Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst [1. ed.] 9783796544422, 9783796544439

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Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst [1. ed.]
 9783796544422, 9783796544439

Table of contents :
Titel
Inhalt
Einleitung und Übersicht
1. Kapitel: Von der Seele zum Selbst
Historischer Umbruch in der Neuzeit
Verbreitung des Selbstbegriffs
Risiken einer Fokussierung auf das «Selbst»
Das Selbst in der Krise
2. Kapitel: Das «Selbst» in Philosophie und Psychologie – eine kurze Übersicht
Das «Selbst» in der Philosophie
Das «Selbst» in der Aufklärung
Existenzphilosophie des «Selbst»
Das «Selbst» in der philosophischen Psychologie des 19. Jahrhunderts
Philosophische Dekonstruktion des «Selbst» in der Spätmoderne
Schlussfolgerungen aus dem philosophischen Rückblick
Das «Selbst» in der Psychologie und Psychotherapie
Selbstkonzepte in der Psychoanalyse
Die Entwicklung des Selbstempfindens gemäß der psychoanalytischen Kleinkindforschung
Das «Selbst» in der analytischen Psychologie
Das «Selbst» in der humanistischen Psychologie
Das «Selbst» in der Kognitionspsychologie
Das «Selbst» in der Sozialpsychologie
Schlussfolgerungen aus der psychologischen Übersicht
3. Kapitel: Probleme des «Selbst» in Psychiatrie und Psychotherapie
Präreflexives und reflexives Selbstbewusstsein
Konzeptionelle Überlegungen aus psychiatrischer Sicht
Zur Bedeutung des präreflexiven Selbstbewusstseins bei schweren Depressionen
Die Entwicklung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein
Konsequenzen für die Behandlung
Die Bedeutung des reflexiven Selbstbewusstseins bei leichteren Störungen
Narzisstische Kränkung – eine präreflexive oder eine reflexive Problematik?
Zunahme der Bedeutung des reflexiven Selbstbewusstseins in der Moderne
4. Kapitel: Scheitern in der Spätmoderne und seine psychotherapeutische Herausforderung
Ursachen und Folgen des Scheiterns
Aus dem Scheitern lernen?
Scheitern als Grenzsituation
Der gesellschaftliche Hintergrund und seine Konsequenzen für das moderne Scheitern
Therapeutische Haltung gegenüber Scheitern als Kränkung
Aktive Resignation
5. Kapitel: Scheitern an sich selbst
Selbstbild und affektive Erkrankungen
Selbstbild und Wahn
Selbstbild und Belastungsreaktionen bzw. Anpassungsstörungen
Moderne Ideale und psychische Erkrankungen
Psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfestellungen
6. Kapitel: Die Suche nach Identität – eine neue Art Heimweh
Vom Selbstbewusstsein zur Ich-Identität
Sehnsucht nach einer inneren Heimat
Versteckte Identitätsprobleme bei psychischen Erkrankungen
Verschämte Heimatsuche in der Psychotherapie
7. Kapitel: Kein Selbstvertrauen ohne zwischenmenschliches Vertrauen
Vertrauen und seine Grundlage
Verschiedene Formen von Vertrauen im heutigen Sprachgebrauch
Definitionsversuche von zwischenmenschlichem Vertrauen
Entwicklung des Vertrauens: präreflexives und reflexives Vertrauen
Selbstvertrauen
8. Kapitel: Scham – Türhüterin des «Selbst»
Wer sich schämt, erkennt sich als anderen
Scham- und Schuldgefühl
Scham ist spezifisch menschlich – und omnipräsent
«Türhüterin des Selbst»
Der sich schämende und der gekränkte Mensch
Abwehr von Scham
Ein Sensor, der Alarm schlägt
Wertvorstellungen und Wertungen
Norm kann jemanden tabuisieren
Gesunde Scham
Schlussbetrachtung
Literatur

Citation preview

Schwabe reflexe

Band 73

Daniel Hell

Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst unter Mitarbeit von François Gysin

Schwabe Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Korrektorat: Schwabe Verlag, Berlin Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Satz: Die Medienmacher AG, Muttenz, Schweiz Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4442-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4443-9 DOI 10.24894/978-3-7965-4443-9 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch

Inhalt

Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel: Von der Seele zum Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Kapitel: Das «Selbst» in Philosophie und Psychologie – eine kurze Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kapitel: Probleme des «Selbst» in Psychiatrie und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Kapitel: Scheitern in der Spätmoderne und seine psychotherapeutische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Kapitel: Scheitern an sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Kapitel: Die Suche nach Identität – eine neue Art Heimweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Kapitel: Kein Selbstvertrauen ohne zwischenmenschliches Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 8. Kapitel: Scham – Türhüterin des «Selbst» . . . . . . . . . . . 155 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5

Einleitung und Übersicht

«Erkenne dich selbst». So war schon im 5. Jahrhundert vor Christus auf einer Säule des Apollotempels in Delphi zu lesen. Der ebenso kurze wie prägnante Satz findet heute ein großes Echo. Er scheint dem modernen Selbstverständnis zu entsprechen, sich als autonomes Individuum zu verstehen und von sich auszugehen. Die antike Lesart war aber eine andere: Der Spruch wurde als Aufforderung verstanden, sich nicht zu überheben, sondern sich zu bescheiden und seine Begrenztheit und Hinfälligkeit zu erkennen. Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis in Delphi wurde zunächst als göttliches Gebot von Apollo wahrgenommen. In der philosophischen Tradition der griechischen Antike wurde der Satz dann als Hinweis auf die Verletzlichkeit des Menschen verstanden. Der Mensch solle um seine Abhängigkeiten wissen und das richtige Maß im Leben finden. Die Stoiker sahen darin zudem die Aufforderung, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Später wurde der Satz unter dem Einfluss Platons auch so interpretiert, dass es gelte, das ethisch Gute zu verwirklichen. Das moderne Selbstverständnis ist anders. Zwar sind die antiken Auffassungen nicht einfach verschwunden. Aber die Soziokultur und die Lebensverhältnisse haben sich so stark verändert, dass aus dem «Erkenne dich selbst» bzw. «Erkenne deine Grenzen» tendenziell eine Betonung und Inszenierung des «Selbst» geworden ist. Dafür stehen aktuelle Schlagworte wie Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung oder Selbstoptimie7

rung. Aber auch in der Philosophie, Psychologie und anderen Wissenschaften ist das Selbstbewusstsein zu einem Schlüsselbegriff geworden. Angesichts dieses tiefgehenden Wandels stellt sich die Frage, wie es zu dieser Entwicklung kam. Welche soziokulturellen Umstände haben dazu beigetragen? Zu welchen psychologischen Konsequenzen hat dieser Umbruch geführt? Dabei steht für mich als Psychiater und Psychotherapeut die letzte Frage im Vordergrund. Doch wäre es vermessen, Veränderungen der Psyche und der psychischen Problematik ohne Berücksichtigung des historischen und soziokulturellen Hintergrunds zu behandeln. Deshalb setze ich mich im ersten Kapitel mit der geschichtlichen Entwicklung auseinander, die zur Ablösung des Seelenbegriffs und zum neuen Begriff des «Selbst» geführt hat. Dabei handelt es sich eben nicht nur um eine begriffliche Ablösung, sondern um eine grundlegende Veränderung des Menschenbildes. Mit dem veränderten Selbstverständnis verändern sich auch die psychischen Probleme, die den Menschen heute im Vergleich zu früher zu schaffen machen. Das zweite Kapitel gibt einen Überblick über philosophische und psychologische Konzeptionen des «Selbst» in der Neuzeit. Es zeigt Unterschiede, aber auch Entwicklungen auf. Im dritten Kapitel stelle ich ein Konzept des Selbstbewusstseins vor, das mir für Psychiatrie und Psychotherapie hilfreich erscheint. Es geht davon aus, dass das Selbstbewusstsein nicht bloß reflexiver Art ist, sondern auch präreflexive Anteile hat. Unter präreflexivem Selbstbewusstsein verstehe ich ein leibliches und affektives Selbstgefühl. Manche schweren psychiatrischen Erkrankungen gehen mit einer Beeinträchtigung dieses präreflexiven Selbstbewusstseins einher. Anhand verschiedener Beispiele und empirischer Befunde zeige ich auf, was diese Konzeption für das Verständnis und die Behandlung solcher Patienten bedeuten kann. Dabei diskutiere ich mithilfe 8

entwicklungspsychologischer Befunde auch die Entstehung solcher Störungen. Das vierte Kapitel bringt das Scheitern in der Spätmoderne mit anspruchsvollen Selbstidealen in Zusammenhang, beleuchtet aber auch den soziokulturellen Hintergrund heutigen Scheiterns. Dabei findet die beschriebene Konzeption des Selbstbewusstseins praktische Anwendung. Im fünften Kapitel gehe ich detaillierter auf biologische, soziale, biografische und persönlichkeitsbedingte Zusammenhänge von persönlichen Krisen und psychischen Erkrankungen ein. Daraus werden psychotherapeutische Schlussfolgerungen gezogen, die weniger eine spezifische Behandlungsmethodik als eine bestimmte therapeutische Haltung nahelegen. Im sechsten Kapitel beschäftige ich mich mit der Ich-Identität, die heute besonders kontrovers diskutiert wird. Dabei gehe ich – auch aus der psychiatrischen Erfahrung mit dissoziativen Persönlichkeitsstörungen – davon aus, dass zwischen wechselnden reflexiven Inhalten der Selbstvorstellung und einer präreflexiven Konstanz der Ich-Perspektive zu unterscheiden ist. Es gibt bei versteckten Identitätsproblemen auch eine Art Heimweh nach dieser inneren Ungebrochenheit. Das siebte Kapitel macht darauf aufmerksam, dass Selbstvertrauen nicht künstlich herstellbar ist. Im Gegensatz zum Selbstwert, der auf einer Selbsteinschätzung beruht und durch Erfolge gefördert werden kann, ist Selbstvertrauen weitgehend vom Vertrauen abhängig, das andere Menschen einem entgegenbringen. Selbstvertrauen wird aber gerade in der spätmodernen Soziokultur besonders wichtig, betont doch der Individualismus die Selbstverantwortung auch bei unvermeidlichen Rückschlägen oder Niederlagen. Im achten Kapitel kommt nochmals in anderer Weise zum Ausdruck, was das ganze Buch durchzieht: wie wichtig die Verbindung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein für 9

die Lebensgestaltung ist. Dabei spielt die Scham eine vielfach unterschätzte Rolle. Denn Scham ist das Selbstgefühl par excellence. Dieses schwierige, aber sehr wichtige Gefühl schreckt mich nicht nur auf, wenn die Selbstachtung in Gefahr ist, sondern trägt auch dazu bei, dass ich über mich nachdenke. Scham nimmt eine Schnittstelle zwischen präreflexivem und reflexivem Bewusstsein ein. Sie führt dazu, dass ich mich als erlebendes Subjekt und gleichzeitig als beobachtetes Objekt wahrnehme. Das Buch ist so gestaltet, dass es auch kapitelweise gelesen werden kann. Deshalb kommen zur besseren Lesbarkeit auch einzelne inhaltliche Wiederholungen vor. Aus dem gleichen Grund habe ich politisch unkorrekt darauf verzichtet, konsequent mehrere Geschlechtsformen zu verwenden. Mit Patienten und Ärzten sind in der Regel auch Patientinnen und Ärztinnen gemeint. Ich bin mir dieser Schwäche des Buches bewusst. Dieses Buch wäre ohne die Hilfe meiner Frau, mancher Freunde, Kolleginnen und Kollegen und ohne Zusammenarbeit mit vielen Patientinnen und Patienten nicht möglich gewesen. In besonderer Weise hat François Gysin, Psychiater und Psychotherapeut in Lissabon, zu diesem Buch beigetragen. Er hat mich nicht nur zur Titelgebung dieses Werkes angeregt, sondern sich während meines Schreibens über Google Drive auch intensiv mit mir ausgetauscht. Dabei hat er neben Verbesserungsvorschlägen viele Ideen zur inhaltlichen Erweiterung des Buches eingebracht. Ich verdanke seiner Originalität und seiner immensen Kenntnis der psychotherapeutischen Literatur so manche Vertiefung des Inhalts. Besonders dankbar bin ich auch Frau Ruth Vachek vom Schwabe Verlag. Sie hat meinen Text sprachlich verbessert und manches zur Klärung beigetragen.

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1. Kapitel: Von der Seele zum Selbst

Historischer Umbruch in der Neuzeit Kaum ein Begriff hat das abendländische Menschenbild so geprägt wie die Seele. Die Gedanken und Überlegungen, die sich philosophische Denker und religiöse Sucher zu verschiedenen Zeiten über die Seele gemacht haben, sind äußerst vielschichtig. Sie sind auch so vielseitig, dass sie nicht knapp zusammengefasst werden können. Doch werde ich versuchen, einige wenige zentrale Entwicklungslinien des Seelenbegriffs aufzuzeigen und darauf einzugehen, was zur Vermeidung des Seelenbegriffs in den modernen Wissenschaften geführt hat. Dabei geht es mir auch darum aufzuzeigen, dass die Seele nicht einfach durch andere Begriffe wie «Gehirn» und «Selbst» ersetzbar ist. «Seele» hat ein eigenes Sprachspiel, von dem sich moderne Ersatzbegriffe unterscheiden (Hell 2012). Die ältesten Seelenvorstellungen, von denen wir Kenntnis haben, bringen die Vitalität des Menschen in kraftvollen Bildern zum Ausdruck. Besonders häufig konkretisieren geflügelte Lebewesen, etwa Vögel, die sich in die Lüfte erheben, die seelische Lebendigkeit. Auch Körperorgane, insbesondere das Herz, und Blut symbolisieren die Seele als Trägerin des Lebens. In vielen Sprachen (griechisch, lateinisch, Sanskrit u. a.) leitet sich der Begriff der Seele von «Hauch» oder «Atem» ab. «Psyche», der in Psychologie und Psychiatrie immer noch, wenn auch in anderer Weise verwendete griechische Begriff für Seele, gehört 11

etymologisch zu «psychein», was hauchen oder blasen bedeutet. «Psyche» bezeichnet in der griechischen Vorantike die Lebenskraft. «Im Augenblick des Todes – so heißt es in der Ilias – verlässt diese als Hauchseele den Menschen durch den Mund oder als Blutseele wohl aus einer Wunde und begibt sich alsdann in die Unterwelt, wo sie eine nichtige Schattenexistenz führt. Zurück bleibt soma, der Leichnam. […] Weder als Lebenskraft noch als Totenseele hatte psyche indes in der vorklassischen Zeit etwas mit den emotional-kognitiven Funktionen des Menschen zu tun. Diese wurden durch eine Vielzahl anderer Begriffe umschrieben, […] (z. B. nous, Verstand).» (Lansel 2020, 41/ 42)

Erst in der griechischen Antike wurde die Seele nach und nach von solchen Konkretisierungen gelöst und abstrakt beschrieben. Aber noch Platon brauchte Mythen und Bilder (wie dasjenige vom Wagengespann), um zu illustrieren, was er mit «Seele» in abstrahierender Theorie meint. Platons Seelenlehre wird meist auf den von ihm gelehrten Dualismus von Körper und Seele reduziert, wobei die Seele im Gegensatz zum Körper immateriell und unsterblich sei. Er entwarf aber in erkenntnistheoretischer und psychologischer Hinsicht eine sehr komplexe Vorstellung der Seele. So beschreibt Platon im Buch «Der Staat» drei Anteile der Seele: Erstens ein begehrender Anteil, epithymos genannt, der auch körperlichtriebhafte Aspekte hat, zweitens ein muthafter oder gemüthafter Anteil, thymos genannt, und drittens ein geistiger Anteil, nous genannt. Diese Seelenanteile findet man unschwer unter anderen Begrifflichkeiten und mit abgewandelten Inhalten in modernen Theorien wieder, zum Beispiel in Freuds dreiteiliger Strukturlehre der Psyche (Es, Ich und Über-Ich) oder noch besser übereinstimmend in der Gehirnlehre von Hirnstamm (triebhafter Anteil), limbischem System (affektiver Anteil) und Neocortex (kognitiver Anteil). 12

Auch Aristoteles beschreibt analog zu Platon drei verschiedene Seelenvermögen, die er gemäß seiner stärker organisch ausgerichteten Philosophie vegetativ, animalisch und rational nennt. Im Gegensatz zu Platon ist die Seele aber für Aristoteles kein eigenständiges Wesen, das unabhängig vom Körper existiert. Sie ist vielmehr dessen «Form». Unter «Form» versteht Aristoteles (im Buch «de anima») eine Art Organisationsprinzip oder gestaltendes Prinzip, mithin das, was dem Körperlichen Gestalt und Leben gibt. Die Seele ist für ihn Teil der Natur, wahrscheinlich mit Ausnahme der aktiven Vernunft. Im frühen Christentum wurde insbesondere die platonische Lehre teilweise ins kirchliche Lehrgebäude übernommen. Sie trat neben das ganz andersartige Seelenverständnis sowohl des alten hebräischen wie auch des neuen Testaments. Dieses ist ganzheitlich bzw. synthetisch. Es kennt keine Absonderung des Seelischen vom Körperlichen. Das hebräische Wort «Näfäsch» wird zwar im Deutschen mit Seele übersetzt. Aber Näfäsch hat in der Bibel ganz verschiedene Bedeutungen. Es bezeichnet die Kehle oder den Rachen, mithin auch die Verbindung von Luft- und Speiseröhre. Es ist der Ort, wo sich lebenswichtige Nahrungsaufnahme und Atmung verbinden. Näfäsch ist aber nicht nur ein archaischer anatomischer Begriff, sondern bezeichnet auch die Bedürftigkeit des Lebens. Ohne Näfäsch, ohne Atmen, ist Leben unmöglich. Zudem steht Näfäsch für das gesamte Spektrum des Erlebens und Fühlens, also für das, was wir bis heute als das Seelische bezeichnen (Lansel 2020).

Durch diese Synthese verschiedener Aspekte versinnbildlicht Näfäsch eine Leibseele, die nicht in Körper und Seele aufgespalten werden kann. Das kann man als psychosomatisches Verständnis bezeichnen, geht aber darüber hinaus, weil Psyche und Soma besonders in der hebräischen Bibel nicht als trennbare Besonderheiten des Menschen unterschieden werden. 13

Es ist naheliegend, dass die Verbindung von jüdischchristlichem und platonischen Seelenverständnis im Mittelalter religionsphilosophische Konflikte auslöste. Deshalb wurde auch besonders wichtig, was beide miteinander verband. In der platonischen Philosophie hatte die Seele (insbesondere ihr höchster Teil: der Geist) Bezug zu den göttlichen Ideen. Sie war auf das Gute und Schöne gerichtet. Es galt, ihr Sorge zu tragen. Dieser Beziehungsaspekt konnte auch im christlichen Glauben als Liebe zu Gott verstanden werden. Besonders von Plotin wurde der Beziehungsaspekt der Seele betont. Die Seele wurde nicht nur als zwischenmenschliches Bindeglied verstanden, sondern auch als Bindeglied zwischen dem transzendenten Gott und dem Menschen. Noch ganz anders wurde die christliche Lehre im 12. Jahrhundert von der Wiederentdeckung der Schriften von Aristoteles herausgefordert. Allerdings hatte sich die christliche Lehre bereits dem griechischen Denken so weit angepasst, dass zum Beispiel der platonische Dualismus von Körper und Seele im christlichen Denken vielfach Aufnahme gefunden hatte. Auch die weitergehende Abgrenzung von Seele und Geist war schon so weit akzeptiert, dass im Mittelalter die dreiteilige Vorstellung von Leib, Seele und Geist weit verbreitet war. Diese Konzeption wurde auch durch die Rezeption von Aristoteles nicht infrage gestellt. Dennoch erwies sich gerade die Aufspaltung von Seele und Geist, die antike Wurzeln hat, für das Seelenverständnis als zunehmend problematisch. Denn der verselbständigte Seelenteil des Geistes (nous) bekam immer größeres Gewicht und schwächte zunehmend die Bedeutung der Seele. Schließlich hielt Descartes im 17. Jahrhundert die Seele als Mittelglied zwischen Körper und Geist nicht mehr für nötig. Er hielt zwar am Dualismus fest, aber nicht mehr an einem platonischen Dualismus von Körper und Seele, sondern an einem von Körper und 14

Geist. Indem er dem Geist als «res cogitans» die räumlich ausgedehnte Materie als «res extensa» entgegenstellte, hob er die Eigenständigkeit der Seele auf und ordnete sie den verbleibenden Substanzen von Körper und Geist unter. Eine ausführlichere Darstellung der historischen Entwicklung des Seelenbegriffs findet sich in meinem Buch «Seelenhunger – Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben», 2012. Als Standardwerk gilt «Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität» von Charles Taylor, 1996 [1989].

Helmut Holzhey, emeritierte Hochschullehrer für Philosophie in Zürich, führt den Seelenverlust in der Neuzeit auf vier geschichtliche Prozesse zurück, nämlich auf die Vergeistigung der Seele durch Descartes, auf die Entsubstanzialisierung im englischen Empirismus, auf die materialistische Interpretation in der französischen Aufklärung und auf die Dekonstruktion des Seelenbegriffs durch Kant (Holzhey 2001). Im Folgenden möchte ich zwei geschichtliche Entwicklungen hervorheben, die auch in meinem Fachgebiet der Psychiatrie zu einem Verlust der Seele beitrugen, nämlich zum einen die Objektivierungstendenz, welche die Perspektive der dritten Person («die beobachtende Außensicht») ins Zentrum stellt und zum anderen die Rationalisierungstendenz, die das Seelische versachlicht und funktionalisiert. Zur Objektivierungstendenz: Die immer stärkere Fokussierung auf den Körper führte in der Medizin zur Schwächung des Seelischen. So wurde ab dem 16. Jahrhundert durch anatomische Untersuchungen der Mensch zunächst als «Körpermensch» objektiviert. Im 19. Jahrhundert wurde zunehmend die Funktion der Organe erkannt und der Mensch mit seinen physiologischen Mechanismen als «Maschinenmensch» studiert. Im 20. Jahrhundert kam das Studium der Steuerung funk-

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tioneller Vorgänge durch Gene in der Molekularbiologie hinzu, wobei der Mensch ansatzweise zum «Computermensch» gemacht wurde. Als Konsequenz dieser eindrücklichen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung fand das Gehirn auch in der Psychiatrie immer größeres Interesse. In den letzten Jahrzehnten wurde die Psychiatrie zunehmend als angewandte Neurowissenschaft verstanden. Aus der ursprünglichen Seelenheilkunde, was Psychiatrie ursprünglich meint, wurde teilweise (nach einer eigenen Wortschöpfung) eine Encephaliatrie, also eine Gehirnheilkunde. Zur Rationalisierungstendenz: Neben der Fokussierung auf das Körperliche kam in der Moderne auch eine verstärkte Fokussierung auf Rationales, eine Rationalisierungstendenz, auf. Sie trug ebenfalls wesentlich zur Relativierung des seelischen Erlebens bei. So beantwortet Immanuel Kant die Frage «Was ist Aufklärung?» im gleichnamigen Buch (1784) in den ersten zwei Sätzen mit den berühmten Worten: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»

In der Aufklärung wurde das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst betont, während früher die Beziehung eines Menschen zum Kosmos oder zu Gott im Vordergrund stand. Verstand und Selbstbewusstsein wurden in der aufklärerischen Philosophie auch deshalb sehr wichtig, weil das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst als Voraussetzung für Autonomie gesehen wurde. Nur wer Selbstbewusstheit hat, kann sich auch selber bestimmen. Insbesondere die damaligen idealistischen Philosophen Deutschlands haben das «Selbst» als ein Bewusstsein verstan-

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den, das sich selber reflektiert (Hegel 1970 [1807]). Dieses Selbstkonzept verbreitete sich v. a. im 20. Jahrhundert auch in der psychologischen und psychotherapeutischen Literatur. Der Begriff des «Selbst» löste die Seele immer mehr ab. Wenn wir auf das Sprachspiel von Seele und «Selbst» achten, wird darüber hinaus deutlich, dass das «Selbst» tendenziell kognitive und geistige Wortassoziationen weckt (denkbar, kühl, mental, bewusst, reflektiert), während Seele tendenziell emotionale und leibliche Wortassoziationen hervorruft (lebendig, warm, herzlich, resonant, innig). Auch die assoziierten Bilder zum «Selbst» (Kopf, Hirn, auch Cortex) und zur Seele (Atem, Herz, Blut, auch Musik etc.) sind unterschiedlich. Während also die Seele eher ein Symbol für das (Er‐)Leben ist, stellt das «Selbst» eher ein Konstrukt oder funktionelles Modell dar. Auch darüber, wie das «Selbst» und die Seele entstehen und wie über sie im Leben verfügt werden kann, bestehen ganz unterschiedliche Annahmen. So wird das «Selbst» gemeinhin als ein Selbstverhältnis verstanden, das sich im Leben in Abhängigkeit von Erfahrungen und eigenen Entscheidungen entwickelt. Der Mensch ist dafür mitverantwortlich. Er kann auch dazu beitragen, dass sich sein «Selbst» verändert. Im Gegensatz dazu ist die Seele im Menschen angelegt. Sie ist nicht seine Schöpfung. Der Mensch kann über sie auch nicht verfügen. Wer von seiner Seele spricht, geht in der Regel davon aus, dass sie unveränderlich ist. Zwar wird der Fachbegriff Psyche – mithin das griechische Wort für Seele – weiterverwendet, doch als Terminus technicus, der z. B. in Psychiatrie und Psychologie etwas anderes als der traditionelle Seelenbegriff bedeutet. «Psyche» verweist nicht mehr auf das einem Menschen Gegebene, sondern auf Seelisches, mithin auf psychische Eigenschaften. Sinngemäß wird damit «Seele» zu einem Fremdwort, das nur mehr den Charakter eines Eigenschaftswortes hat. Demgegenüber wird 17

das Pronomen «selbst» in der Neuzeit zum «Selbst» substantiviert, mithin zu einem groß geschriebenen Hauptwort gemacht. Damit zeigt sich schon sprachlich der Abstieg der Seele und der Aufstieg des «Selbst». Die Übernahme des Selbstbegriffs ging in Psychologie und Psychiatrie noch mit einer inhaltlichen Veränderung der Fachgebiete einher. So konnte beispielsweise die klassische Verhaltenstherapie die Seele als Begriff nicht akzeptieren. Im Gegensatz dazu kann die neuere kognitive Verhaltenstherapie mit dem Begriff des «Selbst» (als Konstrukt persönlicher Einstellungen) gut arbeiten. In analoger Weise erleichterte der Selbstbegriff der Psychoanalyse, die Trieborientierung durch Ausrichtung auf Objekt- und Selbstrepräsentationen zu ergänzen und neue Konzepte zu entwickeln.

