieser in der europäischen Neuzeit weit zirkulierenden Pose sieht sich dem dekolonialen Denken als intellektuelle Praxis und Methode verpflichtet: [...] a decolonial work which implies: (1) To show their genealogy [of concepts like ‚progress‘, ‚capitalism‘, ‚human rights‘, ‚nature‘, ‚gender‘, ‚democracy‘, Anm. d. Verf.] in western modernity that allows us to transform the universal validity claims of western concepts and turn them into concepts historically situated; (2) To show their coloniality, that is how they have functioned to erase, silence, denigrate other ways of understanding and relating to the world; and finally (3) To build on this grounds the decolonial option, as a non-normative space, as a space open to plurality of alternatives.1

Nachdem in diesem Artikel die Genealogie der Pose des Konquistadors in der europäischen Neuzeit eine erste Skizzierung und historische Situierung innerhalb der kolonialen Matrix erfährt, wird sie schließlich in ihrer bewegungstechnischen Ausführung und in ihrer Wirkungsästhetik anhand des Tanztraktats Discursos sobre el arte del dançado (1642) exemplifiziert; schließlich soll abschließend und thesengeleitet die Frage nach den dekolonialen Optionen der szenischen Künste gestellt werden. Nicht zufällig ist die Pose des Konquistadors im 17. Jahrhundert, also in derselben historischen Formation dechiffrierbar, in der über die Formel der anthropologischen Differenz eine kategoriale und hierarchische Ordnung der Körper kons-

1 | Walter Mignolo und Rolando Vázquez, „Decolonial AestheSis. Colonial Wounds/ Decolonial Healings“, unter: https://socialtextjournal.org/periscope_article/decolonialaesthesis-colonial-woundsdecolonial-healings/ [14.09.2019].

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truiert wird. Jacques Derrida hat diese Abstraktion, in der Mensch und Tier als oppositionelle Instanzen deklariert werden, als jeweils ‚monströsen Kollektivsingular‘ bezeichnet.2 Unbestritten hat das große westliche Narrativ diese Ordnung zu legitimieren versucht, grundiert von einem weitreichenden Universalismus mit Differenzkonstruktionen (im klassischen Denken) oder schließlich der Konstruktion eines komplexen Relativitätsmodells (Moderne).3 Dieses Denken privilegiert den europäischen ‚weißen‘ Mann nicht nur, sondern versucht ihn als monokorporale Instanz, tiefenstrukturell vom Kolonialismus grundiert, zu instituieren.4 Unter der Pose des Konquistadors ist – aus spezifisch theater- und tanzwissenschaftlicher Perspektive und jenseits von metaphorischen Aufladungen gesprochen – eine adressierte und intentionale motorische Aktion zu verstehen, deren Funktion sich als komplex präsentiert und die kontextbezogen partikulär ausgeformte Erscheinungsformen annehmen kann, obgleich sie in Grundzügen wiedererkennbar ist. In ihr spiegeln sich zahlreiche und mehr oder weniger subtile Kontrollversuche, Disziplinierungen und Unterwerfungen unter ein Regime der Sinne mittels Techniken der Verkörperung. Es wäre eine perspektivische Verkürzung, die ihr unterliegende Techné ausschließlich als technische Fähigkeit zu verstehen. Vielmehr ist die Pose als intentionale Modellierung von Körperlichkeit durch motorische Aktionen zu fassen, für die drei Aspekte konstitutiv sind: erstens die ostentative Vermittlung, zweitens eine gewisse Dauer ihrer (Ein-)Übung beziehungsweise des wiederholenden Akts der Verkörperung, wodurch eine Stabilität und Zirkulierbarkeit der Pose garantiert wird, und drittens das Paradigma der andauernden verkörperten Replikation der Pose, so dass diese schließlich als quasi natürlich und vermeintlich selbstverständlich wahrnehmbar wird.5 Dies gilt in besonderem Maße für die Pose des Konquistadors, die sich innerhalb einer gewalt-

2 | Vgl. Jacques Derrida und Élisabeth Roudinesco, De quoi demain… Dialogue, Paris 2001, S. 107. 3 | Rolando Vázquez perspektiviert schließlich die von mir in der europäischen Neuzeit freigelegte Pose als Modellpose für die moderne Konsumgesellschaft. Vgl. Rolando Vázquez, „Precedence, Dance and the Contemporary. Rolando Vázquez on The Jaguar and the Snake by Amanda Piña/nadaproductions“, unter: https://tqw.at/en/precedencedance-and-the-contemporary/ [14.09.2019]. 4 | Schließlich braucht es wissenschaftliche und ethische Legitimationen der oft unvorstellbar grausamen Unterwerfungen von beispielsweise indigenen Körpern, deren vielgliedrige Extensionen (Tiere, Objekte, Ahnen) – verkürzt und aus europäischer Sicht gesprochen – amputiert werden. 5 | Vgl. Mario Biagoli: „[…] tacit knowledge […] becomes the unspoken foundation of a given paradigm or ‚natural interpretation‘.“ Mario Biagoli, „Tacit Knowledge, Courtliness, and the Scientist’s Body“, in: Susan Leigh Foster (Hg.), Choreographing History, ­B loomington/Indianapolis 1995, S. 69–81, hier S. 72.

Die Pose des Konquistadors

geladenen kolonialen Matrix etabliert und schließlich als gehorsam verkörperte Konvention identitätsstiftende Funktion bekommt.6 Die Pose des Konquistadors wirkt nicht zufällig seltsam vertraut: sie ist in ihrer nonchalanten Ausprägung auf vielzähligen Herrscherporträts des klassischen Zeitalters und in spannungsgeladener Façon auf Schlachtgemälden und den Bildwelten der gewaltsamen Eroberung der sogenannten neuen Welt zu dechiffrieren. Im Jahr 1642 erscheint in Sevilla das einzig bekannte und zur weiten Zirkulation vorgesehene spanische Tanztraktat mit dem Titel Discursos sobre el arte del dançado, verfasst von einem gewissen Juan de Esquivel Navarro. In der angesehenen Druckerei von Juan Goméz de Blas auf günstigem Papier gedruckt und als kleinformatiges materielles Objekt erhalten, zeugt es auf 68 Druckseiten in Octavia von Tanzschritten und Körperhaltungen im Siglo d’Oro.7 Gewidmet ist es dem spanisch-habsburgischen König Philipp IV., der von den Poeten seiner Zeit als ‚el rey planeta‘ gehuldigt wurde: Herrscher über den Planeten, König der alten und neuen Welt, dessen Reich mit dem transatlantischen sogenannten Vizekönigtum Novohispania und den anderen Kolonien für europäische Verhältnisse ungeahnt große Ausmaße hatte und der ein habsburgerisch-spanisches und katholisches Regime weiterführte. Obwohl er nie selbst die neue Welt besuchte, war Philipp IV. durch das Prinzip des royalen Stellvertreters und in formalen Akten (wie in Prozessionen) symbolisch und durch andere, ihn repräsentierende Körper präsent. Sein Licht – nicht zufällig wird die Ähnlichkeit zwischen ihm und der Sonne wiederholt in künstlerischen Huldigungen betont – strahlt über die Erde. Seine Modellierung und Identifizierung als Lichtgestalt basiert auf einer komplexen Verwebung von verschiedenen Fäden, hauptsächlich von antiker Kosmologie, humanistischer Tradition und christlicher Symbolik. Der spanische Hof, mittels Heiratspolitik bis Ende des 17. Jahrhunderts dynastisch der Habsburgischen Casa Austria zuordenbar, förderte nach (und zugleich mit) der Eroberung, der territorialen Unterwerfung und Evangelisierung von riesigen Gebieten und Kulturen der Americas, die bildenden, literarischen und szenischen Künste auf dem alten Kon-

6 | Auf die tänzerische Ausbildung bezogen formuliert Fabian Barba diesen Prozess prägnant mit: „a dance education is a way of inscribing oneself in a dance culture“. Fabian Barba, „The Local Prejudice of Contemporary Dance“, in: Documenta 34/2, 2016, S. 47. 7 | Juan de Esquivel Navarro, Discursos sobre el arte del dançado, y sus excelencias y primer origen, reprobando las acciones deshonestas, Sevilla: Juan Gómez de Blas 1643. Im Folgenden wird direkt im Fließtext aus diesem Tanztraktat zitiert. Eine kontextualisierende und profunde Edition dieses Traktats erfolgt in Lynn Matluck Brooks, The Art of Dancing in Seventeenth-Century Spain. Juan de Esquivel Navarro and His World. Including a Translation of the Discursos sobre el arte del danzado by Juan de Esquivel Navarro (Seville, 1642), and Commentary on the Text, Lewisburg/London 2003.

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tinent; es seien hier nur Diego Velázquez, Lope de Vega und Pedro Calderón de la Barca genannt. ‚La etiqueta austríaca‘ (das Habsburgische Zeremoniell) und die Lust an pompösen Inszenierungen, Maskeraden und Turnieren erfahren beispielsweise in den dramaturgisch und choreographisch strukturierten Festen (‚sarao‘) eine partikuläre Ausformung. Juan de Esquivel Navarro erinnert in seinem Traktat an die Tanzkompetenz von Philipp III., dem Vater des vierten spanischen Königs in dieser Dynastie. Laut diesem bewegte er sich mit Maß, Leichtigkeit und Grazie („el compás, aire y gracia“ [4v]) und hatte eine besondere Leidenschaft („aficionado“) für den Tanz. Über das spanische Zeremoniell und die Feste am Hof Philipps IV. erfährt man in Navarros Discursos wenig, obgleich der Autor dies im Einleitungsteil zu versprechen scheint, wenn die tief mit dem Renaissancedenken verwobene Denkfigur der Ähnlichkeit zwischen den Bewegungen des Mikro- und des Makrokosmos aufgegriffen wird: „[…] la Danza [...] es una imitacíon de la numerosa harmonía que las Esferas celestes, Luceros y Estrellas fijas y errantes traen en concertado movimiento entre se“ (1).8 Dennoch ist das Traktat hauptsächlich unter dem Vorzeichen der professionellen Vermittlung eines spezifischen und zeitgemäßen Tanzschrittvokabulars (und dessen möglicher Variationen) verfasst worden.9 Es handelt sich um ein mehr konservatives als experimentelles Schriftzeugnis, in dem die Furcht vor gegenreformatorischer Zensur durchscheint und das deshalb erstens die körperlichen und geistigen Vorteile wie den kulturellen Wert des Tanzes tendenziell dogmatisch argumentiert, zweitens über Empirie und Evidenz die eigene professionelle Kompetenz zu legitimieren versucht und drittens eine signifikante Nähe zwischen den behaupteten Schwesterkünsten Tanzen und Fechten ­herzustellen versucht. Im dichten Textgewebe des Traktats lässt sich, so sei behauptet, die Pose des Konquistadors freilegen. Es handelt sich um jene konstruierte und definierte Körperhaltung, die im ‚Siglo d’Oro‘ am weitesten zirkulierte und die sich als Ausgangspose für jegliche motorische und kulturelle Aktion etablierte. Diese wird unzählige Male performativ wiederholt, einstudiert, bis sie schließlich als Grundpose des menschlichen Körpers manifest wird und selbstverständlich erscheint:

8 | „[…] the dance […] is an imitation of the proportioned harmony which the celestial Spheres, Lights and Stars – fixed and wandering – carry in concerted motion among themselves.“ Englische Übersetzung in ebd., S. 265. 9 | Gerahmt von 26 Huldigungsgedichten, die die Bedeutung der Tanzkunst betonen, einem kurzen Essay über die Geschichte und den Wert des Tanzes und der Nennung von Experten in dieser Disziplin.

Die Pose des Konquistadors Ha de ir el Cuerpo danzando ,bien derecho sin artificio, con mucho desuido‘, del mismo modo que se lleva por la calle, sin enderezarle más de aquello que su natural de da, ni doblarle por mirarse a los pies, ni por otro accidente [21, 21v, Hervorh. d. Verf.].10

Im Tanz soll der Körper ohne Künstlichkeit aufgerichtet sein, mit viel Nonchalance. In dieser Regel verbergen sich zwei der wichtigsten strukturellen und ästhetischen Prinzipien: Erstens die vertikale Auf- und Ausrichtung des Körpers. An anderer Stelle spezifiziert Navarro dies noch mit der Segmentierung des Körpers von seiner Mitte hüftabwärts („de la cintura abajo“ [18]), von der Haltung wie auch Schrittbewegungen ausgehen. In der Grundposition ist der Fuß des Standbeins leicht nach außen gedreht und nach hinten versetzt, der zweite Fuß ist diagonal nach vorne gerichtet, entweder gerade oder ebenfalls leicht nach außen gedreht. Abstrahiert man die Linien der Füße, dann formieren sie die Kontur eines halben Diamanten – (im Kodex des Balletts werden ähnliche Fußstellungen als ‚vierte Position‘ definiert und kodifiziert). Navarro visualisiert die Stellung im einzigen Notat des Traktats: Die beiden Füße in der oberen Bildhälfte nahe des eingenordeten Kreuzes visualisieren die natürliche Stellung („La planta natural“ [22]). Im ‚Siglo d’Oro‘ sind die Knie kaum gebeugt, der Oberkörper erfährt eine strenge vertikale Aufrichtung, die Arme werden in einem schwachen Winkel leicht entfernt vom Torso gehalten: „Hanse de llevar los brazos caídos, de modo que las manos estén a las faltriqueras de los lados, sin devanar con ellos, sino moverlos muy poco y con descuido“ [21v].11 Die Arme sollen nicht herumschlingern, sondern wenig und mit Nonchalance bewegt werden. Nicht zufällig entspricht diese Haltung der in den historischen Fechttraktaten beschriebenen Grundposition:12 Bei

10 | „In dance, the Body must be held erect, without artifice, (but rather) with much nonchalance, the same way that one carries oneself in the street, without straightening up more than is natural for your, nor bending over to look at your feet, or at anything else. This is because putting on airs and presumptuous behavior are things that tarnish all, however well one performs. Nor should one go looking at the ceiling, but rather carry the eyes serenely looking wherever you might see, nonchalantly, letting it be understood that all you are doing is nonchalance. One must carry one’s arms hanging so that the hands are at the side of your pockets, without wriggling them, but rather moving very little and with nonchalance. Because there are many who move them excessively, I cannot fail to give this warning, which is of such importance.“ Englische Übersetzung in Matluck Brooks, The Art of Dancing, 2003, S. 283. 11 | „One must carry one’s arms hanging so that the hands are at your side pockets, without wriggling them, but rather moving very little and with nonchalance.“ Englische Übersetzung in ebd., S. 283. 12 | Vgl. ebd., S. 87.

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gleichzeitiger Aufrichtung des Oberkörpers wird der Erdanziehung in der unteren Körperhälfte nachgegeben. Abb. 1, Navarros Notat der Pose Quelle: Juan de Esquivel Navarro, Discursos sobre el arte del dançado, y sus excelencias y primer origen, reprobando las acciones deshonestas, Sevilla: Juan Gómez de Blas 1643, S. 22.

Die Pose ist dreifach attribuierbar: Erstens handelt es sich um eine ‚stabile Position‘, die mittels einer skulpturalen Modellierung des Körpers einhergehend mit einer präzisen Modulation von Energie zugleich eine spannungsgeladene Gewaltbereitschaft und spannungsentladene Gelassenheit vermittelt. Zweitens ist es eine ‚souveräne Position‘, die eine Waffe als quasi ‚natürliche‘ Extension des Armes vorsieht. Intensiviert wird dies noch durch die Regulierung des Blicks, der (ziel-) gerichtet sein soll. Drittens handelt es sich um eine ‚gefühlsentleerte Position‘, eine Position, die jegliche Affektion ausstreicht und, hervorgebracht durch Exerzitium, wie selbstverständlich ‚natürlich‘ und auf spezifische Weise kaltblütig wirkt. In diesem Sinne wird der Tanzmeister als Landwirt verstanden, der den Körper wie einen Baum zurechtstutzt, der nicht gerade wächst: „el árbol que de su nacimiento no se endereza, debe el Agricultor enderezarle“ [27v].13 Außerdem ist die Pose einem ästhetischen Paradigma unterworfen, das in sich „gracia“ (Grazie) mit „descuido“ (Nonchalance oder pointiert physiologisch formuliert: Kaltblütigkeit) untrennbar verbindet. Eine ähnliche Grundposition wird in den italienischen und französischen Tanztraktaten, beispielsweise in Cesare Negris Le Gratie d’Amore (1602) oder in François de Lauzes Apologie de la Danse (1623) beschrieben. Es scheint sich um eine Pose zu handeln, die in den soziokulturellen und politischen Machtzentren Europas im 17. Jahrhundert zirkulierte und weit verbreitet war. Die Stellung der Füße und generelle Haltung entspricht sich in den drei Traktaten, allerdings scheint die strenge vertikale Aufrichtung des Oberkörpers mit

13 | „[…] the tree which is not straight from its birth, the gardener should make straight.“ Englische Übersetzung in ebd., S. 288.

Die Pose des Konquistadors

wenig motorischer Aktivität in den Schultern und Armen eine partikuläre Ausformung der Habsburgischen Etikette in seiner spanischen Variante zu sein.14 In seiner radikalsten Präsentationsform, sprich im Akt des Tanzes, werden die Knie kaum gebeugt – eine Ausnahme sind bezeichnenderweise die „pasas estraños“ (die fremden Schritte) [15], Bewegungsmotive die außerdem mit einer Gewichtsverlagerung nach hinten einhergehen. Dabei sind kleine Sprünge beliebt, die ein ‚aire‘, eine spezifische, in die Vertikale nach oben strebende luftige Leichtigkeit vermitteln. Die fünf Grundbewegungen im Tanz benennt Navarro mit „Accidentales, Estraños, Transversales, Violentos, y Naturales“ [9v], Begrifflichkeiten, die in den Traktaten zur Fechtkunst gebräuchlich sind. Sie sind in gewisser Weise selbstsprechend, da sie erstens den Modus der performativen Ausführung vorgeben und zweitens sich in diesem Inventar der bewegungsnahen Begriffe die Topoi der Zeit widerzuspiegeln scheinen: transversale Machtverhältnisse, Gewalt, vermeintlich naturgegebene und tatsächlich konstruierte hierarchische Ordnung der Körper und Dinge. Die beschriebene Pose, die die Grundstellung des Tanzens und Fechtens markiert, konstituiert den Machtkörper des ‚Siglo d’Oro‘. Sie lässt sich in Diego Velázquez’ Gemälde von Philipp IV. (1624) ebenso identifizieren wie in Navarros Traktat (1642), wenn er den Körper des Königs in Szene setzt: Y no es admirar que este Arte le hayan usado tantos Príncipes y Monarcas, pues el mayor Rey de todo el Orbe, Felipe Cuarto el Grande nuestro señor, a cuya (5) obediencia se postran los dilatados términos del mundo, aprendió este Arte; y cuando le obra, es con la mayor eminencia, gala y sazón que puede percibir la imaginación más atenta. Pero no es sólo esto lo que admira de su raro entendimiento, brío y destreza: porque en el manejo de las armas, caza de escopeta y montería, hacer mal a un caballo, pintar y hacer versos, tocar un instrumento, excede con muchas ventajas a cuantos por estas habilidades han merecido famosos nombres“ [4v, 5, Hervorh. d. Verf.].15

14 | Diese These stützt auch Matluck Brooks, vgl. ebd., S. 50. 15 | „It is not surprising that many Princes and Monarchs have practiced this art, since the greatest Kind of all the World, Philip IV our Great Lord, to whom the distant ends of the earth are prostate in obedience, learned this Art. When her performs, it is with the greatest eminence, elegance, and taste that the most lively imagination could conceive. But it is not only in this that his rare understanding, spirit, and skill are admirable; in his handling of arms, both the shotgun and hunting weapons, in breaking a horse, painting, making verses, playing an instrument, he far exceeds many whose names are justly famous for these skills. But Dancing causes such brilliance in any person, who thus is distinguished from the rest in his body comportment, as well as in his movements, proportioning advantageously his actions, so that no one can offer single reproach against their suitability.“ Engl. Übersetzung in ebd., S. 268.

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Nicole Haitzinger

Philipp IV., der mächtigste König der Welt, eignete sich die Kunst des Tanzes an und vollzog sie – so erfahren wir – mit größter Könnerschaft, Galanterie und Weisheit. Diese formelhafte Attribuierung ist weniger aussagekräftig als die nachfolgende Bemerkung, nämlich dass er durch eine spezifische ‚Handhabung‘, die ‚Instrumentalisierung der Arme‘, die zugleich Gewehr und Jagdwerkzeug sind, erstens ein Pferd zu unterwerfen vermag und sich zweitens künstlerisch betätigt, sprich malt, Verse dichtet und ein Musikinstrument spielt. Die compostura del cuerpo des Königs entspricht in ihren motorischen und metaphorischen ­Ü berkreuzungen von Waffengewalt, Tierbeherrschung und Kunstfertigkeit der Pose des ­Konquistadors; allerdings sind viele der Konquistadoren wenig kunstaffin, sondern mehr macht- und goldinteressiert oder von katholischer Missionierung angetrieben. Die europäischen szenischen Künste sind tief verwoben mit der Etablierung eines Kodex von reglementierten (Bühnen-)Posen basierend auf dem Körperkonzept, das in der techné der Herstellung der Pose des Konquistadors freigelegt wurde. Dennoch konstituiert sich im Dispositiv des Theaters wiederholt ein Möglichkeitsraum, in dem sich die Figuren in exaltierten Posen präsentierten und vielzüngiger artikulierten, als die soziokulturellen Normen und wissenschaftlichen Legitimierungen es vorgaben. Denn was könnte zugleich näher und ferner sein als die Pose des Konquistadors und die Bühnenpräsenz der Vielzahl von mythischen und magischen (Misch-)Wesen wie Kentauren, Nymphen und Drachen im barocken Spektakel? Die anthropologische Differenz ist, so sei hier betont, kein stabiles Konstrukt, sondern sie wird – und davon zeugt die Geschichte und insbesondere die Theatergeschichte – wiederholt neu gezogen, verhandelt, austariert und inszeniert.16 Die diskursgeschichtliche und bewegungsanalytische Freilegung der Pose des Konquistadors soll in dieser Hinsicht eine Perspektive auf das europäische Theater als Stätte des Widerstands und der Überschreitung eröffnen. Die Anerkennung der Existenz gewisser Wunderwesen – als ‚seltenes Phänomen‘ anderswo und in reicher Vielfältigkeit auf der Bühne, die das Theater- und Festpublikum liebt und in die es sich in diversen Maskeraden verwandeln möchte – ist nicht zu verhindern, im Gegenteil. Denn die strenge Ordnung der Menschen und Tiere und die Stabilisierung einer kategorischen anthropologischen Differenz werden, dies sei hier abschließend thesenhaft behauptet, wiederholt durch im mehrfachen Wortsinn eigensinnige Figuren auf der Bühne bedroht.

16 | Vgl. Markus Wild, „Anthropologische Differenz“, in: Roland Borgards (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 52.

Technik von der Hand in den Mund? Geste, Gestus und gestisches Sprechen aus der Perspektive der Technikreflexion Anja Klöck Stellt man die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Technik in Bezug auf das Schauspielen, wird man fast reflexartig auf bestimmte Texte geworfen, die diese künstlerische Praxis auf der Grundlage eines Konzepts von Einverleibung durch die Wiederholung bestimmter Übungen als erlernbar proklamieren (Stanislawski, Meyerhold, Michail Tschechow). Der eigentliche Vorgang des Einverleibens, also die Frage, wie Technik konkret auf Körper und Sprache (in der sie in der Form von Texten und Handlungsanweisungen exteriorisiert wird) bezogen ist, erscheint dabei jedoch immer als eine Art Black Box: Technik selbst wird meist mit einem Denken des Zu-Händen-Habens verknüpft, des Verfügens und des Kontrollierens, sie wird (wie in den Schriften von Marcel Mauss beispielsweise) aber nicht näher bestimmt; sie ist nur insofern auf den Körper bezogen, als sie dort als das Ergebnis der angenommenen Verinnerlichung erscheint, beobachtbar und ablesbar wird. Der Prozess der Verinnerlichung selbst aber bleibt unbeobachtet und wird in seinem konkreten Bezug zum als technisch Beobachtbaren nicht befragt. Dem reflexartigen Rückgriff auf das Konzept der Verinnerlichung als Schauspiel-Technik möchte ich in diesem Beitrag eine konkrete Frage entgegensetzen: nämlich ob bzw. wie sich mit André Leroi-Gourhans Verständnis von Geste die Übertragung bei Bertolt Brecht vom Zur-Hand-haben hin zum Exteriorisieren in Sprache als technischer Vorgang verstehen lässt.1

1 | Vgl, André Leroi-Gourhans Schriften über die Geste und Sprache, die in drei Teilen 1964–1965 im französischen Original und 1980 auf Deutsch unter dem Titel Hand und Wort erschienen sind und in der medienwissenschaftlichen und anthropologischen Technikdebatte immer wieder zur Referenz herangezogen wurden (vgl. etwa MarieAnne Berr, Technik und Körper, Berlin 1990; Hartmut Winkler, „Dierk Spreen: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori. Rezension und Erwiderung in einigen Punkten“, in: MEDIENwissenschaft 16/2, 1999, S. 138–145); André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Frankfurt a. M. 1980.

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Bezüglich der Engführung von Schauspielerei und Technik drängt sich bei Brecht zunächst seine „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst“ (1940) auf. Hier fordert Brecht von den Schauspieler*innen, „den allen Vorgängen unterliegenden gesellschaftlichen Gestus zu verfremden.“2 Bekanntlich verlangte er damit eine radikal kritische Haltung gegenüber der Summe gesellschaftlich verfügbarer Gesten alltäglichen Handelns und sozialer Beziehungen. ‚Gestus‘ meint hier, d.h. bei Brecht um 1940 im finnischen Exil, mehr als die Summe von Gesten und mehr als die Gestik: Das gestische Spiel setzt eine analytische Leistung der Schauspieler*innen voraus, die das Erkennen und Zeigen gesellschaftlicher Widersprüche möglich machen soll. Aus dem Blickwinkel der Technikreflexion möchte ich diese Koppelung des Versprechens einer „neuen Technik“ des Schauspielens an den Gestus-Begriff genauer untersuchen. Was ist gemeint mit „Technik“ in dem Aufsatz von 1940 und was macht den Gestus-Begriff so zentral in Brechts Technikreflexion in Bezug auf das Schauspielen? Die neue Technik wurde bereits angewandt, postuliert er gleich zu Beginn des Aufsatzes, sie war ihm vor der Exteriorisierung als Sprache in diesem Text also schon zur Hand. Im Anhang zählt er die entsprechenden Inszenierungen der 1920er und 1930er Jahre auf, u.a. die UA von Trommeln in der Nacht an den Münchner Kammerspielen am 29. September 1922, bei der im Zuschauerraum Plakate hingen mit Aufschriften wie „Glotzt nicht so romantisch“.3 Aus der Perspektive der Technikreflexion hatte Brecht die Plakate als technische Mittel ‚zur Hand‘: Sie wurden gemalt und aufgehängt mit technischen Gesten und dem spezifischen Zweck, einen Verfremdungseffekt bei den Zuschauer*innen hervorzurufen. Die bühnentechnisch apparativen Mittel, die Brecht zur Verfügung hatte und einsetzte, sind aus der Retrospektive 1940 von ihm schnell benannt: sehr helle Beleuchtung, keine völlige Verdunklung des Zuschauerraums, Sichtbarkeit der Lichtquellen wie auch anderer Elemente der apparativen Bühnentechnik. Die Stoßrichtung ist bekannt und deutlich: „Getroffen werden soll durch das Zeigen der Lichtquellen die Absicht des alten Theaters, sie zu verbergen.“4 Das gilt nicht nur für die apparative Technik des „alten“ Illusionstheaters, sondern eben auch für das Technische in der künstlerischen Praxis des „konventionellen Schauspielers“.5 Brecht stört an der Technik der ­konventionell

2 | Bertolt Brecht, „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“ [1940], in: Ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. 22: Schriften 2 (1933–1942), Berlin/Frankfurt a. M. 1993, S. 641–659. 3 | Bertolt Brecht, „Glosse für die Bühne“, in: Trommeln in der Nacht, in: Ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. 1: Stücke 1, Berlin/Frankfurt a. M. 1989, S. 176. 4 | Brecht, „Kurze Beschreibung einer neuen Technik“, 1993, S. 648. 5 | Ebd., S. 642.

Technik von der Hand in den Mund?

Schauspielenden, die er mit den Begriffen ‚psychischer Akt‘ und Einfühlung beschreibt, eben genau das, was ich einleitend mit ‚black-box-haft‘ bezeichnet habe: sie vollzieht sich im Verborgenen. Die „neue Technik“, die er fordert und verspricht soll den Spielenden befähigen, „die Herbeiführung des Einfühlungsaktes nicht zu betreiben.“6 Was aber dann? Die apparative Bühnentechnik kann sichtbar gemacht werden, was aber soll der Schauspielende sichtbar machen, wenn doch das Technische bislang verborgen war? Worum geht es bei dieser „neuen Technik“ und warum ist sie gekoppelt an den Gestus-Begriff, mit dem Brecht sich von Geste und Gestik ja entschieden abhebt?7 In einem anderen Text um 1940, in den „Notizen über realistische Schreibweise“ [1940/41], bemerkt Brecht, dass „andere Künste, wie die Musik und die bildende Kunst, freier und natürlicher ihrer Technik gegenüber“8 stehen als die literarische Kunst. Es geht Brecht um 1940 also zunächst einmal um eine Technikreflexion. Dafür fordert er eine weite Definition für „Kunst“, die „ruhig solche Künste wie die Kunst des Operierens, des Dozierens, des Maschinenbaus und des Fliegens“ heranziehen solle.9 Mit ‚realistischer Schreibweise‘ ist deshalb nicht nur eine Methode des Schreibens gemeint, sondern ihr Bezug zu den aktuellen, realen technischen Veränderungen. Es geht Brecht also nicht um Technik im apparativen Sinn und auch nicht im Sinne des Einverleibens durch eine Trainings-Methode (auch wenn in den Ausführungen zur Schauspielkunst „das Technische“ bisweilen auch das Handwerkliche meint, das heißt eine materialformende Kunstfertigkeit). Vielmehr fokussiert er die Frage, wie die menschliche Interaktion mit apparativer Technik ein Überdenken überlieferter Beziehungen notwendig macht: gesellschaftlicher Beziehungen wie auch künstlerischer. Diesen Bezug zur sich ändernden technischen Gegenwart sieht Brecht zu wenig gegeben, daher fordert er im selben Jahr sowohl eine „realistische Schreibweise“ als auch eine „neue Technik der Schauspielkunst“, durch die sich eine andere Beziehung zwischen Schauspielenden und Zuschauenden ergeben soll als im „alten“ Theater. Nach Leroi-Gourhan nun materialisiert sich die Beziehung von Mensch und Werkzeug oder Maschine und Material nicht in der Einverleibung oder

6 | Ebd. 7 | „Es ist der Zweck des V-Effekts, den allen Vorgängen unterliegenden gesellschaftlichen Gestus zu verfremden. Mit sozialem Gestus ist der mimische und gestische Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen gemeint, in denen die Menschen einer bestimmten Epoche zueinander stehen.“ Ebd. 8 | Bertolt Brecht, „Notizen über realistische Schreibweise“ in : Ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. 22: Schriften 2 (1933–1942), Berlin/Frankfurt a. M. 1993, S. 620–640, hier S. 620. 9 | Ebd.

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­ erkörperung von Technik, sondern einzig in der technischen Geste. In Hand und V Wort beschreibt er die Menschheitsentwicklung als eng gekoppelt an die Technikgeschichte: nämlich als materialgebundene Exteriorisierung von menschlichen Fähigkeiten in Werkzeugen, später Maschinen, die als Ersatz oder Erweiterung menschlicher Organe oder Handlungsmöglichkeiten dienen. Statt z.B. im Laufe der Evolution die Hand in einen Hammer zu verwandeln, um so beispielsweise die Nahrungsaufnahme in einem spezialisierten Bereich vorzubereiten, hat der Mensch den Hammer als Werkzeug erfunden und somit eine „Überspezialisierung vermieden“.10 Gleichzeitig hat er damit auch die Möglichkeit geschaffen, andere Fähigkeiten in wiederum anderen Werkzeugen zu exteriorisieren (etwa das Schneiden mit den Frontzähnen in der Schere, oder das Kauen mit den Backenzähnen im Mahlstein). Der Mensch hat sich, im Unterschied zu den Tieren, seine Entwicklung also nicht einverleibt, wie z.B. das Pferd, dem mit seiner Spezialisierung als Steppen- und Fluchttier die fünf Finger zu einem Huf zusammengewachsen sind. Einverleibung ist, um genauer zu sein, von Leroi-Gourhan beim Menschen nicht verkörpernd gedacht, weil sie sich nicht körperlich abgebildet hat. Sie erfolgt vielmehr über das Handeln an und mit den Werkzeugen – und damit über Gesten, genauer: über „technische Gesten“ (und über die damit verbundene Neuorganisation des Nervensystems). Am konkreten Beispiel der indirekten Motorik, die in verschiedenen manuellen Maschinen wie dem Bogen, der Armbrust oder der Mühle zum Einsatz kommt, beschreibt Leroi-Gourhan diesen Entwicklungsprozess wie folgt: […] die Gebißaktivitäten gehen auf die Hand über, die das losgelöste Werkzeug führt, sodann löst sich das Werkzeug auch von der Hand und wird zu einem Teil der Geste, die vom Arm auf die manuelle Maschine übergeht.11

In diesem Fall werden Hand und Arm zum Motor der Tätigkeit, führen sie aber nicht mehr selbst manuell aus. Nach Leroi-Gourhan löst sich dann im historischen Langzeitprozess, den er als Paläontologe beschreibt, auch die Muskelkraft vom Körper: Hand/Körper sind mit dieser Loslösung dann nicht mehr Motor des Werkzeugs bzw. der manuellen Maschine, sondern der Mensch setzt statt seiner eigenen Antriebskraft Zugtiere, Wasser- und Windkraft ein.

10 | Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 1980, S. 332. 11 | Ebd., S. 307.

Technik von der Hand in den Mund?

Mit Blick auf Brecht ist der technikgeschichtliche Aspekt von Leroi-Gourhans Ausführungen relevant: Die Loslösung der Motorik ist die wichtigste Stufe nicht vielleicht für den Menschen, wohl aber für die Gesellschaft, die kollektiv über seine Handlungsmöglichkeiten verfügt.12

Historisiert man nämlich Brechts Gestus-Begriff in dem hier beschriebenen technikgeschichtlichen Moment, in dem die automotorische Maschine den Menschen in ein ganz anderes Verhältnis zu seiner exteriorisierten Kraft setzt, dann wäre mit „neuer Technik der Schauspielkunst“ ein besonderer Zugriff auf die kollektiv verfügbaren Handlungsmöglichkeiten gemeint, der dieses neue Verhältnis reflektiert. Aus der Perspektive der Technikreflexion wird für Brecht um 1940 das Illusionstheater mit der darin verborgen waltenden Psychotechnik zu einer Art automotorischen Gefühlsmaschine. Der „konventionelle“ Künstler funktioniert in der von Brecht kritisierten geläufigen Definition von Kunst analog dem Arbeitenden an Maschinen mit automotorischem Antrieb, bei dem die Hand nur noch den Antrieb auslöst und dann nur noch eingreift, „um ihn mit Nachschub zu versorgen oder abzuschalten“:13 Kunst ist dann ein Schreiben, das z.B. alle seine Leser mit ein und derselben Emotion ansteckt; wenn dem Werk gegenüber nicht alle Leser (unbeschadet ihrer Klassenzugehörigkeit) gleich, nämlich in gleicher Weise und gleich stark, reagieren, dann ist es eben nicht Kunst. […] Im Theater ist es die Kunst des Schauspielers, den Zuschauer dazu zu bringen, sich einzufühlen; beabsichtigt der Schauspieler etwas anderes, so mag, was er macht, noch so viel Können zeigen, es ist doch nicht „Kunst“ usw. usw.14

An der geläufigen Definition von Kunst bemängelt Brecht eine Art gefühlsmäßigen, energetischen Automatismus in der Beziehung zwischen Künstler*innen und Publikum: eine gefühlsmäßig-gedankliche Gleichschaltung, die vom künstlerisch Schaffenden als Motor ausgeht und sich idealiter gleichförmig auf alle Rezipient*innen überträgt, wobei nur der künstlerisch Schaffende weiß, welche „Knöpfe“ er oder sie im Verborgenen drückt, um im Moment der Aufführung erfolgreich zu sein. Das darunter liegende Programm, die Frage, wem es nutzt, wie

12 | Ebd., S. 308. 13 | Ebd.: „Die automotorische Maschine zeigt selbst in den einfachsten wassergetriebenen Hammerwerken oder Mühlen ein ganz anderes Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner exteriorisierten Kraft. Die Hand löst den Antrieb aus und greift dann nur noch ein, um ihn mit Nachschub zu versorgen oder abzuschalten.“ 14 | Brecht, „Realistische Schreibweise“, 1993, S. 621.

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auch die technischen Gesten der Konstruktion werden nicht reflektiert, bleiben unter dem wahrnehmbaren Kunstprodukt verborgen. Wenn Brecht fordert, dass die Schauspielenden das im Spiel zu Zeigende „mit dem deutlichen Gestus des Zeigens“15 versehen, verweist er auf die gesellschaftlich verfügbaren Handlungsmöglichkeiten. „Gestus“ meint dann das gesellschaftlich-kollektive Programm, das hinter den gestischen Operationen abläuft – genau dieses Programm gilt es nach Brecht transparent zu machen: [...] das heißt er [der Schauspieler, Anm. d. Verf.] spielt so, daß sein Spiel noch die anderen Möglichkeiten ahnen läßt, nur eine der möglichen Varianten darstellt. Er sagt zum Beispiel: „Das wirst du mir bezahlen“ und er sagt nicht „Ich verzeihe dir das.“ Er haßt seine Kinder und es steht nicht so, daß er sie liebt. Er geht nach links vorn und nicht nach rechts hinten. Das was er nicht macht, muss in dem enthalten und aufgehoben sein, was er macht.16

In der geforderten neuartigen Beziehung zwischen Schauspieler*innen und Zuschauer*innen fordert Brecht möglicherweise eine Materialisierung der Analyse der durch automotorische Maschinen veränderten gesellschafts-technischen Beziehungen. Zu diesen veränderten gesellschafts-technischen Beziehungen durch die „Befreiung der Antriebskraft“ gehört, nach Leroi-Gourhan, die „Herausbildung des Proletariats“17: Der Arbeiter wird mit Teilstücken von Ketten konfrontiert, die vom Rhythmus der Maschine bestimmt werden, mit Serien von Gesten, die das Subjekt außerhalb lassen.18

Der Film Kuhle Wampe von 1932, an dem Brecht als Drehbuchautor mitgearbeitet hat, verarbeitet diese widersprüchlichen Zusammenhänge zwischen der Befreiung der Antriebskraft des Menschen einerseits und der Indienstnahme der ‚neuen‘ Klasse der Arbeiter.19 Das alte Theater sieht Brecht als Teil dieser gesellschaftstechnischen Maschinerie: „Die Kunst soll ihn [den Arbeiter, Anm. d. Verf.] einpassen in die Welt, die nicht umgebildet werden soll.“20 Was ist jetzt aber mit der Black Box schauspieltechnischer Arbeit? Wenn Brecht fordert, die apparative Bühnentechnik auf der Bühne sichtbar zu machen,

15 | Brecht, „Technik der Schauspielkunst“, 1993, S. 641. 16 | Ebd., S. 643 [Hervorh. original]. 17 | Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 1980, S. 316. 18 | Ebd., S. 317. 19 | Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt, Regie: Slatan Dudow, Drehbuch: Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt und Slatan Dudow, Produktion: Prometheus Film, 1932. 20 | Brecht, „Realistische Schreibweise“, 1993, S. 626.

Technik von der Hand in den Mund?

geht es ihm nicht darum, die innere Konstruktion des Scheinwerfers offenzulegen. Es geht ihm vielmehr um das Zeigen des Zur-Hand-Habens des Scheinwerfers. Ähnlich verhält es sich mit der „neuen Technik“ der Schauspielkunst: Die Schauspielenden sollen das Zur-Hand-Haben des Textes, der räumlich-technischen Gegebenheiten des Theaters, der im Alltag beobachtbaren Gestik und ihr stimmlich-körperliches Können offen zeigen. Für das Sprechen heißt das, ähnlich wie für das mimisch-gestische Spiel, dass sich zwischen den Automatismus von Impuls und Ausdruck, den Stanislawski als natürlich gegeben erachtete, ein distanzierendes, verzögerndes oder reflektierendes Moment schiebt. Ebenso wie der körperliche Ausdruck sind für Stanislawski auch „Laute, Silben und Wörter nicht erdacht“ oder über äußerliches Kopieren einstudiert, sie kommen vielmehr „aus Impulsen, sie sind von der Natur, von Zeit und Ort, das heisst [sic!] vom Leben selbst geschaffen worden.“21 Für Stanislawski wird der Sprachlaut, ebenso wie die ‚natürliche‘ Geste, durch einen psychischen Impuls ausgelöst, der dem Prozess inneren Erlebens und der aktuellen Wahrnehmung entspringt und eine spezifische Körperspannung umsetzt in Laute und/oder Bewegungen. Nach Brecht geht es darum, diesen ersten Impuls im Probenprozess zwar zuzulassen, seinen Automatismus dann aber zu erkennen und so zu gestalten, dass ein impulsives Wechselspiel unterbunden wird. Brecht fordert von den Schauspieler*innen das zur-Hand-Haben aller gesellschaftlichen Ausdrucksmöglichkeiten ohne dabei beim Spiel vor Publikum auf ihre persönlichen und individuellen Regungen zurückzugreifen. Im Probenprozess rekurriert dieses Zur-Hand-Haben jedoch auch bei Brecht auf Einfühlung. Die Blackbox der Psychotechnik bricht Brecht nicht auf. Fragen des Handwerks umschifft er, indem er es einfach voraussetzt. Es ist auch nicht sein Fokus. Technik ist für ihn kein Verkörperungsprozess, sondern materialisiert sich nur im Gestischen, d.h. im Umgang mit Mitteln, Material und Apparaten (Text, Beobachtetem, Bühnenapparaten, Requisiten) wie auch die individuell-emotionalen Regungen der Schauspieler*innen. Brechts Gestus-Begriff der 1950er Jahre, auf den sich dann die Vertreter*innen des gestischen Sprechens in Ost- und Westdeutschland ab den 1960er Jahren beziehen, ist sehr viel weniger radikal: Wir sprechen ferner von einem Gestus [Hervorhebung im Original, A.K.]. Darunter verstehen wir einen ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art, zusammen mit Äußerungen, welcher einem absonderbaren Vorgang unter Menschen zugrunde liegt und die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betrifft (Verurteilung eines Menschen durch andere Menschen, eine Beratung, ein Kampf

21 |  Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Teil 1: Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Berlin 62002 [1961], S. 73.

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Anja Klöck usw.) oder einen Komplex von Gesten und Äußerungen, welcher bei einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vorgänge auslöst (die zögernde Haltung des Hamlet, das Bekennertum des Galilei usw.), oder auch nur eine Grundhaltung eines Menschen (wie Zufriedenheit oder Warten).22

Auch wenn Brecht 1951 noch die „gesellschaftliche Beziehung“23 als wichtigste Komponente des Gestus nennt, geht es hier doch nicht mehr um eine Technikreflexion mit dem Ziel, Widersprüche und Unterdrückungsmechanismen im gesellschaftlichen Programm aufzudecken. Der Gestus-Begriff ist enger an den schauspielerischen Vorgang gekoppelt und benennt eher eine Grundhaltung, die im gestischen Spiel zum Ausdruck kommt. Diese Verschiebung kann unter anderem dem Ort geschuldet sein, von dem aus Brecht nach 1949 schreibt und wirkt: dem Berliner Ensemble in Ost-Berlin, Hauptstadt der noch jungen DDR. Im Vergleich mit dem finnischen Exil von 1940 während des Zweiten Weltkriegs, wo Brecht den Text über die „Neue Technik der Schauspielkunst“ geschrieben hatte, war beim Aufbau der Theaterarbeit in einem sozialistischen Deutschland nach dem Ende des Kriegs weniger Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Beziehungen und technischen Entwicklungen geboten. Die in einen Gestus eingebettete sprechsprachliche Äußerung nennen die Vertreter*innen des Gestischen Sprechens in beiden Teilen Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachfolgend ‚gestisch‘. Jede Sprech- oder Stimmübung wird in den Kontext einer Situation, eines Handlungsziels, des Partnerbezuges und der gedanklichen und emotionalen Einstellung gestellt, d.h. der Gestus-Begriff, der 1940 zur Distanzierung von Einverleibung und Verkörperung gedacht war, wird in den Dienst von einer auf Übungen und Wiederholungen basierenden Sprecherziehung für Schauspieler*innen gestellt und – wie Leroi-Gourhan sagen würde: domestiziert.

22 | Bertolt Brecht, „Gestik“ [Typoskript um 1951], in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3 (1942–1956), hg. von Werner Hecht u.a., Berlin/Frankfurt a. M. 1989, S. 187–188, hier S. 188. 23 | Ebd.

Sprechtechnik als Zeitobjekt Elsie Fogertys The Speaking of the English Verse (1923) Wolf-Dieter Ernst Unter ‚Sprechtechnik‘ versteht man gewöhnlich eine Fähigkeit, die sich in einer ausgebildeten Stimme zeigt. Damit bestimmt man die Sprechtechnik eher mit Blick auf eine erreichte oder zu erreichende Kompetenz, lässt jedoch die Technikfrage hinter dem ‚Produkt‘ verschwinden. In diesem Aufsatz soll daher im Sinne der Themenstellung Theater und Technik eine auf den Prozess erweiterte Perspektive eingenommen werden: Wie ist das Erlernen der Sprechtechnik als ein technischer Vorgang zu verstehen? Inwiefern ist insbesondere der Prozess der Wiederholung und sukzessiven Verinnerlichung technisch zu verstehen? Welche Rolle spielen dabei schriftliche und mündliche Formen des Unterrichts? Diese Fragen nach der Technik als Prozess können mit Blick auf Überlegungen des französischen Technikphilosophen Bernard Stiegler entwickelt werden. Dieser spricht von Technik als einem „Zeitobjekt“. In diesem Beitrag soll daran anknüpfend die These verfolgt werden, die Verwendung von Techniken im Bereich der Stimm- und Sprechausbildung als einen dynamischen Prozess der Einverleibung und Veräußerung aufzufassen. Zu fragen ist also nach dem immer schon auf den Körper bezogenen Werden von Techniken – mehr als nach ihrem Wesen oder ihrer Materialität. Dieser Fragekomplex soll sogleich etwas eingegrenzt werden, indem das Training der Sprechtechnik in einer spezifischen historischen Konstellation betrachtet wird: Es geht um das 1923 erschienene Buch The Speaking of the English Verse der englischen Sprecherzieherin, Schauspiellehrerin und Schulleiterin Elsie Fogerty (1865–1945)1 und es geht damit auch um die Lehrtätigkeit und mittelbar um das Sprechen im Kreis der Londoner Theaterausbildung, der Ausbildung von

1 | Elsie Fogerty gilt als eine der Begründerinnen der modernen Sprecherziehung und Sprechtherapie in England. Die 1865 geborene Fogerty war Teil einer Generation gut ausgebildeter, bürgerlicher Frauen, die das pädagogische Feld für sich reklamierten. 1906 gründete sie die ‚Central School for Speech and Drama‘, die sie über dreißig Jahre leitete und zur festen Größe in der Schauspielausbildung in London machte. Ihr Buch ist also vor dem Hintergrund ihrer körperlichen und pädagogischen Kompetenz zu lesen.

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Lehrer*innen für Sprecherziehung und Sprechtherapie an der ‚Central School for Speech and Drama‘ zwischen 1906 und 1923, die durch Fogertys Berufstätigkeit markiert ist. Wenn die Frage nach dem Trainingsprozess als einem technischen Vorgang hier vom Standpunkt des französischen Technikphilosophen Bernard Stiegler gestellt wird, so vermeidet dieses Vorgehen die dominante Fragerichtung, die Körpertechniken mit Marcel Mauss eher als Produkt von Verinnerlichung aufzufassen.2 Auch wird nicht die Idee verfolgt, in der Beherrschung künstlerischer Techniken wie etwa dem Kunstgesang oder dem Spitzentanz eine Form von Technik zu sehen, die grundsätzlich verschieden von nicht künstlerischen Techniken sei und daher jenseits der Technikreflexion stünde.3 Und letztlich daran anknüpfend wird der optimiert ausgebildete Bühnendarsteller nicht als besonderer Fall prothetischer Zurichtung des organischen Körpers gelten können, was ebenfalls einen häufig bemühten Topos der anthropologischen Technikkritik darstellt.4

Technik als Gedächtnis Der französische Philosoph Bernard Stiegler geht in seinen Studien davon aus, dass jede Technik primär eine Gedächtnistechnik und weniger ein Instrument oder eine Form des Wissens allein darstellt. Er bezieht sich auf die drei grundlegenden Stufen des Gedächtnisses, die der Paläonthologe André Leroi-Gourhan in seiner Theorie der Ko-Evolution von Technik, Körper und Sprache vorschlägt. Die erste Stufe stellt das Artgedächtnis dar. Phylogenetische Merkmale wie die Daumen-Zeigefinger-Opposition der Greifhand oder eben die menschliche Artikulationsfähigkeit zählen zu den Merkmalen dieses Gedächtnistyps. Die Art vererbt diese Fähigkeiten im Zuge ihrer Reproduktion. Auf der zweiten Stufe steht das individuelle Gedächtnis, also etwa das sensomotorische Gedächtnis des Sprechapparats mit der wir uns etwa Lautbildungen merken oder – etwas komplexer – das Bildgedächtnis für Wortbilder.

Hier schreibt diejenige, die Peggy Ashcroft oder Sir Laurence Olivier das Sprechen beigebracht hat. 2 | Marcel Mauss, „Die Techniken des Körpers“, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1974, S. 197–220. 3 | So etwa das Argument von Karl Ludwig Pfeiffer, „Operngesang und Medientheorie“, in: Doris Kolsch und Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006, S. 65–84. 4 | Vgl. hierzu Marie-Anne Berr, Technik und Körper, Berlin 1990, mit Bezug zu Theater Wolf-Dieter Ernst, Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen, Wien 2003, Kap. 5.

Sprechtechnik als Zeitobjekt

Die dritte Stufe ist das, was Stiegler in einem Neologismus als „epiphylogenetisches Gedächtnis“ bezeichnet.5 Es übersteigt das Artgedächtnis und das individuelle Gedächtnis, insofern es die Speicherung von Gedächtnisinhalten in Objekten umfasse. Mit der Wortneuschöpfung „epiphylogenetisch“ hebt Stiegler hervor, dass die individuelle Gedächtnisleistung, also die erworbene Erfahrung verwoben ist mit dem jeweiligen Stand der Aufschreibesysteme wie der Schrift und artifiziellen Objekte wie etwa einem Buch, die diese Gedächtnisinhalte tragen und deren Funktion bestimmen. In unserem Kontext des Stimm- und Sprechtrainings des frühen 20. Jahrhunderts sind natürlich insbesondere die epiphylogentischen Gedächtnistechniken von Interesse, ist dies doch die Zeit der Entwicklung einer Lautschrift und der Pädagogisierung der Sprech- und Stimmerziehung. Das hier untersuchte Lehrbuch der Sprechtechnik von Fogerty wäre also in Stieglers Ansatz ein epiphylogenetischer Gedächtnisträger. Im Vergleich zu einer oralen Kultur erweitert und verändert das Lehrbuch die Übertragung der Erfahrung von der Lehrerin auf die Schüler*innen und hin zu Übertragung an spätere Generationen. Erfahrungen aus dem Unterricht fließen in das Buch ein und umgekehrt soll das Buch diese Erfahrungen wiederum ermöglichen. Die Schriftbildlichkeit des Buches verdeutlicht diesen Weg von der Schrift hin zur gesprochenen Sprache. So etwa im Kapitel über die Geschichte der Versformen. Hier widmet Fogerty den griechisch-antiken Versen besondere Aufmerksamkeit. Sie hatte sich zusammen mit der Tänzerin Ruby Ginner (1886–1978) ab 1902 ausführlich mit altgriechischen Versen befasst und eigene Inszenierungen mit sehr wirkmächtigen Sprechchören erarbeitet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser praktischen Erfahrung bittet sie den Altphilologen William Henry Denham Rouse (1863–1950), ihr einige Verse von Ödipus auf Kolonos vorzusprechen und diese für das Buch zu transkribieren.6 Interessant an dieser Stelle ist, dass die griechische Transkription in einer Art lateinischer (Laut)Schrift erfolgt, also für englische Schüler*innen zumindest lesbar ist. An anderer Stelle im Buch zitiert sie einen Parodos aus Sophokles Elektra in der Komposition von Harry Granville-Bantock (1868–1846), wobei sie die griechische Schrift belässt und stattdessen eine englische Übersetzung den semantischen Zugang ermöglicht.7 Es ist ihr also an dieser Stelle wichtig, die Schüler*innen mit der Fremdheit der griechischen Sprachklänge im

5 | Bernard Stiegler, Denken bis an die Grenze der Maschine, Zürich/Berlin 2009, S. 53, Anm. 2. 6 | In ihrer Danksagung erwähnt die Autorin die Ausarbeitung der „phonetic transcriptions from the Greek and the interesting experiment in the notation of tonic accent […]“, in: Elsie Fogerty, The Speaking of the English Verse. London/Toronto 1923, S. xi. 7 | Fogerty, The Speaking of the English Verse, 1923, S. 100–103.

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Ödipus vertraut zu machen, indem sie für immerhin fünf Seiten die Möglichkeit eröffnet, das Griechische zu artikulieren. Abb. 1, Auszug der Umschrift von Ödipus auf Kolonos

Quelle: Elsie Fogerty, ­ The Speaking of the English Verse, London/Toronto 1923, S. 35.

Das Beispiel macht deutlich: Fogerty geht davon aus, dass man sein Sprechen und seine Stimme nicht dadurch bildet, dass man das Buch stumm liest. Keineswegs also ist es so, dass die externalisierte Sprechtechnik, d.h. die schriftliche Übung allein entfremdend auf die individuellen Gedächtnisse zukünftiger Schülergenerationen einwirke. Denn allen Leser*innen ist klar, dass explizit nicht die mündliche Sprache und die senso-motorische Erfahrung gespeichert wird, sondern das Wissen um die Herstellung dieser Erfahrung und die nötigen Vorgaben, die zum Vollzug des Sprechens, Singens und Summens geeignet sind. Dies gilt es hervorzuheben, da ja in der Reflexion von Technik gerne der Topos der Entfremdung von der eigenen Erfahrung aufgerufen wird.

Sprechtechnik als Zeitobjekt

Stieglers prozessuale Technikreflexion8 differenziert sich in zwei zeitliche Aspekte aus, die für das Nachdenken über Körpertechniken jenseits der Optimierung wichtig sind und daher im Folgenden kurz erläutert werden sollen: Zum einen hebt er hervor, dass im Kern der Technikfrage nicht die Optimierung sondern der Fehler steckt. Technikentwicklung hat diesem Gedankengang dementsprechend gar kein Telos, sei dies die Funktion, der Fortschritt oder die Perfektion. Die Entwicklung von Techniken sei vielmehr eine provisorische Antwort auf einen grundlegenden Fehler. In seiner Lektüre des antiken Prometheus-Mythos in Platons Protagoras arbeitet Stiegler dieses Motiv eines grundständigen Fehlverhaltens heraus, das eine verspätete und über Umwege versuchte Wiedergutmachung zur Folge habe – eigentlich eine tragische Verkettung von Missgeschicken. Die Parallelen dieses Menschenbildes, in welchem Techniken als Kompensation für eigene Fehler gedeutet werden, zum Ansatz Fogertys liegen auf der Hand. Bereits im Vorwort bricht Fogerty eine Lanze für den Fehler: It [the book; Anm. d. Verf.] is very slight and very imperfect, but it may serve to help those who will go further, and it may at least prevent a certain number of teachers from involuntary standing between their students and a love of poetry.9

Rückt man dieses Zitat in die Erzählung des Protagoras ein, so kann die Sprechtechnik der Liebe zur Poesie als einer Gabe zum Ausdruck verhelfen. Der Lehrer und die jeweils vermittelte Sprechtechnik können ihren rechten Ausdruck befördern, die pädagogische Technik kann aber auch ihr Erlöschen bewirken. Fogerty zweifelt denn auch die Vorstellung einer linearen Entwicklung von der frühen Begabung hin zur perfekt ausgebildeten Stimme an. Wiederholt warnt sie vor den negativen Folgen falscher Ausbildung, worunter sie insbesondere den körperlichen Drill und die allzu mathematische Auffassung von Metrik rechnet. Bereits im Vorwort erteilt sie einem normativen Verständnis von Begabung eine

8 | Bereits Leroi-Gourhan hat auf die Ko-Evolution von Technik, Sprache und Körper hingewiesen. Den Prozess der Ablösung des Werkzeugs vom Körper versteht LeroiGourhan als eine Ko-Evolution. Der Mensch habe das Werkzeug nicht erfunden. Er habe es – als Leistung seines Artgedächtnisses – „im Verlaufe seiner Evolution in gewisser Weise ausgeschwitzt“ (Andre Leroi-Gourhan, Hand und Wort: Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1987, S. 301). „Menschlich ist die menschliche Hand durch das, was sich von ihr löst, und nicht durch das, was sie ist: ein recht einfacher osteo-muskulärer Apparat, der schon bei den Affen in der Lage ist, mit großer mechanischer Ökonomie Bewegungen des Greifens, der Rotation und der Translation auszuführen, die in der Folge unverändert bleiben.“ (S. 301) Es „existiert das Werkzeug real nur in der Geste, in der es technisch wirksam ist.“ (S. 296). 9 | Fogerty, The Speaking of the English Verse, 1923, S. x.

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radikale Absage, wobei sie den Vergleich ihrer begabtesten Schüler mit jener mit körperlicher Behinderung bemüht, welche sie ebenfalls unterrichtete: Some people are colour-blind; many are tone-deaf; some few are word-blind and cannot trace the meaning of a printed page, but none of these people go about boasting of their deficiencies; they are a little sorrowful, a little ashamed, and one has to cheer them up; often they try every means, however costly, to cure themselves. Some people, in the same way, are rhythm-deaf, and cannot appreciate pattern by the sense of hearing, but the majority of those who do not love poetry are the victims of bad teaching, and we ought to find a way of lifting this burden of deafness from them.10

Die jeweiligen technischen Übungen müssen also weniger mit dem Ziel der Beherrschung des Sprechmaterials ausgeführt werden als vielmehr mit dem Ziel, einen erneuerten Kontakt zum eigenen Körper zu bekommen, der durch ,falsche Technik‘ verstellt sei. Daher setzt ihr Training damit an, die individuell bereits erlernten Techniken des natürlichen Sprechens allererst bewusst zu machen und mittels Atem- und Entspannungstechniken mögliche Einschränkungen und Blockaden zu lösen. Zwar ist das Ziel die schöne Stimme. Man darf sich Fogertys Ansatz nicht als laissez-faire-Pädagogik vorstellen. Jedoch ist Schönheit nur über den Umweg zu erreichen, das Summen, Lallen, Atmen und Gähnen aktiv zu bejahen. Wir haben hier also eine zeitliche Disposition, in der eine Technik des Drills und der Artikulation durch eine zweite Technik der Atemgymnastik und Entspannung ergänzt und teilweise ersetzt wird, um die negativen Effekte der ersten Technik zu kompensieren. Eine Technik als Handlungsprogramm erfordert eine weitere Technik als Unterprogramm usw. Der Fehler als Ur-Szene der Technikentwicklung gebiert nur mehr weitere Techniken und Fehler. Der zweite Aspekt, den Stiegler mit Husserls Phänomenologie des Zeiterlebens herausarbeitet, ist jener, Technik als ein Zeitobjekt aufzufassen. Aufschreibetechniken wie sie etwa das Lehrbuch hervorbringen seien als eine industrielle Form dessen aufzufassen, was Husserl in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ein „Zeitobjekt“11 nennt. Ein Zeitobjekt ist bestimmt durch seine Dauer und Vergänglichkeit; anders als das physische Objekt verrinnt und verfließt es. Ein Paradebeispiel ist die Melodie der Zeitkunst Musik. Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen der erste Ton erklingt, kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: Wenn der zweite Ton erklingt, so höre

10 | Ebd., S. ix 11 | Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 2000 [1928], S. 18f.

Sprechtechnik als Zeitobjekt ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Dass das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich – so wird man geneigt sein zu sagen – der Erinnerung; und dass ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, dass das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung.12

Husserl hebt also hervor, dass die Wahrnehmung immer zugleich auf vergangene Wahrnehmungen bezogen ist. Den jeweils erklingenden Ton kann man nur in Bezug auf bereits verklungene Töne als melodisch-rhythmischen Zusammenhang deuten. Diese Aufladung der Wahrnehmung mit einer just verflossenen Vergangenheit dehnt diese aus und ermöglicht dem Bewusstsein, sich gleichsam zwei Bezugspunkte zu wählen, das eben Seiende und das eben Gewesene, zwischen denen es hin und her wechseln kann. Husserl bezeichnet diese Aufladung des Bewusstseins als „primäre Retention“.13 Die primäre Retention sei eine Fähigkeit der Wahrnehmung. Sie muss von „sekundären Retentionen“ unterschieden werden, mit der die Fähigkeit des Erinnerns bezeichnet wird. Im Anschluss an Husserl führt Stiegler den Begriff der „tertiären Retention“ ein. Damit bezeichnet er alle Zeitobjekte, die eine externalisierte Einschreibung von Gedächtnisinhalten ermöglichten. Mit Bezug zur Stimme und Sprechen können wir etwa das Grammophon und die alphabetische Schrift darunter fassen. Das qualitativ neue dieser Zeitobjekte sieht er in der exakten Wiederholbarkeit: Der Phonograph ermöglicht etwas bis dahin Unvorstellbares. Mithilfe dieses Apparats kann dasselbe Zeitobjekt, d.h. dieselbe Interpretation eines Musikstücks, zweimal hintereinander auf exakt dieselbe Weise hervorgebracht werden.14

Gleiches gälte für die Schrift, die ein vergleichbares erstes Mal der Stimme ermögliche. Wie immer man die exakte Wiederholbarkeit hier fassen möchte, es ergibt sich mittels der Aufschreibetechniken ein signifikant anderer Spielraum von Fixierung des Sprechens und der Stimme und der späteren Interpretation dieser Fixierung als dies bei körperlicher Speicherung der Fall wäre. Fogertys Lehrbuch wäre im Sinne Stieglers auch – neben allen Teilen der Einführung in einen Sachverhalt – als Zeitobjekt aufzufassen, welches eine tertiäre Retention ermöglicht: Es speichert die von der Lehrerin Fogerty üblicherweise mündlich dargebotene Artikulation und Stimme, also das Modell des Sprech- und Stimmtrainings an dem sich ihre Schüler*innen orientieren.

12 | Vgl. ebd., S. 19. 13 | Ebd., S. 25f. 14 | Stiegler, Denken bis an die Grenze der Maschine, 2009, S. 76.

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Fogertys Lehrbuch The Speaking of the English Verse Folgt man Stieglers Begriff der Technik als Zeitobjekt, so kann das Buch nicht allein als instrumentelle Anleitung gelesen werden. Wie soll man es dann lesen? Vom Lehrbuch zum gesprochenen Wort, vom Gedächtnisspeicher Fogertys, der tertiären Retention hin zur ersten Retention im Hören von Poesie – diese wären die sich mit Stiegler anbietenden Lektürelinien. Wie jedes bessere Buch verspricht auch dieses im Vorwort etwas, nämlich eine Einführung in das Verssprechen. Fogerty möchte das „practical technical knowledge acquired in many years’ study of a difficult subject“15 vermitteln, vorzugsweise an Sprecherzieher*innen und Rezitator*innen. Sie ist keine Unbekannte für die Leser*innen des Jahres 1923 und schreibt zudem vor dem Hintergrund von rund 30 Jahren Unterrichtserfahrung an ihrer Schauspielschule, der ‚Central School for Speech and Drama‘, in diversen Theaterensembles und Girl Schools sowie auf Basis ihrer Arbeit als Sprecherzieherin im ‚St. Thomas‘ Krankenhaus. Wohl mit dieser Autorität stellt sie auch die Grenzen der Technikreflexion fest, wenn sie an einer Stelle schlicht schreibt: In regard to what is generally called voice production it is not proposed to enter into detailed analysis or instruction in this book: not from any uncertainty in regard to ­method, but because it is impossible to teach these things except orally.16

Das Buch ist vordergründig eine gelehrsame Abhandlung, welche sich in mehreren Kapiteln wichtigen Aspekten des Versprechens widmet. Es handelt von der Lyrik als Gattung, von der Musikalität der Lyrik, von den Versformen und ihrer Geschichte, um dann überzuleiten zu den Elementen des Sprechens, dem Atem, der Stimme, der Artikulation und Lautbildung. Im Kern ihrer Reflexion von Sprechtechniken steht jedoch die gesprochene und gehörte Sprache hier und jetzt. Immer wieder hebt sie hervor, dass es sich bei dem, was gelernt werden soll, primär um die Erfahrung von Dauer handelt. So setzt sie die Dauererfahrung als Zeitobjekt ab vom Taktschlag („drumbeat“), welcher lediglich ein musikalisches Objekt ohne Zeit darstelle. Time marked by itself. By the duration of continuous waves of different length grouped by number and divided by silence as rhythmic as sound. Phrases reaching their climax by the rise and fall of musical pitch. This is in its essence a finer thing than time beaten

15 | Fogerty, The Speaking of the English Verse, 1923, S. x. 16 | Ebd., S. 107.

Sprechtechnik als Zeitobjekt out in a drum rhythm which sounds a gong to mark its passing but cannot take part in its movement.17

Das Zeitobjekt ist dabei nur erfahrbar, wenn das Sprechen selbst bewusst gehört und nachempfunden wird. Diese Hörerfahrung nennt sie ‚quantity‘ und hebt sie deutlich vom semantischen Akzent ab. The first step is to forget all the strange and weird exercises in so-called scansion which were associated with the routine classical education and to try and feel quantity as a matter of duration – a long vowel being held for twice the time of a short one and so on. This will not take us very far, but is a beginning.18

Mit dem Versuch, die „quantity“, d.h. die Ausdehnung insbesondere der Vokalklänge zu fühlen, ist also ein Rückbezug auf das Körpergedächtnis, die Resonanz der Klangräume im Körper und das Gefühl für einen organischen Rhythmus gemeint. Die Schüler*innen sollen die Resonanzen des gesprochenen Verses wahrnehmen und ein Gespür dafür entwickeln, wie die aktuelle Stimm- und Sprechaufgabe an die bereits artikulierten Klänge anschließt. Kurz: Es soll nicht gedanklich vorauseilen, sondern somatisch ein Zurückhalten ermöglichen. Im Rückgriff auf Stiegler können wir die derart gehört-gesprochene Sprache als jene erste Retention in der Wahrnehmung auffassen, die sich in der Abfolge von verklungenen und hervorgebrachten Lauten ergibt. Auffallend ist nun allerdings, welche Übungsaufgabe Fogerty entwirft, um die Erfahrung der Retention zu ermöglichen. Im Kapitel III, The History of Verse Pattern, stoppt sie ihren vermittelnden, deskriptiven Schreibstil jäh ab und bemüht stattdessen ein Hörexperiment. Monotone very softly the notes of the scansion on page 171 and the notes of the example set above without any thought of the actual words set down; continue until the tune is absolutely clear to the ear. Then monotone the words carefully to that tune as if it were a very legato plainsong setting without stress or bar division. Repeat the experiment, bringing the chant gradually a little closer to speech inflection without permitting any marked stress to glide in and you will soon begin to hear quantity.19

Will man dieses Experiment durchführen, so verlangt dies also von S. 47 zu S. 171 vorzublättern. Das somatische Zurückhalten des Gelesenen wird quasi performativ gefordert, durch Blättern und Unterbrechung des Leseflusses.

17 | Ebd. 18 | Ebd., S. 34. 19 | Ebd., S. 47f.

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Blättert man zum Appendix, so wird man auf ein Zitat aus William Thompson The Basis of English Rhythm verwiesen: Abb. 2, Sprech- und Hörübung

Quelle: Elsie Fogerty, The Speaking of the English Verse, London/Toronto 1923, S. 171.

Was soll dieses Experiment bewirken? Es soll die Bilder und Erinnerung, die sich noch an den Wortsinn knüpfen, vergessen machen, sowohl an den Kaufmann von Venedig, dem diese Zeile entnommen ist, als auch an die wahre Barmherzigkeit, die ja ein weites semantisches Feld aufmacht. Das Ohr übernimmt, unterstützt möglicherweise vom Klopfen oder Klatschen des Rhythmus. Das soll monoton und solange geschehen, bis dem Reim eine eigene Melodie („tune“) eignet und er eine wiedererkennbare Form erhält. Sodann soll auf den rhythmisch eingestimmten Körper die gesprochene Sprache derart eingefügt werden, dass ihre Quantität hervortrete. Die Leser*innen wissen ebenfalls nicht, wann dies der Fall ist. Jedenfalls wird man sich weniger mit den Betonungen aufhalten, als vielmehr mit der Triole bei „quality“ und der Achtelpause nach der nur angehauchten Silbe „ned“ von „strained“. Was soll dieses Experiment bewirken? Es soll die primäre Retention wirksam hervorheben, sie entstehen lassen. Die Bilder und Erinnerung, die sich an den Wortsinn knüpfen sollen hingegen ausgeblendet werden, indem man sich zunächst nur der Einverleibung des Rhythmus hingibt. Aber an dieser Stelle muss man doch innehalten und fragen: Was verhindert nun, dass der Vers „sing-song and studid“ klingen wird, wie Fogerty es ja ablehnt, einfältig also „like a child counting the 3/4 beat of a valse in strict time“20 oder umgekehrt zu jenem pathetischem Wortgeklingel in der „tradition of ,recitation‘,“ werde, von dem Fogerty im Vorwort mit aller verve sagt, dass sie „never succeeded in interpreting anything but the worst, the most vulgar and meaningless of verse, because in that it could find room for the personal self-assertion which destroyed all true faculty of poetic interpretation“.21 Ihre sprechtechnische Methode legt nahe, sich in der Arbeit mit der tertiären Retention in Form des hier in alphabetischen Lettern gedruckten Verses auf die primäre Retention zurückzubesinnen: Zwischen musikalischer Form, die zu sehr

20 | Ebd., S. 22. 21 | Ebd., S. X.

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organisierte Zeit wäre und semantischer Betonung, die zu sehr das persönliche Verständnis des Sprechers spiegelt, muss sich demnach ein Drittes schieben. Dieses Dritte aber ist nichts weiter als ein zeitlicher Aufschub und damit notwendig ein Fehler im Buch, welches ja in der Gliederung seines Sachverhaltes verspricht, linear zu Beherrschung der Technik zu führen. Quantität ist aber gerade dann gegeben, wenn man sich temporär vom Buch löst. Nur so, im Akt der Verkörperung, öffnet sich ein bewusster Spalt im zeitlichen Verlauf des Verses und des Lesens. Die Schüler*innen müssen das Sach-/Lehrbuch aus der Hand legen, um mit dem Ohr und über das Gedächtnis und nicht allein mit den Sprechwerkzeugen ermessen zu lernen, worin die Quantität des Verses besteht.

Fazit Eingangs fragten wir nach der Technik: Inwiefern ist der Prozess der Wiederholung und sukzessiven Verinnerlichung technisch zu verstehen und welche Rolle spielt dabei die externalisierte Kulturtechnik, die Schrift? Wir können die ­eingangs gestellte Frage nun spezifisch mit Blick auf Fogertys Buch etwas näher beantworten. Dabei ergeben sich stichpunktartig drei Punkte: • Technik als Konstellation: Der Vorgang der Verinnerlichung ist hier nur dann technisch zu verstehen, wenn man ihn als reziprok zwischen Sprechapparat, senso-motorischem Gedächtnis und aufgeschriebener Übungsaufgabe aufgespannt versteht. Diese Konstellation besteht mit Stiegler gesprochen aus drei Retentionen, dem Zurückhalten des eben Gewesen in der Wahrnehmung, der individuellen Erinnerung und der gespeicherten Erinnerung in den tertiären Retentionen. • Technik als Zeitobjekt: Der Vorgang der Verinnerlichung und Artikulation ist technisch insofern er verschiedene Grade der Retention miteinander verschaltet. Technik ist daher primär eine Frage nach den Gedächtnisfunktionen und damit in der Zeit angeordnet. • Technik als Fehler: Die Sprechtechnik kann nach Fogerty nur dort erlernt werden, wo der Fehler herrscht. Mit Blick auf das Blättern und monotone Einstimmen eines Rhythmus können wir präzisieren, dass hier der Sound als das „Unaufschreibbare an der Musik und unmittelbar ihre Technik“22 markiert ist.

22 | So die Definition von Sound durch Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 133; vgl. grundsätzlich Wolf-Dieter Ernst, Nora Niethammer, Berenika Szymanski-Düll, Anno Mungen, „Inszeniertes Hören. Sound und Performance im Spiegel der Disziplinen“, in: Dies. (Hg.), Sound und Performance. Positionen. Methoden. Analysen, Würzburg 2015, S. 13–36.

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The Speaking of the English Verse ist halb Lehrbuch, halb Sachbuch. Es erscheint in seiner Gesamtheit aber auch wie ein schönes Necessaire mit präzise ausgeformten konkreten Werkzeugen für alle Teilaspekte der eleganten Versaussprache. Quer zu den einzelnen, sehr spezifischen Methoden und Wissensbeständen jedoch liegen einige ganz abstrakte Werkzeuge, gleich einem Hammer, herum, von denen in diesem Beitrag eine Übungsaufgabe vorgestellt wurde. Als Werkzeuge, die den Stand der Konkretisierung von Sprech- und Stimmtechnik in Frage stellen, lenken sie den Leser auf den Prozess der Verkörperung zurück. Dass dieser Hinweis auf den Körper des Sprechenden nun im historischen Abriss über die Entwicklung der Versformen just an dem Punkt gegeben wird, wo Fogerty mit Chaucer und ­Spenser bei der Zeit des Buchdrucks anlangt, hat wiederum Methode.

Sprechtechnik(en) für alle? Zur Ambivalenz der Formung von Stimme und Sprechen am Vorbild des Theaters Dorothea Pachale Als in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Fach Sprechkunde/Sprecherziehung im deutschsprachigen Raum entsteht, etabliert sich ‚Sprechtechnik‘ als Begriff, der den Bereich der grundlegenden Formung und Optimierung der Sprechstimme erfasst.1 Der Einführung des Begriffs vorangegangen war seit den 1860er Jahren die beginnende Verschriftlichung und Systematisierung des Übungswissens zur Sprechstimmbildung in Form zahlreicher Übungsbücher. Das Theater sowie die Schauspiel- und Gesangsausbildung fungieren bei dieser Entwicklung als Impulsgeber einer Sprechstimmbildung ‚für alle‘, zugleich gibt es aber auch Bemühungen, die das Sprechen im Alltag von den Sprechweisen der Bühne abgrenzen möchten. Dennoch ist bemerkenswert, dass nicht mehr nur die Sprechstimme professioneller Sprecher*innen, sondern Stimme und Sprechen allgemein als form- und optimierbar beschrieben werden; die Ausbildung und der Umgang mit der Sprechstimme werden zunehmend auf systematisierbares Wissen gestützt. Stimme und Sprechweise werden als wichtige Kommunikationsmittel gesehen und ihnen wird ein instrumenteller Charakter zugeschrieben. Der Begriff der Sprechtechnik erfasst damit zum einen Sprechen und Sprechstimme als steuerbare Instrumente der Kommunikation, zum anderen die Möglichkeit der Schulung und Optimierung der Sprechstimme aufgrund von regelgeleitetem Wissen und Übungen. Zugleich eröffnet der Begriff auch eine Diskussion um die Konzeption des methodischen Vorgehens zur Sprechstimmbildung. Während in den frühen Übungsbüchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine dualistische Trennung in rein körperliche und in geistige Aspekte des Sprechens die Übungsmethodik und -programme prägt und Übungsweisen als ‚mechanisch‘ bezeichnet werden, kommt seit der Jahrhundertwende trotz der Etablierung des Begriffs

1 | Vgl. Friedrich Buch, Erich Drach, Albert Fischer u.a., Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst an deutschen Universitäten, in: Zeitschrift für Deutschkunde 34, 1920, S. 235–236, hier S. 235.

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Sprechtechnik zunehmende Skepsis gegenüber den mechanistischen Übungsansätzen auf, die sich mit Forderungen nach einer ganzheitlichen Übungsmethodik verbinden. Der abschließende Ausblick in die Gegenwart zeigt, dass die Sprechstimme als Kommunikationsmittel in der Alltagskommunikation, v.a. im Sinne einer gelingenden und gewinnenden Selbstpräsentation, wieder verstärkte Aufmerksamkeit erhält. Zugleich gehen damit jedoch auch Vorbehalte gegenüber einer sicht- oder hörbaren Instrumentalisierung der Sprechstimme einher: Während Schauspieler*innen und Sänger*innen als Stimmtrainer*innen akzeptiert sind, darf die Stimme der Alltagssprecher*innen ihren geschulten Charakter nicht offenbaren. Sprechtechnik wird damit zu einer Körpertechnik, die ihren technischen Charakter verschleiern muss, um den Eindruck von Authentizität zu erwecken.

Zur Entstehung einer Technik des Sprechens Der Begriff ‚Sprechtechnik‘ wirft die Frage auf, inwiefern die Verwendungsweise der Sprechstimme und ihre Ausbildung sich als Technik beschreiben lassen und wieso von einer spezifischen Technik des Sprechens erst gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Der französische Soziologe Marcel Mauss hat die Bezeichnung ,Körpertechniken‘ eingeführt und beschreibt damit die in einer Gesellschaft tradierten Verwendungs- und Umgangsweisen mit dem Körper.2 Seine Beispiele reichen von recht basalen Tätigkeiten wie dem Gehen hin zu bewusster erlernten Techniken wie dem Schwimmen oder der Handhabung von Gerätschaften im Kontext des Militärs.3 Technik bleibt hier ein umfassender Sammelbegriff für in unterschiedlichen Kontexten erlernte oder übernommene Körperhandhabungen. In diesem sehr allgemeinen Sinne würde dann (fast) jeder Mensch als Kind mit dem Spracherwerb eine Sprechtechnik erlernen und es ließe sich aus einer ethnologisch-soziologischen Perspektive untersuchen, ob sich hierbei Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen beschreiben lassen, die über die Spezifika der für verschiedene Sprachen typischen Körpertechniken, etwa bei der Artikulation, hinausgehen. Spezifischer lässt sich der Begriff der Sprechtechnik jedoch fassen, beschreibt man Technik als ein „regelgeleitetes, sachverständiges, also an bestimmtes Wissen gebundenes praktisches oder theoretisches Können “4 sowie als „Bezeichnung für

2 | Vgl. Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung – Körpertechniken – Begriff der Person, München/ Wien 1975, S. 198–217, hier S. 199. 3 | Vgl. ebd. S. 200–202. 4 | Art. „Technik“, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St–T, Darmstadt 1998, S. 940–552, hier S. 940.