Verbreitung des Selbstbegriffs Dem Begriff des «Selbst» haftet etwas Künstliches an. Er wird denn auch in den Umgangssprachen nur wenig verwendet. In manchen Sprachen wie zum Beispiel im Portugiesischen steht dieser Begriff gar nicht zur Verfügung. So wird in Portugal von Psychotherapeuten mangels eines Begriffs in der Muttersprache meist das englische Wort «self» verwendet.

Hingegen hat sich der Selbstbegriff in Zusammensetzungen mit anderen Worten – als sogenannte Komposita wie Selbstverantwortung – durchgesetzt. Schlagwortartig lässt sich eine Entwicklung von der Selbstbehauptung (im 18. und 19. Jahrhundert) über die Selbstverwirklichung (im 20. Jahrhundert) zur Selbstoptimierung (heute) feststellen. Darin spiegelt sich ein Wandel wider, der dem Selbstbezug des Menschen wachsende Bedeutung gibt. Je mehr sich die Gesellschaft individualisierte, umso wichtiger wurde für den mo18

dernen Menschen, wie er mit sich selbst zurechtkommt. Dabei ist der moderne Mensch herausgefordert, sich nicht nur in sozialer und technischer Hinsicht, sondern auch in psychischer Hinsicht stetig anzupassen. Gleichzeitig fühlt er sich für diese Bewältigung selber verantwortlich. Diese Entwicklung macht ihn in anderer Weise als früher psychisch verletzlich. So wurde vom Menschen in der alten patriarchalisch geprägten Kultur vor allem erwartet, dass er Gebote («Du sollst») einhält und auch selbst über eine verinnerlichte Autoritätsinstanz (ein Über-Ich) verfügt. Heute wird vermehrt erwartet, dass er erfolgreich seinen eigenen Weg geht. Die heutige Norm ist das «Du kannst» («Yes, we can»), mithin die Erwartung, ein hohes Selbstideal zu erfüllen. Dabei kann dieser Anspruch an sich selbst («Du kannst») noch als stärkerer Antreiber wirken als der äußere Druck, gehorsam zu sein («Du sollst»). Tatsächlich findet sich in der Psychodynamik moderner Menschen eine tendenzielle Verschiebung von Schuld- zu Schamgefühlen und besonders häufig zu Kränkungen (Hell 2012, 2021). Viele moderne Menschen scheinen besonders oft mit Selbstwertproblemen und narzisstischen Kränkungen zu ringen und sich schwer damit zu tun, eigene Ansprüche zurückzustellen. Es ist dementsprechend sogar schlagwortartig von einer «narzisstischen Gesellschaft» (Maas 2012) und von einer «Ich-Jagd im Unabhängigkeitsjahrhundert» (Gross 1999) die Rede.

Risiken einer Fokussierung auf das «Selbst» Die beschriebene Fokussierung auf das «Selbst» kann auch zu einer Schwächung des affektiven und leiblichen Erlebens beitragen. Damit wird aber auch die Grundlage des mentalen «Selbst» gefährdet.

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Denn das mentale, sogenannte reflexive Selbstbewusstsein setzt nach den Befunden der Entwicklungsforschung ein leib-seelisches, sogenanntes präreflexives Selbstbewusstsein voraus (vgl. Kapitel 3). Eine Beeinträchtigung dieser Grundlage kann deshalb mit Selbstkrisen einhergehen oder die Selbstentwicklung generell behindern (vgl. Kapitel 3 und 5). Diese Erkenntnis hat dazu beigetragen, dass in der psychologischen Fachliteratur der Begriff des «Selbst» um seelische Komponenten erweitert wurde. Was mitunter als Basis oder Kern des «Selbst» bezeichnet wird – Ur-Selbst (Spitz 1957), existenzielles Selbst (Lewis und Brooks, 1979), prä-repräsentationales Selbst (Emde 1983), KernSelbst (Stern 1985) –, ist zwar mit dem Seelenbegriff nicht identisch, kommt ihm aber näher als der Selbstbegriff, wie er üblicherweise verwendet wird.

Gemeinhin wird in der Psychologie unter dem «Selbst» nur die mentale Repräsentation der eigenen Person verstanden, mithin die gesamten Vorstellungen von sich selbst (Mummendey 2006). Dabei wird weitgehend von leib-seelischen Aspekten abstrahiert. So ist im psychologischen Mainstream von kognitiven Schemata oder Konstrukten die Rede, die die Grundlage für Denken und Handeln bilden. Der alte Begriff vom Selbstgefühl (als ein sich selber Fühlen), der bereits bei Novalis vorkommt, ist weitgehend durch den ganz anderen des Selbstwertgefühls (als ein sich selber Bewerten) ersetzt worden. Damit hat sich das Selbstverständnis immer stärker auf kognitive bzw. mentalistische Aspekte eines Individuums fokussiert. Das «Selbst» gibt wieder, wie sich jemand beurteilt, aber kaum, wie jemand körperlich empfindet oder seelisch fühlt. Dieses moderne «Selbst» hat zwar individualistische Züge einer Selbstbestimmung und Selbstermächtigung, ist aber infolge der damit einhergehenden Selbstbeurteilung sehr fragil. Ein ganz anderes Verständnis des «Selbst» findet sich in der Mystik und in spirituellen Bewegungen von Ost und West. 20

Es darf mit dem modernen individualistischen Selbstverständnis nicht verwechselt werden. Das spirituelle Selbstverständnis ist nicht ich-bezogen, sondern das Ego wird transzendiert oder auf die Mitwelt ausgerichtet. Es steht dem alten Seelenbegriff näher. So benutzt der bekannte japanische Autor und ZenMönch Taitaro Suzuki (1870–1966) das Wort «Fühlen» für die Tätigkeit des Selbst (Suzuki 1948). Es geht nicht um gedankliche Selbstzentrierung, sondern eher um ein Loslassen des reflexiven Selbst, um Selbstvergessen. «To learn the Buddha Way is to learn the self. To learn the self is to forget the self. To forget the self is to be enlighted by all things of the universe», lautet ein bekannter, auch in Wikipedia zitierter Zen-Spruch von Dōgen (1200–1253).

Das Selbst in der Krise Das individualistische Selbst hat in der Moderne eine besondere Aufgabe. Je weniger traditionelle Leitbilder und Tugenden einen Menschen bestimmen, je offener die Gesellschaft strukturiert ist und je mehr jemand seinen eigenen Weg finden muss, desto wichtiger wird die Selbstregulation. Das Selbst wird denn auch oft mit Identität in Zusammenhang gebracht (vgl. Kapitel 6) und als Hilfe bei anstehenden Entscheidungen oder überhaupt als Instrument zur Informationsverarbeitung verstanden (Mummendey 2006). Das Bild, das wir von uns haben, richtet uns aus. Es gibt uns Sicherheit und macht uns ausgeglichen, solange es relativ stabil ist. Selbst ein negatives Selbstbild schafft eine gewisse Sicherheit, weshalb zum Beispiel sogenannte dysthyme Patienten nur schwer davon lassen können. (Menschen mit Dysthymie wurden früher neurotisch depressiv genannt, weil sie sich selbst abwerten und anhaltend leicht depressiv sind.)

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Das Selbst des Menschen ist aber nicht in Stein gemeißelt. Es hängt auch davon ab, wie andere uns sehen. Es kann sich verändern oder in eine Krise geraten. Zwingen uns neue Eindrücke und Umstände, unser Selbstbild zu korrigieren, oder geht es in Brüche, sind wir meist unruhig, bedrückt oder dissoziieren. Es ist zwar zu Recht eingewendet worden, das Selbst sei kein reales Abbild, sondern nur ein Konstrukt, das wir selbst – oder unser Gehirn – bilden (Metzinger 2010). Aber dieses sogenannte Konstrukt hat weitreichende Konsequenzen. Wir sind nun einmal besondere Lebewesen, die nicht nur durch Triebe und Instinkte geleitet werden, sondern sich auch selbst reflektieren können. Das charakterisiert die menschliche Situation, macht uns schöpferisch, aber auch verletzlich und problematisch. Wenn wir vom Selbst reden, oder auch von Selbstverwirklichung, Selbstverantwortung, Selbstermächtigung und Selbstoptimierung, dann schwingt dieses Selbstverhältnis mit, das unsere Begabung und unser selbstgemachtes Schicksal ist. Wir vertragen sehr schlecht, wenn unser Selbstverständnis in eine Krise gerät. Insbesondere wenn wir anerkennen müssen, dass wir nicht so sind, wie wir uns wie selbstverständlich eingeschätzt haben. Das Missverhältnis zwischen vorbestehendem Selbstverständnis und neuen Selbstwahrnehmungen lässt je nach individuellen und situativen Bedingungen eine Missstimmung aus Enttäuschung, Trauer oder Wut entstehen, die nur den Menschen eigen ist. Wir können uns schämen, wenn wir dem (idealen) Bild, das wir von uns haben, nicht entsprechen. Wir können uns aber auch selbst zu korrigieren versuchen und zum Beispiel die Selbstachtung, die wir eingebüßt haben, wieder zurückzugewinnen suchen. Auch ohne psychoanalytische Begriffe wie Selbst-Ideal, Über-Ich oder Narzissmus zu bemühen, ist eine Störung unse22

res Selbstbildes immer beunruhigend. Wir geraten gleichsam aus dem Tritt oder verlieren unser Gleichgewicht. So kann sogar eine harmlose Erkrankung uns verstimmen, wenn sie unsere körperliche Verletzbarkeit aufzeigt. Umso mehr treffen uns schwerwiegende psychosoziale Ereignisse wie Trennungen, Kündigungen oder Kränkungen, wenn sie das gewohnte Leben beeinträchtigen und unser Selbstbild infrage stellen. Sie verunsichern uns umso mehr, als die Ansprüche an das Leben in den letzten Jahrzehnten nachweislich (gemäß einer Metaanalyse von 146 Studien; Curran und Hill 2017) ständig gestiegen sind. Insbesondere sind auch die Erwartungen, die man an sich selbst hat, größer geworden. Damit wuchs das Risiko, hinsichtlich des eigenen Idealbildes enttäuscht zu werden. Dies wird oft mit einem gesteigerten Narzissmus in Zusammenhang gebracht (Wintels 2000). Es gilt aber auch den soziokulturellen Druck, sich selbst zu optimieren, und die reale Zunahme an persönlichen Möglichkeiten zu berücksichtigen. Die Corona-Pandemie hat besonders deutlich gemacht, wie verletzlich das Selbstbild von Menschen ist. Schlagartig wurden viele Erwartungen enttäuscht. Der eigene Bewegungsradius wurde drastisch eingeschränkt. Die Kontaktmöglichkeiten verringerten sich. Je länger die Pandemie andauerte, desto häufiger löste die Pandemie auch Selbstkrisen aus (de Quervain et al. 2020).

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2. Kapitel: Das «Selbst» in Philosophie und Psychologie – eine kurze Übersicht

Begriffe machen meist dann Geschichte, wenn sie etwas einfangen, was die Menschen einer bestimmten Epoche umtreibt. So ist es auch mit dem Begriff «Selbst», der die Beziehung eines Menschen zu sich selbst zum Ausdruck bringt. Weil aber der Selbstbezug von Menschen viele Fragen aufwirft und das menschliche Selbstbewusstsein keineswegs leicht begründbar ist, sind auch die Versuche, das «Selbst» zu definieren, je nach philosophischem und psychologischem Ansatz unterschiedlich ausgefallen. Die Auseinandersetzung um das «Selbst» hat in den Wissenschaften eine eigene Geschichte. Sie kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Es sollen aber im Folgenden einige Schwerpunkte herausgegriffen werden. Die getroffene Auswahl beruht weitgehend auf Übersichten und Abhandlungen (Taylor 1996, Henrich 1993, Angehrn 1999a, Frank 2015, Tugendhat 2010 [1979], Ludwig-Körner 1992, Stein 1974, Mummendey 2006, Ritter et al. 2017 u. a.) sowie auf dem Studium der Primärliteratur einzelner Philosophen und mancher Psychologen. Einen höchst differenzierten Beitrag zum Selbstbewusstsein aus aktueller philosophischer Sicht hat der deutsche Philosoph Manfred Frank (2015) verfasst. Darin wird neben vielen spätmodernen Autoren (McGinn, Kripke, Shoemaker, Rosenthal, Zahavi u. a.) besonders der Beitrag von Jean-Paul Sartre gewürdigt.

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Die folgende Zusammenfassung soll die Vielfältigkeit einflussreicher Konzeptionen des «Selbst» wiedergeben und einige Tendenzen aufzeigen, wie sich das Verständnis des «Selbst» in den letzten zwei Jahrhunderten gewandelt hat. Auf dieser wissenschaftshistorischen Voraussetzung aufbauend werde ich im nächsten Kapitel darauf eingehen, welches Verständnis des «Selbst» die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung von psychischen Erkrankungen nahelegt.

Das «Selbst» in der Philosophie Der moderne Begriff «Selbst» ist (wie in Kapitel 1 bereits erwähnt) eine Substantivierung des sprachlich viel älteren Pronomens «selbst». Vom «Selbst» als Substantiv wurde erst im 19. Jahrhundert vermehrt gesprochen. Das zunächst künstlich wirkende Wort verbreitete sich dann aber stetig und wurde im 20. Jahrhundert vor allem in den Wissenschaften zu einem stehenden Begriff. In der Antike und im Mittelalter wurde der Selbst-Begriff im Griechischen und Lateinischen zwar schon vereinzelt und unsystematisch gebraucht (z. B. in der Platon zugeschriebenen Schrift Alkibiades I), doch hatte er bei Weitem nicht die Bedeutung, die ihm heute gegeben wird. So wurde darunter weniger die Bezogenheit auf sich selbst als das körperliche oder seelische Wesen des Menschen verstanden. Das Substantiv «Self» im modernen Sinne hat wohl erstmals 1678 der englische Philosoph Ralph Cudworth verwendet (Ritter et al. 2017). Er brachte das «Selbst» in Zusammenhang mit einem reflexiven Bewusstsein von sich selbst («reflexive upon its whole Self») und mit Personalität.

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Das «Selbst» in der Aufklärung Zunächst spielte aber weniger die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dem «Selbst» (und wie es zu verstehen ist) eine herausragende Rolle als die Bedeutung des «Selbst» für die Erhaltung des Lebens. Selbsterhaltung bzw. «self-preservation» wurde lange vor der Darwin’schen Evolutionslehre zu einem zentralen Begriff der englischen Philosophie. Insbesondere die englischen Philosophen der Aufklärung Thomas Hobbes (1588– 1679) und John Locke (1632–1704) begründeten damit, dass sich die Menschen in die Politik einbringen sollten, um für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Hobbes schreibt: «Das erste Gut für jedermann ist die Selbsterhaltung. Denn die Natur hat es so eingerichtet, dass alle ihr eigenes Wohlergehen wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und Gesundheit wünschen und für beide, soweit möglich Gewähr für die Zukunft.» (1758, zit. nach Angehrn 1999a) Hobbes und Locke vertraten zwar noch kein Recht auf persönliche Autonomie des einzelnen Bürgers und setzten sich auch noch nicht für demokratische Staatsstrukturen ein, doch forderten sie, dass das Ziel der Staatsbildung die Überlebenssicherung der Menschen sein müsse. Insbesondere Locke verlangte auch in Monarchien das Recht des Einzelnen auf größtmögliche Freiheit und auf persönliches Eigentum, dessen dieser zu seiner Erhaltung und zu seinem Wohlergehen bedarf. Dadurch dass Locke zudem ein Recht auf Widerstand einforderte, trug die philosophische Betonung des Selbstbezugs und der Selbstbehauptung später auch zu politischen Veränderungen bei.

Doch galt es philosophisch vermehrt über die anthropologischen Bedingungen des «Selbst» nachzudenken. Diese inhaltliche und anthropologische Zielsetzung nahm sich hauptsächlich der deutsche Idealismus vor, allen voran Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Anders als der englische Empirismus eines Locke

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war er vor allem am Selbsterleben und seiner rationalen Analyse interessiert. In diesem Bestreben des Idealismus war der Selbstbegriff zunächst vom weiter dominierenden Verständnis der «Seele» abzugrenzen. Zwar gab es von Anfang an Überschneidungen, aber mehr und mehr wurde das «Selbst» als ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst verstanden (was dem Seelenverständnis weitgehend abgeht). Diese Selbstzentrierung charakterisiert denn auch weitgehend das idealistische Verständnis des «Selbst». Damit zusammenhängend betont der Selbstbegriff des deutschen Idealismus die Unabhängigkeit und die Selbstverantwortung des Menschen. Dazu dienten auch verschiedenste Wortzusammensetzungen, mit denen das Wort «Selbst» im deutschen Idealismus eine Verbindung einging: Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstgefühl, Selbstanschauung etc. – Komposita, die sich z. B. alle im Werk von J. G. Fichte finden (Ritter et al. 2017). Sie zeigen ausnahmslos das Verhältnis des Menschen zu sich selbst an. Das kann auch so verstanden oder missverstanden werden, dass das «Selbst» eine Reflexion oder Widerspiegelung auf sich selbst darstellt. Das muss aber nicht sein. Die zirkuläre Problematik eines solchen zweigliedrigen Reflexionsmodells, das davon ausgeht, dass das «Selbst» sich selbst zum Objekt machen bzw. reflektieren kann, wurde schon von Fichte erkannt. Er schreibt: «Wenn […] um Bewusstheit von mir zu gewinnen, ich mein eigenes Bewusstsein zum Objekt eines neuen Bewusstseins machen müsste, so würde ich überhaupt nie zum Selbstbewusstsein kommen. Denn für das neue Bewusstseinssubjekt gälte alsdann erneut, dass es, um seiner bewusst zu werden, eines weiteren Bewusstseinssubjekts bedürfte, das aber unbewusst wäre, bis ein viertes Bewusstsein sich reflexiv ihm zuwendete, und so in infinitivum.» (Fichte 1845/46, zit. nach Frank 1986, S. 33)

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Fichte war denn auch überzeugt, dass ohne ein vorreflexives oder erlebtes Selbst kein Selbstbewusstsein und keine Selbstbestimmung sein könne. Konsequenterweise hat er dem «Selbst» einen absoluten Gehalt zugemessen. Er schreibt: «Das innerste Wesen des Selbst ist Absolutheit, seine Form Zurückgehen in sich» (Fichte 1797/1779, zit. nach Ritter et al. 2017). Damit hat er im «Selbst» bzw. im Selbstbewusstsein etwas Primäres gesehen, das nicht rückführbar ist. Das Reflexionsmodell des «Selbst» wurde aber in der Philosophie nicht aufgegeben. Dazu trug auch Friedrich Hegel (1770–1831) bei. Hegel vertrat allerdings ein intersubjektives Reflexionsmodell, nämlich die Überzeugung, dass Selbstbewusstheit nur durch ein anderes Bewusstsein vermittelt werden kann. «Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.» (Hegel 1970, S. 144) Oder: «Das Selbstbewusstsein ist sich […] nur real, insofern es seinen Widerschein in anderen weiß (ich weiß, dass andere mich als mich selbst wissen)» (Hegel 1970, S. 122). Damit ist der andere Bedingung für die eigene Selbsterkenntnis, weil das «Selbst» nach Hegel kein unmittelbares präreflexives Bewusstsein von sich hat (vgl. Frank 2015).

Existenzphilosophie des «Selbst» In der Geschichte der Philosophie blieb es aber weder bei einem idealistischen Verständnis noch bei einem Reflexionsmodell des «Selbst». Zunächst hinterfragte der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) vor allem in Auseinandersetzung mit Hegel den hauptsächlich intellektuellen, «allgemeinen» Zugang zum Selbstbewusstsein. Er tat dies im Namen eines singulären Einzelnen, der sich nicht in Begriffe fassen lässt. Er bestritt 29

nicht, dass das hintergründige Selbst ein Ganzes bildet und als Struktur vorgegeben ist. Aber er war nicht der Auffassung, dass sich der Mensch einheitlich erlebt. Kierkegaard verstand das Selbst als «ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält». Er schreibt zu Beginn seines religionsphilosophischen Buches «Die Krankheit zum Tode» schon fast kryptisch (Kierkegaard 1997 [1849]): «Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. […] Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit.»

Das ist bis auf den letzten Satz schwierig zu verstehen. Aber es lässt sich so deuten: Der Mensch ist nach Kierkegaard in ein (von Gott bestimmtes) Verhältnis gesetzt. Er kann sich diesem nicht entziehen. Er muss das ihm aufgetragene Verhältnis annehmen und darf nicht in ein Missverhältnis zu dem ihm auferlegten Verhältnis kommen. Sonst verzweifelt er. Er hat die Aufgabe, sich zu entscheiden. Allerdings kann er es vorziehen, indifferent zu leben und nicht zu wählen. Doch kann er nur sich selbst finden, wenn er eine Wahl trifft. Sonst bleibt er sich fremd, wie Kierkegaard im Werk «Entweder – Oder» eindrücklich darlegt. In solchen komplexen, aber von Erfahrung geprägten Überlegungen erweist sich Kierkegaard als existenzieller Philosoph. Er wird zum Begründer der Existenzphilosophie, die das Erleben und das entschiedene Handeln hoch gewichten und im «Selbst» keine bloße Gegebenheit, sondern eine existenzielle Herausforderung sehen wird. Allerdings wird sein Ansatz in der Folge säkularisiert, sowohl von Martin Heidegger, der den

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eminenten Einfluss von Kierkegaard allerdings kaum zugibt (Holzhey 2021), als auch von Jean-Paul Sartre. Martin Heidegger (1889–1976) verstand das Selbst ebenfalls nicht als bloße Selbstreflexion, sondern als ein Verhältnis, das sich zur Existenz oder zum Sein verhält. Damit behielt Heidegger den Grundgedanken eines Verhältnisses zu einem Umfassenderen bei, löste ihn aber vom religiösen Kontext Kierkegaards ab. Sprach Kierkegaard noch davon, dass bestimmte Menschen, die keine Wahl treffen, daran leiden, verzweifelt man selbst sein zu wollen (oder verzweifelt nicht man selbst zu sein wollen), prägte Heidegger die Metapher von der «Verlorenheit» (an das «Man») bzw. vom Verlust der «Eigentlichkeit», wenn das Verhältnis zur existenziellen Grundlage gestört ist. Dieser philosophische Ansatz wurde von Psychotherapeuten in der Mitte des 20. Jahrhunderts übernommen. Insbesondere die daseinsanalytischen Schulen von Ludwig Binswanger und von Medard Boss konzipierten ihre Therapie nicht um eine Reflexion des Selbst, sondern versuchten das Erleben der Klienten als ihr So-Sein zu verstehen und zu vertiefen. Denn das Bewusstsein des Selbst «kann nur aus dem Sein des Selbst, nicht umgekehrt dieses aus jenem aufgehellt […] werden» (Heidegger 1927). «Wenn aber dem Menschen sein Sein aufgetragen ist, woran orientiert er sich dann, wo findet er seinen Halt? Einmal in der Befindlichkeit, der Stimmung, durch die er in ursprünglicher Weise erfahren kann, wie es um ihn bestellt ist. Dann im Gewissen, das Ruf-Charakter besitzt und darauf verweist, daß er möglicherweise sein Sein verfehlt. Schließlich im Tod, in der Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Seins.» (Condrau 2021)

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Das «Selbst» in der philosophischen Psychologie des 19. Jahrhunderts Vor der Entwicklung der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert setzte sich vor allem die angelsächsische Philosophie noch in anderer Weise mit dem «Selbst» auseinander. Dabei blieb die idealistische Konzeption, die auch von anderen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts vertreten wurde, nicht ohne Einfluss auf die philosophische Psychologie. Für den einflussreichen amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1843–1910) zeugt das Selbst davon, dass das Bewusstsein des Menschen nicht nur aus sinnlichen Wahrnehmungen bzw. aus «bloßen Eindrücken» besteht, wie noch David Hume (1711–1776) postulierte. Das «Selbst» ist für James im Gegenteil der Inbegriff von Aktivität. Es verweist auf Prozesse, die das Individuum selbst in Gang setzt. Dabei hielt James aber an der Vorstellung einer Selbstreflexion fest. James (1890) unterscheidet ein «I-self» und ein «Me-self» und bezeichnet das «I-self» als Aktor und Wissender und das «Me-self» als Objekt und Gewusstes. Damit findet das idealistische Selbstverhältnis dadurch eine psychologische Differenzierung, dass dem «Selbst» ein Subjektpol und ein Objektpol zugeschrieben wird. Während James den Subjektteil, das «I-self», nicht weiter aufspaltet, teilt er das «Me-self» in weitere «multiple Me-selves» auf. Das ist ihm umso besser möglich, als er das «Me-self» wie eine innere Objektwelt behandelt, die aus Objekten zusammengesetzt ist. Entsprechend charakterisiert James ein «material Me» (die Erfahrung des Körperlichen), ein «social Me» (das gewahr Werden der Einschätzung durch andere) und ein «spiritual Me» (das Erleben geistiger und seelischer Vorgänge), schließt aber weitere «Me-selves» nicht aus.

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William James geht somit von einer inneren Schau oder Bühne aus und bleibt insofern einer dualistischen (schon von Descartes angedachten) Vorstellung von Subjekt und Objekt verhaftet, auch wenn er dieses Modell von außen ins Innere des Menschen verlagert. Seine Konzeption fand anfänglich große Beachtung, geriet dann aber in der vorherrschenden Strömung des radikalen Behaviorismus gegen Mitte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in Vergessenheit. Die Vertreter der klassischen Verhaltenslehre behandelten die Erlebensseite des Menschen als Blackbox und waren nur am sicht- und objektivierbaren Verhalten interessiert. Das «Selbst» gehörte für sie zu den vagen und nicht lohnenden Studienobjekten und schien auch keine spezifische Funktion zu haben. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der kognitiven Wende in der Verhaltenstherapie. Wie sich jemand selbst versteht gewann an Forschungsinteresse, auch weil sich in empirischen Studien zeigte, dass Selbstbilder bzw. Selbstrepräsentationen einen wesentlichen Einfluss auf psychische Störungen haben. Das Werk von William James wurde neu studiert. Das «Selbst», wie es James verstand, insbesondere die Unterscheidung von «I-self» und «Me-self» und seine Idee, dass das «Selbst» eines Menschen von Situationen und Beziehungen abhängig ist, wirkte auf viele Psychologen stimulierend. Zusammen mit der kognitiven Entwicklungspsychologie von Jean Piaget (1896–1980) beeinflusste sein Werk das moderne Verständnis der psychologischen Entwicklung des «Selbst» insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. (Ein prominentes Beispiel stellen die Studien von Susan Harter, 2015, dar.)

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Philosophische Dekonstruktion des «Selbst» in der Spätmoderne Nach dem sprachanalytisch orientierten deutschen Philosophen Ernst Tugendhat (geb. 1930) stellt die Rede von einem «Selbst, das sich zu sich selbst verhält», eine Tautologie dar. Wie könne sich ein A (oder Ich) zu einem gleichen A (oder Ich) verhalten? Jedes Verhältnis setze ein Objekt und Subjekt voraus, wobei Ersteres nicht mit Letzterem identisch sein dürfe. Alles andere komme einer «Verhexung der Sprache» gleich. Erst wenn sich etwas vom Selbst abhebe (wie die Existenz oder das Sein), könne gemäß Tugendhat auch von einem Verhältnis dieses Selbst gesprochen werden. Entsprechend schließt Tugendhat die Existenzphilosophie Heideggers nicht in gleichem Maß in seine Kritik ein. Härter geht der französische Philosoph Jacques Derrida (1939–2004) mit dem Selbstbegriff ins Gericht. Entsprechend seinem philosophischen Ansatz der Dekonstruktion hinterfragt er grundsätzlich, ob die Sprache einen authentischen Ausdruck des «Selbst» gewährleisten kann. Schon vor ihm hat Ludwig Wittgenstein (1889–1951) darauf hingewiesen, dass Substantive und insbesondere Substantivierungen wie «Selbst» zur irrigen Annahme verführen können, sie bezeichneten einen Gegenstand. Es gelte, sich unermüdlich mit der Sprache auseinanderzusetzen. Denn philosophische Probleme seien hauptsächlich Sprachprobleme, nämlich Folgen eines falschen Umgangs mit der Sprache und einer unreflektierten Anwendung von Wörtern. Wittgenstein verwendete den Begriff «selbst» vor allem als Pronomen. Für ihn war Philosophie «Arbeiten an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht» (Wittgenstein 1994, S. 46 [1942]).

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Noch fundamentaler wurde das «Selbst» in neuester Zeit von neurophilosophischer Seite kritisiert. So hält der deutsche Neurophilosoph Thomas Metzinger (geb. 1958) das «Selbst» für eine Illusion, die uns von unseren Gehirnen vorgegaukelt werde (Metzinger 2012). Allerdings könnte dann auch seine eigene Kritik vom Gehirn nur vorgegaukelt sein. Wenn alles, auch das Welt- und Selbsterleben, virtuell ist, wie kann sich dann jemand außerhalb dieser Virtualität positionieren? Auch für den amerikanischen Philosophen des Geistes Daniel C. Dennett (geb. 1942) sind Geistestätigkeiten Operationen einer virtuellen Maschine im Gehirn. Selbstbewusstsein ist für ihn die Software dieser virtuellen Maschine. Dennett wendet sich aber auch gegen Neurobiologen, die im Gehirn ein Reflexionsmodell materieller Art rekonstruieren. Mit dem Schlagwort «kartesisches Theater» lehnt Dennett die Auffassung ab, es gebe im Gehirn einen Ort, an dem alles zusammenkommt, gleichsam eine Bühne, auf der dem «Ich» oder «Selbst» die Welt repräsentiert wird (Dennett 1995).

Schlussfolgerungen aus dem philosophischen Rückblick Tatsächlich ist der Selbstbegriff bei genauerem Hinsehen philosophisch nicht so selbstverständlich, wie es einmal den Anschein gemacht hat (vgl. die philosophischen Auslegeordnungen bei Pauen (2005) und insbesondere das grundlegende Werk von Charles Taylor «Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität», 1996). Wie auch aus der vorliegenden knappen Übersicht abgeleitet werden kann, wird der Selbstbegriff philosophisch ähnlich vielfältig ausgelegt wie früher das Wort Seele. Dabei habe ich so wichtige Beiträge wie diejenigen von Jean-Paul Sartre (1905–1980) und Paul Ricœur

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(1913–2005) nicht einmal erwähnt. (Sie werden im 3. und 6. Kapitel behandelt.) Man kann argumentieren, dass existenzielle Begriffe eine solche Vielfalt an Auslegungen mit sich bringen und in der Bandbreite der angestellten Überlegungen auch ein Reichtum liegt. Man kann sich aber auch fragen, ob man besser schweigen soll, «wovon man nicht sprechen kann», wie Wittgenstein argumentiert hat. Es ist zu Recht festgestellt worden, dass das «Selbst» nur ein Konstrukt ist. Deshalb habe ich es auch immer in Anführungszeichen gesetzt. Aber dieses sogenannte Konstrukt hat weitgehende Auswirkungen, weil es etwas berührt, was uns Menschen ausmacht. Wir sind, um es nochmals zu betonen, sehr spezielle Lebewesen, die nicht nur Instinkte und Triebe, sondern auch eine bewusste und reflexive Beziehung zu uns selbst und zu anderen haben. Man kann rückblickend zwei Hauptstränge der philosophischen Konzeptionen vom «Selbst» unterscheiden. Die eine Auffassung ist eher struktureller Art, die andere eher phänomenaler Art. Die erste möchte das «Selbst» als Gegebenes in seiner Struktur festlegen. Prototypisch kann dafür das Reflexionsmodell angeführt werden. Was das «Selbst» ausmacht, gerinnt dabei oft in eine abstrakt wirkende Analyse. Ein Meister einer solchen Analyse ist Hegel. Die zweite Auffassung geht mehr vom individuellen Erleben aus und behandelt den Menschen weniger als Objekt denn als Subjekt. Sie bezieht die affektive Seite des Menschen stärker in ihr Selbstverständnis ein. Das führt letztlich wie bei Kierkegaard zur Betonung existenzieller Entscheidungen, die jeder für sich selbst zu treffen hat. Doch müssen die beiden Auffassungen einander nicht ausschließen. Oft finden sich beide Tendenzen beim gleichen Au36

tor. Als Beispiel kann Fichte genannt werden. Er kritisiert einerseits das Reflexionsmodell und setzt das «Selbst» absolut bzw. nicht auf eine Selbstrepräsentation rückführbar, benützt die Selbstreflexion aber doch in Teilen seines Werkes, um bestimmte Aspekte des «Selbst» zu fassen (Frank 1986).

Das «Selbst» in der Psychologie und Psychotherapie Die psychologischen Konzepte des «Selbst» nehmen oft Elemente der historisch früher ausgearbeiteten Konzepte der Philosophie auf. Deshalb habe ich die philosophischen Konzeptualisierungen des «Selbst» den nun folgenden psychologischen Überlegungen vorangestellt. Besonders eng sind die Konzepte der existenziellen oder daseinsanalytischen Psychotherapieformen mit bestimmten Philosophien verknüpft, weshalb ich sie schon kurz im philosophischen Teil des Kapitels angeführt habe. Wie in der Philosophie sind die psychologischen Überlegungen zum «Selbst» sehr unterschiedlich. So hat die Sozialpsychologie andere Selbstkonzepte als die Kognitionspsychologie und diese wiederum andere als die Psychoanalyse. Vielleicht noch stärker als in der Philosophie sind die einzelnen Vorstellungen von universitären Institutionen und vor allem von psychotherapeutischen Schulen abhängig. Deshalb gliedere ich zu Beginn die psychologischen Konzeptionen des «Selbst» nach einzelnen psychotherapeutischen Ansätzen bzw. Schulen. Erst danach fasse ich kurz wichtige Ergebnisse der übergreifenden Selbstkonzeptforschung zusammen.

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Selbstkonzepte in der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939) setzt sich in der von ihm begründeten Psychoanalyse noch kaum mit dem Selbstbegriff auseinander, sondern gebraucht anfänglich «Ich» und «Selbst» weitgehend identisch, sodass von einem «Ich-Selbst» gesprochen werden kann. In sein Strukturmodell der Seele findet aber nur das «Ich» Eingang. Freud unterscheidet bekanntlich zwischen einem triebhaften «Es», einem moralischen «Über-Ich» und einem dazwischen stehenden regulierenden «Ich», das zwar Erkenntnisfunktion hat, aber eben nicht die Person als Ganzes umfasst. Es ist aber nicht so, dass Freud sich nur für Strukturfragen interessierte. Wichtig war ihm vor allem die Psychodynamik. So verweist der von ihm geprägte Begriff der Identifikation darauf, wie sich Strukturen bilden.

Was jedoch die Unterscheidung von «Ich» und «Selbst» betrifft, ist vorrangig der Psychoanalytiker Heinz Hartmann (1894–1970) zu nennen. Bei ihm findet sich erstmals in der Psychoanalyse eine genaue Abgrenzung von «Ich» und «Selbst». Er schreibt: «In der Analyse wird nicht immer klar zwischen Ich, Selbst und Persönlichkeit unterschieden. Aber eine solche Trennung der Begriffe erscheint wesentlich. […] Tatsächlich scheinen aber […] oft zwei verschiedene Gegensatzpaare in eins verschmolzen zu sein. Das eine bezieht sich auf das Selbst (die eigene Person) im Gegensatz zum Objekt, die andere auf das Ich (als ein psychologisches System) im Gegensatz zu den anderen Teilstrukturen der Persönlichkeit. Das Gegenteil von Objektbesetzung ist jedoch nicht Ich-Besetzung, sondern Besetzung der eigenen Person, das heißt Selbstbesetzung.» (Hartmann 1950, zit. nach Ludwig-Körner 1992, S. 155)

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Hartmann definiert das «Selbst» denn auch nicht als strukturelle Teilinstanz wie das «Es», «Über-Ich» oder «Ich», sondern als Einheit der Person. Das «Selbst» umfasst nach ihm das Selbsterleben, mithin auch körperliche und libidinöse Gefühle, womit er das Freud’sche «Ich» wesentlich ergänzt. Tatsächlich erleichtert seine Konzeption des «Selbst» die spätere Entwicklung der psychoanalytischen Selbstpsychologie. Mit dem von ihm gewählten Begriff der Selbstrepräsentanz gesteht er aber nicht nur ein, dass nach seiner Konzeption das «Selbst» vom «Ich» vorgestellt bzw. repräsentiert wird (und das «Selbst» mithin ein Teil des «Ich» bleibt). Seiner Konzeption haftet auch die ungelöste Problematik des infiniten Regresses an, weil er das «Selbst» als Vorstellung des Ich-Selbst charakterisiert. Dieses Dilemma findet sich ebenso bei späteren Psychoanalytikern. So erklärt der Kinderpsychiater Donald Winnicott (1896–1971), dass die erste Selbstwahrnehmung des Kindes u. a. durch eine Spiegelung in den Augen der Mutter entsteht. In diesem Spiegelungsprozess sind Mutter und Kind verbunden, bis sich das Kind von der Symbiose mit der Mutter löst und sich gleichsam selber spiegelt. Winnicott beschreibt in einem Brief 1971 das «Selbst» folgendermaßen in etwas gewundener Weise:«Das Selbst befindet sich natürlich im Körper, aber es kann unter gewissen Umständen auch in den Augen und im Gesichtsausdruck der Mutter oder im Spiegel, der das Gesicht der Mutter vertreten kann, vom Körper dissoziiert werden. Im Laufe der Entwicklung gelangt das Selbst zu einer signifikanten Beziehung zwischen dem Kind und der Summe der Identifikationen, welche […] zur Form einer inneren, psychischen, lebenden Realität organisiert werden.» (Winnicott 1971, zit. nach Ludwig-Körner 1972, S. 231) Dieses «wahre Selbst», aus dem sich die Idee einer eigenen Person entwickelt, kann aber nach Winnicott so enttäuscht werden, dass es durch ein angepasstes «falsches Selbst» überdeckt und geschützt wird. 39

Neben dem Reflexionsmodell, das aus der klassischen Psychoanalyse herrührt, findet sich bei Winnicott aber auch schon eine erlebensorientierte Darstellung des «Selbst», die an existenzphilosophische Ansätze erinnert. Dabei wird das Selbst als eine originäre und potenziell kreative Struktur charakterisiert. Entsprechend arbeitete Winnicott als Therapeut gemäß der Beschreibung von Mitarbeitern auf einer «autochthon phänomenologischen Ebene» (Stein 1974, S. 996). Eine eigentliche Selbstpsychologie findet sich in der Psychoanalyse aber erst bei Heinz Kohut (1913–1981), auch wenn dieser zunächst auf ich-psychologische Autoren wie Hartmann und Vertreter der sogenannten Objektbeziehungstheorie wie Winnicott zurückgreift. Kohut wagt im Gegensatz zu den früher genannten Psychoanalytikern spätestens mit seinem Werk «Die Heilung des ‹Selbst›» (1977) den Bruch mit der von Freud absolut gesetzten Triebtheorie. Er konzeptualisiert das «Selbst» als eigenständige Instanz, die sich unabhängig von Trieben und Abwehrmechanismen entwickelt. Nach Kohut ist das «Selbst» der Kern der Persönlichkeit. Es bildet sich im Zusammenspiel von angeborenen und Umwelteinflüssen heraus und weist ein persönliches Muster auf. Durch den «Glanz im Auge der Mutter» erfährt sich das Kind in seinem rudimentären «KernSelbst» «narzisstisch» gestärkt. Damit ist für Kohut nicht mehr – wie in älteren Reflexionstheorien – die Selbstspiegelung primäre und alleinige Ursache des Selbstbewusstseins bzw. der Bildung eines «Selbst». Vielmehr hat das «Selbst» tiefere Wurzeln, die Kohut in einer genetisch vermittelten Anlage annimmt. Die Spiegelung zum Beispiel in den Augen der Mutter beeinflusst jedoch, wie das «Kern-Selbst» sich weiter ausdifferenziert. Anders gesagt denkt Kohut (1979) das «Selbst» als primäre Struktur, die sekundär durch Beziehungserfahrungen mit sogenannten «Selbstobjekten» erweitert wird. «Selbstobjekte» re-

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präsentieren Personen, die einem Kind positive Erfahrungen ermöglicht haben. Kohut geht davon aus, dass im menschlichen Organismus eine Tendenz existiert, alle Erfahrungen zu zentrieren und auf ein «Selbstsein» auszurichten. Das Gefühl von «Selbstsein» entwickelt sich günstig, wenn ein Kind von den Eltern als Ganzes Beachtung findet und sich so in ihm hilfreiche «Selbstobjekte» entwickeln. Dabei unterscheidet Kohut zwei Arten von Selbstobjekten: – Selbstobjekte, die das dem Kind angeborene Gefühl von Lebenskraft, Größe und Vollkommenheit erwidern und bestätigen; – und Selbstobjekte, zu denen das Kind aufblicken und mit denen bzw. mit deren Ruhe, Unfehlbarkeit und Omnipotenz es verschmelzen kann. Die erste Art von Selbstobjekten wird als das spiegelnde Selbstobjekt, die zweite als idealisierte Elternimago bezeichnet (Kohut 1982, S. 191).

Die «Selbstpsychologie» Kohuts, die dieser immer als Teil der Psychoanalyse verstanden hat, findet bis heute Anhänger und Kritiker unter den Psychoanalytikern. Sie hat sich therapeutisch besonders bei bestimmten narzisstischen Störungen bewährt, aber bei anderen Formen ihre Grenzen gefunden. Sie wurde denn auch besonders stark von bedeutenden Psychoanalytikern wie Otto F. Kernberg (geb. 1928) kritisiert, die sich ebenfalls mit narzisstischen Störungen auseinandersetzen. Kernberg als Vertreter der sogenannten Objektbeziehungstheorie versteht das «Selbst» nicht als primäre Anlage (wie Kohut), sondern als intrapsychische Struktur, die sich biografisch aus Introjekten bzw. Erfahrungen mit anderen Menschen bildet. Dabei kann er allerdings von einem Reflexionsmodell schwer Abstand nehmen.

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Eine völlig andersartige Auffassung vertritt der französische Psychiater Jacques Lacan (1901–1981), der eine eigene Richtung innerhalb der Psychoanalyse begründet hat. Er ist zwar als Verfechter des Spiegelstadiums, das zur Entwicklung des Ichs beiträgt, bekannt. Aber seine Konzeption ist mit dem bekannten und bisher dargestellten Reflexionsmodell nicht identisch. Nach Lacan erkennt das Kind im Spiegel zwar sich selbst, aber als ein Abbild, das es überhöhe und insofern gerade nicht sei. Die Spiegelung führe (über Entzückung) zu einer imaginären, narzisstisch idealisierten Vorstellung von sich, die das Kind in der Realität nie erreichen kann. Aus dem erfahrenen Mangel leitet Lacan das Begehren ab, vom anderen zu erhalten, was ihm selbst fehlt. Weil das Begehren letztlich unerfüllbar bleibt, sind immer wieder auftretende leibliche Spannungen und belastende Affekte wie Wut oder narzisstische Kränkung die Folge. Lacan gebraucht den Begriff des «Selbst» in seinen Schriften kaum. Er sieht darin eine Illusion. Er ist überzeugt, dass wir ein «Selbst» nur begehren, weil wir nicht annehmen können, von anderen so abhängig zu sein, wie wir sind. Die Begründung seines einflussreichen Konzeptes vom Spiegelstadium weist jedoch erhebliche Probleme auf. So lässt sich die Verzückung des Kleinkindes vor dem Spiegel empirisch nicht regelhaft nachweisen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Manche Kinder reagieren leicht verwirrt oder zwiespältig, wenn sie sich im Spiegel erkennen (Rochat 2003).

Die Entwicklung des Selbstempfindens gemäß der psychoanalytischen Kleinkindforschung

Gewichtiger sind die Befunde der psychoanalytischen Kleinkindforschung. Sie widersprechen manchen älteren psychoana-

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lytischen Lehrmeinungen. Kleinkinder sind nach diesen neueren Beobachtungen bereits in den ersten Wochen nach der Geburt auf die Umwelt ausgerichtet. So haben Säuglinge eine angeborene Neigung, kognitive und affektive Beziehungen zur Mitwelt einzugehen. Sie sind weder in sich verschlossen noch passiv rezeptiv, sondern aktiv suchend. Nach dem Psychoanalytiker und Kleinkindforscher Daniel Stern (1934–2012) entwickeln Kinder ab der Geburt ein (leibseelisches) Kernselbst, ab dem zweiten Lebensjahr ein subjektives und verbales «Selbst». So hat schon ein halbjähriges Kleinkind das Empfinden, ein körperliches Ganzes zu sein und gezielt handeln zu können (Selbstkohärenz des Kernselbst). Mit eineinhalb Jahren kann ein Kind meist sich selbst erkennen (subjektives Selbst) und sich manchmal auch schon namentlich bezeichnen (verbales Selbst). Bei dieser Entwicklung ist es schwierig, auf Begriffe wie Selbstbewusstsein und «Selbst» zu verzichten. Vielmehr scheint die Selbstentwicklung den Menschen von Geburt an auszuzeichnen.