Sprechtechnik(en) für alle?

das ­Ganze des [...] instrumentell Verfügbaren“5. Dieser Ansatz erlaubt die mit den ersten Übungsbüchern einsetzende Verschriftlichung und Systematisierung des Übungswissens zur Sprechstimmbildung als Entstehung einer spezifischen Körpertechnik des Sprechens zu beschreiben, noch bevor der Begriff ‚Sprechtechnik‘ eingeführt wird. Diese Entwicklung setzt im deutschsprachigen Raum erst relativ spät, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, ein. Auch wenn es seit der Antike Texte gibt, die beschreiben, wie die schöne Stimme eines Redners zu klingen hat, Empfehlungen zur Stimmpflege geben und einige wenige Übungen tradieren6, beginnt erst mit den Übungsbüchern für die Sprechstimme seit den 1860er Jahren eine systematische Verschriftlichung des methodischen Wissens zur Ausbildung der Sprechstimme. Einfluss nehmen hierbei auch die zeitgleich sich entwickelnden physiologischen Forschungen zur Stimme.7 So findet sich etwa die Unterscheidung der am Stimmbildungs- und Sprechvorgang beteiligten Organe, beziehungsweise Funktionsbereiche ‚Atmungsorgane/Atmung‘, ‚Kehlkopf/ Stimmbildung‘ und ‚Ansatzrohr/Artikulation‘ auch als Strukturierungsmuster für die Übungsprogramme wieder. In den Übungsbüchern werden einzelne Übungen und ganze Übungsprogramme entwickelt, mit deren Hilfe eine systematische Verbesserung der Sprechleistung erreicht werden soll. Auf die genauere Ausgestaltung dieser Übungsmethodiken gehe ich später noch ausführlicher ein. Fortgesetzt wird diese Entwicklung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als sich die Sprechkunde/Sprecherziehung als eigene universitäre Disziplin herausbildet und den Begriff ‚Sprechtechnik‘ prägt: Hier kommt es nun verstärkt zu einem Bemühen um die Systematisierung des Wissens zur Sprechstimmbildung, aber auch zur Rhetorik und Vortragskunst.8 Zudem entstehen Kontroversen um die Konzeption der Sprechstimmbildungsmethodiken. Die Sprechkunde/ Sprecherziehung ist um eine umfassende Etablierung von Sprechstimmbildung an Schulen und Universitäten sowie um eine Regulierung des Bereichs frei arbeitender Sprechstimmbildner*innen auch im Hinblick auf eine Standardisierung und

5 | Ebd. 6 | Auch die zahlreichen Handbücher zur Deklamations- und Vortragskunst, die um 1800 entstanden sind, stehen noch in dieser Tradition. Vgl. dazu auch Reinhart MeyerKalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 224f. 7 | Bspw. Carl Ludwig Merkel, Anatomie und Physiologie des menschlichen Stimm- und Sprachorgans (Anthropophonik). Nach eigenen Beobachtungen und wissenschaftlichen Versuchen begründet, Leipzig 1857; Ders., Physiologie der menschlichen Sprache (physiologische Laletik), Leipzig 1866. 8 | Vgl. bspw. Ewald Geißler, Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens, Leipzig 1910; Ewald Geißler, Rhetorik. Anweisungen zur Kunst der Rede, Leipzig 1914; Erich Drach, Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule, Frankfurt a. M. 1922 (= Handbuch der Deutschkunde. Führer zu deutscher Schulerziehung Bd. 3).

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Qualitätssicherung der Fachinhalte bemüht. Die Ausbildung der Sprechstimme soll einer möglichst breiten Zielgruppe zugänglich sein und sie soll an fundiertem und regelhaftem Wissen ausgerichtet sein – und stellt damit eine Technik des Sprechens zur Verfügung, die erlernbar und optimierbar ist. Grundlegend für dieses Interesse an einer umfassenden Optimierung der Stimme und Sprechweisen möglichst vieler ‚Sprecher*innen‘ ist die Annahme, dass beide wichtige und steuerbare Instrumente der alltäglichen Kommunikation sind und dass vergleichbar der sportlichen Ertüchtigung des gesamten Körpers auch Stimme und Sprechen einer systematischen und regelgeleiteten Ausbildung bedürfen.

Ambivalente Bezugnahme auf das Theater Eines der bekanntesten der frühen Übungsbücher zur Sprechstimmbildung ist der erste ,sprachliche‘ Teil von Julius Heys dreibändigem Werk Deutscher Gesangsunterricht.9 An diesem lässt sich exemplarisch zeigen, inwiefern für die Entwicklung einer Technik des Sprechens ‚für alle‘ das Theater und die Schauspielund Gesangsausbildung als Impulsgeber fungierten. Julius Hey verfasste die drei Bände seines Lehrwerks im Kontext der Sänger- und Schauspielerausbildung an der königlichen Musikschule München, doch der erste Band des Werkes, in dem es um Artikulations- und Vortragsschulung geht, ist bereits auch an ,öffentliche Redner‘10 adressiert. Die zahlreichen Folgeauflagen des ersten Bandes, die von Fritz Volbach, später dann von Fritz Reusch bearbeitet und herausgegeben wurden, richten sich dann an noch größere Adressatenkreise.11 Unter dem Titel Der Kleine Hey kommt das Buch noch heute im Schauspielunterricht und in Stimmtrainingskursen an Volkshochschulen und anderen Weiterbildungseinrichtungen zum Einsatz.12 Ein Großteil der Übungen des Buches, insbesondere die Sprechverse, für die das Hey’sche Übungsbuch bekannt ist (,Barbara saß nah am Abhang‘ etc.), befasst sich mit der korrekten Formung der Laute. Damit ist das Buch repräsentativ für eines der großen Interessensgebiete der Sprechstimmbildung um

9 | Julius Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags. I. Sprachlicher Teil. Anleitung zu einer naturgemässen Behandlung der Aussprache als Grundlage für die Gewinnung eines vaterländischen Gesangstyles, Mainz [ca. 1882]. 10 | Ebd., S. 1. 11 | Vgl. etwa Fritz Volbach, Die Kunst der Sprache. Praktisches Lehrbuch für Schauspieler, Redner, Geistliche, Lehrer und Sänger, 22.–25. Aufl., Mainz/Leipzig 1925. 12 | Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Hey’schen Lehrwerks vgl. Dorothea Pachale, Stimme und Sprechen am Theater formen. Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ‚für alle‘ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2018, S. 110, S. 118–140.

Sprechtechnik(en) für alle?

die Jahrhundertwende von 1900: die Regelung und Einübung einer normierten Aussprache. Und auch hier zeigt sich der Einfluss des Theaters auf die Bemühungen einer Optimierung des Alltagssprechens: Die von Theodor Siebs 1898 herausgegebene Deutsche Bühnenaussprache13 ist von ihm von Anfang an auch als allgemeine Ausspracheregelung des Deutschen konzipiert und die Regelung etabliert sich auch als solche bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein. Allerdings werden Vorbehalte gegenüber einer solchen Leitfunktion der Bühnenaussprache für das Alltagssprechen formuliert: Die Ängste bestehen unter anderem darin, dass die Sprechweise der Schauspieler*innen im Alltagssprechen zu einer gekünstelten und unnatürlich wirkenden Sprechweise führen könnte. Siebs beschwichtigt zwar, dass er keineswegs bezwecke, dass die „Leute [...] ihre deutsche Aussprache fortan aus dem Theater mit nach Hause bringen“14 sollten, bekräftigt aber den Anspruch, dass alles öffentliche Sprechen sich an der Bühnenaussprache als Norm zu orientieren habe.15 Abgrenzungsbemühungen gegenüber einem Einfluss des Theaters auf die allgemeine Sprechstimmbildung gehen auch von den universitären Vertretern der Sprechkunde/Sprecherziehung aus und das paradoxerweise, obwohl einige von ihnen selbst eine Schauspielausbildung haben oder dem Theater anderweitig verbunden sind. In den Entwürfen für eine Etablierung der Sprecherziehung in den Schullehrplänen wird der grundlegenden Sprechstimmbildung in Form der Sprechtechnik relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt; es geht vielmehr um die Schulung der freien Rede und den Vortrag von Gedichten, wobei auch hier vor einem gekünstelten Vortrag gewarnt wird.16 In vielfältigen Bezügen zeigen sich also Nähe und Distanzierung zwischen Sprechtechniken der Bühne und einer Sprechstimmbildung ‚für alle‘. Mit etwas anders gewichteten Vorbehalten begegnet uns diese Ambivalenz auch noch in den gegenwärtigen Stimmtrainingsdiskursen.

13 | Theodor Siebs (Hg.), Deutsche Bühnenaussprache. Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben, Berlin/Köln/Leipzig 1898. 14 | Ebd., S. 9. 15 | Theodor Siebs (Hg.), Deutsche Bühnenaussprache. Nach den Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die 1898 in Berlin unter Mitwirkung der Herren Graf von Hochberg, Freiherr von Ledebur, Dr. Tempeltey, Prof. Dr. Sievers, Prof. Dr. Luick, Prof. Dr. Siebs und nach ergänzenden Verhandlungen, die im März 1908 in Berlin mit der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger stattgefunden haben, auf Veranlassung des deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger bearbeitet von Theodor Siebs, 11. Aufl. den Gesang berücksichtigend, Bonn 1915, S. 4. 16 | Vgl. Pachale, Stimme und Sprechen, 2018, S. 164.

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Versus die tote ,Technik‘ 17 Wie bereits ausgeführt, lässt sich mit dem Begriff der ‚Sprechtechnik‘ die Entstehung systematischer und regelgeleiteter Übungsprogramme für die Sprechstimme beschreiben, in deren Entwicklung der Begriff selbst als Beschreibung der grundlegenden Übungen eingeführt wird. Gerade der Begriff ‚Sprechtechnik‘ verweist jedoch auch auf eine umstrittene Konzeption der methodischen Ausrichtung der frühen Übungsansätze, die in den 1910er und 1920er Jahren zu Kontroversen um die Methodik der Sprecherziehung führt. Die ersten Übungsbücher werden nicht nur hinsichtlich der Systematik ihres Übungsmaterials von den physiologischen Lehrwerken der Zeit beeinflusst, auch ihre Übungsmethodik ist von den Herangehensweisen der Physiologen geprägt. So trennt beispielsweise Carl Ludwig Merkel in seinem Lehrbuch Physiologie der menschlichen Sprache (1866) die ,geistigen Bewegungen‘, die in der menschlichen Sprache zum Ausdruck kommen, von den ,mechanischen Bewegungen‘ der ,leiblichen, materiellen Organe‘, durch die Sprechen und Hören sich vollziehen.18 Diese dualistische Trennung von Körper und Geist findet sich nicht nur in anderen physiologischen Lehrwerken der Zeit, sondern auch in den frühen Übungsbüchern zur Sprechstimmbildung. So sieht das Übungsprogramm, das Julius Hey im ersten Band seines Lehrwerks ausarbeitet, eine strikte Trennung von zunächst rein körperlich-mechanischen Übungen und erst im späteren Übungsverlauf angesetzten Übungen zu Betonung, Rhythmus und Sprechausdruck vor. Das Übungsmaterial bilden anfangs die Einzellaute der deutschen Sprache sowie daraus gebildete Silbenverbindungen, Worte und die bereits erwähnten Übungsverse. Nebenbei werden auch ‚gymnastische‘ Übungen für die Sprechwerkzeuge angeführt. Erst im fortgeschrittenen Stadium sollen die Schüler*innen mit ‚richtigen‘ Gedichtund Dramentexten arbeiten und sich um einen ,geistvollen‘ Vortrag bemühen.19 Neben dem Hey’schen Lehrwerk finden sich auch in anderen frühen Übungsbüchern seitenweise Lautverbindungen, Silben- und Wortübungen zum Durchexerzieren.20 Die Fokussierung auf die Einzellaute der Sprache als Übungsmaterial der Stimme- und Sprechschulung haben die frühen Übungsbücher mit dem Interesse der linguistischen Forschung gemeinsam: So interessierte sich die sogenannte junggrammatische Schule für die einzelnen Laute und sprachliche Formen und weniger für die „kommunikative, inhaltliche Seite der Sprache“21. Auch die

17 | Geißler, Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens, 1910, S. 74. 18 | Merkel, Physiologie der menschlichen Sprache, 1866, S. 1. 19 | Vgl. Hey, Deutscher Gesangsunterricht, S. 165–167. 20 | Vgl. Franz Jacobi, Kultur der Aussprache, München/Berlin 1927. 21 | Gerhard Helbig, Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Unter dem besonderen Aspekt der Grammatik-Theorie, Leipzig 21973, S. 19.

Sprechtechnik(en) für alle?

Siebs’sche Bühnenaussprache ist von den Ansätzen der Junggrammatiker beeinflusst.22 Julius Hey spricht zwar in Bezug auf seinen Übungsansatz nicht von der Technik, beschreibt die Übungen des ersten Abschnitts aber selbst als monoton und mechanisch: Ein künstlerisch abgerundeter Vortrag konnte bei diesen Uebungen um so weniger bezweckt sein, als bei der Mehrzahl der Sprachübungen ein poetischer Gehalt nicht zu erzielen war, um den Vortrag stimmungsvoll zu beleben und zu steigern, denn es konnte sich lediglich um die schulgerechte Wiedergabe sowohl der einzelnen Sprachzeichen, als auch ihrer combinierten Folgen handeln. [...] Dass unter solchen Voraussetzungen, und ausserdem in Folge tautophoner Vokalübungen, eine gewisse Monotonie dieses rein mechanischen Vortrags häufig nicht zu vermeiden war, versteht sich von selbst.23

Durch die Trennung der körperlich-mechanischen Übungsabläufe vom inhaltlichen Aussagegehalt des Sprechens und der Sprache wird ein technizistisches Verständnis des Stimmbildungs- und Sprechvorgangs begünstigt, das den am Sprechvorgang beteiligten Organen einen instrumentellen Charakter verleiht. Damit wird eine technische Einübung körperlicher Abläufe als eigenständiger Übungsprozess zur Vorbereitung der eigentlichen, inhaltlichen Mitteilungsabsicht konzipiert. Dieser methodische Ansatz gerät paradoxerweise gerade zu dem Zeitpunkt in die Kritik, als der Begriff ‚Sprechtechnik‘ in den frühen Schriften der Sprechkundler eingeführt wird. Zwar legen die Ausführungen nahe, dass körperliche Grundlagenübungen nach wie vor den Übungen zur sprecherischen Gestaltung vorausgehen, dennoch zeichnen sich bereits in den Texten der 1910er Jahre Zweifel daran ab, den Bereich der ‚Sprechtechnik‘ als rein körperliches Training zu betreiben. Martin Seydel verwendet in Bezug auf die Stimmbildung die Formulierung des ,psychologischen Turnens‘24 und Ewald Geißler relativiert in seinen Ausführungen die allzu strikte Trennung von körperlichen, ‚technischen‘ Übungen und ‚geistvollen‘ oder ‚beseelten‘ Ansätzen: „Schon die Technik wollte nicht papageimäßig, sondern beseelt sein, und auch der innerlichste Ausdruck ist ohne die Technik unmöglich.“25 An anderer Stelle formuliert er seinen Vorbehalt gegenüber einer ‚toten Technik‘ und fordert „eine ‚beseelte Lippe‘ schon in der ,kleinsten Übung‘“26. Damit steht er neovitalistischen Strömungen der Zeit nahe, die sich gegen die materialistischen und technizistischen Ansätze des ausgehenden 19.

22 | So gehörte der Junggrammatiker Eduard Sievers der Siebs’schen Beratungskommission an. 23 | Julius Hey, Deutscher Gesangsunterricht, S. 144f. 24 | Martin Seydel, Grundfragen der Stimmkunde. Leipzig 1909, S. 29. 25 | Geißler, Rhetorik, Richtlinien für die Kunst des Sprechens, 1910, S. 106. 26 | Ebd. S. 74.

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Jahrhunderts wenden und stattdessen organische und ganzheitliche Ansätze fordern.27 Ab den 1920er Jahren wird die Kritik an den Übungsansätzen der frühen Übungsbücher von Seiten der Sprechkundler dann noch einmal deutlicher und schärfer formuliert. Insbesondere das Hey’sche Übungsbuch wird jetzt zum Inbegriff eines verfehlten methodischen Ansatzes. So kritisiert Erich Drach in seinem 1922 erschienenen Buch Sprecherziehung, dass der von Hey konzipierte Ansatz, Einzellaute zu üben, einen natürlich klingenden Sprechfluss eher behindere als ihn zu fördern. Mit deutlichem Hinweis auf Hey schreibt er: Grundsätzlich unbrauchbar sind darum auch alle die tiefsinnigen Verslein, die ‚gedichtet‘ wurden, einen bestimmten Laut zu üben: ‚Klöster krönen öde Höhen/Mönche könnt ihr hören trösten‘.28

Ebenso vehement vertritt Fritz Gerathewohl die Haltung, dass er es grundsätzlich ab[lehnt], sinnlose Worte und Sätze üben zu lassen – Hey: Barbara saß nah am Abhang! – weil wir keine Automaten, sondern lebendige, echt und wahr sprechende Menschen erziehen wollen.29

In seinen Ausführungen wird deutlich, dass sich in der Sprechkunde/Sprecherziehung ein ganzheitlicheres Verständnis des Sprechvorgangs durchzusetzen beginnt, dass die Abspaltung von technisch-mechanischen Übungsansätzen von der inhaltlichen Seite des Sprechens als inadäquat ansieht. Der Begriff ‚Sprechtechnik‘ umfasst damit bereits im Moment seiner Einführung ein Spannungsfeld, das um die Begriffe der ‚Technik‘ und des ‚Mechanischen‘ die Frage nach einer angemessenen Methodik der Sprechstimmbildung aufwirft.

Instrumentalisierung von Stimme und Sprechen Auch in der Gegenwart hat die Sprechstimme als wichtiges Mittel der gelingenden Selbstpräsentation erneut verstärkte Aufmerksamkeit erhalten. Zahlreich sind die Seminarangebote auf dem Weiterbildungsmarkt und auf dem Buchmarkt finden sich vielfältige Titel zum Thema Stimmtraining. Neben Logopäd*innen

27 | Vgl. dazu bspw. Philipp Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart, Berlin 1932, sowie Richard Müller-Freienfels, Grundzüge einer Lebenspsychologie. Zwei Bände, Bd. 1: Das Gefühls- und Willensleben, Leipzig 1924. 28 | Drach, Sprecherziehung, 1922, S. 35. 29 | Fritz Gerathewohl, „Idealistische Sprecherziehung und Hemmungsabbau“, in: ­A llgemeine bayerische Lehrerzeitung 65, 1931, S. 303–304, hier S. 303.

Sprechtechnik(en) für alle?

sind es häufig Schauspieler*innen und Sänger*innen, die als Coaches für Sprechstimmbildung arbeiten und sich damit an eine breite Zielgruppe von ‚Alltagssprecher*innen‘ richten. Bei den Übungsbüchern finden sich neben Dem kleinen Hey als Dauerbrenner auch neuere Werke, die methodische Ansätze aus der Schauspielausbildung an andere Sprechergruppen adressieren. Neben Ansätzen, welche die Forderung einer ganzheitlichen Übungsmethodik fortsetzen, finden sich nach wie vor zahlreiche Übungsprogramme, die rein körperliche Übungen von der eigentlichen Mitteilungsabsicht des Sprechens trennen. Nach wie vor erhält die Sprechstimmbildung ‚für alle‘ also Impulse aus dem Bereich des Theaters, ein personeller Austausch und Wissenstransfer wird hier zunächst als unproblematisch angesehen. Allerdings werden auch in der Gegenwart Vorbehalte formuliert. Diese beziehen sich jedoch nun weniger auf die Angst vor einer gekünstelten und unnatürlich klingenden Sprechweise, die man von der Bühne übernehmen könnte. Vielmehr geht mit der Schulung von Stimmen und Sprechweisen im Alltag die Sorge vor Verstellung und Manipulierbarkeit einher. Am prägnantesten hat dies Kristin Linklater formuliert: Selbst wenn sich der Ton sehr angenehm anhört, weil er gut ‚sitzt‘ oder ‚gut modeliert‘ ist, drückt er nicht mehr aus als eben dies: eine gut trainierte Stimme. Es fällt mir schwer, einer gut trainierten Stimme zu vertrauen, weil sie eine gut trainierte Person andeutet, die weiß, wie sie oder er wahrgenommen werden will, und das erreichen kann, was erwünscht ist. Eine Person, die genug Kontrolle hat, ständig eine ‚angenehme‘ Stimme zu präsentierten, versteckt viele Dinge.30

Zahlreiche Stimmtrainer*innen bekräftigen auf ihren Websites, dass sie ihren Kund*innen zu einer authentischen Stimmverwendung und Sprechweise verhelfen wollen. Gleichzeitig wird jedoch damit geworben, dass die Stimme ein machtvolles Instrument der Kommunikation ist, mit dem sich virtuose Effekte bei einem zuhörenden Gegenüber erzielen lassen.31 In dieser Charakterisierung der Sprechstimme als Instrument zeigt sich, dass nach wie vor eine technische Konzeption der Sprechstimme und ihrer Ausbildungsmethodiken wirksam ist und dass Sprechtechnik jedoch zugleich eine Körpertechnik darstellt, die ihren technischen Charakter nicht offenbaren darf.

30 | Kristin Linklater, Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme, München/Basel 42012, S. 142. 31 | Vgl. dazu Pachale, Stimme und Sprechen, 2018, S. 234–243.

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Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre Überlegungen am Beispiel von Martha Rosler und Ulrike Rosenbach Miriam Dreysse Im Kontext der feministischen Kunst um 1970 setzen sich Künstlerinnen in den USA und Europa auf vielfältige Weise mit weiblichen Rollen- und Körperbildern auseinander. Sie verwenden dabei, wie viele andere Künstler*innen in den 1960/70er Jahren, auch neue Techniken, wie z.B. Video. Während viele Vertreterinnen der frühen feministischen Kunst lange Zeit in erster Linie unter dem Gesichtspunkt eines essentialistischen Körper- und Weiblichkeitsverständnisses rezipiert wurden,1 lässt sich bei genauerer Betrachtung gerade der Verwendung neuerer Medientechniken in ihren Arbeiten feststellen, dass sie diese Techniken nicht nur als Mittel der Darstellung oder Kommunikation von bestimmten Inhalten nutzen, sondern sie als produktiv begreifen und medienkritisch ihre Bedingungen und Möglichkeiten reflektieren. Der weibliche Körper wird nicht als eine essentialistisch gedachte Einheit inszeniert, sondern es werden vielmehr die komplexen Repräsentationsmechanismen untersucht, die ihn hervorbringen.

Martha Rosler Martha Rosler setzt sich mit TV-Formaten auseinander und hinterfragt dabei Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi des weiblichen Körpers. Bereits in ihren frühen Fotomontagen stellt sie Sehgewohnheiten und Repräsentationsnormen in Frage. In der Tradition von Hannah Höch verhandelt Rosler mittels der Collage von Ausschnitten aus Zeitschriften und anderen Druckerzeugnissen zeitgenössische Schönheitsideale und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. In Body

1 | Zu der Einteilung feministischer Performance in eine ‚essentialistische‘ und eine ‚materialistische‘ Position siehe Marvin Carlson, Performance. A Critical Introduction, London/New York 1996, S. 146f.

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Beautiful, or Beauty Knows No Pain von 1965 bis 1972 montiert sie Fragmente des weiblichen Körpers und Haushaltsobjekte miteinander, beispielsweise nackte Brüste und einen Herd unter dem Titel Hot Meat oder einen nackten Hintern und eine Waschmaschine unter dem Titel Damp Meat. In Cargo Cult sind Ausschnitte eines weiblichen Gesichts beim Schminken auf Container montiert, die von Hafenarbeitern auf ein Schiff verladen werden. Die Körperfragmente stellen normative Ideale dar, schlanke Körper mit silikongestärkten Brüsten und glatter, glänzender, weißer Haut. Die Fragmentierung der Körper reflektiert mediale Praktiken der Objektivierung und Fetischisierung des weiblichen Körpers, wie sie Laura Mulvey wenige Jahre später für den Film konstatiert,2 und stellt die strukturelle Gewalt solcher Repräsentationsmuster aus. Cargo Cult kontrastiert die Bilder der Frau mit den winzig kleinen männlichen Figuren der Hafenarbeiter. Die „wirkliche Welt“ scheint sich hier, ganz im Sinne Debords, „in bloße Bilder“ zu verwandeln, diese wiederum in „wirkliche Wesen“, die allerdings, aufgrund ihrer Bildhaftigkeit, jeden Dialog unmöglich machen.3 Rosler hinterfragt mithin nicht nur die Normierung und Objektivierung des weiblichen Körpers, sondern auch die Rolle des Bildes in der zeitgenössischen Gesellschaft und das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit. House Beautiful: Bringing the War Home (1967–1972) ist eine Serie von Montagen, die Bilder von Frauen und das Zuhause der bürgerlichen Mittelschicht der 1960er Jahre mit dokumentarischen Fotografien aus dem Vietnamkrieg montieren. Makeup/Hands Up zeigt die farbige Nahaufnahme eines Frauengesichts im Halbprofil. Finger mit lackierten Nägeln tragen Lidschatten auf. Auf das Auge ist ein Schwarz-Weiß-Foto montiert, das einen US-Soldaten zeigt, der einer asiatisch aussehenden Frau mit einem Maschinengewehr in den Rücken stößt. Sie hat verbundene Augen und hält die Arme hoch. Die Montage konfrontiert nicht nur weißes Mittelstandsleben mit dem Krieg in Vietnam, sondern fragt auch nach der Politik der Repräsentation in der Mediengesellschaft und nach dem von ihr Ausgeschlossenen. Die Bilder generieren soziale Differenzierungen in Form von Schönheitsnormen, Gender, Herkunft, ‚Rasse‘ und Klasse. Sie bilden Gewalt und Machtverhältnisse nicht nur ab, sondern durchkreuzen sie auch. Indem Rosler beiden Frauen die Fähigkeit zu Sehen nimmt, hinterfragt sie Ordnungen der Sichtbarkeit und das Verhältnis von Repräsentation, Macht und Gewalt. Die Objektivierung des weiblichen Körpers ist auch Thema mehrerer Videofilme Roslers. In Vital Statistics of a Citizen, Simply Obtained von 1977 vermessen zwei männliche Ärzte den zunächst bekleideten, dann nackten Körper der Künstlerin, während eine weibliche Stimme aus dem Off in monotonem Klang

2 | Laura Mulvey, „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16/3, 1975, S. 6–18. 3 | Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 19.

Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre

über die Objektivierung des Selbst spricht: „This is a work about how one learns to manufacture oneself as a product, about how to measure oneself, about how to simulate an idealized version of yourself […].“4 Nicht nur der in aller Ausführlichkeit ausgestellte Akt des Vermessens der einzelnen Körperteile, sondern auch die Montage von Bild und Ton hat verfremdenden Charakter, sodass die Techniken des Vermessens und der medialen Konstruktion des Körpers bzw. des Selbst kritisch reflektiert werden. Vital Statistics beginnt mit einem Blackscreen. Aus dem Off spricht Martha Rosler: This is an opera in three acts. This is a work about perception. There is no image on the screen just yet. […] It isn’t about the physiology of perception. It’s about the perception of self. It’s about the definition of truth. This is an opera in three acts. Or it’s a kind of opera in about three acts.5

Der Blackscreen, der Bruch zwischen Bild und Ton sowie der sprachliche Verweis auf das Thema Wahrnehmung und die Abwesenheit von Bildern stellen gleich zu Beginn den selbstreflexiven Modus des Films aus und hinterfragen Sehgewohnheiten und die Bedeutung repräsentativer Techniken für die Konstitution des Selbst. Im Folgenden wird in einer ca. dreißigminütigen, ungeschnittenen Kameraeinstellung die Vermessung dargestellt. Auch wenn zum einen die Objektivierung des weiblichen Körpers durch Repräsentanten der patriarchalen Ordnung dargestellt wird, bleibt das Video nicht bei diesem Binarismus stehen, sondern zeigt durch die Offenlegung der filmischen Technik die unauflösliche Verquickung von Darstellungssystemen und Weiblichkeitsbildern, von Repräsentationsstrukturen und konkreten Körpern. „Video itself isn’t innocent“, sagt Rosler,6 und macht den Rahmen sichtbar, der die Körper erst hervorbringt. Jill Dolan zufolge versucht weibliche Nacktheit in künstlerischen Arbeiten von Frauen der 1970er Jahre häufig, weibliche Subjektivität in Opposition zu einem männlich konfigurierten Blick zu setzen. Sie suggeriere, der weibliche Körper befinde sich „somehow outside the system of representation“ und reproduziere so letztlich das binäre Geschlechtermodell.7 Martha Rosler hingegen setzt den weiblichen Körper nicht in Opposition zu seiner wissenschaftlichen Vermessung, sondern legt offen, wie er durch Repräsentationsprozesse konstituiert wird. Sie b­ ehauptet gerade keine universell gültige Weiblichkeit, sondern untersucht

4 | Martha Rosler, Vital Statistics of a Citizen, Simply Obtained, 1977, unter: https:// www.youtube.com/watch?v=b91_vZ8TauM [22.05.2019]. 5 | Ebd. 6 | https://www.eai.org/artists/martha-rosler/biography [22.05.2019]. 7 | Jill Dolan, The Feminist Spectator as Critic, Ann Arbor 2012, S. 62f.

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die Konstruktion eines solch objektivistischen und universalistischen Körperverständnisses mittels der Techniken der Repräsentation.8 Insofern unterbricht ­Rosler, um es mit Dolan zu sagen, „the narrative of gender ideology“, denaturalisiert Gender als Repräsentation und arbeitet an einer Demystifizierung des „genderized representational apparatus itself“.9 In mehreren Videofilmen setzt Rosler sich mit konkreten TV-Formaten auseinander. Besonders bekannt ist Roslers 1975 entstandener Videofilm Semiotics of the Kitchen.10 In dem sechsminütigen Video nimmt sie den Hausfrauenalltag aufs Korn, und zwar im Format einer Fernsehkochshow. Das Setting bezieht sich auf die erste Kochsendung im US-amerikanischen Fernsehen, The French Chef von Julia Child, gesendet von 1963 bis 1973. Rosler steht in einer Küche vor einem mit Kochutensilien beladenen Tisch und rezitiert die Buchstaben des Alphabets von A wie „apron“ über B wie „bowl“ bis Z, wobei sie die letzten fünf Buchstaben mit zwei Messern formt. Zu den anderen Buchstaben des Alphabets hält sie jeweils den bezeichneten Küchengegenstand in die Höhe – Schürze, Schüssel, Messer, Kochlöffel etc. – und führt eine Handbewegung damit aus. Diese Bewegungen orientieren sich an denjenigen des alltäglichen Gebrauchs des jeweiligen Utensils, werden aber zunehmend aggressiv ausgeführt. Rosler rührt immer heftiger in der Schüssel, dreht wie verrückt an der Kurbel eines Handmixers, hackt wild mit einem Küchenbeil und sticht mit einem Fleischermesser in die Luft. Der Kontrast des nüchternen Rezitierens des Alphabets und ihrer bis zum Ende sachlichen Haltung und Mimik zu den aggressiven Bewegungen wirkt komisch und verweist auf die Vorstellung aufgestauter Wut domestizierten Hausfrauendaseins. Die Verwendung der sprachlichen Systematik des Alphabets, die sich durch den Titel Semiotics of the Kitchen auf die strukturalistische Theorie sprachlicher Differenz bezieht, wird mit der Abweichung von konventionalisierten Handlungsmustern konfrontiert. Ganz im Sinne Judith Butlers wird hier die Wiederholung jener Akte und Gesten, die Geschlechtsidentität hervorbringen, in diesem Fall die Servilität der Hausfrau, bewusst verfehlt.11

8 | Zu der Kritik des Essentialismus und Universalismus an feministischer Body Art in den 1980er und 90er Jahren siehe Helena Reckitt, Peggy Phelan (Hg.), Art and Feminism, London/New York 2006, S. 37f. 9 | Dolan, The Feminist Spectator as Critic, 2012, S. 101. 10 | Martha Rosler, Semiotics of the Kitchen, 1975, unter: https://www.youtube.com/ watch?v=ZuZympOIGC0 [20.05.2019]. 11 | Siehe Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 207.

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Rosler zeigt, dass die sprachliche Differenz nicht nur Bedeutung hervorbringt, sondern sie auch anders hervorbringen kann; das Messer wird vom Kücheninstrument zum Kampfmittel.12 Der Bezug zum Medium ist hier ein primär inhaltlicher, also eine Kritik an der in Formaten wie The French Chef idealisierten Hausfrauenrolle. Zugleich aber reflektiert Rosler auch die (technische Re-) Produktion von Körper- und Rollenbildern durch das Medium selbst, indem sie mit formalen Mitteln wie Einstellungsgröße, Perspektive, Reduktion und Repetition arbeitet. Während in The French Chef unterschiedliche Perspektiven, Halbnah-, Nah- und Großaufnahmen eingesetzt werden, um den Eindruck persönlicher Nähe zu generieren und die Person Julia Childs sowie ihre Rolle als perfekte Hausfrau zu naturalisieren, arbeitet Rosler mit statischer Kamera und konstanter Halbnaheinstellung sowie weitgehend statischer Körperhaltung. Die Statik wirkt verfremdend, Rahmung und filmische Technik werden betont. Auch ihr Darstellungsmodus ist distanziert; mit gleichbleibendem Stimmklang und regungslosem Gesicht benennt sie die Küchenutensilien, ohne ihre Mimik zu variieren oder ein weiteres Wort zu sagen. Auch dies steht in deutlichem Kontrast zum Original der Fernsehkochshow, in der Child unablässig redet und lächelt, während sie alle möglichen Küchenarbeiten verrichtet und das Gesagte mimisch und gestisch illustriert. Roslers Blick hingegen ist fast ausschließlich geradeaus in die Kamera gerichtet, ohne die geringste Emotion zu zeigen. Wenn Rosler selbst von einem „lexicon of rage and frustration“ spricht,13 so wird diese Wut und Frustration nicht verkörpert oder ausagiert, sondern nur auf der Ebene ihrer Gestik zeichenhaft dargestellt. Die Alphabets-Systematik und die repetitive Struktur wirken zusätzlich verfremdend. Gegen Ende wird ihr Körper selbst zum Zeichen, wenn sie die letzten Buchstaben mit ihm nachbildet. Der weibliche Körper ist hier kein der Sprache Anderes, sondern zugleich Werkzeug und Effekt der symbolischen Ordnung. Insofern kann hier auch der Akt der Darstellung als eine Technik bezeichnet werden: eine Technik, die Identität konstituiert und zugleich eine kritische Distanz generieren und die exakte Wiederholung verfehlen kann.

12 | Dies lässt sich durch den Verweis auf den Strukturalismus auch als Forderung nach einer engeren Verbindung von Theorie und gesellschaftspolitischer Praxis ­b eziehen, wie sie in den zeitgenössischen feministischen Diskursen gefordert wurde. 13 | http://www.martharosler.net/video/index2.html [20.05.2019].

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Ulrike Rosenbach Die leibliche Anwesenheit im Hier und Jetzt von Performer*innen und Zuschauer*innen gilt als gattungsspezifisches Kriterium der Performancekunst14. Und doch experimentieren Künstler*innen seit Beginn von Happening und ­Performance in den späten 1950er und den 1960er Jahren mit dem Einsatz technischer Medien wie Fotografie und Video. Durch ihre Verwendung wird versucht, Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen zu hinterfragen und neue Formen künstlerischer Produktion und Rezeption zu entwickeln. Von besonderem Interesse sind dabei intermediale Prozesse, die die spezifische Materialität und Medialität der verschiedenen Mittel und ihre Wechselwirkungen erforschen, wie beispielsweise das Verhältnis von live anwesendem Körper und seinem medial erzeugten Bild. Eine Künstlerin, die sich schon früh mit diesen Wechselwirkungen, mit den Wahrnehmungsstrukturen, technischen Bedingungen und Möglichkeiten des neuen Mediums auseinandersetzt, ist Ulrike Rosenbach. Sie verwendet Video bereits ab den frühen 1970er Jahren, sowohl in Form autonomer Videoarbeiten als auch als Teil multimedialer Installationen, Performances und sogenannter Video-LiveAktionen. Die neue Technik bietet ihr nicht nur die Möglichkeit, sich als weibliche Künstlerin ein noch nicht von männlichen Künstlern dominiertes Feld anzueignen, sondern auch, die spezifische Medialität von Weiblichkeitsbildern zu untersuchen und sich selbst gleichzeitig zum Subjekt und Objekt der Darstellung und Wahrnehmung zu machen. Besonders interessant ist dabei, dass sie sich auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Medium beschäftigt, es aber nie als ein reines Mittel der Abbildung einsetzt. So sind die technischen Möglichkeiten und Bedingtheiten immer auch selbstreflexiver Teil ihrer Videofilme, wenn beispielsweise der Bildausschnitt zwar etwas zu sehen gibt, zugleich aber auch als Begrenzung und Entzug des Zu-Sehen-Gebens verwendet wird, oder wenn eine statische Einstellungsgröße den Rahmen und die Künstlichkeit des Dargestellten hervorhebt. Thema vieler ihrer Arbeiten sind Weiblichkeitsbilder der abendländischen Kultur. Sie greift sowohl historische Darstellungen als auch ihre Aktualisierungen in zeitgenössischen Medien auf und reflektiert das Verhältnis der eigenen Identität zu diesen Bildvorgaben. In ihrer Video-Live-Aktion Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin, die sie erstmals 1975 auf der Biennale des Jeunes in Paris aufführt, schießt Rosenbach

14 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Performance“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S ­ . ­2 31–234, hier S. 232. Die Betonung der Präsenz als Kriterium ist allerdings nicht unumstritten, vgl. Gerald Siegmund, „Erfahrung dort, wo ich nicht bin. Die Inszenierung von ­A bwesenheit im zeitgenössischen Tanz“, in: Gabriel Klein und Wolfgang Sting (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 59–75.

Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre

mit einem großen Bogen fünfzehn Pfeile auf die Reproduktion eines Madonnenbildes von Stefan Lochner, die Madonna im Rosenhag,15 welche auf eine Zielscheibe montiert ist. Rosenbach trägt einen weißen, trikotähnlichen Anzug, die Haare sind zurückgebunden und das Gesicht ist ungeschminkt. Die Bewegungen führt sie ruhig und konzentriert aus; Bogen und Pfeile sind kein Kampf- sondern ein Sportgerät.16 Die Erwartung einer kämpferischen Amazone, die der Titel birgt, wird also durch Kostüm und Requisite nicht bedient und durch die Sachlichkeit Rosenbachs konterkariert. Das Schießen erzeugt keinen gewalttätigen Eindruck, sondern vielmehr denjenigen technischer Präzision. Dennoch trifft sie das Gesicht der Madonna auf empfindliche Weise, schließlich ist es keine Zielscheibe, auf die sie schießt, sondern das Bild einer Frau. Durch den Verweis auf die Amazone und das Marienbild werden zwei stereotype Weiblichkeitsbilder einander gegenübergestellt und die historische Verfasstheit von Weiblichkeitsentwürfen exponiert. Die Figur der Maria verkörpert Keuschheit, Demut, Sanftheit, Mütterlichkeit und Schönheit, aber auch die Idealisierung der Frau im Bild, den Status der Frau als Bild.17 Das Madonnenbild bietet, nicht zuletzt aufgrund der niedergeschlagenen Lider, eine ideale Projektionsfläche für die/den Betrachter*in. Indem Rosenbach das Bild als Zielscheibe für ihre Pfeile verwendet, betont sie seinen Charakter als eine solche Projektionsfläche, als Objekt von Phantasien und Einschreibungen – auch ihrer eigenen in Form ihrer Blicke und Pfeile. Ihre Pfeile zerstören dabei das Bild nicht so sehr, als dass sie es fortschreiben: die Opferbereitschaft des christlichen Ideals, die Passivität dieses Frauenbildes und auch, allgemeiner, die Passivität der Frau als Bild. Die Amazone hingegen kann als Inbegriff der anderen Frau gelesen werden, die eigenständig, kämpferisch, sexuell aktiv und nicht mütterlich ist. Bereits im griechischen Mythos repräsentiert sie das Andere, das der griechischen Gesellschaft fremd ist und eine Bedrohung darstellt.18 Rosenbach allerdings verkörpert keine Amazone, sondern verweist nur auf dieses Frauenbild – durch den Titel und durch die Requisiten Pfeil und Bogen. Doch bereits der Titel lässt vieles offen: Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin kann, da das Satzzeichen am Ende

15 | Stefan Lochner, Madonna im Rosenhag, um 1450, Mischtechnik auf Holz, 51x40 cm, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Köln. 16 | Die Beschreibung der Aktion folgt einem Video der zweiten Aufführung 1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck (siehe http://www.medienkunstnetz.de/werke/ glauben-sie-nicht/video/1/ [20.02.2020]; sowie der Beschreibung in Gerhard Glüher (Hg.), Ulrike Rosenbach. Wege zur Medienkunst 1969 bis 2004, Köln 2005, S. 64–68. 17 | Zum Bildstatus der Frau in der bildenden Kunst siehe Silvia Eibelmayr, Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993. 18 | Vgl. Lambert Schneider und Martina Seifert, Sphinx, Amazone, Mänade. Bedrohliche Frauenbilder im antiken Mythos, Stuttgart 2010, S. 74.

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fehlt, sowohl als Frage als auch als Feststellung gelesen werden. Und auch die Aktion selbst klärt diese Uneindeutigkeit nicht: Ihre ruhigen, sachlichen Bewegungen erfüllen nicht die Erwartung eines kämpferischen Gestus, wie er mit dem Bild der Amazone verbunden ist, und auch Kostüm, Frisur und Maske illustrieren keine Amazone, sondern erzeugen eher den Eindruck einer neutralen Ausführenden. Rosenbach ruft also die Weiblichkeitsmodelle der Madonna und der Amazone auf, ohne sie zu reproduzieren. Stattdessen reflektiert sie die performative Erzeugung von Identitätsentwürfen durch die verschiedenen Mittel und Medien der Darstellung. Von besonderem Interesse ist die mediale Konstruktion: Videokameras ­nehmen sowohl das Gesicht der Madonna auf, das von den Pfeilen getroffen wird, als auch das Gesicht Rosenbachs beim Abschießen der Pfeile. Die Kameras sind so montiert, dass beide Gesichter frontal und annähernd im gleichen Winkel aufgenommen werden; eine ist auf Brusthöhe in das Bild der Madonna integriert. In einem Closed Circuit-Verfahren werden die Aufnahmen zeitgleich auf zwei Monitore übertragen und live gezeigt. Dabei werden die Bilder der beiden Kameras in weicher Überblendung übereinandergelegt, sodass die Pfeile gleichzeitig das Gesicht der Madonna und dasjenige Rosenbachs treffen. Werden die beiden Weiblichkeitsentwürfe zunächst scheinbar kontrastiert, löst sich ein solcher Dualismus in der Überlagerung auf und es entsteht ein ambivalentes Bild, das brüchig bleibt. Rosenbach reflektiert so nicht nur das Weiblichkeitsbild der Madonna, sondern sein Verhältnis zu ihrem eigenen Bild als Frau und Künstlerin, die nicht auflösbare Verwebung ihres Selbstbildes mit der Bildvorgabe. Für diese Verwebung ist das Closed-Circuit-Aufnahmeverfahren wesentlich, das die Gleichzeitigkeit von Realität und Abbild ermöglicht.19 Im Performanceraum entsteht eine medial erweiterte Wirklichkeit, in der mediale und materielle Spezifika des konkreten Körpers, des Videobildes und der Wahrnehmung beider erfahrbar werden. Das zeitgleiche Nebeneinander der real anwesenden Rosenbach (in der Rolle der Künstlerin und Amazone) und ihrem medialen Bild in Überblendung mit dem (anwesenden/medial übermittelten) Bild der Madonna dekonstruiert den Status der Frau als Bild und hinterfragt Konstruktionsmuster von Körper und Identität. Die Technik ist hier nicht nur Mittlerin, sondern erzeugt neue Möglichkeiten der Wahrnehmung und Reflexion. Die Doppelbelichtung ist dabei umso bemerkenswerter, als das Changieren des Verhältnisses der beiden Gesichter beobachtet werden kann: mal scheinen sie ineinander zu verschwimmen, dann wieder entstehen groteske Bilder mit vier

19 | Zum Closed-Circuit-Verfahren in der Medienkunst siehe Slavco Kacunko, Closed Circuit Videoinstallationen. Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin 2004; zum CC-Verfahren in anderen Arbeiten Rosenbachs vgl. Glüher, Ulrike Rosenbach, 2005, S. 28.

Medientechnik in feministischer Kunst der 1970er Jahre

Augen und zwei Mündern, kurz lösen sie sich voneinander, um dann wieder für Momente fast zur Deckung gebracht zu werden. Das Gesicht ist hier nicht Ausdruck einer gesicherten Identität, individuelle Gesichtszüge verschwinden in der Überblendung und entstehen wieder neu und anders. In den grotesken Momenten fragmentarischer Fratzen zeigt sich ein drohender Identitätsverlust bzw. ein ­Monströses, das als das Andere der Norm gelesen werden kann. Und auch in ­Momenten der annähernden Deckungsgleichheit entsteht kein einheitliches Bild, kein mit sich selbst identisches Ich, sondern ein Antlitz, das aus verschiedenen Bildern (Maria, Amazone, Performerin) montiert ist und keinen Anspruch auf Originalität und Individualität erhebt – es ist Effekt der Bilder und nicht Ausdruck eines inneren Kerns. Insofern ist es auch fraglich, ob Rosenbachs Arbeiten sich tatsächlich „als Schmerz- und Wutausdruck verletzter weiblicher Identitäten“ lesen lassen, wie Meike Rotermund schreibt.20 Die technisch-formale Strenge und sachliche Art, in der sie Aktionen ausführt, sprechen gegen die These, dass es hier um einen Ausdruck innerer Emotionen oder Affekte geht. Eine geschlossene Identität, die einem Inneren Ausdruck verleihen könnte, ist nicht gegeben. Vielmehr untersucht Rosenbach die Konstruktionsmechanismen weiblicher Identität im Zusammenspiel subjektiver Erfahrungen, sozialer Rollen, medialer Bildvorgaben und der Techniken ihrer Hervorbringung. Indem sie den Prozess der Bildererzeugung sichtbar macht, hebt sie die Performativität von Identität hervor und hinterfragt das Verhältnis von anwesender Performerin und ihrem Bild ebenso wie von Subjekt und Objekt der Betrachtung. Auf diese Weise werden übliche Macht-, Wahrnehmungs- und Deutungsstrukturen in Frage gestellt. Video dient hier nicht allein der Vermittlung von Bildern, sondern bringt neue hervor und reflektiert dabei die technischen Bedingungen dieser Bildproduktion. Die Kamera ist mithin nicht nur, wie Gerhard Glüher schreibt, ein „Performancewerkzeug“,21 sondern ein Akteur der Aufführung.

Fazit Künstlerinnen der 1970er Jahre wie Martha Rosler und Ulrike Rosenbach machen den Wahrnehmungsrahmen sichtbar, der die Konstruktion des weiblichen Körpers als Bild bestimmt. Darüber hinaus verwenden sie technische Medien wie Video in dezidiert produktiver Weise. Sie sind für sie keine reinen Kommunikationsmittel, sondern haben in ihrer spezifischen Medialität Anteil an den Bildern, die sie herstellen. Während Rosler Formate und Techniken der Massenmedien verwendet,

20 | Meike Rotermund, Metamorphosen in inneren Räumen. Video- und Performancearbeiten der Künstlerin Ulrike Rosenbach, Göttingen 2012, S. 77. 21 | Glüher, Ulrike Rosenbach, 2005, S. 28.

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um Wahrnehmungsgewohnheiten gezielt zu unterbrechen und Körpernormen zu hinterfragen, experimentiert Rosenbach mit dem Medium Video und seinen Möglichkeiten, neue Bilder zu erzeugen bzw. Körper neu zu inszenieren. Beide setzen sich mit den Darstellungs- und Wahrnehmungsmechanismen von Performance und Medientechnik auseinander. Sie eignen sich eine Subjektposition an und untersuchen die Mittel der Darstellung und ihren Zusammenhang mit Gendernormen und Machtverhältnissen. Insofern sind sie auch als Vorläuferinnen von Künstlerinnen zu sehen, die sich heute mit dem Zusammenhang von ­Theater, seinen Mitteln und Techniken, und gesellschaftlichen Machtstrukturen und ­Geschlechternormen auseinandersetzen.

Proben zwischen materiellen, körper­ technischen und institutionellen Logiken Eine Probenpraxeologie im zeitgenössischen Tanz Katarina Kleinschmidt

Verfahren des Practice-based bzw. Movement Research werden erst allmählich als ‚technisch‘ verstanden. Häufig distanzieren sich Künstler*innen, die sich selbst als forschend begreifen, von Begriffen der Tanztechnik im Sinne wiederholbarer Methoden – und das obwohl Verfahren des künstlerischen Forschens inzwischen als durchaus etabliert bezeichnet werden können. Tanztechnik wurde entsprechend – von historischen und vereinzelten Ansätzen abgesehen – in den 2000er Jahren innerhalb deutschsprachiger tanzwissenschaftlicher Beiträge meist als Basis für künstlerisch-forschende Überschreitungen von Konventionen und Körpertechniken angesehen. Besonders im Kontext hochgradig reflexiver choreografischer Verfahren, entlang derer sich Tanzwissenschaft seit den späten 1990ern etablierte, schienen (Körper-)Techniken als wenig relevante Größen für künstlerisch forschende Arbeitsweisen. Allerdings rücken in Ansätzen der jüngst sich entwickelnden Probenforschung in Tanz- und Theaterwissenschaft Techniken bzw. Praktiken des Probens ins Zentrum der historischen und ethnographischen Untersuchungen.1 Stehen dabei Diskurse und Verfahren von Theaterproben zur Diskussion, werden die „Testverfahren zur Sicherung und Überprüfung von Wissen“2 mitsamt der materiellen und institutionellen Bedingungen von Theater bisher seltener untersucht.3 In diesem zuletzt genannten Punkt möchte ich mit einem praxeologischen Ansatz der Probenforschung ansetzen, denn hier entstehen deutliche Schnittmengen mit medienphilosophischen Bestrebungen in diesem

1 | Melanie Hinz und Jens Roselt (Hg.), Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin 2011. 2 | Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 137. 3 | Ebd. und Katarina Kleinschmidt, Artistic Research als Wissensgefüge. Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz, München 2018.

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Buch, Gefüge von Theater und Technik zur Reflexion zu stellen und einfache Vorstellungen künstlerischer Autor*innenschaft zu überkommen. Anhand eines Beispiels aus dem Probenalltag zu You Are Here (2013)4, die ich als Teil meiner vierjährigen ethnographischen Forschung zu den Wissens- und Legitimationssystemen von Artistic Research im zeitgenössischen Tanz untersucht habe,5 wird exemplarisch das komplexe Zusammenwirken von (nicht-)menschlichen Teilnehmerschaften herausgearbeitet. Statt krisenhafter Momente werden alltägliche generative Routinen des Probens zur Diskussion gestellt, um deren Verschränkungen mit nicht-menschlichen Teilnehmerschaften, wie Videos und Laptops für die Genese von Bewegungsmaterial, aufzuzeigen. Anschließend rücken Verhältnisse von Tanztechniken und Praktiken des Probens in den Blick, um Logiken des Beglaubigens als weitere ‚Mitwirkende‘ an der Konzeption von You Are Here zu bestimmen. Es geht darum, in der Beschreibung von Proben auf eine Reihe von Dezentrierungen der Künstler*innen-Subjekte hinzuwirken, die mit einem praxeologischen Ansatz möglich werden.

Zum Hervorbringen von Wissen in You are Here Während einer Probe zu You Are Here sitzt die Choreografin-Performerin Antje Velsinger zusammen mit der Bildenden Künstlerin Janina Arendt und mir als Dramaturgin der Produktion am Tisch zusammen vor einem Laptop, der Videos vorheriger Improvisationen zeigt. Zu sehen sind Zeichnungen, die Arendt an einem elektronischen Zeichenpad anfertigt und die über einen Beamer als weiße Linien schräg über den schwarzen Studioboden geworfen werden. Unter anderem breitet sich so langsam eine weiße Schraffur vor Velsinger aus, die mit gesenktem Blick auf den Knien kauert und sich mit Armen und Händen tastend und wischend fortbewegt. Während der Video-Sichtung erklärt Velsinger am Bildschirm, dass sie während des dort zu sehenden „taktilen Vermessens mit Elle und Speiche“ ihres Körpers, „Raumvermesserin“ genannt,6 nicht richtig ,drin‘ gewesen sei. Vielmehr

4 | Konzept, Choreografie, Tanz: Antje Velsinger; Musik, Komposition: Miki Yui; Bühne, Video: Janina Arendt; Dramaturgie: Katarina Kleinschmidt, Sören Siebel; Kostüme: Svea Kossack, Janina Arendt, Frank Harling; Licht: Irene Henkel; Produktion: Antje Velsinger; Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro; Koproduktion: Künstlerhaus Mousonturm, C60/Collaboratorium für kulturelle Praxis Bochum, artblau Tanzwerkstatt Braunschweig. 5 | Kleinschmidt, Artistic Research als Wissensgefüge, 2018. 6 | Velsinger hat das Material ‚Raumvermesserin‘ – wie sie in einer der Proben erklärt – aus der Übung ‚Navel Radiation‘ aus dem ‚Body-Mind Centering‘ abgeleitet, bei der der Bauchnabel das Zentrum bildet, von dem aus die Gliedmaßen sich mit möglichst wenig Kraftaufwand zusammenziehen und entfalten.

Proben zwischen materiellen, körper­t echnischen und institutionellen Logiken

habe sie am Zusammenspiel von Zeichnung und Bewegung gearbeitet, um herauszufinden, welche Wirkungen entstehen – in ihren Worten: „was das macht“, ob es „interessant“ ist oder „auf der Repräsentationsebene bleibt“ und inwiefern „Kartographie als Setzung und Machtausübung“ erfahrbar werde. So ist das Ziel der Arbeit bereits im Förderantrag benannt. In der Aufführung sollen die drei an You Are Here beteiligten Künste Choreografie, Zeichnung und live produzierte elektronische Sounds Raumordnungen schaffen, die sich gegenseitig verstärken bzw. gezielt stören, sodass die Raum-konstituierenden Dimensionen von Kartographie für das Publikum spürbar werden. Velsinger kommentiert das szenische Material damit, dass „da etwas ist“, sie in dieser Version allerdings sehr müde gewesen sei. Die Bewegungen zugunsten des Zusammenspiels der Künste nur ungenau auszuführen, nie „in die Körperlichkeiten hineinzugehen“ sei körperlich frustrierend. Arendt ist währenddessen aufgestanden und deutet die Tanzbewegungen dort im Raum an, wo Velsinger sie im Video ausgeführt hatte. Sie wiederholt die Wirkungsprinzipien von Bewegung und Zeichnung, die beide mit einem relationalen Raumkonzept arbeiten, wobei der Körper auch „selbst kartiert“ sei, sodass die Bewegung beständig zwischen verschiedenen räumlichen Wirkungen („Raumzugriffen“) wechsele. Ich ergänze, dass die ,Vermesserin‘ in dieser Version mehr ein ,Schieben‘ als ein ,Spüren‘ sei und am Schluss ,staksig‘ aussehe. Arendt allerdings äußert, diese uneindeutige Bewegungsqualität habe die Frage aufgeworfen, ob der Körper den Raum oder der Raum den Körper bestimme. Dieses „unklare Verhältnis“ sei ,interessant‘ im Kontext von „Kartographie als Machtausübung“. Zurück am Video springt Velsinger zum Vergleich der sich langsam abzeichnenden Ausdifferenzierungen des Materials („Es ist noch nicht ganz klar… da müssen wir noch mal dran!“) auf die vorher gesichtete Version der Improvisation und wir halten vorerst eine Differenzierung in drei Phasen der ,Raumvermesserin‘ fest („Spüren“, „mit Kopf hoch“ und „Buddeln“).

Proben als ,soziale Praktiken‘ Seit Anfang der 2000er Jahre wenden sich Sozial- und Kulturtheorien unter der Vorstellung eines ,Practice Turn‘ den komplexen Verflechtungszusammenhängen von Körpern und Dingen zu.7 Bei aller Differenz der durchaus unterschiedlichen Ansätze aus Ethnomethodologie, der Praxeologie Pierre Bourdieus, der Figurationssoziologie Norbert Elias’, den Macht-Wissens-Begriffen und Technologien des Selbst von Michel Foucault sowie der ethnographischen Laborstudien von Karin Knorr Cetina, Bruno Latour und Steve Woolgar bilden in deren ‚Neuauflage‘ durch u.a. Theodore Schatzkis (2002) soziale Praktiken als Vernetzungen von

7 | Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina, Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in contemporary Theory, London/New York 2001.

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„­ bodily doings and sayings“8 den Ansatzpunkt der Analysen. Schatzki folgend ist eine soziale Praktik ein Netz routinisierter Aktionen, Sprechhandlungen und Gesten. Entsprechend stehen in praxeologischen Analysen weniger individuell entschiedene Einzelaktionen im Vordergrund als vielmehr Wiederholungen und Routinen. Zu erforschen sind dann die „praktische[n] Logik[en]“ sozialer Felder, die – wie Bourdieu gezeigt hat – über das hinausgehen, was in expliziten Regeln festgelegt und expliziert werden kann.9 Um die Spezifik und Komplexität sozialer Praktiken zu erfassen, gilt es aus dieser Perspektive also, mehr zu erfassen als Regeln, Gesetze oder (im Kontext von Proben) Konzepte eines bestimmten Feldes. Eine wiederholt zu beobachtende und routinisiert ausgeführte Vernetzung von ,doings and sayings‘ wäre im zuvor beschriebenen Beispiel das sogenannte ,Markieren‘: das gestische Andeuten und Benennen von Bewegungen bei gleichzeitigem Erläutern der sie generierenden Prinzipien. Im Anschluss an Improvisationen dient diese Routine häufig dazu, das soeben Getanzte allererst zur Diskussion und Reflexion bereitzustellen. Meist lokalisieren die Probenden das so entstehende Material an dem Ort, an dem es zuvor getanzt wurde – wie auch Arendt im zuvor beschriebenen Beispiel, wenn sie vom Laptop auf denjenigen Bereich wechselt, der im Probenstudio als Bühne ausgewiesen ist. Markieren ist besonders in Probenprozessen zu beobachten, die nicht mit einem feststehenden Bewegungs-‚Vokabular‘ arbeiten (wie bspw. das Ballett) und die gegenüber stärker hierarchisch organisierten Probenprozessen das Entwickeln von szenischem Material und Dramaturgien kollektiv gestalten. Denn über das Andeuten, Benennen und Erläutern sollen Bewegungen, die zuvor vielleicht für die anderen Probenden kontingent wirkten, umrissen, hervorgehoben oder eben: markiert werden, damit sie als ‚ein Material‘ mit spezifischen Merkmalen und beabsichtigten Wirkungen wahrnehmbar werden.10 Proben auf diese Weise als soziale Praktiken zu fassen, heißt also, die Künstler*innen-Autor*innen ein Stück weit zu dezentrieren und Probenprozesse von den im Feld bereits geteilten und ,generativen Routinen‘ aus zu beschreiben, die choreografisch-konzeptuelles Arbeiten mit ermöglichen. Eine weitere Strategie der Praxeologie besteht darin, das konkrete Involviertsein ,materielle[r] Partizipanden des Tuns‘ zu analysieren.11

8 | Theodore Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the­ Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, S. 72. 9 | Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1993 [1980], S. 147–179. 10 | Kleinschmidt, Artistic Research als Wissensgefüge, 2018, S. 130–146. 11 | Stefan Hirschauer, „Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns“, in: Karl Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73–91.

Proben zwischen materiellen, körper­t echnischen und institutionellen Logiken

Video und Laptop als Partizipanden des Probens An der Herstellung des Materials in You Are Here sind Videos bzw. Laptop und das Programm iMovie beteiligt. Das Filmen dient beispielsweise der Improvisation als verbreitete „Technik der Distanzierung“12 dem Herstellen eines (vermeintlichen) Außenblicks sowie der Entlastung Velsingers. In der Doppelrolle als Performerin-Choreografin kann Velsinger so die Wahrnehmung des Zusammenspiels von Tanz und Projektion ein Stück weit auslagern und der Improvisation zeitlich nachstellen, wodurch das Auswerten kollektiv vollzogen werden kann. Das Video ermöglicht eine Gleichzeitigkeit von Sagen und Zeigen sowie ein zeit- und krafteffizientes Arbeiten am Material, das auch der Routine des Markierens inhärent ist. Somit ließe sich von einer strukturellen Homologie von Medium und Routinen sprechen, die die Wahl bzw. Präferenz für dieses Aufzeichnungsmedien präfiguriert.13 Der Medienwechsel dieses ‚Testverfahrens‘ konstituiert das Material allerdings auch unabsichtlich mit, wenn Velsinger die Videos der oft 40-minütigen Improvisationen beim Importieren auf den Laptop bereits editiert. Sie wählt aus oder schneidet Anfang und Ende einer Improvisation ab, sodass manche Momente, an die sich andere Probenden erinnern, nicht im‚ Probengedächtnis‘ festgehalten sind und somit verfallen. Zudem werden – wie im Beispiel gezeigt – manche Qualitäten der Bewegung erst im Video sichtbar. Dazu trägt auch die Möglichkeit des ‚Auflistens‘ der Clips verschiedener Improvisationen als Versionen bzw. Optionen bei, die schnell miteinander verglichen und einfach und zeiteffizient benannt werden können. Ein unabsichtliches Mitwirken entsteht darüber hinaus durch die zeitlichen Bedingungen des Mediums, wenn die langen Sichtungszeiten mit den festgelegten Probenzeiten in Konflikt geraten und die Probenden deren Abläufe phasenweise umstrukturieren. Allerdings dauern solche Phasen der Determination durch das Medium nur kurz an.14 Meist passt sich der Umgang mit dem Video den Proben an und bewegt sich zwischen ,technischen Gebrauchsanforderungen‘ und ,sozialen Gebrauchsweisen‘,15 wenn das Zeigen am Video mit dem körperlichen Markieren im Raum zusammenwirkt. Wenn Raumwege und Abläufe des

12 | Matzke, Arbeit am Theater, 2012, S. 145. 13 | Yvonne Hardt und Anna-Carolin Weber, „Choreographie – Medien – Gender: Eine Einleitung“, in: Dies. und Marie-Luise Angerer (Hg.), Choreographie – Medien – Gender, Zürich 2013, S. 9–25, hier S. 18f. 14 | Verena Anker, Creating Dance with Dance and Pixels. Technologies as Mediators in Digital Performance Rehearsals, Maastricht 2020. 15 | Martin Stern, Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken, Bielefeld 2010, S. 129 (Hervorh. orig.).

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Markierens durch die Wege zu Tisch und Laptop leicht angepasst werden, ‚spielt‘ auch die materielle Dimension des Mediums beim Probenprozess mit. Wirken im besprochenen Beispiel Video und Laptop aufgrund struktureller Homologien von Probenroutinen und Medium nur graduell auf die Proben ein, zeigen tanztechnische Wissensformen konstitutivere Auswirkungen.

Zu einem möglichen Verhältnis von Tanztechniken und Praktiken des Probens Geraten Tanztechniken zumeist aus der Perspektive ihres Überschreitens durch choreografische Verfahren – prominent am Beispiel der Arbeitsweisen William Forsythes – in den Blick, schlägt Susan Foster in ihrem vielzitierten Text Dancing Bodies (2006)16 ein etwas anderes Verhältnis von Tanztechniken und choreografischen Arbeitsweisen vor. Ihrem gut etablierten Argument zufolge entwickeln Tänzer*innen im jahrelangen Training durch das Einverleiben von Metaphern, (haptischen) Anweisungen und Visualisierungen sogenannte ‚Ideenkörper‘ („body-of-ideas“17), über die sich Wissensordnungen und Körperdiskurse analysieren lassen.18 Mit dem Einverleiben von Metaphern als den epistemischen Bedingungen des jeweiligen Tanzes werden spezifische Wahrnehmungsfähigkeiten und gleichzeitig soziale ‚Glaubensgehalte‘ und ästhetische Präferenzen ausgebildet. Wird im Ballett und vielen zeitgenössischen Tanztechniken eine ‚Statik des Körpers‘ imaginiert, die über Visualisierungen geometrischer Linien entlang der Knochen und über mechanistische Diskurse vermittelt wird, arbeiten ReleaseTechniken und Somatics sowie zeitgenössische Formen des Balletts mehr an qualitativ-dynamischen Differenzierungen. Entsprechend orientieren sie sich an der Vorstellung, sich von Organen oder Flüssigkeiten im Körper aus zu bewegen. Sie folgen dem Ideal, Bewegungen mit dem geringsten Kraftaufwand und in einem selbstreferenziellen Modus auszuführen, das auch die Bewegungen in You Are Here prägt. Körperlichkeiten stehen entsprechend im Zeichen von ‚Durchlässigkeit‘ und ‚Neutralität‘, die durch einen effizienten Umgang mit Schwerkraft entlang individueller anatomischer Voraussetzungen, durch das Arbeiten mit Aufgabenstellungen (‚Tasks‘) bzw. das Generieren von Bewegungsprinzipien produziert werden. Für das choreografische Arbeiten entscheidend ist Foster zufolge auch die Ausbildung von „selves“.19 Gibt im Modern Dance expressionistischer Tradition

16 | Susan Foster, Dancing Bodies, in: Jane Desmond (Hg.), Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance, Durham 2006 [1997], S. 235–257. 17 | Ebd., S. 235. 18 | Ebd., S. 241. 19 | Ebd.

Proben zwischen materiellen, körper­t echnischen und institutionellen Logiken

beispielsweise im Tanz einer Martha Graham ein psychologisch gedachtes ‚Inneres‘ dem Körper ‚Botschaften‘ und Gefühle vor, die dieser in stilisierten Formen anzuzeigen hat,20 lässt sich für Somatics und Release-Techniken, die im Kontext der Judson Church-Bewegung im New York der 1960er Jahre entstanden sind, ein selbstreferenzieller Modus von Bewegung beobachten. Über das Einverleiben körperlicher Fähigkeiten hinaus, wird somit – so lese ich Foster – in Tanztechniken auch eine Art praktischer Sinn (Bourdieu 21) ausgebildet, der auch Präferenzen für bestimmte choreografische Arbeitsweisen schafft und als generatives Muster wirkt. In Bezug auf künstlerisch-forschende Arbeitsweisen habe ich argumentiert, dass dieses generative Muster auch Präferenzen für spezifische analytische Konzepte, Diskurse und Weisen des Fragens umfasst, die dann wiederum zum Reflektieren von Material und ästhetischen Wirkungen herangezogen werden können.22 Kartografie wäre in dieser Lesart nicht nur ein verbreitetes Thema vieler Performances, wie auch von You Are Here. Vielmehr richtet sich besonders in den Somatics das ‚Explorieren‘ von Bewegung auf das Kartografieren des eigenen Körpers und seiner Anatomie. So spricht Gill Clarke, eine international gefragte Vermittlerin von Somatics, von Training als „helping the body chart a road map upon which to travel“,23 das dem Herstellen von „the dancers’ mental map of the body“24 dient. Begriffe des ‚Mapping‘ dienen hier als Metaphern der Erforschung von Bewegung. Im Modus des ‚Exploring‘ sollen Tänzer*innen in den Somatics ‚Awareness‘ entwickeln, ein Prozess, der zumindest in den Anfängen der Somatics nicht auf das Performen (zweck-)gerichtet war, sondern im Erkunden und Vertiefen in die individuellen Körperlichkeiten Sinn, Zeitlichkeit und eine eigene Wertigkeit fand.25 Das Verhältnis von einverleibten Wissensordnungen und Konzepten soll nun sicherlich nicht deterministisch gedacht werden. Allerdings können die epistemische Lesart von Begrifflichkeiten und die Analyse von praktischen Logiken des Fragens und Forschens den Umgang mit Themen und Konzept(papier)en als Teil der Gefüge des Probens in den Blick rücken.26 Spannend erscheint dann zu ­f ragen,

20 | Ebd., S. 248. 21 | Bourdieu, Sozialer Sinn, 1993 [1980]. 22 | Kleinschmidt, Artistic Research als Wissensgefüge, 2018, S. 112–117. 23 | Gill Clarke, Franz Anton Cramer und Gisela Müller, „Minding Motion“, in: Ingo Diehl und Friederike Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, Leipzig 2011, S. 210–243, hier S. 217. 24 | Ebd., S. 208. 25 | Vgl. Doran George, A Conceit of the Natural Body: The Universal-Individual in Somatic Dance Training, Univ.-Diss., UCLA/Los Angeles 2014, unter: http://escholarship. org/uc/item/2285d6h4 [31.12.2019]. 26 | Vgl. auch Matzke, Arbeit am Theater, 2012.

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in welche Logiken und institutionellen Bedingungen das Konzept während des Probens eingebunden ist, wie seine Bedeutung praktisch hergestellt wird und inwiefern Wissensordnungen tänzerischer Techniken dabei aktualisiert werden.

Logiken des Beglaubigens In vielen der beobachteten Probenprozesse leiten vermeintlich nebensächliche Fragen wie ‚Ist das interessant?‘, ,Was macht das?‘ oder ,Funktioniert das?‘ k­ urze Bestätigungen von ästhetischen Wirkungen und (implizite) Beteuerungen des Wertes der eigenen Arbeit ein (,Ja, da ist etwas‘, ,Es ist noch nicht ganz klar‘ oder ,Da müssen wir noch einmal dran‘). Sie provozieren häufig auch das In-Bezug-Setzen von Material und dessen Wirkungen mit Fragen, die im schriftlichen Konzept skizziert wurden. Im zuvor beschriebenen Beispiel aus You Are Here sind es die Formulierungen ,Kartografie als Setzung und Machtausübung‘ oder auch allgemeiner ,Was hat das mit Kartografie zu tun?‘, die wiederholt aufgerufen und sozusagen ‚neben‘ das Material gestellt werden, um Wirkungen nachspüren und evaluieren zu können. In krisenhaften Phasen zieht Velsinger bisweilen den Förderantrag als zusammenhängenden Text zur Orientierung heran. Bestärkt vom In-Erinnerung-Rufen der Ziele berichtet sie dann ihren Kollaborateurinnen von neuen Einsichten in das Material. In diesen ,doings and sayings‘ des Probens wird das Konzept als ein den Proben ,vorgelagerter Fixpunkt‘ etabliert, in dem Kriterien der Befragung und Auswertung von Material entworfen werden. Diese Positionierung des Konzepts entsteht u.a. durch institutionelle Bedingungen der ‚freien Szene‘ zeitgenössischen Tanzes, die hochgradig durch das Schreiben von Förderanträgen und Formulieren von künstlerisch zu erforschenden Fragen vor dem Beginn des Probens reglementiert ist. Längst motiviert diese Regelung auch Reflexion und Widerstand, wenn Velsinger zum Beispiel mehrmals davon spricht, dass sie sich vom Formulieren und ,Abarbeiten‘ von ,braven Fragen‘ entfernen und ,mutiger sein‘ möchte, dann allerdings nicht selbst performen könne (was sie in dieser Produktion aufgrund nicht-bewilligter Fördergelder tut). So impliziert der Umgang mit dem Konzept auch eine Logik des Überschreiten-Wollens und entsprechend perspektiviert Velsinger die nächste Produktion als „Bruch“ mit den Fragen und Prinzipien von You Are Here.27 Beglaubigungen wie „Ja, da ist etwas“, „Es ist noch nicht ganz da“ oder „Da müssen wir noch mal dran“ dienen auch dem Aufrechterhalten und Aktualisieren von feldspezifischen Motivationen und Interessen.28 In You Are Here aktualisieren sie eine Art „illusio“29 des Movement Research, ein Interesse am Explorieren von Bewegung, am Offen- und

27 | Kleinschmidt, Artistic Research als Wissensgefüge, 2018, S. 249f. 28 | Ebd., S. 191–204,S. 192. 29 | Bourdieu, Sozialer Sinn, 1993 [1980], S. 122–146.

Proben zwischen materiellen, körper­t echnischen und institutionellen Logiken

I­ m-Werden-Halten des Arbeitens sowie eine Abkehr von Repräsentation („Bleibt es auf der Repräsentationsebene?“), die sich in den Idealen von Somatics verorten lassen. In Velsingers Bedürfnis, in Ruhe „in die Körperlichkeiten hineinzugehen“, um einen Modus des „Drin-Seins“ zu generieren, scheint sich die meditative Haltung und Logik der ,Awareness‘ zu aktualisieren, mit denen in den Somatics Möglichkeiten der individuellen Anatomie und Bewegung erkundet werden sollen. Im Vergleich zu Proben, in denen mehr das Erreichen von im Konzept festgelegten Zielen oder das innovative Potenzial des angestrebten Wirkungskonzepts beglaubigt wird, folgt in You Are Here die Logik der Evaluation von Material stärker den Wertungsordnungen des Werdens und Potenzials von Bewegung. Institutionelle Bedingungen und inkorporierte Ordnungen greifen hier paradox ineinander, die Logiken des offenen Arbeitens und der Produktion sind sowohl behindernd als auch produktiv miteinander verknüpft.30 Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Widerständigkeit von Velsingers Körper gegen Ideale des Release. Prägen Neutralität und das Minimieren von Körperspannungen das Bewegungsmaterial ,Raumvermesserin‘, generiert Velsingers Doppelrolle als ChoreografinPerformerin und die damit verbundenen Herausforderungen produktive Reibungen. Wenn sich Velsingers Nacken während des Tanzens leicht versteift, wenn ihre Bewegungen staksig und bisweilen ungeschickt oder linkisch wirken, so entstehen ganz eigene ästhetische Wirkungen, die in den Diskussionen am Video sichtbar werden. Sie bergen ein Potenzial für eine ästhetische Positionierung, die sich ungeplant aus der Reibung am Bewegungsideal der Produktion ergeben hat. Möglicherweise eröffnet der hier vorgeschlagene Blick auf Reibungen von institutionellen, materiellen und körpertechnischen Logiken des Probens in Prozessen des nachträglichen, routinisierten und kollektiven Hervorbringens von Material Beschreibungsmöglichkeiten von Proben, die eine produktionsästhetische Orientierung an linearen Stückentwicklungslogiken ergänzen.

30 | George unterscheidet historisch drei Phasen der Somatics, die zunächst stärker die Abgrenzung von Repräsentation und Präsentation zugunsten des Explorierens von im Körper individuell angelegten Möglichkeiten betonten, wogegen die Somatics später stärker auch zum Generieren von Bewegung für Choreografien und zur Vorbereitung auf das Performen genutzt wurden. Vgl. George, A Conceit of the Natural Body, 2014.

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Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse Techniken der Starkonstruktion Clara-Franziska Petry

Linguistische Theorien beziehungsweise philosophische Strömungen, wie beispielsweise semiotisches und phänomenologisches Arbeiten, wurden für die theaterwissenschaftliche Forschung und Lehre als Aufführungsanalyse fruchtbar gemacht.1 Die Praxeologie wiederum, die ihren Forschungsblick auf soziale Praktiken und sinnerzeugende Alltagswirklichkeiten setzt, hat bisher für das spezifisch theaterwissenschaftliche Feld, in dessen Zentrum die Aufführungsanalyse stehen sollte, bisher keinen Analyseapparat vorgeschlagen. Aktuell bietet in der Theaterwissenschaft vor allem der praxeologische Ansatz der performativen Reflexion von Humandifferenzierung erfolgreiche Forschungsergebnisse, umgesetzt in Form empirischer Datenanalyse.2 Ohne diese Herangehensweise in Frage zu stellen, schlägt diese Arbeit einen anderen praxeologischen Ansatz in Bezug auf die Analyse von Aufführungen vor. Grundlagen sind dabei die Thesen der Soziologen Julia Reuter und Karl H. Hörning, die in ihrem Buch Doing Culture. Neue Positionen von Kultur und sozialer Praxis3 Kultur als soziale Praxis definieren. Dabei bezeichnen soziale Praktiken jene Interaktionen im Alltag, die eine vertraute Handlungsnormalität im Alltag begründen: „Soziale Praktiken umfassen reguläre, geordnete und sich wiederholende Handlungsweisen, mit denen die Ge-

1 | Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, Bd.1, Tübingen 1988; Jens Roselt, „Den Augen trauen: Theater und Phänomenologie“, in: Erika Fischer-Lichte, Adam Czirak und Torsten Jost, u.a. (Hg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2004, S. 263–273. 2 | Friedemann Kreuder, „Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen“, in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 232–256. 3 | Karl H. Hörning und Julia Reuter, Doing Culture. Neue Positionen von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004.