Das «Selbst» in der analytischen Psychologie Die analytische Psychologie wurde von Carl Gustav Jung (1875– 1961) begründet. Anders als Sigmund Freud hat sich sein Schüler C. G. Jung, der später einen eigenen Weg ging, früh mit dem Selbstbegriff auseinandergesetzt und ihm einen zentralen Platz in seiner Lehre eingeräumt: Das «Selbst» wurde von ihm auch früh vom «Ich» abgegrenzt. «Ich unterscheide daher zwischen Ich und Selbst, insofern das Ich nur das Subjekt meines Bewusstseins, das Selbst aber das Subjekt meiner gesamten, also auch der unbewussten Psyche ist. In diesem Sinne wäre das Selbst eine (ideelle) Größe, die das Ich in sich begreift.» (Jung 1921, GW 6, § 810) 43

Für C. G. Jung ist das «Selbst» in Anlehnung an indische Vorstellungen von «Atman» / «Brahman» kosmisch weit. Es umfasst das Ich grenzenlos – ganz im Sinne Nietzsches: «Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge.» (Nietzsche 1954, S. 301 [1883]) Dadurch unterscheidet sich das Verständnis des «Selbst» von C. G. Jung auch von neueren Konzeptionen der Freud’schen Psychoanalyse. Allerdings kann nur das «Ich» bewusst erleben. Man kann deshalb auch sagen, dass das «Ich» der bewusste Teil des «Selbst» ist. C. G. Jung spricht demzufolge auch vom Ich-Komplex und denkt dabei an kontinuierliche und identitätsbildende Vorstellungen, die das Zentrum des menschlichen Bewusstseinsfeldes bilden. Gemäß C. G. Jung ist das «Selbst» für die Entwicklung des Menschen entscheidend. Denn es macht den Sinn des Lebens aus, sich zu entfalten bzw. sich zu individualisieren. C. G. Jung schreibt: «Individuation macht nicht an den Ich-Grenzen Halt. Vielmehr integriert Individuation unbewusste und abgewehrte Anteile, die zum ‹Selbst› gehören.» (Jung 1948, S. 192)

Das «Selbst» in der humanistischen Psychologie Das Selbstkonzept von C. G. Jung hatte großen Einfluss auf andere psychotherapeutische Richtungen. So versteht Erich Fromm (1900–1980) als Psychoanalytiker das «Selbst» «als organisiertes und integriertes Ganzes der Persönlichkeit» und sieht seine Bedeutung besonders im Individuationsprozess (Fromm 1941). Das Konzept fand auch großen Anklang in den verschiedenen Richtungen der humanistischen Psychologie. Für die Gestalttherapie von Fritz Perls (1893–1970), die oft zur humanistischen Psychologie gerechnet wird, ist das «Selbst» eine synthetische Einheit. Es besteht nicht nur aus einzelnen Teilen, sondern bildet eine Einheit, die bekanntlich

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mehr ist als die Summe ihrer Teile. Im Rahmen der Gestalttheorie, die von einem Figur-Grund-Prozess ausgeht, ist das «Selbst» gleichsam die Figur, die sich im Vordergrund des Feldes befindet und sich vom Hintergrund des Feldes abhebt. Das «Selbst» wird nicht als passiver Empfänger von Sinnesreizen verstanden, sondern nimmt im Beziehungsfeld eine aktiv gestaltende Rolle ein. Dennoch gibt es für die Gestalttherapie kein festes und unveränderbares «Selbst», sondern nur eine Gestalt des «Selbst», die sich in Beziehungen aktiv verändert. Jede Beziehungsaufnahme ist Gestalt bildend. Dabei dürfte ein mittleres Maß an zwischenmenschlichen Spannungen die produktivste Selbstgestaltung ermöglichen (Perls et al. 1979). Besonders differenziert und unter Einbezug bereits bestehender und divergierender Konzepte hat sich Carl Rogers (1902–1987) mit dem «Selbst» auseinandergesetzt. Rogers ist der Begründer der klienten- oder personenzentrierten Psychotherapie, aber auch eine Leitfigur der humanistischen Psychologie. Er hat zudem wesentliche Kriterien für eine erfolgreiche Psychotherapie herausgearbeitet. Nach Rogers wird der Mensch weniger durch Triebe, sondern hauptsächlich durch die angeborene Tendenz gesteuert, sich selbst zu erhalten und sich selbst zu verwirklichen. Gemäß der Selbsttheorie von Rogers geht es hauptsächlich darum, allzu große Spannungen zwischen dem «Selbst» und der Realität, das heißt den in Beziehungen gemachten Erfahrungen, zu vermeiden. Sie würden zu Angst, Verzerrungen der Realität sowie Verleugnungen und indirekt zu psychischen Krankheiten führen. Konsequenterweise besteht auch die psychotherapeutische Behandlung nach Rogers darin, das «Selbst» des Klienten durch Vertrauen zu stärken und gestörte Beziehungen abzubauen. Ziel ist es nach Rogers, dass sich der Klient seiner bewusst wird, aber nicht als Objekt, sondern als Subjekt und Individuum. 45

«Es ist eher eine reflexive Bewusstheit, ein subjektives Leben in einem beweglichen Selbst. […] [Der Klient] betrachtet sich als verantwortlich für seine Probleme. Er empfindet in der Tat eine volle Verantwortung für sein Leben in all seinen fließenden Aspekten.» (Rogers 1973, zit. nach Mummendey 2006, S. 195)

Rogers geht von einem Selbstkonzept aus, das sich verändern kann. Er versteht das «Selbst» – wie die Existenzphilosophie – eher als Prozess denn als festgelegte Struktur. Er steht als Empiriker aber auch modernen psychologischen Theorien nahe, die das «Selbst» lediglich als Konstrukt verstehen, das sich Menschen machen.

Das «Selbst» in der Kognitionspsychologie Tatsächlich wird in der Selbstkonzeptforschung der Kognitionspsychologie das «Selbst» zunehmend als Gesamtheit der Vorstellungen verstanden, die Menschen von sich haben. Damit wird das «Selbst» zu einem Konstrukt. Der Kognitionspsychologe Hans Dieter Mummendey (geb. 1940) definiert in seinem Standardwerk «Psychologie des ‹Selbst›» (2006, S. 38): «Unter dem Selbstkonzept (der Gesamtheit der Selbstkonzepte) eines Individuums verstehen wir die Gesamtheit aller Selbstbeurteilungen», wobei zu den Selbstbeurteilungen («judgements») auch Wahrnehmungen, Erinnerungen, Wertungen und Gefühle sich selbst gegenüber zählen. Es handelt sich also beim Selbstkonzept der Kognitionspsychologie um Einstellungen bzw. Intentionen, die ein Mensch zu sich selbst hat, während achtsames Spüren und Innewerden ohne selbstbezogene Intention nicht zu diesem Selbstkonzept gehören. Das kognitionspsychologische Selbstkonzept Mummendeys entspricht weitgehend dem, was ich im folgenden «Selbst46

bild» nenne. Selbstbezogene Konzepte der Kognitionspsychologie umfassen Theorien der Selbstwahrnehmung («self-awareness»), Selbsterkenntnis («self-assessment»), Selbstbestätigung («self- affirmation»), Selbstachtung («self-esteem»), Selbstkontrolle («self- control»), Selbstwirksamkeitserwartung («self-effectiveness expectations») oder Selbstdarstellung («selfpresentation»). Alle diese Begriffe implizieren eine Selbstbeurteilung.

Das «Selbst» in der Sozialpsychologie Neben der Kognitionspsychologie beschäftigt sich auch die Sozialpsychologie empirisch mit Selbstkonzepten. Dabei ist v. a. der Einfluss George Herbert Meads (1863–1931) hervorzuheben. Mead unterscheidet wie William James zwischen «I», der Person, die als Subjekt wahrnimmt und erkennt («the self as knower»), und «me», dem Bild, das sich diese Person von sich macht («the self as known», als Objekt). Bei der Bildung dieses «me» spielen Kultur und Erziehung eine maßgebliche Rolle. Mead spricht deshalb auch von einem «allgemeinen Dritten» («generalised other») und meint damit eine generalisierte Vorstellung in mir («me»), die sich über die mich prägende Kultur und Sprache gebildet hat. «The organised community or social group which gave to the individual his unity of self can be called ‹the generalised other›.» (Mead 1964, S. 154 [1934]) Aktuelle sozialpsychologische Untersuchungen weisen in einem gewissen Gegensatz zu Mead auf den Unterschied hin, wie wir uns selbst (unser «me») einschätzen und wie andere uns beurteilen. Dass zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung eine erhebliche Kluft besteht, hat die Sozialpsychologie seit Jahrzehnten immer wieder empirisch nachgewiesen. In der Re-

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gel schätzen wir uns deutlich positiver ein, als die Mitmenschen uns und wir die Mitmenschen sehen.

Schlussfolgerungen aus der psychologischen Übersicht So different sozialpsychologische von kognitionspsychologischen Verständnisweisen des «Selbst» sind, so deutlich unterscheiden sie sich wie auch andere psychologische und psychotherapeutische Ansätze voneinander. Auf die Unterschiede zwischen Jung’scher analytischer Psychologie und Freud’scher Psychoanalyse wie auch auf Unterschiede innerhalb der Psychoanalyse habe ich bereits hingewiesen. Ergänzend sei noch die Selbstkonzeption des Begründers der kognitiven Verhaltenstherapie Aaron Beck (geb. 1921) angeführt. Beck spricht – in einer gewissen Analogie zur Kognitionspsychologie – von «Selbst-Zuschreibungen» und versteht das «Selbst» als Konstrukt (Beck et al. 1999, Beck 2008). Mit «Selbst-Zuschreibungen» oder Attributionen sind nach Beck in erster Linie kognitive Vorstellungen gemeint, mit denen sich Menschen identifizieren, also z. B. die Vorstellung, tüchtig und erfolgreich oder unnütz und chancenlos zu sein.

So unterschiedlich die verschiedenen Ansätze auch sind, schreiben sie doch alle dem «Selbst» eine große Bedeutung zu. Das «Selbst» ist in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Begriff in Psychologie und Psychotherapie geworden. Diese Dominanz des Selbstbegriffs hat allerdings in den letzten Jahren auch Kritik herausgefordert. So hat der amerikanische Psychologe Philip Cushman (1995) in den neoanalytischen Konzeptionen des «Selbst» eine Abkehr von der Beachtung gesellschaftlicher und sozialer Bedingungen und eine Hinwendung zu einer kapitalistisch ge-

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prägten Mischung von Individualismus und Konsumorientierung gesehen. Die israelische Soziologiedozentin Eva Illouz sieht in «der therapeutischen Inszenierung des Selbst» (2009, S. 300) eine Taktik, sich Menschen «zugleich als Patienten und Konsumenten zunutze» zu machen und sie als jemanden zu sehen, «der Führung und Fürsorge braucht, und als jemanden, der auf sich aufpassen kann, wenn man ihm hilft» (2009, S. 308). Der Pariser Soziologieprofessor Alain Ehrenberg (2010) bringt schließlich das Aufkommen des «Selbst» mit einem therapeutischen und gesellschaftlichen Kulturwandel in Zusammenhang. Die gesellschaftliche Verpflichtung zur Individualisierung mache die Betonung eines «Selbst» nötig, führe aber auch dazu, dass sich immer mehr Menschen in depressiver Weise als «erschöpftes Selbst» fühlen. Diese Kritiken scheinen mir insofern hilfreich, als sie auf die kulturelle Einbettung des modernen Selbstbezugs hinweisen und einer Ideologisierung bestimmter Selbstkonzeptionen entgegenwirken. Andererseits wird mit dem Begriff des «Selbst» etwas eingefangen, das den Menschen auszeichnet, nämlich das nicht weiter auflösbare Bewusstsein, dass ich (selbst) bin, fühle, denke, handle. Ein solches Bewusstsein von sich selbst erscheint den meisten Menschen völlig selbstverständlich, weil es ihrem alltäglichen Erleben entspricht. Es kommt hinzu, dass es uns Menschen verwehrt ist, ohne dieses Selbsterleben über uns oder über die Welt in irgendeiner Weise zu denken oder zu reden. Darin liegt auch die Schwierigkeit, dieses Selbst zu definieren.

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3. Kapitel: Probleme des «Selbst» in Psychiatrie und Psychotherapie

Die Frage, was unter einem «Selbst» zu verstehen ist, hat im letzten Kapitel keine abschließende Antwort gefunden. Trotz aller Versuche in Philosophie und Psychologie haftet dem «Selbst» etwas Unfassbares an. Es kommt einem vor, als seien alle auf der Jagd nach dem gleichen geheimnisvollen Objekt. Dabei schubsen sich die Jäger teilweise zur Seite, um das Gesuchte vor die Flinte zu bekommen. In Wirklichkeit sitzt das Gesuchte in ihnen und fragt sich, was da draußen vor sich geht. Trotzdem ist die Suche nicht vergebens. Auch ein negativer Befund ist ein Resultat. Letztlich ist es wichtig, die Spuren des «Selbst», die es hinterlässt, wahrzunehmen und zu analysieren. So ganz anders verhält es sich mit physikalischen Begriffen wie zum Beispiel dem Energiebegriff nicht. Niemand hat die Energie je zu Gesicht bekommen und trotzdem ist ihr Effekt vorhanden. Das «Selbst» mag ein gedankliches Konstrukt sein. Es bleibt aber die Erfahrung, dass das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst große Auswirkungen auf seine Lebensführung und sein Handeln hat. Deshalb ist wichtig, wie ein Mensch fühlt und was er von sich selbst denkt. Ob dieses präreflexive Sich-selber-Fühlen und das reflexive Sich-selber-Denken vergegenständlicht werden soll, ist eine andere Frage. Wahrscheinlich wäre es sprachlich genauer, statt von einem «Selbst» als Substantiv zu reden, bei einer Beziehung zu sich «selbst» (als

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Pronomen) zu bleiben. Aber das nun einmal eingeführte Kunstwort «Selbst» kann auch als Kurzformel verstanden werden, um das Verhältnis zu sich selber zu bezeichnen. Bei einem solchen Gebrauch fasst der Begriff «Selbst» abstrahierend die Gesamtheit der Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen zusammen, die ein Mensch von sich selbst hat. Das schließt das Missverständnis aus, dass das «Selbst» einseitig verkörperlicht oder vergeistigt und beispielsweise auf einen Hirnteil oder auf ein gesellschaftliches Produkt reduziert werden kann. Damit würde das «Selbst» wieder zu einem Etwas, zu einer Sache oder einem Ding, gemacht. Es ginge die Einsicht verloren, dass das «Selbst» eine abstrahierende Schlussfolgerung ist, die allerdings auf konkreten Erfahrungen basiert. Zu dieser Basis gehört einerseits, dass der Mensch sich körperlich spüren und affektiv wahrnehmen kann. Andererseits zählt dazu, dass er über sich nachdenken kann. Diese beiden basalen Aspekte ergänzen sich. Ich betone sie, weil sie mir für ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Verständnis und die Behandlung psychischer Probleme wegweisend erscheinen. Dabei gerät in der psychiatrischen und psychologischen Lehre oft die eine oder andere in Vergessenheit, oder es werden gar beide vergessen.

Präreflexives und reflexives Selbstbewusstsein In philosophischer Sprache wird von einem präreflexiven und einem reflexiven Selbstbewusstsein gesprochen. Reflexives Selbstbewusstsein bedeutet, dass jemand über sich reflektierend nachdenken kann. Dazu gehört die Fähigkeit, sich von sich eine Vorstellung oder ein Bild zu machen und sich diesbezüglich zu bewerten. Verwandte, aber nicht ganz identische Be-

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griffe für dieses reflexive Selbstbewusstsein sind Selbstwahrnehmung (selfawareness) und Selbsterkenntnis (selfcognition). Von einem präreflexiven Selbstbewusstsein wird gesprochen, wenn davon ausgegangen wird, dass es ein Selbstbewusstsein gibt, das keine Selbstreflexion voraussetzt, sondern dem Menschen implizit gegeben ist. Teilweise – und für mich hilfreich – wird dieses präreflexive Selbstbewusstsein mit körperlichen Empfindungen und Gefühlen zusammengebracht, die einem Menschen sowohl ein Selbstgefühl wie eine Art verkörperlichte Selbsterkenntnis (embodied cognition) ermöglichen (Wilson und Foglia 2011). Vereinfachend kann dieses präreflexive Selbstbewusstsein auch als Selbsterleben leib-seelischer Art bezeichnet werden. Die Schwierigkeit dieses Begriffs des präreflexiven Selbstbewusstseins liegt darin, dass er eine negative Definition darstellt. Er sagt eigentlich nur aus, was er nicht ist. Damit teilt er die Problematik traditioneller Begriffe wie unbewusst oder prägenital, die nur als Begriffspaar (bewusst/unbewusst oder genital/ prägenital) Sinn ergeben. Man könnte mit Novalis das präreflexive Selbstbewusstsein auch positiv als «Selbstgefühl» bezeichnen, doch würden damit Sinnes- und Handlungsaspekte wegfallen, die im präreflexiven Selbstbewusstsein enthalten sind. Es war wahrscheinlich Jean-Paul Sartre, der erstmals von einem «nicht-reflexiven Bewusstsein» sprach (Sartre 2014, S. 22 [1943]). Nach seiner Analyse setzt die Reflexion ein «präreflexives Cogito» voraus. Damit betont er (in der Auseinandersetzung mit Descartes und Husserl), dass die Reflexion noch eine andere Art des Erkennens bedingt, die aber nicht vergegenständlicht werden kann. Auch entwicklungspsychologische Zugangsweisen zum Problem des «Selbst» legen nahe, dass dem reflexiven Selbstbewusstsein andere Arten des Selbstbewusstseins vorausgehen. So zeigen neuere Studien der Entwicklungspsychologie, dass sich 53

das reflexive Selbstbewusstsein schrittweise entwickelt. Bevor ein Kind ab dem dritten Lebensjahr schrittweise ein reflexives Bild von sich entwickelt, hat es bereits ein körperliches Selbstbewusstsein, ist neugierig und verfolgt eigene Ziele (Rochat 2003). Entwicklungspsychologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem «sense of agency». Auch wenn das ein- bis zweijährige Kleinkind sich selbst mittels reflexiver Akte noch nicht erkennen kann, ist es doch offensichtlich seiner gewiss. Auf dieser präreflexiven Grundlage ist überhaupt erst ein reflexives und zunehmend ausdifferenziertes Wissen um sich selbst möglich. Das braucht aber Zeit, anhaltende zwischenmenschliche Unterstützung, Sprachentwicklung und bestimmte neurobiologische Voraussetzungen (Harter 2015). (Darauf gehe ich später in diesem Kapitel noch detaillierter ein.) Zudem kann ein rein reflexives Selbstbewusstsein die Kontinuität eines persönlichen «Selbst» schwerlich erklären, verändern sich der Mensch und mit ihm sein Selbstbild doch ständig (vgl. Kap. 6). Sich anhaltend zu erkennen, basiert wesentlich auf präreflexivem Erleben. Nur wenn sich zum Beispiel bei akuten Psychosen das leibliche Empfinden, mithin das präreflexive Selbstbewusstsein, stark verändert oder auflöst, geht auch die Kontinuität des Selbsterlebens verloren (Scharfetter 2002). Bleibt jedoch das präreflexive Selbstbewusstsein auch im Krankheitszustand teilweise erhalten, kann ein Psychosekranker wahnhaft (reflexiv!) die Identität einer anderen Person annehmen und sich (präreflexiv!) trotzdem als sich selber fühlen. Der französische Philosoph Paul Ricœur hat diesbezüglich auf den Unterschied von Identität und Selbstsein (bzw. von IdemIdentität und Ipse-Identität) aufmerksam gemacht (vgl. Kapitel 6). Wer nach dem Selbstsein sucht, fragt nach dem Wer. Wer Identität bestimmen will, fragt nach dem Was.

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In der Philosophie, in der Psychologie und in den Neurowissenschaften werden noch andere Unterscheidungen getroffen und viele weitere Begriffe verwendet. Sie verweisen auf die Komplexität des Selbstbewusstseins, vor allem aber darauf, dass sich je nach Zugangsweise und Untersuchungsansatz verschiedene Konzeptionen des Selbstbewusstseins ergeben. Diese widersprechen einander teilweise, sodass sie keine Puzzleteile darstellen, die sich zu einem kohärenten Gesamtbild zusammensetzen lassen. Ihr Aneinanderreihen ergibt eher eine bunte Collage, deren Teile wie zusammengewürfelt sind. Eine gute Zusammenstellung vieler Begriffe findet sich bei Boessmann (2013). Eine komplexe Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzeptionen haben zum Beispiel Zahavi (2014) und Frank (2015) aus philosophischer Sicht verfasst.

Konzeptionelle Überlegungen aus psychiatrischer Sicht An dieser Stelle wäre es wohl angebracht, mein eigenes Selbstkonzept ausführlicher darzulegen. Ich möchte aber anders vorgehen und zunächst ausgewählte Probleme des Selbstbewusstseins bei psychisch kranken Menschen darstellen. Daran wird besser erkennbar sein, weshalb mir die in der Psychiatrie eher ungewohnte Unterscheidung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein so wichtig ist. Gleichzeitig ermöglicht mir diese Konzeption, auf eine Verdinglichung des «Selbst» weitest gehend zu verzichten und primär vom Erleben des Patienten und rückbezüglich auch vom Erleben des Therapeuten auszugehen. Als Psychiater und Psychotherapeut hat sich mir die Rückführung des «Selbst» auf präreflexive und reflexive Anteile aufgedrängt, weil psychisch kranke Menschen nicht nur durch überfordernde oder unrealistische Selbstbilder (reflexiver Art) in Bedrängnis kommen, sondern manche Krankheiten auch mit einer Beeinträchtigung des leiblichen und affektiven (präreflexiven) Selbstgefühls einhergehen. Präreflexiv beeinträchtigte 55

Menschen empfinden sich als körperlich verändert. Sie spüren sich meist weniger und empfinden oft eine innere Leere, manchmal gleichzeitig mit quälender Unruhe. Auch ihr Gefühlsleben ist abgeschwächt, wie erkaltet oder dumpf. Das kann dazu führen, dass sie sich selbst, aber auch ihre Mitmenschen und ihre Umwelt als entfremdet empfinden. Konsequenterweise möchten sie vor allem in ihrem veränderten Erleben verstanden werden. Auch wenn keineswegs ausgeschlossen ist, dass eine psychosoziale Problematik diese Leidensform ausgelöst hat oder weiter unterhält, kann therapeutisch über diese wesentliche präreflexive Veränderung nicht hinweggesehen werden. Sie hat sogar im Vordergrund zu stehen. Ist das körperliche und seelische Selbsterleben, mithin das präreflexive Selbstbewusstsein, wesentlich beeinträchtigt, sind die psychischen Folgen nicht nur anders, sondern oft auch weitreichender als diejenigen eines belastenden oder konflikthaften Selbstbildes. Deshalb sind auch die therapeutischen Ansätze an die vorherrschende präreflexive Problematik anzupassen. Neigt zum Beispiel ein Betroffener trotz starker präreflexiver Resonanzschwäche und Aktionshemmung dazu, seinen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzugehen, so ist er primär vor Selbstüberforderung zu schützen. Das kann besser gelingen, wenn sich ein Patient in seinem verpflichtenden Selbstbild vom Therapeuten verstanden, aber zugleich in seinem aktuellen Selbsterleben angenommen fühlt. Dazu ist meist weniger eine wortreiche Überzeugungsarbeit nötig als eine unaufdringliche Präsenz mit Verständnis für seine Situation. Ein Krankschreiben kann mehr nützen als ein vorschnelles Verschreiben von Medikamenten, auch wenn Antidepressiva indiziert sein können, um eine gewisse Distanzierung zur Problematik zu erreichen und den Schlaf zu verbessern. Die praktische Bedeutung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein zeigt sich übrigens auch aufseiten des 56

Therapeuten darin, wie er sich in die Problematik des Patienten einbeziehen lässt. So ist der unmittelbar einfühlend-anteilnehmende (präreflexive) Zugang meist Voraussetzung dafür, dass der mittelbar nachdenklich-reflexive Zugang beim Patienten das gewünschte Echo findet. Beide Zugänge sind aber im Behandlungsverlauf unabdingbar.

Zur Bedeutung des präreflexiven Selbstbewusstseins bei schweren Depressionen Was ich bisher in genereller Art dargestellt habe, möchte ich nun am Beispiel schwerer Depressionen vertiefen. Dazu zitiere ich Adrian Naef, der sich als Schriftsteller nach Aufhellung einer langanhaltenden schweren Depression mit seinem Leiden in Büchern auseinandergesetzt hat. Adrian Naef ist der Auffassung, dass «eine schwere Depression ein eigenes Phänomen mit einer komplett anderen Logik» ist und nicht mit depressiven Verstimmungen zu vergleichen ist (Naef 2011, S. 24). Er unterscheidet zwischen Nachtgängern und Taggängern und bringt so den Unterschied zwischen Menschen, die sich und die Welt noch deutlich wahrnehmen, und jenen schwer depressiven Menschen, die im Dunkeln tappen, weil ihre Sinne sie im Stich lassen, in ein treffendes Bild. Er schreibt: «Zwischen Nachtgängern und Taggängern – auch die leicht und mittelschwer Depressiven werden hier noch zu den Taggängern gerechnet – gibt es keine Verbindung. Man ist in diesem Feld auf der einen oder anderen Seite. Entweder gibt es noch einen Lichtschimmer in der Kammer, der die alte Ordnung erkennen lässt, oder es ist gleichsam stockdunkel und vorbei mit jeder bekannten Struktur. […] Und was nützen dem Verpuppten seine eigenen rettenden Gedanken, die doch nur ein Zurückdenken können, wo es doch mit ihm jetzt einfach zu geschehen hat, damit er eine Zukunft habe, die eben mangels Vorlage nicht zu denken ist?» (ebd., S. 60f.)

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Tatsächlich ist das Selbsterleben bei schwer depressiven Menschen so geschwächt, dass sie sich nicht mehr richtig spüren können. Adrian Naef vergleicht diesen Verlust der Lebendigkeit mit dem Ausrollen eines Autos, nachdem das Benzin ausgegangen ist, oder mit einem Untoten im Reiche der Lebenden. Die affektive Leere und der Verlust der Sinnlichkeit führen dazu, dass sich ein schwer depressiver Mensch manchmal wie eine seelenlose Maschine, wie ein Schatten seiner selbst oder sogar wie eine lebende Leiche erfährt, eben wie tot mitten im Leben. Dabei bleibt es aber nicht. Das Hirn arbeitet weiter und stellt tausend Fragen, die alle nicht lösbar sind. Hoffnungslosigkeit stellt sich ein. Dabei muss das Denken nicht verwirrt sein, sondern kann mit logischer Stringenz auf den erfahrenen Abgrund und die düstere Zukunft ausgerichtet sein. Auch wenn Störungen des Denkens und Erinnerns auftreten, sind sie in der Regel nicht Ursache, sondern hauptsächlich Folge und Ausdruck der depressiven Devitalisierung. Nun könnte man annehmen, dass eine Schwächung des präreflexiven Selbsterlebens auch das Leiden vermindern würde. Fast nichts zu empfinden und zu fühlen, müsste doch auch den Schmerz nehmen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Denn der schwer depressiv erkrankte Mensch nimmt bewusst wahr, was er verloren hat. Er stellt seinen Gefühls- und Antriebsverlust auf vernichtende Art fest. Diese bewusst erfahrene Ohnmacht verändert auch seine reflexive Selbsteinschätzung. Es lässt das Selbstbild aus der Zeit vor seiner Erkrankung (zum Beispiel ordentlich und tüchtig zu sein) als absurde Täuschung erscheinen. An seine Stelle tritt eine abgründige Leere oder, um überhaupt noch jemand zu sein, ein ins Extreme gesteigertes negatives Bild seiner selbst (zum Beispiel die wahnhafte Vorstellung, ein Simulant, Lügner oder Verbrecher zu sein).