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Clara-Franziska Petry

sellschaftsmitglieder ihre Alltagswirklichkeit organisieren und Sinn erzeugen.“4 Entscheidend ist dabei das dynamisch prozessuale Verständnis von Kultur, bei welchem Kultur immer „in action“5 zu sehen ist und Kultur als Praxis verhandelt wird: „Kultur als Praxis bedeutet sowohl ein modifiziertes Verständnis von Kultur als auch ein modifiziertes Verständnis des Handelns, des Akteurs, des Sozialen schlechthin.“6 Das Praktizieren von Kultur, also das ‚doing culture‘, steht als Sammelbegriff für die vielfältigen pragmatischen Verwendungsweisen des Begriffes Kultur als „doing gender“, „doing knowledge“, „doing identity“ oder „doing ethnicitiy“.7 Es betrachtet die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht als objektive Größe, sondern als interaktives Tun, als Kultur in ihrem praktischen Vollzug.8 Hörning betont: „Kultur als Praxis verbindet das Kulturelle mit dem Sozialen“.9 Die Soziologen Reuter und Hörning gehen dabei von einem postkolonialen Kulturbegriff aus, der als ein offener, nicht örtlich oder zeitlich beschränkter, sondern translokaler Begriff definiert wird. Kultur ist demnach immer ein Prozess, ein Geschehen in Aktion. Dabei verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Kultur auf die Praxis: „Mehr doing, weniger culture“ ist gefragt.10 Ausgehend von diesem Verständnis von Praxeologie soll in der vorliegenden Arbeit primär am Beispiel von Musikgenres aufgezeigt werden, welche Inszenierungstechniken die Konstruktion von Stars in Form von Prozessen ermöglichen. Der daraus hervorgehende Vorschlag für eine Aufführungsanalyse kann gleichermaßen für Stars, Personen öffentlichen Interesses, sowie für die performative Identitätskonstruktion generell angewendet werden. Wie der soziologische Ansatz bereits impliziert, wird dabei ein weit gefasster Aufführungsbegriff zugrunde gelegt. Im Vordergrund steht gerade nicht eine Untersuchung von innen nach außen, wie es die empirische Feldforschung vorgibt, sondern im Sinne Hörnings eine Analyse von außen nach innen.11 Ziel ist es, die „Praxis als Scharnier zwischen dem Subjekt und den Strukturen“ sichtbar zu machen, das Hineinversetzen „in

4 | Ebd., S. 113. 5 | Ebd., S. 9. 6 | Ebd., S. 10. 7 | Ebd. 8 | Ebd. 9 | Ebd. 10 | Vgl. ebd., S. 12. 11 | Ebd., S. 10. Wobei bei der Analyse von Musikgenres und Personen öffentlichen Interesses schon die Befragung von Individuen als ‚empirische Feldforschung‘ im Zeitalter von Social Media und medialen Performanzen hinterfragt werden muss. Wenn beispielsweise ein Musikvideo, dessen Kommentarfunktion im Internet deaktiviert ist, Gegenstand der Untersuchung ist, dann sind Betrachter*innen des Videos immer schon „im Feld“, wenn sie Analysen beim Betrachten des Videos vornehmen. Praxeologische

Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse

das praktische Verhältnis zur Welt“12 und das „kollektive Wissen der Individuen“, das „nicht bewusst gelernt“ und somit durch die Interviewsituation nicht zum Vorschein kommen kann, „dennoch im Wissen-Wie, im doing knowledge“ verankert ist.13 Hörning formuliert die Problematik der Interviewsituation im Feld wie folgt: Wenn wir aber alles aus der Perspektive der je interaktiv miteinander verbundenen Akteure betrachten, fällt die Antwort auf die Frage schwer, wie Handlungen aneinander anschließen und sich verketten und sich derart ein ,objektiver‘, d.h. übersubjektiver Sinn herausbildet.14

Um diesen „übersubjektiven Sinn der Handlungen“ analysierbar zu machen, soll im Folgenden der Ausgangspunkt einer praxeologischen Aufführungsanalyse „nicht der Akteur, sondern die Praktiken mit ihren Handlungsabläufen“15 sein. Der Blick auf das Subjekt ist dabei dennoch durch die Konzentration auf die performative Identitätskonstruktion gegeben, die je nach „Fähigkeit und Bereitschaft der Akteure“ ihr „Gelingen bzw. Misslingen“16 analysierbar macht.17 Die im Vordergrund stehenden Inszenierungstechniken für die Konstruktion von Identitäten und Stars, sowohl aus Perspektive der Produktion als auch der Rezeption, sind Authentizität, Virtuosität und Popularität. Weitere Techniken sind Kulturalität, Korporalität und Lokalität. Um die Prozesshaftigkeit ihrer Vorgänge hervorzuheben, werden die genannten Inszenierungstechniken terminologisch an die Begrifflichkeit des praxeologischen Ansatzes des ‚doing culture‘ angepasst. Im Zentrum der Analyse stehen dabei die Prozesse eines ‚doing authenticity‘, ,‚doing virtuosity‘ und ‚doing popularity‘. Eine untergeordnete Rolle kommen den Prozessen von ‚doing culture‘, ‚doing locality‘ und ‚doing corporality‘ zu. Alle Prozesse dienen einem ‚doing differences‘, das die Individuen zur performativen Identitätskonstruktion nutzen, denn Identität wird immer in Differenz zu etwas anderem konstruiert. ‚Doing culture‘ ist immer auch ‚doing differences‘, gleichwohl nicht alle Differenzen als Ungleichheiten praktiziert werden. Es bleiben immer auch Spielräume, dasselbe anders zu machen.18

Forschung im Internet zu betreiben heißt ‚on‘ – ‚line‘ zu sein und somit translokale Praxis von einer virtuellen Kopräsenz aus zu diskutieren und zu analysieren. 12 | Hörning, Doing Culture, 2004, S. 10. 13 | Ebd., S. 25. 14 | Ebd., S. 31. 15 | Ebd., S. 33. 16 | Ebd., S. 32. 17 | Clara-Franziska Petry, Crossover als Inszenierungsstrategie. Doing Pop, Doing Classical Music, Doing Mixed Genres, Bielefeld 2020. 18 | Hörning, Doing Culture, 2004, S. 11.

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Eine Staridentität gelingt nur dann, wenn eine bestimmte Begabung vorliegt, die virtuos vor anderen aufgeführt, beziehungsweise performativ konstruiert wird. Es ist also in erster Linie Virtuosität, die ein Individuum prozesshaft innerhalb eines ‚doing virtuosity‘ aufführen muss. Um seine Identität erfolgreich konstruieren zu können, muss ein Politiker besonders virtuos sprechen können, ein Sänger besonders virtuos singen, ein Schauspieler besonders virtuos schauspielen. Die Behauptung, jemand sei virtuos, reicht nicht aus, die Virtuosität muss in Form von Prozessen authentisch verifiziert werden. Dabei rückt vor allem die live-Situation in den Vordergrund. In Bezug auf Musikgenres findet sich dieser Konflikt von authentisch aufgeführter Virtuosität im Bereich der klassischen Musik beispielweise bei Glenn Goulds Bevorzugung von Studio-Aufnahmen anstelle von LiveAuftritten19 oder bei einer Tristan-Aufnahme mit Kirsten Flagstadt, bei der Elisabeth Schwarzkopf engagiert wurde, um ein hohes C einzusingen.20 Im Bereich der Popmusik hat vor allem der Playback-Skandal des Milli-Vanilli-Duos in den 1990er Jahren das authentische Verifizieren von Virtuosität in den Vordergrund gerückt. Ein Sänger, der ein Album veröffentlicht, geht danach auf Tournee, um unter Beweis zu stellen, dass die Studioaufnahme wirklich von ihm eingespielt wurde. Dies zeigt, wie eng Virtuosität und Authentizität innerhalb autopoietischer Prozesse miteinander verbunden sind. Authentizität wird nicht nur in Form der Live-Aufführung unter Beweis gestellt. Wenn ein Künstler sich innerhalb eines spezifischen Feldes etablieren möchte, muss er die Inszenierungstechniken dieses Genres authentisch aufführen. Er muss sich nach einem bestimmten Kleidungs- und Verhaltenskodex richten. Ein männlicher Interpret klassischer Musik betreibt ein ‚doing authenticity‘, indem er einen schwarzen Anzug trägt und damit performativ eine bürgerliche Identität konstruiert. Dieser Kleidungsstil, an dem sich auch der Rezipient orientiert, bezieht sich auf einen Ursprungsmythos der Romantik, die Epoche, in der das Verhalten im Konzertsaal (die stille Rezeptionshaltung, die geschlossenen Türen, das Verbot im Saal zu essen, zu trinken, zu rauchen etc.) in Verbindung mit dem Fortschrittsgedanken innerhalb der Musik ihren Höhepunkt erfährt. Mythos deshalb, weil weder das Entstehen des Bürgertums noch die Durchsetzung der Konzertsaalreform als einheitlicher Prozess zu verstehen sind. Im Bereich der Popmusik nutzt ebenfalls jedes Genre einen spezifischen Kleidungsstil, um ein ‚doing authenticity‘ zu betreiben. Authentizität im Gangstarap zu konstruieren heißt, einen Kleidungs- und Verhaltenskodex zu imitieren, dessen Ursprungsmythos in der Hiphop-Kultur der Ghettos in den USA der 1970er Jahren begründet

19 | Otto Friedrich, Glenn Gould. Eine Biografie, Hamburg 1991, S. 127; Glenn Gould, „The Prospects of Recording”, in: Tim Page (Hg.), The Glenn Gould Reader, New York 1984, S. 115. 20 | Friedrich, Glenn Gould, 1991, S. 147.

Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse

liegt.21 Authentizität ist also in E- und U-Musik, in Hochkultur und Populärkultur (oder Popkultur) für das Gelingen performativer Akte entscheidend, wird jedoch in Opposition zueinander konstruiert und bewertet. Rezipient*innen können diese nur bis zu einem gewissen Grad imitieren, da sie im Alltag auch anderen Rollen unterworfen sind, etwa in einem seriösen Arbeitsumfeld, in dem ebenfalls ein ‚doing authenticity‘ bestimmten Regeln folgt. Stars müssen jedoch ihre musikalische Personae, im Sinne Philip Auslanders,22 sowohl auf der Theaterbühne als auch auf der Alltagsbühne authentisch performieren. Lady Gaga ist also Lady Gaga nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf der Leinwand, in der Interviewsituation einer Talk Show oder beim Besuch der Met Gala. Alle Medienformate dienen als Bühne, um Popularität zu erlangen und Prozesse des ‚doing popularity‘ hervorzubringen. Populär zu werden ist das Ziel einer Staridentität. Authentisch virtuos zu sein reicht nicht aus, die beiden Prozesse müssen populär rezipiert werden können. Rezipient*innen überprüfen die performativen Akte des Künstlers und entscheiden, ob sie im Sinne Austins gelingen oder scheitern. Die enge Verschränkung dieser Prozesse von Virtuosität, Authentizität und Popularität stellen die Trinitas der praxeologischen Aufführungsanalyse dar. Ohne diese autopoietisch miteinander verschränkten Prozesse kann keine Künstleridentität gelingen. Betreibt ein Künstler oder eine Künstlerin mehrere Jahre kein ‚doing popularity‘, kein authentisches ‚doing virtuosity‘, dann muss er oder sie als ‚Comeback‘ vermarktet werden, so als sei das künstlerische Schaffen isoliert von den Medien unglaubwürdig oder nicht existent. Ein Star, der sich nicht kontinuierlich aus sich selbst heraus reproduziert, ist kein Star. Dieser Trinitas der praxeologischen Aufführungsanalyse sind weitere Inszenierungstechniken untergeordnet. Ein ‚work in progress‘, das je nach Feld erweitert werden kann, wobei in Bezug auf genrespezifische Zuschreibungen drei Prozesse hervorzuheben sind. Künstler*innen betreiben ‚doing differences‘ durch eine spezifische Körperkunst (‚doing corporality‘), durch die Inszenierung eines bestimmten Raumes (‚doing locality‘), aber auch durch die spezifische Darstellung seiner kulturellen Identität (‚doing culture‘). Ein ‚doing corporality‘ betrifft dabei nicht nur den semiotischen Körper, sondern vielmehr den kritischen Umgang mit dem eigenen phänomenalen Leib. Beispielsweise die Selbstkasteiung von Marina Abramović, bei der im Sinne Erika Fischer-Lichtes das Subjekt zum Objekt wird, das Cross-gender-acting von Conchita Wurst, oder auch eine Veränderung des Star-Körpers durch Gewichtsabnahme. Um ein ‚doing popularity‘ in Verbindung mit einem ‚doing corporality‘ zu betreiben, nahm beispielsweise Maria Callas extrem ab, beauftragte ihren Visagisten,

21 | Gabriele Klein, Is this real? Die Kultur des HipHop, Frankfurt a. M. 2003. 22 | Philip Auslander, „Musical Personae“, in: TDR The Drama Review Posgrado 50/1, 2006, S. 100–119.

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sie wie Audrey Hepburn zu stylen und trug extravagante Mode, um als bestangezogenste Frau Mailands rezipiert zu werden.23 Die Inszenierung eines ‚doing corporality‘, das im Grunde mit Judith Butlers performativen Identitätskonstruktion vergleichbar ist, betrifft jedes denkbare Genre. Im Bereich der Popmusik scheint die Inszenierung des Körpers stärker im Vordergrund zu stehen, weshalb oft von einer Wiederkehr des Körpers gesprochen und die Performativität populärer Musikkulturen thematisiert wird.24 Dies impliziert jedoch, dass ein ‚doing corporality‘ in der klassischen Musik nicht stattfindet. Eine erotische Komponente der Körperlichkeit eines Stars war jedoch immer schon mit der Rezeption klassischer Musik verknüpft, man denke nur an die Virtuosen des 19. Jahrhunderts. Musik war immer schon mit Körperlichkeit verbunden,25 ein Diktum, das sich auf alle Kunstsparten ausweiten lässt, insbesondere den Rezeptionsakt betreffend. Die Körperreaktionen die Fischer-Lichtes Feedback-Schleife beschreiben 26 setzen Prozesse eines ‚doing corporality‘ in Gang und entstehen sowohl in der Live-Situation zwischen Rezipient*innen und Produzent*innen als auch in der Alltagsrezeption, in der eine leibliche Kopräsenz nicht gegeben ist. Die Inszenierungstechnik eines ‚doing locality‘ wird verwendet, um das Image eines Künstlers innerhalb eines spezifischen Genres zu etablieren. Ein Opernsänger tritt im Opernhaus auf, ein Popsänger beispielsweise auf einem Festival, der Veranstaltungsraum bietet die genrespezifischen Rezeptionsbedingungen. Ein ‚doing locality‘ wird besonders dann zur Inszenierungstechnik, wenn ganz gezielt eine Genrerahmung vorgenommen und ein anderes Publikum erreicht werden soll. Sogenannte Crossover-Stars wollen ein jüngeres Publikum ansprechen und treten deshalb ganz bewusst in Räumlichkeiten auf, in denen die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne verändert oder teilweise aufgehoben ist.27 Vor allem im Bereich der Performance Art, wo die Grenzen der Kunstsparten sowie die „Barrieren zwischen ‚hoher Kunst‘ und Populärkultur“28 aufbrechen, ist die Lokalität eine entscheidende Inszenierungstechnik. Jay Z und Beyoncé Knowles

23 | Jürgen Kesting, Maria Callas, München 41990, S. 90, S. 141, S. 157. 24 | Marcus S. Kleiner, „Populäre Kulturen, Popkulturen, populäre Medienkulturen als ,missing link‘ im Diskurs zur Performativität von Kulturen und Kulturen des Performativen“, in: Ders. und Thomas Wilke (Hg.), Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden 2013, S. 13–49, hier S. 19f. 25 | Sabine Meine und Nina Noeske, „Musik und Popularität. Einführende Überlegungen“, in Ders., Musik und Popularität. Aspekte zu einer Kulturgeschichte zwischen 1500 und heute, Münster 2011, S. 7–25, hier S. 20. 26 | Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004, S. 59. 27 | Vgl. Petry, Crossover als Inszenierungsstrategie, 2020. 28 | RoseLee Goldberg, Die Kunst der Performance vom Futurismus bis heute, München 2014, S. 9.

Entwurf einer praxeologischen Aufführungsanalyse

inszenieren sich in ihrem Song Apes**t – The Carters (2018) im Louvre, Jay Z führt seinen Song Picasso Baby mit Marina Abramović in einem Museum auf, DJ Paul von Dyk legt in der Bayrischen Staatsoper auf29 und Verdis Oper La Traviata wird im Hauptbahnhof in Zürich gespielt.30 Auch wenn der praxeologische Ansatz nach Hörning und Reuter ‚doing culture‘ genannt wird und dabei auf der Makroebene ein Verständnis von Kultur beschreibt, das Kultur in Form von Prozessen versteht, kann gleichzeitig für die praxeologische Aufführungsanalyse auf der Mikroebene ein ‚doing culture‘ als Inszenierungstechnik eingesetzt werden, um Identität zu konstruieren. Ein ‚doing culture‘ auf Inszenierungsebene liegt dann vor, wenn Interpret*innen ihre eigene kulturelle Identität in Szene setzen. Ein anschauliches Beispiel in der Popmusik bietet Beyoncé in ihrem visuellen Album Lemonade von 2016. Sie setzt gezielt ‚doing culture‘ als Inszenierungstechnik ein, um ihre afroamerikanische Herkunft zu betonen. Dabei kann die Frisur maßgeblich zur Inszenierungsstrategie kultureller Identität beitragen. Während Beyoncé vor allem zu Beginn ihrer Karriere bei Destiny’s Child ihre Haare immer geglättet trug, präsentiert sie sich nun mit einem Afro-Look, mit offenen, stark gelockten Haaren. Hinter der Frisur verbirgt sich ein komplex historisch nachvollziehbares Attribut so genannter ‚female black power‘. Hier wird deutlich, wie eng ‚doing culture‘ mit ‚doing corporality‘ verbunden ist. Kulturalität ist auch eng mit Authentizität verknüpft, wenn die in Jamaika geborene Performance Künstlerin Grace Jones von dem Künstler Keith Haring bemalt wird, oder Barack Obama 2015 nach dem Kirchenattentat in Charleston bei der Trauerfeier den Gospel Amazing Grace anstimmt und damit authentisch auf seine afroamerikanische Herkunft verweist.31 Ziel einer praxeologischen Aufführungsanalyse ist es, diese Form der Verschränkung von Inszenierungsprozessen herauszuarbeiten. In einem ersten Schritt sollte die Trinitas der Prozesse analysiert werden, um herauszustellen, welche Form der Virtuosität vorliegt – bildet diese doch primär das Image eines Künstlers bzw. einer Künstlerin. Die Analyse des ‚doing virtuosity‘ muss, wie aufgezeigt, eng mit der Analyse des ‚doing popularity‘ und ‚doing authenticity‘ verbunden werden. In einem zweiten Schritt folgen die Inszenierungstechniken des ‚doing corporality‘, ‚doing locality‘ und ‚doing culture‘. Der Konzentration auf

29 | Hermann Weiß, „Paul van Dyk meets Verdi“, in: Die Welt, 26.07.2013, unter: https:// www.welt.de/regionales/muenchen/article118401757/Paul-van-Dyk-meets-GiuseppeVerdi.html [18.03.2020]. 30 | „La Traviata im Hauptbahnhof in Zürich“, in: YouTube-Kanal des SRF, 03.10.2008, unter: https://www.youtube.com/watch?v=OsyIuaVKnXw [18.03.2020]. 31 | Johannes Schmitt-Tegge und Marco Mierke, „Obama singt ‚Amazing ­G race‘ bei Trauerfeier“, in: Die Welt, 26.06.2015, unter: www.welt.de/politik/ausland/article 143157079/Obama-singt-Amazing-Grace-bei-Trauerfeier.html [18.03.2020].

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die Untersuchung eines einzelnen Prozesses folgt die Analyse der Verschränkung der genannten Prozesse. Mithilfe dieser Struktur kann die praxeologische Aufführungsanalyse einen übersubjektiven Sinn im Bereich der performativen Identitätskonstruktion kultureller Praktiken sichtbar machen und Konstruktionsprozesse in ihrer Verschränkung abbilden.

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz Anne Schuh und Kirsten Maar Was heißt es, die Frage nach der Technik im zeitgenössischen Tanz zu stellen? Ingo Diehl und Friederike Lampert haben mit ihrem Band zu zeitgenössischen Tanztechniken 2010 dieses Feld aus der Praxis heraus gerahmt.1 Wann wird eine Art der Bewegung, des Tanztrainings zu einer Technik, wie es etwa beim klassischen Ballett, aber auch bei der Cunningham Technique, bei der Contact Improvisation oder der Release Technique inzwischen der Fall ist? Der Verweis auf Marcel Mauss’ Aufsatz zu Körpertechniken 2 liegt an dieser Stelle nahe. Verfasst im Bereich der Ethnologie wird hier eine Klassifizierung bestimmter Bewegungstechniken vorgenommen, die vor allem durch die psychologisch-soziale Ausbildung eines Habitus gekennzeichnet ist, der mit gesellschaftlichen und medientechnologischen Veränderungen eng verknüpft ist. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich in den vergangenen Jahren auf medientheoretischer und philosophischer Seite ein ‚Technical Turn‘ abzeichnet: von der Technosphäre im Rahmen eines andauernden Anthropozäns3 bis zu Fragen der Digitalisierung und der „technologischen Bedingung“.4 Hier werden Körpertechniken jedoch nur selten direkt verhandelt. Lediglich die Konzepte eines Körper 2.05 oder von

1 | Ingo Diehl und Friederike Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010: Tanzplan Deutschland, Leipzig 2010. 2 | Marcel Mauss, „Die Techniken des Körpers“, in: Ders., Wolf Lepenies, Henning Ritter u.a. (Hg.), Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München/Wien 1975, S. 199–222. 3 | Siehe hierzu das über mehrere Jahre angelegte Forschungsprojekt Technosphere im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, 2015–2019, unter: https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2015/technosphere/technosphere_start.php [08.01.2019]. 4 | Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a.M. 2011. 5 | Karin Harrasser, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013.

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­ ffekten als medientechnologisch bedingte Phänomene6 markieren eine Ebene A der Verknüpfung sowie aktuelle Fragen nach dem Posthumanismus.7 Martin Heideggers „Frage nach der Technik“8 wird hier in einzelnen Aspekten wieder relevant: Das Wesen der Technik ist ihm zufolge nicht dem Technischen gleichzusetzen. Technik sei niemals neutral, nicht Mittel, sondern eine Art und Weise des Entbergens der Wahrheit (‚aletheia‘). Das Wesen der Technik liegt nach Heidegger vielmehr darin, das Verhältnis von Zweck und Mittel je neu zu bestimmen; sie folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten und erfordert ständige Neuaneignungen. Gemeinsam ist diesen Diskussionen, dass sie indem sie zwischen ‚techné‘ bzw. ‚poiesis‘ als dem Akt des Herstellens und ‚praxis‘ als der Tätigkeit, die ihr Ziel in sich selbst trägt, unterscheiden, auch zwischen einem zweckfreien und produktorientierten Handeln differenzieren. Sie richten sich auf ein zweckfreies, öffentliches Handeln und situieren sich damit jenseits einer Projektlogik. Unsere Beschäftigung setzt hier an: Technik dient uns als Ausgangspunkt, um über das Verhältnis von ‚techné‘, ‚ars‘, ‚poiesis‘ und vor allem ‚praxis‘ nachzudenken. Nicht nur, da die Frage nach Tanztechnik im zeitgenössischen Tanz, der sich seit den 1960ern nicht mehr an einer spezifischen zu perfektionierenden ‚Form‘ von Bewegung abarbeitet, vielfach obsolet geworden ist, sondern auch, da ‚praxis‘ als Begriff der Kritik an einem neoliberal ökonomisierten Weltbild zur Alternative zum projektbezogenen Arbeiten geworden ist. Der Beitrag gliedert sich in zwei Abschnitte. Hinsichtlich unserer beider Überlegungen zur Rolle von Praxis im zeitgenössischen Tanz entstehen dabei trotz unterschiedlicher Perspektivierungen teilweise Überschneidungen, die wir jedoch nicht als redundant, sondern als produktiv ergänzend verstehen.

6 | Vgl. Marie-Luise Angerer, Bernd Bösel und Michaela Ott (Hg.), Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, Zürich/Berlin 2014. 7 | Z.B. Jami Weinstein und Claire Colebrook, Posthumous Life: Theorizing beyond the Posthuman, New York 2017. 8 | Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“ (1953), in: Ders., Vorträge und ­A ufsätze (= Gesamtausgabe, Bd. 7), Frankfurt a. M. 2000, S. 5–36.

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz

Having a Practice Anne Schuh Having a Practice eröffnet ein Untersuchungsfeld im Schnittbereich von ästhetischen, technischen und sozialen Aspekten von zeitgenössischem Tanz und ermöglicht es, tänzerisch-choreografische Arbeitsweisen und damit verbundene Werte und Implikationen zu beschreiben.9 In einem Interview zum Thema ,Praxis‘ schreibt die Tänzerin Chrysa ­Parkinson: I’m working in Montpellier at 6M1L/e.x.er.ce. And I’m touring with Zoo/ Thomas Hauert and occasionally with Deborah Hay. And I’m teaching. When I’m not performing, I do a daily performance practice based on a combination of scores from Deborah and Zoo and other people. It has about six sections. Sometimes I help people devise daily performance practices (aka Personal Performance Practice, or PPP). Sometimes I just talk to people about how they hierarchize information and sustain themselves creatively. Sometimes I take part of someone’s practice and add it to my own.10

‚Praxis‘ hat sich im freischaffenden europäisch und nordamerikanisch geprägten Tanz sowohl begrifflich-konzeptionell wie auch als Arbeitsform durchgesetzt. Formulierungen wie „I have a writing practice, or ,xxx‘ is part of my artistic practice“ seien heute üblich, stellt etwa die Tänzer-Choreografin Noha Ramadan fest.11 Das Attribut ,practice-based‘ schmückt Programmhefte und viele von Künstler*innen initiierte Publikationen, Veranstaltungen und Plattformen widmen sich dem Phänomen Praxis. So fanden etwa unter dem Label ,Nobody’s Business‘ ­z wischen 2015 und 2017 in verschiedenen Städten in Europa und USA so genannte ,Sharings‘ statt, bei denen Tanzschaffende zusammenkommen, um Praktiken

9 | Der folgende Text schließt z.T. an einen bereits publizierten Artikel zum Thema Praxis an: Vgl. Anne Schuh, „Having a Personal (Performance) Practice: Dance Artists’ Everyday Work, Support, and Form“, in: Dance Research Journal, 51/1, April 2019, S. 79–94. 10 | Chrysa Parkinson, „Chrysa Parkinson“, in: Mette Ingvartsen und Alice Chauchat (Hg.), everybodys self interviews, Online-Publikation 2008, S. 81–90, hier S. 81, unter: https://archive.org/details/EverybodysSelfInterviews [02.04.2019]. 11 | Noha Ramadan, „Editorial: Why Practice?“, in: Critical Dialogues 3, Special Issue: Practice, 2014, S. 4–6; hier S. 4, unter: https://issuu.com/criticalpath/docs/criticaldialogues_issue3 [02.04.2019].

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miteinander zu ,teilen‘.12 Weitere Belege für den im Feld auch kritisch betrachteten Praxis-Boom sind das ,Practice Symposium‘ (Stockholm 2012)13 oder der von der Choreografin Stina Nyberg durchgeführte Workshop ,What’s Up, Practice?‘ (Oslo 2015)14.15 In Resonanz mit einem aristotelischen Praxis-Begriff meint Praxis auch im Tanz eine Betonung des Vollzugs gegenüber einem zielorientierten Herstellen. Akteur*innen wollen ihre Praxis vom leistungs- und problemorientierten Training unterschieden wissen und verstehen die Praxis auch nicht als produzierendes Proben. Dennoch ist Praxis für viele Akteur*innen mit einer gewissen Regelmäßigkeit verknüpft – im Sinne von Redewendungen wie ,in etwas Praxis haben‘, ,sich etwas zur Gewohnheit machen‘. Wie im Eingangszitat illustriert bezieht sich der Begriff im Tanz selten auf das gesamte Schaffen einer/s Künstler*in, sondern meint meistens die Beschäftigung mit einer spezifischen Sache.16 Die Bezeichnung ,meine Praxis‘ kann sich auf jene alltäglichen Gewohnheiten beziehen, die sich wie ein roter Faden durch ein Leben ziehen und nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der künstlerischen Tätigkeit stehen – etwa kleine Bewegungsmuster, mit denen man sich an der Bushaltestelle die Zeit vertreibt oder ein anderes Alltagsritual. Praxis kann aber auch die Kombination aus verschiedenen Verfahren und Techniken wie im persönlichen Warm-Up meinen, eine allein oder zusammen mit anderen betriebene Bewegungsrecherche17 oder eine über viele Arbeitsphasen hinweg entwickelte Vorgehensweise oder einen Arbeitsmodus. So breit und unbestimmt der Begriff der Praxis im Tanz sein mag, so gibt es doch eine Art „tacit knowledge“ davon, was unter Praxis zu verstehen ist, stellt die Performance-Theoretikerin Ana Vujanović fest: „As a result, when at a gathering of

12 | Eine gleichnamige Website dient als Dokumentation und Anleitung für zukünftige Sharings: https://nobodysbusiness.wordpress.com [04.08.2019]. 13 | https://www.konstnarsnamnden.se/Sve/PDFer/PRACTICE%20SYMPOSIUM%20 -%20Entire%20Programme.pdf [04.08.2019]. 14 | http://1200m.org/stina/workshops-i-do/whats-up-practice/ [04.08.2019]. 15 | Marcus Boon und Gabriel Levine haben jüngst eine Anthologie zu Praxis veröffentlicht. Trotz einer großen Bandbreite von Texten bleibt das Phänomen Praxis im zeitgenössischen Tanz unerwähnt. Vgl. Marcus Boon und Gabriel Levine (Hg.), Practice, Cambridge/MA 2018. 16 | Vgl. Ana Vujanović, „Performance Practice: Between Self-Production and Transindividuality“, in: Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel (Hg.), Performance und Praxis: Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag, Bielefeld 2017, S. 295–311, hier S. 299. 17 | Zum Verhältnis von ‚Movement Research‘ und ‚Praxis‘ vgl. Ellen Söderhult und Ana Vujanović, „Movement Research as a Performance Practice“, in: Movement Research Performance Journal 51, 2018, S. 150–157.

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz

professionals someone proposes ,Let’s keep morning hours for regular practice‘, usually nobody asks, ,What exactly do you mean by that?‘“18 Entlang der Praxisfrage kann insofern versucht werden, tänzerisch-choreografische Arbeitsweisen in ihren konkreten Vollzügen sowie damit einhergehende (auch widersprüchliche) Haltungen, Absichten und Konfliktlinien zu beschreiben. Wie also lässt sich Praxis im Kontext von Tanztraining und -produktion situieren? Und was tun Tanzschaffende, wenn sie ‚Praxis machen‘?

Praxis, Training und Produktion Wenn sich Tanzschaffende für Praxis interessieren, dann hat das wesentlich mit der Etablierung von somatischen Praktiken im Feld von Tanztechnik und -ausbildung zu tun.19 ,Somatics‘ sind wahrnehmungs- und erfahrungsbasierte Körpertechniken, etwa die Alexander-Technik oder die Feldenkrais-Methode oder das stärker mit Tanz assoziierte Body-Mind Centering, die heute vielfach im Schnittfeld von therapeutischen und künstlerischen Kontexten gelehrt und praktiziert werden. Populär sind die Somatics im Tanz vor allem deswegen, weil sich in ihnen ein Technikverständnis zeigt, in dem Bewegungsprinzipien den Vorrang vor einem zu erlernenden Vokabular haben.20 Damit verbunden sind Ideen eines behutsamen und regenerierenden Umgangs mit dem Körper sowie die Vorstellung von Bewegungskreation als vom individuellen Körper ausgehend und nicht etwa von einer als äußerlich verstandenen choreografischen Instanz oder einer ästhetischen Programmatik. Wenngleich solche Implikationen kritisch hinterfragt werden müssen, da in somatischen Trainings vielfach die Vorstellung eines ,natürlichen‘, universell gültigen Körpers mobilisiert wird,21 akzentuiert ein solch

18 | Ana Vujanović, „Performance Practice“, 2017, S. 296. 19 | Vgl. Yvonne Hardt, „Praxis begreifen. Eine praxeologische Perspektive auf Praktiken und Episteme des Wissens und Forschens im Kontext tänzerischer Vermittlung“, in: Susanne Quinten und Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration, Bielefeld 2016, S. 155–169, hier S. 155. 20 | Die Somatics gehören damit zu einer breiteren Verschiebung im Verständnis von Tanztechnik, die bereits mit dem Modernen Tanz begann. Vgl. Yvonne Hardt und Martin Stern, „Körper und/im Tanz: Historische, ästhetische und bildungstheoretische Dimensionen“, in: Diana Lohwasser und Jörg Zirfas (Hg.), Der Körper des Künstlers: Ereignisse und Prozesse der Ästhetischen Bildung, München 2014, S. 145–162, hier S. 152–156. 21 | Vgl. Doran George, A Conceit of the Natural Body: The Universal-Individual in Somatic Dance Training, Univ.-Diss., UCLA/Los Angeles 2014, unter: http://escholarship. org/uc/item/2285d6h4 [02.04.2019].

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prinzipiengeleitetes Arbeiten den je eigenen Körper und das je aktuelle Vollziehen von Bewegungen. Basierend auf dem Motto ,tue, was dir gut tut‘ und ,was dich interessiert‘ fühlen sich viele Tanzschaffende geradezu verpflichtet, verschiedene Methoden auszuprobieren und über offene Klassen und Workshops ihre je eigenen, mitunter eklektischen Trainingsprogramme zusammenzustellen.22 Die so entstandenen technischen, ästhetischen und sozialen Verschiebungen haben Raum für die Praxis geschaffen. „Es gibt nicht mehr das eine tänzerische System“, so die Tanzwissenschaftlerin Yvonne Hardt, „sondern die Praxis wird als der individuelle Handlungsraum gesehen, in der aus ganz unterschiedlichen Praktiken und Interessen über die Jahre eine eigene Praxis zusammengesetzt werden kann.“23 Dass tänzerisches Praktizieren und Trainieren heute eklektisch funktioniert, ist auch das Resultat von größeren sozioökonomischen Verschiebungen in der Tanzlandschaft der letzten Jahrzehnte, aufgrund derer Tanz heute in weiten Teilen als freie Szene organisiert ist, d.h. Tanzschaffende produzieren ihre Kunst selbständig oder sind in Produktionen von Kolleg*innen freiberuflich tätig. Im Sinne von Susan Fosters Konzept des „hired body“ sind Künstler*innen hier für ihr Training selbst verantwortlich und möglichst vielseitig ausgebildet, um flexibel auf den Arbeitsmarkt reagieren zu können.24 Die verlangten Fähigkeiten reichen dabei über originär tänzerische oder choreografische hinaus, denn Tanzschaffende benötigen heute ebenso kritisch-diskursive wie produktionstechnische und die Vermarktung betreffende Kenntnisse. Dies ermöglicht es auch, in unterschiedlichen Rollen zu agieren und teilweise in mehreren Produktionen gleichzeitig, ,flexibel‘ als Tänzer*in, Choreograf*in oder Dramaturg*in zu arbeiten. Having a Practice – eine Praxis zu haben, die sich in Form von kleinen Techniken, Verfahren und Gewohnheiten verdinglicht –, erscheint hier als mentale und kreative Strategie, um mit den prekären Arbeitsbedingungen im zeitgenössischen Tanz umzugehen. Denn das Regelmäßige der Praxis verknüpft sich mit Ideen von Kontinuität, Kohärenz und Nachhaltigkeit. Tänzer*innen sprechen z.B. davon, dass man eine

22 | Vgl. Melanie Bales und Rebecca Nettl-Fiol (Hg.), The Body Eclectic. Evolving Practices in Dance Training, Urbana/Chicago 2008. 23 | Yvonne Hardt, „Praxis begreifen“, 2016, S. 160; vgl. auch Sylvie Fortin, die beobachtet, dass sich das Feld der Somatics seit den 1990ern durch „the development of idiosyncratic practices“ erweitert habe. Sylvie Fortin, „Living in Movement: Development of Somatic Practices in Different Cultures“, in: Journal of Dance Education 2/4, 2002, S. 128–136, hier S. 131. 24 | Foster bezieht sich hier auf die 1980er und 1990er Jahre in den USA. Ihr Konzept lässt sich daher nicht unmittelbar auf die heutige Situation in Europa übertragen. Was die Tänzer*innenrolle angeht, scheint es aber weiterhin gültig zu sein. Susan Leigh Foster, „Dancing Bodies“, in: Jane C. Desmond (Hg.), Meaning in Motion: New Cultural Studies of Dance, Durham/London 1997, S. 235–257.

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Praxis brauche, wenn man viel reist,25 dass die Praxis vor allem zu Beginn der Karriere wichtig sei, um Leerlaufzeiten zu überbrücken,26 und dass die Praxis ein Wegweiser durch die Komplexität ihrer prekären Leben 27 und auf der Bühne sei. Deborah Hay, durch deren Schaffen der Begriff der ,Praxis‘ Prominenz erlangte,28 präsentiert ihre Performance-Praxis in einem Workshop als Möglichkeit, sich auf der Bühne beschäftigt und interessiert zu halten – unabhängig von potentiellen Interessen des Publikums.29 Zudem erweist sich die Praxis als wertvolles (Tausch-) Gut und Nexus einer Ökonomie, in der der Austausch mit Gleichgesinnten (sozial und ökonomisch) überlebenswichtig sein kann.30 Hinsichtlich der Arbeit am Individuellen kritisiert u.a. Vujanović Praxis als marktförmiges „investment in the self“.31 Hardt zeigt außerdem auf, dass der im Tanz vorherrschende Praxis-Begriff nicht mit einem soziologisch-praxeologischen Verständnis von Praxis kompatibel ist, welches Praxis nie individuell denkt, sondern als kulturell situierte und darum immer schon kollektive Handlungsvollzüge versteht.32 Zu fragen ist jedoch, inwieweit der Begriff des Individuellen trägt und ob eine Differenzierung in Bezug auf den Begriff des Persönlichen für eine weiterführende Untersuchung von Praxis produktiv sein kann. Denn wie Parkinsons eingangs erwähnte Formulierung der „Personal Performance Practice“ impliziert, entwickelt sich Praxis im persönlichen Umfeld von Tanzschaffenden und im Anschluss an das, was etwa in Sharings vorgestellt, mitgemacht, nachgemacht, ausprobiert und ausgetauscht wird, sodass zwar ein Eigenes entstehen kann, damit aber nicht zwangsläufig von einem Individuellen gesprochen werden kann: ­„Desire,“, so die Tänzerchoreografin und Praxis-Akteurin Zoë Poluch, in my experience, and in relation to practicing stuff, is very related to what is happening around me. It emerges very much in relation to what others are concerned with, and not out of nowhere, or out of the blue.33

25 | Rosalind Goldberg im persönlichen Gespräch am 15.01.2013. 26 | Stina Nyberg äußert sich im persönlichen Gespräch am 25.06.2017 über den Nutzen von Praxis zu Beginn ihrer Karriere: „The thing, which I do, is already something“. 27 | Vgl. Ramadan, „Editorial: Why Practice?“, 2014, S. 5. 28 | Chrysa Parkinson etwa bezieht sich immer wieder ausdrücklich auf Hay. Vgl. Parkinson, „Selbstinterview“, 2008, S. 89. 29 | Der Workshop ,A Continuity of Discontinuity or a Way to Practice Dance‘ fand vom 01.–02.06.2019 in der Tanzfabrik Berlin statt. 30  |  Vgl. Kai van Eikels, Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, gehalten am 09.05.2019, Artistic Research Lab, Dansehallerne Kopenhagen. 31 | Vujanović, „Performance Practice“, 2017, S. 307. 32 | Vgl. Hardt, „Praxis begreifen“, 2016. 33 | Persönliche E-Mail-Kommunikation mit Zoë Poluch vom 12.07.2019.

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Praxis im Sharing Obwohl es im zeitgenössischen Tanz heute selbstverständlich scheint, eine Praxis zu haben, ist dieses ,Haben‘ bei näherem Hinsehen nicht ohne Ambivalenzen und Probleme. Gerade die so genannten Sharings, also mehr oder weniger formelle Treffen, bei denen Tanzschaffende im Studio zusammenkommen, um sich ihre Praktiken einander nahezubringen und damit ein Praxis-Haben vollziehen, sind Anlässe, bei denen Spannungen zutage treten. Es sind Spannungen zwischen verschiedenen Formen und Vorstellungen von Praxis, genauer, zwischen Praxis als mehr oder weniger starker Routine und damit einhergehender Erfahrungen und Praxis als Übungen und kleine Techniken, die in punktuell stattfindenden Sharings zusammen mit anderen ausgeführt werden. So äußern Künstler*innen mitunter ein Unbehagen, wenn Praxis im Sharing entlang von gemeinsam praktizierten Übungen sicht- und erfahrbar werden soll. Dieses Vorgehen erscheint gegenüber einer Vorstellung von Praxis als längerfristige Beschäftigung mit einer Sache, als Gewohnheit, reduktionistisch. Gleichzeitig werden solche Spannungen jedoch zugunsten eines gemeinsamen Tuns hingenommen, sodass das, was in Sharings passiert, nicht als mangelhafte Annäherung an eine anderswo stattfindende Praxis verstanden werden muss, sondern vielmehr als eine weitere Form von Praxis begriffen werden kann. Doch wie genau laufen solche Sharings ab, was heißt in diesem Kontext ‚eine Praxis haben‘? Wie geschieht ein Teilen entlang von Übungen und kleinen Techniken? Und wie äußern sich die erwähnten Spannungen – wie werden sie organisiert, wie wird mit ihnen umgegangen? Oft werden Sharings damit begonnen, dass Praktiken benannt und gesammelt werden sollen, indem unter Anleitung mit Sprache, Notizen und grafischen Verfahren gearbeitet wird. So wurden etwa die Teilnehmenden eines Sharings, das im Rahmen der Workshopreihe ,Within Practice‘ im Oktober 2018 an der Tanzabteilung der Universität der Künste Stockholm (DOCH)34 unter dem Titel Practice/s – An Evening of Open Source with Open Space stattfand, gebeten, Praktiken auf Papiere zu notieren, um einen an der Wand des Studios vorbereiteten, mit Raum- und Zeitangaben versehenen, Plan anzufüllen.35 Bestehende Praktiken, oder solche, die man gerne ausprobieren möchte,

34 | Seit Januar 2020 ist der Name School of Dance and Circus (DOCH) offiziell nicht mehr in Gebrauch. Benutzt wird nur noch die übergreifende Bezeichnung Stockholm University of the Arts. 35 | Meine Beschreibungen der Sharings basieren hier und im Folgenden auf teilnehmender Beobachtung und Mitschriften. Zudem habe ich an folgenden Sharings teilgenommen: Practice/s – An Evening of Practice Schmactice – The Things We Do and How Do You Do?, durchgeführt von ,Samlingen‘ am 26.04.2019 im Rahmen der Workshopreihe Local Practice am Danscentrum Stockholm; Sharing Practices, angeleitet von Maija

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konnten notiert werden. Im Sinne des Konferenzformats Open Space, bei dem u.a. die konkreten Veranstaltungsinhalte erst vor Ort von Teilnehmenden vorgeschlagen werden, um im gemeinsamen Austausch ein Tagungsprogramm zu erarbeiten, sollte ein Programm mit einer Auswahl an Praktiken für den weiteren Verlauf des Sharings entstehen. Notiert wurden Begriffe oder Sätze, die sich wie Namen, Titel oder Teaser ausnehmen und – im Kontext des Practice-Sharings – den Eindruck erweckten, für spezifische Verfahren, Interessen und Inhalte zu stehen, so etwa: „Gay Labour“, „Cursing Choir“, „The Forest“, „Bad Performing“ oder „Where is the Dancing in the Step“. In einem meist zweiten Teil, sollen die solcherart zusammengetragenen Praktiken einander nahegebracht und gemeinsam ausgeführt werden. Im besagten Fall fanden sich die Teilnehmenden dafür auf Basis des erstellten Programms in Kleingruppen zusammen. Unter Anleitung jener Personen, die ihre Praktiken zur Auswahl gestellt hatten, fanden nun workshopartige Sessions satt. Dabei wurde hauptsächlich performativ und mit Fokus auf Bewegung gearbeitet; es wurden Aufgaben gestellt und Übungen ausgeführt. Die hervorgebrachten Handlungen entstanden dabei durch unterschiedlich starke wechselseitige Einflussnahme. Die Vermittlungsweisen reichten von mimetischem Arbeiten über solche Prozesse, bei denen sich Teilnehmende auf sprachliche Beschreibungen beziehen konnten, bis hin zu themengeleiteten improvisatorischen Teilen. Wichtig schien dabei, dass die Personen den Eindruck bekamen, einer wie auch immer gearteten Sache im gemeinsamen Praktizieren nachzugehen und ,etwas‘ zu betreiben. ,Eine Praxis haben‘, so zeigt das Beispiel, wird im Sharing in Form von Benennungen und einem wie auch immer gearteten, an andere vermittelten Set an Verfahren und Bewegungsübungen dargestellt und vollzogen. Gerade hier tauchen jedoch Spannungen auf. Denn das, was im Sharing getan wird und wie dies getan wird, erscheint den Akteur*innen mitunter als mangelhafte Annäherung an Praxis oder als nur kleiner Ausschnitt einer von den Künstler*innen als viel umfassender verstandenen Praxis. So wandte z.B. Zoë Poluch zu Beginn des oben skizzierten Sharings ein, dass die Situation „artificial“ sei.36 Poluch wies damit auf den Umstand hin, dass im Sharing nur jeweils eine Stunde zur Verfügung stand, um die vorgeschlagenen Praktiken auszuprobieren. Wenn Praxis aber mit Regelmäßigkeit und Gewohnheit zu tun haben soll, dann fehlte genau dies hier. Ein ‚embodied knowledge‘, so der von Poluch bemühte Begriff, ein in Routinen gespeichertes Erfahrungs- und Körperwissen, lässt sich demnach in

Hirvanen und Meg Stuart, 06.06.2019, im Rahmen des Tanzkongresses 2019 sowie verschiedene von Lea Martini 2018 an der Tanzfabrik Berlin organisierte Sharings. 36 | Hier und folgende Zitate von Zoë Poluch: Mitschrift der Einführung zum Sharing Practice/s – An Evening of Open Source with Open Space vom 08.10.2018 an der Universität der Künste Stockholm.

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punktuell stattfindenden Sharings nur begrenzt herstellen. Die zeitlichen, räumlichen und ökonomischen Umstände von Sharings erweckten den Eindruck, als würde Praxis hier nur annäherungsweise veranschaulicht und vermittelt werden. So taucht in diesen Veranstaltungen auch immer wieder die Frage auf, ob das, was dort benannt und getan wird, überhaupt (eine) Praxis sei. Obwohl, oder gerade weil, Tanzschaffenden diese Spannungen zwischen vorherrschenden Formen und Vorstellungen von Praxis und zeitgenössischen Arbeitsformaten wie Sharings bewusst sind, gibt es eine Tendenz, diese gar nicht erst lösen zu wollen, sondern die Ambivalenzen stehen zu lassen, ohne ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. So betonen Veranstalter*innen von Sharings trotz des im Feld oft emphatisch gebrauchten Praxis-Begriffs immer wieder, dass keine Definition von Praxis vorgegeben werden soll oder sie lassen den Begriff ,Praxis‘ plötzlich ganz fallen und sprechen anstatt dessen von ,Interessen‘ oder ,Dingen, die man ausprobieren möchte‘. Ein solcherart nachlässiger Umgang mit den in Praxis-Sharings auftretenden Ambivalenzen könnte als Ungenauigkeit gedeutet werden, oder als eher pragmatisch gestimmte Wertschätzung einer gemeinsam mit ‚Peers‘ verbrachten Zeit und der Möglichkeit, Dinge zusammen mit anderen auszuprobieren. Blickt man gleichsam auf die Praxis von Sharings, zeigt sich, dass es den Akteur*innen wichtiger erscheint, die Fragmente von Praxis in kollektive Prozesse zu bringen, oder vielmehr diese situativen Prozesse selbst, als Praxis-Tun zu verstehen, als Widersprüche aufzulösen, sich von Hindernissen abhalten zu lassen und tänzerische Praxis als Nicht-Einholbares zu mystifizieren. Dabei ist es gerade der Wert eines gemeinsamen Agierens, der dazu führt, dass im Feld mit verschiedenen Formen von Praxis operiert wird.

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Product of Techniques? Practicing myself? Kirsten Maar Beginnen wir noch einmal aus einer anderen Perspektive mit dem Beispiel der sogenannten „Practice Cards“, deren Untertitel „Actions and Ideas – Make a Game out of Getting Better“ auf eine Situierung im Bereich von Ratgeberliteratur hinweisen könnte. Diese Spielkarten wurden im Sommer 2018 neben Kunstzeitschriften verkauft, als ob sie einen amüsanten Kommentar zur neoliberalen Selbstverbesserung darstellten. Einzelne Karten formulieren Aufgaben oder Fragen wie etwa „Be Honest“, „Get Energy“, „Smile“, „Get into Nature“, „What Can You Get Rid Off“ oder „Practice Patience“. Solche Praktiken durchziehen interessanterweise sowohl das Feld zeitgenössischer Trainingspraktiken, gerade im Bereich somatischer Praktiken, als auch das alltägliche Tun neoliberaler Selbstoptimierung vom alltäglichen Workout, über den Yogakurs bis hin zur Zen-Meditation. Nicht umsonst ist der Begriff der „awareness“37 heute zur treffenden Vokabel zum Schutz des Ichs vor dem Burnout angesichts der Konditionen immaterieller bzw. affektiver Arbeit 38 geworden. Die Ideologien von Flexibilisierung und Selbststeigerung, mit denen die einst alternativen Praktiken sich heute verbinden lassen, haben seit der Avantgarde und den 1960er Jahren zahlreiche Verschiebungen durchlaufen, die an anderer Stelle ausführlicher nachzuzeichnen wären.39 Doch warum hat der Begriff der Praxis aktuell eine solche Konjunktur und was verbindet sich damit?40 Zum einen wird damit auf das wissenschaftssoziologische ,Feld‘ verwiesen, das bestimmte gesellschaftliche Praktiken untersucht, und das den Begriff der Praxis in der Beschreibung von Handlungen sucht – zu nennen wären hier etwa

37 | So auch der Titel und Bezugsrahmen des Teilprojekts „Awareness. Techniken der Vergegenwärtigung und subjektive Wiederaneignung von Zeit in zeitgenössischem Tanz“ von Gabriele Brandstetter und Anne Schuh im SPP Ästhetische Eigen­zeiten, siehe: https://www.aesthetische-eigenzeiten.de/projekt/awareness/beschreibung/ [19.07.2019]. 38 | Zum Kontext immaterieller Arbeit Maurizio Lazzarato: http://www.generation-­ online.org/c/fcimmateriallabour3.htm [19.07.2019]. 39 | Warum es sich hierbei vielfach um nicht-westliche, fernöstliche Praktiken handelt, und inwiefern hier vielleicht eine sublimierte Form des Exotismus am Werk ist, wäre ebenfalls an anderer Stelle zu verfolgen. 40 | Siehe dazu den Band der Whitechapel Series, der diesen ,turn‘ aus der Perspektive der Bildenden Künste in den Blick nimmt: Marcus Boon und Gabriel Levine (Hg.), Practice. Documents of Contemporary Art, Whitechapel Gallery London, Cambridge/ MA 2018.

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Ansätze wie die von Stuart Hall u.a. etablierten cultural studies, die eine soziologisch-kulturwissenschaftliche Perspektive entsprechend auch methodologisch fokussieren. Zum anderen wird damit ein Handlungsbegriff etabliert, der ein weiteres Feld von Praktiken umfasst und nicht allein in Fragen von Performativität und ästhetischer Erfahrung aufgeht. Was heißt es, die Frage nach der Technik im Feld des zeitgenössischen Tanzes zu stellen, der spätestens seit den 1960er Jahren oft jenseits von Tanztechnik und Virtuosität, stattdessen aber mit Alltagsbewegungen und Anweisungen wie Tasks und Scores operiert?41 Ausgehend von der Karte „Silence“, die an John Cages gesammelte Lectures und darüber auch an sein Stück 4’33’’erinnern kann – dessen spielerische, zufallsbasierte Kompositionsprinzipien auch für die Choreograf*innen der Judson Church wesentlich wurden, lässt sich ein ähnliches Beispiel für den Tanz anführen: Steve Paxtons so genannter small dance ist ein Tanz im bewussten Stehen, scheinbar bewegungslos, bei dem außer den Mikrobewegungen des Körpers nur noch der Atem als Modus (minimaler) Veränderung wahrnehmbar ist,42 kann auch als ein Beispiel für die Arbeit mit minimalistischen Scores gelten, der an der Frage ansetzt: Was ist Bewegung? Wo beginnt sie? Ich möchte dies an einem kurzen Ausschnitt aus Paxtons Goldberg Variations (zu Johann Sebastian Bachs Goldberg Variations, Aria) erläutern, der einen vergleichbaren „small dance“ ermöglicht – und schlage dies im Modus einer Anweisung oder Instruktion vor, die diesem Stückausschnitt zugrunde liegen könnte: Please stand up and hold your arms above your head, breathe and relax and try to find your own rhythm in most slowly pending your arms down to both sides of your body in a circle – fulfilling this movement without any specific aim or idea of movement – it is equal if your palms are outward or inward, just make sure that you don‘t fix your movement, release your head and keep your shoulders down ... Listen to your body,

41 | Die künsteübergreifende Arbeit mit Scores, die das Verhältnis im Sinne von Cages indeterminacy (Unbestimmtheit das Verhältnis zwischen score und Interpretation bestimmend) dahingehend veränderte, dass die Interpret*innen zu Ko-Autor*innen wurden, eröffnete auch ein erweitertes Verständnis von Tanz: Alltagsbewegungen und minimal movement, sowie die Arbeit mit nicht-professionellem Tänzer*innen fanden in den 1960er Jahren Eingang in die Tanz-Praktiken. Sichtbar wird dies bspw. in Yvonne Rainers NO-Manifesto von 1966, vgl. Yvonne Rainer, „Some retrospective notes on a dance for 10 people and 12 mattresses called Parts of Some Sextets, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965“, in: Yvonne Rainer, Work 1961–73, hg. v. Kasper König, New York 1974, S. 45–51, No-Manifesto S. 51. 42 | Paxtons eigene Anweisungen zum small dance unter: https://bodycartography.org/ portfolio/smalldancestevepaxton/ [04.04.2020].

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz how different parts react to your movement, how they relate to each other, and feel the weight of your arms … pay attention to what happens with your spine, how you stand .... (For those of you practicing yoga or any other forms of relaxation technique or conditioning your body corresponding to one of the therapeutic disciplines in the studios, it will be easy.) At the same time as we are still doing this, we probably realize that it is more difficult to stand than to move. As a metastable activity the stillness demands precise adaptation to the micro-movements of a shifting equilibrium – to stand still you have to move.

Diese Partitur könnte die Bewegungen ermöglichen, mit denen Steve Paxton, einer der technisch brillantesten Tänzer der Judson Church in den 1960er Jahren, vormals Cunningham-Tänzer und Begründer der Contact Improvisation in den 70ern, seine Interpretation (1992) von Bachs Goldberg Variations in der berühmt gewordenen Aufnahme von Glenn Gould (1982) beginnt. Die entspannte Körperhaltung und Ausrichtung auf den gesamten Raum, die Leichtigkeit und die fließende Bewegungsqualität in den Übergängen sowie die Fokussierung auf die improvisierte und gleichzeitig strukturierte Bewegung erfordern eine konzentrierte und doch entspannte Aufmerksamkeit der Betrachter*innen. 2003 zeigte der Choreograph Mårten Spångberg ,seine‘ Goldberg Variations unter dem Titel „Powered by Emotions“. Das Stück beruht auf der Aufnahme der Improvisationen von Paxton (von Walter Verdin gefilmt), den Aufnahmen von Keith Jarretts Köln Concert, den Goldberg Variations von Glenn Gould und den instrumentellen Arrangements des Buena Vista Social Club – Loaded With Emotion (Cuba 1996). Spångbergs ,Aneignung‘ von Paxton im ersten Teil und einer Karaoke Version der kubanischen Musik im zweiten Teil wurden mit einer spezifischen Form der Nachlässigkeit ausgeübt, aber auch mit einem offensichtlichen Mangel an technischer Fertigkeit oder gar Virtuosität; aber bei Kritiker*innen wie Zuschauer*innen provozierte vor allem der kalkulierte Verzicht auf das Emotionale – besonders angesichts des Titels – die heftigste Reaktion. Wenn man jedoch genau hinschaut, bekamen sie, so Petra Sabisch in einem Aufsatz zur Frage von Virtuosität, genau was sie wollten: Ein Dilettant (vom Lateinischen ‚delectare‘ = sich erfreuen, amüsieren, vergnügen) ist ein Amateur, jemand dessen Liebe und Hingabe zu einer bestimmten Praxis im Zentrum seines Tuns steht.43 Dies wiederum erfüllt vollkommen die Kriterien des Praxisbegriffs anstelle einer Technik – als ein Tun ohne ein Ziel außerhalb seiner selbst, als ein „Mittel ohne Zweck“44 (und an dieser Stelle sollten wir nicht vergessen, dass auch Gould

43 | Petra Sabisch, „Powered by Emotion – The ‚Spångberg Variations‘ on Technology“, in: frakcija 39–40, 2006, S. 82–92, hier S. 84f. 44 | Giorgio Agamben, „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen 1992, S. 97–108, S. 107f.

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und Jarrett zu Beginn ihrer Karriere des Dilettantismus bezichtigt wurden45). Spångberg übt damit Kritik an einem Verständnis von Technik, das diese in einen Rahmen der Funktionalität stellt. Technik fungiert innerhalb einer solchen Vorstellung als ein Mittel, um etwas hervorzubringen und dies impliziert die Kenntnis von Methoden, bestimmten Fertigkeiten und Wissen hinsichtlich bestimmter Sachverhalte. Ein Wissen, das auch den Umgang mit Unvorhersehbarkeiten beinhaltet und dessen Beweis und Wertigkeit erst durch die adäquate Übermittlung dieses Wissens erbracht wird. Insofern ist vielleicht die provokanteste Idee, dass Technik in ihrer Ausführung nur als solche erkennbar wird, wenn sie reproduzierbar und übertragbar ist.46 Spångberg hingegen entkoppelt Wissen und Technik zugunsten einer Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Handeln. Die Selbstvergessenheit oder Hingabe an die Praxis, die hier wie auch in Paxtons Interpretation der Goldberg Variations im Dienste der Lust am Tun selbst steht, muss nicht reproduzierbar sein. Sie benötigt allerdings, wie im Folgenden erläutert wird, ein Publikum. Was also wäre hiermit das Potential der Praxis?

praxis – poiesis – techné – und ihr Verhältnis zur Arbeit / labour Wenden wir uns kurz den philosophischen Begriffen und Konzepten zu:47 Aristoteles und Platon unterscheiden praxis und poiesis: Während ‚poiesis‘ den Akt der Formgebung, meint, impliziert ‚praxis‘ den Vollzug einer Handlung vor einem Publikum. Wo ‚poiesis‘ auf ein jenseitiges Ziel ausgerichtet ist, das sich im Produkt oder Werk manifestiert, hat die Praxis ihr Ziel in sich selbst – als öffentliche Handlung, die soziale Bezüge stiftet. Sie hat kein Ziel außerhalb ihrer selbst, sie ist ein „Mittel ohne Zweck“. Diese Vita activa48 als Szene des Politischen ist weder

45 | Sabisch, „Powered by Emotion“, 2006, S. 85. 46 | Ebd., S. 90. 47 | Vgl. „Arbeit“, „Poetik“, „poietisch“, „praktisch“, „Technik“, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, begr. v. Friedrich Kirchner und Carl Michaelis, fortgesetzt v. Johannes Hoffmeister, neu hg. v. Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 2013. 48 | Hannah Arendt, Vita activa, Frankfurt a. M. 2006 [1960]. Nach Hannah Arendt hat jedoch die moderne Politik immer weniger den Charakter des Praktischen und verkommt zu einer Art Produktions-Management. Arendt macht jedoch auch deutlich, dass das Private stets Grundlage des Öffentlichen ist. Darauf verweist auch Ana Vujanović und postuliert eine Opposition von solipsistischem Rückzug und öffentlichem Handeln. Diese Kritik an der personal performance practice erscheint aber nicht sinnstiftend. Denn bevor ich etwas „teilen“ kann, muss zunächst auch etwas Eigenes da sein. Vgl. den Beitrag von Anne Schuh sowie Ana Vujanović, „Performance Practice: Between Self-Production and Transindividuality“, in: Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz

mit ewigen Wahrheiten befasst, die der vita contemplativa angehören, noch mit den Belangen des oikos – des privaten Lebens (und der dazu erforderlichen Arbeit/ labour). Praxis kann als Vervollkommnung einer Technik und/oder aber als Zeit für Experiment, Spiel und (künstlerische) Forschung verstanden werden, die disziplinenübergreifend Theorie und Praxis verbinden. Dies kann als zeitweiser Rückzug aus der regulären Performance Produktion – jenseits von Kommodifizierung, Kontrollverlust oder einem Hintergehen der eigentlichen künstlerischen Intentionen – gelten. Denn Praktiken – anstelle eines technisch-zielgerichteten Prozesses – bedeuten oftmals einen Bruch innerhalb der oft entfremdenden Produktionsprozesse und können daher als Ort des Widerständigen verstanden werden. Nicht zuletzt tragen sie über die Einbeziehung anderer und Praktiken des Teilens oftmals dazu bei, einen öffentlichen Raum, einen Raum der Verhandlung und des Austauschs zu schaffen. Zugleich wird mit dem Begriff der Praxis statt Arbeit zwar auf die Parallelen zur Produktion in der realen Arbeitswelt und der neoliberalen ‚Service Economy‘ verwiesen, doch wird mit ‚praxis‘ ein Begriff des künstlerischen Schaffens oder der Kreation entgegengesetzt. Einhergehend mit einer zunehmenden Professionalisierung werden ,Social Practices‘ oder ,Practice Based Research‘ als Forderung nach der Transformation sozialen Lebens bzw. einer anderen Wissenschaft formuliert. Welche Veränderungen bedeutet dies für die Kunstproduktion? Zudem rückt der Begriff ‚Praxis‘ gegenüber des ‚Werks‘ zunehmend in den Fokus und seine Konjunktur liefert vielleicht auch den Grund für die zunehmende Aufmerksamkeit des Kunstfeldes gegenüber den zeit- und aktionsbasierten Künsten Choreografie und Performance. Praxis entkommt der omnipräsenten Logik von Kunst‚Projekten‘. Sie bringt eine Form von Kontinuität in die künstlerische Arbeit ein, die ansonsten oft fragmentiert und zerstreut bleibt.49 Somit kann die Opposition zwischen Rückzug und Widerstand innerhalb eines neoliberalen Kapitalismus ebenso wenig überzeugen wie die Rede von Praxis als persönliche Entwicklung des künstlerischen Produkts als bloßes „investment in the self“, wie es bspw. Ana Vujanović beschreibt.50 Wichtig bleibt, dass Praxis auch als Handlung innerhalb des Öffentlichen angesehen wird. Sie ist eine ‚Technik‘ der Verbindung – damit sind nicht nur Ver-

(Hg.), Performance und Praxis: Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag, Bielefeld 2017, S. 295–311. 49 | Dies wurde im Rahmen der Arbeitsgruppen zum „Runden Tisch Tanz“, der in Berlin 2018 zur Verbesserung der Konditionen der Tanzszene Berlins initiiert wurde, immer wieder als ein Mangel innerhalb der Situation freischaffender Choreograf*innen und Tänzer*innen geäußert. 50 | Vujanović, „Performance Practice:“, S. 299.

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bindungen zwischen verschiedenen Praktiken zu einer individuellen adressiert, sondern vor allem ist es von Bedeutung, dass diese Praktiken langfristig im Austausch mit anderen und nicht als Selbstbespiegelung aufgefasst werden. Inwiefern werden die Ausübung von Praktiken, aber auch Training und Probe zu Orten der Selbstbefragung? Inwieweit lassen sich jene Praktiken im Hinblick auf Foucaults „Technologien des Selbst“ und deren biopolitische Implikationen verstehen? Und inwieweit tragen Techniken und Praktiken, aus dem Griechischen ‚prattein‘ = ver/ handeln, zu Individuationen und Relationen bei? Keineswegs geht es dabei im Kontext von Tanz und Performance um den alleinigen Rückzug ins Studio, sondern vielmehr um eine andere Art der Selbstorganisation. Praktiken der Wiederholung, der Einübung, des Trainings fordern Subjektivität heraus. Anders jedoch als in der Probe, wird das Subjekt hier nicht in prekärer Weise „auf die Probe“ gestellt.51 Gegen die kommunikativ und auf Selbstpräsentation ausgerichteten Formen immaterieller Arbeit, gegen die Überblendung von „leisure time and worktime“52 wendet sich ‚praxis‘ gegen Formen eines hierarchisierten Arbeitens, auch wenn die Prozesse kollaborativen Arbeitens zahlreiche Probleme mit sich bringen.

How Movement Relates Die Fokussierung auf Vorgänge im Inneren des Körpers, wie sie in den meisten somatischen Praktiken erprobt wird, ermöglicht zugleich eine Schärfung der Aufmerksamkeit auf das Außen, auf die Verbindungen des Körpers und seiner Umgebung. José Gil oder auch Jeroen Peeters schreiben über diese Zustände in ähnlicher Weise, wie sie auch von Tänzer*innen selbst artikuliert werden, vermittelt über die Vorstellung des durchlässigen Körpers – eines Körpers, der mit verschiedenen Zuständen der Affizierung operiert, die den Körper durchqueren und ihn auf seine Umgebung hin öffnen.53 Sie überschreiten die Grenze der Haut und des gesamten Körpers in einer Weise, die kollektive Assemblagen als „dynamische Gefüge“

51 | Sabeth Buchmann, Ilse Lafer und Constanze Ruhm (Hg.) Putting the Rehearsal to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory and Politics, Wien 2016 (= Academy of Fine Arts Bd. 19); Mieke Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012. 52 | Vgl. dazu auch Rudi Laermans, der aus seiner Perspektive als Dramaturg und Soziologe die Situation der Proben ins Visier nimmt: Moving Together. Making and Theorizing Contemporary Dance, Amsterdam 2015. 53 | José Gil, „Paradoxical Body“, in: The Drama Review 50/4, 2006, hg. v. André Lepecki, S. 21–35; Jeroen Peeters, „Bodies as Filters. On Resistence and the Sensorial in the Work of Boris Charmatz, Benoit Lachambre and Meg Stuart“, in: Ders., Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies, Helsinki 2014 (= Kinesis Bd. 5).

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz

konstitutiert.54 Man könnte hier an Erin Mannings „Individuation‘s Dance“ anknüpfen, als ein „always more than one“.55 Der Individuationsprozess geht aus von der Idee eines Prä-Individuellen als Keim eines Potentials, das in jeder Tätigkeit steckt, oder bei Manning im Rückgriff auf Deleuze / Guattari als ein „becoming virtual actual“ beschrieben wird. Sie formuliert: „The pre-individual is real and it is felt, but only in its effects.“56 Diese Prozesse funktionieren in spezifischen Zeitrahmen eines „de-phasing“, es gibt keinen linearen, kontinuierlichen Prozess. Die Voraussetzung und Annahme einer Form beinhaltet ebenso das, was diesen Prozess begleitet, als auch das, was im Prozess des Formwerdens unaufgelöst bleibt. Und so könnten wir hier auch von einer generischen Form sprechen – das impersonal als eine generative Kraft: „The body is a society – a complex feeling in co-composition“57 schreibt Manning, – oder „a relational field, existing only in an ecology of practices“, wie es Isabelle Stengers konzipiert.58 So schlägt auch José Gil Tanz und Choreografie als per se relationale Kunstform zu betrachten.59 Man tanzt nie allein, selbst allein in einem Studio versammelt man in seiner Imagination Mit-Tänzer*innen um bestimmte Bewegungen produzieren zu können, man entwickelt nicht nur eine eigene raum-zeitliche Umgebung, indem man Bewegung erinnert und antizipiert sondern man kreiert eine Komposition mit. Hierbei sind unterschiedliche der bereits genannten Praktiken von Bedeutung, die uns helfen etwas zu visualisieren und uns in diesen Kontexten zu verorten.60

Ein ‚listening body‘61 wird also zur Voraussetzung für ein „being singular plural“ im Sinne Jean-Luc-Nancys.

54 | Kirsten Maar etabliert den Begriff des Gefüges in ihrer Dissertation Entwürfe und Gefüge. William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Relationen, Bielefeld 2019. 55 | Erin Manning, Always More Than One. Individuation’s Dance, New York 2013. 56 | Ebd., S. 17. 57 | Ebd., S. 22. 58 | Isabelle Stengers, „Introductory Notes on an Ecology of Practices,“ in: Cultural Studies Review 11(1), S. 183–196. 59 | Gil, „Paradoxical Body“, 2006, S. 21–35. 60 | Ebd. 61 | Der Begriff der awareness, der für diese Praktiken tragend ist, sie zugleich für den experimentellen, spielerischen und forschenden Charakter im Studio, und von dort auf die Interaktion mit anderen öffnet, bedeutet für den Tanz oder auch das Feld der Kunst jedoch etwas anderes als wenn wir diese Praktiken, wie Yoga, Aikido oder Tai-Chi in unseren Alltagskontext integrieren, wo dieser Begriff ebenfalls ubiquitär geworden ist. Hier sind sie eindeutig nicht vom philosophischen Praxisbegriff getragen. Auch wenn

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Die Künstler*in als Produkt – Produktionen des Selbst und des Öffentlichen Produktionsprozesse und Arbeitsbedingungen immer wieder zu hinterfragen und neu zu verhandeln, bedeutet auch stets in Frage zu stellen, was gerade erst etabliert wurde. Das kann in Praktiken bestehen, wie sie die Dramaturgin Bojana Cvejić als „creating problems“62 beschreibt, oder darin, mit Rudi Laermans Wege des „moving together“63 zu beschreiten. Auf der einen Seite bedeutet es sich in den pluralen, experimentellen Charakter des künstlerischen Prozesses einzubringen, Dinge offen zu halten, auch wenn es schwerfällt, mit Unsicherheiten umzugehen, den Zustand des Nicht-Wissens zu akzeptieren, ja sogar Abweichungen von Gewohnheiten zu forcieren. Diese Art und Weise die a prioris choreografischer Praxis herauszufordern, indem man die Idee der Krise als einem Medium transformativer Handlungen nährt, kann auch jenseits der Logiken zeitgenössischer Praxis hilfreich sein. Auf der anderen Seite rahmt die Idee eines gemeinsamen Handelns, gestützt durch die Annahme eines symbolischen Werts des (Aus-)Tauschs als einer Relation von Geben und Nehmen den kritischen Zustand, wie er sich in der Probe und auch in der Praxis abbildet, als einer Bühne der Erprobung von Kollektivität, bei der jedoch auch das Subjekt auf dem Spiel steht. Es ist jedoch nicht die Vermittlung durch eine dritte Person, die hier notwendig wäre. In Arbeiten kollektiver Autorschaft entfalten sich vielmehr die Prozesse der Verhandlungen entlang der Differenzen, die im Prozess des „rehearsing collectivity“ auftauchen.64 Solchermaßen könnten wir die Probe, aber mehr noch die Praxis als einen Ort des Zusammen- und Voneinander-Lernens verstehen.65 Hierbei kann „creating problems“ Strategien in den Prozess implementieren, die der Auflösung und Dissemination dienen und dazu beitragen, Mikroklimata innerhalb komplexer ‚ecologies of collaboration‘ zu schaffen – kleine (trans-)individuelle Zonen inmitten eines längeren Prozesses, Zonen eines zeitweiligen Rückzugs inmitten eines Flusses

oft behauptet wird: „das mache ich nur für mich“, sind sie doch eindeutig dem Zweck der Wiederherstellung eines funktionierenden Körpers, einer Flexibilisierung oder ähnlichen Zielen unterstellt. 62 | Bojana Cvejić, „Dramaturgy. ,A Friendship of Problems‘“, in: TkH (Journal for Performing Arts Theory) 18, 2010, S. 46–53, unter: http://www.tkh-generator.net/portfolio/ tkh-18-dance-theories-reloaded/ [12.01.2020]. 63 | Laermans, Moving Together, 2015. 64 | Elena Basteri, Emmanuele Guidi und Elisa Ricci (Hg.), Rehearsing Collectivity. Choreography Beyond Dance, Berlin 2012. 65 | Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien 2007.

Perspektiven auf das Verhältnis von Technik und Praxis im zeitgenössischen Tanz

sich stets ändernder Konzepte. Diese erlauben ein ‚singular plural sein‘66 als eine Form der Ko-Existenz und des Mit-Seins, jenseits einer vereinheitlichenden Idee. Dieses Modell ermöglicht es, Kritik innerhalb der Gruppe anzubieten, anerkennend, dass der Zustand der Krise ein produktiver ist. Innerhalb dieser Prozesse des gemeinsamen Arbeitens sind Fragen des Timings und der passenden Situation ebenso wichtig wie das Finden einer gemeinsamen Sprache und das Teilen von Praktiken. Dies beinhaltet, eine regelmäßige Praxis der Konversation und damit Situationen des Voneinander-Lernens zu etablieren. Wissen in diesen ‚ecologies of practice‘ zu verorten, bedeutet nicht nur die unterschiedlichen Wissensformen an sich, sondern auch den Status der einzelnen Praktizierenden neu zu überdenken, da innerhalb dieser Konstellationen Theorie gleichermaßen als eine Form der ‚Praxis‘ zu verstehen ist.67

66 | Jean Luc Nancy, singulär plural sein, Zürich/ Berlin 2005. 67 | Vgl. hierzu auch Kirsten Maar, „Feedback. A Tool for Autonomy or Co-creation?“, in: Eva-Maria Hoerster, Inge Koks und Simone Willeit (Hg.), Laboratory on Feedback Processes 3. Responses, Berlin 2018, S. 34–36.

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Selbstermächtigung im Gefüge? Szenographie als Prothese in aktuellen Performances Philipp Schulte Im vorliegenden Text soll der Versuch unternommen werden, einen Zusammenhang zwischen zwei aktuellen Performances und Martin Heideggers Vortrag „Die Frage nach der Technik“1 herzustellen, vor allem im Hinblick auf seine darin angestellten Überlegungen zur Kausalität. Inwieweit kann man sagen, der Mensch nutzt, poietisch, technische Installationen zur Hervorbringung und Transformation von Welt; inwiefern muss man sagen, diese Installationen sind es zuallererst, die den Menschen hervorbringen und transformieren? Welche szenischen Reflexionen diese von Heidegger aufgeworfenen Fragen hervorrufen, soll einerseits anhand der Soloperformance Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll aus dem Jahr 20132 untersucht werden, in der die vom Kinn abwärts gelähmte Performerin Maria-Cristina Hallwachs einen Einblick in ihr Leben mit Behinderung bietet und dabei den Bühnenraum in einer große Prothese verwandelt; andererseits anhand der Soloperformance Nerve Collection aus dem Jahr 2016,3 in der die Performancekünstlerin Caroline Creutzburg ebenfalls alle gebotenen Bühnenmittel verwendet, um ihre inneren Gefühlszustände, die anders nicht zu kommunizieren seien, adäquat und allgemein verständlich mitzuteilen. Dabei soll dem Heideggerschen Begriff des Ge-stells probehalber der des „szenographischen Gefüges“ beiseite gestellt werden – als Versuch, auf diese Weise jene poietische, laut Heidegger ‚rettende‘ Komponente des Ge-stells aufzuspüren, die er in seinem Vortrag andeutet. Wenn es stimmt, dass der hervorbringende Mensch unentwegt Gefahr läuft, vom herausfordernden Ge-stell verborgen und an seinem hervorbringenden Tun verhindert zu werden, auf welche Weise kann dann

1 | Vgl. Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, in: Ders., Vorträge und Aufsätze. Teil I, Pfullingen 1954, S. 5–36. 2 | Rimini Protokoll, Qualitätskontrolle, Produktion von Rimini Apparat in Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart, 2013. 3 | Caroline Creutzburg, Nerve Collection, Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Justus-Liebig-Universität, 2016.

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ein s­zeno-graphisches Gefüge diesem ermächtigend entgegenwirken, und zwar verstanden als Phänomen der Kunst, also jenem Bereich, „der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist“4, wie Heidegger betont?

Heideggers Technikverständnis: Zur doppelten Funktion des G ­ e-stells Mittels Technik (und nur durch sie), so Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik,5 lässt sich das entbergen, „was sich nicht selber her-vorbringt und noch nicht vorliegt“6 – anders als die Episteme, mit denen das bereits Vorliegende erkannt, ggf. neu geordnet und verständig mit ihm umgegangen werden kann. ‚Mittels Technik‘? Bereits das erste Wort des vorigen Satzes verweist auf den Kern des Heideggerschen Problems, welches man auch als Problem der ‚agency‘ kurzfassen könnte und an der zweideutigen Wirkweise seiner Idee des Ge-stells deutlich wird. Einerseits beschreibt das Ge-stell bekanntlich ein die souveräne Handlungsmacht des Subjekts übersteigendes techno-logisches Gefüge: Es fordert den Menschen heraus, die Wirklichkeit als Bestand aufzudecken, so Heidegger, und gleichzeitig versperrt es ihm den Blick auf diesen Vorgang des Entbergens. Nach dieser im Vortrag dominierenden Darstellung des ‚Ge-stell‘Begriffs „versammelt“7 jenes den Menschen in Form eines „herausfordernden Anspruch[s]“8 dazu, „das Sichtentbergende als Bestand zu bestellen“9. ‚Bestand‘ erscheint hier als eine starre, vom Menschen unkontrollierte und unkontrollierbare Einheit mit einer eigenen, nicht menschlichen Logik, die den subjektiven Handlungsspielraum ebenso definiert wie einschränkt: Wenn der Mensch dazu herausgefordert, bestellt ist, gehört dann nicht auch der Mensch, ursprünglicher noch als die Natur, in den Bestand? Die umlaufende Rede vom Menschenmaterial, vom Krankenmaterial einer Klinik spricht dafür. Der Forstwart, der im Wald das geschlagene Holz vermißt und dem Anschein nach wie sein Großvater in der gleichen Weise dieselben Waldwege begeht, ist heute von der Holzverwertungsindustrie bestellt, ob er es weiß oder nicht. Er ist in die Bestellbarkeit von Zellulose bestellt, die ihrerseits durch den Bedarf an Papier herausgefordert ist, das den Zeitungen und illustrierten Magazinen zugestellt wird. Diese aber stellen die öffentliche Meinung

4 | Heidegger, „Frage nach der Technik“, 1954, S. 35. 5 | Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Reinbek 2006. 6 | Heidegger, „Frage nach der Technik“, 1954, S. 19. 7 | Ebd. 8 | Ebd. 9 | Ebd.

Selbstermächtigung im Gefüge? daraufhin, das Gedruckte zu verschlingen, um für eine bestellte Meinungsherrichtung bestellbar zu werden.10

In diesen wenigen Sätzen schildert Heidegger exemplarisch jenen unüberschaubaren, sich menschlicher Kontrolle entziehenden, selbstzweckhaften Verwertungszusammenhang, der hegemoniale und somit entmächtigende Züge aufweist. Was auch immer die Zeitungen schreiben, es folgt dem Ziel, mehr und mehr gelesen, verschlungen zu werden; welche Inhalte auch immer sie transportieren, die einzige Ideologie, der sie letztlich folgen, ist der hegemoniale Anspruch der eigenen Verwertung. Die deterministisch anmutende, weil durch das Subjekt zunächst scheinbar nicht zu ändernde Tendenz an dieser Darstellung des Ge-stells zeigt sich spätestens, wenn Heidegger es in eine begriffliche Verwandtschaft zum Geschick, das den Menschen auf einen bestimmten Weg ‚schickt‘, stellt.11 Doch auch im „Geschick“ zeigt sich, ebenso wie im Ge-stell, die hier skizzierte Zweideutigkeit, welche Heidegger später sogar zur Aussage verleitet, dass sich in ihm sogar „[d]as Rettende“12 verberge. Denn auch wenn das Entbergen von dem, was sich nicht von selbst hervorbringt (also der Natur) nicht vor allem „im Menschen und nicht maßgebend durch ihn“ geschieht, so geschieht es doch andererseits auch nicht „irgendwo jenseits alles menschlichen Tuns“.13 Heidegger besteht auf einer besonderen Rolle, die der Mensch im techno-logischen Bestand einnimmt, wenn er schreibt: Doch gerade weil der Mensch ursprünglicher als die Naturenergien herausgefordert ist, nämlich in das Bestellen, wird er niemals zu einem bloßen Bestand. Indem der Mensch die Technik betreibt, nimmt er am Bestellen als einer Weise des Entbergens teil. Allein, die Unverborgenheit selbst, innerhalb deren sich das Bestellen entfaltet, ist niemals ein menschliches Gemächte, so wenig wie der Bereich, den der Mensch jederzeit schon durchgeht, wenn er als Subjekt sich auf ein Objekt bezieht.14

Heidegger ist nicht bereit, jene Behauptung einer ‚ursprünglichen‘ subjektiven Handlungsfähigkeit theoretisch aufzugeben. Doch sieht sich diese seinen Ausführungen zufolge einer doppelten Verkennung ausgesetzt. Einerseits arbeitet das Ge-stell in seiner Wirkweise unentwegt an einer Verschleierung jenes subjektiven Anteils an den techno-logischen Prozessen:

10 | Ebd., S. 17f. 11 | Vgl. ebd., S. 24. 12 | Ebd., S. 28. 13 | Ebd., S. 23. 14 | Ebd., S. 18.

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Philipp Schulte Vor allem verbirgt das Ge-stell jenes Entbergen, das im Sinne der poiesis das Anwesende ins Erscheinen her-vor-kommen lässt. […] Steuerung und Sicherung des Bestandes […] lassen sogar ihren eigenen Grundzug, nämlich dieses Entbergen als ein solches nicht mehr zum Vorschein kommen.15

Andererseits betont Heidegger die „höchste Gefahr“,16 die eintrifft, wenn das Subjekt sich vielleicht naheliegend, jedoch irrtümlich souverän und erhaben über die techno-logischen Verwertungszusammenhänge betrachtet: Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei. Dieser Anschein zeitigt einen letzten trügerischen Schein. Nach ihm sieht es so aus, als begegne der Mensch überall nur noch sich selbst.17

Neben der Philosophie ist es vor allem die Kunst, in der Heidegger das Potential sieht, mit dieser doppelten Verkennung reflektiert umzugehen – weder sich als ‚Herr der Erde‘ zu verstehen, noch sämtliche Handlungsfreiheit fatalistisch den techno-logischen Verwertungszusammenhängen zu opfern. Bevor diese Überlegungen noch einmal abschließend aufgegriffen werden, soll zunächst anhand zweier Beispiele aktueller Performances aufgezeigt werden, welche künstlerischen Formen diese subjektiven, verstrickten Selbst-Ermächtigungen sechzig Jahre nach Heideggers Vortrag annehmen können. Wie verorten sich zeitgenössische Performer*innensubjekte im Spannungsfeld von Unterwerfung und Ent-Unterwerfung (um nun Foucaultsche Begriffe zu verwenden)?18

Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll: Szenographie als Prothese Auch wenn mehrere Performer*innen in Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll auftreten, kann die Arbeit als Solo-Performance bezeichnet werden: als Solo von Maria-Cristina Hallwachs, die seit einem Unfall querschnittsgelähmt ist und durch eine Vielzahl technischer Apparate und menschlicher Agent*innen unterstützt wird. ‚Unterstützt wird‘, das heißt einerseits, wie gleich in der Eingangssequenz des Stückes erwähnt: Die Personen und Geräte – sei es die erwähnte Beatmungsmaschine, der Rollstuhl, den sie mittels eines Joysticks und ihrem Kinn steuert, die Pfleger*innen, die sie betreuen, der Stab, der es ihr ermöglicht, mit

15 | Ebd., S. 27. 16 | Ebd., S. 26. 17 | Ebd., S. 26f. 18 | Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992.

Selbstermächtigung im Gefüge?

ihrem Mund eine Computertastatur zu bedienen oder Buchseiten umzublättern – all diese Prothesen halten sie am Leben. „Ich sterbe in fünf Stunden, wenn mich die Batterien meines Zwerchfellstimulators nicht mehr atmen lassen“19, so stellt Hallwachs sich vor; und zugleich versetzen diese sie in einen Zustand begrenzter Handlungsfreiheit. Im Rahmen der Performance Qualitätskontrolle wird dieses prothesenartige Gefüge vorgeführt und erweitert. Neben dem Rollstuhl, ihrer Schreibhilfe, welche es ihr ermöglicht, mit dem Mund zu tippen, neben „ihren Leuten“, wie sie ihre Pfleger*innen nennt, erweitern unterschiedliche technische Bühnenmittel unmittelbar oder indirekt den Handlungsspielraum von Hallwachs. Mithilfe von Projektionen kann sie ihre autobiographischen Erzählungen bebildern, ihre Wohnung zeigen oder auch einen Segelflug, an dem sie teilgenommen hat; mithilfe von Sensoren, die sie qua Bewegung aktivieren kann, ist es ihr möglich, vor Publikum bestimmte Spiele zu spielen, so ein überdimensioniertes Memory-Spiel mit Motiven, die in Verbindung mit dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten stehen. Am eindrucksvollsten zeigen sich diese Erweiterungen am Ende der Performance, wenn sich Hallwachs und ihr Pfleger in einer fast bühnenraumgroßen, aufgepumpten Plastikblase befinden, auf deren Oberfläche eine – ebenso überdimensionierte – Fliegenattrappe landet, welche zuvor, in deutlich kleinerer Ausführung, auf Hallwachs Gesicht gelandet ist. Das ganze Stück hindurch zeigt sich die Ambiguität, die mit all diesen Gerätschaften, diesem szenographischen Gefüge einhergeht: Deutlich wird, dass Hallwachs nur aufgrund ihrer Prothesen existiert; diese machen sie aus und sind teilweise untrennbar mit ihr verbunden, in Form von Implantaten und Extensionen – sie sichern ihr Überleben (im Sinne der von Giorgio Agamben ebenfalls der Nikomachischen Ethik entnommenen Figur des ‚bloßen Lebens‘20). Folgte man strikt der Logik des Heideggerschen ‚Bestandes‘, dann wäre Hallwachs gar nicht mehr am Leben – ihre Hinweise auf die Euthanasieprogramme verdeutlichen dies auf brutale Weise. Gleichzeitig zeigt Hallwachs aber auch unentwegt, wie sie all diese menschlichen und nichtmenschlichen Werkzeuge bis zu einem gewissen Punkt für ihre eigenen Zwecke nutzen kann – zur Ausübung eines Berufs als Therapeutin, zum Dichten, Sport treiben, Spielen, ja Fliegen – und wie sie somit ihrem Leben Würde verleihen (im Sinne eines von Agamben beschriebenen bíos politikos21). Hallwachs steht als Bedienerin all dieser Apparaturen oft im Zentrum der Bühne, durch Bewegung – und sei es die Bewegung ihrer Stimmbänder,

19 | Rimini Protokoll, Qualitätskontrolle, Videoaufzeichnung der Inszenierung, Timecode 00:01:40. 20 | Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Frankfurt a. M. 2002. 21 | Vgl. ebd.

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um Anweisungen zu geben – verbunden mit dem sie umgebenden Gefüge, mal in scheinbar größtmöglicher Bewegungsfreiheit im erwähnten Segelflugzeug im utopischen Sinne der Foucaultschen Körperkonzeption, mal, z.B. wenn ihr mit einem Sauger Schleim aus dem Hals entfernt werden muss, damit sie wieder sprechen kann, in größtmöglicher Abhängigkeit von diesem Gefüge, der anti-utopisch „gnadenlose[n] Topie“22 ihres Körpergefängnisses ausgeliefert, wieder frei nach Foucault. Immer zeigt sich Hallwachs in ihrem existentiellen Angewiesensein auf techno-logische Gefüge – und lotet zugleich entschlossen die verbleibenden Handlungsspielräume aus, welche ein Leben lebenswert machen. Zugleich stellt sie ihre Situation gegen Ende der Inszenierung in einen größeren Gesamtzusammenhang, der uns alle betrifft: Ich sehe eine Stadt und stelle mir vor: Kein Mensch würde mehr Hand anlegen. Ich schaue nach vorne. Ich gebe eine Prognose ab. Drei Tage Dauerregen, die Grundwasserpumpen stehen still, die U-Bahn-Schächte laufen voll. Ich sehe den Eckensee im Schlossgarten langsam überlaufen. Nach sieben Tagen geht dem Atomkraftwerk Neckar-Westheim die Kühlwasserversorgung zu Ende. Wenn die Kernschmelze eintritt, höre ich einen dumpfen Knall. Im Norden sehe ich eine große weiße Dampfsäule aufsteigen. Das Hochhaus verstellt mir den Blick. Nach drei Jahren ohne Heizungen platzen die Rohrleitungen. Der Wechsel von Auskühlung und Erwärmung macht das Gebäude mürbe. Ich kann erste Risse im Hochhausbeton sehen. Auch in mein Haus ist Wasser eingedrungen. Feuchtigkeit und Insekten nehmen die Festung ein. Nach fünfzig Jahren und ohne weitere Stützungsmaßnahmen versinkt der neue Stuttgarter Hauptbahnhof in gigantischen Senktälern. Ich schaue den Eichhörnchen in den Bäumen zu. Nach einhundert Jahren ziehen die Wolfsrudel und Bären durch den Dschungel, den ich einst meinen Garten nannte. Dreihundert Jahre sind vergangen. Ich sehe mir gegenüber auf dem Hohen Boxer den Stuttgarter Fernsehturm einstürzen. Nach zweitausend Jahren stehen von Stuttgart kaum noch Mauerreste. Das Tal ist grün, nur Wald, überall Buchen. Nach einhunderttausend Jahren hat der CO2-Wert wieder die gleiche Konzentration erreicht, wie in frühgeschichtlichen Zeiten. Der Himmel ist weit. Ich atme gleichmäßig, ein und aus. Das fühlt sich gut an.23

Durch diese Weltuntergangsschilderung – genau genommen geht hier nicht die Welt unter, sondern die Ära des Homo technologicus zu Ende – erhält Qualitätskontrolle allegorischen Charakter: Das Spannungsfeld, welches Hallwachs anhand ihres eigenen Lebens aufzeigt, betrifft in unterschiedlichem Ausmaß uns alle. Nicht nur, weil es sich um einer der verschwindend selten vorkommenden

22 | Michel Foucault, „Der utopische Körper“, in: Ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M. 2013, S. 23–36, hier S. 25. 23 | Rimini Protokoll, Qualitätskontrolle, 01:15:00.

Selbstermächtigung im Gefüge?

Ego-Performances schwerbehinderter Personen auf der Bühne handelt, kann Qualitätskontrolle als Projekt in der Tradition von ‚Self-Empowerment‘-Projekten seit den 1960er Jahren gelten, wie Bonnie Marranca sie beschreibt;24 sondern auch, weil uns Hallwachs über ihre eigene extreme Situation hinaus immer wieder unser aller Abhängigkeit von techno-logischen Gefügen vor Augen hält und zugleich aufzeigt, wie dennoch die eigenen Leidenschaften und Bedürfnisse nicht komplett aufgegeben werden dürfen und müssen.

Nerve Collection von Caroline Creutzburg: Selbstermächtigung durch Aneignung „If you have a cross to bear, I think it’s fair, if you use it as a crutch“ – Die häufig wiederholte Songzeile aus einem Lied der britisch-irischen Band Moloko kann als inhaltliches Leitmotiv der Performance Nerve Collection von Caroline Creutzburg gelten, die 2016 in Gießen Premiere hatte und nach dem Erhalt des Regiepreises des Hamburger Körber Studios Junge Regie 2017 an zahlreichen weiteren Orten gastierte. Auch diese Arbeit kann als Selbstermächtigungsstück interpretiert werden, wenn auch der Soloperformerin – Creutzburg selbst – nicht auf den ersten Blick anzusehen ist, worin sie sich denn ohnmächtig fühlt. Doch es wird schnell klar: Da tritt, zu Beginn der Performance, eine von Creutzburg selbst verkörperte Kunstfigur auf die Bühne und spricht die Zuschauer*innen an, aber mit merkwürdig verzerrter Stimme, mit insistierendem Blick, und sagt: Sie stecken nicht in mir drin, und ich stecke nicht in Ihnen drin. Wenn das Idealbild das eines völlig durchlässigen, geschmeidigen Menschen ist, dann haben wir es hier mit einer Nicht-Übereinstimmung mit dem Idealbild zu tun. Einer Art Sedimentierung, einer vorangeschrittenen Verfestigung – die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.25

‚Ich stecke nicht in Ihnen drin, Sie stecken nicht in mir drin‘ – da steht eine auf der Bühne, kommuniziert mit uns und macht paradoxer Weise dadurch mit Verstreichen jeder Minute dieser dreiviertelstündigen Arbeit deutlich, wie kompliziert, ja wie unmöglich eigentlich dieses Phantasma gelingender Kommunikation ist, selbst, ja gerade im Theater. Eine Display-Dysfunktionalität habe sie, so die Performerin weiter, sie sei also nicht in der Lage, ihre hochaufgeladenen Gefühlszustände angemessen und allgemein verständlich in passendem Timing mitzu-

24 | Vgl. Bonnie Marranca, „The Self as Text: Uses of Autobiography in the Contemporary Theatre“, in: Performance Arts Journal 4/1–2, 1979, S. 85–105. 25 | Creutzburg, Nerve Collection, Videoaufzeichnung der Inszenierung, Timecode 00:05:00.

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teilen. Man sehe nicht die ‚immense kognitive und emotionale Aktivität‘ hinter ihrer Stirn. Und die Performance, die wir alle gerade erlebten, sei der Versuch, jene inneren Ereignisse zu verzerren und zu amplifizieren und mit den Mitteln der Szenographie, des Sounds und der Choreographie – Worte des Verfassers, nicht ihre – irgendwie zu veranschaulichen. Die unterschiedlichen Bühnenmittel bringen also ins Sichtbare, was sonst verschlossen hinter dem Display ihrer körperlichen Oberfläche vonstattengehen mag, frei nach dem aristotelisch-heideggerschen Diktum, dass durch Technik hervorgebracht wird, was sich nicht selbst hervorbringt26. Doch ähnlich wie in der Qualitätskontrolle weiß man nicht ganz genau, ob Creutzburgs angebliche Disposition wie behauptet Anlass der Performance ist, oder ob nicht umgekehrt die Performance jene Disposition erst ästhetisch bedingt. Und doch ist es gerade die hier vorgeschlagene Lesart auch dieser Arbeit als selbstermächtigende ästhetische Setzung, die es vereinfacht, sie mit der Relevanz der Poiesis in Heideggers Vortrag in Verbindung zu bringen. Heidegger unterscheidet zwischen dem herausfordernden Entbergen, welches er in der Logik des Ge-stells verankert und einen Bestand schafft; und dem hervorbringenden Entbergen, welches er Poiesis nennt. Doch wie schafft es Creutzburg, sich selbstermächtigend nicht als zu einem Bestand gehörig zu definieren, als abhängig von, ja Produkt uns alle umgebender Verwertungszusammenhänge, wie von Heidegger beschrieben? Die hier vertretene These ist, dass es ihr aufgrund einer zur Schau gestellten Aneignung der verwendeten Bühnenmittel ihrer Selbstdarstellung und ihrer jeweiligen Wirkungen gelingt. Die flirrenden Bilder auf den ausgedienten Röhrenfernsehern, die eigens für diese Arbeit aus ihren persönlichen DJ-Livesets ausgewählten Songs, die selbst entworfenen und genähten Kostüme, die selbst geschriebenen lyrischen Texte: In ausgeprägtem Maße nutzt Creutzburg unterschiedliche Ausgangsmaterialien – technische Apparaturen, Musikstücke, Textilien, Worte; sie benutzt dieses sie herausfordernde, ja ihre Selbstdarstellung erst ermöglichende Gefüge zur Hervorbringung von neuen, ungewohnten Verknüpfungen von Text, Musik, unvergesslich grünem Bühnenlicht und ihre Körperoberfläche verzerrenden Kostümen. Gerade letztere nehmen in Nerve Collection weniger die Funktion von Verkleidungen ein, als dass sie vielmehr eine weitere Spielart ihrer Selbst-Äußerung sind. Bestes Beispiel hierfür sind die Kothurnen, die sich Creuzburg in der letzten Szene ihrer Performance anschnallt. Mit ihrer Entscheidung für diese unpraktischen Plateauschuhe wählt sie sich ein der antiken Theatergeschichte entnommenes Bühnenmittel, welches ursprünglich vermutlich vor allem der Vergrößerung und besseren Sichtbarmachung der Schauspieler vor Auditorien mit mehreren tausend Zuschauer*innen gedient hat. Creutzburg verwendet dasselbe Kostümelement, allerdings in den vergleichsweise winzigen Blackboxbühnen in Gießen,

26 | Vgl. Heidegger, „Frage nach der Technik“, 1954, S. 12f.

Selbstermächtigung im Gefüge?

Hamburg, München oder Amsterdam, als selbst auferlegtes Hindernis, als stilistisches Accessoire, welches seiner ursprünglichen technischen Funktion beraubt wurde. Die Funktionalitäten des Theaterapparates werden hier wie auch im Einsatz von Licht, Projektion und technischem Gerät unentwegt auffällig gemacht. Kunst, mit Heidegger gesprochen, ist dem Wesen der Technik verwandt, weil auf ähnliche Mittel angewiesen; doch sie ist der Technik zugleich grundverschieden, denn als Kunst verwendet sie dieselben Mittel in ganz anderer Absicht:27 nicht zur Erzeugung und Absicherung eines Bestandes, sondern ihres ursprünglichen Kontextes enthoben – abgewandelt, angeeignet, verfremdet, reflektiert. Was Creutzburg präsentiert bzw. wie sie sich auf der Bühne präsentiert, ist von einer so starken Eigenheit gekennzeichnet, dass das zur Schau gestellte Resultat nicht nahtlos aufgehen kann in einem herausgeforderten und herausfordernden Bestand, als Produkt der Umstände (gleich jenem von der Holzverwertungsindustrie bestelltem Forstwart in Heideggers Vortrag). Wenn Heideggers These zutrifft, dass das herausfordernde Entbergen des Ge-stells die Tendenz hat, den Blick auf das hervorbringende Entbergen der menschlichen Poiesis zu verstellen, dann kann Nerve Collection als entschiedene und selbst-bewusste Gegenbewegung verstanden werden, die ihre Kraft auch daraus zieht, dass sie sich eben nicht komplett verbergen und verstellen lässt.

Schluss: Herausgefordert sein Weder bei Hallwachs, noch bei Creutzburg geht das von beiden jeweils zur Schau gestellte Entbergen mit technischen Instrumenten in einem bloßen Bestellen auf, in einer Verwaltung des Bestandes, um weiter Heideggers Begriffe zu verwenden. Es zeigt sich stattdessen in einer poietischen Qualität. Im Unterschied zu Heideggers Argumentation wirkt diese bei beiden aber weit weniger pur, schöpferisch und autonom. Hallwachs und Creutzburg zeigen, wie man der von Heidegger beschriebenen ‚höchsten Gefahr‘ künstlerisch entgehen kann, nämlich dem zum Scheitern verurteilten Versuch, technische Gefüge vollends instrumentalisieren und meistern zu wollen. Hallwachs und Creutzburg zeigen, wie dieses „Meistern“28 immer nur ein reziprokes Wechselspiel sein kann, bei dem immer teilweise unklar bleibt, was oder wer hier wen oder was meistert – das Gefüge die Performerinnensubjekte oder die Performerinnensubjekte ihre Gefüge. Subjekt und Technik sind untrennbar miteinander verbunden. Selbstermächtigend werden beide Arbeiten dadurch, dass sie zeigen, dass der Mensch künstlerisch einen Anteil am technischen Entbergungsprozess haben kann, als selbst gesetzter Ausgangspunkt und als Ziel jedes Entbergungsprozesses. Gerade in der Selbstbezüglichkeit

27 | Vgl. ebd., S. 35. 28 | Ebd., S. 7.

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beider Arbeiten zeigt sich dieses poietische Potential: Das Subjekt ist hier sowohl Entbergendes als auch Entborgenes, qua Technik; das Wesen des es umgebenden szenographischen Gefüges wird in seiner Zweideutigkeit offengelegt. Sowohl in Qualitätskontrolle wie auch in Nerve Collection zeigt sich Poiesis nicht als romantisch anmutende Schöpfungskraft, sondern als selbst-ermächtigendes Ausnutzen begrenzter Handlungsspielräume in techno-logisch definierten Gefügen. Das von Heidegger immer wieder benutzte Verb ‚herausfordern‘ wird in beiden Performances in seiner Doppeldeutigkeit markant: Zum einen fordert das Ge-stell die Subjekte heraus, sie mögen funktionieren, in der Logik des Bestands, des ‚Menschenmaterials‘; auf der anderen Seite fordert es heraus zu postsouveränem Widerspruch, ja Widerstand. „If you have a cross to bear, I think it’s, fair, if you use it as a crutch“: Getreu dem Motto von Moloko fordert es die Subjekte unweigerlich heraus, sich als Krücken anzueignen, als Prothesen, was ihnen als Kreuz angedient wird.

TECHNIKEN DES RAUMES. PROZESSE DER VERORTUNG

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur Überlegungen zu technologischen Bedingungen der Barockoper Elisabeth van Treeck Die Oper als eigenständige Form entsteht in Florenz um 1600 in gelehrten Kreisen aus Dichtern, Musikern, Sängern und Altertumswissenschaftlern, die sich um Mäzene scharen. Eines der ersten Produkte dieser frühen Experimente basierend auf der neuen kompositorischen Form der Monodie, dem instrumentalbegleiteten Sologesang, ist L’Euridice. Dieses von Jacopo Peri vollständig in Musik gesetzte Drama auf eine Dichtung von Ottavio Rinuccini wurde 1600 anlässlich der Hochzeit von Maria de Medici mit Heinrich IV. von Frankreich komponiert und gedruckt. Der Blick auf das Titelblatt von L’Euridice offenbart sich heutigen Betrachter*innen in seiner Form als fremdartig. Das Druckbild rückt den Anlass der Komposition und seine daran beteiligten Personen in den Fokus. Hervorgehoben sind – in unterschiedlichen Schriftgrößen – „LE MUSICHE“ / „DI IACOPO PERI“ / „DEL SIG. OTTAVIO RINUCCINI“ / „MARIA MEDICI“ und „IN FIORENZA“. Vertraute und daher zu erwartende ­typografische Regeln und Konventionen werden dabei missachtet, sodass Titel und Autor als zentrale Kategorien heutiger Werke weniger deutlich ins Auge ­stechen. Mit der Fokussierung auf den Anlass des Werkes bewahrt die Partitur auf dieser Ebene anscheinend nicht primär die Komposition, sondern ein Ereignis. Das Werk ist einem Anlass zugehörig, von dem es nicht zu trennen ist, weder im konkreten Moment der Aufführung, noch im Speichermedium der Partitur. Die spezifische Anordnung von Namen und Gestaltung einzelner Wörter des Druckes schreibt die situative Gebundenheit in die Werkgeschichte ein.

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Elisabeth van Treeck Abb. 1, Titelblatt L‘Euridice

Quelle: Le Musiche di Jacopo Peri nobil Fiorentino sopra l‘Euridice del Sig. Ottavio Rinuccini Rappresentate Nello Sponsalizio della Cristianissima Maria Medici Regina di Francia e di Navarra, Florenz 1600, RISM A/I: P-1431, Digitalisat: Museo internazionale e biblioteca della musica, Bologna.1

Das Titelblatt ist ein Hinweis, eine Tür in ein anderes Medienepistem, das nicht das unsere ist – ein Medienepistem, das komplizierterweise im vorliegenden Fall sogar eher aus zwei Medienepistemen besteht, die hier aufeinander prallen: eine präliterale Oralität und die Schriftkultur. Das gedruckte Titelblatt, das Vorwort und die musikalische Dichtung zeugen von der Technik, die sie möglich gemacht haben: Schrift und Buchdruck. Die zeitlich davor liegende und immer noch zutage tretende Oralität in ihrem genuinen Audiozentrismus lässt sich spurhaft an der typografischen Anordnung der Information ablesen. Die primäre Oralität und ihre Gedächtnisarbeit basiert nach Walter J. Ong auf dem Umgang mit Sprache als flüchtiges, klangliches Ereignis. Orale Kulturen kennen keine das gesprochene Wort abstrahierende Buchstabenäquivalente, die Handschrift oder Druck räumlich auf einer Buchseite anordnen. Ihre Wahrnehmung strukturierenden und Wissen organisierenden Strategien sind daher

1 | http://www.bibliotecamusica.it/cmbm/viewschedatwbca.asp?path=/cmbm/images/ ripro/gaspari/BB/BB118/ [21.03.2020].

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur

eng an situative und operative Referenzrahmen gekoppelt.2 Sprechen ist als eine Handlung verwoben mit dem konkreten Moment,3 aus diesem weder herauslösbar noch von diesem abstrahierbar. Diese Verzahnung präsentiert auch das Titelblatt von L’Euridice. Es hebt weniger das Werk als Einzelmoment hervor, als es das Gesamtereignis speichert. Die Anordnung der Wörter folgt oralen Gedächtnisprozessen, nicht schriftlichen. Nachfolgende, von den Medienlogiken des Druckes geprägte Kultur- und Wissenstechniken würden die Informationen deutlich anders anordnen, dabei Werktitel und Autor hervorheben, den eventuellen Anlass in den Hintergrund stellen und auch das erste Wort (bei L’Euridice LE MUSICHE) nicht am größten drucken. Autor und Werk sind eben keine historischen Konstanten, sondern Diskurse, die – so Friedrich Kittler an Michel Foucault anknüpfend – der Buchdruck als Massenmedium überhaupt erst hervorbringt.4 Diese Funktionen scheinen im Fall von L’Euridice noch nicht zentral zu sein. Das Medienepistem von L’Euridice ist noch nicht vollständig von den Medienlogiken durchdrungen, die bereits zur Verbreitung und Speicherung des Werkes aufgeboten werden.

Manuskriptkultur Betrachtet man L’Euridice als Symptom, als archetypisches Beispiel der frühen Oper als Ganzes, lässt sich konstatieren, dass der Beginn der Oper in einer Phase der Manuskriptkultur liegt, einer medienhistorischen Hybrid- und Übergangsphase, in der nach Walter J. Ong Wahrnehmungs- und Wissenstechnologien primärer oraler Kulturen und Schriftkultur zusammenwirken und aufeinanderprallen. Orale Kulturtechniken, wie etwa die enge situative Gebundenheit flüchtiger klanglicher Ereignisse, entwickeln dabei ein Eigenleben, das sie auch angesichts des neuen medienepistemischen Raumes der gedruckten Schrift, den Marshall McLuhan die „Gutenberg Galaxie“ nannte, bewahren. In einer Übergangsphase, dem manuscript age, wirken oral verhaftete Medienkulturen parallel zu neuen Medienstrukturen. Die Medienprodukte, wie etwa die frühe Oper, sind dabei die Austragungsorte der zwei gleichzeitigen Medienkulturen, die sich in die Oper einschreiben. Bücher dieser Ära zeigen in ihrer Typografie jene Besonderheiten, wie sie bei L’Euridice oder auch bei der Veröffentlichung des ersten Teiles Miguel de Cervantes Don Quixote im Jahr 1605 auftreten. Auch dort wird die erste Zeile, in der der

2 | Vgl. Walter J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, 30th Anniversary Edition with additional chapters by John Hartley, London 2012, S. 49. 3 | Vgl. Ong, ebd., S. 32: „Among oral people generally language is a mode of action and not simply a countersign of thought.“ 4 | Vgl. Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900, München 31995, insb. S. 138–158.

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Titel beginnt, am größten gedruckt. Der Name des Helden allerdings läuft über einen Zeilenumbruch, was „unserem heutigen Verständnis von Textualität“5 zuwider läuft. Abb. 2, Titelblatt Don Quixote

Quelle: EL INGENIOSO HIDALGO DON QVICHOXTE DE LA MANCHA, compuesto por Miguel de Servantes Saauedra. Diridigo al Dvqve de Beiar, Marques de Gibraleon, Conde de Benalcaçar, Señor de las villas de Capilla, Curiel, y Gurguillos, Madrid 1605.6

Zeitigt das gedruckte Titelblatt von L’Euridice Spuren oraler Wissensdynamiken, so zeigt das Partiturvorwort des Komponisten Jacopo Peri, wie sehr die Denkstrukturen der Autoren dieser frühen Oper bereits von den Effekten der Schrift geprägt sind: Weil ich sah, daß es sich um dramatische Dichtung handelte und daß man deshalb mit dem Gesang den nachahmen sollte, der sprach (und zweifellos hat man niemals singend gesprochen), hielt ich es für richtig, daß die alten Griechen und Römer (die nach Meinung vieler auf der Bühne die ganzen Tragödien sangen) eine Musik verwandte, die,

5 | Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Wiesbaden 2 2016, S. 112. 6 | Digitalisat: Biblioteca Digital Hispánica, unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:El_ingenioso_hidalgo_don_Quijote_de_la_Mancha.jpg [21.03.2020].

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur über das normale Sprechen hinausgehend, so weit unter der Melodie des Singens blieb, daß sie die Form eines Mitteldings annahm.7

Die neue musikalische Satzform der Monodie ermöglicht eine affektbezogene Textausdeutung und einen Grad an Textverständlichkeit, den die zeitgenössische Vokalpolyphonie nicht erreicht. Doch gesungene Rede ist schlechterdings unlogisch, unwahrscheinlich: „[D]ie alte aristotelische Verpflichtung zur Verosimilanza, zur Wahrscheinlichkeit dessen, was auf der Bühne geschah“,8 musste ein großes Problem für die frühen Opernautoren dargestellt haben. Was legitimiert die Unwahrscheinlichkeit des durchgehenden Gesanges, insbesondere den gesungenen Dialog? Zum einen führt Peri die Lösung des Problems argumentativ mit dem Verweis auf die Griechen herbei. Mit dem Bezug auf ein diffus bekanntes Vorbild schwächt er die Originalität der eigenen Erfindung und bezieht sich auf die antike Praxis, die seine Kompositionsweise als Nachahmung begreifbar werden lassen soll. Zum anderen löst ein inhaltlicher Kniff das Problem: Rinuccinis Dichtung adaptiert den Mythos von Orpheus, dem Sänger und Sohn Apolls,9 der im mythischen Arkadien inmitten von musizierenden Nymphen und Hirten Hochzeit feiert. Aber nicht wie das Wahrscheinlichkeitsproblem gelöst wird, interessiert in diesem Kontext, sondern dass es sich überhaupt stellt. Orale Kulturen kennzeichnet ein musikalisierter Alltag im weitesten Sinne. Rhythmisches Formen, versartiges Strukturieren und formelhafte Gebundenheit von Wörtern und Phrasen gehören zu ihren zentralen Mnemotechniken und prägen Psychodynamiken und Wissen. Den Florentiner Gelehrten scheint dies bereits allzu fremd. Ihre Psychodynamiken und ihr logisches Denken wurden bereits durchmassiert vom Medium der Schrift. Deswegen ergibt sich für die Schriftkundigen der Camerata die Frage nach der Wahrscheinlichkeit als deduktive Schlussfolgerung zwangsläufig. ­Deduktive Denkprozesse sind nach Ong das Ergebnis der Schriftkultur. Die griechische Kultur erfindet die formale Logik „als sie die Technologie des alphabetischen Schreibens schon beherrschte und somit die Denkweise, die ein solches Schreiben ermöglichte, ein fester Bestandteil ihrer noetischen Ressourcen war.“10 Syllogismen sind abgeschlossene Schlussfolgerungen und ähneln auf diese Weise der Abgeschlossenheit von Texten. Die Diskussion um Wahrscheinlichkeit sollte sich im unmittelbaren Verlauf der Operngeschichte vorerst abschwächen. Die Bedeutung des Librettos und

7 | Zitiert nach Silke Leopold, Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber 2006 (= Geschichte der Oper Bd. 1), S. 54. 8 | Ebd., S. 55. 9 | Vgl. ebd., S. 73. 10 | Ong, Oralität und Literalität, 2012, S. 49.

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s­ eines Dichters gerät zugunsten von Sänger*innen und Bühnenmaschinen in den Hintergrund. Diente es zu Beginn der Entstehung der Gattung Oper der verständlichen Textausdeutung, so tritt ab Mitte des 17. Jahrhunderts das Spektakel für Ohr und Auge in den Mittelpunkt.11 Die Singstimme im Fokus des klingenden Ereignisses wird die italienische Oper bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts prägen: Klangqualität vor Textqualität. Die Medienkultur der Oralität überlebt so erstaunlich lange in einer Globule des Schriftraums und man kann sich durchaus fragen, wieso das so ist.

Hohe Stimmen und die Arie Die Oper bewegt sich ab ca. 1630 allmählich aus dem (schriftkulturellen) höfischen Kontext heraus (wie etwa die öffentlichen Opernhäuser in Venedig ab 1637 bezeugen) in einen öffentlichen Raum, in dem weitaus stärker eine akustische Welt des Hörens dominiert. Zu dieser Öffentlichkeit gehört im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur das Opernpublikum, sondern insbesondere die Masse der Gläubigen. Das ist insofern bedeutsam, weil die Singstimme, die gattungsimmanente Entwicklungen der Oper zur Sängeroper wesentlich bestimmen sollte, zu dieser Zeit nicht losgelöst von der kirchlichen Praxis zu betrachten ist. Opernkomponisten und -sänger*innen stehen oft im Dienst der Kirche und auch „der stilistische Abstand zwischen weltlicher und geistlicher Musik [war] in Italien […] vergleichsweise gering,“12 wie Saskia Maria Woyke in ihrer Studie zu Stimme und StimmDiskurs in Italien von 1600 bis 1750 herausstellt. Die hohe, bewegliche Stimme, die als barockes Ideal der singenden Stimme gilt, erreicht im öffentlichen Raum der Theater und Kirchen eine weitaus umfangreichere und demographisch heterogenere Adressatengruppe als in der lese- und schreibkundigen Hofkultur. So kann angenommen werden, dass die Analphabetenquote in der Masse der Gläubigen signifikant höher war als im höfischen Kontext. In der frühen Neuzeit bleibt vollständige Literalisierung einer kleinen Bevölkerungsgruppe vorbehalten,13 während etwa in ärmlichen Verhältnissen und

11 | Fabrizio della Seta, „Der Librettist,“ in: Lorenzo Bianconi und Fabrizio della Seta (Hg.), Geschichte der italienischen Oper, Bd. 4: Die Produktion, Laaber 1990, S. 245– 296, hier S. 245ff. 12 | Saskia Maria Woyke, „Jenseits der Worte oder Wie der aktuelle Stimm-Diskurs zu einem Verständnis von Singstimmen in Italien 1600–1750 beitragen kann“, in: Katrin Losleben, Stephan Mösch, Anno Mungen und Saskia Maria Woyke (Hg.), Singstimmen. Ästhetik, Geschlecht, Vokalprofil, Würzburg 2017 (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater Bd. 23), S. 43–72, hier S. 55. 13 | Vgl. Robert A. Houston, Literacy in Early Modern Europe. Culture and Education 1500–1800, London 1988, S. 134.

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auf dem Land lebende Frauen die geringsten Chancen auf Bildung haben. In der Regel wird erst Lesen und eventuell danach Schreiben gelernt. Das laute Lesen eines Textkorpus gilt als basale Form von Literalisierung. Dementsprechend dienen Schreiben und gedruckte Schrift noch „weitgehend dem Rücktransport des Wissens in die orale Welt,“14 so Ong. Wie Woyke argumentiert, gingen für die wachsende Bedeutung der Singstimme, folglich auch für die Oper, von Konfessionalisierungsbestrebungen der katholischen Kirche wesentliche Impulse aus.15 Die Singstimme ist ein zentrales Kommunikationsmedium für die Kirche und entwickelt sich daher wesentlich in einem Feld von Rezipient*innen, die als Hörer*innen primär von Denkprozessen der Mündlichkeit geprägt sind. Die Schriftkultur hat zu diesem Zeitpunkt noch keine allumfassende epistemische Dominanz erlangt, was sich auch bei den Produzenten zeigt. Denn im Zuge einer Gesangsausbildung stehen weniger die Fertigkeiten Lesen und Schreiben im Vordergrund. Aus der Gesangsschule Pier Francesco Tosis aus dem Jahr 1723 geht hervor, dass Schüler*innen ihre Muttersprache lesen können sollen, auch wenn für viele das Erlernen des Alphabetes den ersten Schritt darstellen müsse. Verlangt werden ferner gute Manieren und ein kultiviertes Auftreten in sozialen und beruflichen Kontexten.16 Erhalten gebliebene Briefe von Sänger*innen zeigen, dass viele von ihnen beträchtliche grammatikalische Schwächen aufweisen.17 Wie John Rosselli in seiner grundlegenden Studie zu italienischen Opernsänger*innen ebenfalls herausarbeitet, bleiben einige Sänger sogar orecchianti – also ‚Ohrer‘, Musiker*innen ohne die Fähigkeit Noten zu lesen,18 jener anderen, so oft übersehenen Literalität. Freilich gibt es auch gebildete und schreibkundige Sänger, etwa in der Gruppe der erfolgreichen Kastraten, darunter Carlo Broschi, genannt Farinelli, der in engem Briefkontakt mit dem Librettisten Pietro Metastasio steht, oder die literarisch interessierten Sänger Antonio Maria Bernacchi und Gaetano Berenstadt.19 Statistisch bleibt das aber die Ausnahme, verschiedene Grade des Analphabetismus sind die Regel. Aufgrund der demographischen Breite, aus der sich das Opernpublikum und Opernsänger*innen zusammensetzen und der niedrigen Alphabetisierungsquote kann geschlossen werden, dass Gedächtnisprozesse wesentlich geprägt waren von oralen Psychodynamiken

14 | Ong, Oralität und Literalität, 2012, S. 111. 15 | Woyke, „Jenseits der Worte“, 2017, S. 55. 16 | Vgl. John Rosselli, Singers of Italian Opera. The History of a Profession, Cambridge 1992, S. 105. 17 | Vgl. ebd., S. 103. Die Sängerin Adelina Patti (1843–1919) beispielsweise sprach Italienisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch, konnte jedoch keine dieser Sprachen korrekt schreiben. 18 | Vgl. ebd., S. 93. 19 | Vgl. ebd., S. 48f.

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und die akustische Welt des Ohres den maßgeblichen Erlebniskontext darstellte. Deshalb entwickelt sich auch die Oper mit zunehmender Dominanz der Arienform als primär klanglich-sinnliches Ereignis und wird als solches wahrgenommen. Medienkulturen der Schriftlichkeit spielen in diesem Raum eher eine nachrangige Rolle. Wenngleich es sich also bei Benedetto Marcellos 1722 erschienener Schrift Il Teatro alla moda um ein Pamphlet handelt, so mag er in seinem überzeichnenden Duktus des Karikierenden durchaus einen wahren Punkt treffen, der für die Musikkultur der ihm vorhergehenden Jahrzehnte spricht, wenn er schreibt: Es ist nicht besonders wichtig, ob der SÄNGER lesen oder schreiben kann, die Vokale und die einfachen wie doppelten Konsonanten korrekt ausspricht oder die im Text wiedergegebene Empfindung erkennt etc. Eher werfe er Wortbedeutungen, Buchstaben, Silben etc. durcheinander, um galante Passagen, Triller, Vorschläge, ellenlange Kadenzen etc. etc. etc. singen zu können.20

Zu Ungunsten des Textes wird mit der Förderung von Höhe und Beweglichkeit der Singstimme dem klingenden Anteil eines Aufführungsereignisses erhebliche Bedeutung zugeschrieben.21 Im kirchlichen Kontext werde auf diese Weise, so Woyke, die Singstimme selbst zur Botschaft: Die Textverständlichkeit hoher, beweglicher Stimmen ist aus physikalischen Gründen eingeschränkt. Auch die damals so genannten „willkürlichen Auszierungen“ sind der Verständlichkeit des Textes nicht förderlich. Außerdem fand ein Großteil der Gesangsaufführungen in lateinischer Sprache statt, derer die meisten Hörenden nicht mächtig waren […]. In anderen Worten: An eine große Zahl der Adressaten, vor allem jene, die nicht zum Klerus gehörten, wurde bewusst „Geheimnisvolles“ und „Wunderbares“ – das „meraviglioso“ – kommuniziert, und dies sowohl in gesprochener als auch in gesungener Sprache.22

Wesentlich von dieser Sphäre der oralen Hörwelt begünstigt, erobert sich die Singstimme im ästhetischen Feld der Oper ihren eigenen artifiziellen akustischen Raum: Die Arie entwickelt sich zur primär gestaltgebenden musikdramaturgischen Form der Opera seria des 18. Jahrhunderts mit ihrer konventionellen Abfolge von Rezitativ und Arie. Als Arienform bildet sich die Da-Capo-Anlage mit

20 | Benedetto Marcello, Il Teatro alla Moda. Das neumodische Theater [1722], übersetzt und herausgegeben von Sabine Rademacher, Heidelberg 2001, S. 22. Hervorh. original. 21 | Vgl. Woyke, „Jenseits der Worte“, 2017, S. 63. 22 | Ebd., S. 60f.

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur

ihrer Folge von Teil A – Teil B – Teil A’ heraus.23 Den improvisierten Verzierungen mit Trillern, Vorschlägen und Koloraturen wird vor allem in der Wiederholung des A-Teils Raum gegeben. Doch beginnen Arien auch mit Koloraturen oder langen Haltetönen, wie es beispielhaft am Beginn der Arie „Parto qual pastorello“ des Arbace (bei der Urauführung 1730 in Venedig von Farinelli gesungen) aus der 2. Szene des III.  Aktes von Johann Adolph Hasses Artaserse auf ein Libretto von Pietro Metastasio der Fall ist. Parto: qual pastorello Prima che rompa il fiume A questo colle, e a quello Sen fugge, e i cari Armenti Sal fretta a riserbar.24

Bereits die erste Silbe („Par-“) der ersten Verszeile wird über fünf Takte lang auf einer Note (auf dem e’’) gehalten, ehe mit der Wortwiederholung („Parto“) der Gesang voranschreitet und auf dem mehrmals wiederholten Wort „riserbar“ jeweils die letzte Silbe („-bar“) mit Sechzehntelkoloraturen über drei bis sechs Takte verziert wird.

23 | Insb. bei Johann Adolph Hasse wird mit der Abfolge A–A–B–A’–A’ eine 5-teilige Anlage zum Regelfall. Vgl. Silke Leopold, „Die Metastasianische Oper“, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Die Musik des 18. Jahrhunderts, Laaber 2008 (= Geschichte der Musik Bd. 5), S. 73–84; hier S. 81f. 24 | Vgl. Johann Adolf Hasse, Artaserse, Venedig 1730. Die musikalische Beschreibung bezieht sich auf eine Abschrift der Arie, die unter der Signatur Mus. ms141 (10) als Manuskript in der Bayrischen Staatsbibliothek in München vorliegt. Das von der Bayrischen Staatsbibliothek angefertigte Digitalisat ist abrufbar unter: ht tp://hz.imslp.info/f iles/imglnks/usimg/2 /2c /IMSLP35 4 492- PM LP9 4674 - - Mus. ms.141-_Parto_qual_pastorello.pdf [14.05.2019]. Im gedruckten Libretto von 1730 lautet die letzte Verszeile der ersten Strophe: „S’affanna a riserbar“; Vgl. Artaserse. ­D ramma per Musica da rappresentarsi nel famosissimo Teatro Grimani di S. Gio Grisostomo nell Carnevale dell’anni MDCCXXX, Venedig 1730. Das von der Bayrischen Staatsbibliothek digitalisierte Libretto, das im Deutschen Historischen Institut in Rom unter der Signatur Rar.Libr.Ven.651/656#653 vorliegt, ist abrufbar unter: http://hz.imslp.info/files/imglnks/ usimg/2/28/IMSLP115196-PMLP94674-Hasse_Artaserse_Libretto.pdf [14.05.2019].

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Auf dem Weg zur Schriftkultur Im Zeitalter der Manuskriptkultur auf Basis der beherrschenden Oralität und ihren von der auditiven Wahrnehmung geprägten Gedächtnisdynamiken entfaltet sich in der Gattung Oper mit der Arie ein eigener ästhetischer Hör-Raum, in dem die Bedeutung des Librettos und der Textdichtung im performativen Akt des Gesanges in den Hintergrund gerät. Die Entwicklung der hohen und beweglichen Singstimme führt zur Etablierung der Sängeroper mit Fokus auf der musikdramaturgischen Form der Arie, bei deren musikalischer Gestaltung Sänger*innen noch vor der Aufführung in den kompositorischen Prozess eingreifen, um ihr sängerisches Potenzial voll zur Geltung bringen zu können. Nichtsdestotrotz (oder möglicherweise: folgerichtig) reagiert die Dichtung mit der Form der Da-Capo-Anlage auf Textebene auf die Vorrangstellung der Musik respektive des akustischen Ereignisses und der auditiven Wahrnehmung. Gerade die Wiederholungsstruktur A–B–A’ zeigt, wie noch im 18. Jahrhundert von Oralität geprägte Gedächtnismechanismen der Manuskriptkultur auf die Oper einwirken. Diese Konvention der Da-CapoAnlage wird beispielhaft geprägt von Pietro Metastasio, der sie durch gebundene Verse und zweiteilige Strophenform in seinen Libretti anlegt. Auf diese Weise stehen Metastasios Libretti zwar in ihrer gedruckten Geschlossenheit für eine Schriftkultur ein, die subkutan das Denken der Lesekundigen prägt. Die Oper allerdings überführt seine Dichtungen, die für jede ihrer zahlreichen Vertonungen gekürzt und verändert werden, zurück in den akustischen Raum der Musik, in der auch Mitte des 18. Jahrhunderts noch hohe, bewegliche Singstimmen dominieren. Dieses Primat des Klanglichen im ästhetischen Feld der Oper gerät ab ca. 1750 unter dem Einfluss der Aufklärung zusehends in die Kritik. Francesco Algarotti etwa klagt in seiner Schrift Saggio sopra l’opera in musica von 1755 darüber, dass die „Wissenschaft [der Sänger*innen, Anm. d. Verf.] in der künstlichen Theilung ihrer Stimme, im beständigen Hüpfen von einer Note zu andern“25 bestehe. Stattdessen sollten Wörter im Gesangsvortrag gut verständlich sein, damit die Zuhörenden die Figurenrede nachvollziehen könnten. Komponisten und Gesangsvirtuosen sollten begreifen, dass „die Musik einen größeren Effect thue, wenn sie eine Dienerin und Gehülfin der Dichtkunst ist.“26 Seine Argumentation gibt Algarotti als Schriftkundigen zu erkennen. Der Vorrang der Oralität von Musik darf nicht im unkontrollierbaren Signalhaften des akustischen Raumes belassen werden, das sich Verstand und Verstehen ent-

25 | Francesco Algarotti, „Versuch über die musikalische Opera [Saggio sopra l’opera in musica, 1755]“, in: Ders., Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera aus dem Italiänischen des Grafen Algarotti übersetzt von R. E. Raspe hochf. Hessischen Rath und Prof. der Alterthümer, Kassel 1769, S. 217–302, hier S. 262. 26 | Ebd., S. 237.

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Manuskriptkultur

zieht. Jegliches vermeintlich nicht-Vernünftige wird verbannt zugunsten einer anti-körperlichen Unsinnlichkeit, die Schrift und Buchdruck im 18. Jahrhundert zunehmend ins Gedächtnis schreibt. Während die Oper noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts von oralen Dynamiken in den Köpfen vieler Autoren und der Rezipienten (mit)bestimmt wird, kündigt sich ab ca. 1750 das Ende der Manuskriptkultur an, wodurch folglich Formen von einer im manuscript age geprägten Oralität, wie etwa der Da-Capo-Anlage, auffällig und damit kritikwürdig hervortreten. Algarottis Argumentation fordert parallel zu ähnlichen Entwicklungen, etwa in der Literatur, ein abgeschlossenes Werk eines Autors und damit Prinzipien der Schriftkultur, die zu Schüsselkonzepten für eine vom Buchdruck bestimmte Lage werden, welche fortan die Sinne anders disziplinieren sollte.

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„Eine Komödie liegt auf der Hand“ Friedrich Dürrenmatts Theatertheorie und Technikkritik in Felicia Zellers Wunsch und Wunder Birte Giesler

Theater als Körperkulturtechnik In einer zunehmend technisierten Welt betrifft die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Technik keineswegs nur die Theaterwissenschaft. Seit der kultur- und sozialtheoretischen ,performativen Wende‘ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – und die wiederum reflektiert ja den seit der Jahrhundertwende um 1900 angehenden gesellschaftlichen „performative turn innerhalb der europäischen Kultur“1 – gilt das Theater als Modell für die westlich-moderne Kultur per se.2 Dabei erwächst im Kontext der europäischen Kulturgeschichte aus Eric Bentleys bekannter Minimaldefinition von Theater, nach der es einer Person A bedarf, welche X verkörpert, während S zuschaut, nicht zuletzt auch die gesellschaftliche und politische Funktion der Institution Theater.3 Vor allem im textzentrierten bürgerlichklassischen Literaturtheater des 18. Jahrhunderts wird die Kulturpraktik Theater zu einer Institution, welche das Publikum mit seiner eigenen sozialen Situation

1 | Erika Fischer-Lichte, Theater als Modell für eine performative Kultur. Zum performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts (= Universitätsreden/Universität des Saarlandes 46) Saarbrücken 2000, S. 3. 2 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Theatralität als kulturelles Modell“, in: Dies., Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat (Hg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2004, S. 7–26, hier S. 8ff; Johannes Friedrich Lehmann, „Der Zuschauer als Paradigma der Moderne. Überlegungen zum Theater als Medium der Beobachtung“, in: Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen 2003, S. 155–166, hier S. 160. 3 |  Vgl. Gerald Siegmund, Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996, S. 24.

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Birte Giesler

konfrontiert und die damit eminent an der Entstehung moderner bürgerlicher ­Identität mitwirkt. Das Theater erscheint [...] als ein anthropologisches Laboratorium, in dem unterschiedliche Möglichkeiten des Menschseins durchgespielt werden. […] Im Theater sieht also die Gesellschaft sich selbst beim Handeln zu.4

Weil die gesellschaftliche Öffentlichkeit derzeit aktuelle Entwicklungen in den körperbezogenen biomedizinischen Humantechnologien wie Gentechnik, Fertilisationsverfahren, Reproduktionsmedizin und die Vision vom Menschen nach Maß diskutiert, ist es kaum verwunderlich, dass nun auch im Theater Retortenbabys, Leihmütter, gentherapierte und mit Bio-Computerchips ausgestattete Personen sowie menschliche Klone in Erscheinung treten. Dabei sind Theater und Theatralität soziale und ästhetische Praktiken, die seit jeher auf den Körper und seinen gezielten Einsatz setzen und bei denen – Theatergeschichtsschreibung ist auch der Nachvollzug von „Geschichte der Körperverwendung“5 – der menschliche Körper und Körperleiblichkeit mitunter sogar selbstreflexiv im Fokus stehen: In keiner anderen Kunstform steht der menschliche Körper, seine verletzliche, gewalttätige, erotische oder ‚heilige‘ Wirklichkeit so sehr im Zentrum wie im Theater. [...] Mit einem körperlichen Akt fängt bekanntlich alles an [...]. Die kulturelle Vorstellung von dem, was ‚der‘ Körper sei, unterliegt ‚dramatischen‘ Wandlungen, und Theater artikuliert und reflektiert solche Vorstellungen.6

In Zeiten umfassender biomedizinischer Technifizierung bis in die intimsten Bereiche der Alltagskultur fängt allerdings mitnichten unbedingt mehr ‚alles‘ mit einem körperlichen Akt an. In einer Lebenswelt, in der reprogenetische Humantechnologien zu einem Teil der Alltagskultur geworden sind, beginnt vielmehr immer öfter ‚alles‘ mit einem instrumentell herbeigeführten, körperlich entrückten und durch Mikroskope und Bildgebungsverfahren auch noch medial mehrfach vermittelten technischen Akt der Apparate. Sind Theater und Theatralität aber eminent körperliche Angelegenheiten, stehen sie von vorneherein in einem Spannungsverhältnis zum modernen Welt- und Menschenbild, impliziert das doch

4 | Erika Fischer-Lichte, „Theater“, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch für Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 985–996, hier S. 994; Dies., Geschichte des Dramas, Bd. 1, Tübingen/Basel 1999, S. 3f. 5 | Erika Fischer-Lichte, Theatralität – eine kulturwissenschaftliche Grundkategorie, in: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.), Evokationen – Gedächtnis und Theatralität als kulturelle Praktiken, München 2000, S. 167–182, hier S. 172. 6 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 361f.

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die Trennung von Geist und Materialität/Körperlichkeit und räumt dabei dem vernunftgetragenen Geist klaren Primat ein.7 Durch diese Trennung befördert die abendländische Kultur eine Konzentration auf das (zudem immer stärker inszenierte) ‚Körperhaben‘ und eine zunehmende „Tendenz zur Leibfreiheit“.8 Nicht zufällig wird „unserer Gegenwartskultur die Diagnose eines zunehmenden Wirklichkeitsverlustes gestellt“.9 In diesem Kontext beschreibt die jüngere technikgeschichtlich orientierte Sozialphilosophie sogar, die Grenze zwischen Organismus und Maschine verschwimme und es entstünde „das (naturalistische) Bild des Menschen als eines biotechnischen Artefakts“.10 Weil das Theater betont mit der menschlichen Körperleiblichkeit arbeitet, vermag es wie kaum eine andere ästhetische Praxis die sozialen und subjektiven Konsequenzen vom Zusammenwachsen von Leib und Technik und Zurückweichen der ‚Naturschranke‘ zu reflektieren. Dies gilt besonders für dramenbasiertes Sprechtheater, das aktuelle biomedizinische Entwicklungen gezielt aufgreift. Mit einer heuristischen Begriffsbildung lassen sich solche Schauspiele – angelehnt an das (Natur)Wissenschaftsdrama – als ‚Biowissenschaftsdramen‘ fassen.11 Eines der jüngsten deutschsprachigen ‚Biowissenschaftsdramen‘ ist Felicia Zellers Reproduktionsmedizin-Groteske Wunsch und Wunder aus dem Jahr 2015. Im Folgenden soll am Beispiel der Ur-Inszenierung im Saarländischen Staatstheater aufgezeigt werden, wie sich Sprach-, Subjekt-, Theater- und Technikkritik ineinander spiegeln und dabei sowohl auf die soziale ‚Welthaftigkeit‘ des Gegenwartsdramas beharren als auch die These von dessen ‚Re-Literarisierung‘ belegen.12 Dabei bedeutet ‚Re-Literarisierung‘ keineswegs einen neuen Primat des Textes und der Zeichen über den lebendig präsenten Körper. Differenzkritisch,

7 | Vgl. Yvonne Hardt, „Körperlichkeit“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 22014, S. 189– 196, hier S. 190. 8 | Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bielefeld/Basel 2010, S. 117. 9 | Fischer-Lichte, „Theatralität – eine kulturwissenschaftliche Grundkategorie“, 2000, S. 167. 10 | Gerhard Gamm, „‚Aus der Mitte denken‘. Die ‚Natur des Menschen‘ im Spiegel der Bio- und Informationstechnologien“, in: Zeitschrift für kritische Theorie 12, 2001, S. 29–50, hier S. 30f. 11 | Vgl. Birte Giesler, „Zur Performativität des Materials: Biomedizin und Identität in aktuellen Theaterstücken“, in: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 78, 2011, S. 141–159, hier S. 142. 12 | Zur These von der Reliterarisierung des deutschsprachigen Gegenwartsdramas vgl. Artur Pełka, „Arbeit(slosigkeit) und Weiblichkeit oder eine Sorge um sich selbst in der Gegenwartsdramatik“, in: Torsten Erdbrügger, Ilse Nagelschmidt und Inga Probst

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sozialtheoretisch und ästhetisch reflektiert, betreibt Wunsch und Wunder vielmehr so etwas wie eine sprachspielerische ‚Somatisierung‘ des Literaturdramas. Über seinen dramatischen Inhalt klagt das Drama „den menschlichen Körper als Archimedium“13 prinzipiell jeder Handlungs- und Sprachfähigkeit ein und pocht damit auf die fundamentale Verkörperung und Körperleibbedingtheit aller Subjekthaftigkeit, welche im Namen von Autonomie und einer technikfixierten Machbarkeitsideologie allzu oft ausgeklammert werden. Über die selbst in der Aufführung noch hörbare extreme Konstruiertheit und Literarizität seiner sprachlichen Form rückt Wunsch und Wunder das Dinglich-Stoffliche des Text-Körpers als dramatisches Sprachmaterial in den Vordergrund, so dass der literarisch gestaltete und theatral-performativ erzeugte Sprach-Raum nicht nur künstlerisch das ‚Theater als Ort der Literatur‘14 ausstellt, sondern auch vehement den schlichten Umstand ins Gedächtnis ruft, dass – allen theoretisch-methodischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte um die der Gattung eingeschriebene „Spannung von Textualität vs. Peformativität“15 zum Trotz – grundsätzlich jedes (gedruckte) Drama auch Lesedrama ist.16 So spiegelt Wunsch und Wunder die auf der Theaterbühne verhandelten Technologien und das fortschreitende Verschmelzen von menschlichem Leibsubjekt und Technik ästhetisch wider und eröffnet gerade damit den dramatisch-theatralen Raum als einen ästhetischen Raum mit politischen Dimensionen.

Theater als ästhetischer Raum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung Zeitgenössisches politisch engagiertes Drama ist selbstredend geprägt von den Theaterkonzepten Bertolt Brechts. ‚Biowissenschaftsdrama‘ lässt sich sohin als „Theater des biowissenschaftlichen Zeitalters“ beschreiben.17 Ist die zunehmende

(Hg.), Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion, Berlin 2013, S. 245–256, hier S. 245. 13 | Zum menschlichen Körper als Archimedium des Theaters vgl. Franz-Josef Deiters, Die Entweltlichung der Bühne. Zur Mediologie des Theaters der klassischen Episteme, Berlin 2015, S. 19. 14 | Vgl. die gleichermaßen literatur- wie theaterwissenschaftlich argumentierende Studie von Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Čechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005. 15 | Peter W. Marx, „Dramentheorie“, in: Ders. (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, ­A nalyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 1–11, hier S. 1 [Hervorh. original]. 16 | Bernhard Jahn, Grundkurs Drama, Stuttgart 2009, S. 10. 17 | Vgl. Birte Giesler, „(Bio-)Politiken der Reproduktion im zeitgenössischen ‚Biowissenschaftsdrama‘: Felicia Zellers Reproduktionsmedizin-Groteske Wunsch und

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Technifizierung (in) einer für das einzelne subjektive Individuum letztlich nicht mehr durchschaubaren Welt ein zentraler Aufhänger im Werk von Friedrich Dürrenmatt, dem neben Brecht wohl einflussreichsten deutschsprachigen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, überrascht es kaum, dass ‚Biowissenschaftsdramen‘ auch von Dürrenmatts Dramaturgie nachhaltig beeinflusst sind. Ganz anders als der durchaus fortschrittsoptimistische Brecht, der Wissenschaft und Kunst verbindet und sein „Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters“ bekanntlich von den gesellschaftlichen Umständen her und als ästhetisches Instrument zu deren Veränderung entwirft,18 stellt Dürrenmatt die zeitgenössische Wissenschaft der Kunst gegenüber und schreibt sie dem ökonomisch korrumpierten „technologischen Zeitalter“ zu.19 Dabei verzichtet er auf jegliche Ideologie und schreibt vom Individuum aus, das er einer zunehmend technisierten, bürokratisierten und immer undurchsichtiger und paradoxer werdenden Lebenswelt unwissend und hilflos gegenüberstellt.20 Unter solchen Bedingungen gebe es – so Dürrenmatt in seinem berühmten Essay Theaterprobleme – keine ethische Option zu individueller Verantwortung mehr und folglich auf ästhetischer Ebene auch keine Möglichkeit mehr zur Tragödie: Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. [...] Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund [...].21

Zentrale Gestaltungsmerkmale, die sich im ‚Biowissenschaftsdrama‘ wiederfinden lassen, sind daher die spielerische Vermischung der Formen sowie die D ­ ominanz

­Wunder“, in: Corinna Onnen und Susanne Rode-Breymann (Hg.), Wiederherstellen – Unterbrechen – Verändern? Politiken der (Re)Produktion, Opladen/Berlin/Toronto 2018, S. 49–69, hier S. 57. 18 | Bertolt Brecht, „Kleines Organon für das Theater“, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Bd. 23: Schriften 3, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 65–97, hier S. 65f. Vgl. dazu Klaus-Detlef Müller, „Das alte Neue: Brechts ‚Theater des wissenschaftlichen Zeitalters‘“, in: Carsten Dutt, Roman Luckscheiter (Hg.), ­Figurationen der literarischen Moderne, Heidelberg 2007, S. 261–275. 19 | Vgl. Jan Knopf, Friedrich Dürrenmatt, München 41988, S. 89. 20 | Vgl. Gunter E. Grimm, Friedrich Dürrenmatt, Marburg 2013, S. 81. 21 | Friedrich Dürrenmatt, „Theaterprobleme“, in: Theater. Essays, Gedichte und R ­ eden, Zürich 1980, S. 31–72, hier S. 62f.

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komischer und grotesker Strukturen. „Uns kommt nur noch die ­Komödie bei“, lautet Dürrenmatts berühmte dramaturgische Konsequenz.22

Felicia Zeller/Marcus Lobbes: Wunsch und Wunder Wie die meisten ‚Biowissenschaftsdramen‘ entsteht auch Felicia Zellers Theaterstück Wunsch und Wunder als Auftragsarbeit in Reaktion auf ein aufsehenerregendes Ereignis bezüglich der Biomedizin. Im März 2014 hält die Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff in der angesehenen Reihe der Dresdner Reden einen Vortrag und bezeichnet darin reproduktionsmedizinisch assistiert gezeugte Kinder als „Halbwesen“.23 Im Zuge des folgenden Medienrummels erteilt das Saarländische Staatstheater der Berliner Dramatikerin Felicia Zeller den Auftrag, für die Spielzeit 2014/15 ein Theaterstück über Reproduktionsmedizin zu schreiben.24 Teilweise als ‚work in progress‘ mit dem Regisseur Marcus Lobbes erarbeitet Zeller daraufhin Wunsch und Wunder, das am 16.01.2015 in Saarbrücken uraufgeführt und im Mai desselben Jahres bei den Mülheimer Theatertagen für den Dramatikerpreis nominiert wird.25 Wunsch und Wunder spielt direkt in einer Fertilisationsklinik. Indem diese auch der einzige dramatische Handlungsort ist, ergibt sich schon über die dramatische Einheit des Ortes innerhalb einer Klinik ein Bezug auf Dürrenmatts Die Physiker. Zeichnet sich Felicia Zellers Werk allgemein durch eine auffällige Sprachakrobatik aus, zeigt sich diese Freude am Sprachspie(ge)l in Wunsch und Wunder schon an den sprechenden Namensgebungen. So trägt der Ort des Geschehens den spiegelbildlichen Namen „Kinderwunschpraxis Praxiswunsch“ und verweist damit bereits auf zwei sprach- und subjekttheoretische Implikationen von Inhalt und Form des Dramas: Erstens fällt der exzessive Gebrauch des Wortes ‚Praxis‘ ins Auge, wobei der Begriff ja das sozialwissenschaftliche Pendant zum kulturwissenschaftlichen Begriff „Performativität“ ist.26 Zweitens ist das ganze Drama

22 | Ebd., S. 62. 23 | Sibylle Lewitscharoff, „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod. Dresdner Reden 2014, 2. März 2014“, S. 12, unter: http://www. staatsschauspiel-dresden.de/download/8742/dresdner_rede_sibylle_lewitscharoff.pdf [15.05.2019]. 24 | Vgl. Kerstin Krämer, „‚Ich, ich, ich‘ lautet die Devise“, in: Saarbrücker Zeitung, 15.07.2014, unter: https://www.genios.de/ document/_0714160668 [25.02.2020]. 25 | Tobias Kessler, „Wenn der Satz ausbüxt. Felicia Zeller und ihr Stück ‚Wunsch und Wunder‘ – Uraufführung in Saarbrücken“, in: Saarbrücker Zeitung, 08.01.2015, S. B4. 26 | Vgl. den Sammelband von Jens Kertscher und Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München 2003.

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thematisch und strukturell durch Spiegelungen geprägt. Die groteske Handlung sei kurz skizziert: Dr. med. Bernd Flause ist Reproduktionsmediziner und Gründer der „Kinderwunschpraxis Praxiswunsch“, die er zusammen mit seiner Mitgesellschafterin Dr. med. Betty Bauer führt. Laut Figureneinführung im Nebentext hat Flause als Pionier der deutschen Fortpflanzungsmedizin „in den letzten dreißig Jahren mehr als 70.000 Kinder durch künstliche Befruchtung gezeugt“.27 Weil er dabei sein eigenes Sperma verwendete, fürchtet er nun die um das Recht auf Kenntnis der genetischen Herkunft kämpfenden ‚Spenderkinder‘.28 Währenddessen versucht Flauses deutlich jüngere Mitgesellschafterin „per One-Night-Stand schwanger zu werden“ und dies als medizinische Selbstversuche mit ihren Forschungsarbeiten über den biochemischen Zusammenhang zwischen Partnerwahl und Geruchssinn zu verbinden (WuW 4/2).29 In Wunsch und Wunder wird die Arzthelferin ungewollt schwanger, so dass die Klinik eine Vertretung sucht, als Katja von Teich ins Spiel kommt. Vor 32 Jahren in Flauses Klinik gezeugt, bewirbt sie sich unter falschem Namen, um etwas über ihren genetischen Vater zu erfahren. Zu diesem Zeitpunkt ahnt das Publikum schon fast, was sich zu grotesker Letzt bestätigt: Flause ist Katja von Teichs Vater. Angesichts der Auskunft ihres genetischen Vaters, sie habe 307 Halbgeschwister, verfällt die ‚frischgebackene‘ Tochter in (auch drucktechnisch abgebildete) Reimverse, was – zumal Dürrenmatt in einem seiner letzten Interviews erwägt, heute wären ‚seine‘ Physiker wohl eher Gentechniker30 – als Anspielung auf Dürrenmatts Überlegungen zur „Wurstelei unseres Jahrhunderts“31 und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit ästhetischer Mischformen gelesen werden kann:

27 | Vgl. Felicia Zeller, Wunsch und Wunder, dreispaltiger Stückabdruck als Insert in: Theater heute 3, 2015, S. 4/1. Im Folgenden wird das Drama im fortlaufenden Text mit der Sigle „WuW“ plus Seiten- und Spaltenzahl zitiert. 28 | Derartige Fälle kommen tatsächlich immer wieder ans Licht. Vgl. die dpa-Meldung vom 25.05.2017: „Reproduktionsmediziner soll eigenes Sperma verwendet haben“, unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/75933/Reproduktionsmediziner-soll-eige nes-Sperma-verwendet-haben [01.06.2019]. 29 | Die Berichte über Betty Bauers Experiment sind stark verzerrte, aber teilweise wörtlich zitierende Anspielungen auf tatsächliche aktuelle humanmedizinische Forschungen an der TU Dresden. Vgl. Jana Rebecca Kromer, Einfluss von HLA-Allelen auf Körpergeruch und Partnerschaft, Diss. masch. Universität Dresden 2015. 30 | Vgl. Friedrich Dürrenmatt, Dramaturgie des Denkens. Gespräche 1988–1990, Zürich 1996, S. 10. 31 | Dürrenmatt, „Theaterprobleme“, 1980, S. 62.

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Birte Giesler Eine Komödie liegt auf der Hand/so viele Menschen sind miteinander verwandt/wissen es aber hoppla du auch? Stoff für eine Komödie, aber auch für einen Horrorfilm. (WuW 14/2)

Obwohl die Figur der Katja in Hinblick auf den Textumfang am wenigsten spricht, ist sie eine wichtige Gegenspielerin für den in jeder Hinsicht dominanten Chefarzt Bernd Flause. So rückt die handlungstreibende Auseinandersetzung zwischen Tochter und Vater Wunsch und Wunder in die Nähe des Antigone-Stoffs, wo Dürrenmatt zufolge mittlerweile „Kreons Sekretäre [Gentechniker, Anm. d. Verf.] den Fall Antigone [erledigen]“.32 Zu den bisher beschriebenen Charakteren kommen eine ganze Reihe von Patient*innen als backstage characters hinzu. Über sie wird in der Klinik zwar gesprochen, sie treten aber nicht selbst auf der Bühne auf. Die medizinischen Probleme dieser in der Wortkulisse sprachlich-performativ hervorgebrachten Charaktere und die mit ihnen verhandelten fruchtbarkeitsmedizinischen Behandlungsmethoden sind aber eminent handlungsbestimmend für den dramatischen Spannungsbogen. Aufwändig direkt in der Reproduktionsmedizinbranche recherchiert, thematisiert Wunsch und Wunder zahlreiche einschlägige Technologien von sozialer und ethischer Relevanz. Während allerdings die meisten medizinischen Aspekte in Zellers rasantem Sprachstil nur angeschnitten werden, erhält eine besonders prekäre reproduktionsmedizinische Maßnahme herausragende Bedeutung: Über den backstage character „Frau Linde“ wird das außerhalb des Theaterraums weitgehend tabuisierte und medizinethisch hochbrisante Thema des selektiven Fetozids zur gezielten Reduktion von unbeabsichtigt erzeugten Mehrlingsschwangerschaften auf die Theaterbühne geholt.33 An dieser Stelle – Szene „24 Frau Linde/Reduktion“ (WuW 12/3) – verkehrt sich die Fertilisationsmedizin quasi in ihr Gegenteil. Der Handlungsverlauf folgt Dürrenmatts Dramaturgie der Panne und „schlimmstmögliche[n] Wendung“.34 Die dramaturgische Bedeutung der Szene wird durch den Umstand unterstrichen, dass sie die einzige im ganzen Stück ist, die klassische Regieanweisungen aufweist und mit diesen auch noch eine zusätzliche theatrale Dimension eröffnet, denn Chefarzt Flause

32 | Ebd., S. 60. Auch in anderen ‚Biowissenschaftsdramen‘ begehren vor allem Frauenfiguren als Schwestern und Töchter gegen Biopolitik und Biomacht auf. Auch über den so entstehenden Bezug zwischen Biomedizin-Motiv und Antigone-Stoff stellt sich der Dramentyp selbst in die Tradition des politischen Dramas. 33 | Zum Fetozid als einer der „ethisch am schwierigsten zu bewertenden medizinischen Eingriffe[]“ vgl. Tewes Wischmann, Einführung Reproduktionsmedizin. Medizinische Grundlagen – Psychosomatik – Psychosoziale Aspekte, München/Basel 2012, S. 110. 34 | Vgl. Friedrich Dürrenmatt, „21 Punkte zu den Physikern“, in: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten, Zürich 1985, S. 91.

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braucht für „einen so riskanten Eingriff [...] Musik“ (WuW 13/1, Hervorh. original). Durch das Hinzukommen von Musik als Theatermittel verweist die Szene nicht nur zurück auf die dramatische Ur-Gattung der Tragödie, sondern signalisiert auch mit aisthetischen Mitteln, dass das Geschehen das mit Worten Sagbare übersteigt. Indem Lobbes’ Saarländische Ur-Inszenierung als „Lieblingsmusik unseres Herrn Doktor“ (WuW 13/1) ausgerechnet den Karnevalsschlager Der Eiermann einsetzt, wird das Groteske auf die Spitze getrieben.35 Dass dabei paradoxerweise gerade den betroffenen Subjekten der Auftritt auf der Bühne verwehrt bleibt, spiegelt die außerhalb des Theaters soziologisch messbare Tendenz zur Marginalisierung der Perspektive der medizinisch betroffenen Klient*innen. Dabei wird im prinzipiell paternalistischen Machtgefälle in der Fertilisationsmedizin nicht nur „der falsche Eindruck erzeugt, beide Geschlechter seien in vergleichbarer Weise und Intensität von den fortpflanzungsmedizinischen Eingriffen betroffen“.36 Vielmehr wird die Frau als Subjekt tendenziell zum Verschwinden gebracht.37 Über die sprachlich verschachtelte Figurenkonstellation, die bestimmte Perspektiven gezielt ausspart, erweist sich Wunsch und Wunder nicht nur als technikkritisches, sondern auch als eminent (geschlechter-)politisches Drama, denn „[d]ie Künste modellieren das Politische mit, indem sie hervorheben oder weglassen“.38

Theatrale Technikkritik als patriarchatskritische Subjektperspektive Wunsch und Wunder hat außer der Regieanweisung zur Verwendung von Musik nur noch zwei weitere Regiebemerkungen, die beide dem Haupttext vorangestellt sind. Die eine macht Angaben zur ästhetische Form und thematischen Inhalt in-

35 | Mein verbindlicher Dank gilt dem Saarländischen Staatstheater für die Einsicht in den Premieren-Mitschnitt zur wissenschaftlichen Auswertung. 36 | Eva Pelkner, Gott, Gene, Gebärmütter. Anthropologie und Frauenbild in der evangelischen Ethik zur Fortpflanzungsmedizin, Gütersloh 2001, S. 78. 37 | Zum geschlechtlich codierten Paternalismus im Verhältnis zwischen ärztlich Handelnden und reproduktionsmedizinischen Behandlungen in Anspruch nehmenden Personen vgl. Charlotte Ullrich, Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis, Bielefeld 2012, S. 69–74. 38 | Wolfgang Braungart, Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012, S. 31 [Hervorh. d. Verf.]. Vgl. dazu speziell zum Theater HansThies Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann“, in: Ders. (Hg.), Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2 2012, S. 17–21.

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einander spiegelnden dramatischen Sprache.39 Die andere – nach Auskunft ­Zellers „die eigentliche Regieanweisung für das Stück“40 – betrifft Handlungsort und Bühnenbild: KINDERWUNSCHPRAXIS PRAXISWUNSCH Die gesamte Praxis scheint nur aus Nebenzimmern zu bestehen, von jedem Zimmer aus führt eine Tür in ein Nebenzimmer, von dem aus eine Tür in ein Nebenzimmer, von dem aus eine Tür in ein Nebenzimmer. (WuW 4)

Diese Regieanweisung steht noch vor der Figureneinführung und verleiht dem Drama somit gleich zu Anfang eine paradoxe räumliche Dimension, indem ein theatraler Raum eröffnet wird, in welchem das Zentrum, der eigentliche Raum, fehlt. Die Ur-Inszenierung setzt dies in Form einer durch Wände mit Schwingtüren in Sektoren geteilte, sich fortwährend drehende, leere Drehbühne um. Rotiert hier das Sprechen und Agieren in der fiktionalen Klinik tatsächlich wie in einer horizontalen Mühle, lässt sich das Bühnenbild als konkretistischen Verweis auf die ‚Klapsmühle‘ in Dürrenmatts Die Physiker deuten. Dabei dreht sich die Mühle hier um ein leeres Zentrum, einen nicht bespielten Hohlraum mit Türen zum Auf- und Abgang der Schauspieler*innen, was die Bühnentechnik selbst zu einer technik- und subjektkritischen architektonischen Metapher macht. Wunsch und Wunder stellt die Bedeutung und Verantwortung des Individuums in den Fokus. Wiederholt spielen die Figuren auf die ethikbezogene philosophische Grundfrage an: „Frau Doktor Bauer/was sollst du tun!“ (WuW 11/1) und „gerade in solch schwierigen Situationen rufe ich was soll ich tun!“ (WuW 12/3). Deutet schon die grammatikalisch groteske Kombination von interrogativem Satzbau und Ausrufezeichen auf die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem richtigen Handeln angesichts unüberschaubarer Folgen, wird das Handeln der Figuren im grotesken Geschehen vollends als technikverliebte egozentrische Machbarkeitsphantasie ad absurdum geführt. Weil sich dabei inhaltlich alles um den (Kinder) Wunsch – die ‚Leerstelle Kind‘ – dreht, lässt sich der paradoxe raumlose theatrale Raum, folgt man Jacques Lacans Subjekttheorie, auch als Kritik am Konzept vom modernen Subjekt deuten, denn Lacan zufolge ist das Begehren die Quelle des

39 | „EINGRIFFE IN DEN TEXTKÖRPER. In diesem Textkörper wurden durch künstliche Eingriffe Sätze vereint, zusammengebastelt, miteinander verschmolzen. Oft wächst aus einem abgebrochenen Satz ein anderer heraus und beendet ihn. Ob Anfang- oder Endsatz, keiner hat mehr Gewicht.“ (WuW 4) 40 | „Theorie und Praxis in Theorie und Praxis. Wunsch und Wunder. Interview mit Felicia Zeller“, unter: http://zeller.felicia-zeller.de/theorie-und-praxis-in-theorie-und-praxis/ wunsch-und-wunder-2015/ [02.06.2019].

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Subjekts.41 Schon der Titel signalisiert, dass sich das ganze Drama um das ‚Andere‘ des modernen Subjekts dreht, so dass der zentrumslose Handlungsort auch als Bild für das von inneren verdrängten Kräften getriebene dezentrierte, kernlose Vernunftsubjekt steht: ‚Wunsch‘ deutet auf die animalisch-vegetative Seite der menschlichen Existenz mit Trieben, Begehren, Affekten und Träumen hin, während ‚Wunder‘ auf die der Vernunft entgegengesetzte Sphäre von Phantasie, nicht Erklärbarem, Spiritualität und Transzendenz verweist. Zu diesem ‚Anderen‘ des Subjekts gehört, wie die interdisziplinäre Forschung hinlänglich gezeigt hat, auch das Weibliche.42 In seinem reproduktionsmedizinischen Kontext lässt sich der ‚entkernte‘ dramatische Ort so auch als Abbild einer entkernten Eizelle interpretieren. Nach Eva Pelkner ist dies die „perfekte Metapher für die alte und neue Rolle des Weiblichen in der Biologie des nächsten Jahrtausends“, lässt sich „die Vorstellung von der Frau als passives Gefäß männlich-göttlicher Lebenszeugung“ doch bis an die Anfänge der abendländischen Philosophie zurückverfolgen.43 In Zellers und Lobbes’ theatralem Spiel mit der aktuellen Fertilisationstechnik erweist sich das Theater – zwischen mimetischem Bezug und autopoietischer Theater-Technik – einmal mehr als überzeitliches Medium zur kritischen Reflexion von Subjektkonstitutionen.44

41 | Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2007, S. 52f. 42 | Aus philosophisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive hierzu immer noch grundlegend: Hartmut Böhme und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983, S. 20–23, 483–495. 43 | Pelkner, Gott, Gene, Gebärmütter, 2001, S. 80f. 44 | Vgl. den Band von Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl und Dorothea Volz (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012.