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Herr Roland, ein 68-jähriger pensionierter Hochschullehrer, suchte in schwerer gehemmter Depression bei mir Hilfe. Er hatte schon früher depressive Episoden durchgemacht, die jeweils von Fachkollegen mit Antidepressiva behandelt wurden und auch wieder abklangen. Allerdings hatte sich der Patient von der letzten Depression vor vier Jahren nie mehr ganz erholt. Der hoch gebildete und auch handwerklich begabte Patient schilderte seine Problematik konzis in fast lehrbuchartiger Weise. Im Gespräch imponierte er mir durch seine detaillierten Kenntnisse über das Werk von C. G. Jung. Er sprach aber spontan wenig über seine Lebensgeschichte, auch wenn er diesbezügliche Fragen kurz und präzise beantwortete. Er wünschte vor allem eine medikamentöse oder eine andere biologische Behandlung, weil er sich nur davon eine Besserung versprach. Im Laufe der Behandlung, bei der ich zunächst wunschgemäß auch ein neues Medikament einsetzte, lernte ich den Patienten lebensgeschichtlich besser kennen. Das Sprechen fiel ihm aber immer schwer. Er war stark verlangsamt und hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Zudem litt er darunter, dass er sich nicht so gewandt und differenziert äußern konnte, wie er es gewohnt war und wie er es vor allem von sich erwartete. Deshalb hielt er sich lieber zurück. Dennoch kamen nach und nach vertiefte Gespräche zustande, die es dem Patienten ermöglichten, seine Einschränkungen, die ihm so sehr zu schaffen machten, zu kommunizieren. Er zeigte mir auf, wie sehr es für ihn aus biografischen Gründen wichtig sei, selbstständig zu sein und autonom zu handeln, und wie er sich als totaler Versager fühle, wenn ihm dies verwehrt war. Ebenso schlimm sei es für ihn, wenn er keine Ordnung halten könne. Das sei für ihn, als verliere er die Kontrolle über sein Leben. All dies mache ihm sehr zu schaffen . Es gelang dem Patienten zwar, nach außen hin sein abgründiges Leiden zu verbergen und einen distinguierten Eindruck zu machen. Doch erlebte er sich selbst als gescheitert. Jeden Tag versuchte er einen bestimmten Tagesplan an Tätigkeiten einzuhalten, scheiterte aber meist daran, obwohl er dieses Tagessoll schon mehrfach reduziert hatte. Jeder missglückte Versuch, zum Beispiel einen kurzen Spaziergang zu machen oder einkaufen zu gehen, bedrückte ihn noch mehr. Dabei

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zweifelte er nicht daran, dass er unter einer ihn hemmenden und zeitweise blockierenden Depression litt. Doch verhinderte dieses Wissen nicht, dass er unter der depressionsbedingten Einschränkung von Selbstständigkeit, Ordentlichkeit und Selbstkontrolle enorm litt. Er fühlte sich dadurch wie ausgesetzt und entblößt. Zum depressiven Leiden trug auch bei, dass Herr Roland zwar weiter klar denken konnte, sein Denken aber von der depressiven Gestimmtheit negativ beeinflusst wurde und er sich dadurch noch kritischer und zum Teil destruktiv beurteilte. So machte er sich große Selbstvorwürfe, wenn er jemanden unverschuldet auch nur wenige Minuten warten ließ. Oder er warf sich skrupulös vor, sich in Alltagsangelegenheiten ungenau oder missverständlich ausgedrückt und damit jemanden in die Irre geführt zu haben. Diese Selbstvorwürfe steigerten sich sogar vereinzelt ins Wahnhafte, er habe sich so sehr versündigt, dass er dafür gerichtlich behaftet und bestraft werden müsse. Solche Gedanken brachten wohl zum Ausdruck, wie sehr Herr Roland darum rang, in aller depressiv bedingten (präreflexiven) Selbstentfremdung dennoch (reflexiv) selbst verantwortlich zu bleiben. Sie können aber auch darauf hinweisen, wie wichtig Körperempfindungen und Gefühle sind, um jemanden in der Realität zu verankern und damit zu vermeiden, dass sich das Denken von basalen Sinnesreizen ablöst und sich verselbstständigt. Herr Roland hatte ein Sensorium für solche Zusammenhänge, auch wenn er in der schweren Depression mit ganz anderem als mit konzeptionellen Fragen kämpfen musste. Seine eingangs erwähnte somatische Einstellung ist nicht biologistisch. Vielmehr hat er intuitiv gespürt, dass es bei ihm darum geht, sich körperlich wieder besser zu spüren. Auf eine Psychotherapie konnte er sich einlassen, als er wahrnahm, dass Präreflexives auch Gegenstand einer Psychotherapie sein kann.

Das präreflexive Selbstbewusstsein geht jedoch auch in tiefer Depression nicht ganz verloren. Ein minimales Selbstbewusstsein bleibt. Sonst könnte der depressive Mensch keine Bedrücktheit und Verzweiflung bewusst wahrnehmen. Doch der 60

Charakter seines Erlebens verändert sich. Das Leben verliert an Farbe, wird grau und dunkel. Gefühle können kaum mehr empfunden werden. Auch schwer zu ertragende Gefühle wie tiefe Traurigkeit fehlen, sodass Tränen nicht mehr fließen können. Wenn Traurigkeit vereinzelt dennoch auftritt, so ist sie nicht depressionsbedingt, sondern ein Zeichen von Vitalität, gleichsam eine Insel im sonst landlosen Meer. Nur von affektiver Leere zu sprechen, wird dem depressiven Leiden allerdings nicht ganz gerecht. Depression ist auch eine Last, die als schwer und niederdrückend erfahren wird. Dazu kann, wie dargelegt, das Bewusstsein des Verlustes an bisheriger Lebenskraft beitragen. Schwer depressive Menschen schildern uns aber noch eine andere Belastung: Sie erfahren sich als ins Leben geworfen, ohne es gestalten und zwischenmenschlich teilen zu können. Sie möchten sich im Leben verwirklichen oder fühlen sich verpflichtet, bestimmten Aufgaben nachzukommen, stellen aber fest, dazu keine Möglichkeit zu haben. Ebenso schlimm ist die Erfahrung, zwar grundsätzlich frei entscheiden zu können, aber zu einer Entscheidung überhaupt nicht fähig zu sein. Die vitale Willenshemmung wird von vielen depressiven Menschen auch deshalb als so belastend erfahren, weil sie dadurch behindert werden, autonom zu sein. Diese spezifisch moderne Problematik ist aber nur Teil eines größeren Problems. Es wird das menschliche Grundbedürfnis frustriert, aktiv tätig zu sein, welches bereits Kleinkinder haben, wenn sie Dinge ergreifen und sich auf die Umwelt ausrichten. Mit dem Gefühlsverlust und der Aktionshemmung verlieren depressive Menschen eine Sinn gebende Bezogenheit auf die Umwelt. «Ich lebe nicht, ich werde gelebt», sagt ein Kranker. Viele andere würden ihm wohl beipflichten, weil sie den Eindruck haben, nicht mit Leib und Seele tun zu können, was sie sich eigentlich wünschen. Man kann in altertümlichem Deutsch auch treffend sagen: Sie 61

«wesen» nur. Es fehlt ihnen, was das Leben erfüllend macht. Manche leiden auch daran, dass sie überhaupt am Leben sind. Diese existenzielle Tiefe des Leidens geht über das Leiden an einem Verlust hinaus. Es zeigt, dass bloß zu sein dem Leben keinen Sinn gibt. Über das «Sein» haben sich Existenzphilosophen viele Gedanken gemacht. Sie haben das «Sein» zum Beispiel von «Seiendem» abgegrenzt. Für Jean-Paul Sartre ist das reine «Sein» als (coenästhetische) Grundbefindlichkeit eine fade und farblose Zufälligkeit, ein bloßes Bewusstsein der faktischen Existenz (Sartre 2014 [1943]). Er hat diese Grundbefindlichkeit bloßen Seins auch als leisen, aber unüberwindlichen Ekel (nausée) beschrieben. Der französische Existenzphilosoph Emanuel Lévinas hat von einer unruhigen Plage des bloßen Daseins gesprochen, eines Unwohlseins, das keine andere Ursache als das bloße Sein selbst hat (Lévinas 1982). Dieses Sein hat er ähnlich wie Sartre als bloße Faktizität (als ein inhaltsloses «es gibt» oder «il y a») bezeichnet.

In der Philosophie- und Psychiatriegeschichte findet seit über hundert Jahren eine Auseinandersetzung darüber statt, wie weit das Bewusstsein von diesem leiblichen Sensorium beherrscht wird und inwieweit es von sprachlichen und kulturellen Einflüssen bestimmt wird (Starobinski 1991). Sigmund Freud neigte zur kulturellen Hypothese, anerkannte aber in «Trauer und Melancholie» (Freud 1917), dass (nach heutiger Nomenklatur) der schwer Depressive vom melancholischen Typ im Gegensatz zum Trauernden unter einer Störung des Selbstgefühls leidet. Meines Erachtens kann die Erlebensqualität bloßen Seins, wie sie von phänomenologischen Existenzphilosophen herausgearbeitet wurde, zum Verständnis schwer depressiven Erlebens wesentlich beitragen. Sie kann aber die Schwere dieses Leidens allein nicht begründen. Dazu ist nötig, auch die Persönlichkeit und den Lebenshintergrund betroffener Menschen zu berück62

sichtigen. So kann eine überaus große Ordentlichkeit eines sehr pflichtbewussten Menschen seine Lebensqualität von vornherein begrenzen und dazu führen, dass das Scheitern an einer Pflichterfüllung besonders gravierende Folgen hat (Tellenbach 1983, Kraus 1977). Auch anhaltend große Belastungen können die existenzielle Malaise eines Menschen vertiefen. Der Weg in eine schwere Depression kann also verschieden sein. Doch an der spezifischen Qualität schwer depressiven Leidens und damit einer präreflexiven Problematik ist nicht zu zweifeln. Aus der Begleitung vieler depressiver Menschen schließe ich, dass die Schwierigkeit, sie zu verstehen, oft weniger in ihrem negativen Denken als im Verlust ihrer Affektivität und ihrer Vitalität liegt. Dieser Verlust macht das emotionale Mitschwingen für andere sehr schwierig, umso mehr als durch die generelle Verlangsamung depressiv erkrankter Personen auch die leib-seelische Resonanz beeinträchtigt wird. So ist in Untersuchungen an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wiederholt nachgewiesen worden, dass die Muskelkraft, die Mimik und die Stimme desto mehr geschwächt sind, je schwerer eine Depression ist (Hell 2013). Bildlich gesprochen gleicht die depressive Blockade einem unwillkürlichen und länger anhaltenden «Totstellreflex». Eine begleitende mentale Problematik kann zwar das Leiden vertiefen, vor allem wenn einem schwer depressiven Menschen das Scheitern an seinem Selbstbild schmerzlich bewusst wird. Doch liegt der Hauptgrund seines Leidens in der affektiven Herabgestimmtheit und der generellen Aktionshemmung. Meines Erachtens weist nun diese bittere Erfahrung schwer gehemmt depressiver Menschen darauf hin, dass es gerade in Psychiatrie und Psychotherapie wichtig ist, das «Selbst» nicht nur kognitiv und damit reflexiv zu verstehen, sondern es auch leib-seelisch bzw. präreflexiv zu bedenken.

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Es ist ja nicht so, dass in der Selbstentwicklung des Menschen das reflexive Selbstbewusstsein das präreflexive ablösen würde. Letzteres geht zwar in der menschlichen Entwicklung dem Ersteren voraus. Aber das präreflexive Selbstbewusstsein ist deshalb nicht auf die Kindheit beschränkt. Es bleibt im ganzen Leben die unabdingbare Grundlage für die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Das Nachdenken über sich selbst, die Entwicklung eines Selbstkonzeptes oder eines Selbstbildes wie auch die Selbstbeurteilung benötigen das präreflexive Selbstbewusstsein als ihre Basis, nämlich als ein Bewusstsein von sich. Der Mensch könnte sich keine Gedanken über sich machen, wenn er sich nicht schon vorbegrifflich seiner selbst bewusst wäre. Jean-Paul Sartre drückt diesen Umstand so aus, dass das präreflexive Selbstbewusstsein keine objektive Erkenntnis, sondern lediglich Bewusstsein von sich sei. Es wisse um sich, aber nichts Konkretes von sich. Das präreflexive Selbstbewusstsein bleibe leer, aber dadurch transparent für Gegenständliches, das in ihm erscheinen und erkannt werden könne (Sartre 2014 [1943]). Damit vermeidet Sartre, das Selbstbewusstsein zu einem Objekt oder zu einem Auge zu machen, das nach innen schaut. Er bleibt in seiner Analyse am Erlebbaren oder Phänomenalen orientiert, allerdings auch auf Kosten einer Erklärung, wie sich das Reflexive mit dem Präreflexiven kontinuierlich verbinden kann.

In diesem Sinne ist das reflexive Selbstbewusstsein, das auch als Selbsterkenntnis bezeichnet wird, sekundär. Es ist im wesentlichen Ausmaß an Sprache, Kultur und Mitwelt gebunden. Es spiegelt mindestens in der kindlichen Entwicklung vor allem wider, wie jemand von Mitmenschen gesehen wird. Denn auch die Reflexion über sich selbst ist primär daran gebunden, etwas von außen wahrzunehmen. So gibt das berühmte Sich-Erkennen im Spiegel nur ein äußerliches (und verkehrtes) Bild wieder. Auch darüber, wie man sich fühlt, kann man erst nachden64

ken, wenn das unmittelbare Fühlen zu einem Gefühlten (in der Vergangenheitsform) geworden ist – eben zu einem Gefühl, wie die Sprache richtig festhält. Trotzdem ist die Selbstreflexion von größter Bedeutung. Wie ein Mensch im sozialen Spiegel von Mitmenschen anerkannt wird und wie er sich darin wiedererkennt, hat Einfluss auf sein Selbstbewusstsein. Auch wie er ein eigenes Gefühl, etwa seine Traurigkeit oder sein Sich-Schämen, beurteilt, hat Einfluss auf sein weiteres Fühlen. Die Reflexion kann mithin hemmend oder verstärkend auf das präreflexive Selbsterleben zurückwirken.

Die Entwicklung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein Für einen solchen Zusammenhang von reflexivem und präreflexivem Selbstbewusstsein sprechen neben den erwähnten klinischen Beobachtungen insbesondere die Beobachtungen und Befunde der Entwicklungspsychologie. So hat die genaue Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern (unter Einschluss bestimmter Experimente) dazu geführt, dass die moderne Entwicklungspsychologie von einem kindlichen Selbstbewusstsein schon in den ersten Lebensmonaten ausgeht. Dieses Selbstbewusstsein wird zwar unter Begrifflichkeiten wie «auftauchendes Selbst» oder «Kernselbst» (Stern 2007) beschrieben. Doch besteht kein Zweifel, dass damit ein präreflexives Selbstbewusstsein gemeint ist, wird doch das Selbstbewusstsein hauptsächlich auf sensomotorische und affektive Fähigkeiten zurückgeführt. Dieses präreflexive Selbstbewusstsein wird als Basis für die weitere kognitive bzw. reflexive Entwicklung eingeschätzt. Auch wenn das ein- bis zweijährige Kleinkind sich selbst in reflexiven Akten noch nicht erkennen kann, ist es doch offensichtlich sei-

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ner gewiss. Auf dieser präreflexiven Grundlage ist überhaupt erst ein reflexives und zunehmend ausdifferenziertes Wissen um sich selbst möglich. Das braucht aber Zeit, anhaltende zwischenmenschliche Unterstützung, Sprachentwicklung und bestimmte neurobiologische Voraussetzungen. Dabei haben fortgeschrittene Untersuchungsansätze (vgl. Harter 2015) aufgezeigt, dass die reflexive Selbsterkenntnis zuerst nur isolierte Teilbereiche des Kindes betrifft, zum Beispiel körperliche Eigenschaften wie Augenfarbe und Geschlecht («Ich habe blaue Augen und bin ein Bub») oder physikalische Fähigkeiten wie Gehen und Laufen («Ich kann schnell rennen»). Auch einfache Emotionen wie Freude können erkannt werden. Aber diese isolierten Selbstaspekte bilden noch keine zusammenhängende, kohärente Selbstvorstellung. Das drei bis vierjährige Kind kann sich deshalb kaum mit anderen Menschen vergleichen, auch wenn es sich durchaus empören kann, wenn es benachteiligt wird. Es unterscheidet noch nicht zwischen einer idealen und realen Selbstvorstellung und neigt zur Selbstüberschätzung und zum Schwarz-weiß-Malen. Es kann aber zunehmend verstehen, was andere von ihm erwarten. In dieser vorschulischen Entwicklungsphase bleibt deshalb trotz wachsender Reflexivität das präreflexive Selbstbewusstsein noch besonders wichtig und verhaltensbestimmend. Erst im frühen Schulalter ab dem 5. Lebensjahr wird das Selbstbild kohärenter und umfassender, sodass Vergleiche mit anderen möglich werden und die Einschätzung des Selbstwertes eine größere Bedeutung bekommt. Damit wird auch der soziale Druck stärker. Das reflexive Selbstbewusstsein wird über die Jahre immer wichtiger. Knapp zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: «Hat sich das Kind im ersten Lebensjahr nur leib-seelisch wahrgenommen und auch die Mitwelt vor allem als vertraut oder fremd empfunden, so lernt es im

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zweiten Lebensjahr, sich noch anders zu sehen. Es erkennt sich nun beispielsweise auch in seinem Abbild im Spiegel. Zum inneren Selbsterleben kommt eine ‹exzentrische Positionalität› (Plessner 1975) hinzu. Das Kind kann sich nach dieser Wende nun [schrittweise] auch selbst reflektieren und hat somit fortan einen doppelten Bezug zu sich, nämlich erstens – wie früher – ein ungebrochenes Erleben und körperliches Spüren (ein präreflexives Selbstbewusstsein) und zweitens eine reflexive Wahrnehmung von sich selbst (ein reflexives Selbstbewusstsein).» (Hell 2021, S. 52) Dieser Doppelaspekt des «Selbst» ist von grundlegender Bedeutung. Man kann zwar in diesem Doppelaspekt eine Analogie zur bekannten Unterteilung des «Selbst» als «I» and «me» beziehungsweise als «I-self» und «Me-self» von James und Mead sehen (vgl. Kap. 2). Doch ist die Grundkonzeption eine andere. Mit präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein ist keine Vorstellung von Substanzen und kein Subjekt-Objekt-Verhältnis (von «ich» zu «mir») gemeint, sondern es wird von unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen der gleichen Person ausgegangen, die sich miteinander verbinden. Näher liegt diesem Selbstkonzept die philosophische Unterscheidung einer Perspektive der ersten Person (was innerlich wahrgenommen bzw. gespürt wird) und einer Perspektive der dritten Person (was von außen beobachtbar ist). Doch gibt es auch diesbezüglich Unterschiede, weil zum Beispiel die (phänomenale) Erste-Person-Perspektive nicht ausreicht, um selbstbewusst zu sein, ohne dass ein Bezug zu sich selbst hinzukommt. Dabei gehe ich davon aus, dass die verschiedenen Zugangsweisen zu sich selbst im Menschen angelegt sind. Neurobiologisch dürfte das präreflexive Selbstbewusstsein hauptsächlich mit älteren subkortikalen Hirnarealen korrelieren (Solms 2021), das reflexive Selbstbewusstsein hingegen mit neueren kortikalen Arealen assoziiert sein (Nordhoff und Bermpohl 2004).

Die dargestellten Zusammenhänge verweisen darauf, dass das präreflexive Bewusstsein gleichsam den Kern des «Selbst» bildet, um den sich reflexive Selbstaspekte anordnen. Dieses

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«Zwiebelmodell» des «Selbst» hat wohl schon Charlotte Bühler (1893–1974), Abraham Harold Maslow (1908–1970) und anderen Vordenkern einer humanistischen Psychologie und Psychiatrie vorgeschwebt, ohne dass sie es in dieser Stringenz formulierten. Das «Zwiebelmodell» entspricht aber vor allem den kurz dargestellten Befunden der Entwicklungspsychologie, die von einem körperbezogenen Selbstbewusstsein ausgeht, um dessen Zentrum sich zunehmend selbstbezogene Reflexionen und von Mitmenschen beeinflusste Selbstvorstellungen ablagern. «Es ist eine Entwicklung, in der sich das Kind allmählich aus seiner undifferenzierten Welt löst, um gleichzeitig Beziehungen mit ihr einzugehen.» (Fuhrer et al. 2000, S. 55) So ansprechend der Vergleich des «Selbst» mit der schalenartigen Anordnung einer Zwiebel auch ist, er hinkt. Denn die verschiedenen Bewusstseinsebenen sind nicht voneinander unabhängig, sondern bilden ein Netzwerk. Worauf der Zwiebelvergleich aber hinweisen kann, ist die organische Entwicklung verschiedener Entwicklungsstufen, die aufeinander folgen und eine präreflexive Basis haben. Ich betone dies, weil dem präreflexiven Kerngeschehen wohl eine größere Bedeutung zukommt, als heute meist angenommen wird. Um es nochmals am Beispiel der schweren Depression zu betonen: Wesentliche Elemente der depressiven Störung sind auf präreflexiver Ebene auszumachen. Das schließt nicht aus, dass eine reflexive Selbstwertproblematik zur depressiven Entwicklung beitragen kann. Schließlich beeinflussen Affekt und Kognition einander. So verstärkt negatives Denken eine gedrückte Stimmung, wie auch umgekehrt Bedrücktheit negative Gedanken fördert. Dadurch kann ein Teufelskreis entstehen; Affekt und Kognition schaukeln sich negativ hoch. Diese Wechselwirkung kann sich besonders ungünstig auswirken, wenn jemand durch eine frühkindliche (und präreflexive) Bin-

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dungsstörung in seinem Empfinden und Fühlen besonders verletzbar ist.

Konsequenzen für die Behandlung Diese Zusammenhänge machen die Therapie schwerer depressiver Episoden (vom sogenannten melancholischen Typ) besonders herausfordernd. Wichtig ist eine tragende therapeutische Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Sie kann sich jedoch nur langsam auswirken, weil zunächst die präreflexive Resonanzfähigkeit des Kranken beeinträchtigt ist. Deshalb braucht es neben medikamentösen Therapien oft körperorientierte Behandlungsansätze, die mithilfe von aktiver und passiver Bewegung, körperlicher Berührung, Musik, Tanzen, Wärmeapplikation oder Gestaltungstherapie dazu beitragen, dass sich der Patient unmittelbarer spürt. Auch verschiedenste sportliche Aktivitäten können das Körpergefühl stärken und die Gestimmtheit positiv beeinflussen. Solche körperbezogenen Therapien gehören heute zum Angebot psychiatrischer Kliniken. Sie wirken sich hauptsächlich auf das präreflexive Selbstbewusstsein aus, auch wenn sie noch kaum so indiziert werden. In psychotherapeutischen Gesprächen muss nicht viel und schon gar nicht schnell gesprochen werden. Aber der depressive Kranke ist darauf angewiesen, dass seine Befindlichkeit wahrgenommen wird und der Therapeut aktiv auf ihn eingeht, sodass der Patient sich nicht ganz selbst überlassen ist. Erst wenn es dem depressiven Menschen deutlich besser geht, kann sich der Therapeut zurücknehmen und dem Patienten mehr Eigeninitiative zumuten. Günstig ist, wenn der Patient spürt, dass sein Erleben unhinterfragt angenommen wird. Diese Empfehlungen und Anschauungen sind nicht unbedingt neu. Aber sie sind heute besser untersucht und lassen sich

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kohärenter in ein neues Selbstkonzept einordnen. Zudem haben sich die Bedingungen für ihre Umsetzung verbessert. Schon in der «klassischen» Psychiatrie vor ihrer Modernisierung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde versucht, depressive Patienten aus ihrer Blockade zu befreien. Intuitiv wurde bereits angenommen, dass es therapeutisch darum geht, das leib-seelische Erleben zu wecken. Doch wurden dazu oft Schockmethoden auch grausamer Art angewandt. So wurden gehemmt depressive Menschen im 19. Jahrhundert in einem Drehrad herumgewirbelt, in der Erwartung, damit ihre Lebensgeister zu aktivieren. Bis ins 20. Jahrhundert wurden depressive und psychotische Menschen in ein Deckelbad eingeschlossen, damit sie sich besser spüren sollten. Bei dieser «Kur» wurden Patienten bei Wassertemperaturen zwischen zwanzig und dreißig Grad Celsius viele Stunden am Tag in der Badewanne festgehalten. Mit analoger Absicht wurden Menschen auch in nasse Tücher eingewickelt und mit Wolldecken gewärmt. Aber schon früh im 19. Jahrhundert wurden auch sanftere Methoden angewandt, um mit Überwärmung des menschlichen Körpers gestörte innere Organe günstig zu beeinflussen. So gingen Kneipp und andere Ärzte davon aus, dass eine Überwärmung nicht nur physische Reaktionen im Körper auslösen würde, sondern auch auf die Psyche positive Auswirkungen habe. Bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. wandte der kaiserliche Leibarzt Galenos von Pergamon die Überwärmung zur Therapie von Melancholien an. Er badete seine melancholisch erkrankten Patienten in heißem Wasser und massierte sie (Hanusch 2013).