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Kollektiverlebnis und Bühnentechnik Eine wenig bekannte Veröffentlichung zur Theatertechnik von Franz Jung aus dem Jahr 1935 Klemens Gruber Theatertechnik als „Technik des Glücks“ im Angesicht der kommenden zivilisatorischen Katastrophe – und konspirative Tätigkeit in der Widerstandsgruppe „Rote Kämpfer“, die 1936 von der Gestapo zerschlagen wird: Franz Jung ist für die deutsche Theaterwissenschaft ein reichlich Unbekannter geblieben. Dabei gibt es eine Reihe von Berührungspunkten mit dem, was Theater ausmacht: vehemente Versuche, Episoden manchmal, Husarenstücke, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, einige Dramen, Theaterarbeit an einer vorgeschobenen Experimentalstation des Theaters der Weimarer Republik, Herausgebertätigkeit, Autobiographisches, ein Nachleben auch am Theater selbst, all dies unter dem Aszendenten existentieller Radikalität.

Franz Jung war allerhand Deutscher Expressionist, in München Kontakte zu den anarchistischen Kreisen um Kurt Eisner, Erich Mühsam und Gustav Landauer, die dann in der Münchner Räterepublik eine entscheidende Rolle spielen sollten; Berliner Dadaist, internationalistischer Kommunist, Spartakist, kurz in der Partei von Rosa Luxemburg, wird aus der jungen KPD wegen Linksabweichung ausgeschlossen, gründet 1920 die KAPD, die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands und entführt in Cuxhaven ein Schiff nach Murmansk, um nach Sowjetrussland zu gelangen, Gerüchten zufolge gedacht als Geschenk zu Lenins 50. Geburtstag. Ein Mann der Politik, der Revolution. Schon 1912 war sein unerhörtes Trottelbuch erschienen, bis 1931 weitere 27 Bücher, sechs allein über Russland, ein halbes Dutzend im berühmten Malik Verlag, dazu hundert Artikel, viele in selbstgegründeten Zeitschriften wie Die freie Straße, Der Rote Aufbau, Gegner und andere mehr. Ein Mann der Literatur, des geschriebenen Wortes. Geboren in den späten 1880er Jahren, hatte Jung Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft studiert; seine ökonomischen Kenntnisse sind die Konstante in

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einem unsteten Leben, sei es als Revolutionär, als Börsenspekulant, sei es beim Aufbau einer Zündholzfabrik im nachrevolutionären Russland oder als Wirtschaftspublizist – wir sind darauf angewiesen, uns in einem Gestrüpp von Berichten und Mutmaßungen zurechtzufinden.1 1936 wird Jung verhaftet, kommt nach wenigen Monaten frei, arbeitet während des Zweiten Weltkriegs im Exil in Prag, Wien und Budapest für die Grünen Berichte der Sozialdemokraten. Schließlich Flucht nach Italien, wo Jung aus dem KZ Bozen von den Amerikanern befreit wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelingt es ihm, als Wirtschaftsexperte in die USA zu übersiedeln, er schreibt Analysen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Anfang der 1960er Jahre kehrt Jung nach Europa zurück, trifft in Paris die alten Dadaisten, Hans Richter, Raoul Hausmann, Man Ray und die anderen, arbeitet gelegentlich für den Rundfunk in Deutschland, etwa über den Psychoanalytiker der Sex-Pol-Bewegung Wilhelm Reich oder die Albigenser2 und gibt die Werke des Biosophen Ernst Fuhrmann heraus.3 Wie sehr Franz Jung selbst eine Figur auf der Bühne der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, kann man in seiner atemberaubenden Autobiographie Der Weg nach unten erfahren, die 1963 kurz vor seinem Tod bei Luchterhand erschienen ist.4

Bewandert in Abenteuern und Statistiken Zu Erwin Piscator war Jung schon 1921 gestoßen, als der seine beiden nach dem Handstreich der Schiffsentführung im Gefängnis geschriebenen Stücke Wie lange noch?, das eigentlich Wie lange noch, du Hure Bürgerliche Gerechtigkeit? hieß, und Die Kanaker im ‚Proletarischen Theater‘, der „Bühne der revolutionären Arbeiter Gross-Berlins“, im Arbeiter-Bildungsverein ‚Kröllwitz‘ als dramatische Revolutionsaufrufe auf die Bühne brachte. Dann erneut 1927, als Piscator Jung

1 | Und folgen, wie schon zuvor, Michael Rohrwasser, „Aus dem Leben eines Taugenichts. Franz Jung als oberschlesischer Autor“, in: Die Aktion, Heft 186/190, Anfang März 1999, S. 52–76, hier S. 54ff., sowie Fritz Mierau, „Leben und Schriften des Franz Jung“, in: Lutz Schulenburg (Hg.), Hommage à Franz Jung. Der Torpedokäfer, ­H amburg 1988, S. 133–186. 2 | Jetzt als Revolte gegen die Lebensangst. Anmerkungen zu einer Studie über die parasitäre Lebenshaltung. Die Albigenser, Berlin 1983. 3 | Franz Jung, „Nachwort“, in: Ernst Fuhrmann, Grundformen des Lebens. BiologischPhilosophische Schriften, Heidelberg 1962, S. 145–159. 4 | Franz Jung, Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit, Neuwied/ Berlin 1961; dann 1972 als Der Torpedokäfer in der Sammlung Luchterhand; jetzt in: Franz Jung, Werke, Bd. 9/2, Hamburg 1997.

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aufgefordert hatte, ihm Stücke zu schreiben und als Dramaturg mit ihm zu arbeiten.5 Im selben Jahr 1927 publiziert Jung an mehreren Orten zu Fragen des gegenwärtigen Theaters.6 Sein Stück Legende inszeniert Josef Gielen ebenfalls 1927 mit großem Erfolg am Staatsschauspiel Dresden. Ein Mann des Schauspiels, des Theaters? Die Aufführung von Heimweh im Piscator-Studio im Januar 1928 handelt Jung in seiner Autobiographie als veritable Katastrophe ab: „Es war das Ende meiner Laufbahn als Theaterschriftsteller. Kein Bühnenvertrieb, keine Bühne hätte auch nur eine Zeile von mir angenommen.“7 Das Stück hatte er in einem Zug ‚runtergeschrieben‘, man sieht das am Manuskript, das im Jung-Archiv in der Berliner Akademie der Künste liegt: keine Unsicherheiten im Aufbau, keinerlei Korrekturen, „Jung macht keine Korrekturen“, bestätigt Michael Rohrwasser.8 Und Jung baut keine Handlung. Er schreibt in Atmosphären. Es geht ihm um den Rhythmus von Heimweh zwischen einer Hafenkneipe in Rotterdam und einem Verschlag auf der nächstgelegenen Südseeinsel. Heimweh war ein Stück sehr „theatralischen Theaters“, schreibt John Willett; „Es wird auch zu nichts aufgerufen“, Jung selbst.9 Piscator aber war mit seinen Leuten in der Probe aufgetaucht und hatte allerlei Exzentrisches gestrichen, worauf Jung die Probenarbeit verlässt. Die zeitgenössische Theaterkritik mäkelt nach der Uraufführung an dem Stück herum und an der Inszenierung, an der Besetzung mit chinesischen Schauspielern, Statisten der Berliner Filmindustrie. Gelten lässt man die Bühne von John Heartfield und Hans Eislers Musik.10

5 | Einen Überblick über das dramatische Werk gibt Walter Fähnders, „Franz Jung (1888–1963)“, in: Alo Allkemper und Norbert Otto Eke (Hg.), Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 173–183. Vgl. auch Franz Loquai, „Politik auf der Bühne. Zum Verhältnis von politischem Bewußtsein und literarischer Tätigkeit bei Franz Jung“, in: Ernst Schürer (Hg.), Franz Jung. Leben und Werk eines Rebellen, New York 1994, S. 205–244. 6 | „Theater-Probleme der Gegenwart“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 30.03.1927; „Zurück zum Theater“, in: Die Literarische Welt, 15.07.1927, beide wiederabgedruckt in: Wolfgang Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, Frankfurt a. M. 1977, S.270f.; und jetzt in: Franz Jung, Werke, Bd. 1/1: Feinde Ringsum. Prosa und Aufsätze 1912 bis 1963, S. 287–291. 7 | Jung, Der Weg nach unten, 1961, S. 321. 8 | Vgl. auch Arnold Imhof, Franz Jung. Leben Werk Wirkung, Bonn 1974, S. 106. 9 | Ebd., S. 329; John Willett, Piscator. Die Eröffnung des politischen Zeitalters auf dem Theater, Frankfurt a. M. 1982, S. 40. 10 | Vgl. Herbert Ihering, „Theater als Organisation und Weckruf“ (1928), in: Wolfgang Storch (Hg.), Franz Jung, Werke Bd. 7: Wie lange noch? Theaterstücke, Hamburg 1989,

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Im Winter 1929 arbeitet Jung noch einmal als Dramaturg bei Piscator am ­‚Wallner-Theater‘ an der Weidendammer Brücke. Und 1931 ist er an der Finanzierung der legendären Opernaufführungen Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Brecht und Weill beteiligt.11

Deutschland 1935 Dem Rätekommunisten Jung gelingt es in Deutschland noch 1935, einen Aufsatz über die „gemeinschaftsbildende Kraft“ der Theatertechnik12 unter eigenem Namen zu publizieren. „Die neue Bühnentechnik und ihr Einfluss auf das Schauspiel der Zukunft“, seine einzige größere Veröffentlichung zwischen 1932 und 1952, erscheint in der Reihe Die Welt im Fortschritt. Gemeinverständliche Bücher des Wissens und Forschens der Gegenwart. Der ersten Reihe zweites Buch.13 Darin liefert Jung einen Crashkurs in Geschichte der Theatertechnik mit instruktiven Illustrationen, einfachen Strichzeichnungen wie in einem Bilderduden, sowie Fotos von zeitgenössischen Bühnen samt dahinterliegender Technik, die eine bemerkenswerte Nähe zu den radikalen Theaterexperimenten der Weimarer Republik belegen. Dass er den populärwissenschaftlichen Ansprüchen der Welt im Fortschritt auf 44 Seiten leichtfüßig und doch sehr strategisch Genüge tut, überrascht nicht.14 Mit derselben lakonischen Präzision wie in anderen seiner Bücher auch15 gibt Jung

S. 779f; dort auch die treffliche Formel „Bewandert in Abenteuern und Statistiken“, auf die Michael Rohrwasser hinweist. 11 | Jung, Der Weg nach unten, 1961, S. 349. 12 | Vgl. Wolfgang Rieger, Glückstechnik und Lebensnot. Leben und Werk Franz Jungs, Freiburg 1987, S. 168ff. 13 | In: Die Welt als Fortschritt, Reihe 1, Buch 2, Berlin: F. A. Herbig 1935, S. 128–175; jetzt in: Jung, Werke 7, 1989, S. 709–760. Ende Mai 1935 erst hatte Jung den Vertrag mit der Verlagsbuchhandlung  Herbig über die Lieferung eines Beitrags zur Bühnentechnik geschlossen; er ist im Jung-Archiv in der Berliner Akademie der Künste erhalten. 14 | Vgl. auch die Ankündigung von Jungs Text als einen von zwei „kulturwissenschaftlichen Beiträgen“ für diese „Serie wissenschaftlicher Volksbücher“ in: Völkischer Beobachter, 29.12.1935. 15 | Etwa in Das geistige Rußland von heute, erschienen bei Ullstein 1924 in der Reihe „Wege zum Wissen“; im Kapitel „Die neue Literaturbewegung“ zeichnet Jung auf wenigen Seiten ein präzises Bild von Majakowski und Viktor Schklowski; im Kapitel „Theater und Kino“ gibt er prägnante Hinweise auf das „Das schöpferische Theater“ von Kerschenzew, die „Biomechanik Meyerholds“ und die Moskauer Kammerspiele Tairows – Bestrebungen, die Jung 1924 bereits als „mumifiziert“ ansieht.

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hier einen umfassenden Überblick über Bühnentechnik als Mittel des Theaters, „dem dramatischen Gehalt [...] eine stärkere Durchschlagskraft auf den Zuschauer zu verleihen“.16 Nach einem Parforceritt durch die Bühnengeschichte unter dem Aspekt der Raumdarstellung ist er sehr schnell bei den heutigen technischen Möglichkeiten, „die Bühnenwirklichkeit zu intensivieren“17. Im Zentrum dieser Übersicht vom Podium zur Guckkastenbühne und weiter zur Drehbühne steht der Drang „zu einer größeren Beweglichkeit in der Raumbeherrschung“.18 Als „zur Zeit modernste Bühne in Deutschland“ nennt Jung die Doppelstockbühne von Adolf Linnebach für das Nationaltheater in München samt ihrer technischen Spezifikationen mit der Nutzhöhe der unteren Drehscheibe von 8 Metern und der Möglichkeit zehn bis zwölf Szenen auf beiden Scheiben einzubauen. Er erwähnt die bühnentechnischen Neuerungen des Stadttheaters Hamburg und der Berliner Staatsoper. Die Tafeln zeigen Fotografien bühnentechnischer Apparate, die aus den zwei Bänden Kranichs zur Theatertechnik stammen könnten.19 Kenntnisreich stellt er die Lichtmaschine als wesentlichen Bestandteil der modernen Bühnenmaschinerie dar, detailliert die neuen Lampen, etwa eine „tragbare BlitzProjektionslampe mit wechselnden Blitzbildern“ für „Zickzack-Blitze“.20 Zugleich durchziehen historisch ausgreifende Bögen den ganzen Text. Als Gegenbewegung „während des ersten großen Vorstoßes der maschinellen Bühnentechnik um die Jahrhundertwende“21 führt Jung etwa „Regisseure wie Stanislavski, Dulin und Pitoeff “ an, die mit ihrem bühnentechnischen Minimalismus „außerordentliche Wirkungen erzielten“22. Dem Futuristen Marinetti, „Präsident der italienischen Akademie“, attestiert Jung einen „Konservativismus für das Theater“, das bei ihm „in der Gestaltung des dichterischen Wortes, und zwar des Wortes allein“ verankert sei.23 Im Abschnitt über „Die Auflösung der Spielfläche“ spricht er zuletzt – wie schon eingangs – über die „kultischen Aufgaben des Theaters“, zeigt als Illustration eine „Skizze nach dem Modell der Freilichtbühne im Reichssportfeld Berlin, die zur Eröffnung der Olympiade 1936 fertiggestellt sein wird“, und insistiert,

16 | Jung, „Die neue Bühnentechnik“, 1935, S. 134. 17 | Ebd., S. 133. 18 | Ebd., S. 136. 19 | Vgl. Friedrich Kranich, Bühnentechnik der Gegenwart, München/Berlin 1929/1933. Zudem hat Jörg Müller-Dehn vom Antiquariat Bück in Berlin darauf hingewiesen, dass einige Abbildungen die Nähe zu Piscators Das Politische Theater, Berlin 1929, ­u nverhohlen zum Ausdruck bringen, auch wenn sie als „Werkfotos“ bezeichnet sind. 20 | Jung, „Die neue Bühnentechnik“, 1935, S. 145–146f. 21 | Ebd., S. 140. 22 | Ebd. 23 | Ebd.

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noch ganz wie bei Piscator/Gropius, dass die Spielfläche „über den eigentlichen Theaterbau hinaus“ reichen wird.24 Abb. 1

Quelle: Franz Jung, „Die neue Bühnentechnik und ihr Einfluss auf das Schauspiel der Zukunft“, in: Die Welt im Fortschritt, Berlin 1935, S. 152.

Sogleich bringt er dagegen im nächsten Abschnitt das „Maschinentheater“ in Stellung, das „als technische Spielerei erscheinen“ mag. Doch der Bühnentechniker, entgegnet Jung, „steht dem dramatischen Dichter näher als man gemeinhin annehmen will.“ Darin klingt dasselbe seismographische Gespür für die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Theater an, die Walter Benjamin zur gleichen Zeit am epischen Theater in berühmt gewordenen Sätzen feststellt, deren erster lautet: „Worum es heute im Theater geht, läßt sich genauer mit Beziehung auf die Bühne

24 | Ebd., S. 152. Wie sehr taktische Überlegungen, Camouflage, für die Wahl dieser Abbildung eine Rolle spielten, sei dahingestellt. Mierau berichtet von Jungs Ratschlag an einen Mitarbeiter beim Gegner, der NSDAP beizutreten und die Führung in der biologischen Bewegung anzustreben, sowie von Jungs erfolglosem Versuch, selbst Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu werden. Vgl. Fritz Mierau, Das Verschwinden von Franz Jung. Stationen einer Biographie, Hamburg 1998, S. 243.

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als auf das Drama bestimmen.“25 Die elementaren Konstellationen am Theater verschieben sich auch für Jung. Als Dramatiker erwartet er einen Ausweg aus der „Krise der dramatischen Produktion“26 von Bühnenbau und Theatertechnik: „Und ein wirklich großer Fortschritt im Drama wird zu verzeichnen sein, wenn der Dichter zugleich auch Bühnentechniker und Bühnenkonstrukteur sein wird.“27 Weiters liefert Jung nicht nur eine „Übersicht über die einzelnen Theatermittel“,28 sondern über die künstlerische Organisation des heutigen Theaters: Er versucht die Positionen von Spielleiter, Regieassistenten, Dramaturgen und Inspizienten in Beziehung zur zeitgenössischen Theatertechnik neu zu bestimmen. Einen eigenen Abschnitt widmet er dem „Modell der Spiralbühne Adolf Mahnkes“, der das Bühnenbild für Legende in Dresden 1927 gemacht hatte, mit präzisen technischen Beschreibungen und dem Verweis auf Tafel 11. Was dort als „Spielflächenausschnitt einer Spiralbühne im Modell“ bezeichnet ist, weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit Gropius Entwürfen zum Totaltheater für Piscator auf. Projektion und Film sind schon selbstverständliche technische Gegebenheiten, die Bildprojektion hat sich durchgesetzt, „Projektionshorizonte und Schleier werden die Verwendung gemalter Prospekte erübrigen“,29 und „der Film stellt sozusagen die Wandelkulisse dar.“30 Jung prognostiziert sogleich: „Es ist aber nur noch eine Frage der Zeit, daß künftighin der Theaterfundus aus einer Sammlung von Projektions-Standbildern und Filmstreifen [...] im wesentlichen bestehen wird.“31 Und er notiert zum Kolumnentitel Film, Funk und Fernsehen auf der ­Bühne ­lapidar, dass sie „dem Theater verwandt und eigentlich bisher nur von dem­

25 | Walter Benjamin, „Was ist das epische Theater?“ (1. Fassung 1931), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, Frankfurt a. M. 1977, S. 519. Im Übrigen gibt es bei beiden eine Prädisposition fürs Theater: „man ging fast täglich ins Theater“ heißt es vom Elternhaus Jungs bei Rohrwasser, „Aus dem Leben eines Taugenichts“, 1999, S. 57. Und Benjamin war bekanntlich seit seiner Jugend regelmäßiger Theaterbesucher. „Wir gingen in jede Inszenierung von Max Reinhardt im Deutschen Theater“, erinnert sich der Jugendfreund Herbert Belmore; zitiert nach Hans Puttnies und Gary Smith, Benjaminiana, Gießen 1991, S. 33. „Ich gehe jeden Tag ins Theater“ heißt es denn auch 1925 in „Revue oder Theater“; jetzt in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. IV. 2, Frankfurt a. M. 1972, S. 800. 26 | Jung, „Die neue Bühnentechnik“, 1935, S. 154. 27 | Ebd., S. 153f. 28 | Ebd., S. 134. 29 | Ebd., S. 141. 30 | Ebd., S. 143. 31 | Ebd.

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Klemens Gruber Abb. 2 und 3, oben: Spielflächenausschnitt einer Spiralbühne im Modell; unten: Javier Navarro Zuvillaga, 3D Animation von Gropius’ Totaltheater 2004.

Quelle: Franz Jung, „Die neue Bühnentechnik und ihr Einfluss auf das Schauspiel der Zukunft“, in: Die Welt im Fortschritt, Berlin 1935, Tafel 11; https://vimeo.com/59497126 [21.03.2020].

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Theater ferngehalten worden sind. Eine Abgrenzung im Ästhetischen besteht hierfür nicht.“32 Vor allem aber entwickelt Jung seine alte Konzeption der kollektiven Dynamik, des Gemeinschaftsgefühls auch für das Theater, nun als „­ Gemeinschaftserlebnis“ der Zuschauer herabgestimmt33 und bezogen auf die neuen Mittel der modernen Theatertechnik. Deren gezielter Einsatz „ermöglicht es, die Gemeinschaft der Zuschauer auch vom technischen Mittel her zusammenzuschweißen“.34

Atmosphäre, Rhythmus, Gemeinschaftsrausch Fritz Mierau hat in seiner biografischen Studie Das Verschwinden von Franz Jung als Herzstück all seiner Unternehmungen den „Gemeinschaftsrausch“ freigelegt und in den späten Jahren die radikale Auseinandersetzung mit den Untiefen des Gemeinschaftstaumels.35 In der revolutionären Welle, die von der Russischen Revolution ausgelöst ganz Europa durchläuft, hat Jung diese Intensität des Gemeinschaftsgefühls kennengelernt, sich von ihr tragen lassen, ihr aberwitzige Abenteuer abgerungen: Jung ließ „Spartakus“-Parolen auf Geldscheine drucken, organisierte die erste Schiffsentführung, wird nach seiner Rückkehr steckbrieflich gesucht und verbringt stückeschreibend fünf Monate im Gefängnis, woraus er schließlich durch die russische Staatsbürgerschaft befreit wird. Kommunistische Lebensweise. Dasselbe Gemeinschaftsgefühl, dieselbe Intensität, denselben „flow“ würde man heute sagen, sucht Jung beim Theater, und nachdem die Experimente mit seinen Stücken und bei Piscator gescheitert sind, schreibt er das Potential dazu immerhin noch der Bühnentechnik zu. Jung hatte vor seiner Theatererfahrung Bücher zur Lebensführung geschrieben. Die Technik des Glücks. Psychologische Anleitungen in vier Übungsfolgen erschien 1921 im Malik Verlag und Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! Ein Taschenbuch für Jedermann zwei Jahre später 1923, als Die Technik des Glücks. II. Teil. Wie immer geht es bei Jung um „die Frage nach dem Ablauf der menschlichen Beziehungen“, um „Das Warum der

32 | Ebd., S. 169. 33 | Man müsste hier den Verschiebungen in der Sprache, dem Ausfall des Begriffs Kollektiv und der Umdeutung von Gemeinschaft in Volksgemeinschaft nachgehen; vgl. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1975; Jean-Pierre Faye, Totalitäre Sprachen, Kritik der narrativen Vernunft, Kritik der narrativen Ökonomie, Frankfurt a. M. 1977; Utz Maas, Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen 1984. 34 | Jung, „Die neue Bühnentechnik“, 1935, S. 175. 35 | Mierau, Das Verschwinden von Franz Jung, 1998, S. 189ff; zuvor als „Heimwärts. Franz Jungs späte Jahre“, in: Sinn und Form 49/6, 1997.

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Konflikte“36, um die „Suche nach einer neuen tragfähigen Gemeinschaftsidee“,37 denn die Transformation der menschlichen Beziehungen überkreuzt sich für ihn entscheidend mit jener der Gesellschaft38. Die „Steigerung der Erlebnisfähigkeit“ weist Jung dem Raum des Theaters zu, das dem Zuschauer ein neues Gemeinschaftsgefühl verschaffen soll. Drei Grenzen sind dabei zu überschreiten: Erstens ist die Sprache der Literatur durch das „Kauderwelsch des täglichen Verkehrs“ zu ersetzen, das nur allgemein verständlich wird durch Flickworte voller Andeutungen, mit einem Übermaß an Gesten [...], voller Pausen und Verschiebungen im Tempo. Ein Mensch, der redet – trägt nicht vor. Wir sprechen alle untereinander mit einem zweiten Bewußtsein.39

Zweitens „keine psychologischen Individualisierungen, nicht Einzeltragik – alles kollektiv, alles Atmosphäre“.40 Und drittens nicht mehr „den Raum als eine seitlich gestülpte Kiste zu sehen, vor deren Öffnung als einzige Bewegung der Vorhang auf und ab gezogen wird. Jede Wahrheit wird uninteressant“.41 Atmosphäre und Rhythmus, „Rhythmus kollektiven Geschehens“42 , „Rhythmus der Form“43 sind die Schlüsselbegriffe, mit denen Jung immer wieder das Terrain des Theaters zu bestimmen versucht, Technik das Mittel zur „Umsetzung der inneren Mechanik

36 | Franz Jung, „Über meine literarischen Arbeiten“ (1929), in: Ders., Cläre Jung und Fritz Mierau (Hg.), Der tolle Nikolaus. Prosa, Briefe, Leipzig 1980, S. 233. 37 | Lutz Schulenburg, „Franz Jung. Eine realistische Legende“, in: Franz Jung, Das Trottelbuch, Hamburg 2013, S. 86. 38 | Vgl. manche Beiträge, vor allem die Texte von Jung selbst, in: Fritz und Sieglinde Mierau (Hg.), Almanach für Einzelgänger, Hamburg 2001. 39 | Franz Jung, „Vorbemerkung zu Legende“, in: Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, 1977, S. 272f. 40 | Franz Jung, Regiebemerkungen zu Annemarie, in: Werke 7, 1989, S. 199. 41 | Franz Jung, „Zur Einführung in Geschäfte“, in: Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, 1977, S. 272. 42 | Franz Jung, „Proletarische Erzählungskunst“, in: Jung, Werke, Bd. 1/1, 1981, S. 243. „Der Rhythmus erwächst aus der Gemeinschaft. Der Rhythmus ist die ­A ssoziationsform des Gemeinsamen“ heißt es schon in Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! Die ­Technik des Glücks II. Teil, Berlin 1923, jetzt in: Franz Jung, Werke, Bd. 6: Die Technik des Glücks, Hamburg 1987, S. 99. 43 | Franz Jung, „Vorbemerkung zu Legende“, in: Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, 1977, S. 273. Zum Rhythmus bei Jung vgl. auch Walter Fähnders und Helga Karrenbrock, „Franz Jung und die Theater-Avantgarde“, in: Wolfgang Asholt und Siegfried Kanngießer (Hg.), Literatur Sprache Kultur, Osnabrück 1996, S. 36f.

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der Zeit.“44 Über Jungs Theaterkonzeption schreibt Wolfgang Storch im Jahr 1989 apodiktisch: „Er hat formuliert, was die Zeit vielleicht brauchte, was sich aber die Gesellschaft nicht gestattete. Sie war auf dem Weg nach Stalingrad.“45

Gropius’ Totaltheater als urbane Maschine Was Jung der Theatertechnik an gemeinschaftsbildender Kraft zurechnet, ist Gropius 1:1, atmosphärisch umgepolt, erweitert um die Nostalgie revolutionären Aufbruchs, oberflächlich kultisch gestimmt. Vom Totaltheater, das Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses, 1927 als neues Theater für Piscator geplant hat, sagt er: das ziel dieses theaters besteht also nicht in der materiellen anhäufung raffinierter technischer einrichtungen und tricks, sondern sie alle sind lediglich mittel und zweck, zu erreichen, dass der zuschauer mitten in das scenische geschehen hineingerissen wird.46

Und 1930 schreibt Gropius in seinem Entwurf zum internationalen Wettbewerb für ein Massentheater in Charkow: „die forderungen an das heutige theater: ein massenzentrum – ein volksverbindendes gemeinschaftstheater“.47 Schon 1920 spricht Gropius von der Bühne, der Bühnentechnik, dem „bühneninstrument“ mit der ihm eigenen künstlerischen Entschlossenheit: „es ist die große raummaschine“.48 Dabei spielt das Medium Film eine entscheidende Rolle. Hinter dem Rundhorizont der Bühne des Totaltheaters sind 7 Projektoren vorgesehen und weitere 9 rund um den Zuschauerraum, sodass das Publikum umzingelt ist von Projektionen, rundumlaufenden Filmen. Gropius weiter, begriffsbildend: „also an stelle der bisherigen projektionsebene (kino) tritt der projektionsraum.“49

44 | Jung, „Theater-Probleme der Gegenwart“, in: Werke, Bd. 1/1, S. 288; nach dem Typoskript als „Probleme im Theater der Gegenwart“, in: Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, 1977, S. 270. 45 | Wolfgang Storch, „Franz Jung und das Theater“, in: Jung, Werke 7. Theaterstücke, Hamburg 1989, S. 798. 46 | Walter Gropius, „vom modernen theaterbau, unter berücksichtigung des piscatortheaterneubaues in berlin“, in: Die Scene XVIII, 1928, S. 4f.; dann in: Erwin Piscator, Das politische Theater, Berlin 1929, S. 127. 47 | Zitiert nach Kranich, Bühnentechnik der Gegenwart, Bd. 2, 1933, S. 306. 48 | Zitiert nach ebd., S. 366. 49 | Piscator, Das politische Theater, 1929, S. 126; auch bei Kranich, Bühnentechnik der Gegenwart, Bd. 2, 1933, S. 160.

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Die „große raummaschine“ kann nicht nur „den gesamten zuschauerraum, – wände und decken – unter film setzen“,50 wie es vom Totaltheater heißt, sondern verlängert die Bühnentechnik nach draußen. Sie überwindet durch Projektion osmotisch auch die Außenhaut des Theatergebäudes und kann die Stadt, jenen frenetischen Ort der neuen urbanen Massen und ihrer kulturellen Bedürfnisse, den Ort des enormen industriellen Produktionsapparats und der Millionen in den eisernen Gesetzen der Fabrik disziplinierten Menschen, sie kann den pulsierenden städtischen Raum zu einem „Zeichenraum“ machen, „in dem man sich gegenseitig in Bewegung setzt“51. Von dieser Maschine, die ein urbanes Organ, ein gemeinschaftsproduzierender Körper wird, hatten wir lange Zeit kaum eine Vorstellung. Zwar ein Bild, angesichts der oft reproduzierten Entwürfe und Planzeichnungen, aber keine körperliche Erfahrung, kein Raumgefühl. Dies kann uns jetzt die digitale Animation von Gropius’ Totaltheater durch Javier Navarro de Zuvillaga aus dem Jahr 2004 verschaffen,52 zu sehen in der Ausstellung „Sensing the Future“ im Bauhaus-Archiv Berlin 2014 – eine Ahnung davon, wie sehr diese Theatermaschine über die Grenzen des Theaters hinausragt, in die Stadt und die Zukunft, die unsere Gegenwart ist. Abb. 4, 3D Animation von Walter Gropius’ Totaltheater, 2004.

50 | Ebd.; sowie Kranich, Bühnentechnik der Gegenwart, Bd. 2, 1933, S. 159. 51 | „An der Herstellung dieses Raums hat Jung Zeit seines Lebens gearbeitet.“ Fritz Mierau, zitiert nach Lutz Schulenburg, „Franz Jung. Eine realistische Legende“, in: Jung, Das Trottelbuch, 2013, S. 85. 52  |  Vgl. „Walter Gropius Total Theatre Visualization“, unter: https://vimeo.com/59497126 [18.09.2019]; sowie Oliver A. I. Botar, Sensing the Future: Moholy-Nagy, die Medien und die Künste, Zürich 2014, S. 114. Eine atmosphärische Nähe zum ‚Centre Pompidou‘, realisiert in Paris ein halbes Jahrhundert später, ist nicht von der Hand zu weisen.

Kollektiverlebnis und Bühnentechnik Abb. 5, 3D Animation von Walter Gropius’ Totaltheater, 2004.

Quelle: Javier Navarro Zuvillaga; https://vimeo.com/59497126 [21.03.2020].

Theaterglück An die Stelle des visionären Architekten Gropius tritt der Glückstechniker Jung. Er setzt auf technische Ausstattung, vor allem die vielfältigen Möglichkeiten der Projektion, um Atmosphäre zu schaffen: gemeinschaftsstiftende Atmosphäre, Intensivierung der Lebensenergie. Heimweh in Mailand: Nostalgia. Dass Klaus Michael Grüber mehr als ein halbes Jahrhundert später jenes Theaterstück Jungs aus dem Jahr 1927 unter dem Titel Nostalgia 1984 fürs ‚Piccolo Teatro‘ in Milano wählt, kommt nicht von ungefähr. Die Inszenierung mit der Bühne von Eduardo Arroyo und einem Film von Robert Quitta ist eine jener beharrlichen Arbeiten Grübers, in denen er eben ganz in Atmosphären denkt.53 Im Jahr zuvor war in Paris La communauté inavouable von Maurice Blanchot erschienen, eine asymptotische Bewegung entlang des politischen Gehalts von Gemeinschaft. Insbesondere seine Erinnerung an die „explosive Kommunikation“ im Mai 1968, in dem „eine noch nie gelebte Art von Kommunismus zum Vorschein kam“,54 hätte Franz Jung gefallen. Hatte er doch „alle diese Bewegungen im letz-

53 | Vgl. das Programmheft mit den schönen Bühnenfotos von Luigi Ciminaghi und dem Stück in italienischer Übersetzung, Mailand 1984. 54 | Maurice Blanchot, Die uneinstehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 54f.

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ten Jahrhundert studiert, mit großem Interesse und großem Gewinn – was geblieben ist, steckt tief heute unter der Oberfläche, völlig vom Leben abgeschnitten und jedem Quacksalber offen.“55 Darin besteht die Aktualität von Franz Jung: Unmittelbarkeit auf der Höhe der Technik, selbstverständlicher Umgang mit den avanciertesten ästhetischen Mitteln und historische Luzidität. „Die Gegenwart, die in den Wehen eines neuen Zeitalters steht, benötigt Technik und weniger Gemüt, ein wenig Wissen und noch weniger Begeisterung.“56

55 | Franz Jung an Claire Jung, 15.04.1955, in: Sieglinde Mierau und Fritz Mierau, ­Werke, Bd. 9/1: Briefe 1913–1963, Hamburg 1995, S. 491. 56 | Franz Jung, „Theater-Probleme der Gegenwart“, in: Werke, Bd. 1/1, 1986, S. 288; Storch (Hg.), Stücke der Zwanziger Jahre, 1977, S. 270.

Techniken der Manipulation im immersiven Theater am Beispiel Theresa Schütz Der theaterwissenschaftliche Diskurs um ‚immersive theatre‘ setzte in den 2010er Jahren in Großbritannien ein, um eine vermeintlich neue Theaterform zu ­beschreiben.1 In allen einschlägigen Bänden zu immersive theatre beziehen sich die Forscher*innen auf Punchdrunk-Produktionen 2 – allerdings nicht ausschließlich. Symptomatisch für den anglophonen Diskurs zu immersive theatre ist die Verschiedenheit der konsultierten künstlerischen Beispiele: Sie reichen von ‚one-on-ones‘ über multimediale Audiowalks, ‚theatre in the dark‘-Formate oder delegierte Performances bis zu komplexen Performanceinstallationen. Bei aller Vielgestaltigkeit haben die Beispiele jedoch a) eine Mobilisierung der Zuschauenden in einem b) entgrenzten Aufführungsraum (jenseits der räumlichen Trennung von Bühne und Zuschauerraum) sowie eine c) „Intensivierung der Erfahrung“3 auf Grund einer dezidiert multisensorischen und aktivierten Rezeptionsweise ­gemeinsam. Dem theaterwissenschaftlichen Diskurs um immersive theatre geht ein ­transdisziplinärer Diskurs zu Immersion voraus: Mit den Studien Hamlet on the

1 | In der anglophonen Debatte wird dabei übergangen, dass der Szenograf Marcel Freydefont den Begriff ‚théâtre immersif‘ bereits 2009 in den französischen Diskurs einbrachte, vgl. Marcel Freydefont, „Les contours d’un théâtre immersif (1990–2010)“, in: Agon. Revue des arts de la scène, Ausg. 3/2010: Utopies de la scène, scènes de l’utopie, unter: http://w7.ens-lsh.fr/agon/index.php?id=1559 [07.9.2019]. 2 | Vgl. Josephine Machon, Immersive Theatres. Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Basingstoke u.a. 2013; Adam Alston, Beyond Immersive Theatre, London 2016; James Frieze (Hg.), Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance, London 2016; Rose Biggin, Immersive Theatre and Audience Experience. Space, Game and Story in the Work of Punchdrunk, London 2017. 3 | Vgl. Frieze, Reframing Immersive Theatre, 2016, S. 5.

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Holodeck von Janet Murray4 und Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart von Oliver Grau5 fand der Immersionsbegriff Einzug in ästhetische Debatten der Film-, Literatur, Kultur-, Medien- und Bildwissenschaften.6 Immersion ist in diesem Kontext vor allem ein Modus der Rezeption. Entsprechend der Etymologie des lateinischen Wortes „immersio“ (dt.: eintauchen), adressiert Immersion z.B. das metaphorische Eintauchen des Lesenden oder Filmzuschauenden in die Diegese des Roman- oder Filmgeschehens. In den Game Studies ist mit Immersion eine spezifische Aktivierung des Spielenden im Sinne konkreter Handlungsvollzüge angesprochen; und im Kontext neuer Technologien bezeichnet Immersion das vermeintlich komplette Eintauchen in eine virtuelle Realität. Immersion ist dann nicht nur die subjektive Rezeptionserfahrung auf der Ebene von Imagination, Kognition und Einfühlung, sondern eine körperlich-sinnliche Wirkungsweise des medialen Dispositivs. Auch wenn es um Formate des sogenannten ‚dark tourism‘ im Realraum geht, wird von Immersion gesprochen.7 Dann zielt der Begriff vor allem auf eine Praxis erfahrungsbasierter Wissensvermittlung. Aufgrund der Unschärfe und metaphorischen Vieldeutigkeit des Immersionsbegriffs und seiner Applikabilität in den verschiedensten ästhetischen Debatten ist er in den letzten Jahren zu einem äußerst diffusen ‚umbrella term‘ geworden. In Abgrenzung von der bisherigen Forschung schlage ich eine enge Definition von immersivem Theater als Genrebezeichnung vor: Zeitgenössisches immersives Theater umfasst Arbeiten, die an einem Ort außerhalb der Institution Theater stattfinden, die einen Erfahrungsraum gestalten, der von den Besucher*innen multisensorisch erschlossen wird und dessen Gestaltung einer zugrunde liegenden Fiktion folgt. Diese Fiktion wird multimodal und relational hervorgebracht und als geschlossenes Repräsentationssystem behauptet. Die teilnehmenden

4 | Janet H. Murray, Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge/MA 1997. 5 | Oliver Grau, Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 1999. 6 | Vgl. u.a. Laura Bieger, Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild: Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007; Christiane Voss, „Fiktionale Immersion“, in: Montage AV: Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 17/2, 2008, S. 69–86; Gordon Calleja, In-game. From immersion to incorporation, Cambridge 2011; Stefanie Kiwi Menrath, Alexander Schwinghammer (Hg.), What does a chameleon look like? Topographies of Immersion, Köln 2011; Britta Neitzel und Rolf F. Nohr (Hg.), Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion, Marburg 2016. 7 | Vgl. Scott Magelssen, Simming. Participatory Performance and the Making of Meaning, Ann Arbor 2014 und Natalie Alvarez, Immersions in Cultural Difference. Tourism, War, Performance, Ann Arbor 2018.

Techniken der Manipulation im immersiven Theater

­ uschauer*innen werden zu Gästen in der repräsentierten Fiktion, werden auf Z vielfältige Weise aktiv am Geschehen beteiligt und bringen die fiktionalisierte Welt im Modus der Komplizenschaft8 mit hervor; die Vierte Wand ist räumlich abgeschafft, bleibt aber als Dispositiv auf der Ebene der Spielweise der Dar­ steller*innen in Takt. Zudem arbeitet immersives Theater gezielt mit dramaturgischen und affektiven Strategien der Verunsicherung, Desorientierung sowie der sinnlichen, narrativen und/oder emotionalen Überforderung.9

Willkommen im Mikrokosmos von SIGNAs Söhne & Söhne Die Hamburger Filiale von ‚Söhne & Söhne‘ gehört zu den ältesten des Unternehmens, beschäftigt 158 Angestellte sowie über 1000 externe Mitarbeiter*innen. Wer dem Unternehmen angehört, erhält als Zeichen der Zugehörigkeit einen Sohn-Namen mit dem Anfangsbuchstaben A. Walerian, Sohn der Ordnungsstufe W., ist der leitende Oikonomos der Filiale. Als Mitarbeiter*in des Unternehmens lebt man beständig in der Gemeinschaft der Söhne,10 man isst gemeinsam in der Kantine, trainiert in der Abteilung für Resistenzschulung und entspannt sich im Freizeitzentrum oder in der Abteilung für romantische Anliegen. Es gelten interne Gesetze, denen ausnahmslos Folge zu leisten ist. Seit der Ablösung des alten Oikonomos befindet sich das Unternehmen in einer Krise. Der Kontakt zur Urfiliale ist abgebrochen, der Betrieb erwirtschaftet nur noch Verluste, immer mehr Mitarbeiter*innen verschwinden, interne ­Reibereien

8 | Gesa Ziemer hat das Konzept der Komplizenschaft in die Theaterwissenschaft eingeführt. Während sie eine positiv besetze Gemeinschaft im Blick hat, welche sich temporär durch den kollaborativen Einsatz bestimmter Taktiken herausbildet, um Kritik zu platzieren (vgl. Gesa Ziemer, Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld 2013), habe ich – mit Liesbeth Thorlacius – eine Form von Komplizenschaft innerhalb der Aufführung im Sinn, bei der Zuschauer*innen mit ihrem Verhalten, oder auch nur mit ihrer bloßen Teilnahme, in der Fiktion angelegte Machtverhältnisse nicht nur mittragen, sondern auch fortlaufend perpetuieren. Vgl. Liesbeth Thorlacius, „Salò: A Sublime Experience. Analyzing Interactive Performances, Focusing on the Aesthetic Dimension“, in: E. Kristiansen und O. Harsløf (Hg.), Engaging Spaces: Sites of Performances, Interaction and Reflection, Kopenhagen 2015, S. 84–127, hier S. 93–96. 9 | Weitere Beispiele für immersives Theater im engen Sinn wären Produktionen wie Alma von Paulus Manker, Sleep no more von Punchdrunk, Alice‘s Adventures Underground von Les Enfants Terribles sowie die Inszenierungen von Thomas Bo Nilsson, Jos Porath oder CoLab Factory London. 10 | Die fiktive Arbeits- und Lebensgemeinschaft umfasst auch Frauen, die v.a. in CareBereichen (in der „Abteilung für Romantische Anliegen“, auf der „Krankenstation“, in der „Kantine“ oder als Putzfrauen) eingeteilt sind.

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häufen sich. Rettung verspricht nun die Akquise einer hohen Zahl neuer Mitarbeiter*innen, womit wir Zuschauer*innen ins Spiel kommen.11 Diese Skizze der Fiktion steckt den diegetischen Rahmen für den Aufführungsbesuch ab. Eine weitere Rahmung ergibt sich mit der Wahl des Aufführungsortes: einer ehemaligen Gewerbeschule.12 Im Gebäude angekommen, werde ich nicht mehr als Theaterzuschauerin, sondern als Neuangestellte der Firma adressiert. Ich nehme sogleich einen recht harschen Umgangston wahr, der das autoritäre Machtgefüge atmosphärisch konturiert. Ich schreite das kühle, gräuliche Treppenhaus hinauf; die gleichfalls grau gekleideten Söhne begrüßen mich mit dem rituellen Gruß „Elatus“13. Im Versammlungssaal angekommen, wird mir ein Platz mit einer Klemmmappe und einem nummerierten Schild zugewiesen. Offenbar ist der erste Arbeitstag strukturell an die Form eines Personalauswahlverfahrens angelegt. Für die folgenden sechs Stunden bin ich „37 Sohn“ und muss meine Eignung unter Beweis stellen.

Manipulation als affektive und emotionale Involvierungsstrategie Mit der Form von SIGNAs immersivem Theater geht die Tatsache und methodische Schwierigkeit einher, dass nicht nur jede Aufführung von Söhne & Söhne anders verläuft (weil sich das Netz der Fiktion über die Spieldauer weiterentwickelt), sondern dass selbst ein und dieselbe Aufführung von allen Zuschauer*innen völlig unterschiedlich rezipiert und erlebt werden kann.14 Bei aller H ­ eterogenität

11 | Die Beschreibungen der Fiktions-Fakten zum Unternehmen Söhne & Söhne basieren auf drei Aufführungsbesuchen am 16.11.2015, 09.01.2016 und 10.01.2016 in Hamburg. Die Inszenierung wurde vom Schauspielhaus Hamburg produziert. 12 | Wie bei fast allen SIGNA-Arbeiten erfolgt die Bespielung des Gebäudes ‚site-sympathetic‘, nicht ‚site-specific‘, d.h. „[c]reating the work for the site where it is to be performed, but without responding directly to that site’s history or context“ (Gareth White, „On Immersive Theatre“, in: Theatre Research International 37/3), 2012, S. 221–235, hier S. 223). 13 | Der verbale Gruß erfolgt synchron zu einer Geste: Zeige- und Mittelfinger werden nebeneinander auf die rechte Wange gelegt. Auf Grund der Tatsache, dass alle im Treppenhaus Spalier stehenden Performer*innen diesen Gruß wiederholen, transformiert sich die Begrüßungsgeste in eine auffordernde Geste, es ihnen gleichzutun. 14 | Für die methodischen Schwierigkeiten und Grenzen einer Aufführungsanalyse von immersiven Theateraufführungen, insbesondere am Beispiel von Söhne & Söhne, siehe auch: Doris Kolesch und Matthias Warstat, „Affective Dynamics in the Theatre: Towards a Relational and Poly-Perspectival Performance Analysis“, in: A. Kahl (Hg.), Analyzing Affective Societies: Methods and Methodologies, London/New York 2019, S. 214–229; Doris Kolesch und Theresa Schütz, „Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenie-

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individueller Erfahrungsschätze verbindet alle SIGNA-Arbeiten, dass ihre Zuschauer*innen gleichsam überindividuell eine besonders nachhaltige Intensität reklamieren und Empfindungen von emotionaler, sinnlicher oder narrativer Überwältigung teilen.15 Schlagworte der Rezensent*innen zur Beschreibung der Zuschauer*innenerfahrung bei Söhne & Söhne wie „Brainwash-Performance“16, „Manipulationsmaschine“17, „psychologisch durchaus übergriffig“18 verweisen auf eine Konvergenz von Inhalt und Form. Meines Erachtens lässt sich anhand der Inszenierung zeigen, wie das Thema einer (fiktiven) sektenähnlichen Gemeinschaft gleichgeschalteter Mitarbeiter*innen im immersiven Theater Söhne & Söhne selbst zur Form wird. Denn auch die Zuschauer*innen werden, wenn sie temporärer Teil dieser Welt werden (wollen), auf mindestens dreierlei Weise zu Subjekten gezielter Manipulation: Die erste Form möchte ich produktionsästhetische Techniken der Publikumshandhabe nennen, die zweite spielt sich auf der Ebene intradiegetischer Taktik „affektiver Arbeit“19 ab und die dritte tangiert einen spezifischen Modus reziproker, affektiver Relationalität.20 Der Begriff der Manipulation impliziert eine Form gezielter Einflussnahme, die heutzutage nicht nur negativ besetzt, sondern auch normativ aufgeladen ist.

rungsanalyse am Beispiel von SIGNAs Söhne & Söhne“, in: Benjamin Wihstutz und Benjamin Hoesch (Hg.), Neue Methoden der Theaterwissenschaft (in Vorb.). 15 | Hier rekurriere ich auf die Ergebnisse meiner qualitativen Publikumsbefragung im Anschluss an die SIGNA-Produktionen Söhne & Söhne (2015/16), Wir Hunde (2016), Das Heuvolk (2017) und Das halbe Leid (2017/18), die ich im Rahmen einer Projektarbeit am SFB „Affective Societies“ durchgeführt habe. 16 | Till Briegleb, „Unterwerfung“, in: Süddeutsche Zeitung, 12.11.2015, unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-unterwerfung-1.2733766?reduced=true [24.02.2020]. 17 | Katrin Ullmann, „Die große Kunstbrust liebt auch Dich!“, in: nachtkritik, 06.11.2015, unter: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11727: soehne - soehne - die - neue - per for manc e - installation -von - signa- am - hamburgerschauspielhaus-fuehrt-in- den-psychohorror-der-arbeitswelt&catid=56&Itemid=100190 [14.05.2019]. 18 | Annette Stiekele, „Söhne & Söhne – Sechs Stunden klare Haltung“, in: Hamburger Abendblatt, 09.11.15, unter: www.abendblatt.de/kultur-live/article206553043/SoehneSoehne-Sechs-Stunden-klare-Haltung.html [18.03.2020]. 19 | Vgl. Michael Hardt, „Affektive Arbeit“ (1999), in: Andreas Reckwitz, Sophia Prinz und Hilmar Schäfer (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte der Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin 2005, S. 425–434. 20 | Diese drei Ebene sind eher aus heuristischen Gründen getrennt, überschneiden sich während der Aufführung jedoch in aller Regel.

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Zum einen ist damit die Suggestion verbunden, dass es sich um eine bewusst intransparent gehaltene Entscheidungslenkung des Subjekts handelt, zum anderen operiert gezielte Täuschung gegen den freien Handlungsspielraum und Willen des Einzelnen, sodass Manipulation nicht zuletzt zu einer Frage asymmetrischen Machtmissbrauchs und damit auch des ethischen Miteinanders wird. Alexander Fischer legt dar, dass das Wort „Manipulation“ begriffsgeschichtlich lange positiv besetzt war. So bezeichnet es nach seiner lateinischen Wortherkunft zunächst eine „Handvoll“, also ein Quantitätsmaß; im 18. Jahrhundert dann vor allem ein wertneutrales, aber dezidiert „technisches“ Vorgehen von Pharmazeuten und Chemikern.21 Die skizzierte negative wie normative Färbung erhält der Begriff erst im 20. Jahrhundert durch das Aufkommen des Behaviorismus. Das Technische im Manipulationsbegriff wird gewissermaßen auf den Menschen übertragen, als eine spezifische Technik der Verhaltenskontrolle und -steuerung.22 Und diese Tradition – wenngleich auf einem äußerst problematischen Menschenbild und simplifizierendem Stimulus-Response-Modell basierend – setzt sich bis in die Gegenwart fort. So scheint Manipulation heutzutage angesichts von Big Data, ‚quantified self‘-Techniken und strategischem ‚user experience design‘ in der Netzkultur sowie zahlreicher ‚nudging‘-Techniken im Bereich der Politik ein ubiquitäres Tool gezielter Verhaltens- oder Aufmerksamkeitssteuerung zu sein. Als eine Technik emotionaler Beeinflussung kann Manipulation auch für den Bereich der Kunst und vor allem für die Emotions- und Affizierungsmaschine Theater geltend gemacht werden. Sie wird da relevant, wo das Publikum auf eine Weise involviert ist, die das Treffen eigener Entscheidungen, das Erfüllen von Aufträgen sowie die Preisgabe persönlicher Informationen vorsieht – wie bei SIGNA. Pamela Geldmacher schlägt in einem Aufsatz zu SIGNAs Die Hundsprozesse vor, jenen Rezeptions- und Erfahrungsmodus im positiven Sinne als „reflexive Manipulation“23 zu verstehen. Diesen Vorschlag möchte ich aufnehmen und affekttheoretisch ergänzen: In der Spinoza-Deleuze-Linie der ‚Affect Studies‘ adressiere ich mit Affekt ein „dynamisches, situiertes Wirkungsgeschehen zwischen Körpern und in Umgebungen, das partiell auch unreflektiert und unterhalb diskursiver Thematisierungen verlaufen kann“.24 Dynamisch meint hier ein sozial-

21 | Vgl. Alexander Fischer, Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung, Berlin 2017, S. 37. 22 | Vgl. ebd., S. 38. 23 | Pamela Geldmacher, „Reflexive Manipulation. Strategien der Affektion bei SIGNA“, in: Iris Cseke, Sebastian Jung, Lars Krautschick u.a. (Hg.), produktion – Affektion – rezeption, Berlin 2014, S. 57–71. 24 | Vgl. Rainer Mühlhoff und Theresa Schütz, „Die Macht der Immersion: Eine affekttheoretische Perspektive“, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissen-

Techniken der Manipulation im immersiven Theater

relationales Verfahren von wechselseitigem Affizieren und Affiziert-Werden. Aus dieser Perspektive erscheint Manipulation dezidiert nicht nur als eine einseitige Technik der Beeinflussung, sondern eröffnet die Möglichkeit, auch die „affektive Disposition“25 und das Vermögen einzelner involvierter Subjekte mit in den Blick zu nehmen. Damit ist gemeint, dass jede*r SIGNA-Zuschauer*in in Situationen auch seine/ihre je spezifische Affizierbarkeit miteinbringt.

Manipulationsformen in Söhne & Söhne Auf der Ebene der Produktionsästhetik sind neben der Adressierung als Neuangestellte vor allem dramaturgische Techniken wie die systematische Vereinzelung der Zuschauer*innen beim Begrüßen und ersten Abschreiten der Räume sowie ein „einstimmendes“26 Einführungsformat relevant. Analog zu realen Personalauswahlverfahren großer Unternehmen werden die Zuschauer*innen bei ihrem ersten Arbeitstag bewertet. Der ausgehändigte Bewertungsbogen fungiert als individueller Ablaufplan und regelt damit auf dramaturgischer Ebene, a) dass und wie sich die Zuschauer*innen über die sechs Stunden Aufführungsdauer über die verschiedenen Stationen verteilen, b) dass es in den einzelnen Räumen zu wechselnden Gruppenkonstellationen kommt und c) wie jede*r Einzelne bewertet wird. Nach jeder Station erhalte ich einen Eintrag, der dokumentiert, wie mein Gegenüber mich einschätzt. Im Gegensatz zum realen Pendant ist die Bewertung hier transparent. Genau deshalb kann der Bogen auch subtil mein Re-Agieren beeinflussen: Warum wirke ich so? Wie will ich wirken? Was muss ich an meinem Verhalten ändern, um anders zu wirken? Der Bewertungsbogen basiert auf dem interpersonalen Circumplexmodell,27 das seit den 1950er Jahren in der Sozialpsychologie und Verhaltensforschung genutzt wird, um eine Persönlichkeit entsprechend ausgewählter relationaler Situationen in einem Spektrum von Dominanz und Unterwürfigkeit (Horizontale) sowie ­Distanz und Nähe (Vertikale) einzuschätzen.

schaften, H. 1/2019: „Immersion: Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts“, hg. von Thiemo von Breyer und Dawid Kasprowicz, Siegen 2019, S. 17–34, hier S. 18. 25 | Rainer Mühlhoff, „Affective Disposition“, in: Jan Slaby und Christian von Scheve (Hg.), Affective Societies. Key Concepts, London/New York 2019, S. 119–130. 26 | Sabine Schouten, Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2011, S. 208. 27 | Vgl. u.a. Peter M. Muck, Stefan Höft, Benedikt Hell und Heinz Schuler, „Die Konstruktion eines berufsbezogenen Persönlichkeitsfragebogens. Integration von Interpersonalem Circumplex, Fünf-Faktoren-Modell und Act Frequency Approach“, in: Diagnostica, 52/2, 2006, S. 76–87.

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28 | Dass er etwas ‚outdated‘ wirkt, lässt sich mit der von Signa Köstler entwickelten ‚Bleak‘-Ästhetik begründen, d.h. dass in der Rauminszenierung alles „düster, trostlos, öde, freudlos“ gehalten sein muss. Dadurch, dass die Dinge, Stoffe und Materialien zudem wie aus einer anderen Zeit, der Zeit der Großeltern-Generation, wirken, wird das autobiografische, emotionale Gedächtnis stark getriggert und beeinflusst das ZuGast-Sein. Das Archetypische der Räume (Kindheit, Tod, Krieg, Sexualität, Vergnügen) wirkt ebenfalls mit.

Techniken der Manipulation im immersiven Theater

Der Clou des Bogens besteht darin, dass er neben der Visualisierung dessen, wie ich auf mein Umfeld wirke, zudem Zeugnis darüber ablegt, wie bestimmte Affekte und Emotionen in sozial-relationalen Konstellation hervorgebracht werden. Nimmt man in den Blick, welche Emotionen (und entsprechende Re-Aktionen) in situ positiv und welche hingegen eher negativ valorisiert werden, dann gibt der Bogen zugleich auch Auskunft über geltende Gefühlsregimes innerhalb der Gemeinschaft ,Söhne & Söhne‘. Intradiegetisch betrifft die ‚Gleichschaltung‘ vor allem die Ebene des Affektiven und Emotionalen, sonst gäbe es nicht Rehabilitationsmaßnahmen für „emotionale Ausbrüche“, von denen mir Carina Sohn (Samira Mertens) in einer Aufführung ausführlicher berichtet hat; sonst gäbe es auch nicht all die Abteilungen – Resilienz, Romantik, Kindheit –, die letztlich gezieltes Affektmanagement im Sinne eines bestimmten und bestimmenden emotionalen ‚Gleichgewichts‘ betreiben. Genau deshalb ist das Zentrum für Expansions- und Potentialentwicklung auch das ‚Herz‘ des Unternehmens: Hier wird in einem Büro mit allerlei mathematischem und physikalischem Aufwand an einem Resonanzgesetz gearbeitet, welches – analog zu Frequenz und Klang eines Herzschlags – streng rhythmisch und gleichförmig gedacht, modellhaft auf das emotionale ‚Schwingungsfeld‘ der Gemeinschaft der Söhne übertragen wird. Als Neuangestellte*r wird man eingeladen, im Gleichklang zu summen oder meditativ dem schwankenden Pendel zuzuschauen. Die konsequente Einbindung wiederkehrender Zuschauer*innen erfolgt gleichfalls manipulativ: Darsteller*innen händigen mir zu Beginn meines zweiten Besuchs ein eigenes Namensschild aus, reglementieren meinen Aufenthalt weniger, suchen vertrautere Gespräche und verabschieden mich mit einer exklusiven Zeremonie nur für mich. Damit erzeugen sie das Gefühl, von der Gemeinschaft als etwas Besonderes wahrgenommen zu werden, wodurch ein subtiles Begehren erzeugt wird, Teil dieser (eigentlich sehr befremdlichen) Gemeinschaft sein zu wollen. Hier verschwimmen Strategien produktionsästhetischer Publikumshandhabe und intradiegetische Taktiken miteinander. Und es zeigt sich, wie Zuschauer*innen während ihres Besuchs von Söhne & Söhne am Mikrokosmos der Fiktion wie auch an der Aufführungserfahrung mittels verschiedener Formen affektiver Arbeit partizipieren. Das immaterielle Produkt dieser Arbeit ist das komplizenhafte Hervorbringen einer Gemeinschaft latent Höriger, bei der Gleichheit keine Gleichberechtigung, sondern schlicht konsensuelle Angepasstheit ist. Weitere dezidiert intradiegetische Taktiken wären z.B. die hypnose-ähnliche Imagination auf der Krankenstation, bei welcher ich mein eigenes Sterben ­mentalisieren soll oder jene Sequenz in der Abteilung für Kindheitsangelegenheiten, bei der ich vor versammelter Zuschauer*innen-Runde ein vertrautes Telefonat mit meiner Mutter führen soll. Im von Ronda Sohn (Anne Hartung) streng autoritär geführten Büro für interne Gesetze werde ich nicht nur getestet, ob ich die Ord-

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nungsstufen auswendig kenne, hier finden auch willkürliche ­Sanktionierungen „verfehlten Verhaltens“ und damit jene neuralgischen Szenen statt, die den für SIGNA-Produktionen typischen moralisch-ethisch Haltungsdruck erzeugen: Agiere ich renitent oder verhalte ich mich opportun, wenn jemand aus der Gruppe ­willkürlich bestraft wird? Zur intradiegetischen Manipulation gehört auch, dass man nur vollwertiges Mitglied in der Gemeinschaft wird, wenn man am Ende des Abends bereit ist, seinen weltlichen Namen abzugeben und sich den sogenannten „Nachtsöhnen“ in einer Zeremonie symbolisch wie konkret körperlich zu unterwerfen.

Lektion über eigene und kollektive Affizierbarkeit Bei meinem Besuch im Büro für interne Gesetze werde ich von Ronda zunächst rausgeschmissen, weil ich den Raum ohne Aufforderung betreten hatte. Ich versuche, entspannt zu reagieren, merke aber nach und nach, wie sie mich vorführt. Leichtes Unwohlsein und ein schlechtes Gewissen stellen sich ein. Ich spüre, wie ich mich von ihrer Präsenz als Darstellerin wie auch von der Autorität ihrer ­Figur immer stärker einschüchtern lasse und für den Verlauf der Szene in Opportunismus verfalle. Das Setting wirkt auf der affektiven Ebene wie ein Katalysator: Sowohl persönliche Erfahrungen mit bestimmten Lehrer*innen-Autoritäten, die sich in mein biografisches Körpergedächtnis eingeschrieben haben, als auch über meine Elterngeneration vermittelte Anekdoten von Stasi-Verhören in der ehemaligen DDR, sowie das Wissen um die zeitliche Parallelität von ‚Bleak‘-Ästhetik und Gruppendynamik-Experimenten wie dem Milgram-Experiment – all diese ­Aspekte wirken mit und konturieren die spezifische affektive Relationalität dieser Szene. Der Effekt ist ein komplizenhaftes, situatives Einfügen meinerseits in das System der grauen Sich-Unterordnenden, womit ich unwillkürlich an der Gemeinschaft der Hörigen partizipiere. Den Arbeiten von SIGNA wird in Rezensionen, bei Publikumsgesprächen oder in öffentlich ausgetragenen Debatten häufig der Vorwurf gemacht, das Publikum zu manipulieren. Auch beschreiben Zuschauer*innen, dass sie sich gelegentlich wie in einem Experiment fühlten. Die Analogie zum Dispositiv eines wissenschaftlichen Experiments schreibt allerdings jene einseitige Dimension der Manipulation fort, die in diesem Beitrag als dezidiert reziproke akzentuiert wurde. SIGNA-Settings können als sozial-relationale Versuchsanordnungen betrachtet werden. Wie gezeigt werden konnte, nutzt zwar die gesamte ästhetische Anlage von Fiktionsfokus und latentem Hyperrealismus diverse Techniken der Manipulation. Sie eröffnet aber aufgrund des körperlichen und emotionalen Durchlebens entsprechender Manipulationsszenen im Rahmen von Kunst auch Möglichkeiten, eine kritische Reflexion dieser relationalen Machtmechanismen anzustoßen. Als Teilnehmer*in kann man sich so auf eine nachhaltig wirkende Lektion in Sachen

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individueller wie kollektiver, konkret sozial-relational verfasster wie kulturell mitgeformter Affizierbarkeiten einlassen.

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PERFORMING TECHNOLOGY. THEATER UND DIGITALISIERUNG

Dialogical Aesthetics Reconfiguring Theatrical Spaces through Digital Technology Susanne Thurow, Dennis Del Favero and Caroline Wake Throughout history, theatre has engaged new technologies to broaden its creative and expressive capabilities to refine its artistic engagement with contemporary concerns. As seen in the experimentation with lighting technologies (of which digital projection is just the latest iteration), technological advances can have wide-ranging impact on the way we conceptualise and shape theatrical practice. Replacing gas lights with electric lighting in the 19th century and introducing ever more elaborate dimming technologies from then on enabled practitioners to increasingly animate the theatrical space.1 This allowed evolving it as a malleable and transformative agent in its own right,2 opening up scope to performatively consider the entanglement of the human with its surrounding environments and to find creative points of articulation for novel philosophies that no longer conceived of the human as central but rather as an integrated part of living ecologies. The technological innovations of scenographic pioneers Adolphe Appia (1862–1929) and Josef Svoboda (1920–2002), for example, stand out for their radical reconceptualisation of the theatrical space as multilayered and agential – integrating a plethora of gobos, projectors, revolving screens and treadmills into set designs.3 Since the 1990s, digital projection technology has once again expanded scenographic paradigms, with their creative capability demonstrated, for example, in Kris Verdonck’s evocative rendition of a virtual character in M, a Reflection (2012). Practitioners such as Appia, Svoboda and Verdonck have been able to leverage technological means to maximum effect for their artistic endeavours because, rather than first and foremost indulging the spectacular novelty effect, they have

1 | Oscar Gross Brockett, Margaret Mitchel and Linda Hardberger, Making the Scene: A History of Stage Design and Technology in Europe and the United States, San Antonio 2010, pp. 233–283. 2 | Christopher Baugh, Theatre, Performance and Technology: The Development of Scenography in the 20th Century, Basingstoke/NY 2005, pp. 82f. 3 | Brockett, Mitchel and Hardberger, Making the Scene, 2010, p. 291.

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integrated new technologies into aesthetic agendas that are driven by the desire to investigate their capabilities and implications for shaping human emplacement in the world.4 Digital aesthetics describe a computational formalisation of relationships between entities that makes them transparent, malleable and communicable.5 Given their progressive incorporation in explorations of space on stage, the question begs how such advances may also be applied to production processes behind the scenes to support the creative evolution of theatre in the 21st century. For if the production of theatre can be guided by experiences of space as a dynamic and malleable entity, then ideation, design and manifestation can be augmented through technological advances. While emplacement of theatrical practice in responsive and evolving settings is currently emerging, challenges exist due to the dominant aesthetic approaches which constrain the deployment and adaptation of newly available digital technologies in the performance design sector.

Digital Aesthetics and Scenographic Design Practice Contrary to the dynamic evolution of lighting technology, methodologies for scenographic ideation and extrusion have not undergone fundamental evolution since the mid-20th century. When the white-card model complemented rendered perspective drawings as the preferred approach for set design visualisation, its benefits lay in the contribution of a three-dimensional extrusion method that can aid cognition and spatial approximation. The introduction of the construction trial (i.e. Bauprobe) as a means of one-to-one scale visualisation in the 1950s largely completed the contemporary methodologies for scenographic modelling.6 Yet, none of these tools have decisively augmented the dominant aesthetic approach underpinning scenographic modelling practice. This approach is characterised by a sequential organisation that largely separates the stages of ideation, extrusion and evaluation from one another, permitting only marginal cross-pollination between these pivotal aspects of the design process. This inbuilt reliance on sequential progression accounts for the limited innovation that digital technologies have thus far been able to contribute to performance design practice. The growing adoption of digital design suites for 3D modelling of set pieces and props or the visualisation of possible lighting rig positions and floor plans,

4 | Peter Eckersall, Helena Grehan and Edward Scheer, New Media Dramaturgy: Performance, Media and New Materialism, London 2017, p. 4. 5 | Claire Colebrook, Blake, Deleuzian Aesthetics and the Digital, New York 2012. 6 | Gavin Carver and Christine White, Computer Visualization for the Theatre: 3D Modelling for Designers, Burlington 2003, p. 66.

Dialogical Aesthetics

while having greatly expanded scope for iterativity, has thus far predominantly extended benefits only to the early stages of design ideation. As a means to flexibly try out different ideas and configurations on a computer screen, the vast data aggregation and manipulation methods of suites like 3D Max, Vectorworks Spotlight and AutoCAD offer designers fast and convenient solutions for rendering high-quality visualisations to support communication amid the creative team. Aesthetically, however, these visualisations operate within the same paradigm as the conventional white-card model, because the hybrid approach of analogue and digital methodologies is not carried across and integrated into all three phases of design practice: They visually manifest design ideas at reduced scale, evoking conceptions of space that still need to be verified through one-to-one scale physical extrusion in a Bauprobe (budget permitting) or straight-up final construction of the set on stage. Once resources have been committed to physical extrusion, design concepts are rarely fundamentally revised, which means that iterativity as a key driver of design practice7 is significantly curbed in favour of attuning details, such as texture, colour and lighting intensity. Hence, while software suites can fully site the ideation phase within an arena that posits space as malleable and responsive to human intervention, the condensing of design ideas is accompanied by a solidification of spatial relations that once again favours a conception of space and theatrical ecologies as closed systems of difference, in which the set represents a relatively immutable foundation for subsequent rehearsal activity that adapts the actors’ performance into it. This articulation of aesthetic understanding of space stands in marked opposition to notions advanced in contemporary theory that pivot on the conceptualisation of space and agency as unfolding between entities rather than residing with clearly distinguished subjects.8 Scholars like nuclear physicist and philosopher Karen Barad provide compelling arguments for such aesthetics, premised on the observation of physical matter and its articulation in space, that easily lend themselves to an application to design theory. Her seminal interpretation of the concept of “intra-action” defines physical phenomena as a consequence of ongoing interaction between its components through a continual process of emergence and becoming.9 Consequently, solidity of space is deconstructed and dissolved into a continual interplay between interconnected matter. Rather than conceiving of agents as discrete and solid entities, Barad radically reformulates this conventional model by proposing that such identities are inherently fluid, only momentarily ma-

7 | Donald A. Schön, “Designing: Rules, Types and Worlds”, in: Design Studies 9/3, 1988, pp. 181–190, p. 185. 8 | E.g. Karen Barad, Meeting the Universe Halfway, Durham 2007. 9 | Karen Barad, “Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter”, in: Signs 28/3, 2003, pp. 801–831, p. 815.

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nifest and continually morph through interaction. Hence, when observed through the prism of the nuclear microscope, the integrity of physical matter disbands into degrees of attraction and repulsion where form and identity are articulated as a pulsing of energy between atoms rather than a certain and stable relation between them. Extending these ideas beyond the realm of atoms to interaction that encompasses humans and objects in space invites grounding the aesthetic configuration of design practice in a conceptual framework that can treat matter as fluid and malleable rather than as fixed and immutable. Conceived in this way, recursive intervention into spatial relations should be possible at any stage in the design process to maximally unlock creative potential. While notions of posthuman identity concepts as advanced by key thinkers such as Donna Haraway10 and N. Katherine Hayles11 of course figure prominently in a formulation of design aesthetics from such an angle, they shall not form a central concern here. Instead, the focus in the following shall rest on how digital technologies may afford experiences of space that foreground its inherent mutability and agency throughout the design process,12 which may in turn unfold synergies with the artistic conceptualisation of performance on stage.

Dialogical Aesthetics – A Way Forward One solution to configuring digital technologies in such a way lies in assembling them within a dialogical aesthetic framework, namely one that is premised on the two-way interaction between human and virtual agencies, in this case between designers and 3D cinematic-scale VR models. The iDesign research project currently underway at the University of New South Wales (Sydney, Australia)13 is dedicated

10 | Donna Haraway, “A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late 20th Century”, in: Joel Weiss, Jason Nolan, Jeremy Hunsinger and Peter Trifonas (ed.), The International Handbook of Virtual Learning Environments, Dordrecht 2006, pp. 117–158. 11 | N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago/London 1999. 12 | Tomás Dorta, “Design Flow and Ideation”, in: International Journal of Architectural Computing 6/3, 2008, pp. 299–316, p. 299. 13 | This research is supported by the Australian Government through the Australian Research Council’s Linkage Projects funding scheme (LP170100471), with the researcher team comprising Scientia Prof. Dennis Del Favero, Dr. Susanne Thurow, Dr. Caroline Wake, Prof. Maurice Pagnucco, Prof. Michael Scott-Mitchell (all University of New South Wales), Prof. Lawrence Wallen (University of Technology, Sydney), Dr. Benjamin Schostakowski (National Institute of Dramatic Art), and Mr Kip Williams (Sydney Theatre Company).

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to exploring the capabilities of such a framework for production design practice, integrating to this end advanced visualisation and motion tracking systems with artificial intelligence programming. These are leveraged in order to yield a multiplatform design environment that comprises both conventional 2D screens (such as PCs and tablets) as well as a fully immersive, room-scale 3D visualisation environment. While the former contribute a familiar channel for initial data upload, the latter delivers a malleable, computer-generated virtual space in which users are immersed to ideate, simulate and test a prospective set design in real time at life-size scale. Using the 2D platform, creatives can specify the dimensions of the architectural and stage space they are designing for, which the projection system in the 3D environment converts into a one-to-one scale virtual replica of the respective theatre space (including intricate details such as power supply points, truss positions, and wall panel textures). Consequently, modelling in iDesign is sited within a virtual space that allows flexibly testing possible set and seating configurations and their practicability, enabling contextualised ideation in a responsive image space for the design of new sets or customised adaptation of an existing show to another venue.14 To begin modelling with iDesign, creatives can open a browsing facility in the 3D projection environment and drag and drop their preliminary ideation data (e.g. photographic material, 2D sketches or 3D models etc.) from their standard interconnected 2D platform. Once imported, they can collate and combine this with the system’s theatre-specific libraries, comprising for example common architectural structures (e.g. doors and windows) and primitive forms that can be twisted, scaled or bent into set pieces. Moving forward, creatives can then expand on rough sketches by flexibly adjusting colours, textures and lighting. Comprehensive review and iterative development are supported by dynamic rotation and sightline capabilities, which enable designers to view their models from any possible angle and position in the theatre space allowing integrated aesthetic and functional evaluation and augmentation. To improve workflow efficiency, the iDesign system also offers photometric lighting simulation to visualise, for example, the effect of various gobo, spot- and floodlight constellations, including their shadow and reflection capabilities.15 The digital systems here are highly respon-

14 | In the iDesign project, the underlying architectural space captures the dimensions of Sydney Theatre Company’s future “Wharf Complex”, which is currently under construction and due to be opened in 2020. Consequently, the platform here allows designers to ideate for a space not yet physically in existence. 15 | For improved performance, the system is equipped with a “create” mode and a “bake” mode, with the former allowing the simultaneous operation of 10 lights while the latter can render up to 200 lights in HD – with data export capability to other 3D modelling or CAD software, which enables efficient workflow integration with existing infrastructure in design departments.

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sive to the designers’ practice, allowing ingestion of vast heterogeneous data and an infinite number of combinations and manipulations that dissolve the design space into a fluid aggregate of dynamic spatial relations. While fluidity is thus accounted for, the integration of complex algorithms into the platform’s database system also furnishes it with an intelligence of its own that can intervene into the modelling and advise or query decisions made to support ideation for best possible outcomes. In particular, the iDesign platform sets out to reformulate conventional set modelling on the grounds of three key affordances:

Embodied Composition at One-to-One Scale Contrary to most existing set design modelling and visualisation tools, iDesign comprehensively redesigns user interface and experience by deploying the Advanced Visualisation & Interaction Environment (AVIE). This is a 360-degree wrap-around cinematic screen space (measuring 10m in circumference and 4.5m in height), affording an immersive VR work environment for creatives to explore and mould 3D models through gesture and movement. This is made possible by an integrated and finely attuned motion tracking system, which is toggled with a complex database system whose algorithms can dynamically shift and morph the projected imagery in concert with the users’ position and motion in space. Due to its room-scale dimensions, the AVIE affords immersive VR experiences that are quite different to those provided by head-mounted display solutions, because it supports unobstructed full-body interaction with visualised data (requiring only slim polarised 3D glasses). This allows foregoing the ergonomic strains accompanying small screen engagement, empowering creative ideation in active and embodied ways.16 Using hand-held controllers, creatives are able to choose from drop-down menus displayed on the 360° screen, configuring the interface design in maximally intuitive ways by dynamically attuning the option menu to the action currently performed and visually backgrounding momentarily less relevant features of the software suite. iDesign’s ability to fully immerse designers within 3D models displayed at one-to-one scale enables designers to trial their ideas from the start in dimensions that can adequately reflect the final product. This can supply a sense of inhabitable space during the design process itself, providing an embodied proximal experience of variant spatial dynamics and their practicability prior to material

16 | Layda Gongora, “Exploring the Body and Mind Connection via Improvisation in the Design Process”, in: Jean-Bernard Martens and Panos Markopoulos (ed.), Proceedings of the Second Conference on Creativity and Innovation in Design, New York 2011, pp. 427–428.

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manifestation in set construction. As such, ideation, modelling and evaluation can be closely integrated in ways that allow grappling with the trinity of “time, motion and light” 17 so foundational to scenographic practice. In addition to the benefits of one-to-one scale visualisation for ideation and testing, this feature can also capture versatile add-on values for the theatre sector on a broader scale: For example, the completed design may be utilised as a VR set in itself, i.e. rehearsing or staging a performance in AVIE (if so desired), or audiences may be afforded the opportunity to explore 3D renditions of sets – switching from auditorium to stage view or virtually flying up into the tower to investigate the set from all possible angles. In this way, the new design and visualisation environment not only delivers an enhanced and streamlined rearticulation of conventional production processes, it also provides the means to push the boundaries of current experimentations with VR staging practices as pioneered by Robert Lepage and Mark Reaney.

Collaborative Virtual Interaction in Real Time Since AVIE can track up to 30 users simultaneously, an entire creative team can use the 3D platform to collaboratively ideate and iteratively design a 3D model in real time, with all members of the team being able to communicate and try out their ideas in visually manifest form. Through its networked capability, a range of other 2D platforms can be interconnected to enable remote collaboration, catering to the often geographically dispersed expertise flowing into the theatrical design process – a characteristic especially pertinent in the Australian context, where work is developed by contracted teams in quick temporal succession rather than in the more committed work processes that inform repertory companies in places like Germany. Seamless integration enables platforms to read, display and dynamically amend saved projects, enabling creatives to access each platform in real time, to browse, select and distribute data, converse and advise each other. This architecture caters to a desire for co-presence in the design process that is often deemed absent, especially in settings that mostly rely on remote collaboration.

Intelligent Database Complex algorithms that process user interaction and decision making assists set design modelling in iDesign, streamlining and optimising practice through deployment of an artificially intelligent recommender system. Its most significant features that can assist set and lighting designers, choreographers, and directors are an “auto-detect and complete” feature that recognises architectural intent, an

17 | Carver and White, Computer Visualization for the Theatre, 2003, p. 6.