Heute werden diese Ansätze mit modernsten Methoden neu versucht und ihr Effekt überprüft. Eine solche Untersuchung, bei der die Körpertemperatur depressiver Patienten während knapp zwei Stunden mit Infrarot auf 38.5 Grad Celsius erhöht wurde, zeigte im Vergleich zu einer Placebo-Vergleichsgruppe

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erstaunlich langanhaltende positive Resultate (Janssen et al. 2016). Neben Überwärmung werden auch Kältekammern mit minus 100 Grad Celsius für wenige Minuten eingesetzt. Dieser Kälteschock, auch Kryotherapie genannt, dem man sich freiwillig aussetzt, soll eine aktivierende Wirkung haben. Er wird beispielsweise in einzelnen Burn-out-Kliniken angewandt. Eine andere Art der Schocktherapie, die mit Wärme- und Kältemethoden nicht vergleichbar ist, ist die Elektrokonversion-Behandlung. Sie wurde erstmals 1938 vom italienischen Psychiater Ugo Cerletti (1877–1963) ohne Narkose angewandt, um einen epileptischen Grand Mal-Anfall auszulösen. Cerletti sah im elektrisch ausgelösten Krampf und im Schock eine Wirkungskomponente. Deshalb auch der von ihm gewählte Name «Elektroschock». Heute wird die elektrische Reizung des Gehirns in Narkose und Muskelrelaxation vor allem bei schwer depressiv erkrankten und medikamentös therapieresistenten Patienten durchgeführt. Auch wenn der psychische Schock entfällt, kann diese Methode therapeutisch erfolgreich sein. Andere Schockmethoden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel der Insulin- oder Cardiazol-Schock, haben sich nicht durchgesetzt. Sie lösten bei Betroffenen oft Angst und Schrecken aus und gingen mit schweren körperlichen Nebenwirkungen einher. Zu ihrer Ablösung trug hauptsächlich die Einführung moderner Psychopharmaka, vor allem von Neuroleptika und Antidepressiva, in den 1950er-Jahren bei.

Interessanterweise wird heute bei den neurowissenschaftlichen Therapieansätzen kaum von einer Beeinflussung des präreflexiven Selbstbewusstseins gesprochen. Die meisten Behandlungskonzepte von Depressionen gehen von biochemischen Ungleichgewichten, von neuronalen Defiziten sowie von Netzwerkstörungen im Gehirn aus. Was die Netzwerkstörungen betrifft, richtet sich das Augenmerk besonders auf eine gestörte Zusammenarbeit von tie71

fer gelegenen Arealen (wie das limbische System mit dem Mandelkern), die für die Emotionalität wichtig sind, und höher gelegenen Hirnzentren (wie Teilen des Stirnhirns), die exekutive und regulierende Funktionen haben. Im Grunde handelt es sich aber bei dieser Verbindungsstörung um eine Problematik, die den Zusammenhang von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein betrifft und sich nachteilig auf beide auswirken kann. Wenn heute in der Therapieforschung von Selbstbewusstsein gesprochen wird, so geschieht dies hauptsächlich im Zusammenhang mit psychedelischen Drogen (LSD, Psilocybin u. a.), die bekanntlich mit Bewusstseinsveränderungen in Zusammenhang gebracht werden. Diese aktuellen Therapieansätze in der Depressionsforschung können als gezielter Versuch gedeutet werden, das Selbstbewusstsein bzw. den Wachbewusstseinszustand therapeutisch zu modulieren. Interessanterweise aktiviert Psilocybin schwer zugängliche Emotionen, verstärkt das Wahrnehmen von Sinneseindrücken – kann diese auch miteinander koppeln (sogenannte Synästhesie) –, schwächt vorherrschende negative Denkmuster, fördert das Einheitserleben und vermindert die Selbstabgrenzung (Vollenweider und Preller 2020). Mithin wird das bei einer schweren Depression beeinträchtigte präreflexive Erleben gefördert, die depressionstypische Konzentration auf negative Reflexionen gehemmt und die Verbundenheit mit sich und anderen gestärkt. Erste kontrollierte und randomisierte Studien zeigen denn auch eine positive Wirkung der Behandlung von depressiven Episoden mit Psilocybin (Davis et al. 2021). Auch wenn es zu früh ist, um diese Behandlungsweise bereits umfassend zu beurteilen, könnte sie doch Neues in Bewegung setzen und das Therapiekonzept von Depressionen um Aspekte des präreflexiven Selbstbewusstseins bereichern. Plötzlich bewilligen Regierungsorganisationen (wie die FDA) beschleunigte Studienprogramme mit Psilocy-

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bin, während sie vorher während Jahrzehnten diese Forschung behindert haben. Dabei sind solche Therapien vom Ansatz her alt, wurden doch schon von indigenen Gemeinschaften und Heilern halluzinogene Pilze angewandt, um psychische Probleme in einem bestimmten Setting zu behandeln. Ebenso alt sind Gruppenrituale mit ekstatischem Tanzen und rhythmischer Musik. Auch Berührungen spielen seit jeher eine wichtige Rolle. Heute gehören sie in manualisierter Anwendung – zum Beispiel Massage oder Shiatsu – zum Standard körperorientierter Behandlungen in der Psychiatrie.

Die Bedeutung des reflexiven Selbstbewusstseins bei leichteren Störungen Bisher bin ich am Beispiel der Depression auf schwere Störungen des Affektes und der wahrgenommenen Körperlichkeit eingegangen. Schwere Depressionen vom melancholischen Typ, die früher als endogen eingeschätzt wurden, sind aber selten. Viel häufiger sind depressive Episoden ohne schwere Devitalisierung und ohne ausgeprägte psychomotorische oder vegetative Einbußen. Dabei macht betroffenen Menschen vor allem das eigene Selbstbild oder eine soziale Belastung zu schaffen. Mithin liegt die Problematik hauptsächlich auf der Ebene des reflexiven Selbstbewusstseins, auch wenn das präreflexive Selbstbewusstsein in geringerem Ausmaß mit betroffen ist. Auch bei vielen nicht-depressiven psychischen Erkrankungen ist die Störung des Selbstbewusstseins primär reflexiver Art. So leiden zum Beispiel Menschen mit sozialen Phobien und anderen Angststörungen hauptsächlich an der Diskrepanz von erwünschten oder idealen Selbstvorstellungen und enttäuschender Realität. Sozialphobische Menschen ängstigen sich, dass sie 73

von Mitmenschen abgewertet oder belächelt werden könnten. Panikkranke befürchten ein Versagen körperlicher Organe, beispielsweise dass sie keine Luft bekommen oder ihr Herz stillstehen könnte. Was ihnen zu schaffen macht, sind bedrohliche Gedanken und unrealistische Vorstellungen. Allerdings können ihre Befürchtungen auch körperliche Missempfindungen wie Herzschmerzen oder Atemnot auslösen oder verstärken. Doch sind diese körperlichen Veränderungen durch eine vegetative und sensorische Aktivierung charakterisiert und nicht durch einen Mangel an Empfindungen. Wenn ihre Befürchtungen abnehmen, gehen auch ihre körperlichen Missempfindungen zurück. Anders als bei schweren Depressionen ist somit bei Angststörungen und anderen neurotischen und Belastungsstörungen das präreflexive leibliche Erleben meist nicht geschwächt, sondern verstärkt. Neben Angst werden je nach Störung auch Gefühle wie Ärger, Ekel, Traurigkeit oder Scham intensiv erfahren. Zugleich ist die körperliche Erregung sehr häufig gesteigert, sodass psychosomatische Begleitsymptomen auftreten können. Besonders eindrücklich ist, wie bei posttraumatischen Belastungsstörungen die auslösenden traumatischen Erlebnisse in Flashbacks wieder erlebt werden. Dabei kann das Erfahrene mit allen Sinnen – optisch und auditiv, aber auch taktil und olfaktorisch sowie propriozeptiv – nochmals durchgemacht werden. Man spricht zwar von Arousal, aber das Wiedererleben ist hyperrealistisch und stellt nicht bloß einen Erregungszustand dar. Das präreflexive Erleben kommt ungehindert von Reflexionen zum Ausdruck. Deshalb ist im Moment von Flashbacks auch keine kognitive Beeinflussung möglich. Psychotherapeutische Gespräche können nur nachträglich den Umgang mit dem Trauma günstig beeinflussen.

Die affektive und körperliche Aktivierung kann zum Beispiel in Pulsanstieg, Lufthunger, Schwindel, muskulären Verspannun74

gen oder in einem Druckgefühl über dem Herzen zum Ausdruck kommen. Diese vegetativ bedingten Symptome können zwar auch beunruhigen, anders als bei akutem Flashback oder großer Panik schließen sie aber bei leichten und mittelschweren Störungen ein klärendes Gespräch nicht aus. Diagnostisch werden diese Beschwerden – nach Ausschluss einer körperlichen Erkrankung – meist mit einem erhöhten Stresspegel oder einer Konfliktsituation in Zusammenhang gebracht und entsprechend auch oft im weiteren Sinne psychotherapeutisch behandelt. Denn es ist naheliegend, dass persönliche Schwierigkeiten die betroffenen Menschen erregen und auch gedanklich nicht zur Ruhe kommen lassen. Gerade anhaltendes Grübeln und Hadern kann die körperliche Erregung und die unangenehme Affektlage noch verstärken und zu einem Teufelskreis von körperlichen Missempfindungen und mentalem Sich-Sorgen beitragen. So kann beispielsweise eine anspannungsbedingte Zunahme des Herzschlages die Befürchtung auslösen, an einer Herzkrankheit zu leiden, was wiederum den Herzschlag beschleunigt und die Befürchtung, herzkrank zu sein, weiter verstärkt. Die empirische Forschung hat vielfach nachgewiesen, dass für die Entwicklung von Belastungsstörungen wie auch von psychosomatischen Erkrankungen nicht nur die unmittelbaren Sinnesreize eine Rolle spielen, sondern es von entscheidender Bedeutung ist, wie jemand diese interpretiert (Rudolf und Henningsen 2018). Die Prognose hängt wesentlich davon ab, welche Einstellung jemand zu den unangenehmen Sinneseindrücken und der damit zusammenhängenden Belastung hat und welche Haltung er gegenüber der auftretenden Symptomatik einnimmt. Neigt er dazu, sich auf die aufgetretene psychische Störung so zu fixieren, dass er jede Distanz dazu verliert und demzufolge auch Gefahr läuft, sie «katastrophierend» zu verstärken, wird er schlechter damit zurechtkommen, als wenn es ihm ge75

lingt, die aktuellen Beschwerden in einen größeren Lebenszusammenhang zu stellen und nach einem reflektierten Umgang damit zu suchen. In ähnlicher Weise ist es bei psychischen Kränkungen, die heute besonders häufig zu psychischen Störungen beitragen, günstiger, sich nicht nur anhaltend als Opfer (und bloßes Objekt) zu sehen, sondern sich auch zu fragen, wie ich als Person (und Subjekt) reagieren kann. Das reflexive Selbstbewusstsein ist mithin bei diesen psychischen Störungen sowohl für die Selbsthilfe wie für die psychotherapeutische Hilfe zur Selbsthilfe von großer Bedeutung, obwohl die zu beseitigende Symptomatik präreflexiver bzw. leibhafter und affektiver Art ist. Das heißt aber nicht, dass das präreflexive Selbstbewusstsein für die Behandlung solcher psychischen Störungen ganz nebensächlich ist. Denn zum einen setzt auch jede reflexive Psychotherapie, soll sie erfolgreich sein, eine gute therapeutische Beziehung voraus, die wiederum wesentlich auf präreflexiven Aspekten beruht. Mit anderen Worten braucht auch eine therapeutische Arbeit, die auf das reflexive Selbstbewusstsein zielt, eine stimmige Basis, die man mit Rogers als echt, kongruent und aufrichtig bezeichnen kann (Rogers 2004). Es genügt nicht, dass der Therapeut Wichtiges erkennt, deutet oder vorschlägt. Treffendes kann auch Widerstand hervorrufen, wenn es zur falschen Zeit geäußert wird und vom Patienten nicht angenommen werden kann. Die Brücke zwischen Patient und Therapeut besteht nicht nur aus Worten und Sätzen. Sie baut auch darauf auf, wie sich ein Therapeut in den Patienten einfühlen kann und wie ein Patient den Therapeuten wahrnimmt. Mimik und Gestik spielen für die Beziehung ebenso eine Rolle wie die Art und Weise, wie sich Patient und Therapeut sprachlich ausdrücken. Günstigenfalls antwortet der Therapeut auf die Darstellung des Patienten mit präreflexiven und reflexiven Reaktionen, die ein stimmiges Muster bilden, das Vertrauen erleichtert. 76

Dass der Therapeut Gefühle achtsam wahrnimmt, ist noch aus einem anderen Grunde wichtig. Gefühle können nämlich auf belastende Gedanken und psychosoziale Probleme hinweisen, die sprachlich vom Patienten nicht zum Ausdruck gebracht werden, aber für die reflexive Bearbeitung eines Problems wichtig sind. Zum Beispiel zeigt Traurigkeit in der Regel einen Verlust und Ärger eine psychische Verletzung an. Ein Therapeut kann aber oft erst darauf aufmerksam werden, wenn er sein eigenes präreflexives Empfinden bewusst wahrnimmt und reflektiert. Wenn die Psychoanalyse von Gegenübertragung spricht, kann damit auch die präreflexive Reaktion des Therapeuten auf das präreflexive Erleben des Patienten gemeint sein.

Narzisstische Kränkung – eine präreflexive oder eine reflexive Problematik? In der Psychotherapie spielen heute narzisstische Kränkungen eine zunehmend wichtige Rolle. Der Begriff stammt von Sigmund Freud (Freud 1917) und meint, dass einerseits der Narzissmus eines Menschen verletzt wird und der Betroffene sich andererseits als gekränkt empfindet. Die Behandlung der narzisstischen Kränkung ist aus mehreren Gründen nicht einfach. Zum einen handelt es sich dabei um die Infragestellung einer Vorstellung von sich selbst, mithin um ein Problem des reflexiven Selbstbewusstseins. Zum anderen sind gekränkte Menschen aber auch tief in ihrem präreflexiven Selbstgefühl betroffen. Sie fühlen sich psychisch schwer verletzt, wenn sie abgewertet wurden oder manchmal auch schon, wenn sie die von ihnen vorausgesetzte und erwartete Beachtung nicht erhalten. Die Missachtung ihrer Selbstvorstellung bzw. ihres Selbstanspruchs setzt ein reflexives Selbstbewusstsein voraus, das allerdings brüchig

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sein kann. Die Empfindung des Gekränkt-Seins ist andererseits präreflexiver Art. Diese Zusammenhänge haben therapeutische Konsequenzen. Es geht nämlich darum, einerseits das Selbstbild und die damit verbundenen Idealvorstellungen zu bearbeiten. Andererseits ist aber auch das Kränkungserleben, das oft mit Rachegefühlen einhergeht, empathisch wahrzunehmen und Anteil nehmend zu entlasten. Beides ist schwierig miteinander zu verbinden. Der gekränkte Mensch möchte ungeteiltes Verständnis für sich. Er ist so tief getroffen, dass er vor allem Anerkennung braucht. Jede kritische Bemerkung, die sein verletztes «Selbst» trifft, schmerzt ihn. Wenn sich der Patient nicht sicher ist, dass der Therapeut auf seiner Seite steht, wird er sich bei jeder auch noch so vorsichtigen kritischen Reflexion seines Selbstbildes schützend verschließen. Dennoch wird erst ein aufrichtiges Wahrnehmen der eigenen Ansprüche und Vorstellungen dem Patienten die Möglichkeit geben, sich selber besser anzunehmen und mit seiner bitteren Verletzung zurechtzukommen. Anders ausgedrückt: Anteilnahme am Kränkungserleben und kritische Bearbeitung des Selbstbildes «beißen sich». Reflexion schafft Distanz, die narzisstisch schwer zu verkraften ist. Umgekehrt erschwert tiefes Mitgefühl eine gewisse Distanzierung, die nötig ist, um kognitive Selbstaspekte zu reflektieren. Dazu gehören gerade auch idealisierte Selbstvorstellungen, die einen Menschen besonders verletzlich und kränkbar machen.

Zunahme der Bedeutung des reflexiven Selbstbewusstseins in der Moderne In diesem Zusammenhang bekommt eine bekannte soziologische Beobachtung besonderes Gewicht. Kränkungen werden heute nämlich nicht zufällig häufiger als früher beschrieben. Sie

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hängen sowohl mit dem größer gewordenen reflexiven Selbstbezug als auch mit der gleichzeitig gewachsenen präreflexiven Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit für den eigenen Körper zusammen. Der reflexive Selbstbezug hat aus verschiedenen Gründen zugenommen. Zum einen ist es für Menschen wichtiger geworden, autonom zu sein. Die moderne Soziokultur legt Wert auf Selbstverantwortung, Selbstoptimierung und Emanzipation. Dazu trägt (wie schon in Kapitel 1 erwähnt) die Individualisierung bei, die vom Menschen größere Unabhängigkeit fordert als es in der früheren Wir-Gesellschaft der Fall war. Je unabhängiger jedoch ein Mensch zu sein hat, umso größere Bedeutung bekommt der reflexive Selbstbezug. Der Mensch ist aber infolge der hochgradigen Individualisierung nicht nur stärker auf sich bezogen. Er ist auch vermehrt darauf angewiesen, für sich Sorge zu tragen und sich zu achten. Dies wiederum ist keine Aufgabe, die er losgelöst von der Mitwelt bewältigen kann. Selbstachtung hängt stark von der Achtung ab, die er von anderen Menschen bekommt. Auch Selbstvertrauen ist weitgehend davon abhängig, wie weit andere Menschen ihm vertrauen und etwas zutrauen (vgl. Kapitel 7). Damit bleibt eine Abhängigkeit bestehen, die der moderne Mensch nicht einfach abschütteln kann. Er vermag diese Zusammenhänge zwar reflexiv zu erkennen, kann aber damit seine präreflexive Abhängigkeit nicht durchbrechen. Der Selbstbezug ist durch die Individualisierung nicht nur wichtiger, sondern auch komplexer und in vielem undurchsichtiger geworden. Das erhöht die Verletzlichkeit. Es spricht also vieles dafür, dass die Frage der Selbstachtung heute nicht nur wichtiger geworden ist, als sie schon immer war, sondern dass auch die Gefahr des Scheiterns an idealisierten Selbstbildern zugenommen hat.

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Neben der hochgradigen Individualisierung unserer Gesellschaft tragen auch andere Umstände zur vermehrten Fokussierung auf das «Selbst» bei. So sind moderne Menschen in einem früher unbekannten Ausmaß einer ständigen Evaluation ausgesetzt. Nicht nur hat das Prüfungswesen in Schulen, Ausbildung, Verkehr usw. zugenommen. Auch alltägliche Dienstleistungen in Hotels, Restaurants, Geschäften und Betrieben oder von Handwerkern, Ärzten, Informatikern und Vortragenden, um nur einige Betroffene zu nennen, werden in immer kürzeren Abständen beurteilt. Dadurch erfahren sich viele Menschen als einer ständigen Prüfung unterzogen. Diese Evaluierung leistet einer Konkurrenzierung Vorschub. Sie soll den Einzelnen anspornen, verunsichert ihn aber häufig. Sie setzt den Einzelnen mittels der Digitalisierung dem unsichtbaren Auge eines anonymisierten Kontrollorgans aus. Seine Individualität wird auf eine messbare Leistung reduziert. Es ist dieser digitalisierte Blick von nirgendwo, der auch die eigene Perspektive zu einer reflektierten Sichtweise von außen machen kann. Der reflexive Selbstbezug wird heute noch auf eine andere Weise gefördert, die zunächst überraschen mag. Ich spreche die Bildungspolitik an: Bildung gilt heute als Zauberwort des Fortschritts. Tatsächlich fördert Bildung manche humanen Eigenschaften des Menschen und eröffnet vielen Menschen neue berufliche und private Wege. In unserem Zusammenhang möchte ich aber auf eine andere Auswirkung hinweisen. Bildung wird heute hauptsächlich mit Wissen und Wissenschaft gleichgesetzt, mithin mit Erkenntnis objektiver Art. Wenn diese Bildungsorientierung auf das einzelne Individuum bezogen wird, wird damit hauptsächlich das Wissen um sich selbst in biologischer und psychologischer Hinsicht gefördert. Damit kann aber nicht das präreflexive und letztlich subjektive Erleben gemeint sein, sondern nur die reflexive Selbsterkenntnis. Der Selbstbezug, der bildungspolitisch hauptsächlich gefördert wird, orien80

tiert sich am wissenschaftlichen Fortschritt und infolgedessen an dem, was am Menschen objektivierbar ist. Ein weiterer Grund für die vermehrte Beachtung des reflexiven Selbstbewusstseins dürfte darin liegen, dass Menschen heute immer weniger mit den Händen arbeiten und immer stärker mental und kommunikativ gefordert sind. Während bis vor 50 Jahren (in der Industriegesellschaft) die körperliche Arbeit ganz im Vordergrund stand – was hauptsächlich zu körperlichen Berufskrankheiten führte – ist heute (in der Dienstleistungsgesellschaft) wichtiger geworden, wie sich Menschen selbst verstehen und präsentieren. Eine Folge davon ist die enorme Zunahme von Burn-out und Depression als Berufskrankheiten. Diese Verlagerung von körperlichen Arbeiten zu mentalen Tätigkeiten hat das Schwergewicht von präreflexiven körperlichen Fähigkeiten zu reflexiven kognitiven Herausforderungen verschoben. Damit hat aber indirekt auch die reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst an Bedeutung gewonnen. Manche Menschen versuchen, dieses Übergewicht der «Kopflastigkeit» und Leistungsorientierung mit meditativen Methoden zu kompensieren, andere probieren es mit Sport. Der Mainstream bleibt aber durch diese Gegenbewegungen kaum angetastet. Die Digitalisierung schreitet fort und bestärkt die Mentalisierung und Virtualisierung des Alltags. Die aufgezeigten Tendenzen sind nicht ohne Folgen für die Praxis von Psychiatrie und Psychotherapie geblieben. Um sich dem soziokulturellen Umbruch anzupassen, hat sie sich stark gewandelt. So war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die psychiatrische Praxis stark körperlich orientiert. Die stationäre Behandlung bestand hauptsächlich in Arbeitstherapie (einfache Industriearbeiten oder Gartenarbeit) und in körperlichen Kuren (Deckelbad, Schlafkur, Elektroschocktherapie, Medikamente). Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhun-

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derts setzten sich in der Psychiatrie psycho- und soziotherapeutische Ansätze breiter durch (Einzelgespräche, Gruppentherapien, Kreativtherapien wie Ergo-, Musik- und Maltherapie). Die Behandlung wurde stark individualisiert und wo immer möglich ambulant durchgeführt. Insbesondere die psychotherapeutischen Angebote niedergelassener Psychiater und Psychologen nahmen sehr stark zu. Dabei kamen zunehmend Behandlungskonzepte zum Einsatz, die eine Stärkung des «Selbst» zum Ziel haben und weniger konfliktorientiert sind.