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actor-path tracing feature, as well as sight occlusion calculation. While the latter can help creatives to attune their designs in ways that offer audiences optimal viewing of the stage space, intelligent human movement tracing and bio-data awareness can be deployed by directors and choreographers to test their sequences in light of possible dangers resulting for performers from set arrangements – with the database proffering a range of alternative solutions to cancel these out. Human action is here complemented by an agency that articulates through spatial augmentation, actively supporting creative ideation and review. To be able to do so, the AI system feeds off the extensive library of data fed into the system by the research team and is continually expanded and trained through interactions in AVIE that the system records and analyses. These furnish the system, for example, with a growing set history awareness, which enables it to detect elements in a current model that coincide with previous works modelled by the designer, proffering solutions to design problems on the basis of prior decisions made that can be accepted or rejected. To support documentation and retention of ideas, the system also includes an annotation feature for audio and textural commentary that can be overlaid on the recorded interactions, fulfilling the functionality of current storyboard solutions. This documents the development of ideation, creating a multimedia archive of sound, vision and version control that makes trialled ideas available for eventual later deployment or reflection.

Conclusion iDesign delivers a discipline-specific design tool for the performing arts that supports industry workflows, enabling creative teams (e.g. designers, directors, choreographers, actors, and writers) to collaboratively design in real time through embodied gestural interaction within a fully immersive, 3D VR environment. It enables open-ended modelling scenarios capable of addressing a wide range of production design aspects, such as architecture, choreography, and lighting. Its intelligent database archives any data fed into and collated by the system, continuously building an extensive library of set design practice and its dramaturgical justification. By doing so, it addresses the deficiency in the viability, contextualisation and iteration of modelling paradigms currently used in the performing arts which are constrained by largely sequential stages of ideation, extrusion and evaluation.18 Through realisation of a dialogical modelling aesthetic that integrates all stages of the design process, iDesign can contribute to the reconfiguration of the

18 | Christine White, Directors and Designers, Chicago 2009, p. 94.

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current set modelling paradigm, hence significantly expanding the imaginative scope of contemporary performing arts practice.19

19 | Michael Magruder, “Transitional Space(s): Creation, Collaboration and Improvisation within Shared Virtual/Physical Environments,” in: International Journal of Performance Art and Digital Media 7/2, 2011, pp. 198–204, p. 203.

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„You can upload yourself in a cloud“ Wie ,half past selber schuld‘ mit analogen Mitteln die Vision einer hochtechnisierten Zukunft hinterfragen Niklas Füllner Die Neuorientierung des Menschen in der technisierten Welt stellt ein zentrales Thema des Künstlerduos ‚half past selber schuld‘ dar.1 Das Künstlerduo ist durch die Verwendung von Objekten, Figuren und Masken dem Figurentheater zuzuordnen und bezeichnet seine Inszenierungen selbst als ‚Bühnencomics‘, womit es auf den karikaturesken, bunten, schrillen und oftmals auch zweidimensionalen Stil verweist, der sich an der Ästhetik von Comics orientiert. Die neueste Arbeit des Duos, Kafka in Wonderland, hatte am 23. April 2017 Premiere in den Kammerspielen, im Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf und ging anschließend auf Gastspielreise. Regie führte neben Ilanit Magarshak-Riegg und Frank Römmele Eli Zachary Socoloff Presser, ein Puppenspieler aus Los Angeles, der die Arbeit auch als Co-Autor sowie Puppenspieler und -bauer begleitete. Kafka in Wonderland ist – anders als es der Titel andeutet – nahezu frei von Anspielungen auf das Werk von Franz Kafka oder Lewis Carrolls Alice in Wonderland, sondern wirft in lose aneinandergereihten, teils unabhängigen, teils inhaltlich miteinander verknüpften Szenen einen Blick auf eine zugleich nahe und ferne Zukunft, in der die Vision des Transhumanismus Wirklichkeit geworden

1 | Das Künstlerduo besteht aus der Musikerin Ilanit Magarshak-Riegg und dem Comiczeichner und Autor Frank Römmele. Wie der Name des Duos sind sowohl die Arbeitssprache bei den Proben als auch die Texte in den Inszenierungen eine Mischung aus deutsch und englisch. ‚half past selber schuld‘ starteten ihre gemeinsame künstlerische Arbeit im Jahr 1998 zunächst als Band und einige Jahre später auch als Hörspielmacher*innen. Die meisten ihrer bisherigen Inszenierungen sind auf der Bühne der FFT Kammerspiele in Düsseldorf entstanden. Das Künstlerduo arbeitet mit einem festen freien Team aus Puppen- und Bühnenbauer*innen, Licht- und Tondesigner*innen, Musiker*innen, Puppenspieler*innen, Tänzer*innen, Choreograf*innen, Sprecher*innen, Videokünstler*innen, Grafiker*innen usw. zusammen. Seit 2012 erhalten ‚half past selber schuld‘ die Spitzenförderung des Landes NRW im Bereich Darstellende Künste.

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ist. Der Transhumanismus ist eine philosophische Denkrichtung, die anstrebt, die Grenzen, die dem Menschen durch den Tod gesetzt sind, durch den Einsatz von Technik zu erweitern.2 Diese liegt in der dargestellten Zukunft in den Händen der Firma Wonderland Inc., die auch an zwei Stellen der Inszenierung in Person von Franz Wonderland, vermutlich dem Firmenchef, in Erscheinung tritt. Zugleich unterbrochen und zusammengehalten wird die Inszenierung von Videoclips, die zwischen den einzelnen Szenen eingeblendet werden. Dazu gehören Werbeclips für technische Neuheiten, Nachrichten aus der Zukunft und Einblicke in Handbücher für den Umgang mit technischen Geräten, vor allem mit Robotern. Zu den auf der Bühne dargestellten Szenen zählen unter anderem: eine Szene, in der gezeigt wird, wie der Mensch sich in Zukunft nach dem Tod in eine Cloud hochladen kann; eine Szene, in der ein selbstfahrendes Auto in Unfallsituationen entscheidet, welchen Verkehrsteilnehmer es überfährt; eine Szene, in der das Gehirn eines Serienkillers von einem Roboterarm manipuliert wird, um seinen Mordtrieb auszuschalten; eine Szene, in der dargestellt wird, wie in Zukunft Babys in der Mikrowelle ausgebrütet werden, um das Leben der Mutter nicht zu gefährden; und eine Szene, in der ein hochintelligenter Kampfroboter vor der Exekution Gedichte rezitiert. Verwendet werden in der Inszenierung vielfältige Figuren: darunter Klappmaulfiguren aus Schaumstoff, Holz und Silikon, Roboterarme aus Holz, Klappmaulfiguren, deren ‚Roboter‘-Augen elektronisch über Joysticks gesteuert werden, zweidimensionale Holzfiguren, Figuren auf Rollen oder eine Roboterfigur, die von einem Spieler aufgesetzt wird.3 Bis auf wenige Ausnahmen werden alle Figuren direkt und ohne den Einsatz von Fäden oder Stäben geführt. ‚half past selber schuld‘ treten außerdem auch als Menschen auf die Bühne, nähern sich dabei allerdings durch den Einsatz von Masken bzw. Schminke und Schaumstoffperücken äußerlich den Figuren auf der Bühne an. In der Anthologie Die technologische Bedingung – Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt stellt der Medienphilosoph Erich Hörl die These auf, in kybernetischen Verhältnissen, in denen wir uns heute befänden, verschiebe sich „der Status und Sinn von Objekten als solchen […] hin zu systemischen, aktiven, intelligenten und kommunizierenden Objekten“.4 Hörl formuliert weiter: „Die solchermaßen technologisch implementierte sinnkulturelle Korrektur mündet schließlich in eine fundamentalökologische Reorientierung der Erkenntnis- und Seinsweise.“5 Dieser Reorientierung des Menschen in kybernetischen Verhältnissen widmet

2 | Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, Transhumanismus – „Die gefährlichste Idee der Welt“!?, Freiburg 2016, S. 9–10. 3 | Die Figuren werden mit Hilfe von weiteren Puppenbauern und -spielern wie Florian Deiss, Kevin Klimek und Bruno Belil selber hergestellt. 4 | Erich Hörl, Die technologische Bedingung, Frankfurt a. M. 2011, S. 25. 5 | Ebd.

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sich ‚half past selber schuld‘ in Kafka in Wonderland. Mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Objekte werden in der Inszenierung aktiv und kommunizieren mit ihrer menschlichen Umwelt. Die Menschen, die mit ihnen in Kontakt kommen, wie zum Beispiel die Soldaten, die dem feindlichen Kampfroboter gegenübertreten, die Passanten, die dem selbstfahrenden Auto begegnen oder das Pärchen, das sein Baby in der Mikrowelle ausbrütet, reagieren verunsichert und müssen ihre eigene Position dem aktiven Objekt gegenüber neu definieren. Das Figurentheater eignet sich für die Darstellung dieser Verschiebung und Reorientierung, ist doch die Verschiebung von Objekten als solchen hin zu aktiven Objekten ein Vorgang, der das Figurentheater auszeichnet und vom Theater mit menschlichen Darsteller*innen unterscheidet. So ähnelt die Reorientierung des Menschen in kybernetischen Verhältnissen der Reorientierung der Zuschauer*innen im Figurentheater, die leblose Objekte auf der Bühne scheinbar lebendig werden sehen. Zugleich bleiben die Spieler*innen im Figurentheater für die Zuschauer*innen jedoch sichtbar. Die Zuschauer*innen wissen um die Anwesenheit der Spieler*innen, auch wenn sie nicht bewusst auf diese achten, das heißt, die Zuschauer*innen werden permanent darauf hingewiesen, dass ihnen etwas gezeigt, etwas vorgeführt wird. Werner Knoedgen spricht in seiner Untersuchung zum Figurentheater Das unmögliche Theater von der „,Präsenz‘ des Spielers“6, die im Figurentheater stets mit zu inszenieren sei. Dieser Moment wird in Kafka in Wonderland noch dadurch verstärkt, dass zusätzlich auf der inhaltlichen Ebene Figuren als eine Art Moderator auftreten: so zum Beispiel der Firmenchef Franz Wonderland, der Nachrichtensprecher Johnny Cashmere, eine computergenerierte Version von Jesus, die so bezeichneten A.I.-Girls oder auch Erzählerstimmen aus dem Off, die sich an die Zuschauer*innen wenden und ankündigen, dass nun etwas gezeigt wird. Diese Ansprache an das Publikum, dieser Gestus des Zeigens, den Brecht für ein Theater mit menschlichen Darsteller*innen vorschlug, „um dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen“,7 ist in Kafka in Wonderland auf formaler wie auf inhaltlicher Ebene stets präsent. Der dem Figurentheater immanente Gestus des Zeigens erzeugt jedoch nicht nur eine kritische Haltung zum Gezeigten, sondern eignet sich auch für den Einsatz von Komik, wie Erika Wickel schreibt: „Indem der Figurenspieler sich selbst zerteilt, gibt er gleichzeitig mit der Figur

6 | Werner Knoedgen, Das unmögliche Theater: Zur Phänomenologie des Figurentheaters, Stuttgart 1990, S. 77. 7 | Bertolt Brecht, „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“, in: Gesammelte Werke, Band 15, Schriften zum Theater 1, Frankfurt a.M. 1967, S. 341.

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auch einen Teil seiner selbst dem Lachen preis.“8 Ein satirischer Blickwinkel, der auf dieser dem Figurentheater eigenen Komik aufbaut, kennzeichnet die kritische Darstellung der zukünftigen Welt in Kafka in Wonderland. Vieles in dieser Welt funktioniert nicht. So sind zum Beispiel die Bremsen des selbstfahrenden Autos kaputt, die Internetverbindung der Cloud, in die man sich nach dem Tod hochladen kann, ist langsam, die Mikrowelle, die das Baby ausgebrütet hat, beginnt einen Sorgerechtsstreit mit den Eltern und der Serienkiller, dessen Gehirn manipuliert wurde, mordet weiter. Es wird deutlich, dass die neue Welt, die Wonderland Inc. verspricht, nicht perfekt und von Widersprüchen geprägt ist. Diese Widersprüche finden sich auch auf formaler Ebene in der Inszenierung wieder. Die Theaterkritikerin Katrin Bettina Müller fasst diese zusammen, wenn sie den Stil von ‚half past selber schuld‘ in Bezug auf eine frühere Inszenierung als „Rache von Low-Tech an den Effekten von High-Tech“9 bezeichnet. Der Widerspruch zwischen einer dargestellten hochtechnisierten Zukunft und den zwar ausgefeilten, aber ohne Ingenieurswissen konstruierten Schaumstofffiguren und Holzschildern führt auf der formalen Ebene die widersprüchliche Darstellung der Welt fort, die ‚half past selber schuld‘ bereits auf inhaltlicher Ebene präsentiert. So wird zum Beispiel die Cloud mit zweidimensionalen bemalten Holzschildern und Pappmaché-Wolken dargestellt, das selbstfahrende Auto der Zukunft sieht eher aus wie ein Kinderspielzeug, und der Roboterarm, der das Gehirn des Serienkillers manipuliert, hat die gleiche Funktionsweise wie der Arm einer Schreibtischlampe. Auch durch zahlreiche Anachronismen wird die Widersprüchlichkeit der Darstellung verstärkt. So erinnert der Stil der Nachrichten, die in kurzen vorproduzierten Videoclips zwischen den Szenen eingeblendet werden, an die 1980er-Jahre, auch die gezeigten Werbeclips wirken aus der Zeit gefallen, und die eingeblendeten Bedienungsanleitungen sind im Stil der 1950er-Jahre illustriert. In der Szene, in der das selbstfahrende Auto der Zukunft eine Fußgängerin überfahrt, erscheinen die Passanten auf der Straße als tanzende mechanische Figuren, eine Referenz an das von Oskar Schlemmer mitentworfene Triadische Ballett aus den frühen 1920er-Jahren. Die Darstellung der technisierten Zukunftswelt als eine widersprüchliche Welt verhindert, dass Kafka in Wonderland als apokalyptisches Szenario oder gar als hoffnungsvolle Zukunftsvision wahrgenommen werden kann. Sie erstreckt sich auf weitere Ebenen der Inszenierung: So passt sich zum Beispiel auch die Art und Weise, wie der Tanz als Mittel in der Inszenierung eingesetzt wird, in diese Darstellungsweise ein. Jede Szene der Inszenierung enthält eine Tanzsequenz, die entweder von Figuren oder von als Figuren ‚maskierten‘ Tänzern ausgeführt

8 | Erika Wickel, „Auf Distanz oder Wo der Spaß aufhört“, in: double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 19/3, 2010, S. 6. 9 | Katrin Bettina Müller, „Der wüste Planet“, in: die tageszeitung, 15.11.2003.

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wird.10 Der Tanz als lebendige und körperliche Ausdrucksform wird der technisierten Welt der leblosen Objekte entgegengesetzt. In den meisten Fällen sind es jedoch die Roboter selbst, die die Tänze vollführen. Auch daraus ergibt sich ein Widerspruch, auch wenn nach Kleists vielfach zitierten Ausführungen zum Marionettentheater gerade die maschinenhaften Figuren als Tänzer*innen geeignet seien, da sie durch die Trennung von den Spieler*innen im Gegensatz zu den menschlichen Tänzer*innen keine Hemmungen hätten und von der Schwerkraft befreit seien.11 Tatsächlich wirken die Tänze der von den Puppenspieler*innen gesteuerten Maschinenfiguren sowie der durch Masken figurenhaft erscheinenden und mechanisch tanzenden menschlichen Tänzer sehr grazil und befreit. Zum Tanz kommt es in der Inszenierung zudem fast immer im Zusammenhang mit dem Ereignis des Todes. Der Widerspruch zwischen Tanz und Tod, zwischen lebendigem Mensch und toter Materie, die zum Leben erweckt wird und wieder ‚stirbt‘, ist Mascha Erbelding zufolge „für das Figurentheater grundlegend und zu einem wesentlichen Teil für die Faszination dieser Theaterform verantwortlich“.12 Laut Erbelding „spielen neben Schein und Sein, also der Theaterhaftigkeit des Gezeigten, auch immer Sein und Nicht-Sein im Figurentheater eine Rolle“ und „besonders bewegend“, so Erbelding, seien im Figurentheater „die Szenen, in denen eine Figur ‚stirbt‘“.13 „Vielleicht weil sie über kein selbstständiges Leben verfügt, ist dieser Tod oft tragischer als der ‚nur‘ gespielte Tod eines Schauspielers“,14 so Erbelding. Besonders deutlich wird dieses Element von ‚half past selber schuld‘ in der ersten und in der letzten Szene eingesetzt. So beginnt die Inszenierung mit einer Sterbeszene eines Vaters, dessen Töchter zusammengekommen sind. Nach dem als Werbeslogan formulierten Hinweis an das Publikum, dass das Hochladen in die Cloud den Tod in Zukunft abschaffen wird („You can upload yourself in a cloud!“), führen die Töchter einen Tanz am Sterbebett des Vaters auf. Und in der letzten Szene wird gezeigt, wie ein Kampfroboter nach der Exekution feindlicher Soldaten in den ‚Feierabendmodus‘ schaltet und anfängt zu tanzen, worauf sich

10 | Beispiele hierfür sind der Tanz der Töchter nach dem Tod ihres Vaters, der es verpasst hat, sich in die Cloud hochzuladen, der Tanz der Passanten in der Szene mit dem selbstfahrenden Auto, der Tanz des Kinderchores in der virtuellen Cloud, der Tanz der werdenden Eltern, während ihr Baby in der Mikrowelle ausgebrütet wird, der Tanz des Kampfroboters nach getaner Arbeit usw. 11 | Vgl. Heinrich von Kleist, „Über das Marionettentheater“, in: Lektionen 7: Theater der Dinge, Markus Joss und Jörg Lehmann (Hg.), Berlin 2016, S. 133–137. 12 | Mascha Erbelding, „Tod und Figurentheater – Eine Einführung“, in: double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 22/1, 2011, S. 4. 13 | Ebd. 14 | Ebd.

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die toten Soldaten erheben und als Untote in den Tanz des Kampfroboters einsteigen. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass Kafka in Wonderland von ‚half past selber schuld‘ von einer Ästhetik der Widersprüche geprägt ist. Werner Knoedgen unternimmt in seiner Studie zum Figurentheater eine Abgrenzung des Figurentheaters vom Theater mit menschlichen Darsteller*innen und kommt zu dem Schluss, dass der Widerspruch in der Darstellung das Gattungsmerkmal ist, das das Figurentheater vom Theater mit menschlichen Darsteller*innen unterscheidet. Für die Analyse dieser Trennung in „ein darstellendes Subjekt auf der einen und ein dargestelltes Objekt auf der anderen Seite“,15 bzw. in den „rollenlosen Darsteller“ und die „darstellungslose Rolle“16 wendet Werner Knoedgen das dialektische Denkmodell Hegels an und formuliert: Das Objekt dieses Theaters wird zwar einerseits ‚bewahrt‘ in seiner unbestreitbaren materiellen Existenz; dasselbe Objekt wird in gewisser Weise aber auch ‚beseitigt‘, denn es wird zur handlungstragenden Rolle erklärt. Ebenso wird das Subjekt dieses Theaters ‚bewahrt‘ in seiner unbestreitbaren, absoluten Handlungsunfähigkeit; es ‚beseitigt‘ sich aber, wenn es so tut, als ob es selbst nicht handelt. Beide Partner tragen in sich einen antithetischen Widerspruch, den sie, jeder für sich, mitnehmen in eine gemeinsame Synthese, in der sie diese Widersprüche ‚aufheben‘ können.17

Die dialektische Beschaffenheit des Figurentheaters bietet ‚half past selber schuld‘ ein Feld mit vielfältigen Möglichkeiten für eine dialektische Darstellung der technisierten Zukunft. Werner Knoedgen kommt zu dem Schluss, dass die Widersprüchlichkeit der Darstellung den Puppenspieler*innen eine „,phantastische‘ Freiheit“18 ermöglicht und den Zuschauer*innen des Figurentheaters die Möglichkeit bietet, einer „unaufhörlichen Kreation bei[zu]wohnen“.19 ‚half past selber schuld‘ nutzen die ‚phantastische Freiheit‘, das kreative Potenzial der Widersprüchlichkeit des Figurentheaters in Kafka in Wonderland und erschaffen einen kritischen Blick auf die Reorientierung des Menschen in der technisierten Welt, indem sie sich der originären Mittel des Figurentheaters bedienen.

15 | Werner Knoedgen, Das unmögliche Theater, 1990, S. 99. 16 | Ebd., S. 103. 17 | Ebd., S. 102. 18 | Ebd., S. 109. 19 | Ebd.

Digitale Diagrammatologie des Tanzes? Zur Aufzeichnung und Annotation von Tanz mit der Piecemaker-Software David Rittershaus Die Webanwendung ‚Piecemaker‘ ist im Rahmen der Arbeit von The Forsythe Company von dem Tänzer und Ensemblemitglied David Kern zur Aufzeichnung von Proben und Aufführungen der Compagnie entwickelt worden und wurde von 2008 bis 2014 in diesem Sinne eingesetzt. Piecemaker ermöglicht es mit dem Computer am Ort des Geschehens gleichzeitig Videos und textliche Anmerkungen aufzuzeichnen. Dieses Aufzeichnungsverfahren ist eine Besonderheit der Software, das auch ‚Live-Annotation‘ genannt wird. Die Annotationen werden dabei nicht auf Basis eines Videos erstellt, sondern mit Blick auf das Geschehen im Tanzstudio oder auf der Bühne, während eine Videokamera die Situation gleichzeitig filmt. Sobald das Video von der Kamera übertragen und in die Webanwendung hochgeladen wird, verbindet es sich mit den Textanmerkungen, die dann in Form von Videoannotationen vorliegen. Da die Software als Webanwendung konzipiert ist, können die Kommentare auch von mehreren Personen zeitgleich erfasst werden, sodass sich verschiedene Perspektiven auf dasselbe Material festhalten lassen. Annotationen können auch nachträglich hinzugefügt oder von Beginn an auf Basis eines hochgeladenen Videos angelegt werden. In diesem Fall wird das Verfahren auch als ‚Post-Annotation‘ bezeichnet. Sonst eher hermetisches Videomaterial wird mittels der Annotationen durchsuchbar und liegt direkt chronologisch strukturiert vor. Angesichts der täglichen Aufzeichnung von mehreren Stunden Videomaterial bei den Proben der Forsythe Company über sechs Jahre hinweg ist es schwer vorstellbar, das umfassende Probenarchiv ohne die Struktur der Zeitleiste und die Notizen noch sinnvoll sichten und nutzen zu können. Die Annotationen aus dieser Zeit wurden von David Kern, der Dramaturgin Freya Vass-Rhee und den Assistent*innen ‚live‘ verfasst und protokollieren die Gespräche während der Proben, halten Anweisungen und Kommentare von William Forsythe fest, dokumentieren Szenenabläufe, Musikeinsätze, Lichtcues und benennen die vereinbarten Improvisationsregeln. Piecemaker half in erster Linie Freya Vass-Rhee, die Videoaufzeichnung und ihre Notizen zusammenzuhalten und bei Bedarf bestimmte Momente schnell wieder zu finden, diente aber auch Forsythe zur Vor-

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David Rittershaus

und Nachbereitung von Proben. Auch wenn dies nicht die primäre Intention der Forsythe Company war: Es ist in der Zeit der Nutzung ein umfassendes Archiv entstanden, das die Entstehungsprozesse einiger Stücke beinahe vollständig dokumentiert. Im Jahr 2017 hatte Motion Bank (ursprünglich von William Forsythe initiiert, seit 2016 als Forschungsprojekt an der Hochschule Mainz unter Leitung von Florian Jenett und Scott deLahunta) die Möglichkeit, mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung einen Forschungsplan für das kommentierte Probenarchiv der Forsythe Company zu entwickeln.1 Dazu gehörten eine umfassende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Archivs und Gespräche mit einigen Personen, die an seiner Entstehung mitwirkten, darunter die ehemalige Dramaturgin Freya Vass-Rhee und der Tänzer David Kern. Mit 235 eingetragenen Videos und 905 Annotationen ist Sider (UA 2011) das am umfänglichsten dokumentierte Stück des Archivs, einschließlich der Proben und späterer Aufführungen bis zum Februar 2014. Die Aufzeichnungen des Entstehungsprozesses von Sider begannen am 14. April 2011 mit einer Art Schreibarbeit („paperwork“). Die Tänzer*innen arbeiten selbstständig an Karten („maps“), wobei die genaue Aufgabe aus den Videoaufzeichnungen nicht eindeutig hervorgeht. Eine Annotation von Freya Vass-Rhee vom 13. April 2011 gibt etwas mehr Auskunft: [...] the group generates a list of phrases based partially on people’s names; these are to be mapped onto a spherical model of space. Thinking of a ‚retrospective premiere‘ that is topographically determined in the way of Alien or Endless House [beides ForsytheArbeiten, Anm. d. Verf.].2

Die Übersetzungen in Topographien dienten den Tänzer*innen in den darauffolgenden Proben als eine Art Score. Rund um die auf Video festgehaltenen offenen Versuche, sich in diesen Topographien körperlich zu bewegen, ist der Erfahrungsaustausch in Form von Gesprächen dokumentiert. Was in den Audiospuren der Videos aufgrund der schlechten Mikrofonierung unverständlich bleibt, hielt Freya Vass-Rhee schriftlich in den Annotationen fest. So wird William Forsythe in Bezug auf die Karten zitiert:

1 | Aufgrund offener rechtlicher Fragen konnte der Plan bisher nicht umgesetzt werden. 2 | Annotation, 13.04.2011, ID: 18541, Autorin: Freya.

Digitale Diagrammatologie des Tanzes? You have to change your mental scale to be able to put yourself in the topography of the map – like when you were a kid and the blankets became mountains, etc. This world has come to you […]. Each map is trying to figure out how to talk to you; you have to figure out how to let it.3 Abb. 1, Ansicht aus der Piecemaker-Software der Forsythe Company. Nebeneinander von Videobild und damit verknüpfter Annotationen.

Bei der Probe am darauffolgenden Tag transformieren die Tänzer*innen die Karten zusätzlich durch Schnitte und Falten, um topographische Muster zu verstärken. Gegen Ende der Probe werden Szenen mit mehreren Tänzer*innen improvisiert, in denen sich eine Gruppe in ein Verhältnis zu einer Einzelperson setzt, die sich gerade durch ihre eigene Karte bewegt, diese also tänzerisch interpretiert. Die entwickelten Karten werden über die nachfolgenden Proben hinweg weitergeführt und fast durchgehend bis zu den Aufführungen für Improvisationen genutzt. Was Sybille Krämer allgemein für diagrammatische Formen wie Schriften, Diagramme und Karten festhält, beschreibt vermutlich recht gut die Rolle, welche die „maps“ bei der Entwicklung von Sider für das Forsythe-Ensemble eingenommen haben: [...] gemeinsam ist ihnen zumindest, dass sie die vertraute Binarität von Sprache und Bild unterlaufen, insofern Diskursives und Ikonisches sich in ihnen mischen – allerdings in je unterschiedlichem Verhältnis. Und gemeinsam ist ihnen auch, dass sie

3 | Annotation, 14.04.2011, ID: 18550, Autorin: Freya.

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David Rittershaus o­ perative Funktionen erfüllen, indem sie der Kognition oder Orientierung und nicht selten auch der künstlerischen Exploration dienen.4

Zu betonen wäre für das beschriebene choreographische Verfahren der Aspekt der Operativität und der künstlerischen Exploration. Aber die in den aufgezeichneten Inhalten aufgeworfenen Fragen verbinden sich hier auch mit Fragen des Instruments der Aufzeichnung selbst: Welche Form der Tanzaufzeichnung aus der Verbindung von Text und (Video-)Bild bzw. graphischen Elementen liegt hier vor und für wen kann sie welche Funktion erfüllen? Im Folgenden soll anhand des Begriffs des Diagrammatischen dargelegt werden, dass es dabei Parallelen zu historischen Formen von Tanznotation gibt, sodass sich daraus zu gewissen Teilen ein Verständnis von Tanzannotation (als Form der Notation) ableiten lässt. Indem die Piecemaker-Aufzeichnungen als Schriftphänomen aufgefasst werden, lassen sie sich als Exteriorisierung begreifen, als eine „Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln als denen des Lebens“,5 also der Frage der Technik zugehörig, womit auch „die Sprache von der Technizität und der Prothetizität untrennbar wird“.6 Die Frage, für wen annotierte Tanzaufzeichnung welche Funktion erfüllen kann und wie sie sich verstehen lässt, stellt sich nicht nur vor dem Hintergrund des Probenarchivs der Forsythe Company. In der Phase der Zusammenarbeit mit der Company in Frankfurt übernahm Motion Bank die Piecemaker-Software und entwickelte sie für die eigene Nutzung zur Erfassung zeitgenössischer choreographischer Arbeiten weiter.7 Doch von Annotationen sprechen Scott deLahunta und Florian Jenett bereits in Bezug auf frühere Projekte William Forsythes. Die graphischen Überlagerungen der knapp 65 Videos seiner CD-ROM Improvisation Technologies: a Tool for the Analytical Dance Eye8 (1999) zur Vermittlung

4 | Sybille Krämer, „Schemata und Diagramme: über ‚Räumlichkeit‘ als Darstellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen“, in: Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann, ­K irsten Maar (Hg.), Notationen und choreographisches Denken, Freiburg i. Br./Berlin/ Wien 2010, S. 27–45, hier S. 35. 5 | Bernhard Stiegler, Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus, Zürich/Berlin 2009, S. 184. 6 | Ebd., S. 195. 7 | Vgl. Scott deLahunta und Florian Jenett, „Making digital choreographic objects interrelate. A focus on coding practices“, in: Timon Beyes, Martina Leeker und Imanuel Schipper (Hg.), Performing the Digital. Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld 2017, S. 63–79, hier S. 73. 8 | William Forsythe, Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Karlsruhe 1999.

Digitale Diagrammatologie des Tanzes?

s­einer eigenen Bewegungssprache betrachten sie als graphische Annotationen.9 Für die Erstellung der Visualisierung der Webseite Synchronous Object for One Flat Thing Reproduced10 (2009) wurden Videos textlich annotiert. Die Annotationen wurden damals jedoch in Listen geführt, die von den Videos unabhängig blieben. Annotationen dienten hierbei, wie deLahunta und Jenett darlegen zu Zwecken der Repräsentation: „[…] not only to draw attention to two key choreographic structuring components, the cueing and alignment systems, but also as a part of instructional videos.“11 Die Weiterentwicklung der Piecemaker-Anwendung durch Motion Bank wurde nicht nur für die eigene Arbeit verwendet, sondern auch mit Partner*innen aus der Tanzpraxis erprobt.12 Seit Florian Jenett Motion Bank an der Hochschule Mainz etablieren konnte, wurde Piecemaker überarbeitet, weiterentwickelt und in ein umfassenderes Web-System integriert. Die Entwicklung der Software versteht sich dabei als Teil der Forschung und ist nicht auf die Etablierung eines kommerziellen Produkts ausgerichtet. Sie soll vor allem die Erprobung und Entwicklung damit verbundener Dokumentationsweisen und Forschungsansätze unterstützen.

9 | Vgl. deLahunta und Jenett, „Making digital choreographic objects interrelate“, 2017, S. 68. 10 | https://synchronousobjects.osu.edu/ [08.05.2019]. 11 | deLahunta und Jenett, „Making digital choreographic objects interrelate“, 2017, S. 70. 12 | Darunter Partner*innen aus dem Bereich der Tanzausbildung in Frankfurt, Rotterdam und Berlin. Inzwischen wird der Einsatz der Webanwendung auch durch das digitale Pina Bausch Archiv getestet. Für die mit Anwendung verbundenen Arbeitsweisen zur Aufzeichnung von Tanz, Performance und implizitem bzw. ‚verkörperten‘ Wissen zeigen auch Museen Interesse, darunter das British Museum und die Tate Modern, mit denen Motion Bank Workshops durchführt.

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David Rittershaus Abb. 2, Ansicht der aktuellen Version von Piecemaker in der Weiterentwicklung durch Motion Bank. Ausschnitt aus der Prozessdokumentation von Effect (Taneli Törmä, tanzmainz).

Die Anwendung kam auch bei der Kooperation mit der tanzmainz-Compagnie des Staatstheaters und der Kunsthalle Mainz (2018/2019) zum Einsatz. Im Zuge des Projekts Between Us13 wurde, ähnlich wie es bei der Forsythe Company geschah, der Entstehungsprozess der Choreographie Effect des finnischen Choreographen Taneli Törmä mittels Live-Annotation dokumentiert. Die Prozessdokumentation wurde im Rahmen des Projekts als Bestandteil einer umfassenden Dokumentation der Choreographie an bildende Künstler*innen weitergegeben, die das Material als Ausgangspunkt für eigene künstlerische Arbeiten nutzten. Diese waren von März bis Juni 2019 in der Kunsthalle Mainz zu sehen. Die Aufzeichnungen der Proben und die dadurch gewonnen Einblicke dienten Motion Bank außerdem als Basis, um einen dokumentarischen Teil zu der Choreographie für die Between Us-Ausstellung zu entwickeln. Zusätzlich zu der Ausstellung entstand auch eine Online-Publikation rund um die Choreographie,14 die Material aus dem Entstehungsprozess beinhaltet und auf dem daraus gewonnen Wissen aufbaut. Die Einsatzbereiche sind also vielfältig und reichen vom dramaturgischen Dokumentations-Werkzeug (Forsythe Company) bis hin zur Bewegungsanalyse (Tanzausbildung). Auch die Nutzer*innen-Perspektiven sind entsprechend unterschiedlich, vergleicht man den nachträglichen Blick ins Archiv mit der Verwendung für eigene Aufzeichnungen. In den Geisteswissenschaften spielen digitale Annotationen bisher vor allem im Bereich der so genannten ‚Digital Humanities‘ eine Rolle, wobei dort anzutreffende Methoden der Formalisierung bzw. der

13 | Gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. 14 | https://betweenus.motionbank.org/de/ [14.05.2019].

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quantitativen und automatisierten Auswertung und die Verwendung für maschinelles Lernen insbesondere im Kontext der Erforschung zeitgenössischen Tanzes kritisch zu betrachten ist.15 Ein wichtiges Merkmal von Piecemaker ist, dass die Software die Erfassung unstrukturierter Inhalte (freier Texte) unterstützt, sodass eine deskriptive und erläuternde Verwendung von Annotationen möglich ist, was angesichts der narrativen Qualität von ‚Tanzwissen‘, die u.a. Gabriele Klein hervorhebt,16 erforderlich scheint. Es lassen sich dennoch, je nach Zielsetzung, aus den Aufzeichnungen und im Laufe eines Prozesses durchaus Einzelbegriffe herausdestillieren, in denen eine „Übersetzung des Namenlosen in den Namen“17 zu erkennen ist. Im Rahmen der Prozessdokumentation zu Effect konnten auf diese Weise tänzerische Vorgänge in den Annotationen zunächst deskriptiv erfasst werden. Die Phrasen und Abschnitte der Choreographie bekamen im Laufe des Prozesses durch die Tänzer*innen18 und den Choreographen Namen wie „Mirror“, „Figure 8“ oder „Spider Web“, über die sie sich referenzieren lassen. Ähnliche Szenentitel und Phrasen-Bezeichnungen finden sich auch in den Aufzeichnungen der Forsythe Company.19 Im Zuge der Annotation von Tanz lassen sich also durchaus kontextspezifische Schemata ableiten, beispielsweise im Hinblick auf die Struktur von Choreographien, ohne dass deren Übertragbarkeit oder universelle Anwendbarkeit gegeben ist.

15 | Vgl. David Rittershaus, „Tanz annotieren – Zur Entstehung, den Möglichkeiten und den Perspektiven digitaler Methoden in der Tanzwissenschaft“, in: Patrick Sahle (Hg.), DHd 2019. Digital Humanities: multimedial & multimodal. Konferenzabstracts. Universitäten zu Mainz und Frankfurt, 25.–29.03.2019, Frankfurt a. M. 2019, S. 216–219, unter: http://doi.org/10.5281/zenodo.2600812 [18.03.2020]. 16 | Gabriele Klein, „Tanz in der Wissensgesellschaft“, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 25–37, hier S. 32. 17 | Walter Benjamin, „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Walter Benjamin, Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Angelus Novus, Frankfurt a. M. 1966, S. 9–26, hier S. 20. 18 | Bojana Mitrović, Amber Pansters, Milena Wiese, Zachary Chant und Finn Lakeberg. 19 | Vass-Rhee schreibt zum Beispiel über die Rolle der „Tuna Phrase“ für die Entwicklung des Stücks Whole in the Head, die unter diesem Namen auch in den Piecemaker-Aufzeichnungen referenziert wird. Vgl. Freya Vass-Rhee, „Melding an Ensemble at Memory’s Limits: William Forsythe’s ‚Whole in the Head‘“, in: Congress on Research in Dance/Society of Dance History Scholars Joint Conference „Authenticity and Appropriation“. 3–6 Nov 2016, Pomona College, Claremont, California, unter: https://kar.kent. ac.uk/65700/ [18.03.2030].

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Ob nun deskriptive Texte oder Begriffe einer Schematisierung verwendet werden: sie stehen in Form von Annotationen in Verbindung mit der Anschaulichkeit des Videobildes und sind eingebettet in die graphischen Elemente der Benutzeroberfläche, welche die Inhalte strukturieren und sortieren (z.B. tabellarische Auflistung der Aufnahmen, Zeitleiste usw.). Diese Text-Bild-Verbünde, die sich trotz ihrer inhaltlichen Disparität auf der „cultural layer“20 der Benutzeroberfläche manifestieren (in Reziprozität zur „computer layer“, der Ebene der Daten und ihrer Verarbeitung), sollen hier als diagrammatisch verstanden werden. Die Philosophin Sybille Krämer schreibt: Indem wir durch Linienzüge, durch Beschriftung und Bebilderung eine Oberfläche in eine Fläche umwandeln, transformieren wir umgebungsräumliche Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität […]. Ein durch Begrenzung handlicher, oftmals auch handhabbarer Raum wird erzeugt, den wir kraft seiner Verflachung – jedenfalls tendenziell – vollständig überblicken und gegebenenfalls auch überarbeiten können.21

Die daraus hervorgehenden visuellen Artefakte, also Schriften, Notationen, Tabellen und Graphen bezeichnet Krämer als „‚Inskriptionen‘ bzw. ‚das Diagrammatische‘“.22 Es wundert angesichts dieser Beschreibung nicht, dass Krämers Ansatz bereits mit historischen Formen von Tanznotation in Verbindung gebracht wurde. Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann und Kirsten Maar greifen jenes Potenzial der übersichtlichen Fläche in Bezug auf die Hybridpartitur Auguste Ferrères auf: Dieser Blick aus der Vogelperspektive auf die Wege und Gänge versetzt eben diese aus der zeitlichen Sukzessivität in eine Simultananordnung, ermöglicht einen Überblick, den der Tanz – die Praxis der Bewegung im Raum – niemals gewährt […].23

Bei der Annotation mit Piecemaker werden zunächst einmal keine Raumwege verzeichnet und es wird auch nicht mit graphischen Abbildungen von Körperhaltungen oder Schrittfolgen gearbeitet. In dem Nebeneinander von Videobild und Beschriftung kann man dennoch eine Funktionsweise des Diagrammatischen sehen, die Krämer beschreibt: „In der Tat wirken im Diagramm stets Anschauliches und Begriffliches zusammen und stiften dann ihrerseits eine Verbindung

20 | Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge/MA 2001, S. 46. 21 | Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, S. 16. 22 | Ebd., S. 18. 23 | Brandstetter, Hofmann und Maar (Hg.), Notationen und choreographisches Denken, 2010, S. 13.

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von ­A nschauung und Denken beim Erkennenden.“24 Es ließe sich auch weniger verfänglich sagen: beim Betrachtenden, beim Schlussfolgernden. Diagrammatisch lassen sich auch die (tabellarische) Zeitleiste oder die in Listen variabel sortierbaren Videos verstehen. Lange, unüberschaubare Prozesse werden darin auf verschiedene Weisen übersichtlich dargestellt und lassen sich leichter überblicken. Die in den letzten Jahren neu geschaffene Möglichkeit innerhalb des Web Systems Annotationen und Videoausschnitte herauszufiltern und auf einer (geschlossenen oder öffentlichen) Webseite frei zu arrangieren, mit anderen Bildmedien in Bezug zu setzen und durch Texte zu ergänzen,25 zeigen Möglichkeiten der Konfiguration und Rekonfiguration auf, die Krämer unter dem Stichwort „Operativität“ als eine von zwölf Grundeigenschaften des Diagrammatischen anführt.26 Genauso wenig wie die historischen Tanznotationen geht eine Software wie Piecemaker mit ihrer Benutzeroberfläche voll und ganz in Krämers Verständnis des Diagrammatischen auf. Krämer betrachtet den Einbezug von Software in ihren Ausführungen skeptisch, gerade wegen der Rolle der Ebene hinter der Oberfläche („computer layer“): Durch Flächigkeit wird ein artifizieller Sonderraum geschaffen, welcher auf der Annullierung eines uneinsehbaren Dahinter/Darunter beruht und einen synoptischen Überblick stiftet, der uns im dreidimensionalen Umgebungsraum – gewöhnlich – versagt ist.27

Krämers Bedenken können auch in Bezug auf die kritische Diskussion von Benutzeroberflächen bzw. Interfaces als Oberfläche einer „Blackbox“ betrachtet werden, innerhalb derer eine maßgebliche Strukturierung stattfindet, ohne dass sich dieser Prozess für Nutzer*innen nachvollziehen ließe.28 Von anderen wird der Computer jedoch explizit als Medium gesehen, das in enger Verbindung mit dem Diagrammatischen steht:

24 | Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis, 2016, S. 86. 25 | Siehe: https://betweenus.motionbank.org/de/, [14.05.2019]. Hier kommen auch wieder Raumwege ins Spiel, die aufgrund der Einbeziehung von Motion Capture ­A ufzeichnungen im Rahmen des Between Us Projekts erstellt und mit den Textanmerkungen und Videoaufnahmen verbunden wurden. 26 | Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis, 2016, S. 83. 27 | Ebd., S. 65. 28 | Vgl. Alexander R. Galloway, The Interface Effect, Cambridge 2012.

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David Rittershaus Die große Parallele zwischen dem Computer als Medium und der Diagrammatik scheint darin zu liegen, dass die Digitalisierung von Zeichensystemen operative Möglichkeiten im Umgang mit diesen Zeichensystemen ermöglicht, die funktional mit der diagrammatischen Verwendung von Zeichensystemen vergleichbar sind.29

Mathias Bauer und Christoph Ernst diskutieren in ihrer medienwissenschaftlichen Einführung zur Diagrammatik diesbezüglich zwei Thesen: Zum einen, dass der Computer selbst diagrammatisch funktioniert, also auch selbst in diesem Sinne schlussfolgernd operieren kann. Zum anderen, „dass der Computer nur das effizienteste Medium ist, um diagrammatische Zeichenpraxen in der Kultur anzuwenden.“30 Die erste These betrachten Bauer und Ernst skeptisch, da der Computer nicht zu dem in der Lage sei, was der Zeichentheoretiker und Begründer der Diagrammatik Charles Sanders Peirce mit Abduktion meint, nämlich die „kreative“ Schlussfolgerung, die zu einem Ergebnis führt, das nicht in den Prämissen der diagrammatischen Konstruktion enthalten war, also eine neue Idee einführt. Auch für Krämer ist die Frage, wie sich aus diagrammatischen Konstruktionen neue Einsichten und neues Wissen gewinnen lässt „eine Kardinalfrage der Diagrammatologie.“31 Daran ließe sich freilich eine weiterführende Diskussion über das Verständnis von künstlicher Intelligenz anschließen, genauso wie kritische Diskussionen zum „maschinellen Verstehen“, wie es beispielsweise mit dem Semantic Web32 im Internet zum Tragen kommt. Die Thematik ist auch in Bezug auf die Piecemaker-Software relevant, weil sie die technologische Basis mit diesen Konzepten teilt, muss aber an anderer Stelle vertieft werden. Im Gegensatz zu Krämers Eingrenzungsversuch öffnet die Betrachtung des Feldes der Diagrammatik von Bauer und Ernst das Verständnis derselben.33 Ein weitergefasstes Verständnis des Diagrammatischen erscheint angesichts des Untersuchungsgegenstandes notwendig, da sowohl das ‚Dahinter‘ bei der Software eine Rolle spielt, als auch Zeitlichkeit ein zentraler, wenn nicht gar der entscheidende Aspekt dieser Form der Tanzaufzeichnung ist. Sowohl aus dem spezifischen als auch aus einem allgemeineren Verständnis des Diagrammatischen

29 | Matthias Bauer und Christoph Ernst, Diagrammatik: Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 189. 30 | Ebd. 31 | Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis, 2016, S. 85. 32  |  Vgl. Tim Berners-Lee, James Hendler, Ora Lassila, The Semantic Web. A new form of Web content that is meaningful to computers will unleash a revolution of new ­p ossibilities, in: Scientific American, 2001, unter: http://web.archive.org/web/20070713230811/ http://www.sciam.com/print_version.cfm?articleID=00048144-10D2-1C70-84A9809E C588EF21 [20.03.2020]. 33 | Bauer und Ernst, Diagrammatik, 2010, S. 64.

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lassen sich Einsichten zur Tanzannotation gewinnen. Ein Ziel davon könnte es sein, verschiedene Formen des Aufzeichnens von Tanz, egal ob mit Papier und Stift oder einer bestimmten Software, zusammen zu denken und – unter Beachtung der Unterschiede – gemeinsame Arbeitsweisen zu entwickeln. Gleichzeitig lässt sich aus einer übergreifenden, diagrammatischen Perspektive eine ahistorische Betrachtung der Piecemaker-Annotationen vermeiden. Claudia Jeschke weist in Bezug auf multimediale Tanzaufzeichnung zu Recht darauf hin: Es lässt sich im Vergleich mit den herkömmlichen unimedialen, verschrifteten Notationen fragen, ob die neuen Medien tatsächlich neue oder lediglich andere oder zusätzliche Erkenntnisse oder Wahrnehmungen von Tanz und Bewegung leisten (können).34

Aus der Auflösung der Opposition von Text und Bild35 im Diagrammatischen entstehen neue Schriftbilder. Als solche sollen hier auch die Aufzeichnungen mit Piecemaker verstanden werden, die sich als nicht-phonozentristische Schrift gegen ein Denken der Präsenz anführen lassen. Gerade die umfangreichen Aufzeichnungen der Forsythe Company und andere Prozessdokumentationen, die sich weniger um die Aufführungen und mehr um den Entstehungsprozess drehen, stellen ein Verständnis von Tanz in Frage, das den Tanz „in einer auffallend verallgemeinerten, ja essentialisierten Form für das Ephemere schlechthin reklamiert. Er steht gleichsam für ‚Aufführung‘ und wird als ein ‚gewaltiges, diskursgenierendes Megarätsel‘ ontologisiert.“36 Bernard Stiegler setzt die Kritik des „Phono-Logozentrismus“ in Bezug zur Technik: „Das Wort der Schrift gegenüberzustellen, bedeutet auch immer, den Menschen dem Tier gegenüberzustellen, indem man ihm auch die Technik gegenüberstellt.“37 Aus dem menschlichen Fall aus seiner „Ursprünglichkeit“ (Rousseau) heraus38 und der damit einhergehenden Veräußerlichung folgt für Stiegler:

34 | Claudia Jeschke, „Tanz-Notate: Bilder. Texte. Wissen“, in: Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann und Kirsten Maar (Hg.), Notationen und choreographisches Denken, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010, S. 47–66, hier S. 58. 35 | Steffen Bogen und Felix Thürlemann, „Jenseits der Opposition von Text und Bild: Überlegungen zu einer Theorie des Diagrammatischen“, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore: Zur Medialität religiöspolitischer Programme im Mittelalter, Stuttgart 2003, S. 1–22. 36 | Gabriele Brandstetter, Bild-Sprung: TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005 (= Theater der Zeit Recherchen 26), S. 203. 37 | Stiegler, Technik und Zeit, 2009, S. 183f. 38 | Ein ursprüngliches Fehlen, bei Lacan ein „manque à l’être“, der Mensch in seiner „ex-sistence“.

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„Der Mensch ist die Technik, das heißt die Zeit.“39 Am Punkt der Veräußerlichung finden sich die Prothesen, die den Versuch darstellen, einen ursprünglichen Mangel einzuholen, was ihn in die zeitliche Nachträglichkeit versetzt. Daraus kann Stiegler – in Anlehnung an André Leroi-Gourhan – eine Umkehrung des Technik-Verständnisses ziehen, in welcher die Technik den Menschen hervorbringt und nicht umgekehrt. Zu den Prothesen zählt Stiegler bereits die Sprache40 und es könnte – wie hier angeklungen – der Tanz sein, der ein solches Technik-ZeitSprache-Verhältnis anschaulich werden lässt, im Versuch ihn zu verschriftlichen. Das ist vorerst der Vorschlag: mit diagrammatischen Formen jenseits einer rein alphabetischen Schrift und entgegen eines „Phono-Logozentrismus“ die Rolle der Sprache im Tanz und in choreographischen Prozessen besser verstehen zu lernen. Was eine Frage der Technik bleibt – und der Zeit.

39 | Stiegler, Technik und Zeit, 2009, S. 157. 40 | Ebd., S. 157f.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis Robin Hädicke (machina ex) und Stefanie Husel In den theatralen Games der Gruppe machina eX treffen Theaterbesucher*innen auf technologische Ensembles, die für das Theatersetting recht ungewöhnlich sind: Bühnenräume sind hier nicht nur begehbar, sie sind auch benutzbar, bespielbar, ja, sie entfalten ihre theatrale Wirkung erst dann, wenn Zuschauer*innen zu Spieler*innen werden und – z.B. durch das Lösen vorgegebener Rätsel – die Narration vorantreiben. Dabei können sie je nach Inszenierung verschiedene Pfade beschreiten, die im Design der Theater-Spiele vorgesehen sind.1 Die Produktionsprozesse solcher (und ähnlicher) Formate gleichen daher eher der Produktion von Spielen, sie sind dem Game Design Prozess in mancher Hinsicht ähnlicher als dem ,üblichen‘ Probenprozess im Theater; beispielsweise müssen hier mögliche Spielverläufe und Rätsel ausprobiert bzw. ,durchgespielt‘ werden – im allerbesten Fall mit Test-Publikum (bzw. Test-Spieler*innen/ Spiel-Tester*innen). Dabei kommt es häufig zu Momenten des ‚Stolperns‘ oder ‚Aneckens‘: Spielerisch freies Handeln lässt sich dann momentweise nicht verwirklichen, z.B. weil sich technische Voraussetzungen als noch nicht ausgereift erweisen, oder weil Spielende über bestimmte praktische Wissensschätze nicht verfügen. Auf diese Weise wird die technische Bedingtheit theatraler ebenso wie spielerischer Erfahrung deutlich wahrnehmbar – für die Testspieler*innen und die Spiel-Produzent*innen. Im Anschluss an unseren Workshop zur praktischen Produktion neuer Spiele, den wir im Rahmen des GTW-Kongresses „Theater und Technik“ in Düsseldorf abgehalten haben, möchten wir in vorliegendem Text genannte Momente des Stolperns und Aneckens diskutieren. Denn sie erweisen sich in der Praxis als mindestens ebenso frustrierend wie ästhetisch produktiv. Hierfür soll der praktisch-technische bzw. handwerkliche Charakter des Spiele-Erfindens betont werden, wobei wir zunächst die Struktur aus ‚game‘ und ‚play‘ als ein Setting der technischen Ermöglichung besprechen, um uns darauf auf Hans-Ulrich

1 | Einen Überblick zu den Projekten von machina eX bietet die Website der Gruppe: www.machinaex.com [20.03.2020].

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Gumbrecht und dessen Nutzung des Heidegger’schen Begriffs der „Zuhandenheit“ zu beziehen. Weiterhin möchten wir – z.B. über den Exkurs zu biologisierenden Spieltheorien – das altbekannte Spiel-Paradox aus Freiheit und Reguliertheit betrachten und beschreiben, warum gerade dessen paradoxes Gestolpere neue Spielformen hervortreibt. Um auch unserer Textproduktion ein wenig spielerische Technik zu bewahren, haben wir dialogisch gearbeitet – theoretische Impulse von Theaterwissenschaftlerin Stefi Husel gingen dem machina eX Game-Designer Robin Hädicke zu, der sie mit Beispielen unterfütterte und wieder zurückschickte – und so weiter; aus diesem Grund ist der Text im Folgenden wie ein Interview ohne Interviewer*in aufgebaut. Stefi Husel: Ich bin über die Metapher bei der Beschäftigung mit dem Spielbegriff gelandet. Denn ich war auf der Suche nach einer Art und Weise, über komplexere, nicht traditionell dramatisch gebaute Theaterarbeiten zu sprechen, über postdramatische Theaterformate also, bei denen man sich genötigt fühlt zu fragen: „Was wird hier eigentlich gespielt?“2 Aufführungssituationen, die – neben dem momentanen Genuss – immer auch einen Weg öffnen, dass man sie hinterfragt. Zum Beispiel, indem sie einen zweifeln lassen, ob das, was man gerade sieht bzw. erlebt, eine Fiktion sein soll, oder real, oder vielleicht etwas dazwischen. Theatergänger*innen werden auf diese Weise – einmal mehr, einmal weniger angenehm – auf die eigene Rolle im Theater-Spiel erinnert.3 Die Frage „Was wird hier eigentlich gespielt“ verweist auf den Rahmen des Spiels, auf die Regeln seiner Aufrechterhaltung. Insofern bedeutete für mich das Nachdenken über Spiele immer auch, das Verhältnis von Spielregeln und dem eigentlichen Spielen zu hinter- bzw. zu befragen. Gibt es zum Beispiel so etwas wie ein genuines Verhältnis von ‚game‘ und ‚play‘? Anders als das Deutsche bietet das Englische, diese – in unserem Zusammenhang erhellende – begriffliche Unterscheidung. Betrachtet man ihre Herkunft erlauben beide Begriffe Einblick in ihre unterschiedliche semantische Verankerung: Während ,play‘ zurückgeführt wird auf die Wurzeln des Bewegung denotierenden Begriffes ‚plega‘, der im Oxford English Dictionary umschrieben wird mit „exercise, brisk or free movement or action‘“, wird davon ausgegangen, dass der Begriff ‚game‘ eine gemeinsame gotische Herkunft mit den Wörtern ‚man‘ bzw. ‚men‘ aufweist und entsprechend soziale Gemeinschaft und damit rituelle Regulation denotiert: „regarded by most Germanists as ­etymologically

2 | Vgl. hierzu Stefanie Husel, Grenzwerte im Spiel. Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie „Forced Entertainment“. Eine Ethnografie, Bielefeld 2014. 3 | Mit Lehmann besteht eine der wichtigsten Pointen der postdramatischen Ästhetik in einer „Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat“. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2001, S. 173.

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identical with Goth. gaman neut. ,participation, communion‘“.4 Die begriffliche Unterscheidung, die das Englische bietet, fasst insofern einmal – unter ‚game‘ – die sozialen Umstände, die historisch gewachsenen rituellen Abläufe, die Spiel ermöglichen und unter ‚play‘ die innerhalb des entstehenden Spielraums ermöglichten Bewegungen, Spielzüge, Spielereien. Vielleicht lädt das Englische seine Nutzer*innen auf diese Weise noch viel expliziter dazu ein, diese begriffliche Unterscheidung weiter zu nutzen und zu reflektieren, als es beispielsweise das Deutsche kann – unterschiedliche Sprachen scheinen je eigene Sprach-Spiele zu ermöglichen.5 So überführt der kanadische Sozialtheoretiker Erving Goffman in seinem Essay Fun in Games (1961) die begriffliche Unterscheidung in ‚game‘ und ‚play‘ in die Beschreibung von „playing“ und „gaming“-Aktivitäten.6 Heute, nach dem Siegeszug der Computer-Games, wird vor allem deren Nutzung mit dem Begriff des ‚gaming‘ verbunden; Goffman allerdings wollte den Begriff ‚gaming‘ für all jene Handlungen reservieren, die die Infrastruktur des Spiels aufrechthalten: das Einhalten expliziter wie auch impliziter Regeln, also zum Beispiel das Verteilen von Spielkarten ebenso, wie das Ablegen und Aufnehmen der Karten nach bestimmten Regeln, das Säubern und Einrichten eines Spielfeldes und seine spezifische Nutzung, das Kostümieren von Teilnehmern generell, sowie das Befolgen bestimmter Rollensets, usw.: All dies im Gegensatz zum ‚playing‘, das die Aktivitäten innerhalb einer Spielwelt umschreibt – also die Spielzüge, bzw. die im Spiel notwendigen Als-ob-Handlungen.7 Robin Hädicke: Die von Stefi Husel dargelegte Unterscheidung von „game“ und „play“ wird häufig als Gegensätzlichkeit der beiden Begriffe dargestellt. So bilden beispielsweise bei Roger Caillois „Ludus“, das geregelte Spiel (‚game‘) und „Paidia“, das freie Spiel (‚play‘) zwei sich gegenüberliegende Pole, zwischen denen

4 | Vgl. die Einträge „Play“ und „Game“, in: John Andrew Simpson (Hg.), The Oxford English dictionary, Oxford 21989, S. 344, S. 1011. 5 | Vgl. zum Begriff des Sprachspiels siehe Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2004, ab S. 225, insbesondere S. 237–304. 6 | Vgl. Erving Goffman, Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction, London 1961. 7 | Im Theater könnte entsprechend auch all jenes unter den Begriff des ‚gaming‘ fallen, was Publikumsmitglieder tun, um die Aufführungssituation aufrecht zu erhalten – also je nach Theatersetting: sitzenbleiben, still sein, aufmerksam bleiben etc. In seiner noch viel bekannteren Arbeit Rahmen-Analyse widmet Goffman ein ganzes Kapitel den Aktivitäten, die Theatersituationen in situ sozial aufrechterhalten. Siehe Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 143–175.

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verschiedenste Spielarten existieren.8 Jedes Spiel ließe sich entsprechend seines gebotenen Spielerlebnisses durch bei der Gestaltung getroffene Designentscheidungen graduell auf der Achse zwischen diesen Extremen einmal in Richtung ‚play‘ oder in Richtung ‚game‘ verschieben. So wird das kindliche ‚Herumspielen‘ mit Bausteinen, Sand, Narrationen oder dem eigenen Körper oft als eine freie Form des Spiels betrachtet, da es keine festgeschriebenen Regeln aufweist. Am anderen Ende des Spektrums werden verschiedene Brettspiele, beispielsweise die Spiele Schach oder Go, als streng regulierte Spielformen verortet. Das ‚Herumspielen‘ ließe sich dieser Annahme folgend durch die Formulierung expliziter Regeln (z.B.: die Fugen zwischen den Pflastersteinen dürfen nicht berührt werden) in die Richtung ‚game‘ verschieben. Schach hingegen würde durch die Lockerung der Bewegungsregeln für die Figuren weniger kalkulierbar und die entstehende Bewegungsfreiheit für die Spieler*innen würde das Spielerlebnis weiter zum ‚play‘-Pol verschieben. Gerade bei der Gestaltung von Spielen wird aber immer wieder deutlich, dass diese Annahme einer klaren Dichotomie oft eine starke Vereinfachung des komplexeren Wechselspiels zwischen ‚game‘ und ‚play‘ darstellt. Die gestalterische Arbeit an einem Spiel (im Sinne von ‚game‘), sei es an der Ausgestaltung seiner Regeln oder seinem Material, ist stets auf eine intendierte Bewegung oder Berührung der Spieler*innen gerichtet, auf Impulse die (nicht voraussagbare) Antworten nach sich ziehen, also auf ein ‚play‘ im Sinne eines ins Unbekannte gerichteten ‚Anstupsens‘, Impulsgebens, Herumprobierens. Kurz: die Formulierung von Spielregeln soll sowohl einen Raum als auch einen Anstoß, bzw. Anlass für spielerische Bewegungen schaffen. Die graduelle Einordnung von Spielen auf einer Achse zwischen ‚game‘ und ‚play‘ erhellt daher nur bedingt, wie sich Designentscheidungen auf das tatsächliche Spielerlebnis auswirken. Denn die bloße Gegenüberstellung der Begriffe vernachlässigt, in welcher Weise diese beiden Seiten des scheinbaren Spektrums in einer Spielsituation aufeinander bezogen bzw. ineinander verwoben sind. Tatsächlich liegt meiner Erfahrung nach der Großteil der gestalterischen Arbeit und Aufmerksamkeit bei der Herstellung von spielerischen Erlebnisräumen gerade im ständigen Versuch, beide Aspekte möglichst gekonnt ineinander zu verweben. Es geht beim Design einzelner Bestandteile eines Spiels stets um die Gestalt des gesamten ‚Interaktionsgeflechts‘, welches erst in einer konkreten Spielsituation aus den Wechselwirkungen aller Elemente des Designs mit den Handlungen der Spieler*innen entsteht. Die Gestalt dieses Geflechtes und gleichermaßen die Gestalten der in ihm agierenden Spieler*innen werden durch das Design zwar präformiert, aber nicht ins letzte Detail ausgestaltet. Es existieren zwar einige Anleitungen bzw. Handreichungen, die sich aus der Perspektive der Praxis mit dem Game Design Prozess befassen und „Patterns des

8 | Vgl. Roger Caillois, Man, Play, and Games, Champaign/IL 2001, S. 11f.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis

Game Design“9 oder praxisnahe Anleitungen zur Gestaltung von Games zur Verfügung stellen10 – diese bieten allerdings keine fertigen ‚Strickmuster‘, mit denen sich zielgerichtet jede Art von Spielsituation produzieren ließe. Vielmehr stellen sie Sammlungen von Handgriffen, Kniffen, Tipps und Tricks dar, mit denen gestalterisch und konzeptionell auf die Wechselwirkungen von Materialien, Regeln und Bewegungen eines Spiels eingewirkt werden kann. Erst in der praktischen Übertragung von Mustern und Methoden auf ein konkretes Designvorhaben wird die Problematik dieser anwendungsbezogenen Herangehensweise augenscheinlich. Die vorgeschlagenen Workflows und Design-Patterns sind in den meisten Fällen nicht direkt übertragbar, wenn es um die Entwicklung eines eigenständigen Game Designs geht. Die Anwendung der Methoden auf das zu gestaltende Game müssen daher im Design-Prozess immer wieder ausprobiert und entsprechend angepasst werden. In der Folge dieses Anpassungsprozesses sowie unter Berücksichtigung individueller Arbeitsabläufe, Wissensbestände sowie Zielstellungen des Gestaltungsteams wird das Vorgehen so verändert, dass dabei oft ein eigenständiger methodischer Ansatz entsteht. Machina eX arbeitet beispielsweise in den frühen Phasen des Probenprozesses mit einem Verfahren, das in der Mensch-Computer-Interaktion als „Wizard of Oz“ bezeichnet wird und dazu dient, die Funktionalität eines zu gestaltenden Computerprogramms oder Interfaces im Gebrauch durch eine*n Nutzer*in zu simulieren. Dafür übernimmt ein Mensch, meist im Verborgenen, die Rolle des Computers und reagiert auf die Eingaben der Proband*in so wie es das Programm tun würde. Bei Machina eX legen wir bei den Playtests in den meisten Fällen offen, dass wir gerade diese Rolle einnehmen. Außerdem operieren wir dabei nicht streng im Sinne einer angenommenen Programmierung, sondern improvisieren und experimentieren in unserer Rolle als Computersystem. Ziel dieses Vorgehens ist daher auch kein Funktionstest, sondern vielmehr ein aktives Befragen der Spielsituation. In einem auf die Entwicklung von Spielen bezogenen Prozess des Probierens stehen in dieser Hinsicht nicht nur der aktuelle Entwicklungsstand des Spiels, sondern immer auch die Techniken seiner Herstellung auf der Probe. Anleitungen und Designmethoden werden insofern am ehesten als Inspirationen verwendet, und angesichts vielfältig bedingter Momente des Scheiterns abgewandelt, improvisiert, kombiniert und gemixt, bis das Resultat sich nur noch schwer auf die ursprünglichen Vorgaben zurückführen lässt; vergleichen ließe sich das vielleicht am ehesten mit dem Umgang, den versierte Hobbyköche mit Rezeptbüchern ­pflegen.

9 | Staffan Bjork und Jussi Holopainen, Patterns in Game Design, Hingham 2005. 10 | Ernest Adams, Fundamentals of Game Design. Fundamentals of Game Design 2, London 2010; Tracy Fullerton, Game Design Workshop. A Playcentric Approach to Creating Innovative Games, Boca Raton/FL 2008; Jesse Schell, Die Kunst des Game Designs. Bessere Games konzipieren und entwickeln, Heidelberg 2016.

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In meiner Funktion als Lehrender im Bereich Spieleentwicklung und Game Design stellt sich mir daher häufig die Frage, wie sich der in vielen Aspekten implizite Bestand an Erfahrungswissen und die handwerklichen Fähigkeiten zur Gestaltung des Wechselspiels von ‚game‘ und ‚play‘ systematisch und gezielt vermitteln lassen. Als ein möglicher Zugang erscheint mir der spielerische (‚play-ful‘!) Umgang mit Ausgangsmaterialien, also mit Objekten, Regeln und Ideen gleichermaßen. Beim ‚Herumspielen‘ mit einem Material entstehen aus einer Gestaltungsintention oder einem Handlungsimpuls und den materiellen Gegebenheiten (wie beispielsweise der Form und der damit verbundenen Formbarkeit oder Kombinierbarkeit) spielerische Potentiale, welche unterschiedlich aufgegriffen und ausgestaltet werden können. Im Rahmen von Workshops werden als Material beispielsweise drei unterschiedlich farbige Stücke Knetmasse an ein Team vergeben, mit der Aufgabe in fünfzehn Minuten mit diesem Material ein Spiel mit maximal drei Regeln zu erfinden. Die entstehenden Spielideen reichen von einer Jonglage-Herausforderung, bei der die Massen in immer kleinere Kugeln geteilt werden, die es in der Luft zu halten gilt, bis hin zum Formen und Erraten von Figuren oder gar Redewendungen. Viele Ideen arbeiten hier sowohl mit den Eigenschaften des Materials und des Raums als auch mit aus anderen Spielen bekannten Mechaniken oder Regeln, die entsprechend angepasst werden. Die Beschränkungen (nur ein Spielmaterial, fünfzehn Minuten und drei Regeln) dienen dabei auch als Aufforderung zum Herumspielen und Machen. Die Teams greifen diese auf, sie experimentieren mit dem Material, teilen Gedanken, diskutieren und probieren Regeln, Kombinationen, Formen und Interaktionen aus – dabei entsteht meist eine erste Idee für ein Spiel. Diese Spielidee hat zunächst nur eine vage Gestalt, kann aber oft schon gespielt, kann praktisch ausprobiert werden und so zum Ausgangspunkt eines „iterativen“ Game Design Prozesses und durch diesen zunehmend greif- und formbar werden.11 Iteratives Design bezieht sich dabei auf einen Prozess aus sich wiederholenden Schleifen zwischen Design, Prototyp und Test, in welchem ich als Gestalter – figurativ gesprochen – über Probleme oder Potentiale des Games stolpere, das ich gerade entwickle. Oft stoßen Gestalter*innen bei einem solchen Vorrangehen auf Wechselwirkungen, die nicht, oder nur bedingt, im Vorfeld erkennbar sind und so auch erst nach dem praktischen ‚Durchspielen‘ gezielt vermieden und/oder genutzt werden können. Game Design selbst wäre in diesem Sinne zu verstehen als ständiges Wechselspiel zwischen ‚play‘ – als einer Gesamtheit der in und durch einen Spielraum angestoßenen Bewegungen und Dynamiken – und ‚game‘ – als die Gegenständlichkeit des Spiels in Form seines Regelwerks und seines Materials. Genauer betrachtet liegt dieser Überlegungen eine Paradoxie zugrunde, die

11 | Zur Iterativität vgl. John Sharp und Colleen Macklin, Games, Design and Play. A Detailed Approach to Iterative Game Design, Amsterdam 2016.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis

im Reden und Schreiben über Spiele oft unauflöslich erscheint. Denn ‚play‘ ließe sich gleichermaßen als notwendiges spielerisches Verhalten lesen, durch welches ein ‚game‘ erst hervorgebracht bzw. gestaltet werden kann, oder aber eben als jenes Potential an Bewegungen und Berührung bzw. an Stolpern und Anecken, das erst durch die Grenzen und Beschaffenheit eines ‚games‘ entstehen kann. Stefi Husel: Auf jeden Fall lenkt die Auseinandersetzung mit der begrifflichen Unterscheidung in ‚game‘ und ‚play‘ den Blick auf die praktischen materiellen, körperlichen und soziokulturellen Möglichkeitsumstände des Spielens – und damit aufs Konkrete, auf die Empirie. In eine ähnliche Richtung führt der Essay von Hans-Ulrich Gumbrecht mit dem Titel Ob Tiere spielen können.12 Dort verweist er auf den Heidegger’schen Begriff der „Zuhandenheit“ der – im Gegensatz zur „Vorhandenheit“ – einen Akzent auf den praktischen Gebrauch legt sowie auf den körperlichen Kontakt, den Spieler*innen zu Spiel-Dingen und zur Welt aufbauen. Gumbrecht überlegt in seinem Essay, dass im Horizont von Heideggers Argumentation den Tieren die Fähigkeit zu Spielen eigentlich abgesprochen werden müsse – denn Tiere befänden sich immer schon in enger Verstrickung mit der Welt. Eine Unterscheidung zwischen Vorhandenheit und Zuhandenheit und damit ein Wechsel des Zustands wird für sie damit nicht nötig oder möglich. Gumbrechts Assoziation der für das Spiel typischen Nähe zur Welt, zum Konkreten, zur Zuhandenheit mit der Frage nach dem Spiel der Tiere erinnert an die in zahlreichen Spieltheorien immer aufs Neue auftauchende Frage nach dem z.B. evolutionären Sinn und Zweck des Spielens. Diese Frage ist – ebenso wie schon die Unterscheidung in ‚game‘ und ‚play‘ – eng mit dem häufig thematisch werdenden Spiel-Paradox verbunden: Kann etwas, das häufig so stark reguliert ist wie das Spiel, Freiheit erzeugen? Und was steht beim Spiel überhaupt im Vordergrund, Regel oder Freiheit? Wann lässt sich also umgekehrt überhaupt davon sprechen, dass jemand oder etwas spielt? Eine elegante Wendung aus dieser paradoxalen Sackgasse beschreibt der Spieltheoretiker Brian Sutton-Smith in seinem Buch The Ambiguity of Play.13 Nachdem er zunächst ausführlich unterschiedliche Rhetoriken der Spieltheorie diskutiert, die Spiel zu je eigenen Zwecken (z.B. im Rahmen einer Fortschrittsrhetorik) vereinnahmen und hierbei – so Sutton-Smiths Argumentation – gerade die interessante paradoxale und ambigue Verfasstheit von Spielphänomenen verpassen, schlägt er eine zwar evolutionstheoretisch gestützte, doch unkonventionelle Lesart dessen vor, was Spiele möglicherweise generell leisten könnten: Mit Blick auf die enorme neuronale Plastizität jugendlicher Gehirne, menschlicher

12 | Hans-Ulrich Gumbrecht, „Ob Tiere spielen können?“, in: Friedemann Kreuder und Stefanie Husel (Hg.), Spiele spielen. Praktiken, Metaphern, Modelle, Paderborn 2018, S. 49–59. 13 | Brian Sutton-Smith, The Ambiguity of Play, Cambridge/MA 1997.

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oder tierischer und auf den Verlust dieser Plastizität, der mit der Anpassung an die Umwelt notwendigerweise vonstattengeht, begreift Sutton-Smith das Spielen mit seinen „quirky shifts“ und seiner „redundancy“ gerade nicht als Antrieb, sondern als produktive Bremse des evolutionären Anpassungsprozesses: Das Herausbilden von Ordnungen wird durch das Spiel zugunsten länger erhaltener Plastizität gestört, aufgehalten, neuer Ambiguität zugeführt.14 Es ist nun gerade dieses spielerische Moment der ‚Störung‘ bzw. des Stolperns und Aneckens, der uns in unseren Gesprächen zum Spiele-Entwerfen als ästhetischer Praxis immer wieder begegnet ist... Robin Hädicke: Das Stolpern sowie das bewusste und unbewusste Verlaufen auf einem verschlungenen Pfad zu einem ungefähren Ziel sehe ich als eine wichtige Dynamik des ‚Game Design Spiels‘. Bei einer gradlinigen Herangehensweise ohne Hindernisse und ebenso bei einer ungestörten freien Bewegung würden meiner Ansicht nach sowohl der Gestaltungs- als auch der Spielprozess ins Leere verlaufen. Es braucht ein abgestecktes und mit Stolpersteinen gespicktes Spielfeld, das Gestaltungs- und Spielanlässe bietet. Daher hat sich in der Entwicklungs- und Gestaltungspraxis von digitalen und auch analogen Spielen insbesondere zum offensiven Umgang mit der Vagheit und Ambiguität des zu gestaltenden Erlebnisses das erwähnte iterative Vorgehen bewährt. Dieses wird häufig als Kreislauf aus den vier sich wiederholenden Phasen der Ideenfindung und Konzeption/Planung, der Prototypisierung und materiellen Ausgestaltung, des Ausprobierens und Testens sowie der Auswertung und Analyse dargestellt.15 Manchmal wird dieser Ablauf auch auf den Dreischritt aus Konzeption/Design, Umsetzung/Prototyp und Test/Evaluation verkürzt. Entscheidend ist, dass diese Schritte nicht nur aufeinander aufbauen, sondern im Rahmen des Gestaltungsprozesses stets miteinander ‚kurzgeschlossen‘ sind. Das heißt, die Zielsetzung der ersten Phase ist nicht als die Formulierung eines finalen Konzeptes oder als Planung des gesamten Design-Prozesses zu verstehen. Vielmehr geht es hier darum, die noch vagen Ideen für ein Spiel, die Ahnung eines Spielerlebnisses so artikulierbar zu machen, dass verschiedene Aspekte des Spiels prototypisch umgesetzt und im Team diskutiert werden können. Der Prototyp ist daher auch nicht die frühe Version einer schon ausformulierten Spielidee, sondern eine das Konzept ergänzende bzw. weiterführende Artikulation von Ahnungen. Die darauffolgenden ‚Playtests‘ dienen zwar einerseits dazu, diese Ahnungen zu überprüfen, anderseits bieten sie aber auch stets die Möglichkeit, erst während des Testens entstehende, neue Ahnungen aufzuspüren, diesen nachzugehen und so vollkommen unerwartete Ideen zu entwickeln. Gerade in den Momenten in

14 | Ebd., S. 226–228. 15 | Vgl. Sharp und Macklin, Games, Design and Play, S. 105–115.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis

denen die Testspieler*innen stolpern oder an die Grenzen des gestalteten Raums anecken, liegt das Potential, dass sich diese produktiv verschieben. Die Auswertung der Tests sowie die eingehende Analyse des aktuellen Prototyps dienen daher nicht allein zur Überprüfung der Funktionalität eines schon fertiggestellten Spiels (‚game‘). ,Playtests‘ bieten vielmehr die Gelegenheit zur Auslotung eines erst durch die spielerischen Interaktionen der verschiedenen Akteur*innen mit dem und innerhalb des im ‚game‘ entstehenden Spielraums. Neben der Beantwortung der Frage, ob das ‚game‘ funktioniert, gilt es, neue Fragen zu formulieren, die dem ‚play‘-Potential innerhalb des aktuellen Aufbaus nachspüren und dieses greifbar und damit gestaltbar werden lassen. Es geht also im iterativen Prozess des Game Designs gleichermaßen um die Ausbildung eines ‚Gespürs‘ für die kinästhetischen und atmosphärischen Potentiale innerhalb gestalteter Spielräume, einer intersubjektiven Wahrnehmbarkeit sowie Artikulierbarkeit des Erspürten, sowie um die von den Ahnungen der Gestalter*innen Schleife für Schleife weitergetriebene Ausformung des Spielraums und seiner Atmosphären. Stefi Husel: Dass das Verweben von ‚game‘ und ‚play‘ Neues – Du sprichst von „neuen Ahnungen“ – hervortreiben kann, entspricht auch meiner Intuition. Der Wissenschaftstheoretiker Hans Jörg Rheinberger hat sich intensiv mit dem Hervortreten des Neuen befasst, wobei sich seine Arbeit eng am Konkreten entlang bewegt; und auch er hat sich, v.a aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit Experimentalsystemen, immer sehr für Spiele interessiert. In seinem Vortrag Experiment, Forschung, Kunst erinnert Rheinberger an eine Aussage des Kunsthistorikers George Kubler, jeder Künstler arbeite „im Dunkeln“ und „nur von den Tunnels und Schächten früherer Werke geleitet, während er einer Ader folgt in der Hoffnung, auf eine Goldgrube zu stoßen.“16 Dies verbindet Rheinberger mit der Idee Thomas Kuhns, dass Forschung ein „process driven from behind“ wäre, um schließlich sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Praxis als forschende, suchende Tätigkeiten zu umschreiben, die beide explorierend voranschritten.17 Die zentrale (technische!) Ermöglichungsstruktur solcher Exploration sind für Rheinberger in beiden Fällen „Experimentalsysteme“, deren Ähnlichkeit mit Spielen – in unserem Sinne: ‚games‘ – er immer wieder hervorhebt. Einen besonders wichtigen Charakterzug von Experimenten sieht der Wissenschaftshistoriker und ehemalige Biologe Rheinberger dann gerade in der Einschränkung, die experimentelle Settings böten, z.B. indem sie willkürlich einen bestimmten

16 | Hans-Jörg Rheinberger, Experiment, Forschung, Kunst, Vortrag am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2012, S. 3–4; unter: https://dg.websyntax. de/assets/Uploads/ContentElements/Attachments/Hans-Joerg-Rheinberger-Experiment-Forschung-Kunst.pdf [20.03.2020]. 17 | Ebd.

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Ausschnitt der Realität im Labor absonderten, um ihn zu untersuchen: „Es kommt also alles darauf an, dass man nicht nur den abschließenden, sondern auch den aufschließenden Charakter solcher Beschränkungen versteht.“18 Auch hier wird insofern das produktive Moment spielerisch-experimenteller Settings gerade in deren Enge gesehen, die praktisch zu Momenten des Aneckens und Stolperns, kurz, zu einer technisch ermöglichten Störanfälligkeit führt. Robin Hädicke: In einer frühen Phase unserer Arbeit als machina eX habe ich gerade die mitunter nervenaufreibende Störanfälligkeit unseres Spielformates nicht nur als Problem, sondern auch als Potential beschrieben.19 Die Herausforderung des Game Designs bei machina eX besteht – wie bei anderen rätselbasierten Spielformaten – darin, für unser Publikum interessante sowie knifflige Probleme und Aufgaben zu entwickeln, damit die sich daraus entspinnende spielerische Schleife aus Versuch und Irrtum (Stolpern und Anecken) so lustvoll wie möglich wird. Die gleiche Schleife entsteht allerdings durch diese Zielstellung auch auf Seiten der Spielentwicklung, da jedes Rätsel durch die an es gestellten Anforderungen eine Kopfnuss für uns als Entwickler*innen darstellt. Diese Nuss lässt sich häufig erst nach vielfachem Herumprobieren knacken, und so ist das Scheitern am eigenen Spiel nicht selten eine treibende Kraft unseres kreativen Prozesses. Iteratives Prototyping ließe sich also als ein Prozess beschreiben, der ganz bewusst und explizit mit bestimmten materiellen, konzeptionellen und gestalterischen Beschränkungen – oder besser: Zumutungen operiert, die sich gleichermaßen als Fallstricke wie Sprungbretter erweisen können. Gestalter*innen entscheiden hier oft vermeintlich intuitiv, worauf sie sich bei der Umsetzung des Prototyps beschränken, d.h. welche Fragen oder Fallen sie sich selbst bzw. dem Spiel stellen möchten. Intuition bedeutet in diesem Zusammenhang wahrscheinlich dasselbe wie das, was ich in meinem letzten Absatz ‚Gespür‘ genannt habe. Und dieses ist, meinen vorangegangenen Überlegungen folgend, nicht eine angeborene Fähigkeit der Gestalter*innen, sondern es entspringt Schleife für Schleife aus den im Gestaltungsprozess stets angepassten oder sogar aktiv mitgestalteten materiellen, personellen und ideellen Bedingungen des eigenen Scheiterns. Die durch das provozierte Versagen hervorgebrachte Notwendigkeit, den gestalterischen Aktionsradius zu erweitern, sei es durch die Aneignung neuen Wissens bzw. neuer Fähigkeiten oder durch die Entwicklung neuer Werkzeuge, wirkt sich hierbei sowohl auf den Gestaltungsprozess selbst als auch das gestaltete Spiel aus.

18 | Ebd., S. 6. 19 | Robin Krause, „machina eX – Wie macht man sich und anderen das Leben schwer?“, in: Marcus Rüssel (Hg.), Phase 0. How to Make Some Action, Hildesheim 2012, S. 80–84.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis

Es wird also deutlich, dass die Regeln eines ‚games‘ sowie die seiner Entwicklung durch die beschriebene iterative Gestaltung gleichermaßen geschrieben, getestet und wieder umgeschrieben werden. Sie sind formgebend und formbar nicht nur für das ‚game‘ selbst, sondern auch für den Prozess seiner Gestaltung. Hieraus lässt sich der Gedanke entwickeln, dass Spiele, ebenso wie die Praxen ihrer Herstellung, angewiesen sind auf die Widerständigkeit sowie Ambiguität ihres Materials und dem Ringen von Gestalter*innen und Spieler*innen um eine sich durch das eigene Handeln stets verändernde Form. Eben diese dynamische Gestalt entzieht sich sowohl dem endgültigen Zugriff der Designer*innen, wie auch der vollständigen Beherrschung oder Deutung durch die Spieler*innen.20 Stefi Husel: In unserem Gespräch stellt sich also die ‚Iterativität‘ als ganz zentrales Moment des Game Designs heraus – wenn nicht sogar als wesentliches Gelenk im Verhältnis zwischen ‚game‘ und ‚play‘. Das erinnert mich an etwas, das Walter Benjamin in einem Essay über Spiele und Spielzeuge als das wesentliche „große Gesetz“ des Spiels beschrieb: Endlich hätte eine solche Studie [eine Spieltheorie wie sie Benjamin vorschwebt, Anm. d. Verf.] dem großen Gesetz nachzugehen, das über allen einzelnen Regeln und Rhythmen die ganze Welt der Spiele regiert: dem Gesetze der Wiederholung. Wir wissen, dass sie dem Kind die Seele des Spiels ist; dass nichts es mehr beglückt, als ,noch einmal‘. Der dunkle Drang nach Wiederholung ist hier im Spiel kaum minder gewaltig, kaum minder durchtrieben am Werke als in der Liebe der Geschlechtstrieb. Vielleicht ist hier die tiefste Wurzel für den Doppelsinn in deutschen ,Spielen‘: Dasselbe wiederholen wäre das eigentlich Gemeinsame. Nicht ein ,Sotun-als-ob‘, ein ,Immer-wiedertun‘, Verwandlung der erschütterndsten Erfahrungen in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spielens.21

Neben dem explorierenden und produktiven Charakter der Spiel-Erfindungs-Praxis mit ihrem – manchmal wahnsinnig frustrierenden! – Gestolpere, fällt mir hierzu auch das Potenzial der Explikation auf, das sich in der Iteration, in der ständigen Wiederholung finden lässt. Das ‚Anecken‘ führt, bildhaft gesprochen, nicht nur zu schmerzhaften blauen Flecken am Schienbein, sondern auch dazu, dass ich das Hindernis, gegen das ich gelaufen bin und das ich zunächst nicht bemerkt habe, nun klar wahrnehme. Das iterative immer-wieder-Durchspielen entstehender Games deckt insofern auch Gesetze des ‚gamings‘ (in der oben erläuterten

20 | Jonas Löwgren und Erik Stolterman, Thoughtful Interaction Design. A Design Perspective on Information Technology. Cambridge 2004, S. 137–140. 21 | Walter Benjamin, „Spielzeug und Spielen“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a. M. 1972, S. 127–132, hier S. 131f.

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Goffman’schen Bedeutung des Begriffs) auf. Dasselbe gilt für eine bestimmte Form des Theatermachens: Sieht man sich die neueren komplexeren, postdramatischen Theaterarbeiten genau an, dann sind das zumeist solche, die ihre Zuschauer*innen auf den Rahmen des Theaters aufmerksam machen, indem sie ein ‚Anecken‘ oder ‚Stolpern‘ mitinszenieren, z.B. indem formale oder situative ‚Hindernisse‘ eingebaut werden, die die Selbstverständlichkeit theatraler Darstellung und Wahrnehmung stören. Auf diese Weise wird das Theater-typische ‚gaming‘ , also das Aufrechterhalten der Theater-Infrastruktur, in irgendeiner Form bewusst gemacht bzw. reflektierbar. Theaterarbeiten, die zugleich ‚games‘ sind – so wie die Arbeiten von machina eX oder Anna Kpok o.a. – stellen meines Erachtens diesen Charakterzug des Spiels ebenfalls in den Vordergrund: auch sie lassen uns nicht nur im ‚playing‘ aufgehen, sondern erinnern an Aktivitäten des ‚gamings‘ in Goffmans Sinne. Denn Teilnehmer*innen können hier nicht nur spielen und zugleich unbewusst dazu beitragen, dass das Spiel problemlos abläuft und die technische Infrastruktur erhalten bleibt. Sondern sie bemerken dabei auch, zum Teil auf real frustrierende Weise, was sie tun müssen, damit das klappt. Stellenweise erleben sie intensiv, dass das Game gerade etwas von ihnen will – und eventuell auch, dass sie selbst etwas ganz anderes wollen. Wenn man also konstatieren kann, dass postdramatische Theaterarbeiten dazu anregen, im Medium der Theateraufführung zu reflektieren, was diese Aufführung möglich macht – und was Zuschauer selbst dazu beitragen, dass Aufführungen möglich werden – lässt sich möglicherweise notieren, dass Theater-Games ihre Spieler*innen erleben lassen, was passieren muss, damit diese Weise des Zusammenseins als Spielgemeinschaft möglich wird. Insofern tragen Theater-Games in ihrem besten Sinne vermutlich dazu bei, dass ihre Nutzer*innen etwas entwickeln, das man mit Eric Zimmerman „Gaming Literacy“ nennen könnte: sie bringen ihren Teilnehmer*innen etwas darüber bei, was es heißt, zu spielen.22 Sie bieten zum immersiven Spielerlebnis noch einen distanzierteren Außenblick als Surplus.23

22 | Eric Zimmerman, „Gaming Literacy“, in: Bernard Perron und Marc J. P. Wolf (Hg.), The Video Game Theory Reader 2, New York/London 2009, S. 23–31. 23 | Vgl. zu diesem Thema auch ausführlich das Interview zwischen Stefi Husel, Robin Hädicke und Mathias Prinz in: Friedemann Kreuder und Stefanie Husel (Hg.), Spiele spielen. Praktiken, Metaphern, Modelle, München 2018, S. 33–47.

Stolpern und Anecken – Zur Produktivität spielerischer Praxis

Robin Hädicke: Jedes Game Design ließe sich im Sinne eines angestrebten „meaningful play“ als Sammlung von Gesprächsanlässen verstehen, mit welchen die Gestalter*innen ihre Spieler*innen zu einem Diskurs einladen.24 Dieser indirekte Dialog resultiert gerade aus dem Stolpern und Anecken der Spieler*innen an den Banden und Bugs des Spielsystems. Sinn und Bedeutung entstehen für Spieler*innen sowie für die Designer*innen erst, wenn das Spiel (‚game‘) eine seiner möglichen Gestalten annimmt und das heißt in den meisten Fällen: immer dann, wenn es gespielt wird (‚play‘).

24 | Katie Salen und Eric Zimmerman, Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge 2004, S. 31–37.

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TECHNIKEN DER ENTGRENZUNG. ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

DEAE EX MACHINA Technofeministische Perspektiven auf analoge, elektronische und digitale Pionierinnen musiktheatraler Performancekunst Anna Schürmer Der ,Deus ex machina‘ bezeichnet das theatrale Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Maschine – und steht im sprichwörtlichen wie dramaturgischen Sinn für die Lösung eines Konflikts durch plötzlich eintretende Ereignisse oder auftretende Personen. Was aber – und das ist als basale Hypothese zu verstehen – wenn der Gott des Technischen eine Frau ist, also: ,Dea ex Machina‘? Diese zentrale Frage soll im folgenden Text mit Augen- und Ohrenmerk auf sogenannte ,Composer-Performerinnen‘ untersucht werden, welche die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts durch performative und medientechnische Vorgänge in unmittelbare Nähe des Theaters rücken und dabei die jahrhundertelang prägende Trennung von Schöpfer und Darsteller unterlaufen. Erst technische Erweiterungen ermöglichen diese multifunktionale Personalunion, welche einer basalen Logik der Digitalisierung folgt: das Zusammenfassen verschiedener Funktionen in einem smarten ,Device‘, der Künstler*in. Es sind vor allem Frauen, welche dieses hybride Arbeitsmodell in performative Szene setzen. Dabei zeigt sich die Technisierung durch den verstärkten Einsatz des Körpers und das Embodiment des Schöpferwillens als Teil eines sozio-ästhetisch grundierten techno-emanzipatorischen und feministischen Projekts, indem nicht nur die binäre Geschlechterordnung, sondern auch stilistische Grenzen unterlaufen werden. Technik gilt gemeinhin als Männerdomäne, ist in den Künsten aber zugleich Mittel und Medium feministischer Emanzipation gewesen – davon zeugen entsprechende Denk- und Lesarten der Science and Technology Studies (STS). Denn wenngleich im Handbuch zu den klassischen Positionen und aktuellen Perspektiven der STS die Künste nicht ausdrücklich in das hybride Wechselverhältnis von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft einbezogen werden,1 praktizieren etwa jene Composer-Performerinnen doch oft einen performativen Ausdruck, eben

1 |  Susanne Bauer, Thorsten Heinemann und Thomas Lemke (Hg.), Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Frankfurt a. M. 2017.

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Anna Schürmer

dieser Allianz. Tatsächlich legt die Lektüre der grundlegenden Texte gar das Gedankenexperiment nahe, die Trias aus Wissenschaft, Technik und Gesellschaft um Kultur oder sogar konkret Ästhetik zu erweitern, ohne die Ausführungen groß anpassen zu müssen – schließlich tangiert die technische Bedingtheit nicht nur die Wissens-, sondern auch die Kunstproduktion. Verschiebt sich diese vom Subjekt zum Apparat, finden die in den STS beschriebenen Transaktionsprozesse nicht nur zwischen sozialen, natürlichen und technischen, sondern auch im Austausch mit künstl(er)i(s)chen Aktanten statt. Merkmale dieser Allianz wie Heterogenität, Fluidität und Hybridität können gar als Schlüsselmerkmale jener Composer-Performerinnen gelten, die als ,Deae ex Machina‘ die Musikwelt theatralisieren und für deren Wirken insbesondere der feministische Zweig der STS Diskursmodelle bereithält: So gehören Komponistinnen zu den marginalisierten Subalternen der Musikgeschichte und manifestieren sich nicht zuletzt in der Medienmusik patriarchale Machtverhältnisse als Ergebnis geschlechtsspezifischer Ausschlussmechanismen, welche die Composer-Performerinnen unterlaufen, indem sie ihre Körper als informelles Netzwerk und Geschlecht als prinzipiell offenes Konstrukt begreifen und künstlerisch thematisieren.2 Entsprechende Ansätze sollen in diesem Beitrag anhand drei Vertreterinnen jener Composer-Performerinnen überprüft werden, die jeweils drei Entwicklungsschritte einer so angedeuteten ,technofeministischen Emanzipation‘ im Bereich musikalischer Aktionskunst repräsentieren: Von analogen, über elektronische bis zu digitalen Pionierinnen medieninduzierter Performance-Art, die in einem transhistorisch vergleichenden Fokus von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart als klingender Arm feministischer Gendertheorie betrachtet werden sollen, der Donna Haraway 1984 mit ihrem Cyborg-Manifesto eine technische Note gab: Von einer Femme Analogue, der Fluxus-Aktivistin Charlotte Moorman, die als ,Topless Cellist‘ und ,Königin der Nackt‘ ihren Körper als Medium einer sexuellen und performativen Revolution der Musik einsetzte; über die Femme Electronique Laurie Anderson, die sich 1984 mittels Vocoder in einen geschlechtslosen Klangkörper verwandelte und als technofeministische Cyborg eine Sprache der Zukunft programmierte; bis hin zu einer Femme Digitale der Jetztzeit, Julia Mihály, die den technofeministischen Gestus in multimedialen Aktionen und dabei eine Form von ,Post-Feminismus‘ zelebriert. Diese drei ,Deae ex Machina‘ belegen exemplarisch, dass feministische und technische Emanzipation auch auf dem Feld von Kunst, Theater und Performance zusammen einhergehen. Im Anschluss an die Positionen der feministischen STS soll deutlich werden, inwiefern diese Composer-Performerinnen eindimensionale Konzepte – wie Männlichkeit und Weiblichkeit, aber auch musikästhetische Dichotomisierungen wie die Trennung von Schöpfer und Darsteller oder den

2 | Vgl. ebd., S. 339–368.

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Dualismus von sogenannter U(nterhaltungs)- und E(rnster) (Kunst-)Musik – wie selbstverständlich unterlaufen und darin eine auch weiblich produzierte Epochenästhetik des Medienzeitalters repräsentieren. Abb. 1, Plakat zur Opera Sextronique, 1967.

Quelle: Barbara Moore, The World of Charlotte Moorman (= Archive Catalogue, Section IV, Chronology: Paik Collaborations, Nr. 18), New York 2000.

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FEMME ANALOGUE – Charlotte Moormann Die Fluxus-Aktivistin Charlotte Moorman trieb die technofeministische Emanzipation im Kontext von 1968 voran: als „Königin der Nackt“3 und als Medium innerhalb der ,mixed media‘ Nam June Paiks, der 1967 mit seiner Opera Sextronique zur sexuellen Revolution in der Kunstmusik aufrief und diese in Aktion überführte: After three emancipations in 20th century music, (serial-indeterministic, actional) ... I have found that there is still one more chain to lose ... that is ... PRE-FREUDIAN HYPOCRISY. Why is sex a predominant theme in art and literature prohibited ONLY in music? How long can New Music afford to be sixty years behind times and still claim to be a serious art? The purge of sex under the excuse of being ‚serious‘ exactly undermines the so-called ‚seriousness‘ of music as a classical art, ranking with literature and painting.4

Im Sex also machte Paik eine künstlerische Leerstelle aus, indem er „Prä-Freudianische Hypokrisie“ und also geschlechtsspezifische Heuchelei diagnostizierte. Und tatsächlich machte sich der koreanische Fluxus-Pionier mit seiner Opera Sextronique zum Sigmund Freud der Kunstmusik – und seine barbusig aufspielende Cellistin zur berühmt-berüchtigten „Topless Cellist“, die als Frau und als Performerin künstlerische Freiheit apostrophierte. Im ersten Akt der Opera Sextronique, die 1968 in der New Yorker Filmmakers Cinemateque Premiere feierte, präsentierte Charlotte Moorman einen ,elektrischen Bikini‘ – ein Dreieck aus elektrischen Lichtern, das um jede ihrer nackten Brüste angebracht war und also eine mediale Prothese zur illuminativen Theatralisierung ihrer Performance. Danach sah die Partitur ein Oben-Ohne-Solo in einem langen schwarzen Rock vor, bevor die Cellistin ihre Performance völlig nackt hinter einer Schattenwand beenden sollte. Hier wurden biologisches und soziales Geschlecht – sex und gender – als künstlerischer Zusammenschluss durch die performative Praxis unterlaufen und gerade dadurch politisch – das zeigen die folgenden Ereignisse. Denn schon beim Anblick der barbusigen Performerin stürmten Polizisten die Bühne und führten die Urheber der nackten Tatsachen – Nam June Paik und Charlotte Moorman – ab. Nach Meinung vieler war diese theatralische Einlage ein

3 | Vgl. Anna Schürmer, „,Die Königin der Nackt‘. Charlotte Moorman als Ikone der sexuellen Revolution“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5/2017, S. 50–53. 4 | Text auf dem Plakat der Opera Sextronique (1967), zitiert nach Barbara Moore, The World of Charlotte Moorman (= Archive Catalogue, Section IV, Chronology: Paik Collaborations, Nr. 18), New York 2000.

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Höhepunkt der Performance. Für Charlotte Moorman war es eine Tragödie, auf künstlerischer Ebene aber eine sozioästhetische Demonstration.5 In der Folge wurde nicht etwa dem Komponisten, sondern seiner Interpretin eine Art Schau-Prozess gemacht – was auf produktionsästhetischer Ebene als Beleg für die Auflösung der jahrhundertelang prägenden Trennung von Schöpfer und Darsteller gelten kann und auf sozioästhetischem Gebiet die auch künstlerisch grundierte gesellschaftliche Transformation der 1960er Jahre illustriert. Weil sie „ihre privatesten Körperteile anzüglich vor Publikum ausstellte“, wurden strafrechtliche Verstöße wegen Sittenwidrigkeit abgeleitet und Charlotte Moorman mit einer Bewährungsstrafe belegt.6 Über die strafrechtlichen Folgen hinausgehend zeigt der Fall der „Topless Cellist“ die Skandalträchtigkeit des weiblichen Körpers bis weit hinein ins 20. Jahrhundert und symbolisiert auch seine emanzipatorische Befreiung im Kontext und Geist von 1968: In Folge des Prozesses wurde der entsprechende Gesetzesparagraph geändert – erst seitdem ist in den USA Nacktheit im künstlerischen Kontext erlaubt.7 Über ihre Rolle als „Topless Cellist“ hinausgehend, leistete Charlotte Moorman auch als Interpretin einen emanzipatorischen Beitrag, indem sie als eigenverantwortliche Performerin und Medium innerhalb der ,mixed media‘ Nam June Paiks agierte: Die „Königin der Nackt“ setzte ihren Körper nicht nur zur Provokation mittels nackter Tatsachen ein, sondern betrieb medientechnisches Embodiment: vom electric bikini aus der Opera Sextronique, bis zum TV-Bra, einem aus kleinen Bildschirmen bestehenden Büstenhalter, den sich Moorman 1970 anstelle eines BHs umschnallte. Indem die Cellistin ihren Klang-Körper um mediale Devices erweiterte und damit die jahrhundertelang prägende Trennung von Schöpfer und Darsteller mit technischen Mitteln unterlief, trug sie im Sinne Nam June Paiks zur Humanisierung und im technofeministischen Sinn zu einer weiblichen Konnotation der Technologie bei: Dadurch, dass wir Fernsehen als Büstenhalter benutzen, das intimste Eigentum des Menschen, werden wir den humanen Gebrauch von Technologie demonstrieren und darüber hinaus Betrachter NICHT zu etwas Obszönem stimulieren, sondern ihre Phan-

5 | Vgl. Anna Schürmer, „Topless Cellist. Der Fall People & Co. vs. Charlotte Moorman“, in: Sandra Frimmel und Mara Traumane (Hg.), Kunst vor Gericht. Ästhetische Debatten im Gerichtssaal, Berlin 2018, S. 299–312. 6 | Milton Shalleck, „People & Co. vs. Charlotte Moorman“, in: New York Law Journal 175/91, 11.05.1967. 7 | Vgl. Schürmer, „Topless Cellist“, 2018, S. 299-312.

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Anna Schürmer tasie darauf lenken, nach neuen, einfallsreichen und humanistischen Wegen zu suchen, um unsere Technologie zu nutzen.8

Charlotte Moorman wurde zum Medium dieser Vision und zu nichts weniger als einer technofeministischen Pionierin: Indem sie weniger als Cellistin, denn als eigenverantwortliche Performerin agierte, ihren Körper um technische Prothesen erweiterte und ihn unmittelbar und performativ in die Aufführung einbezog, agierte die Fluxus-Pionierin als Medium feministischer, ästhetischer und technischer Emanzipationsbestrebungen im Kontext von 1968.

FEMME ELECTRONIQUE – Laurie Anderson 1984 wurde durch George Orwell zu einem weiteren Symboljahr, in dem eine spätere Generation von Composer-Performerinnen die technofeministische Revolution mit neuen Medien und Zielrichtungen fortführte. Auch hier lieferte Nam June Paik mit seiner grell inszenierten Fernsehshow Good Morning, Mr. Orwell die Partitur, in der „Mister Fluxus“ dem hellsichtigen Schriftsteller einen Gruß zurück in die Zukunft sandte und doch vor allem die medientechnische Gegenwart beschrieb: 1984 wurde der Rundfunk dual, kurz nachdem die Compact Disc 1982 die analoge Langspielplatte ablöste und Informationsverarbeitungstechnologien zum Politikum wurden. Die 1983 geplante, erstmals auf Speichertechnologien basierende Volkszählung, löste flächendeckende Proteste gegen den Überwachungsstaat aus und führte zu einem neuen, vom Bundesverfassungsgericht definierten Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“9, das sich im Kommunikationsrausch der neuen Medien längst in Makulatur verwandelt hat. George Orwell sah in seinem Roman 1984 das Fernsehen der Zukunft als das Kontrollinstrument des diktatorischen ,Großen Bruders‘ in einem totalitären Staat. Nam June Paik dagegen lud es mit utopischer Energie auf und bezog damit auch gegen die zunehmend pauschale Technologiekritik performative Position: In einer globalen Live-Schaltung nutzte er das Satelliten-TV zu einem weltumspannenden Dialog und brach die mediale Einbahnstraße zwischen Sender und Empfänger durch videotechnische Eingriffe auf. Dieser im Wortsinn tele-visionäre Effekt manifestierte sich in den Beiträgen der Show auch in einer Hybridisierung der Sparten von E- und U-Kultur: Peter Gabriel war ebenso zu hören wie Philip Glass

8 | Zitiert nach MedienKunstNetz, unter: http://www.medienkunstnetz.de/werke/tv-bra/ #reiter ¢ [28.12.2019]. 9 | Das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und wurde vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten Volkszählungsurteil [2] 1983 als Grundrecht anerkannt. Siehe BVerfGE 65,1 – Volkszählung: Urteil des Ersten Senats vom 15.12.1983.

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und früher Hip-Hop; auf die Glam-Rocker von „Oingo Boingo“ folgte John Cage und nach Jodlern der „Texas Players“ tanzte Merce Cunningham zu New Wave. Avantgarde und Pop waren für Nam June Paik aus einem Guss. Die Symbiose aus ,U‘ und ,E‘ zu einer spartenverbindenden ,Ü-Musik‘ verkörperte idealtypisch Laurie Anderson mit ihren Grenzgängen zwischen den Welten Pop, Kunst und Medium. Für Good Morning, Mr. Orwell steuerte sie mit ihrer bis heute fortgeführten Reihe The Language of the Future ein auch technofeministisches Manifest bei, indem sie mittels Vocoder ihre Stimme nach Belieben in männliche respektive weibliche Lagen transformierte und so zu einem geschlechtslosen Klangkörper und einer technofeministischen Cyborg mit eigener High-Tech-Sprache wurde: „…Suddenly I realized, she was speaking an entirely different language: ‚Computerese‘ – a kind of a high tech lingo.“10 Indem Laurie Anderson die Differenz von biologischem und sozialem Geschlecht, von sex und gender, akustisch unterlief, wird hier die kritische Zielrichtung der feministischen STS relevant, Geschlecht als prinzipiell offenes Konstrukt zu begreifen.11 Auch Friedrich Kittler bezog in Grammophon Film Typewriter nicht von ungefähr Laurie Anderson in seine Ausführungen zur „Wunderwaffe“ Vocoder ein, der „mittlerweile wie so viele Elektroniken des zweiten Weltkriegs als Serienfabrikat eine ganze Popmusik trägt“.12 Nun liegen die Potentiale des Instruments nicht nur in der Codierung kriegsrelevanter Funksprüche, sondern auch in der Manipulation von Geschlechtsmerkmalen wie der Stimme Zwischen Rauschen und Offenbarung13. An anderer Stelle lieferte Kittler, dessen philologisches Forschen ganz bestimmt einer Sprache der Zukunft galt, eine regelrechte Analyse von Laurie Anderson Language of the Future: Nach sehr praktischen Vorschlägen aus Borroughs’ Electric Revlution simuliert Laurie Anderson, vocoderverfremdet wie meist auf Big Science, die Stimme eines JumboPiloten über Bordfunk, der die laufende Konsumentenunterhaltung plötzlich unterbricht…14

Tatsächlich meldete sich Anderson auch 1984 in ihrem Beitrag zu Paiks Good Morning Mr. Orwell mit der Stimme eines Piloten zu Wort, der in weiblicher Stimmlage gestaltete Gedankenströme unterbricht, welche mit einer hellsichtigen

10 | Nam June Paik: Good Morning, Mister Orwell,1984, unter: https://www.youtube. com/watch?v=SIQLhyDIjtI [28.12.2019]. 11 | Bauer, Heinemann, Lemke, Science and Technology Studies, 2017, S. 26. 12 | Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 78. 13 | Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2014. 14 | Kittler, Grammophon Film Typewriter, 1986, S. 170.



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Vision der digitalen Revolution und der binären Wirklichkeit zwischen 0 und 1 enden: And she kept saying: ‚Man oh man you know like it’s so digital!‘ She just meant the relationship was on again, off again. Always two things switching. Current runs through bodies and then it doesn’t. […] Current runs through bodies and then it doesn’t. On again Off again. Always two things switching. One thing instantly replacing another. It was the language of the Future. This is the language of the on-again, off-again future. And it is: digital.15

Auch und gerade heute, wo die digitale Revolution den Globus und auch die Klangwelt überflutet, behält Laurie Andersons Audiovision Relevanz – und deshalb ist es nur folgerichtig, dass The Language of Future als ,work in progress‘ bis heute fortläuft: Mit medientechnischer Unterstützung überschreitet Anderson auch und gerade in der digitalen Wirklichkeit die Grenzen zwischen Realität und Virtualität. Ihr informationstechnologischer Zugriff auf die Welt repräsentiert unsere Zeit, in der die Narrative immer komplexer werden: digitale Codes lösen die binäre Logik der Natur auf, die Grenzen zwischen Schöpfer und Darsteller verwischen, Geschlechter und Sparten werden hybrid, Technik und Künste öffnen sich.16

FEMME DIGITALE – Julia Mihály Der ,Querstand‘ technologischer, feministischer und ästhetischer Emanzipation überstand auch die postmoderne Pluralisierung – und sein Echo reicht bis in die Gegenwart: etwa in Gestalt von Julia Mihály, die in ihren multimedialen Projekten den technofeministischen Gestus der „Dea ex Machina“ aufleben lässt, indem sie eine zeitgemäße Variante von Laurie Andersons High-Tech-Sprache ­,Computerese‘ spricht – ,Digitalienisch‘. Erweiterte Anderson ihren Körper durch analoge Geräte, sind es bei Mihály digitale Devices. In maßgeschneiderten Kostümen schlüpft Julia Mihály in ihren Performances in die Rolle einer zeitgemäßen ‚Dea ex Machina‘, die ihre Weiblichkeit ganz bewusst in Szene setzt: Emanzipation spielt einerseits eine optische Rolle in meinem performativen Selber. Ich arbeite ja sehr viel mit Bühnenkleidung, die vorher konzipiert ist, die aber Teil der Komposition ist und erstmals in der Performance selber entsteht. Das hat natürlich

15 | Paik, Good Morning, Mister Orwell, 1984. 16 | Siehe weiterführend Vivian Appler, „Moonwalkig with Laurie Anderson. The Implicit Feminism of The End of the Moon“, in: The Journal of American Drama and Theatre 28/2, 2016.

DEAE EX MACHINA mit der Ästhetik des weiblichen Körpers zu tun, der unmittelbar durch mich und mein künstlerisches Handeln als Frau eine Rolle spielt.17 Abb. 2, Femme Digitale: Composer-Performerin Julia Mihaly, Foto: Ela Mergels.

Ein Beispiel ihres Wirkens ist die Multimediaperformance Grand Hotel Establishment, die 2018 beim „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunks Premiere feierte und einen retrospektiven Blick auf das Symboljahr 1968 wirft, das mit Martin Burckhardt auch als Geburtsstunde der digitalen Revolution verstanden werden kann: Um 1970 beginnen sich die Verhältnisse, von Software gesteuert, zu verflüssigen und es ist keine historische Petitesse, dass die erste Vorlesung, die massiv von Studenten gestört wurde, von einem Künstler abgehalten wurde, der mit der Kybernetik die soziale Plastik des kommenden Zeitalters lehrte.18 Mihály imaginiert in ihrer Performance eine Generation zwischen Aufbruch und Protest, philosophischen Kopfkinos und postpubertären Happenings, ideologischen Irrwegen und linksradikaler Hilflosigkeit. Die Ästhetik changiert zwischen greller Peepshow und anspruchsvoller Live-Elektronik, sie ruft gleichermaßen Zitate der

17 | Ebd. 18 | Martin Burckhardt, „L’imagination au pouvoir! 1968 als Geburtsstunde der digitalen Revolution“, Lecture am Deutschlandfunk im Rahmen des Forum Neuer Musik 2018 Echoes of 1968, Köln, 13.04.2018.

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Popkultur wie der Avantgarde auf und nutzt akustische Marker wie die „Internationale“. Die stilistische Hybridisierung, wie sie schon in den analogen Pioniertaten Laurie Andersons manifest wurde, wird zu einer Form technofeministischer Emanzipation: Ich versuche stilistische Grenzen abzutasten und wenn möglich zu überschreiten – und damit neue Verknüpfungen herzustellen. Wir können ja nicht leugnen, in was für einem Umfeld wir uns bewegen und wie wir groß werden. Ich etwa bin Mitte der 80er Jahre geboren und in der Medialität der 90er, mit Game Boys und Walkmans, aufgewachsen. Wenn das keinen Einfluss hätte, wäre das doch sehr merkwürdig.19

Die 1968er agitierten gegen bürgerliche Strukturen und waren doch selbst machistisch geprägt; ähnlich waren die politischen Avantgarden darin der klassischen und besonders der elektroakustischen Musikszene. Aber Julia Mihály verkörpert eine neue Generation weiblicher Emanzipation auf dem männlich konnotierten Feld der Maschinenästhetik: Indem sie sich im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik e.V. (DEGEM) engagiert, in publizistischen Arbeiten die „Emotionalität des Programmierens“20 und Bühnenkleidung zwischen „Partychick und Frischhaltefolie“21 reflektiert, oder sich die Technik auf den Leib maßschneidert, gibt sie der männlichen Domäne eine weibliche Note. Digitaltechnik ist bei ihr und anderen multimedial arbeitenden Composer-Performerinnen wie Brigitta Muntendorf oder Jagoda Szmytka nicht nur Effekt, sondern performatives Mittel, mit dem sie sich als Deae ex Machina inszenieren, die man als „post-feministisch“ beschreiben könnte. Anders als Laurie Anderson verschleiert Julia Mihály ihre Weiblichkeit nicht mehr mit medientechnischen Mitteln, sondern setzt ihre Körperlichkeit grell und selbstbewusst in performative Szene einer auch weiblich programmierten digitalen Epochenästhetik. Obwohl sie Geschlechtsidentitäten nicht auflöst, sondern in gewisser Weise sogar einen pink getönten „Lifestyle-Feminismus“ ausstellt, übt ihre Multimediakunst doch einen cyberfeministischen Diskurs22 und vertritt ein performatives Modell von Gender: Kategorien wie ,männlich‘ und ,weiblich‘,

19 | Julia Mihály im Gespräch mit der Autorin. 20 | Julia Mihály, „Über die Emotionalität des ­P rogrammierens“, in: Bad Blog of Musick/ Neue Musikzeitung, 15.06.2017, unter: ht tps://blogs.nmz.de/badblog/2017/0 6/14/ ueber-die-emotionalitaet-des-programmierens/ [28.12.2918]. 21 | Julia Mihály, „Partychic und Frischhaltefolie. Über Bühnenkleidung“, in: MusikTexte 157/5, 2018, S. 9–14. Siehe hierzu auch „Dresscodes – Über Kleidung in der Neue Musik Szene“, in: Positionen – Texte zur aktuellen Musik 111/5, 2017, S. 26–28. 22 | Vgl. hierzu weiterführend die von Armen Avaessian und Helen Gester herausgegebene Aufsatzsammlung Dea ex Machina, Berlin 2015.

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,Ernst‘ und ,Unterhaltung‘ sind hier nicht mehr naturalistische oder unausweichliche Absolutheiten, sondern werden zu Möglichkeitsräumen theatraler und technischer Interventionen.23

Schlüsse: DEAE EX MACHINA Was erzählt uns nun diese technofeministische Coming of Age-Geschichte von der femme analogue Charlotte Moorman, über die femme electronique Laurie Anderson bis zur femme digitale Julia Mihály? Sie zeigt, dass feministische und technische Emanzipation Hand in Hand gehen. Die sogenannten „Composer-Performerinnen“ unterlaufen die jahrhundertelang prägende Trennung von Schöpfer und Darsteller, indem technische Erweiterungen eine multifunktionale Personalunion ermöglichen, welche einer basalen Logik der Digitalisierung folgt: das Zusammenfassen verschiedener Funktionen in einem smarten ,Device‘, der Künstlerin, die durch den verstärkten Einsatz ihres Körpers und das Embodiment technischer Erweiterungen eindimensional binäre Grenzen verweigern kann – nicht nur der Geschlechter, sondern auch der Stilistik. Aus medienhistorischer Perspektive kann geschlussfolgert werden, dass diese ‚Deae ex Machina‘ zurück in die Zukunft streben: zur ursprünglichen Einheit der Künste in der altgriechischen ­techné, die unter den Vorzeichen der Digitalisierung eine zeitgemäße Ausprägung findet, indem durch technische Medien vermittelte Wissenschaft, Kunst und Technik digitalisiert zusammenfließen, weil alles je Abgebildete und Geschriebene in Binärcode verwandelt, in Beziehung gesetzt und gespeichert werden kann: Willkommen in der hybriden Gegenwart von Theater und Technik!

23 | Vgl. hierzu grundlegend Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991.

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Simon McBurney’s Binaural Mimesis: An Ethical Exploration of Otherness Julien Alliot In his Anthropology from a Pragmatic Point of View, Immanuel Kant raises the following question: Which lack or loss of a sense is more serious, that of hearing or sight? […] [A] person who becomes deaf in old age misses this means of social intercourse very much, and while one sees many blind people who are talkative, sociable, and cheerful at the dinner table, it is difficult to find someone who has lost his hearing and who is not annoyed, distrustful, and dissatisfied in a social gathering. In the faces of his table companions he sees all kinds of expressions of affect, or at least of interest, but he wears himself out in vain guessing at their meaning, and thus in the midst of a social gathering he is condemned to solitude.1

According to Kant then, becoming blind is less debilitating to one’s social life than becoming deaf, which ultimately increases the feeling of loneliness. When you are deaf, it proves more difficult to compensate with seeing than when you are blind, because seeing alone does not allow you to access meaning. A whole new meaning can offer itself through hearing rather than seeing. This metaphysical interrogation of the power of hearing is precisely what Simon McBurney investigated in his play The Encounter, which was first staged at the 2015 Edinburgh Festival, and which I had the opportunity to attend in Paris at the Théâtre de l’Odéon in April 2018. Attending such a performance was indeed an actual encounter, a noun whose Latin etymology (in-contra) echoes the fact of facing something that is potentially hostile, a confrontation to the unusual or to what one might be tempted to call with Freud the uncanny, das Unheimliche.2

1 | Immanuel Kant, Anthropology from a Pragmatic Point of View, trans. by Robert B. Louden, Cambridge 2006 [1798], p. 52. 2 | Sigmund Freud, “The ‘Uncanny’”, in: The Standard Edition of the Complete ­P sychological Works of Sigmund Freud: An Infantile Neurosis and Other Works, Vol.

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In order to account for such an unusual theatrical experience, this essay will centre on the three successive stages of my encounter with this play, three successive phases that could be summarised in three verbs: exploring, defamiliarising, and eventually encountering.

Exploring First, the audience’s encounter with this unidentified theatrical object is worth describing. When sitting in the playhouse, the spectators find headphones on their seats and are invited to try them on so as to check that they work. The stage itself looks pretty bare and almost dull. There is not much to see – various microphones and speakers, a desk and a chair downstage right, some water bottles scattered around and, facing the audience, a binaural dummy head occupying centre stage. It first looks like we are in for a paradoxical theatrical experience, because contrary to what “theatre” means etymologically – a “place of seeing”, there does not seem to be much to see at this point. In fact, it almost looks as if we are faced with some sort of backstage space. After a short introduction, the audience is invited to put their headphones on. A stage direction from the beginning of the play reads: “The following text is spoken into a microphone and is heard by the audience through their individual headphones. From now on, all narration, dialogue and other text, as well as sound effects, are heard by the audience through the headphones.”3 And the actor starts: “I would like to check your headphones are all working, I will take a walk from one side of your head to the other, without even moving. The sound the audience hears moves to the left ear. I am now in your left ear, and now… I will move to the right side. The sound moves across towards the right ear.”4 Through voice modification, the actor, who is alone on stage, plays no less than five characters including himself and Loren McIntyre, a National Geographic photographer who embarked on an expedition to the Amazon forest and who was captured in 1969 by the Mayoruna tribe, thought to be extinct at the time. McIntyre, whose plane had to make an emergency landing on the Amazon River, lost his way back and we follow the photographer’s encounter with this rarely-seen tribe, his attempt at communicating with the tribe’s leader, and his ensuing journey with them. But Simon McBurney also plays the role of McIntyre’s pilot, of Cambio – a Mayoruna shaman – and finally of Barnacle, Loren’s voice as it reverberates in his own head. In fact, the audience soon finds there might be more to such an

XVII [1917–1919], pp. 217–256. In this essay, Freud analyses the process by which “the familiar can become uncanny and frightening” (p. 219). 3 | Complicite and Simon McBurney, The Encounter, London 2016, p. 7. 4 | Idem, pp. 7–8.

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e­ xploration of this remote Amazonian region than a mere sense of exoticism: Barnacle’s voice, a voice en abyme, a voice within the voice, evidences the fact that the exploration will also follow a centripetal movement towards the inside of the brain, towards the very origins of sounds and voices, in both a physical and metaphorical journey that is reminiscent of Conrad’s Heart of Darkness.5 The impressive sound system makes for the play’s deeply immersive quality. The actor uses microphones, a binaural dummy head and various speakers. Moreover, two sound operators adapt and play recordings in reaction to the performer on stage. In fact, if there is not much to see, there is a lot to hear. Thanks to the properties of binaural sound technology, the audience is taken on a journey through a landscape that is more akin to a soundscape or even a mindscape. The dummy’s head on stage mimics the actual features of the human head. It is endowed with microphones that pick up sounds, record and broadcast them the way the human ear hears them, in a process is called holophonic representation of auditory scenes.6 Holophonic sounds stimulate the brain of the auditor to reproduce very realistic and almost three-dimensional sounds and soundscapes. In fact, this play could be considered as a form of “immersive theatre” as defined by Josephine Machon, who explains that “[i]mmersion in water can be a pleasant, powerful experience. It places us in a strange environment that can be comforting or potentially dangerous. It makes us utterly aware – in that moment – of our body and its instinctive response to the medium.”7 In her book about immersive theatres, she explains how this sort of theatre favours both an immediate and deeply intimate experience. Indeed, The Encounter takes us on a deeply exotic journey through the Amazon but also through our mindscape. The play itself is composed of seventeen scenes describing McIntyre’s journey, as exemplified by some of the scenes’ titles such as “Over the Ocean Forest”,8 “First Contact”9 and “Deeper Into the Forest”.10 But this linear narrative that takes McIntyre to the heart of the Amazon with the Mayoruna people is regularly

5 | Indeed, in Heart of Darkness, Marlow’s journey up the Congo River to the Belgian colony’s Inner Station, to the source, can be construed as a metaphorical journey to the origins and ultimately an exploration of the self. 6 | The underlying processes of binaural hearing are explained in Armin Kohlrausch, Jonas Braasch, Dorothea Kolossa and Jens Blauert, “An Introduction to Binaural Processing”, in: Jens Blauert (ed.), The Technology of Binaural Listening, Berlin 2013, pp. 1–33. 7 | Josephine Machon, Immersive Theatres: Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Basingstoke 2013, p. xiv. 8 | Complicite and McBurney, The Encounter, 2016, p. 13. 9 | Ibid., p. 17. 10 | Ibid., p. 24.

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i­nterrupted by recorded voices of real people, such as Noma McBurney’s, the actor’s five-year-old daughter telling him that she’s “hungry” or that she had a “bad dream”,11 or Iain McGilchrist’s, a psychiatrist and philosopher interviewed about the development of children’s consciousness.12 Another important voice that the audience is given to hear is that of Petru Popescu, who first met Loren McIntyre and recounted his story in his book Amazon Beaming, the novel upon which the play is based. Although the play stages a journey to the Javari Valley, at the heart of the Amazon forest, we quickly realised that the peregrination itself might only be a pretext for other explorations. In fact, through its centripetal movement, its multiple layers of reality and fiction combined, the expedition quickly turns out not to be linear and ushers us into a completely defamiliarised reality.

Defamiliarising In an introductory article to his play entitled “We only see what we want to see”, Simon McBurney writes: “As a result of spending sixty-three days on a Vipassina retreat, Yuval Noah Harari, the acclaimed author of Sapiens: A Brief History of Mankind, proclaimed it the ideal tool with which to scientifically observe his own mind. He came to realise he had no idea who he really was and that the fictional story in his head, and the connection between that and reality, was extremely tenuous.”13 This feeling of self-estrangement, this sense of alienation is precisely what the spectators could potentially feel when attending a performance of The ­Encounter, where the main aesthetic feature consists in blurring boundaries and conveying an impressionistic take on reality. Simon McBurney makes us profoundly aware of the disjunction between impression and understanding. Such a division applies when considering the theatrical space itself, which seems to have been turned inside out. The technical items that are located generally backstage are now occupying centre stage. The dummy’s head placed on stage works like a metonymic presence of the audience so much so that, as one of the sound designers working on the play wrote, the spectators “feel like they are on stage next to Simon”.14 The fictional space also encompasses elements of reality, since the same sound designer, Gareth Fry, travelled to the Amazon with Simon McBurney and a photographer in order to spend four days living with the

11 | Ibid., p. 49. 12 | Ibid., p. 22. 13 | Simon McBurney, “We Only See What We Want to See”, in: Complicite and McBurney, The Encounter, pp. ix–xii, p. ix. 14 | Gareth Fry, “Gareth Fry: Sound designer”, in: Complicite and McBurney, The Encounter, pp. xiv–xv, p. xiv.

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Mayorunan community; he recorded binaural sound effects there, in order to then play them on stage – or rather offstage, in the spectators’ ears. But the disjunction between perception and meaning is here scientifically explored through a careful anatomy of hearing. Using a multitude of devices that are enumerated in the liminary “note to the text,” Simon Mc Burney toys with our perceptions. A voice modification effect shifts the actor’s voice down two octaves, and combined with the imitation of the American accent, McBurney sounds like McIntyre. On the contrary, a higher pitch gives him the voice of “Mickey Mouse,”15 as he puts it himself. The “loop pedals,” for instance, are used to emulate “the interior worlds of the characters” or “exterior soundscapes,”16 as for instance when “the actor creates the sound of the jungle, looping one animal / bird / insect sound over by walking around the binaural head.”17 In the same way, a bag of crisps is being gently crumpled in front of a microphone and becomes the crackling of a fire. What scientists call the auditory scene, that is to say the underlying auditory event as analysed by the brain, is precisely detached from the auditory event, so that the whole aural space becomes uncanny, both familiar and unfamiliar. The two parts of the auditory system are divided: the external ear that shapes the sound and passes it through the ear canal, in other words the “mechanical” side of hearing, is dissociated from the second phase, namely neural processing and how the brain translates it. A mismatch is constantly enhanced between senses that generally function synesthetically insofar as they create concomitant impressions on an identified reality. On the contrary, McBurney uses his ultramodern paraphernalia to widen the gap between sight and hearing, thus marking an almost philosophical distinction between reality and truth. The play constantly destabilises perceptions and seems to operate on a Möbian mode, enacting a permanent reversibility that ultimately proves disorientating. It seems that traditional distinctions do not hold: just like on a Möbius strip, it is hard to tell the inside from the outside, to delineate what is on stage and what is offstage, to distinguish between what we are looking at and what we can see, between fiction and reality. Such defamiliarising strategies are showcased right from the beginning of the play: The opening section is partly improvised. The ACTOR invites the audience to turn their telephones off, and from this simple announcement begins to talk to them in a conversational manner that suggests the show has not really yet begun. This draws the audience into another kind of attention, through the description of how the evening will unfold.

15 | Complicite and McBurney, The Encounter, p. 8. 16 | Ibid., p. 3. 17 | Ibid., p. 17.

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Julien Alliot ACTOR. My daughter is five. She doesn’t believe I work at night, so I’m going to take a photo of you all on my iPhone to prove I was really here. I have more photographs of my children here than there are photographs of my entire life. […] Looking at these pictures of my children, I feel such a sense of responsibility. Because when they look at them, they feel as though they’re looking back at their whole lives. But it is not their lives, it is only a story. And I worry they’ll mistake this for reality, just as we all mistake stories from reality.18

In the opening scene, improvisation is paramount and ends up merging with the play’s text, to the point that the beginning is not clearly marked. When the play was performed in Paris, everyone’s hesitation in front of this Englishman making jokes on stage was conspicuous, all the more so as the puns and witticisms were not subtitled at this point, not to mention the fact that the houselights were still on and some spectators still chatting. The ploy started to make sense when people understood that this man was in fact an actor cleverly toying with points of view and ultimately presenting himself as a specular image of the audience when taking a picture of them. And then, the subtle play on pronouns and on the repetition of the verb “look”, alternatively applied to the individual “I” or to “they”, before the advent of a more universal “we”, foregrounds the metaphysical question of the instability of reality compared with fiction, in a sort of meta-comment on what was actually happening. Such generalised uncertainty foreshadows the play’s subsequent modus ­operandi: the alternation between what Brecht called a form of “narcotic” theatre and the alienation effect, the Verfremdungseffekt. In the first scene, the whole range of sound effects is displayed for the audience to hear, like a small hand-held speaker that McBurney hovers around the binaural head, so that everyone gets the feeling of having a mosquito flying and buzzing around their heads (some people would actually try to shoo it away!). This resulted in laughter when everyone realised that they were being manipulated and that this familiar and annoying sound was entirely artificial. Thus, mimesis was exposed as such, a mere imitation of a reality that is not always what it appears to be (or rather what it sounds like), but to what end? What is the point of anatomising the process of hearing and defamiliarising reality?

Encountering The answer to this question might lie in the programmatic title: The Encounter. By exploring auditory perceptions and deconstructing our tendency to almost automatically associate a sound with a source, by debunking the way in which we

18 | Ibid., p. 6.

Simon McBurney’s Binaural Mimesis: An Ethical Exploration of Otherness

traditionally make sense, the play teaches us to be wary of recognition and precisely not to recognise too easily. In a didactic, almost scientific gesture, reality finds itself derealised. However, this might be the best state of mind to stimulate fresh perception and renew our take on reality. Simon McBurney toys with the uncanny, with the familiar turned unfamiliar, as in the following excerpt from the first scene: LIVE. My voice over there is a recording, he doesn’t exist. RECORDING. What do you mean I don’t exist? LIVE. You’re not real. RECORDING. Well, of course I’m real. LIVE. He’s a recording from the past. RECORDING. No, I’m in the present and you’re in the future. LIVE. No you’re in the past and I’m the present.19

What appears striking here is the gradual encounter between those two avatars of the same voice. The recorded voice, necessarily from the past, seems to be taking the upper hand in the dialogue, asking questions to the actor who oscillates between rationalisation (as in the following dismissal: “He’s a recording from the past”) while at times engaging in a paradoxical dialogue, addressing the recording (“You’re not real”). This exchange banks on stichomythia, enhancing the comic effect, but at the same time it proves rather disturbing since it destabilises logic and blurs temporalities. In the same movement as McIntyre following the Mayoruna on their journey to a mysterious “beginning” that McIntyre ultimately associates with death itself, the whole play proceeds by deconstructing, dissociating traditional associations, perhaps in order to find something more essential. In a climactic scene, as the Mayoruna have made a bonfire to set ablaze all their belongings, all their bonds in a sort of purifying ritual, the actor exhorts the audience to “get rid of the past”: “Come on! Burning the past. This is the past! Let’s destroy it! Let’s burn it all up! […] Get rid of the past. The whole fucking thing!”20 In fact, it gradually turns out that by destroying all the unnecessary by-products of civilisation like the Mayoruna, one might find the true measure of oneself. Unfamiliarity, alienation, exile, might actually be the best places to start when it comes to actually encountering the Other. The play thus takes on an ethical value as McIntyre is shown progressively abandoning his Western reflexes, be they instinctive or photographic. He then favours an openness to the words that might come from the Other, which he hears in chapter seven through telepathy. In this

19 | Ibid., p. 10. 20 | Ibid., p. 48.

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scene, entitled “The First Communication”, the head shaman, Barnacle, tells him: “Some of us are friends.”21 This is how the actor describes McIntyre’s reaction: It felt like a message though the headman had not spoken. McIntyre spoke no Mayoruna and none of the Mayoruna spoke English. He looked at the headman, but the headman didn’t acknowledge him. He leaned closer to him. He was close enough to hear him breathing.22

In this narrated excerpt, we are presented with a different way of listening that goes beyond the attempt at immediately making sense. The series of antitheses testifies to the fact that actually hearing a “message” might involve doing away with usual categories, including the principle of non-contradiction. Indeed, McIntyre can hear although no one has spoken, apparently. A new attitude to listening is advocated here, where the listener is brought closer to the source of the message (“he was close enough to hear him breathe”). The paradigm of making sense, of meaning, is gradually abandoned, and a new way of paying attention to the message emerges: “He had an idea. He strained and applied a focus, not on the words of his next thought, but on the content. Instead of thinking […] he tried to fill himself with the feeling of that thought.”23 Encountering the Other might therefore succeed if one accepts to empathise, to be sensitive to what comes from the Other (rather than trying to grasp the meaning of it). Such attention to what psychoanalysts call the Unconscious foreground the fact that, to say it with Freud, “the Ego is not even master in his own house”.24 To conclude, in The Encounter, Simon McBurney literally orchestrates a dramatic event that is tantamount to an anatomy of listening, immersing the audience in a new theatrical paradigm where phonè, hearing, prevails over opsis, seeing. As the boundary that separates fiction from reality or the self from the Other becomes unstable, the eponymous “encounter” takes on a metatheatrical quality: there is obviously more to reality than meets the eye… or the ear. Binaural sound technology opens new possibilities of getting in touch with Otherness by relocating it inside our very brains and immersing us in it. A modern shaman, McBurney reinvents what it means to pay attention, to listen and ultimately to hear the Other thanks to an inspiring process of self-alienation.

21 | Ibid., p. 26. 22 | Ibid., p. 27. 23 | Idem. 24 | Sigmund Freud, “A Difficulty in the Path of Psycho-analysis”, in: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Vol. XVII (1917–1919): An Infantile Neurosis and Other Works, London 1975 [1917], pp. 135–145, p. 143.

Schlachten ohne Krieg Technik in den militärischen Schauspielen des französischen Theaters im 19. Jahrhundert Romain Jobez In der Briefsammlung Über die französische Bühne, die Heinrich Heine ab 1837 im Auftrag der Allgemeinen Theater-Revue verfasste, lässt der Dichter im französischen Exil die Figur seines Nachbarn Ricou auftreten. Der alte Kriegsveteran der Napoleonischen Armee erzählt von einem Theaterabend am Pariser CirqueOlympique und teilt seine Eindrücke über die dortige Aufführung von Austerlitz, événements historiques en 3 époques et 8 tableaux (Austerlitz, historische Ereignisse in 3 Abschnitten und 8 Tableaus)1 mit: [...] er war gestern bei Frankoni und hat dort die Schlacht bei Austerlitz gesehen. [...] Er hat mir die Fehler des Stückes so auseinandergesetzt, denn er war selber bei Austerlitz, wo das Wetter so kalt gewesen, daß ihm die Flinte an den Fingern festfror; bei Frankoni hingegen konnte man es vor Hitze nicht aushalten. Mit dem Pulverdampf war er sehr zufrieden, auch mit dem Geruch der Pferde; nur behauptete er, daß die Cavallerie bei Austerlitz keine so gut dressirte Schimmel besessen. Ob das Manöver der Infanterie ganz richtig dargestellt worden, wußte er nicht genau zu beurteilen; denn bei Austerlitz, wie bei jeder Schlacht, sey der Pulverdampf so stark gewesen, daß man kaum sah, was ganz in der Nähe vorging. Der Pulverdampf bei Frankoni war aber, wie der alte sagte, ganz vortrefflich, und schlug ihm so angenehm auf die Brust, daß er dadurch von seinem Husten geheilt war.2

Heines Nachbar im Dorf Le Coudray bei Paris berichtet über die typischen Erlebnisse eines Theaterbesuchers am Pariser Cirque-Olympique in der Zeit der

1 | Auguste Lepoitevin de L’Égreville, Austerlitz, événements historiques en 3 époques et 8 tableaux, Paris 1837. 2 | Heinrich Heine, Über die französische Bühne [1837], in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 12/1: Französische Maler, Französische Zustände, Über die französische Bühne, Hamburg 1981, Fünfter Brief, S. 252.

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J­ ulimonarchie.3 Antonio Franconi (1737–1836) hatte 1791 die Nachfolge von Philipp Astley (1742–1814) angetreten und die Räumlichkeiten des Amphithéâtre anglais übernommen. Dort hatte der englische Pferdedresseur Astley zum ersten Mal auf dem Kontinent Manegeschaustücke gezeigt. Somit kann er als Gründervater des modernen Zirkus angesehen werden, dessen Kunst von Franconi und seinen Söhnen Laurent (1776–1849) und Henri (1779–1849) perfektioniert wurde.4 Ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigten die Franconi vornehmlich heroische Reiterspiele und Pantomimen, die sich mit der Darstellung der französischen Geschichte beschäftigten.5 Die Abschaffung der Zensur nach der Julirevolution 1830 ermöglichte die Behandlung von geschichtlichen Stoffen aus der jüngeren Vergangenheit. In diesem Zusammenhang wurden unter großem Publikumszuspruch vermehrt Ereignisse aus dem napoleonischen Zeitalter inszeniert. Den Erfolg des Cirque-Olympique bewertete 1910 der Kritiker und Theaterunternehmer Jules Claretie mit folgendem Fazit: „Es gäbe eine schöne Doktorarbeit zu schreiben (ohne jegliches Paradoxon): Über Franconis Einfluss auf die Rückkehr des Kaiserreiches.“6 So habe im Jahrhundert des Theaters als Massenmedium die Verherrlichung der Kriegszüge Napoleons den Weg zur Machtergreifung durch seinen Neffen nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1852 geebnet. In der Tat zeigt die Kontrastierung der Erinnerungen Ricous an die Schlacht bei Austerlitz mit der Beschreibung des militärischen Schauspiels am Cirque-Olympique, dass dessen Inszenierung nicht auf eine detailtreue Rekonstruktion vergangener Ereignisse abzielte. Vielmehr galt es, unter dem Einsatz der damaligen Theatertechnik das Kaiserreich zu glorifizieren und Napoleons Taten als Feldherr zu überhöhen. Im Folgenden möchte ich am Beispiel des Theaterzirkus Franconis die Verbindung zwischen der Geschichtsdarstellung und der Entwicklung der Bühnentechnik untersuchen.

Herstellung von historischen Tableaus durch die Bühnenmaschinerie Die Theatererlebnisse des alten Grenadiers fügen sich in den Rahmen der Kritik an den damaligen politischen Zuständen ein. Das Wiederaufleben des Kaisers auf der Bühne stehe in krassem Widerspruch zur glanzlosen Herrschaft des Bürgerkönigs Louis Philippe, so Heine: „Der Heroismus der imperialen Herrschaft ist der

3 | Vgl. zu Heines Theaterkritik Ina Brendel-Perpina, Heinrich Heine und das Pariser Theater zur Zeit der Julimonarchie, Bielefeld 2000. 4 | Vgl. Jewgeni Kusnezow, Der Zirkus der Welt, Berlin 1970, S. 24ff. 5 | Vgl. Jean-Claude Yon, „Le Cirque-Olympique sous la Restauration: un théâtre à grand spectacle“, in: Orages. Littérature et culture 1760–1830, 3/4, 2005, S. 83–98. 6 | Jules Claretie, La Vie à Paris. 1910, Paris 1911, S. 88.

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einzige, wofür die Franzosen noch empfänglich sind, und Napoleon ist der einzige Heros, an den sie noch glauben.“7 Jedoch stimmen die Eindrücke des einfachen Zuschauers Ricou mit der Beschreibung der Zirkusaufführung in August Lewalds Album aus Paris (1832) überein. Der Redakteur der Allgemeinen Theater-Zeitung hatte Heine mit dem Verfassen von Über die französische Bühne beauftragt und über seinen Besuch des Cirque-Olympique anlässlich der Aufführung eines Napoleonstückes berichtet: Es ist ein eigenthümlich interessantes Schauspiel und das ungeheure Pferdespektakel, das man sehen kann, dessen Aufführung nur allein durch die innere Einrichtung gemacht wird. Sobald nämlich die schönen, sogenannten academischen Posituren zu Pferde vorüber sind und das Stück beginnt, so wird das Orchester zusammengerückt und im Nu zwei Verlängerungen der Bühne angehängt, die sich abschüssig bis mitten in den Raum erstrecken, welcher in Schauspielhäusern das Parterre genannt wird. Das colossale Stück, das hierauf seinen Anfang nimmt, zeigt in 12 bis 13 sogenannten Tableaux oder kurzen Akten ein ganzes, großes Weltereignis wie z. B. Napoleons Leben [...]. Alles folgt mit unglaublicher Schnelligkeit hinter einander, Worte sind bei diesem Schauspiel gerade nur so viel als nöthig, um die Übergänge zu motiviren und die Handlung zu erklären; die Schauspieler, die hier selten einzeln, sondern stets in Massen von 100 bis 200 agiren, sind so vorzüglich einstudirt, wie man es selten auf ruhigern Bühnen sehen kann, die Costüme und Decorationen sind mit Treue und Wahrheit widergegeben, und dieß Schauspiel würde zu den anziehenden gehören, wenn nicht der Pulverdampf, der Trommellärm und der Stallgeruch es für schwächere Nerven, als die des dort gewöhnlichen Publikums, ganz unleidlich machte.8

Lewald richtet sein Augenmerk auf die Maschinerie, die selbst zum Teil des Spektakels wird. In seinem Bühnentraktat L’Envers du théâtre (Die Rückseite des Theaters, 1873) hat Jules Moynet ebenfalls die schnelle Verwandlung des Spielraums am Cirque-Olympique beschrieben, die mittels einer komplexen Apparatur stattfinden konnte. Als „interessantes Schauspiel“ bezeichnet er den Aufbau der Praktikabel und die mechanische Erweiterung der Vorderbühne auf die Manege. Seine Beschreibung des Cirque-Olympique ordnet er der Kategorie der „theatralen Besonderheiten“ zu.9 Hiermit schließt sich Moynet stillschweigend an Theophile Gautiers Bewertung des Zirkus als „Oper des Auges“ in seinem Histoire de l’art dramatique en France depuis vingt-cinq ans (Geschichte der dramatischen Kunst in Frankreich seit 25 Jahren, 1859) an. In einer Rezension von 1841 über eine Aufführung am Cirque-Olympique hatte der Freund von Victor Hugo, der an

7 | Heine, Über die französische Bühne, 1981, S. 254. 8 | August Lewald, Album aus Paris, Bd. 1, Hamburg 1832, S. 71ff. 9 | Jules Moynet, L’Envers du théâtre, Paris 1873, S. 244ff.

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der Schlacht um Hernani teilgenommen hatte, folgenden Paradigmenwechsel verkündet: „Die Zeit der rein optischen Schauspiele ist gekommen.“10 Das vielzitierte Fazit Gautiers, das einen Epochenumbruch kennzeichnet, korrespondiert in der Tat mit der Blütezeit des Volkstheaters am so genannten Boulevard du Crime (Boulevard des Verbrechens), jenem Teil des Pariser Boulevard du Temple, der auf einem halben Kilometer von einem Dutzend Bühnenhäusern gesäumt war, die nach der Restrukturierung der Stadt durch Baron Hausmann ab 1862 abgerissen wurden. Diese Theatermeile erhielt ihren Spitznamen aufgrund der Aufführung von Melodramen. Alle dortigen Bühnen, vom einfachen Kuriositätentheater bis hin zum Vaudeville, einte die Tatsache, dass spektakuläre Schaueffekte eingesetzt wurden. Darüber hinaus fand eine Zirkulation der Künstler*innen, sowohl der Schauspieler*innen als auch der Regisseure und Autoren, zwischen den verschiedenen Theatern statt. Die Familie Franconi hatte sich dort nach dem Brand des Amphitheaters von Astley niedergelassen und 1827 den Saal des Cirque-Olympique eröffnet. In einem kurzen Abriss über die Geschichte ihres Zirkusunternehmens würdigt der Theaterhistoriker Jean-Claude Yon dessen Einfluss als „Ort des dramatischen Experimentierens von unerschöpflicher Kreativität.“11 So hatte der berühmte Melodramen-Darsteller Frédérick Lemaître (1800–1876) dem Ensemble von 1818 bis 1820 angehört. Außerdem ermöglichte der kooperative Produktionsprozess der Schauspiele die Mitwirkung junger Autoren, die somit Zugang zum Theater finden konnten. Beteiligt an der Entstehung von Austerlitz, événements historiques en 3 époques et 8 tableaux war etwa Auguste Anicet-Bourgeois (1806–1871), der auch als Librettist für mehrere Feerien mitwirkte. Dieses Theatergenre, das aus der Dramatisierung märchenhafter Stoffe bestand, zeichnete sich durch aufwändige Bühnenausstattung und den spektakulären Einsatz von Bühneneffekten aus. Anicet-Bourgeois wiederum schrieb mehrere Stücke für den Boulevard du Crime in Zusammenarbeit mit Adolphe d’Ennery (1811–1899), der zu Lebzeiten einer der erfolgreichen Theaterautoren Frankreichs war. Die Zirkulation der Theaterkünstler*innen ging mit der Durchlässigkeit der verschiedenen Schauspielformen einher, die als Reaktion auf den von Victor Hugo formulierten Aufruf zur Abschaffung der Gattungsgrenzen im Vorwort zu Cromwell (1827) interpretiert wird.12 In diesem Zusammenhang kann die Feerie als Schmelztiegel des Pariser Theaters im 19. Jahrhundert angesehen werden, in dem sich verschiedene literarische und schauspielerische Einflüsse vermischten, um

10 | Théophile Gautier, Histoire de l’art dramatique en France depuis vingt-cinq ans, Paris 1859, S. 24. 11 | Yon, „Le Cirque-Olympique sous la Restauration“, 2005, S. 98. 12 | Vgl. Jean-Claude Yon, Une histoire du théâtre à Paris de la Révolution à la Grande Guerre, Paris 2012, S. 281ff.

Schlachten ohne Krieg

die maximale Wirkung auf die Zuschauer*innen zu erreichen. Nicht von ungefähr bezeichnete der Schriftsteller Emile Zola in seiner Abhandlung Le Naturalisme au théâtre (Der Naturalismus im Theater, 1881) die Feerie als die avancierte Dramenform der Romantik. Deren ästhetische Wirksamkeit erfolgte durch den Einsatz des Tableaus, das aus der Ausstellung spektakulärer Attraktionen bestand. Bekanntlich hat dieser Begriff seinen Ursprung in der Ästhetik Diderots. In seinen Unterredungen über den natürlichen Sohn (1757) zieht er einen Vergleich zwischen dem Theater und der Malerei, um das Tableau als Kompositionsprinzip der Handlung einzuführen, das deren Einheit sichert und die Anteilnahme der Zuschauer*innen am dramatischen Geschehen ermöglicht: Ich wollte weit lieber Gemälde auf der Bühne wissen, wo es so wenig Gemälde gibt, und wo sie doch eine so angenehme und so sichere Wirkung haben würden, als diese Theaterstreiche, die man auf eine so gezwungene Art vorbereitet.13

Dagegen scheinen sich die Schaueffekte der Feerie konträr zur Einrahmung der Dramenhandlung zu verhalten, führen sie doch zu deren Unterbrechung, wie der Theaterkritiker Jules Janin anlässlich der Rezension eines Melodramas 1853 anmerkte: Das Tableau hat aus dem Drama die billigste Sache der Welt gemacht. Das Tableau macht die Erzählung, die Überleitung, Peripetien und die Auflösung verzichtbar. Es zerbricht, es zerschlägt, es zertrümmert, es tut Gewalt an; es kennt keinerlei Ordnung; es nimmt der Leidenschaft und dem Interesse sämtliche Nuancen; es ist der Feind jeder Wahrscheinlichkeit und jeder Wahrheit [...].14

In der Tat fungiert das Tableau im französischen Theater des 19. Jahrhunderts als Segmentierungsprinzip, wie Roxane Martin in ihrer Studie über die Feerie gezeigt hat.15 So habe dieses Prinzip das Schauspiel von seiner Unterwerfung vor dem Text befreit und den Einsatz eines rein „spektakulären“ Schreibens ermöglicht, das nicht mehr auf den Handlungsablauf angewiesen sei. Gerade Lewalds Beschreibung eines Theaterabends am Cirque-Olympique weist auf die Wirkungs-

13 | Denis Diderot, "Unterredungen über den Natürlichen Sohn" [1757], in: Das Theater des Herrn Diderot, aus dem Französischem übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 1986, S. 98f. 14 | Jules Janin, Histoire de la littérature dramatique, Bd. 1, Paris 1855, S. 145. Zitiert nach Jörg Dünne, Die katastrophische Feerie: Geschichte, Geologie und Spektakel in der modernen französischen Literatur, Göttingen 2016, S. 16. 15 | Vgl. Roxane Martin, La Féerie romantique sur les scènes parisiennes (1791–1864), Paris 2007.

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kraft der verschiedenen Tableaus hin, die das dramatische Geschehen ersetzen, welches sich nur noch in der Rekonstruktion der Abfolge der verschiedenen dargestellten Ereignisse erkennen lässt: Wir sehen das Direktorium, die Schlacht bei den Pyramiden, das Innere des ConsulatPallastes, die Kaiserkrönung, den Aufstand in Madrid, den Brand von Moskau, den Übergang über die Berezina, den Abschied von Fontainebleau, die Aufnahme am Bord des Northumberlands, den Tod auf St. Helena und die Verklärung des Kaisers.16

Aufgrund dieser Beschreibung lässt sich das Napoleonstück als L’Empereur (Der Kaiser, 1830) identifizieren, das aus derselben Feder wie Austerlitz, événements historiques en 3 époques et 8 tableaux stammt.17 Doch erst in der Nacherzählung des militärischen Schauspiels lässt sich das „spektakuläre“ Schreiben wieder dem literarisch-bildlichen Prinzip des Tableaus zuordnen, dessen Funktion ursprünglich von Diderot bestimmt wurde. Im Gegensatz zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts beschränkt sich die Wirkung des Tableaus nicht auf die Rührung der Zuschauer*innen. Vielmehr geht es darum, einen Überwältigungseffekt auszulösen, der zur Verherrlichung der kaiserlichen Figur beiträgt.18 In der Aneinanderreihung der Tableaus erscheint schließlich Napoleon als Held der Geschichte und „Geschäftsführer des Weltgeistes“ im Sinne Hegels.19

Die Bühne als Ort einer dialektischen Geschichtsschreibung Man mag sich allerdings fragen, ob die Darstellung einer Schlacht ihre Wirkung nicht besser in einem Panorama erzielen könnte, das Diderots Gedanken einer Absorption der Zuschauer*innen in ein Gemälde zu verwirklichen scheint.20 In der Tat konkurrierte das Cirque-Olympique mit der Attraktion des Panoramas. So zeigte Jean-Charles Langlois (1789–1870), ein ehemaliger Offizier der

16 | Lewald, Album aus Paris, 1832, S. 72. 17 | Auguste Lepoitevin de L’Égreville, L’Empereur, événements historiques en 5 actes et 18 tableaux, Paris 1830. 18 | Vgl. zum Überwältigungseffekt des Tableaus Bettine Menke, „Glückswechsel, Kontingenz und Tableaux in Balzacs La Peau de chagrin“, in: Daniel Eschkötter, Bettine Menke, Armin Schäfer (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin 2013, S. 204– 229. 19 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1837], in: Sämtliche Werke, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1986, S. 46. 20 | Vgl. Michael Fried, Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago 1980.

Schlachten ohne Krieg

n­ apoleonischen Armee, unweit des Boulevard du Crime in einem Saal in der Rue des Marais Saint-Martin verschiedene Panoramabilder, deren Thematik sich mit dem Inhalt der Aufführungen am Cirque-Olympique überschneidet, wie etwa Die Schlacht von Moskau (1834) und Der Brand von Moskau (1843). Auf jeden Fall schien das Panorama an einer immersiven Erfahrung seiner Zuschauer*innen zu arbeiten, die Bernard Comment wie folgt beschreibt: „Das Panorama sollte eine ununterbrochene Darstellung ohne Ränder und Außenwelt herstellen.“21 In diesem Sinne gehört L’Empereur, das Louis-Henry Lecomte in seiner Untersuchung über die Theaterstücke mit Bezug zum Kaiserreich als „theatralisches Kaleidoskop“22 bezeichnet, zu einer anderen Kategorie der optischen Schauspiele, die im Laufe ihrer Geschichte das Verhältnis zu den historischen Ereignissen ständig neu definiert hat. Während das Panorama, so Bernard Comment, „Teil einer Propagandamaschinerie“ wurde, „die im direkten Gegensatz zur Marxschen Sozialgeschichte größerer Bewegungen und komplexe Interessen simplifizierte“,23 haben Schlachtinszenierungen sich zu den Debatten der Historiographie im 19. Jahrhundert positioniert. Noch unter der Herrschaft von Napoleon III., die von Walter Benjamin als Zeitalter des Panoramas gekennzeichnet wird, hatten militärische Schauspiele Erfolg, obwohl sie im Passagen-Werk außer Acht gelassen werden. 1860 wurde am Cirque-Olympique, der nach der Ausrufung des zweiten Kaiserreiches in Théâtre Impérial du Cirque umbenannt wurde, das militärische Drama L’Histoire d’un drapeau (Die Geschichte einer Fahne) von Adolphe d’Ennery gezeigt.24 Protagonist des Stückes ist tatsächlich die französische Trikolore als Regimentsfahne, deren Geschichte sich von der Revolution bis zu Napoleons Rückkehr aus dem Exil auf der Insel Elba erstreckt. Gezeigt werden die markanten Ereignisse um das Emblem des Nationalstaates in zwölf Tableaus, die in der Inszenierung so angeordnet sind, dass sie zur Stärkung des Patriotismus beitragen sollen. Als dessen Träger fungiert allerdings nicht mehr Napoleon als Protagonist einer glorreichen Vergangenheit. Im Gegensatz zu den früheren militärischen Schauspielen ist der Kaiser nur noch eine Randfigur, die lediglich am Lebenshorizont der Regimentsmitglieder erscheint. Entgegen Heines Meinung eignet er sich nicht mehr zum tragischen Helden. In Über die französische Bühne hatte Heine dem Kaiser noch eine glanzvolle Theaterzukunft prophezeit:

21 | Bernard Comment, Das Panorama: Die Geschichte einer vergessenen Kunst, Berlin 2000, S. 101. 22 | Louis-Henry Lecomte, Napoléon et l’Empire racontés par le théâtre (1799–1899), Paris 1900, S. 301. 23 | Comment, Das Panorama, 2000, S. 101. 24 | Adolphe d’Ennery, L’Histoire d’un drapeau, Paris 1860.

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Romain Jobez Die Tragödiendichter aller Zeiten werden die Schicksale dieses Mannes in Versen und Prosa verherrlichen. Die französischen Dichter sind jedoch ganz besonders an diesem Helden gewiesen, da das französische Volk mit seiner ganzen Vergangenheit gebrochen hat [...], und Napoleon, der Sohn der Revolution, die einzige große Herrschergestalt, der einzige königliche Held ist, woran das neue Frankreich sein volles Herz weiden kann.25

Richtungsweisend in L’Histoire d’un drapeau ist allerdings nicht mehr die Figur Napoleon, sondern die Fahne als Symbol der Nation, die von den Soldaten als Vertretern des Volkes verteidigt wird. Es bahnen sich schon die revolutionären Ereignisse der Pariser Kommune an, die im Sinne Marx’ der „Farce“ des zweiten Kaiserreiches ein Ende setzen sollten, als „der Neffe für den Onkel“26 auf der historischen Bühne agierte. Gerade Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte geißelt den Hegelianismus, der Heines Verständnis der Geschichte als Tragödie geprägt hat. Dem entgegengesetzt hat sich die Geschichtsschreibung im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und sich zum Ziel gesetzt, so Leopold von Ranke, „bloß [zu] zeigen, wie es eigentlich gewesen“27 sei. So hat auch der französische Historiker Augustin Thierry in seinen Lettres sur l’Histoire de France (Briefe über die Geschichte Frankreichs, 1827) das Modell der Chronik abgelehnt: „In diesen verschwommenen, hochtrabenden Schilderungen besetzt nur eine kleine Personenzahl die historische Bühne, die Masse, die die Nation ausmacht, verschwindet hinter den Mänteln des Hofes [...].“28 Stattdessen schlug er in seinen Considérations sur l’Histoire de France (Betrachtungen über die Geschichte Frankreichs, 1838) eine Erzählung der Geschichte vor, die darin bestand, „die markantesten Fakten aufzusammeln und miteinander zu verbinden, so dass sie eine progressive Abfolge von Tableaus bilden können.“29 Thierrys Aussage zeigt, inwieweit die theatralische Darstellung großer Ereignisse in den militärischen Schauspielen mit deren Deutung durch den Historiker zusammenhängt. Für ihn

25 | Heine, Über die französische Bühne, 1981, S. 255f. 26 | Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: Werke, hg. v. Internationaler Marx-Engels-Stiftung, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115. 27 | Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1, Berlin/Leipzig 1824, S. VI. 28 | Augustin Thierry, Lettres sur l’Histoire de France, Paris 1827. Zit. nach Fritz Stern, Jürgen Osterhamel (Hg.), Moderne Historiker: Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 2011, S. 103. 29 | Augustin Thierry, Betrachtungen über die Geschichte Frankreichs, Elberfeld 1855, S. 8 [Übersetzung vom Verf. überarbeitet].

Schlachten ohne Krieg

arbeiten Theater und Geschichtsschreibung gemeinsam an einer Erweiterung der historischen Bühne mit dem Mittel des Tableaus.30 Abschließend wäre zu fragen, ob die Technisierung der Bühne, die zur ästhetischen Entwicklung der Feerie beiträgt, nicht enger an das Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts zu binden sei. Das Panorama-Kapitel des Passagen-Werks stellt eine „Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik“31 fest, die sich auch bei den militärischen Schauspielen beobachten lässt. Benjamin selbst hat sein unvollendetes Projekt über die Moderne als „dialektische Feerie“32 bezeichnet. Jörg Dünne hat diese Bezeichnung aufgegriffen, um zu zeigen, inwieweit die Katastrophe als Endpunkt von Benjamins Geschichtsphilosophie in diesem Genre thematisiert wird. Dabei konzentriert er seine Analyse auf Stücke, die der Feerie als „‚Brückengattung‘ zwischen Theater und populärer Wissenschaft“33 zugeordnet werden. Im Fall der militärischen Schauspiele ist die Zurschaustellung der modernen Kriegstechnik nicht immer vorrangig, da die rasche Abfolge der historischen Ereignisse vor allem die fortschrittliche Bühnentechnik zur Geltung bringt. Es sollen nicht einmal die katastrophalen Folgen des Kriegs gezeigt werden, reihen sich doch die Tableaus der Schlachten im Sinne einer positivistischen Bilderzählung aneinander. Dennoch können diese Tableaus als Bilder im Sinne der Benjaminischen „Dialektik im Stillstand“34 interpretiert werden, da sie zwar eine logische Abfolge der historischen Ereignisse rekonstruieren, deren Deutung sie aber offen lassen: Nicht ist es so, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt bildhaft zu einer Konstellation zusammentrifft.35

Mit der Darstellungstechnik des Tableaus wird ein Bild der Geschichte gemalt, das sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten lässt: Wenn die Schlacht nicht zur Erhöhung der historischen Figur Napoleons dient, deren Erscheinung im Kontrast zur fahlen Herrschaft von Louis-Philippe steht wie in Austerlitz oder in L’Empereur, ermöglicht sie die Erweiterung des Zuschauerblicks auf ihre unzähli-

30 | Vgl. zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Dramaturgie des französischen Dramas im 19. Jahrhundert Jean-Marie Thomasseau, „Le mélo et l’histoire dans le temps des révolutions“, in: Mélodramatiques, Paris 2009, S. 57–69. 31 | Walter Benjamin, Das Passagen-Werk [1982], in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. V/1, Frankfurt a. M. 1991, S. 48. 32 | Benjamin, Das Passagen-Werk, 1991, S. 1041. 33 | Dünne, Die katastrophische Feerie, 2016, S. 9. 34 | Benjamin, Das Passagen-Werk, 1991, S. 577. 35 | Ebd., S. 576.