Viele Menschen suchen heute nach einer Wiederherstellung des verlorenen inneren Gleichgewichts, nach verbessertem Wohlbefinden und nach Verhaltensweisen, die mehr gesellschaftlichen Erfolg oder zwischenmenschliches Glück versprechen. Die psychotherapeutische Fokussierung auf das «Selbst» zeigt sich z. B. im Aufkommen der «Selbstpsychologie» in der Psychoanalyse und in der emotionalen und kognitiven Wende der Verhaltenstherapie. Mit der Konzentrierung auf das «Selbst» wächst allerdings auch die Gefahr, dass sich Menschen überfordern. Wenn die präreflexive, wie selbstverständliche Einbettung in eine Gemeinschaft brüchiger ist und das «Wir» tendenziell weniger trägt, ist das «Ich» vermehrt herausgefordert. Damit wächst aber die Gefahr, dass – wie im nächsten Kapitel näher ausgeführt – die Diskrepanz zwischen Ideal-Ich und Realität größer wird. Dann kann sich das frühere neurotische Unglück einer patriarchalischen Gesellschaft des «Du sollst» in ein neoliberales Unglück der Selbstüberforderung des «Ich kann» verwandeln (Ehrenberg 2015). «Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied» heißt eben auch: «Jeder ist für sein Unglück selbst verantwortlich.»

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4. Kapitel: Scheitern in der Spätmoderne und seine psychotherapeutische Herausforderung

Ich möchte in diesem Kapitel darlegen, dass Grundfragen der Existenz für den spätmodernen Menschen keineswegs erledigt sind, sondern sich nur in neuer und zum Teil verschleierter Form zeigen. Sie drängen sich sogar auf, wenn ein Mensch schwer scheitert. Ich gehe zunächst auf verschiedene Formen, Ursachen und Folgen des Scheiterns ein. Daran anschließend diskutiere ich, wie der Umgang mit Scheitern durch die heutige Soziokultur beeinflusst wird und wie narzisstische Reaktionsweisen das Verarbeiten des Scheiterns erschweren. Schließlich setze ich mich mit psychotherapeutischen Konsequenzen auseinander. (Dazu habe ich einen wissenschaftlichen Artikel (Hell 2014) überarbeitet und ergänzt.)

Ursachen und Folgen des Scheiterns Etymologisch leitet sich das Wort «Scheitern» von «Scheit» ab, also von gespaltenem Holz (Duden 2013). Man könnte also sagen, dass wer scheitert, ein irreparables Zersplittern seiner Vorstellungen oder seines Wirkens erfährt. In der Sprache der Seefahrt meint Scheitern das Zerschellen eines Schiffes an Klippen oder felsiger Küste. Es ist nicht nur ein Stranden, also ein bloßes Steckenbleiben auf sandigem Grund ohne Zerstörung des 83

Schiffes. Hier klingt mit, dass beim Scheitern etwas Grundlegendes im Leben zerstört wird. Wer scheitert, hat etwas unwiderruflich verloren. Während die Krise einen offenen Ausgang hat und sich zum Guten wenden kann, bedeutet Scheitern das Ende eines bestimmten Vorhabens. Man kann aus sehr verschiedenen Gründen scheitern. Der Grund kann extrinsisch, das heißt ohne eigenes Zutun, in Katastrophen, Kriegen, Unfällen, Krankheiten oder zwischenmenschlicher Gewalt und Erniedrigung liegen. Er kann intrinsisch in körperlichen und psychischen Dispositionen oder in überhöhten und unrealistischen Ansprüchen angelegt sein und durch eigene falsche Entscheidungen oder unglückliches Handeln ausgelöst werden (Scharfetter 2012). Jemand kann an den Klippen der Pubertät, der Partner- oder Elternschaft und des Alterns scheitern. Oft spielen verschiedene Faktoren zusammen oder schaukeln einander hoch. Auch die unmittelbaren Folgen des Scheiterns können verschieden sein: Das Scheitern kann Angst und Panik, aber auch Verzweiflung und Aggressionen auslösen und in extremis zu psychischer Dissoziation und Psychose führen. In jedem Fall kann aber der Betroffene sein Leben nicht mehr in gewohnter Weise fortführen. Er muss einen neuen Weg finden, und sei es nur, wie der Schriftsteller Samuel Beckett von sich schrieb: «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.« Diese Wortfolge von Beckett scheint in unsere Welt der Start-ups und Psychotechnik gut zu passen. Allerdings werden meistens die Sätze, die dem Zitat folgen, weggelassen. Sie lauten: «Oder besser schlimmer. Wieder schlimmer scheitern. Noch schlimmer. Endgültig übel sein. Alles endgültig hinschmeißen. Endgültig gehen. Wo endgültig nichts mehr ist. Gutes und so.» («Worstward Ho», Becket 1983, zit. nach Marshall 2017)

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Aus dem Scheitern lernen? Auch die Langzeitfolgen können ganz unterschiedlich sein. Scheitern kann zwar einen Menschen langfristig entmutigen und verbittern. Die akute Erschütterung kann aber auch wieder abklingen und muss sich nicht nachhaltig negativ auswirken. So habe ich einen sehr erfolgreichen Journalisten behandelt, der eine Kündigung durch einen Großverlag als derartige Kränkung erlebte, dass er sich in seiner Eigentumswohnung einigelte und jeden Kontakt mied, der ihn an seinen Misserfolg hätte erinnern können. Erst recht ging er allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Weg und blieb über Jahre so tief gekränkt und verbittert, dass er invalidisiert wurde. Andere Patienten konnten einen Misserfolg nach einer ersten Leidenszeit zum Anlass nehmen, sich innerlich umzuorientieren und sich einer anderen Aufgabe zuzuwenden.

Auf solche günstigen Verläufe verweist besonders die aktuelle Management-Literatur. Sie neigt generell dazu, das Scheitern zu entdramatisieren. Besonders häufig wird das Beispiel von Abraham Lincoln genannt. Lincoln hatte bei Wahlen jahrzehntelang keinen Erfolg, ließ sich aber dadurch nicht unterkriegen. Sein ständiges Bemühen und damit einhergehende Lernprozesse ließen ihn schließlich große Erfolge feiern. Er wurde unter veränderten und für ihn günstigen Umständen zum Präsidenten der USA gewählt.

Auch aus verhaltenstherapeutischen Untersuchungen wird oft der Schluss gezogen, dass Scheitern nicht das Ende bedeutet. Vielmehr gehe es darum, aus dem Scheitern zu lernen und seine Erfahrungen zu nutzen, um ein erfolgreicheres Leben zu führen (Pieper 2012). So sucht Andrea Abele-Brehm, die vormalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Menschen darin zu unterstützen, nach dem Scheitern wieder 85

aufzustehen. Sie hat als Psychologieprofessorin eine Art «Psychologie des Stehaufmännchens» entwickelt (Abele und Spurk 2013). Das Geheimnis der Stehaufmännchen sei es, dass sie negative Gedanken schneller abstellen könnten. Zwar denke jeder Mensch über negative Erfahrungen mehr nach als über positive, doch kämen Stehaufmännchen von negativen Gedanken schneller wieder los und könnten dadurch Rückschläge besser verkraften. Stehaufmännchen würden dank einer stärkeren Selbstwirksamkeitsüberzeugung weniger grübeln (Abele und Spurk 2013). Tatsächlich dürfte ein grübelndes Hadern die Verarbeitung des Scheiterns ähnlich behindern wie Rumination – der Fachbegriff für Grübeln und Hadern – die Auseinandersetzung mit dem Leiden erschwert und die Depressionsprognose ungünstig beeinflusst, wie sich in der Depressionsforschung gezeigt hat (Nolen-Hoeksema 1993). Auch wer Misserfolge mit seinem Personsein gleichsetzt und ein Scheitern ganz persönlich nimmt, hat große Mühe, sich wieder zu fangen. Wer aber sagen kann «Ich habe zwar in dieser Situation Schiffbruch erlitten, bin aber kein Versager», kommt mit dem Scheitern besser zurecht. Allerdings eignet sich dieser Satz nicht als genereller Ratschlag. Diese Erfahrung eines zerstörten Selbstbildes hat die bekannte Theologin Dorothee Sölle gemacht. Sie schreibt über das unerwartete und unerwünschte Ende ihrer ersten Ehe: «Dieser Tod [es geht um den Beziehungstod] war für mich die vollständige Zerstörung eines ersten Lebensentwurfs. Alles, worauf ich gebaut hatte, was ich gehofft, geglaubt, gewollt hatte, war vernichtet […] Ich habe über drei Jahre gebraucht, nicht, um damit fertig zu werden, sondern um die mich ständig begleitenden Wunschphantasien des Selbstmordes zu überwinden.» (Sölle 1975, S. 42)

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Scheitern als Grenzsituation Es gehört zum Wesen des Scheiterns, dass der Schmerz der seelischen Verwundung umso größer ist, je mehr sich ein Mensch auf einen bestimmten Lebensweg ausgerichtet und je stärker er sich für eine Aufgabe oder für eine Wertvorstellung engagiert hat. Dann betrifft das Scheitern auch seine Selbstvorstellung. Was damit zerschellt oder zersplittert, ist nicht nur eine Erwartung oder ein Planziel, sondern das Puzzle seines «Selbst». Da wirkt sich auch aus, dass das Selbstbewusstsein neben reflexiven auch präreflexive Anteile hat. Diese grundlegende Form des Scheiterns entspricht einer Grenzsituation im Jasper’schen Sinne (Jaspers 1973). Eine «Psychologie des Stehaufmännchens» greift da zu kurz. Da ist auch nichts wegzutherapieren, sondern im besten Falle kann man das Scheitern und seine Folgen empathisch mittragen. Auch sind Vertröstung oder verfehlte Empfehlungen zu vermeiden. Wenn das Scheitern einen Menschen auch leib-seelisch erschüttert und zum Beispiel mit Schlafstörungen, Bedrücktheit, Ängsten und Scham einhergeht, gilt es auch diese verkörperlichte Not anzunehmen und nicht voreilig aus dem Scheitern eine Chance zu machen. Was hat nun diese klassische Grenzsituation des existenziellen Scheiterns mit dem spätmodernen Menschen in der heutigen Leistungs- und Erfolgsgesellschaft zu tun? Stellen existenzielle Fragen im philosophischen und religiösen Sinne heute nicht eine Randerscheinung dar? Ist der spätmoderne Mensch – nach dem Zusammenbruch der großen Erzählung bzw. einer einheitlichen christlichen Kultur – nicht gerade durch ein flexibles Selbst oder vielfältige «Subselves» gekennzeichnet, die grundlegende Seinsfragen relativieren und einen psychotechnischen Umgang mit dem Scheitern erleichtern? 87

Der gesellschaftliche Hintergrund und seine Konsequenzen für das moderne Scheitern Die aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Situation zeichnet sich in den entwickelten Ländern des Abendlandes durch einen ausgeprägten Individualismus und einen sozioökonomischen Neoliberalismus aus. Unter Individualismus ist heute aber nicht mehr eine Bewegung von widerständigen Einzelnen zu verstehen, die wie zu Beginn der Aufklärung auf ihre persönlichen Rechte pochen. Vielmehr ist der Individualismus heute zu einer Art Soziokultur geworden, die dem einzelnen Individuum Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit abverlangt und es zu einem «unternehmerischen Selbst» (Bröckling 2009) macht. Selbstverwirklichung ist nicht mehr Privatsache, die auch Widerstand bedeuten kann, sondern gesellschaftliche Norm. Es gehört sich, dass ein Mensch sich selbst verantwortet. Er ist für sein Glück und seinen Erfolg selber zuständig (Sennett 1998). Litten früher – unter patriarchalischen oder hierarchischen Verhältnissen – Menschen vor allem an den neurotischen Folgen einer verinnerlichten Herrschermacht bzw. eines erdrückenden Über-Ichs, so ringen heute Menschen in der stark individualisierten Gesellschaft vor allem mit der Herausforderung eines möglichen Scheiterns ihrer Selbstansprüche und ihres Autonomiestrebens. Der Pariser Soziologe Alain Ehrenberg schreibt in seinem Buch «Das erschöpfte Selbst»: «Die Emanzipation hat uns von den Dramen der Schuld und des Gehorsams befreit. Sie hat uns aber diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht.» (Ehrenberg 2004, S. 301 [1988]) Scheitern ist heute nicht mehr Schicksal oder Folge einer Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit. Es wird auch weniger mit biografischen Umständen erklärt. Vielmehr bedeutet Scheitern heute, der soziokulturellen Erwartung, erfolgreich seinen eige88

nen Weg zu gehen, nicht zu entsprechen. Dadurch bekommt Scheitern eine besonders große Fallhöhe. Es bedeutet Misserfolg in einer Erfolgsgesellschaft, die oft – nicht nur im Sport – schon den zweiten Rang als Verliererplatz einschätzt. Nur spätere Erfolge scheinen (wie bei Lincoln) Misserfolge wieder ausmerzen zu können. Dies ist aber nur die eine Seite der Psycho- und Soziodynamik. Denn gleichzeitig nehmen viele moderne Menschen – mehr oder weniger bewusst – wahr, dass sie sich in einer Art Zwangslage befinden. Sie merken, dass die hohen Leistungsund Erfolgserwartungen ihren Preis haben, und fühlen sich betrogen, wenn sich der Erfolg trotz großer Anstrengungen nicht einstellt. Sie erleben diese frustrierende Situation oft als unverdiente Kränkung. Man kann diese Kränkung als narzisstische Problematik verstehen, die Zwischenmenschliches auf Besitz und Macht reduziert bzw. alles der Eigenliebe unterordnet. Doch hat das Gekränktsein auch soziodynamische Wurzeln. Es hat mit dem kulturellen Versprechen zu tun, dass Einsatz sich lohnt und der Verlust an Achtung ein Unrecht darstellt (Junge und Lechner 2004). Kränkung wird denn auch wie ein Entzug von etwas erlebt, das einem zusteht. Man ist unruhig, angespannt, sucht nach Wiedergutmachung und hat oft Rachegefühle. Hier scheint mir nun eine erste psychotherapeutische Randbemerkung angebracht. Es ist mittlerweile zum psychologischen Allgemeingut geworden, dass Kränkung mit Narzissmus assoziiert und als Ich-Schwäche eingeschätzt wird. Das kann zur Folge haben, dass das Gekränktsein des Patienten vom Therapeuten implizit abgewertet wird. Gekränkte Menschen ringen aber darum, ihre Würde wiederherzustellen. Sie benötigen in besonderem Maße ein offenes Ohr und sprechende Augen. Interessanterweise verweist bereits die Herkunft des Wortes «kränken» auf diese Zusammenhänge 89

(Duden 2013). So bedeutete «krenken» im Mittelhochdeutschen «schwächen», «mindern», «erniedrigen» (auch im Sinne von «der Ehre berauben«). Genauso dürfte sich aber ein scheiternder Mensch in der Postmoderne erleben, nämlich als jemanden, dem Wert und Anerkennung abgesprochen werden. Weil nun aber die Psychologie, wie Eva Illouz (2009) gezeigt hat, zum modernen Selbstverständnis des Menschen nicht wenig beigetragen hat, ist mitunter auch die Psychotherapie in Gefahr, das Gekränktsein als Eingeständnis einer narzisstischen Schwäche zu sehen. Es wird dann vergessen, dass Anerkennung nicht nur für Narzissten, sondern für das Wohlbefinden aller Menschen so wichtig ist wie Sauerstoff zum Leben und dass Kränkung – als Aberkennung der Anerkennung – allen Menschen den Atem nimmt. Es braucht keine narzisstische Persönlichkeitsstruktur und keinen pathologischen Narzissmus, um Kränkungen in Form narzisstischer Krisen zu erleben. Vielmehr gilt: Je individualistischer eine Gesellschaft ist, desto größer wird das Bedürfnis nach Anerkennung und als desto existenziell bedrohlicher werden Kränkungen erfahren – erst recht, wenn bei emotionaler Vereinzelung die mitmenschliche Nähe fehlt, um Kränkungen abzufedern. Gerade dem modernen Menschen ist es aufgrund seiner Patchwork-Identität besonders wichtig, umfassend, als ganze Person, Anerkennung zu finden, um seine Bruchstellen zu kitten – weist doch sein Leben oft viele Brüche auf und erfordert vielfältige Anpassungen an ständig wechselnde Umstände und Deregulierungen. So hat denn fast jeder, wie Corina Caduff feststellt, eine ganz persönliche Kränkungsgeschichte und so hat «fast jeder sofort eine Antwort bereit, wenn man ihn nach einer entscheidenden Kränkung in seinem Leben fragt» (Caduff 2010, S. 38). Das dürfte zur Folge haben, dass wir an Anerkennung nie genug bekommen. Es gibt aber im kompetitiven System des Spätkapitalismus, in dem nicht alle Erfolg haben können, eine strukturbe90

dingte «Unterdeckung des menschlichen Anerkennungsbedarfs» (ebd., S. 31). Zudem leben wir in einer Gesellschaft, die weniger den Respekt für den anderen in den Vordergrund rückt als objektivierbare Fakten, evaluierbare Ergebnisse und materielle Werte. All dies macht Anerkennung so wichtig und Kränkung so verletzend.

Therapeutische Haltung gegenüber Scheitern als Kränkung Wer Scheitern als Kränkung erlebt, kann daran – wie der Begriff «kränken» nahelegt – auch erkranken. Tatsächlich ist gezeigt worden, dass unter allen Belastungssituationen vor allem Demütigungen und Kränkungen das Depressionsrisiko erhöhen (Brown 2004, Kendler et al. 2003). Umso wichtiger ist eine therapeutische Kultur, die das Beschämungspotenzial unserer Politkultur nicht fortsetzt, sondern ihr eine Haltung der Achtsamkeit und Würde entgegensetzt. Vor allem gilt es therapeutisch, der Schamfähigkeit des Menschen gerecht zu werden und das schwierige Gefühl der Scham nicht abzuwerten. Sonst wird der Umgang mit Kränkungen weiter erschwert. Nun sind Gekränktsein und Scham nicht identisch (worauf ich ausführlicher im Kapitel 8 eingehe). Gekränktsein geht mit Ärger und Zorn über Mitmenschen einher. Der Gekränkte ist «außer sich», während der sich Schämende «in sich geht» und mit sich selbst beschäftigt ist. Die Verwechslung von Scham und narzisstischem Gekränktsein liegt aber nahe, weil beide Reaktionsweisen durch eine Beschämung bzw. Kränkung hervorgerufen werden können. Wer infolge einer Beschämung Scham empfindet, geht in der Regel davon aus, dass er sich selbst ins Unrecht gesetzt hat oder die erfolgte Beschämung durch Mitmenschen einen wun-

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den Punkt von ihm trifft. Deshalb geht er auch mit sich selbst ins Gericht. Umgekehrt sieht sich der Gekränkte ganz zu Unrecht infrage gestellt, sodass er sich in seinem Stolz verletzt fühlt und nach Rache sinnt. Es ist allerdings so, dass narzisstisch gekränkte Menschen sich nicht nur unwohl fühlen, sondern dass sie ihre Reaktionsweise auch nicht immer gut finden. Sie können sich manchmal ihrer Kränkungsreaktion im Nachhinein auch schämen, insbesondere wenn sie anderen davon berichten. Gerade in Therapien ist dies nicht selten der Fall. Dann verbindet sich das stigmatisierende Empfinden der Kränkung mit einem Gefühl der Scham über die eigene gekränkte Reaktionsweise. Umso wichtiger ist es therapeutisch, auf dieses Erleben zunächst weder klassifizierend noch kritisch-deutend einzugehen, sondern den sich Schämenden spüren zu lassen, dass man ihm nachfühlen kann. Auf diese Weise kann man ihm auch zeigen, dass einem Schamerleben selber nicht fremd ist und Scham menschlich ist. Der Mensch ist bekanntlich das Tier, das sich schämen kann. Wie mit Scham umgegangen wird, entscheidet vielfach über Verlauf und Erfolg einer Therapie (Hilgers 2006). Wenn sich ein Mensch in seiner Scham angenommen fühlt, ist eine wichtige Grundlage für die weitere gemeinsame therapeutische Arbeit gelegt. Der Satz der Psychoanalytikerin Helen Block Lewis (1987) «Widerstand ist ein anderes Wort für Scham» trifft wohl hauptsächlich für jene Scham zu, die vom Therapeuten nicht erkannt oder nicht empathisch beantwortet wird. Eine geglückte Begegnung mit einem gekränkten und sich zugleich schämenden Patienten kann dazu beitragen, dass sich ein Patient besser fühlt. Doch ist damit weder sein Scheitern noch seine Scham einfach beseitigt. Es bleiben Wunden, die nur langsam verheilen. Es ist auch nicht damit getan, therapeutisch nur das Selbstwertgefühl eines psychisch verletzten Patienten zu stärken. Die Erhöhung des Selbstwertes kann zwar narzissti92

sche Löcher stopfen, geht aber mit der Gefahr einher, jemanden weiter einzig von Leistung und Erfolg abhängig zu machen. Denn die aktuelle Betonung des Selbstwertes, auch in der Psychologie, ist mit individualistischen Konzepten (Illouz 2012) und der Gleichsetzung von Erfolg und Selbstzufriedenheit verknüpft. Die kurzschlüssige Verbindung von Selbstwert und Leistung bzw. Erfolg ist aber anzuzweifeln. Es bleibt dabei eine anthropologische Konstante unbeachtet, die besagt, dass Selbstvertrauen weniger auf Leistung als auf Zuwendung und geschenktem Vertrauen basiert und dass Selbstvertrauen durch Responsibilität verstärkt wird, also durch eine positive Response von Mitmenschen (vgl. Kapitel 7). Zuwendung und Responsivität sind aber Erfahrungen, deren Wirkung weit über die Einschätzung des Selbstwerts eines Einzelnen hinausgeht. Sie können auch mithelfen, dass sich ein Mensch in seiner Verletzlichkeit annimmt. Sie bestimmen mit, inwieweit ein Mensch zu sich selber steht. So wichtig die Selbstwertproblematik in der Behandlung beschämter Menschen auch ist, es darf nicht vergessen werden, dass der Selbstwert nur Teil eines Bildes ist, das sich der Mensch von sich selbst macht. Dieses Selbstbild wird weicher und liebevoller sein, wenn sich ein Mensch im Glanz der Augen von Mitmenschen erkennt, als wenn er sich nur – ökonomisch und physiologisch – in seinen Leistungen gespiegelt sieht. Wenn also gesagt wird, dass das moderne Scheitern am Erfolg den Selbstwert bedroht, so ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Der Selbstwert ist auch durch das Bild gefährdet, das sich ein Mensch von sich selbst macht – genauer: durch dessen Spiegel er sich reflektiert sieht. Das Selbstbild hat wesentliche kognitive Aspekte. Aber es stellt eben auch eine emotionale Spiegelung dar. Nur ist dieser Gefühlsaspekt intellektuell weniger leicht fassbar. 93

Es ist wie mit der Selbstdarstellung eines Künstlers. Ein künstlerisches Selbstbild (etwa eines Rembrandt oder eines van Gogh) lebt von der Atmosphäre, vom felt sense (Gendlin 2012). Es ist nur zum Teil mittels bestimmter formaler Kriterien lesbar, es drückt sich auch in Farben und Schattierungen aus. Form und Farbe vermischen sich in einer Art Affektlogik (Ciompi 1998) zum bildnerischen Ausdruck. Es ist diese im Bild erfasste Atmosphäre, die Eindruck macht – und zwar nicht nur beim Betrachten eines Kunstwerkes – sondern im übertragenen Sinne auch in der Begegnung eines Therapeuten mit seinem Patienten, der mit seinem Scheitern ringt und dabei sein Selbstbild implizit zum Ausdruck bringt.

Hier ergibt sich die komplexe Situation, dass die Selbstdarstellung des Patienten durch den Therapeuten eine emotionale und kognitive Spiegelung erfährt und davon wiederum beeinflusst wird. Diese Spiegelung des Therapeuten kann eher kühl-distanziert oder warm-vertraut sein. Sie kann darüber entscheiden, ob sich ein scheiternder Mensch in der Therapie eher auf- oder eher abgewertet fühlt. Es geht also meines Erachtens gegenüber dem scheiternden Menschen nicht primär um eine kognitive Aufwertung seines Selbstwertes, sondern weit über diese Arbeit am Selbstwert hinaus um eine unverstellte und offene Annahme seines «Selbst» und wie es sich ausdrückt. Nicht formale Aspekte der Selbstwertschätzung entscheiden über den Therapieerfolg eines an sich und der Umwelt leidenden Menschen, sondern Momente des Einvernehmens, sogenannte «now moments» (Stern 2010) zwischen Patient und Therapeut. Die Erfahrung des Akzeptiertwerdens kann dem scheiternden Menschen dazu verhelfen, nicht zwanghaft und immer neu sich selber kränkend um einen hohen Selbstwert zu kämpfen, sondern aktiv zu resignieren, d. h. auf das Schattenboxen zu verzichten und die eigene Verwundbarkeit anzunehmen.