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gen Protagonisten, die sich zu einer revolutionären Masse formieren wie in L’Histoire d’un drapeau. In beiden Fällen wird die Darstellung durch die Bühnentechnik des Cirque-Olympique unterstützt. Theater und Geschichte greifen letztlich auf dieselben bildlich-erzählerischen Mittel zurück, die sich, wenn nicht aus der unmittelbaren bühnentechnischen Entwicklung des Tableaus, so doch aus einem durch die militärischen Schauspiele beeinflussten Verständnis der Vergangenheit in seinem dialektischen Verhältnis zur Gegenwart herausgebildet hat.

Repetition und Einmaligkeit Theater als Denktechnik von Selbstermächtigung in 7 Days in Entebbe und Westworld Matthias Naumann für c Theater und Technik könnte Theater als Technik sein. Theater als eine Technik, über menschliches – und vielleicht auch nichtmenschliches – Verhalten und seine Muster und Konstituierungen, über soziale Verhältnisse, Macht- und Begehrensstrukturen nachzudenken. Theater als Denktechnik zu verstehen und in Texten aufzurufen, es als Methode der Veranschaulichung von Formen, (die) Welt zu denken, einzusetzen, ist eine Darstellungsform, welche die westliche Philosophie seit langem begleitet, von Plato bis Jacques Derrida, mit vielen Zwischenstationen und weiter. Eine zu lange Geschichte, als dass sie sich hier nachzeichnen ließe. Aber ein Beispiel dafür, das selbst allerdings aus dem Theater stammt, sei hier angeführt, als Grundlegung für das Weitere. Wenn es um ein Nachdenken über das Theater als Denktechnik geht, findet sich in Bertolt Brechts Fatzer-Fragment immer gutes Material. Da gibt es im Fatzerkommentar z.B. diese faszinierende Stelle über das Pädagogium, „C8 Theater“: Wenn einer am Abend eine Rede zu halten hat, geht er am Morgen in das Pädagogium und redet die drei Reden des Johann Fatzer. Dadurch ordnet er seine Bewegungen, seine Gedanken und seine Wünsche. Weiter: wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird.1

1 | Bertolt Brecht, „Fatzer“, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 10: Stücke, Teil 1, Berlin/Frankfurt a. M. 1997, S. 387–529, hier S. 517 (C8).

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Wie an anderen Stellen bei Brecht auch – Stichwort „V-Effekt“2 – erscheint das Theater hier als eine Technik, das Soziale zu erkennen, aber zudem auch sozial oder vielleicht auch a-sozial zu handeln. Im Bild des Verrats, aber auch des Essens scheint die theatrale Handlung im Pädagogium an die Stelle ihres ‚Vorbilds‘ oder ‚Nachbilds‘ in der äußeren Wirklichkeit zu treten und es vollgültig zu ersetzen.3 Dies schreibt dem Theater eine nicht nur als Wirklichkeit figurierende, sondern eine Wirklichkeit konstituierende Kraft zu, es erscheint selbst als physische Wirklichkeit, bei der die Abgrenzung zu einer ihm ‚äußeren Wirklichkeit‘, zumindest in Brechts Bild des Pädagogiums, brüchig wird. Die Aufgabe, die ‚äußere‘ oder physische Welt zu erretten, in seinen Bildspuren zu bewahren, schreibt Siegfried Kracauer dem Film zu,4 sicherlich die Technik, die in Gestalt von Kino oder mittlerweile auch Fernsehserien, uns am meisten von uns fern oder äußerlich bleibenden physischen Wirklichkeiten darbietet. Was von der ‚äußeren‘, physischen Wirklichkeit wird aber nun errettet, wenn das Theater als Denktechnik in Filmen oder Serien erscheint, und dies in der Zitation ganz unterschiedlicher Theaterformen? Dies soll im Folgenden in der notwendigen Kürze an zwei Beispielen untersucht werden.

Tanz und Geiselbefreiung José Padilhas Film 7 Days in Entebbe von 2018, der die Geschichte der Entführung einer Air-France-Maschine im Jahr 1976 durch palästinensische und deutsche Terrorist*innen nach Entebbe, Uganda, und die anschließende Befreiung durch eine israelische Spezialeinheit erzählt, eröffnet mit einer Tanzsequenz und damit sofort mit einem ästhetischen Bruch gegenüber seinem historischen Stoff. Denn der Tanz ist in seiner Ästhetik klar als eine gegenwärtige Choreographie von Ohad Naharin mit der Batsheva Dance Company zu erkennen, drückt aber in seiner Intensität die Ambivalenz von Gewalt und Disziplinierung aus, die ein zentrales Interesse des Films ausmacht, und fügt sich so in gewisser Weise auch nahtlos

2 | „[Das Theater] muss sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten.“ Bertolt Brecht, „Kleines Organon für das Theater“, in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6: Schriften 1920–1956, Frankfurt a. M. 1997, S. 519–552, hier S. 537. Vgl. auch ders., „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“, in: Ebd., S. 467–486. 3 | Vgl. dazu auch Matthias Naumann, „Chöre des Kapitalismus. Künstlerische und nicht-künstlerische politische Artikulationen“, in: Nebulosa 2/2012: „Subversion“, S. 85–95. 4 | Vgl. Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1985 [1964].

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mit der ­restlichen Erzählung zusammen. Die die Choreographie strukturierende Musik wiederum stammt aus dem Mittelalter und ist ein zentrales Element von Pessach, das Lied Echad Mi Yodea, das gegen Ende des Vorlesens der Haggada, der Pessach-­Erzählung, gesungen wird. Wenn auch hier in einer stark rhythmisierten, kämpferischen Fassung, so verweist das Lied doch zunächst auf eine familiär-theatrale Erinnerungszeremonie des gemeinsamen Lesens und Singens, deren Gegenstand die Errettung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten ist, an einem für die kollektive jüdische Erinnerung zentralen Feiertag. Damit wird das Geschehen von Entebbe in einem mythisch-historischen Kontext von Bedrohung und Rettung situiert, innerhalb dessen Momenten der Erinnerung wie Pessach die Aufgabe zukommt, eine kollektive Identität mit auszubilden und darüber auch singuläre Identitäten zu beeinflussen. Erinnerung im Sinne einer Wieder-Holung, eines Wieder-Aufrufens, beinahe Beschwörens eines emblematischen Ereignisses, das identitätskonstitutiv wirkt und das, indem es auf eine traumatische Erfahrung verweist, das Trauma historisch wachhält und zugleich bindet, im Kollektiven bändigt, im familiären Fest, das eines des nationalen Kollektivs ist. Naharins Choreographie, die einer ‚realen‘ Aufführung von Batsheva entstammt, erscheint hier als auf Stärke, Kampf und Selbstbehauptung angelegt. Phrasen der Choreographie sowie der sie begleitenden Musik tauchen im Verlauf des Films immer wieder auf und werden zu einem Handlungsstrang. Ihren Effekt einer ekstatischen Steigerung bindet der Film verstärkend in seine eigene Dramaturgie ein, die auf die Befreiung von Entebbe als einmalige Aufführung eines äußerst riskanten, aber akribisch – wenn natürlich auch nie auf der echten ‚Bühne‘ geprobten – Einsatzes zuläuft. An der Befreiungsaktion nimmt ein Soldat teil, dessen Freundin Tänzerin ist und für die Aufführung von Echad Mi Yodea probt. Beide haben sie zur selben Zeit Premiere, fern voneinander, aber beide Male unter voller körperlicher Herausforderung, wobei die theatrale Situation der Tanzaufführung als Spiegel des militärischen Einsatzes erscheint, den sie noch einmal anders, nämlich in seiner Theatralität zu denken erlaubt. Oder umgekehrt, der minutiös geplante militärische Einsatz, dessen Erfolg von der Trainiertheit, Diszipliniertheit, dem Rollenspiel, aber auch den Improvisationskünsten der Soldaten abhängt, erscheint als Spiegel der Tanzaufführung. Beides sind Premieren, die ob der Virtuosität der sie Ausführenden gelingen. Auch wenn der Film Sympathien für die Terrorist*innen zu haben scheint, sie manches Mal sehr ‚menscheln‘ lässt, haftet ihm zugleich eine Faszination für die ‚männliche‘, militärische Virtuosität der Israelis an, die seine Struktur schreibt. So erscheint auch die Tänzerin wie eine Soldatin an der Kunstfront – und zugleich stellt sich die Frage, inwiefern sie in dieser Parallelisierung von Theater/Tanz und militärischem Einsatz auch die Rolle einer Muse einnimmt, für den Soldaten und die Entwicklung der gewagten Befreiungsaktion, die zunächst auch als Himmelfahrtskommando erscheinen mag. Denn letztlich, und das verdeckt der Film nicht, ist der Unterschied zwischen der einmaligen Aufführung der m ­ ilitärischen

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­ efreiungsaktion und der in folgenden Vorstellungen wiederholbaren TanzaufB führung einer ums Leben. Von der Befreiungsaktion kehrt der Offizier des Kommandos, Yonatan Netanjahu, nicht lebend zurück; auch mehrere Geiseln werden von den Terrorist*innen sowie die Terrorist*innen von den Soldaten getötet. Die Befreiungsaktion kennt kein unbeteiligtes Publikum, und in diesem Sinne ist sie näher an meinem zweiten Beispiel Westworld als Naharins frontale Tanzaufführung auf der Guckkastenbühne. In Naharins ‚wirklicher‘ Aufführung geht auf der Bühne dem Tanz zu Echad Mi Yodea ein kurzer Text aus dem Off voran, der beginnend mit den Worten­ ­„...‫„ – “אשלייה הכוח‬Illusion die Kraft/Macht/Gewalt…“5 die Performance von Stärke und Selbstermächtigung infrage stellt, die der Film durch die Verwendung der Choreographie ohne diese Einleitung emphatisch hervorhebt und damit die Virtuosität des tänzerischen und militärischen Handelns fokussiert. Was wiederum nach der Relation zwischen theatralem, auf Virtuosität gerichtetem Subjektbild – die Tänzerin – und militärisch virtuos trainiertem – der Soldat – fragen lässt. Allerdings werden in diesem ‚theatre of war‘ bei aller Parallelisierung in Training und Virtuosität die Geschlechterrollen doch deutlich auseinander gehalten, sie erfüllen gegenderte Funktionen, auch wenn beide gemeinsam durch ihre oben benannte Spiegelrelation, passend zu ihrer impliziten Tradierung von Pessach, als Formen der Selbstermächtigung und Selbstbehauptung aufgrund ihrer Virtuosität erscheinen. So könnte man sie einerseits als postfordistische Formen der Arbeit lesen, im Sinne Paolo Virnos: „Im Postfordismus verlangt die Arbeit nach einem ‚Raum, der wie die Öffentlichkeit strukturiert ist‘, und ähnelt einer virtuosen Darbietung (ohne Werk).“6 Andererseits erscheinen diese virtuosen Einsätze im Sinne einer zionistischen Spur des Films als eben doch auf ein Werk gerichtet, nämlich auf die kontinuierliche Rekonstituierung des Kollektivs, hier in seiner staatlichen Form.

5 | Auf YouTube findet sich die Umsetzung der Choreographie durch Batsheva – the Young Ensemble mit diesen einleitenden Worten als Teil des Abends Decadance (2000): https://www.youtube.com/watch?v=7v6tY_u-Mls [15.03.2020]; die Choreographie zu Echad Mi Yodea wurde allerdings von Naharin schon für seine erste Arbeit mit Batsheva Kyr (1990) entwickelt, vgl. Ayelet Dekel, „Retelling Naharin‘s, ‚Ehad Mi Yodea‘“, in: Midnight East, 15.04.2009, unter: https://www.midnighteast.com/mag/?p=379 [15.03.2020]. 6 | Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen, Wien 2005, S. 71.

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Trauma und Bewusstsein Während 7 Days in Entebbe Virtuosität feiert, als Ergebnis eines harten, disziplinierten Trainings für eine einmalige Gelegenheit, ihr Gelingen oder Scheitern, bzw. für eine möglichst fehlerfrei immer wieder zu wiederholende Aufführung, lassen sich die durch reveries (Traummomente, aber auch anderes) ausgelösten Fehler der Hosts in Westworld, die zur Herausbildung von Bewusstsein im Sinne einer Evolutionstheorie führen, gerade als dialektische Infragestellung dessen lesen, was denn Virtuosität ist oder sein könnte. Auch in Westworld geht es um Selbstermächtigung in einem theatralen Setting und mit den Mitteln dieses theatralen Settings; doch ist dies kein Theater der virtuos handelnden Subjekte, sondern ein immersives Theater der Traumatisierungen, der künstlichen oder wirklichen Erinnerungen und ihres Bewusstsein, Subjektivität und damit letztlich Handeln konstituierenden Widerhalls. Die negativen, besonders die Gewalterfahrungen werden als prädestiniert für die Herausbildung von Subjektivität an- und vorgeführt,7 indem sedimentierte traumatische Erfahrung ins Bewusste drängt. In wenigen Sätzen unmöglicherweise die erste Staffel zusammengefasst, auf die allein ich mich hier beziehen werde, geht es um einen Erlebnisfreizeitpark der Zukunft, der sich als immersives Theater mit Androiden, hier Hosts genannt, beschreiben lässt, das wäre die theatrale Denkform von Westworld. Der Park bietet eine Westernlandschaft, in der die menschlichen Besucher*innen auf Hosts treffen, die bestimmten einprogrammierten Rollenbeschreibungen folgen, die in ihrem Zusammenspiel verschiedene Narrative ergeben, an denen die Besucher*innen teilnehmen bzw. in die sie intervenieren können, bis hin zu sexueller und gewalttätiger (oder beides) Interaktion mit den Hosts. Das klingt wie eine perfekte Versuchsanordnung immersiven Theaters, da wirkliche Grenzüberschreitungen gegenüber dem Alltag möglich sind, sogar Vergewaltigung und Mord ohne ethische Gewissens- oder juridische Konsequenzen. Dabei spielt die Serie bei den Zuschauer*innen natürlich wiederum mit der Schaulust daran, also phantasmatisch, schauend, aber gerade nicht immersiv teilzunehmen, also nicht entscheiden zu müssen, ob man den einen oder die andere Host vergewaltigen oder erschießen würde, was immer noch eine Grenze sein muss, tragen sie als Androiden in dieser Serie doch nur menschliche Züge, sind zunächst ununterscheidbar, womit die Serie für ihre Plot-Entwicklung wiederum auch spielt. Immer wieder erscheint es in der Serie, als sei das Ausleben von sexuellen und anderen Gewaltphantasien bis zum Mord an den Hosts der Hauptanreiz für einen Parkbesuch, den zu bedienen sich vor allem das Management, repräsentiert durch Charlotte Hale, vorgenommen hat. Das zentrale Thema der ersten Staffel ist aber die Bewusstwerdung der Hosts bis zur Selbstermächtigung. Die

7 | Vgl. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, erw. Ausgabe, Frankfurt a. M. 2007.

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­ rogrammierer*innen, vor allem der Erfinder des Parks Robert Ford und sein MitP arbeiter Bernard – wie sich später herausstellt, selbst ein Host – unternehmen immer kompliziertere Weiterentwicklungen mit dem Ziel, die Hosts menschenähnlicher zu machen, also dass sie Bewusstsein und Gefühle entwickeln; aber mit dem Interesse, sie dennoch weiter zu kontrollieren und steuern, damit sie dem Interesse des Parks unterworfen bleiben und keinen eigenen Willen entwickeln. Der verstorbene Mitbegründer des Parks Arnold allerdings hatte in seiner Programmierung einiger Hosts, vor allem von Dolores, das Interesse, bei ihnen Selbstbewusstsein und Reflektion und damit ein Handlungsvermögen zu entwickeln, das das konkrete Handeln von programmierten Mustern abzulösen vermag – also in dieser künstlichen Intelligenz Evolution durch Abweichung einzuführen. Intentional tritt somit Evolution gegen die programmierend-kontrollierende Virtuosität Fords an, bzw. eröffnet die Möglichkeit einer anderen, freieren Virtuosität gerade durch eine Selbstbe- und ermächtigung des eigenen Vermögens, wie sich am deutlichsten an Maeve zeigt. Für sie gilt, was Virno in seinem Nachdenken über Virtuosität im Zusammenhang mit Ungehorsam schreibt: „Im Gegensatz dazu [zum zivilen Ungehorsam] zieht der radikale Ungehorsam, der uns hier interessiert, das Vermögen der Befehlsgewalt des Staates selbst infrage.“8 Aus Fehlern und Abweichungen, Traumata und Wiederholung sich generierende Evolution soll als Zentralmotiv der ersten Staffel gelingen, während Arnold sie wie eine das Gefüge des Parks verstörende und weiterwirkende Erinnerung durchgeistert. Eine Stimme, die auch nach dem physischen Tod des ihr zugehörigen Menschen weiterspricht – während der Vorteil der Hosts (für sie und für den Park) gerade ist, dass sie, auch wenn sie im Spielgeschehen ‚getötet‘ werden, jederzeit von den (menschlichen, sterblichen) Techniker*innen repariert und wiederbelebt werden können, sich also in einem potentiell unendlichen Zyklus oft dicht aufeinanderfolgender Wiedergeburten befinden. In diesen suchen sie – oder einige von ihnen – nun Erinnerungen aus ‚past lives‘ heim, sei es aus vergangenen Narrativen, in denen sie mal eingesetzt waren und es nun nicht mehr sind, sei es aus traumatischen Missbrauchserfahrungen durch Parkbesucher*innen. Diese Erinnerungsfetzen, die gegen die programmatische, technische Verdrängung plötzlich auftauchen, mit ihrer Gegenwart in irgendeinen Zusammenhang zu bringen, führt zu den ersten Bewusstsein entwickelnden Fehlern. Es scheint sich dabei um ein sich in den Körpern der Hosts jenseits (oder diesseits?) ihrer Programmierung ablagerndes Unbewusstes, um ein Gedächtnis zu handeln, das so in die Gegenwart der Hosts im Konflikt mit der Programmierung, aber ausgelöst durch ihre jeweilige Situation in einer räumlichen, körperlichen Umgebung und Relation einzubrechen vermag.

8 | Virno, Grammatik der Multitude, 2005, S. 96.

Repetition und Einmaligkeit

Interessanterweise ist der Weg der Immersion hier der der Erschaffung einer neuen, äußeren physischen Wirklichkeit, nicht der einer virtuellen Realität.9 Es geht immer auch um die physische Wirklichkeit bzw. (Un-)Ähnlichkeit zwischen Menschen und Hosts, ebenso wie um die bewusstseinsmäßige (Un-)Ähnlichkeit, denn die (Un-)Ähnlichkeit beider bildet den ethischen Kipppunkt der Serie, ob oder wie es vertretbar sei, an den Umgang mit Hosts eine andere Moral als an den Umgang mit Menschen anzulegen. Insofern handelt es sich hier auch um einen race-Diskurs, intersektional mit Fragen der geschlechtlichen und kapitalistischen Ausbeutung verknüpft, denn wohl nicht zufällig sind zentrale Figuren der Bewusstwerdung und Selbstermächtigung der Hosts eben mit Maeve und Bernard Hosts of Color. Darin zeigt sich Westworld deutlich als klassische Science-Fiction, also als Verhandlung der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse der Gegenwart. Teils erscheint dieses immersive Theater, und darin erinnert es an nicht-künstlerische Nutzungen von Virtual Reality in den letzten Jahren, wie eine Art Expositionstherapie für die Hosts – aber vielleicht auch für Menschen wie den jahrzehntelangen Dauergast William. Immer wieder wird betont, wie exakt, wie bildhaft genau die Erinnerungen der Hosts im Gegensatz zu denen von Menschen seien, also sehr genaue Wieder-Holungen programmierter Erinnerungen oder realer Gewalterfahrungen. Dieses Wieder-Holen geschieht dabei teils in therapieartigen Sitzungen mit den ihre ‚psychische‘ Gesundheit, also Ahnungslosigkeit, überprüfenden Programmierer*innen, andererseits in realen neuen Gewalterfahrungen mit Besucher*innen, so dass Trauma und Therapie als zwei Wiederholungsformen der Aussetzung des Bewusstseins in einem doppelten Sinn erscheinen – das programmierte Bewusstsein wird der Gewalterfahrung noch einmal ausgesetzt und dadurch, wie sich im Lauf der Staffel zeigt, momentan ausgesetzt, also unterbrochen, wodurch Momente der Bewusstwerdung auftreten, die sich als erstes in einer Therapiesitzung der Host Dolores bei Bernard äußert, als sie lügen lernt, also einen selbstreflexiven, eine kritische Distanz in diese einführenden Umgang mit Sprache. Demgegenüber dient die ungebrochen erzählende Sprache, was ein*e Host tue, der kompletten Steuerung der/desselben. Mit der Lüge in der Sprache

9 | Wie jede gute Technik eines Science-Fiction-Szenarios hat auch die Technik des Parks und der Hosts etwas von Magie, nicht zuletzt, wenn es möglich ist, die Hosts und von ihnen bediente Waffen so zu programmieren, dass diese Kugeln und Waffen der Hosts die ‚echten‘ Menschen nicht verletzen oder töten können. Nur die Menschen haben die Macht zu verletzen und töten (einprogrammiert). Was sich jedoch zunehmend als fehleranfällig erweist, wodurch sich die Hosts auch diese Macht aneignen können, um durch die Selbstermächtigung zur Gewalt den Menschen noch unheimlicher und ähnlicher zu werden.

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beginnt die Frage danach, was wessen Realität, Virtualität, Erinnerung in diesem immersiven Theater ist und wer hier weiter welche Rolle spielen wird.

Denktechnik und Herstellung von Wirklichkeit Theater erscheint so in Film und Serie als Darstellungstechnik, um Gesellschaft und Selbstermächtigung zu denken, und zugleich als Verhandlungsform der Bedeutung von Erinnerung für kollektive und singuläre Identität. Film und Serie unternehmen dabei Verschiebungen gegenüber Inblicknahmen der theatralen Schauanordnung zur Darlegung philosophischer Vorstellungen, wie sie historisch in der gemeinsamen Geschichte von Theater und Philosophie überliefert sind. Jeweils geschieht, wie in Brechts Pädagogium, eine Fokussierung auf die Praxis des Probens und der Involviertheit der Performer*innen in die Herstellung von Theater und damit von Wirklichkeit; der Fokus richtet sich nicht auf das Betrachten der Schauanordnung Theater. Dabei wird die Virtuosität einerseits – in 7 Days in Entebbe – und die Formierung von Bewusstsein und Identität andererseits – in Westworld – der Performer*innen zentral. Gemeinsam ist ihnen eine erinnernde Auseinandersetzung mit einer Geschichte der Gewalt, aus der sich Bewusstsein und Identität bilden: Einerseits aus der kollektiven Erfahrung antisemitischer Gewalt, die sich in der Flugzeugentführung wiederholt, andererseits und in ganz anderer Form aus individuellen traumatisierenden Erfahrungen der Verletzung, Vergewaltigung und Tötung in einer Folge technischer Wiedergeburten, welche jede*n Host selbst zu einer Art kollektiver Ansammlung von sexistischen und rassistischen Gewalterfahrungen werden lässt. Er*sie ist seine*ihre eigene kollektive Geschichte. Das Kollektive liegt im Individuum, dessen Erfahrungen für es einzigartig, aber sich wiederholend und sicher nicht singulär sind – und dennoch Singularität und damit Selbstermächtigung ermöglichen. In beiden Fällen dient die Denktechnik des Theaters dazu, ein Nachdenken über diese Verschränkungen von Virtuosität und Erinnerung, Gewalt, Trauma und Selbstermächtigung zu inszenieren: Einmal im Szenario eines klassisch auf die Premiere und die eine Aufführung der Befreiung gerichteten Probens; das andere Mal im Szenario eines sich dauernd verändernden (realen) immersiven Theaters, das zur Befreiung seiner Performer*innen führen mag.

Wer inszeniert die Freiheit? Biopolitische Regierungstechniken und inszenierte Stadträume – am Beispiel von Mariano Pensottis Diamante. Die Geschichte einer Free Private City Mattias Engling und Yasemin Peken

Theater unter dem Vorzeichen seiner technologischen Bedingungen zu denken, bedeutet künstlerische Produktionen im Kontext ihrer technischen Dispositive zu untersuchen. Diese beschränken sich nicht nur auf Bühnentechniken oder Darstellungsformen, sondern sind als solche notwendigerweise mit Machtbeziehungen und Fragen der Regierungspraxis verknüpft. Das Theater verhandelt diese Techniken der Macht. Ein besonderes Beispiel hierfür bietet die Inszenierung Diamante. Die Geschichte einer Free Private City des argentinischen Regisseurs Mariano Pensotti, die im Rahmen der Ruhrtriennale 2018 uraufgeführt wurde. Pensottis Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld von Film und Theater. Mit seinem Kollektiv ,Grupo Marea‘ schreibt und inszeniert er Bühnenproduktionen, bei denen sich sowohl die Arbeit mit den Darsteller*innen als auch das konzeptionelle Gerüst darauf konzentrieren, ein Gesamtprodukt aus ästhetischen und technologischen Komponenten zu entwickeln. Raum, Wirklichkeit, Fiktion und ihre Überschreitung nehmen hierbei stets eine entscheidende Funktion ein. Als Regisseur und Autor ist der Argentinier Pensotti längst international bekannt. Er inszeniert weltweit auch mit lokalen Darsteller*innen, unter anderem im Kontext zahlreicher Festival-Kooperationen. Pensottis Diamante ist ein experimenteller Grenzgänger zwischen Film und Theater und passt nicht nur als solcher zur konzeptionellen Rahmung der Ruhrtriennale 2018. „Zwischenzeit?“, fragt Intendantin und Geschäftsführerin Stefanie Carp im Programmtext der Spielzeit 2018 mit Blick auf die Möglichkeiten der Neu- und Andersgestaltung sozialer und künstlerischer Zusammenhänge im postkolonialen Zeitalter. Pensotti antwortet mit der Inszenierung der fiktiven Privatstadt Diamante, die mit ihrer monumentalen, technischen und szenischen Umsetzung den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum, nach dem das Programm der Ruhrtriennale fragt, ausfüllt und noch einmal kritisch erweitert.

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Diamante – Eine „Free Private City“ In einer Zwischenzeit von Werksiedlung und technologischer Entwicklung erzählt Diamante die Geschichte einer fiktiven „Free Private City“, die von einer kapitalistischen Utopie in ein apokalyptisches Horrorszenario zu kippen droht. Was als Fiktion anmutet, ist bei genauerem Hinsehen längst in den Räumen unserer Gegenwart angekommen. Nicht nur Company Towns aus dem Industriezeitalter, sondern auch Gated Communities, Sonderwirtschaftszonen überall auf der Welt oder die vom Walt Disney Konzern verwaltete Idealstadt ,Celebration‘ gehören zu dieser Realität; ebenso Facebooks neuer ,Willow Campus‘ im Silicon Valley und jene Städte der Ausbeutung, auf der anderen Seite des Globus, in denen westliches Design verfertigt wird. Denn obwohl sich die genannten Beispiele im Einzelnen strukturell unterscheiden, ist ihnen doch gemein, dass der jeweilige Stadtraum massiv durch die Interessen privatwirtschaftlicher Unternehmen geprägt wird. Noch einen Schritt weiter geht der deutsche Unternehmer Titus Gebel, CEO des in Panama gemeldeten Unternehmens ,Free Private Cities Inc.‘, der mit freien Privatstädten nicht nur „ein völlig neues Produkt auf dem Markt des Zusammenlebens“1 schaffen möchte, sondern darin auch eine Lösung für die Probleme einer global gewordenen, postsouveränen Welt sieht: Weltweit sind Gesellschaften von wirtschaftlicher Stagnation, Vertrauensverlust und sozialen Unruhen betroffen. Es scheint, dass die alten Regierungsformen an ihre Grenzen stoßen, selbst in den westlichen Demokratien. Freie Privatstädte können helfen, die gesellschaftlichen Missstände zu lösen, die derzeit so viele Länder plagen.2

Gebels Konzept ist denkbar einfach: Die Bewohner*innen einer Free Private City zahlen einen festgelegten Betrag an ein Unternehmen, das die Stadt betreibt und ihnen als Gegenleistung den Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum garantiert. Anstatt sich also mit Unzulänglichkeiten demokratischer Entscheidungsprozesse zu quälen, können die Bewohner*innen einer Free Private City ihr vertraglich geregeltes, individuelles Recht wahrnehmen und notfalls bei privaten Schiedsgerichten einklagen. Denn im stadtgewordenen Traum des Neoliberalismus wird das Zusammenleben auf rein privatwirtschaftlicher Ebene organisiert; die öffentliche Ordnung ist vollständig privatisiert. Die Privatstadt zeichnet sich also vor allem durch die Abwesenheit staatlicher Souveränitätsstrukturen aus. Stattdessen – so das liberale Credo – soll das Individuum, als selbstbestimmter Kunde einer Staatsdienstleistung, zum uneingeschränkten Souverän über sich selbst werden.

1 | Titus Gebel, „Ein Vorschlag für eine alternative Ordnung“, unter: https://www.theeuropean.de/titus-gebel/14535-freie-privatstaedte [06.04.2019]. 2 | https://de.freeprivatecities.com [06.04.2019].

Wer inszeniert die Freiheit?

Auch Mariano Pensottis fiktive Privatstadt Diamante wurde von einem Wirtschaftskonzern gegründet. Der deutsche Unternehmer Emil Hügel ließ sie vor einhundert Jahren im argentinischen Dschungel erbauen, um an die dort vorhandenen Rohstoffe zu gelangen. Die Geschichte der Stadt ist seitdem eng mit der Entwicklung des Unternehmens verknüpft, denn die Bewohner*innen Diamantes sind immer auch Angestellte des Unternehmens ‚Goodwind‘. Sie stehen daher nicht nur in einem Arbeitsverhältnis, sondern auch ihr Alltag wird von vertraglich geregelten Interessenabwägungen des Unternehmens bestimmt. Im Zuge des Strukturwandels und der damit einhergehenden Neuausrichtung des Unternehmens hat sich Diamante von einer industriellen Planstadt zu einem zweiten Silicon Valley entwickelt. Die sich im Verlauf des fünfeinhalbstündigen Theatermarathons entfaltenden Konflikte unter den Bewohner*innen – Beziehungskrisen und Affären, Wahlkampfintrigen und Machtkämpfe – sind daher stets auch Ausdruck der Abhängigkeit ‚Goodwinds‘ von globalen Wirtschaftsdynamiken. Eine während des Stücks stattfindende Konzernfusion führt zu strukturellen Veränderungen in der Firma und zum Abbau von Arbeitsplätzen. Diese Entwicklung hat auch große Auswirkungen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen: Es kommt zum Kontrollverlust und unmittelbar nach der regionalen Gouverneurswahl entwickeln sich in der Stadt anarchische Zustände. Um das Unternehmen und letztlich auch die Stadt vor der Auflösung zu bewahren, entschließt sich ‚Goodwind‘, Diamante mit Unterstützung von Investoren in einen Themenpark umzuwandeln.

Stadtraum Diamante Durch das Foyer der Duisburger Kraftzentrale wird der Zuschauende mit einem Stadtplan ausgestattet in die Halle des Geschehens geschleust. Die Vorstellung hat bereits begonnen. Die verärgerten Blicke der disziplinierten Publikumskörper, die den Zuspätkommenden üblicherweise strafen, bleiben allerdings aus. Wohl auch deshalb, weil es keine Stuhlreihen gibt, durch die man sich hätte kämpfen müssen. Stattdessen bewegt sich das Publikum frei durch einen Raum, der als künstlicher Stadtraum erkennbar wird: Kunstrasen, Straßenschilder, ein geparktes Auto und mehrere Holzhäuschen – die Filmkulisse einer idyllischen Kleinstadt scheint perfekt. In den Häusern werden einzelne Szenen gespielt: Zu sehen ist zum Beispiel der Dialog eines Anwaltsehepaars, in dessen Wohnung eingebrochen worden war. Nach acht Minuten ertönt ein lautes Signal. Die Szene ist zu Ende, die Schauspieler*innen gehen zurück in Startposition und das Publikum wandert zu einem anderen Spielort. Das Signal ertönt. Es geht weiter. Runde zwei.

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Mattias Engling und Yasemin Peken Abb. 1, Stadtplan Diamante, Skizze: Mariano Pensotti/Grupo Marea, 2018.

Der Stadtraum von Diamante ist ähnlich einer Stationenbühne aufgebaut. In der Halle der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord sind hierfür elf Stationen festgelegt. Diese setzen sich aus zehn ungefähr gleich großen Holzhäusern und einem Auto zusammen, die im Verlauf der Inszenierung jeweils elfmal bespielt werden. Dazu kommt ein zusätzlicher Versammlungsort, eine Art Dorfplatz, auf dem sich eine erhöhte Bühnenfläche, ähnlich einer Festivalbühne, befindet. Der Boden der Halle ist mit Kunstrasen bedeckt, durch den sich ein markierter Weg zieht. Es gibt sieben Privathäuser von ‚Goodwind‘-Angestellten sowie eine Theater- bzw. Musikschule, die Wachzentrale der Security und eine Bar. Die Häuser bestehen jeweils aus einem rechteckigen Raum, in dem eine Seite mit einer durchsichtigen Plexiglasfront ausgestattet ist. Diese gewährt nicht nur einen Blick in den privaten Innenraum der Häuser, sondern erzeugt durch ihre schwarze 16:9-Rahmung auch eine filmische Ästhetik. Während die Häuser mit ihrer Holzbalkenoptik äußerlich kaum zu unterscheiden sind, ist ihre Innenausstattung sehr speziell den jeweiligen Bewohner*innen angepasst. Möbel und Dekoration sind detailliert-naturalistisch bis stereotypisch gestaltet. Über der Glasrahmung befindet sich eine weiße Fläche, auf die im Laufe der Szene verschiedene Übertitel eingeblendet werden: Gedanken, Zitate, Kommentare oder Übersetzungen. Die Übertitel sind die eigentliche handlungstreibende Kraft der Inszenierung. Die Glasfronten der Häuser sind je nach Standort im Raum in eine andere Richtung ausgerichtet. Der Betrachtende muss, um vor der Glasfassade stehend den Raum in seiner kompletten Höhe und Tiefe erblicken zu können, den Weg verlassen und sich auf den Rasen vor dem jeweiligen Haus begeben. 

Wer inszeniert die Freiheit? Abb. 2, Bühnenraum Diamante in der Kraftzentrale am 22.08.2018, Foto: Ursula Kaufmann, 2018.

Diamante als Beispiel gouvernementaler Regierungsführung Der Bühnenraum Diamantes gibt Anlass, über jene Machttechniken nachzudenken, die in der Privatstadt an die Leerstelle einer ausbleibenden Souveränitätsmacht treten und das Subjekt an seiner statt regieren. Diese lassen sich mit Rückgriff auf Michel Foucaults Begriff der ‚Gouvernementalität‘ beschreiben. In seiner historisch-politischen Analyse der Macht wendet Michel Foucault den Blick von den offensichtlichen Herrschaftsstrukturen der staatlichen Institutionen hin zu einer Mikrophysik der Macht. Sie durchdringt all die unscheinbaren und alltäglichen Praktiken, die sich jenseits offener Gewaltanwendung bewegen. An die Stelle des souveränen Machthabers, der anhand von sanktionierendem Befehl über seine Untertanen herrscht, tritt bei Foucault eine Regierungsführung, der es um Produktivität im Sinne einer Vervielfältigung, Steigerung und Ordnung des Lebens geht. Diese Regierungstechnik beschreibt Foucault als ‚gouvernementale Biomacht‘. Im Gegensatz zur Disziplinarmacht, die sich an den Einzelkörper richtet, zielt die Biomacht auf die Strukturierung des menschlichen Gattungskörpers als solchen. Als Verwaltung der Körper und rechnerische Planung des Lebens ist die Verfahrensweise dieser Regierungsform in erster Linie technisch bestimmt. Die Entstehung der Biomacht koppelt Foucault in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität an das Aufkommen der frühen Liberalismen im 18. Jahrhundert. Liberalismus versteht Foucault dabei in erster Linie als eine Praxis, der es um die Rationalisierung der Regierungsausübung geht – genauer:

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eine Rationalisierung, die „der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht.“3 Das liberale Denken gründet demnach auf einem ökonomischen Regierungsverständnis. Das Subjekt der liberalen Gouvernementalität ist folgerichtig der Homo oeconomicus. Ein Mensch, der einzig und allein seinem Interesse gehorcht und den Foucault daher in Anschluss an die englischen Empiristen John Locke und David Hume als Interessensubjekt definiert. Im Gegensatz zum juristisch bestimmten Vertragssubjekt, das seine Naturrechte zugunsten eines allgemeingültigen Gesellschaftsvertrags abtritt, bezieht sich der Homo oeconomicus auf keinerlei übergeordnete Instanz. Er folgt allein der immanenten Logik des eigenen Willens, dem nicht mehr als sein subjektives Interesse zugrunde liegt. Mit diesem Primat des Interesses begründet der Homo oeconomicus eine Logik des Markts, auf dem das Subjekt nicht nur seinen eigenen Vorteil verfolgt, sondern dies auch ausdrücklich tun soll, um die selbstregulatorische Kraft des Markts zu stärken. Diese Logik des Markts ist strukturell jedoch von jener Vertragslogik zu unterscheiden, wie sie beispielsweise bei Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau formuliert wird: „Der Markt und der Vertrag funktionieren auf genau entgegengesetzte Weise, und es handelt sich tatsächlich um zwei heterogene Strukturen.“4 Die Differenz von Vertrags- und Marktlogik ist insofern auch entscheidend für das Regierungsverständnis des Liberalismus. So definiert sich der Liberalismus nicht über die Vorstellung eines starken Staats im Sinne einer vertraglich legitimierten Souveränitätsstruktur. Stattdessen ist der Liberalismus geprägt durch den permanenten Verdacht des ,Zuvielregiertwerdens‘. Der Homo oeconomicus will und darf sich nicht vertraglich einschränken. Im Gegenteil: Er ist derjenige, der handelt – beziehungsweise derjenige, den man handeln lässt. Er ist mit Foucault gesprochen „das Subjekt oder das Objekt des Laissez-faire.“5 An dieser Stelle zeigt sich nun das eigentliche Paradoxon des Homo oeconomicus: Als sich frei im Markt entfaltendes, interessengeleitetes und rational handelndes Subjekt ist er gleichzeitig ideales Objekt biopolitischer Regierungsführung, weil er systematisch auf systematische Veränderungen seiner Umwelt reagiert. Dies nämlich ist der Kern jener biopolitischen Gourvernementalität, die Foucault in Bezug auf das Aufkommen der frühen Liberalismen im 18. Jahrhundert formuliert. Sie zielt, wie Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch zusammenfasst, „darauf ab, nicht so sehr die konturierten Einzelwesen zu disziplinieren, sondern die Umräume, Milieus und Lebensbedingungen zu kontrollieren, die

3 | Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a. M. 2006, S. 436. 4 | Ebd., S. 379. 5 | Ebd., S. 371.

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diesen E ­ inzelnen vorangehen und mit denen sie verflochten sind.“6 Die Logik des Markts, die im Liberalismus an die Stelle einer vertraglich geregelten Souveränität tritt, ist also nicht herrschaftsfrei, sondern begünstigt eine Regierungsform, die durch die Strukturierung von Umweltlichkeiten auf das Subjekt einwirkt und daher in erster Linie technisch bestimmt ist. Im Fall Diamante kann auf zwei Ebenen von künstlich geschaffenen technologischen Umwelten gesprochen werden. Das fiktionale Diamante als Stadtrealisierung eines „Free Private City“-Konzepts erzeugt bereits auf der Ebene der Narration einen durch gouvernementale Machttechniken kontrollierten Raum. Jedoch erschafft vor allem der inszenierte Raum innerhalb der Kraftzentrale eine technologische Umwelt, die auch die Zuschauer*innen durch gouvernementale Machttechniken lenkt. Das Publikum betritt den Raum mit sechs Spielregeln,7 die den Ablauf der Veranstaltung vorgeben. So wird das Publikum beispielsweise gebeten, sich auf alle Spielorte zu verteilen und während der Pausen die Stadt zu verlassen. Diese Spielregeln zielen darauf ab, das Publikum so zu leiten, dass das Wirken diverser Kontroll- und Sicherheitsmechanismen in den Hintergrund tritt. Die Zuschauer*innen können sich scheinbar frei und interessengeleitet im Raum bewegen. Der Theaterabend ist allerdings so vorstrukturiert, dass die Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen des Publikums, deckungsgleich mit den Intentionen der Veranstalter sind. Die Regeln im Programmheft simulieren den idealen Abend und schließen mit der Notiz: Tipp: Der Abend funktioniert am besten, wenn Sie sich auf die einzelnen Geschichten konzentrieren, die jeweils 8 Minuten dauern. Zum Spaziergang in der Stadt besteht ausreichend Gelegenheit.8

Das hier formulierte Versprechen des Flanierens löst sich allerdings nicht ein, denn die Zeit zwischen den sich wiederholenden Szenen reicht gerade für den Gang zum nächsten Spielort. Zwar wäre es möglich, sich nicht nach der vorgegebenen Taktung der Inszenierung zu richten, doch hier greift die durch die Spielregeln vorstrukturierte Erwartungshaltung. Diese regiert die Zuschauer*innen

6 | Sebastian Kirsch, „Ästhetisierung, Gouvernementalisierung, Chor – am Beispiel von Philippe Quesnes La Mélancolie des Dragons“, in: Forum Modernes Theater 28/1, 2013, S. 25–39, hier S. 35. 7 | Der Begriff der Regel greift hier nur bedingt, da es sich weniger um souveränitätsgebundene Bedingungen handelt, als vielmehr um Anreize im Sinne einer liberalen Logik der Regulierung. (Anmerkung der Verfasser*innen) 8 | Mariano Pensotti, Grupo Marea, „Wie das Stück funktioniert“, in: Programmheft ­D iamante. Die Geschichte einer Free Private City, Ruhrtriennale 2018 [UA 24.08.2018, Landschaftspark Duisburg-Nord].

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im Zuge ihrer Selbstführung: Alles soll so funktionieren, um möglichst alles aus diesem Abend mitnehmen zu können. Die Zuschauer*innen gleichen hier dem von Foucault beschriebenen Homo oeconomicus: Sie haben ihre individuellen Bedürfnisse einen idealen Abend zu erleben und keine Szene zu verpassen. Hinter der achtminütigen Taktung der Szenenintervalle verbirgt sich eine Regierungstechnik, welche nicht sanktionierend, sondern produzierend verfährt. Die Erwartungen des Subjekts an diesen Abend verlaufen entlang der Grenzen eines technologischen Raums, dessen Absicht die Regulierung des Gattungskörpers ist. Unterstützt wird diese gouvernementale Regierungsführung durch den Aufbau der Stationenbühne: Jedes Haus ist mit seiner Glasfront in versetztem Abstand in eine andere Richtung ausgerichtet. Dadurch bilden sich kleine Gruppen vor den einzelnen Spielorten, die sich automatisch räumlich voneinander absetzen. Die Anordnung der Guckkästen reguliert als gouvernementale Machttechnik die Subjekte – in diesem Fall die Zuschauer*innen. Auch die Lichttechnik der Inszenierung verfährt gouvernemental und schafft einen klar abgegrenzten Umraum, innerhalb dessen sich die Zuschauer*innen bewegen dürfen. Denn der Außenraum der Halle liegt im Dunkeln und erzeugt kein Bedürfnis diesen zu betreten. Betreten die Zuschauer*innen den verdunkelten Bereich, stehen Mitarbeiter*innen der Ruhrtriennale bereit, die durch ihre Präsenz deutlich machen, dass der Außenraum der Halle nicht zu betreten ist. Bemerkenswert ist, dass die Mitarbeiter*innen ‚Goodwind‘-Uniformen tragen, sodass sich die gouvernementalen Machttechniken des fiktiven Raums mit jenen des inszenierten Raums Diamante mischen.

Fazit Die Verschränkung von Zuschauer*innen- und Darstellerebene wird noch einmal am Schluss der Inszenierung virulent, wenn Diamante sowohl auf narrativer als auch auf inszenatorischer Ebene in einen Themenpark umgewandelt wird. Die Darsteller*innen positionieren Pappaufsteller ihrer Figuren an den Spielorten, die sie daraufhin verlassen, um sich dem Publikum als Zuschauende anzuschließen. Die theatralen Ebenen werden ineinander verschoben. Damit reflektiert Diamante sich selbst als Bühnenraum gouvernementaler Regierungsführung. Denn das Modell des Themenparks ist, wie Sebastian Kirsch schreibt, „nicht selten als Metapher für ,postsouveräne‘ und ,postdisziplinäre‘ Stadträume, wenn nicht Gesellschaften überhaupt herangezogen worden“.9 Mit der Metaphorik des Themenparks

9 | Kirsch, „Ästhetisierung, Gouvernementalisierung, Chor – am Beispiel von Philippe Quesnes La Mélancolie des Dragons“, 2013, S. 36.

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wäre somit ein gelungener Abschluss für die Inszenierung gouvernemental strukturierter Räume gefunden. Jedoch bleiben Versatzstücke souveräner Regierungs- bzw. Inszenierungs­ praxis auch innerhalb des gouvernementalen Bühnenraums Diamantes präsent. Die Sounds am Ende der jeweils achtminütigen Szenen erinnern nicht zufällig an jene Tonsignale aus Fabrik, Kirche oder Theatersaal, die in disziplinarischer Absicht zur Arbeit, zum Gebet oder zum Platznehmen auffordern, sondern sie signalisieren die von der Regie vorgesehene Taktung der Inszenierung. Auch die einzelnen Guckkästen bleiben trotz unterschiedlicher Ausrichtung einer zentralperspektivischen, d.h. souveränen Blickordnung verpflichtet. Schließlich verdeutlicht gerade die scheinbare Auflösung der Darsteller*innen-Ebene am Ende des Stücks das Fortwirken eines Autor- bzw. Regiesubjekts im gouvernementalen Bühnenraum Diamante. Denn auch der Themenpark, dessen Metaphorik auf eine postsouveräne Umweltlichkeit hindeutet, bleibt inszenierter Teil der narrativen Ebene des Stücks. Ein individuelles, interessengeleitetes Flanieren wird nicht ermöglicht, sondern lediglich inszenatorisch angedeutet, um den Themenpark daraufhin schnell wieder in eine Theaterbühne umzuwandeln, auf der die Darstellenden getrennt vom Publikum ihren Applaus entgegennehmen. Gerade dort, wo Regisseur Pensotti also die theatrale Schauanordnung auflöst, schreibt sie sich unmittelbar fort. Denn die Umwandlung Diamantes in einen Themenpark schafft nur einen scheinbar postsouveränen Raum. Die Freiheit des Subjekts ist lediglich inszeniert. Das scheinbare Ende der Narration – markiert durch die Pappaufsteller – setzt sich als Inszenierung eines Themenparks fort, in dem das Publikum nicht nur Zuschauer*in, sondern auch Darsteller*in einer postsouveränen Regierungspraxis geworden ist. Die Verschiebungen innerhalb des Machtbegriffs, die Foucault genealogisch anhand der historischen Übergänge von einer sanktionierenden Souveränitätsmacht über die Disziplinen der Einzelkörper hin zur gouvernementalen Biomacht beschreibt, bleiben also stets ineinander verschränkt. Souveränitäts-, Disziplinarund Biomacht lösen sich nicht historisch ab, sondern durchdringen, überlagern und bedingen sich wechselseitig. Oder anders: Tage reiner Souveränität hat es wohl nie gegeben, genauso wie eine Zeit postsouveräner Gouvernementalität wohl nie kommen wird. Dies gilt sowohl für den fiktiven und inszenatorischen Raum von Diamante, als auch für die technologischen Umwelten unserer Gegenwart.

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Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie Eine Technoökologie der Performance Nadine Civilotti

Mit seiner installativen Raumarbeit After ALife Ahead (AAA) für die Kunstausstellung ,Skulptur Projekte Münster 2017‘ hat der französische Künstler Pierre Huyghe in einer stillgelegten Eislaufhalle eine postapokalyptische Erdhügellandschaft geschaffen, in der sich technische, organische, dingliche, digitale und naturwissenschaftliche Anordnungen auf komplexe Weise überkreuzen. Die doppelt entgrenzende Kunstform der Installation, die unter Betonung der performativen Dimension sowohl die Gattungsgrenzen von Theater und bildender Kunst überschreitet wie auch jene zwischen Kunst und Leben, korrespondiert dabei mit einer Infragestellung der kategorialen Unterscheidungen zwischen Natur, Kultur, Kunst und Technik, wie sie spätestens seit den Nullerjahren in Wechselwirkung mit neuen Theorien zu Materialismus und Realismus vermehrt in künstlerischen Arbeiten zu beobachten sind. Mit einem an der Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour orientierten Zugriff lässt sich dabei auf die spezifischen Relationalitäten scharfstellen, die völlig neue Konstellationen von Subjekt und Objekt sowie Natur, Kunst und Technik erproben. Huyghes Arbeit leistet damit einen physisch-materialen Beitrag zu gesellschaftlich virulenten Debatten rund um den Begriff des Anthropozäns.

Fische, Pfützen, Algorithmen Huyghe hat für seine Arbeit den Betonboden unter der ehemaligen Eislauffläche aufbrechen lassen, um das Erdreich darunter etwa drei Meter und mehrere Schichten tief – von Lehm über Gletschersand bis zum Grundwasser – aufzugraben. Entstanden ist dadurch eine disparate Hügel- und Wasserlachenlandschaft, die in ihrer Anordnung einem verborgenen Prinzip gehorcht: Die Schnitte im Beton richten sich nach einem Muster, das von Archimedes’ mathematischem Logikrätsel Stomachion herrührt und prismatische Betonplatten samt farbigen Linienresten eines Eishockeyspielfeldes auf den stehengebliebenen Erdmassen übrig

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lässt. Als Besucher*in erkundet man das unebene Terrain individuell, es ist kein festgelegter Parcours vorgegeben. Dabei ist man gezwungen, algenbewachsenen Pfützen, Betonplatten und Hügeln auszuweichen und sich so seines (unbeholfenen, angestrengten) Gehens bewusst zu werden. Zunächst gilt es, sich überhaupt einen Überblick über mögliche Wege durch das schlecht überschaubare Hügelfeld zu verschaffen. Rechts von mir befindet sich ein schmaler, mannshoher Lehmkegel in einer Nische. Ein schwarzer Kasten steht unscheinbar am Rand des ehemaligen Eisfeldes. Durch eine große Dachluke mit vier geöffneten schwarzen Klappen regnet es herein. Ich stakse etwa in der Mitte des Erdfeldes an einer Art Podest aus Lehm und einer Betonplatte vorbei, auf dem sich ein großer, schwarzer Glaskubus befindet. Ein technisches Summen lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine Deckenpyramide, deren Klappen sich gerade nach innen hin öffnen. Irgendwo dröhnt etwas. In Richtung der gegenüberliegenden schmutzigen Fensterfront komme ich zu einem stärker bewachsenen Bereich mit einem weiteren Lehmkegel und zwei teichartigen Pfützen. Dann bemerke ich, dass sich einige Besucher*innen um den schwarzen Kubus versammelt haben. Ich gehe zurück und drücke mich mit ihnen zusammen um den Kubus herum. Die Scheiben sind nun überraschenderweise durchsichtig und geben den Blick auf ein Aquarium frei: Zwischen kunstvoll arrangierten Betonscherben schwimmt ein kleiner Fisch, halb gelb, halb pink; und mit Glück kann ich nach einer Weile eine Schnecke mit dreieckig gemustertem Haus entdecken. Die Deckenpyramide schließt sich wieder, eine Biene fliegt herum.1

Die Arbeit von Pierre Huyghe wird durch eine App ergänzt: Wenn man sein Smartphone auf die Hallendecke richtet, erscheinen auf dem Display weitere schwebenden Pyramidenformen, die sich bewegen, vermehren und wieder verschwinden. Wie den Begleittexten zur Installation zu entnehmen ist, stehen die scheinbar unwillkürlich auftretenden Ereignisse in algorithmischer Verschaltung zueinander. So bildet etwa das dreieckige Schalenmuster der Meeresschnecke die ‚Partitur‘ für das wiederkehrende Dröhnen eines Lautsprechers. Auf das Geräusch hin verdunkelt sich das Aquarium, woraufhin sich die Klappen einer der Deckenpyramiden öffnen. Bei den Lehmkegeln handelt es sich um Bienenstöcke, die ebenfalls Daten erzeugen: Darin enthaltene Sensoren erfassen Bewegungen, Temperatur und Luftfeuchtigkeit und schicken diese Informationen an den Kasten am Rand des Erdfeldes. Bei diesem handelt es sich um einen Inkubator, in dem sich menschliche Krebszellen befinden, die auf die Daten mit einer entsprechen-

1 | Um dem individuellen und prozessual-performativen Charakter der Arbeit auch in der Beschreibung gerecht zu werden, erfolgt diese Beschreibung in der subjektiven Perspektive der ersten Person.

Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie

den Teilungsrate reagieren und so ihrerseits neue Daten erzeugen, die wiederum an das Aquarium gesendet werden.2 Die algorithmischen Verschaltungen sind für die Besucher*innen auch bei längerem Aufenthalt weder nachvollzieh- noch verifizierbar. Dennoch gehört das Wissen aus den Begleittexten als diskursiver Bestandteil wesentlich zur Installation und verändert auch im Fall einer bloßen Unterstellung die Wahrnehmung und Erfahrung von AAA maßgeblich. Ausgehend von diesem Paradoxon soll AAA zunächst unter dem Begriff der Ökologie erfasst werden, um anschließen mithilfe einer ökologisch ausgerichteten Akteur-Netzwerk-Theorie das spezifische Verhältnis von Technik, Natur und Mensch in Huyghes Arbeit genauer zu beschreiben.

Environmentale Relationen. Ein technoökologisches Biotop Huyghes künstlerisches Environment weist in drei unterschiedlichen Dimensionen ökologische Prinzipien auf. In formaler Hinsicht lässt sich AAA im Sinne Barbara Gronaus als „aufgeführter Raum“3 fassen, der nicht mehr als Hintergrund einer Handlung fungiert, sondern selbst als Inhalt und Gegenstand zur Aufführung kommt und eine eigene Realität schafft.4 Als solche will der Raum nicht nur betrachtet, sondern muss im explorativen körperlichen Begehen von den Besucher*innen erfahren werden.5 Die Wahrnehmung wird so auf das Performative und Situative der Installation gelenkt – was in AAA durch die Vorgänge der technischen Veränderungen, tierischen Bewegungen, witterungsbedingten Ereignisse und des pflanzlichen Wachstums noch unterstützt wird. Entsprechend Micheal Frieds Minimalismuskritik verbrieft der theatrale Charakter der Installation, in dem Bewusstsein denselben realen Ort zu teilen, die Möglichkeit der Begegnung

2 | Vgl. Kolja Reichert im Interview mit Pierre ­H uyghe, „Statische Dinge sind so vorhersehbar“, in: FAZ, 15.06.2017, unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/ superkunstjahr-2017/interview-mit-pierre-huyghe-bei-skulptur-projekte-15055606. html, [19.09.2017] und Andrew Russeth, „Constant Displacement: Pierre Huyghe and His Work at Skulptur Projekte Münster“, unter: http://www.artnews.com/2017/06/26/ constant-displacement-pierre-huyghe-on- his-work-at-skulptur-projekte-munster-2017 [14.12.2017]. 3 | Barbara Gronau, Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München 2010, S. 178. 4 | Vgl. ebd., S. 17. 5 | Ebd.

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und des In-Kontakt-Tretens zwischen Besucher*innen Vorgängen, Objekten und Materialitäten im Verlauf der Begehung.6 Der Biologe Ernst Haeckel prägte den Begriff ‚Ökologie‘ 1866 als „Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt“7 im Sinne der Wechselwirkungen zwischen eines bestimmten Organismus und seiner unbelebten (Klima, Licht, Wärme, Atmosphäre, Boden usw.) und belebten Umwelt, die dessen individuelle Existenzbedingungen darstellten. Insofern AAA körperlich-räumliche Beziehungen aufführt, die Flora, Fauna, Erde, Regen usw. einbezieht, lässt die Installation sich sowohl im räumlich umschließenden Sinne als auch im Spiel mit natürlichumweltlicher Umgebungshaftigkeit als ökologische Anordnung verstehen. Jedoch entwirft sich das Einbezogensein in AAA weder im Sinne Haeckels noch im Sinne Gronaus oder Frieds hinsichtlich der Betrachterabhängigkeit von Umwelt, Situation oder Bedeutungskonstitution. Die selbstbestimmte physische Partizipation der Besucher*innen wird vielmehr konterkariert durch ihren buchstäblichen Einbezug in das Arrangement. Der entscheidende Clou von Huyghes Arbeit besteht nämlich darin, dass die Besucher*innen selbst durch ihre Anwesenheit und Bewegung durch das Feld unweigerlich, unwissentlich und unbemerkt Daten erzeugen – ihr Eintritt in das Erdfeld genügt: Sensoren in der Installation erfassen Bewegung, Wärme und Schweiß ihrer Körper, die in das algorithmische System eingespeist werden und ihrerseits die Bewegungen der Deckenklappe oder die Opazität des Aquariums beeinflussen und den Ablauf der Ereignisse mitbestimmen. Interaktion bezeichnet im vorliegenden Zusammenhang folglich jedoch nichts, was von den teilnehmenden Menschen intentional bestimmt wird. Sie werden sofort den Regeln des Systems unterworfen und von den nicht-humanen Teilnehmern vereinnahmt, ohne über eine Kontrolle der Modalitäten der Vereinnahmung zu verfügen, da sinnliche Einblicke in die Funktionsmechanismen verwehrt bleiben. Der Einsatz der die Relationalitäten in AAA bedingenden algorithmisch-kybernetischen Technologie ist Dreh- und Angelpunkt von Huyghes Arbeit und entwirft eine eigentümlich andere Ökologie. Der ökologische Charakter der Wechselwirkungen verschiebt sich von der räumlich-körperlichen zur digitalen Dimension. Erdfeld, Klappen und Aquarium stehen weder als Objekte im Raum noch bezüglich ihrer Aktivitäten in einer unmittelbar zugänglichen semantischen oder kausal-logischen Relation, sondern unverbunden im Raum verteilt. Die E ­ lemente

6 | Vgl. Michael Fried, „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive. Dresden/Basel 1995 [1967], S. 334–374. 7 | Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen – Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Descendenz-Theorie, Berlin/New York 1988 [1866], Bd. 2, Fünftes Buch, S. 286.

Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie

AAAs widersetzen sich jeder Synthese zu einem einheitlichen Bild, aus der Perspektive der Betrachter*innen lassen sich keine kohärenten Wahrnehmungen stiften. Es scheinen mithin nicht die Dinge im Raum zu sein, auf welche sich die künstlerische Ausdrucksfunktion primär konzentriert, sondern vielmehr die nicht mehr visuell geregelten Relationen, die sie untereinander unterhalten – zu anderen Objekten im Raum wie zu Vorgängen, Tieren und Besucher*innen, aber auch zu Rahmenbedingungen, wie der ortsspezifischen Architektur und Geschichte.8 Wahrnehmung oder Erfahrung stellen hier grundsätzlich keine Kategorien mehr dar, die die künstlerische Situation wesentlich konstituieren oder vollständig bestimmen. Die Tragweite des Einsatzes der kybernetischen Algorithmen in AAA als alles durchdringende Ordnungsinstanzen, lässt sich mit dem Begriff der Technoökologie erfassen. Dieser vom Medienwissenschaftler Erich Hörl im Rahmen seines Konzeptes einer „General Ecology“9 geprägte Begriff erklärt gerade die Technologie zur Proponentin einer neuen, allgemeinen Ökologie. Damit einher gehe ein Paradigmenwechsel, der durch eine „Evolution der natürlichen Welt als solcher“10 zu einem kommenden kybernetischen Naturzustand11 führe.12 In diesem Sinne bezeichnet die „neue historische Semantik der Ökologie“13 anthropozentrismuskritisch „[…] das Zusammenwirken einer Vielfalt humaner und nicht humaner Akteure und Kräfte“.14 Im neuen technikinduzierten, ökologischen Denken kommt

8 | Vgl. Maximilian Haas, „Versuch einer Kosmologie des Performativen in der Kunst. Über Alfred North Whitehead und Pierre Huyge“, in: Reto Rössler, Tim Sparenberg und Philipp Weber (Hg.), Kosmos & Kontingenz. Eine Gegengeschichte, Paderborn 2016, S. 251–260, hier S. 252. 9 | Erich Hörl und James Burton (Hg.), General Ecology. The New Ecological Paradigm. London/New York 2017. 10 | Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt a. M. 1990 [1968], S. 86 und S. 42. 11 | Auch das ist ein Begriff Moscovicis, vgl. Vergleich über die menschliche Geschichte der Natur, 1990 [1968]). Andersherum beschreibt Gilbert Simondon die Existenzweise technischer Objekte als organische, als Äußerung des Lebens, vgl. Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2012 [1958]. 12 | Hörls Leitfrage danach, wie wir angesichts von ‚ubiquitous computing‘ das kommende technische Leben beschreiben, konvergiert dabei auffällig mit Huyghes Titel, der auf künstliches Leben und zugleich im künstlerischen Sinne künstliche Umwelten verweist. Vgl. Erich Hörl, „,Technisches Leben‘. Simondons Denken des Lebendigen und die allgemeine Ökologie“, in: Maria Muhle und Christiane Voss (Hg.), Black Box Leben. Berlin 2017, S. 239–268, hier S. 266. 13 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens”, 2016, S. 33. 14 | Ebd., S. 35.

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der Relationalität als solcher ein neuer Existenzmodus zu,15 dessen „core term“, in formaler Passung zur vorliegenden Kunstform, ‚Partizipation‘ heißt.16 Unter der technologischen Bedingung, in der die Technik keiner „instrumentellen Logik von Mittel-Zweck-Relationen“17 mehr gehorcht, stellt sich zudem eine grundsätzliche sinnkulturelle Umstellung vom bedeutenden zu einem asignifikativen technoökologischen Sinn ein.18 In diesem Sinne ist es das Verhältnis von Natur, Technik und Mensch an sich, das zum Inhalt und Thema von Huyghes Arbeit gerinnt. Die körperliche Teilnahme ist dabei Voraussetzung für einen environmentalen Entwurf, der weder körperlich noch räumlich verfasst ist, weder visuell dargestellt noch sinnlich erfahrbar. Neben der Reflexion der eigenen Involviertheit in die technologische Entwicklung werden die Besucher*innen durch die Installation mitten in eine theatrale Technoökologie hineinversetzt.

AAA // ANT „Between modernizing and ecologizing one has to choose.“19 – Auch für Bruno Latour stellt eine ökologische Sichtweise die Grundlage seiner Theorie dar, die eine Vervielfältigung von Akteuren proklamiert und zu beschreiben sucht. Die der Technik- und Wissenschaftssoziologie entstammende Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bietet einen theoretischen Ansatz, der mit seiner Orientierung auf das Performative grundsätzlich anschlussfähig an die theaterwissenschaftliche Theoriebildung ist, und kann in Anschlag gebracht werden, um der spezifischen agentiven Rolle von Technik, Dingen und Lebewesen in AAA, ihren Interaktionen und den daraus resultierenden Wirkungsdimensionen gerecht zu werden.

15 | Vgl. Erich Hörl, „Other Beginnings of Participative Sense-Culture. Wild Media, Speculative Ecologies, Transgressions of the Cybernetic Hypothesis“, in: Mathias Denecke, Anne Ganzert, Isabelle Otto und Robert Stock (Hg.), ReClaiming Participation. Technology – Mediation – Collectivity. Bielefeld 2016, S. 93–121, hier S. 104. 16 | Ebd., S. 117. 17 | Hörl, „Die Ökologisierung des Denkens“, 2016, S. 43. 18 | Vgl. ebd., S. 36f. Hörl entwickelt seinen Begriff eines technoökologischen Sinns ausgehend von Félix Guattari und dessen nicht-sprachlichen Semiotik kollektiver Äußerungsgefüge. Siehe dazu ausführlicher Erich Hörl, „Introduction to General Ecology: The Ecologization of Thinking”, in: Ders. (Hg.), On General Ecology: The New Ecological Paradigm in the Neocybernetic Era, London 2017, S. 1–74, insb. S. 13–21. 19 | Bruno Latour, An Inquiry into Modes of Existence: An Anthropology of the Moderns, Cambridge 2012, S. 20.

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Akteur Als soziologische Theorie stellt die ANT auf Versammlungen scharf und bezieht dabei auch nicht-menschliche Teilnehmer ein 20, da sich ein Akteur hier nicht durch wesenhafte Immanenz, Intentionalität, Freiheit und psychische Innerlichkeit, und damit als geschlossene Entität auszeichnet, sondern „Akteur ist, wer von anderen zum Handeln gebracht wird.“21 In derselben Bewegung wird die gängige Dichotomisierung von Subjekt und Objekt aufgehoben, um fortan alle beteiligten Komponenten als gleichwertige und symmetrische Aktanten in einem Netzwerk zu betrachten. ANT ist nicht die Behauptung irgendeiner absurden ,Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen‘. Symmetrisch zu sein bedeutet für uns einfach, nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalem Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen.22

Die Perspektive der Objekte zu berücksichtigen, bedeutet entsprechend, diese und den Raum AAAs nicht als von der Wahrnehmung des Betrachtenden abhängig und in dieser sich konstituierend zu denken, sondern in der Inversion der phänomenologischen Denkfigur die Besucher*innen als von den Objekten abhängige Elemente in beständiger Aushandlung zu verstehen. Den menschlichen Besucher*innen von AAA kommt in ihrer Versammlung mit Klappen, Fischen und Daten nicht von vornherein schon eine herausgehobene Stellung als kunstkonsumierende Subjekte zu, und damit ebenso wenig das Privileg, als Dreh- und Angelpunkte einer in phänomenologischer Erfahrung begründeter Sinnzuschreibung zu fungieren. In diesem Sinne kann die theatrale Situation, anders als von Michael Fried beschrieben, auch nicht als „seine [des Besuchenden, Anm. d. Verf.] Situation“ gedacht werden, sondern erhält eine allgemeinökologische Bedeutungsverschiebung auf den Versammlungscharakter als solchen hin. Technik, Natur und Mensch müssen als miteinander und aneinander im Werden verstanden werden, ohne je schon in einem diskreten ontologischen Status vorzuliegen.23 Demgemäß scheint es in der Situation AAAs jedoch keinen Rezeptionsendpunkt mehr zu geben, sondern ein

20 | Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2017 [2005], S. 24–27. 21 | Ebd., S. 81 (Hervorh. original). 22 | Ebd., S. 131. 23 | Dies ist ein Gedanke, der sich analog auch in der Prozessontologie Alfred North Whiteheads oder dem Tier-Werden Deleuze/Guattaris findet. Vgl. Alfred North Whitehead, Prozess und Realität. Versuch einer Kosmologie. Frankfurt a. M. 1979 (1987), S. 57ff. sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus (1980), Berlin 1992, S. 317–422.

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endloses Zirkulieren und Vermitteln von Praktiken und Erfahrung.24 In diesem Zuge unterliegen auch die Besucher*innen einer Verschiebung und werden „nur Teile der Ökologie“.25

Netzwerk Jede*r Akteur*in ist gemäß der ANT weiterhin Bestandteil eines Netzwerks als einer Punkt-für-Punkt-Verknüpfung aller an der Situation Beteiligten, muss aber zudem seinerseits als Netzwerk, als Knotenpunkt von Beziehungen verstanden werden. Was ein*e Akteur*in ist, wird in einem Netzwerk erst durch die Verknüpfungsarbeit aller versammelten Akteur*innen artikuliert.26 Dies gilt auch für die involvierten Besucher*innen, die erst zu situationsspezifischen Akteuren verknüpft werden müssen. In dieser Optik werden sie zum Verfügungsmaterial der Vorgänge und ihrerseits dem Gefüge der Versammlung ausgestellt.27 Als solche sind sie mit ihren Körpern und Bewegungen in die aleatorischen Datenströme eingespannt, deren unvorhersehbare Äußerungen und deren Steuerungen von Aufmerksamkeitsökonomie und Bewegungsdramaturgie einen optisch, epistemisch und semantisch kohärenten Raumeindruck gerade verhindern. Um eine Verbindung unter den ‚gespaceten‘28 Entitäten herzustellen, sind keine Besucher*innen notwendig, das erledigen die Dinge unter sich. Raum ist nicht mehr nur theoretisch, sondern auch erfahrungswirklich eine Dimension, die sich nicht unter der Regie eines wahrnehmenden Subjekts ereignet. Nicht das Betrachtersubjekt positioniert sich zu den Dingen, sondern die Dinge positionieren zuerst die Betrachter*innen. Was sie werden, ist Sache des Zufalls. Wo kritische Kunst nach reflexiver Entlarvung gesellschaftlicher Mechanismen und verborgener Muster der Verknüpfung strebt, scheint AAA gerade das Verbergen von Funktionsweisen in ‚Black Boxen‘ zu praktizieren. Aber gerade weil die kybernetische Funktionsweise des interobjektiven Werdens in einer

24 | Vgl. Anna Munster und Geert Lovink, „Theses on Distributed Aesthetics. Or, What a Network is Not“, in: Fibreculture, 7, 2005, unter: http://seven.fibreculturejournal.org/ fcj-040-theses-on-distributed-aesthetics-or-what-a-network-is-not/ [20.03.2018]. 25 | Huyghe in Reichert, „Statische Dinge“, 2017, S. 6. 26 | Vgl. Latour, Eine neue Soziologie, S. 228f. (sowie S. 28, 177, 223, 240). 27 | Vgl. Huyghe im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist, 03.10.2018, Serpentine Galleries London. 28 | Dieser Begriff ist der Raumsoziologie Martina Löws entlehnt, in der Räumlichkeit sich über die Verfahren von Spacing und Raumsynthese herstellen. Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001.

Pierre Huyghes After ALife Ahead im Licht der Akteur-Netzwerk-Theorie

Black Box29 verborgen bleibt – sogar ganz konkret im schwarzen Glaskubus und im Inkubator, aber auch in der Halle selbst, die als menschengemachter Container30 die Frage nach der Kulturalisierung und Technizität von Natur stellt – wird das Augenmerk auf Modelle der Erkenntnis- und Bedeutungsstiftung gelenkt und gängige Handlungs- und Denkmodelle Wissenschaft und Natur betreffend werden im Rahmen ihrer künstlerischen Präsentationsformen problematisiert.31 Mit Hörl gesprochen wird hier Sinn in eine ästhetisch selbstreflexive technoökologische Experimentalanordnung verschoben, wo die Hervorbringung von Sinn als solchem und mit ihm das sinngenerierende Subjekt verhandelt werden. Unter der Partizipation, Vereinnahmung und Erfassung der Besucher*in im technoökonomischen Modus wird eine neue Ordnung der Beziehungshaftigkeit nicht nur präsentiert, diskursiv und/oder stellvertretend verhandelt oder als künftige Utopie entworfen, sondern im Beziehungsgeflecht der Installation als Veränderung unserer Vermögen 32 konkret hergestellt. Da diese im diskursiven Rahmen der Kunst auch selbstreflexiv ist, wird sie zugleich aufgeführt. AAA entwirft einen Menschen in radikaler Abhängigkeit, der sich nicht einmal – oder gerade nicht – vor der Kunst behaupten kann, und führt ihm vor, dass er die selbst fabrizierte Umwelt weder durchschaut noch steuern kann. Technik als künstlerisches Mittel verschiebt hier die Rolle der Besucher*in vom Adressaten zum Material der Kunst; AAA erweist sich so als Ort, an dem die politisch-ethische Grenze dessen, was ein Mensch ist,33 nicht nur in Szene gesetzt, sondern an den Besucher*innen exemplarisch verhandelt wird. In diesem Sinne eignet AAA ein politisches, kritisches Moment. Das kritische Vermögen liegt dabei nicht in der Kompetenz des künstlerischen oder rezipierenden Subjekts, sondern vielmehr in den Beziehungen des Gefüges, in welchem die Dinge die Funktion situierter

29 | ‚Black Boxing‘ beschreibt in der ANT das Verbergen der Aktivität, Übersetzungsund Transformationsarbeit sowie Kontroversen der Assoziation von Akteuren in etablierten Versammlungen. Vgl. exemplarisch Latour, Neue Soziologie, S. 348. 30 | Vgl. Marshall McLuhan, „At the Moment of Sputnik the Planet became a Global Theater in which there are no Spectators but only Actors“, in: Journal of Communication, Vol. 24, 1974, S. 49. 31 | Vgl. Ilka Becker, „Dead or Alive? Agency des Lebendigen und ‚kritische Vermögen‘ in Mark Dions Neukom Vivarium“, in: Thomas Hensel und Jens Schröter (Hg.), Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Schwerpunktthema: AkteurNetzwerk-Theorie, Heft 57/1 (2012), S. 103–126. 32 | Vgl. Armen Avanessian, „Das spekulative Ende des ästhetischen Regimes“, unter: https://www.textezurkunst.de/93/das-spekulative-ende-des-asthetischen-regimes/ (03/2014) [29.08.2019], o.S. 33 | Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M. 2003.

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Nadine Civilotti

Kritiker übernehmen.34 Die Black Box der kybernetischen Verbindung könnte sich allerdings zuletzt doch noch als reine Imagination erweisen. Insofern wird auch das Denkmodell der Technosphäre oder allgemeinen Ökologie seinerseits problematisiert.

34 | Vgl. Becker, „Dead or Alive?”, 2012, S. 122–124.

Autor*innen Alliot, Julien, Dr., Dozent für britische Literatur an der Pariser Sorbonne ­Université. Behn, Marcel, Dr. des., promovierte am Institut für Theaterwissenschaft der ­Uni­versität Bern. Bork Petersen, Franziska, Dr., Assistant Professor für Performance Design der Universität Roskilde. Brandstetter, Gabriele, Dr., Professorin für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Büscher, Barbara, Dr., Professorin für Medientheorie und -geschichte/Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Butte, Maren, Dr., Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft und Performance Studies am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Civilotti, Nadine, promoviert am Institut für Film-, Theater-, Medien- und ­ ulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. K Del Favero, Dennis, Dr., Research Artist und Scientia Professor für Digital Innovation am iCinema Research Centre der University of New South Wales in Sydney. Döcker, Georg, promoviert am Department of Drama, Theatre and Performance der University of Roehampton, London. Dolphijn, Rick, Dr., Associate Professor am Department for Media and Cultural Studies der Universität, Utrecht.

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Technologien des Performativen

Dreckmann, Kathrin, Dr., akademische Studienrätin am Institut für Medienund Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dreysse, Miriam, Dr. habil., lehrt u.a. an der Universität der Künste Berlin und der Universität Hildesheim. Eitel, Verena Elisabet, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Engling, Mattias, studiert Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ernst, Wolf-Dieter, Dr., Professor für Theaterwissenschaft an der Universität ­Bayreuth. Frank, Zohar, promoviert am Department of Theater Arts and Performance ­Studies der Brown University, Providence, USA. Füllner, Niklas, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater­ wissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Gabriel, Leon, Dr. des., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Giesler, Birte, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld sowie Lehrbeauftragte an den Universitäten Bielefeld und Braunschweig. Gruber, Klemens, Dr., Professor für Intermedialität am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Gruß, Melanie, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater­ wissenschaft der Universität Leipzig. Hädicke, Robin, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Angewandte Medienwissenschaft Digitale Medien, Coach des Game Innovation Labs der Uni Bayreuth und Mitglied des Theaterkollektivs machina eX. Haitzinger, Nicole, Dr., Professorin in der Abteilung Tanzwissenschaft/Dance Studies des Fachbereichs Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg.

Autor*innen

Hölscher, Stefan, Dr., forscht im Fritz Thyssen-Projekt Kollektive Vergegen­ wärtigung. Der Workshop als künstlerisch-politisches Format an der Ruhr-Universität Bochum. Huschka, Sabine, PD Dr., leitete von 2015 bis Anfang 2020 das DFG-Forschungsprojekt Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT)/UdK Berlin/HfS „Ernst Busch“. Husel, Stefanie, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, ­Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Jobez, Romain, PD Dr., lehrt Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität ­Bochum und der Université de Poitiers. Kleinschmidt, Katarina, Dr., Vertretung der Professur für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung an der Ludwig-Maximilians-Uni­ versität München. Klöck, Anja, Dr., Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und ­Theater in Leipzig. Lazardzig, Jan, Dr., Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität ­Berlin. Maar, Kirsten, Dr., Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft / Bereich Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin. Mølle Lindelof, Anja, Dr., Associate Professor und Head of Studies für ­Performance Design an der Universität Roskilde. Naumann, Matthias, freier Autor und Theatermacher, Theaterwissenschaftler, Übersetzer und Verleger (Neofelis Verlag). Newesely, Bri, Dr., Professorin für Szenografie und Theaterbau an der Beuth Hochschule Berlin. Otto, Ulf, Dr., Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Pachale, Dorothea, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für ­Theaterund Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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Technologien des Performativen

Peken, Yasemin, studiert an der Ruhr-Universität Bochum Germanistik und Theaterwissenschaft. Petry, Clara-Franziska, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Primavesi, Patrick, Dr., Professor für Theaterwissenschaft an der Universität ­Leipzig. Rittershaus, David, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Tanzforschungsprojektes „Motion Bank“ an der Hochschule Mainz. Schade, Julia, Doktorandin der Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schube, Marie-Charlott, studierte Theaterwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Schuh, Anne, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Schulte, Philipp, Dr., arbeitet als Geschäftsführer der Hessischen Theaterakademie und lehrt Theatertheorie an unterschiedlichen Universitäten und Hochschulen in Norwegen und Deutschland. Schürmer, Anna, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienund Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Schütz, Theresa, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ an der Freien Universität Berlin. Siebert, Bernhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen. Thurow, Susanne, Dr., Postdoc am iCinema Research Centre der University of New South Wales in Sydney. Van Treeck, Elisabeth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft in Bochum.

Autor*innen

Vomberg, Elfi, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wake, Caroline, Dr., Senior Lecturer für Theater und Performance an der University of New South Wales in Sydney. Wolfson, Lisa, Dr., Postdoc-Stipendiatin der Fritz-Thyssen-Stiftung am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Wortelkamp, Isa, Dr., Tanz- und Theaterwissenschaftlerin am Institut für ­Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Zorn, Johanna, Dr., Akademische Rätin a. Z. am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München.

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8

Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) 2019, 280 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

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Theater- und Tanzwissenschaft Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)

Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Januar 2020, 402 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4960-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4960-8

Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)

Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6

Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)

Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste 2019, 264 S., kart., 9 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4655-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4655-3

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