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Aktive Resignation Der Begriff der aktiven oder wahren Resignation stammt von Karl Jaspers (1932, S. 144). Er verstand darunter das bewusste Erfahren eigener Ohnmacht. Aktive Resignation anerkennt die Grenzen, die einem Menschen gesetzt sind, und will nicht das Unmögliche, sucht aber das Mögliche zu ergreifen. Statt nur immer den Erfolg zu suchen, kennt die aktive Resignation auch die Chance des Verzichts. Sie beschönigt nicht das schamvolle Leiden, das mit Resignation einhergeht. Aber sie erkennt das Leiden, das ungebremstes Erfolgsstreben mit sich bringt, sei es infolge Anspannung, Erschöpfung, Neid, Missgunst oder Beziehungsarmut. «Resignieren» meint lateinisch sowohl «aufgeben» als auch «entsiegeln» (Duden 2013). Wer aktiv resigniert, entsagt nicht nur einer Sache. Er öffnet sich auch bisher Verschlossenem. Dieses Sich-Öffnen ist ein Wagnis. Es bedarf der Geduld und des Durchhaltens und legt bloß, was bisher aktivistisch übertüncht oder schamhaft verschlossen war. Er riskiert Beschämung, vertraut aber einem letztlich Unzerstörbaren im Menschen, das Scham überhaupt erst möglich macht. Denn schamfähig ist ein Mensch nicht, weil er leer und jeden Sinnes enthoben wäre, sondern weil er sich selbst erkennen und an sich selbst scheitern kann (vgl. Kapitel 8). Diese Überlegungen lassen mich folgenden Schluss ziehen: Die moderne Kultur des Individualismus, die die Selbstermächtigung und Selbstverwirklichung sozial verordnet, trägt zum Paradox bei, dass die unreflektierte Forderung nach Autonomie das Selbstgefühl der Scham eher behindert und die sozial bedingte Kränkung eher fördert. Es kann deshalb in einer Psychotherapie nicht bloß darum gehen, das Ego narzisstisch zu stärken, weil damit auch das Kränkungsrisiko ansteigt. Vielmehr geht es vor allem darum, den Menschen spüren zu lassen, dass 95

er angenommen ist und selbst auch die Möglichkeit hat, das Risiko des Vertrauens einzugehen. Das ist im Umgang mit Kränkungen nicht einfach, weil jedes Eingehen auf Kränkungen auch wieder beschämen kann. Es braucht auf Therapeutenseite neben Empathie die Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit, um (auch gegenüber gekränkten Menschen, die Scham aggressiv und beschämend abwehren) möglichst offen zu bleiben und vorschnelle Deutungen und Erklärungen zu vermeiden. Scham hat mit Nähe und Distanz zu tun. Ganz ohne Scham ist keine hilfreiche Distanz, mit übermäßiger Scham keine hilfreiche Nähe möglich. Beides, Offenlegen und Verbergen, gehören zur Therapie. In einer Zeit des Aktivismus und Objektivismus (King 2013) kann aber vergessen werden, dass Verbergen auch Bergen meint und dass das Geheimnis der persönlichen Existenz den Schleier der Humanität braucht, um nicht verloren zu gehen.

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5. Kapitel: Scheitern an sich selbst

Das letzte Kapitel hat das Scheitern und seine Folgen in einen soziokulturellen Zusammenhang gebracht. Es wurde aufgezeigt, dass Scheitern besonders schmerzhaft ist, wenn Eckpfeiler des eigenen Selbstbildes einstürzen und das Selbstwertgefühl Schaden leidet, weil kulturell übernommene Normen und Ideale nicht eingehalten werden können. Selbstbild und Selbstwert werden aber auch von anderen Faktoren beeinflusst. So spielen Persönlichkeit, Biografie, vorherrschende Stimmungslage, situative Einflüsse und Konflikte, aber auch Erkrankungen eine Rolle. Oft bilden biografische Einflüsse, persönliche Neigungen und Reaktionsweisen, aktuelle Lebensumstände und Stimmungslage sowie soziokulturelle Werte ein schwer auflösbares, weil ineinander verstricktes Faktorenbündel. Wenn ich im Folgenden einzelne Faktoren je für sich behandle, so ist dies der Einfachheit und Klarheit geschuldet. Dabei spare ich den Einfluss der Genetik aus. Er wirkt sich in der Regel indirekt, zum Beispiel über ein genetisch mitbedingtes Krankheitsbild, aus.

Selbstbild und affektive Erkrankungen Eine psychische Erkrankung kann das Selbstbild eines Menschen vorübergehend oder seltener auch langfristig verändern. Ein manischer Zustand geht mit einer euphorischen Stimmung und einer Antriebssteigerung einher. Er führt zu einer mehr

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oder weniger starken Selbstüberschätzung, sodass zum Beispiel ein vorher zurückhaltender und selbstkritischer Erwachsener sich jetzt Großes zutraut und sich auch als großartig empfindet. Sein Selbstkonzept bläht sich auf und wird narzisstisch überhöht. Betroffene müssen sich in diesem Zustand nicht unbedingt überglücklich fühlen, sondern können auch dysphorisch gereizt sein. Das hindert sie aber nicht, jede Kritik an ihrem unkontrollierten, leichtfertigen oder distanzlosen Verhalten abzulehnen. Sie erleben ihren Energieschub meist wie eine Erlösung. Endlich fühlen sie sich von gesellschaftlichen und moralischen Fesseln befreit, die sie vorher eingeengt haben. Infolgedessen wehren sie sich meist gegen Versuche, ihren übermäßigen Antrieb zu dämpfen und ihnen mehr Ruhe zu verschaffen. Auch weil hintergründig bei manchen manischen Patienten eine basale Selbstunsicherheit zu spüren ist, lehnen sie Bremsversuche ab. Viele kennen depressive Stimmungen, die sie unbedingt vermeiden möchten. Auch von Unterwürfigkeit, zu der manche manisch-depressiven Patienten im Alltag tendieren, möchten sie weiter befreit sein. Zudem haben manche manisch Kranken einen großen Einfallsreichtum und intensivere Wahrnehmungen, als sie gewohnt sind. Sie erleben dies als Bereicherung und nicht als krankhaft. Allerdings können manche Patienten nach Abklingen ihrer Manie zwischen tiefem Glücksempfinden und manischer Hochstimmung, die immer auch etwas Getriebenes hat, unterscheiden. In intensiven psycho- und pharmakotherapeutischen Therapie von bipolaren (manisch-depressiven) Patienten ist deshalb immer zu berücksichtigen, inwieweit es dem Patienten gelingt, nicht nur stimmungsmäßig mehr oder weniger ausgeglichen zu sein, sondern sich auch selbst gefühlsmäßig nahezukommen. So hat mir eine ältere kluge Frau, die ich die letzten vier Jahre wegen des Auftretens anfänglich starker (und dann langsam schwächer werdender) manischer und de-

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pressiver Episoden behandelt habe, kürzlich auf ergreifende Weise mitgeteilt, dass sie erstmals seit vielen Jahren wieder «Rührung» empfunden habe und jetzt «ganz anders bei sich sein» könne als ihr dies auch im Intervall der durchgemachten Krankheitsepisoden möglich gewesen sei. Diese neu gewonnene Erlebenstiefe scheint mir von enormer Bedeutung zu sein, verweist sie doch auf eine stärkere Verankerung im vorher limitierten präreflexiven Selbstbewusstsein. Solche Erfahrungen legen nahe, dass bipolare Menschen nicht nur in den Krankheitsepisoden durch maniforme Antriebssteigerung oder depressive Antriebshemmung das präreflexive Selbstbewusstsein weniger wahrnehmen, sondern auch generell dazu neigen, sich präreflexiv weniger bewusst zu sein. Persönlich nehme ich an, dass dabei genetische, aber vor allem biografische Gründe im Sinne einer frühen Emotionsproblematik eine Rolle spielen (Böker 1999, Böker und Hell 2002).

Interessanterweise ist im manischen Zustand nicht nur der Affekt und das Denken verändert, sondern auch das Zeiterleben. Für manisch Kranke rast die Zeit. Sie erleben Minuten, Stunden und Tage als viel zu kurz, um alle ihre Einfälle umsetzen zu können. Auch dieses veränderte Zeiterleben verschafft ihnen den Eindruck, viel mehr zu können als ihre Mitmenschen, die ihr Tempo nicht mithalten können und wie in Zeitlupe denken und handeln. Ihr Erleben von Außerordentlichkeit und Überlegenheit kann aber plötzlich kippen und einem Eindruck der Unterlegenheit und Fehlerhaftigkeit Platz machen. Das ist der Fall, wenn bipolare Menschen in eine Depression fallen. Manische Zustände sind zwar nicht einfach das Gegenteil von depressiven. Aber was die Selbsteinschätzung angeht, so trifft diese Gegensätzlichkeit zu. Depressive Menschen neigen in bedrückter Stimmung dazu, sich schlechter zu machen, als sie sind. Sie fühlen sich oft minderwertig und neigen zu Schuldgefühlen und Scham. Sie 99

denken negativ von sich, auch was ihre Zukunft betrifft. Sie werden oft in kreisenden Gedanken von der Vergangenheit festgehalten. Wenn sie sich selbst beschreiben und bewerten sollen, so überwiegt das Negative. Auch das veränderte Zeiterleben trägt zu diesem negativen Selbstbild bei. So sagte ein bipolarer Patient in schwerer Depression einmal zu mir: «Meine innere Uhr scheint stillzustehen, während die Uhren der anderen weiterlaufen. In allem, was ich tue, komme ich nicht voran, dabei habe ich so viel zu tun. Aber ich bin wie gelähmt. Ich bleibe hinter meinen Pflichten zurück. Ich stehle Zeit.» Offensichtlich ist bei diesem depressiven Patienten der Fluss der Zeit wie angehalten. Tatsächlich lässt sich dieser Unterschied in der Zeiterfahrung zwischen manischen und depressiven Patienten sowie gesunden Kontrollpersonen auch empirisch nachweisen. Die Dehnung des Zeiterlebens in gehemmter Depression ist wiederholt experimentell nachgewiesen worden. Schwer depressive Patienten schätzen einen vorgegebenen Zeitabschnitt als länger ein als gesunde Personen, während manische Patienten ihn als noch viel kürzer als die gesunde Kontrollpopulation einschätzen (Thönes und Oberfeld 2015).

Dieses veränderte Zeiterleben verleitet depressive Patienten dazu, sich in ihrer Leistungsfähigkeit noch zusätzlich als behindert einzuschätzen, hätten sie doch in der von ihnen als gedehnt erlebten Zeit viel mehr leisten müssen. Die Stockung des Zeiterlebens dürfte mit der vorgängig (in Kapitel 3) beschriebenen Schwächung des präreflexiven Selbstbewusstseins bei schwer depressiven Menschen zusammenhängen. Weil sie sich leib-seelisch – in ihrer geschwächten Vitalität – zu wenig verankert fühlen, stockt auch das Zeiterleben. Es fehlt ihnen gleichsam an Flow. Der Gegensatz von depressivem und manischem Erleben könnte nicht größer sein. Aber die extreme Polarität manischdepressiver Wechsel spiegelt wider, was fast alle Menschen in

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sehr gemäßigter Form kennen. Es gibt einerseits eine Rhythmizität des verlangsamten und beschleunigten Zeiterlebens und andererseits periodische Übergänge von leicht gehobener in leicht erniedrigte Stimmungs- und Antriebslagen. Sie äußern sich häufig tagesrhythmisch, bei Frauen auch in hormonell bedingten Monatsrhythmen. Die Tagesrhythmik schlägt sich volkstümlich so nieder, dass Menschen entweder als Lerchen charakterisiert werden, die morgens aktiver als am Abend sind, oder als Nachtigallen, die abends aufleben. Eine biologische Theorie, die experimentelle Grundlagen hat, geht davon aus, dass das Auftreten von Depressionen und Manien mit einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus zusammenhängt. Eine regelmäßige Verzögerung der Schlafphase – das sogenannte Delayed Sleep Phase Syndrom – kann zu Depressionen führen (Wirz-Justice 2007). Diese empirisch bestätigten Beobachtungen haben dazu geführt, dass in der Psychiatrie eine sogenannte «Wachtherapie» oder «Schlafentzugsbehandlung» angewendet wird. Sie erscheint zwar wegen des nötigen Wachbleibens ab Mitternacht mühsam, geht aber häufig auch bei schon länger anhaltenden Depressionen mit einer Stimmungsaufhellung am nächsten Tag einher. Prophylaktisch bedeutsam ist, dass das Einhalten regelmäßiger Tagesrhythmen das Risiko weiterer Depressionen bei biologisch verletzlichen Personen verringern kann. Historisch interessant ist, dass der im Mittelalter verwendete griechische Begriff für depressive Verstimmungen «Akedia» sowohl mit «Mattigkeit» und «Trägheit» als auch mit «Überdruss» und «Langeweile» übersetzt werden kann. Demgemäß wurde im christlichen Mittelalter eine depressive Verstimmtheit sowohl mit einer gedrückten, überdrüssigen Stimmung wie mit dem Erleben gedehnter Zeit, einer langen Weile, in Zusammenhang gebracht.

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Neben der Akedia, die aus heutiger Sicht eine leichtere und agitierte Depressionsform darstellt, kannte das Mittelalter weiterhin die aus der Antike stammende Krankheit der Melancholie, die als schwere und gehemmte Depression verstanden wurde. Das Konzept der Melancholie stammt aus der hippokratischen Medizinschule Griechenlands. Es geht von einem Verlust des inneren und äußeren Gleichgewichts aus. Neben einem gestörten Gleichgewicht der Säfte (mit einem Übermaß an schwarzer Galle, griechisch «melas» = schwarz und «cholé» = Galle) spielt in diesem Konzept auch eine unausgewogene Lebensführung eine Rolle. In der Therapie wurden deshalb diätetische Maßnahmen angeordnet, die neben der Korrektur der Körpersäfte auch den Lebensrhythmus und die Lebensführung in Ordnung bringen sollten. Nach dem historischen Melancholieverständnis wuchs die Krankheit gleichsam aus dem Alltag und seiner Gestaltung heraus und ging mit einer Störung des Säftehaushalts einher. Sie hatte im Übrigen auch kosmische Bezüge. Deshalb stand in der Melancholielehre weniger die Symptomatologie als die Entwicklung der Krankheit im Vordergrund. Auch die Behandlung richtete sich weniger auf Krankheitssymptome als auf den angenommenen Erkrankungsgrund.

Selbstbild und Wahn Wenn Menschen einen Wahn entwickeln, so ist das Selbstbild nicht nur von Lebensumständen und Stimmungslage geprägt, sondern es verliert die Anpassungsfähigkeit an für Mitmenschen gegebene Realitäten. «Wahn ist eine private und privative lebensbestimmende Überzeugung eines Menschen von sich selbst und seiner Welt. Wahn ist eine Privatwirklichkeit.» (Scharfetter 2002, S. 216) Dabei meint «privativ», dass ein Wahn den Menschen von seiner Mitwelt absondert und isoliert. Allerdings kann jemand seinen Wahn vor Mitmenschen auch verbergen, weil er realisiert, dass seine Vorstellung von

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sich selbst, zum Beispiel Kind eines Königs zu sein, von diesen als verrückt beurteilt wird. In diesem Zusammenhang sprach Eugen Bleuler in seinem bahnbrechenden Werk «Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien» (1911) von «doppelter Buchführung». In der Regel führt aber die Wahnbildung dazu, dass einerseits der Kontakt des Betroffenen zur Mitwelt stark beeinträchtigt und andererseits das Verständnis der Mitwelt für den Wahnkranken erheblich gestört wird. Ein Wahn ist im Gegensatz zu einer Überzeugung nicht korrigierbar, solange die mit einem Wahn einhergehende Erkrankung besteht. Deshalb haben Versuche von Angehörigen, Freunden oder Therapeuten, einen Wahn zu korrigieren, nicht nur keinen Erfolg, sondern führen oft zu heftigen Auseinandersetzungen, die die Entfremdung noch verstärken. Das heißt aber nicht, dass psychodynamisch der Inhalt des Wahnes völlig unverständlich sein muss. Zum Beispiel ist nachvollziehbar, dass ein schwer depressiver Kranker sich wahnhaft schuldig fühlt, weil für ihn nur eigenes Versagen seine Ohnmacht erklären kann. Diese Deutung kann es einem Therapeuten erleichtern, dem Wahnkranken mit Verständnis zu begegnen. Aber dadurch wird der Wahn nicht beseitigt. Er löst sich erst auf, wenn die Depression sich aufhellt und für den depressiven Menschen kein Grund mehr besteht, den Verlust des leibseelischen (präreflexiven) Selbsterlebens mit einer extremen Betonung der reflexiven Selbstverantwortung zu kompensieren.

Das psychodynamische Verständnis eines Wahnes ist leichter möglich, wenn der Wahn mit der vorliegenden Gestimmtheit übereinstimmt, mithin synthym ist. Das ist regelhaft bei depressiven und manischen Wahnformen der Fall. Schuld- und Verarmungswahn, aber auch Untergangs- und Krankheitswahn kommen bei schwersten Depressionen vor. Sie hängen mit der herabgesetzten Vitalität, teilweise auch mit dem ausgeprägten

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Pflichtbewusstsein bestimmter depressiver Menschen zusammen. Größenwahn kann bei schwersten Manien auftreten. Im Gegensatz zu diesen synthymen Wahnformen, die sich langsam und stimmungsabhängig entwickeln, kann das Selbstbild bei anderen Erkrankungen auch durch einen plötzlichen Wahneinfall, eine sogenannte Wahnwahrnehmung, verändert werden. Es wird zum Beispiel einem von mir behandelten Psychosekranken unmittelbar klar, dass der ihm unbekannte Fahrer eines Autos um seinetwillen in seiner Nähe angehalten hat, weil er an ihm interessiert ist und ihn ausspionieren will. Die Aufschrift am Auto, die den Firmennamen «Seitz» enthält, bedeutet für den Kranken die an ihn gerichtete, unmissverständliche Aufforderung, sich zu setzen usw.

Eine solche Wahnwahrnehmung bedarf keines Beweises. Sie drängt sich unwillkürlich auf und ist so gewiss wie der Ort, an dem sich jemand befindet. Tatsächlich gilt es, Wahnwahrnehmungen von Halluzinationen zu unterscheiden. Was der Kranke sieht, ist real, nur die Bedeutung, die der Kranke dem Geschehen gibt, ist wahnhaft. Wobei bei einem Wahn nicht von Deutung oder Interpretation gesprochen werden kann, weil das Wahrgenommene für den Kranken schon die Botschaft enthält, die er dem Geschehen gibt. Er kann sich mit anderen Worten davon nicht distanzieren oder es einer Prüfung unterziehen. Diese Realitätsverkennung hat mit einer Störung des «Selbstgefühls» zu tun. Schizophren genannte Psychosekranke können sich im akuten Krankheitsstadium entweder nicht einheitlich erleben oder sich von der Um- und Mitwelt nicht adäquat abgrenzen. Deshalb kann es wie im oben aufgeführten Beispiel zu einer Vermengung von Innen- und Außensicht kommen. Dadurch bekommt das äußerlich Wahrgenommene aber eine ganz andere Bedeutung, die Mitmenschen völlig fremd ist.

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Das ist vielleicht der Hauptgrund, dass Psychosekranke nicht nur Unverständnis, sondern auch Angst auslösen. Sie sind schwer einschätzbar, weil sie in ihren Wahnvorstellungen aus dem gemeinsamen kulturellen Verständnis der Welt herausfallen. Der Wahn psychosekranker Menschen kann aber auch als Abwehrversuch der Angst, die durch Dissoziation oder «Spaltung» des Selbst hervorgerufen wird, verstanden werden. So hat schon Eugen Bleuler, der den Schizophreniebegriff vor mehr als hundert Jahren geprägt hat, das Wahngeschehen interpretiert. Die Auflösung von Kohärenz und Konsistenz des «Selbst», die nicht nur das Selbstbild oder die Ich-Identität fragmentiert, sondern auch das präreflexive Selbstbewusstsein grundlegend erschüttert, löst Erschrecken aus. Ein Wahn kann durch Halluzinationen noch verstärkt werden. So hört eine junge afrikanische Patientin von François Gysin trotz eines hochdosierten neuroleptischen Schutzes immer wieder mehrere feindliche Stimmen, die ihren Alltag vergiften. Diese Stimmen erschweren es ihr, sich selbst kohärent wahrzunehmen. Sie muss sich jeweils schlagen, um sich körperlich als einheitliche Person zu spüren und die Stimmen zum Verstummen zu bringen. Der Psychiater und Psychopathologe Christian Scharfetter (2012, S. 92) schreibt: «Wo das Ich als bewusster Anteil des auch leiblichen [!] Selbstgefühls […] nicht mehr einheitlich erlebt werden kann, da ist nichts mehr verlässlich, selbstverständlich, gesichert, von Dauer: keine Wahrnehmung, in welchem Sinnesfeld auch immer, keine Verbindung – weder der Körperteile noch der Gedanken noch der zwischen Ich und Mitwelt – und kein Gefühl, keine Grundbefindlichkeit. Der diese Kohärenz-Konsistenz-Auflösung erlebende Ich-Anteil ringt verzweifelt um Überwindung des Zerfließens, der Unsicherheit, will Verbindung herstellen im Denken, in Beziehungen (wahnhaften, realen). Aber das alles nützt wenig oder nichts oder nur kurz, weil kein Fundament in einem stabilen Selbsterlebens-Kern da ist, der Erfahrungen versam-

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meln, bewahren, halten könnte. Daher die Gefahr, dass der Kranke sich aufgibt […] oder sich in einem Wahn abkapselt von zwischenmenschlichen Beziehungsmöglichkeiten.»

Neben psychotischen Erkrankungen können auch dissoziative Störungen, zum Beispiel ein dissoziativer Stupor oder eine dissoziative Identitätsstörung bzw. multiple Persönlichkeitsstörung, mit einer Fragmentierung des «Selbst» einhergehen. Nur kommt es hier kaum zu Wahnbildungen, weil die Dissoziation weitgehend der Abwehr einer Problematik dient und nicht selbst Ursache einer schweren psychiatrischen Störung ist. Weniger differenzierte Wahnformen kommen hingegen auch bei Hirnerkrankungen vor, etwa vorübergehend im Delir oder länger anhaltend bei degenerativen Hirnerkrankungen. Auch unerträgliche Kränkungen können zusammen mit Argwohn dazu führen, dass sich ein sogenannter «sensitiver Beziehungswahn» entwickelt, das heißt eine unkorrigierbare Annahme, andere wüssten zum Beispiel um eine eigene Verfehlung und würden sie verbreiten. Diese sensitiv bedingte Wahnform geht nicht mit einer Identitätsstörung einher, verweist jedoch auf eine starke Selbstverunsicherung.

Selbstbild und Belastungsreaktionen bzw. Anpassungsstörungen Eine akute Belastungsreaktion wird durch ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis hervorgerufen. Die Reaktion kann sofort eintreten oder im Falle einer posttraumatischen Belastungsstörung auch mit einer gewissen Verzögerung. Anpassungsstörungen gehen meist mit depressiven Verstimmungen und/oder ängstlichen Zuständen einher. Diese sind definitionsgemäß (ICD 11, DSM 5) nicht so stark ausgeprägt wie depressive Episoden oder eigentliche Angststörungen. 106

Allerdings kann eine Anpassungsstörung unter ungünstigen Umständen auch in eine depressive Episode oder eine Angststörung (mit oder ohne Panik) übergehen. Deshalb ist die Grenzziehung nicht immer scharf und soll hier auch nicht künstlich getroffen werden. Auslöser von Anpassungsstörungen sind vielfach Beeinträchtigungen, die durch eine einschneidende Lebensveränderung entstehen und die Lebensqualität einschränken. Dazu gehören vielfach Situationen, die von den Betroffenen als ein persönliches Scheitern beurteilt werden. Zum Beispiel führt häufig eine Trennung vom Ehepartner oder ein Stellenverlust zu einer Anpassungsstörung. Beides geht oft mit Versagensgefühlen einher. Das Ende einer Beziehung oder der Verlust eines Arbeitsplatzes kann jemanden, der sein Leben auf ein solches Ziel aufgebaut hat, im Kern treffen. Leider hat manchmal die Anpassung an eine einschneidende berufliche Veränderung auch eine Belastung der Partnerschaft oder sogar einen Beziehungsverlust zur Folge. Dann kumuliert sich der Distress. Besonders schmerzlich ist eine Kündigung, wenn jemand sich viele Jahre an seiner Arbeitsstelle enorm eingesetzt hat oder wenn jemand von einem Kollegen oder Konkurrenten aus seiner Position verdrängt wird. Manchmal hat unter dem starken beruflichen Engagement auch die Partnerschaft gelitten, sodass es in der aktuellen Belastungssituation an privater Unterstützung fehlt. Infolge der damit zusammenhängenden Kränkung sind manche Betroffenen suizidgefährdet. Es gibt denn auch viele Hinweise, dass nicht nur die unmittelbare psychosoziale Belastung, sondern die Kränkungsproblematik das depressive Leiden und insbesondere die damit einhergehende Suizidalität mit verursacht (Hell 2021).

Schon deshalb erfordern viele Anpassungsstörungen eine spezifische und oft auch intensive Behandlung. Das gilt ebenso und in besonderem Maße für die posttraumatische Belastungsstö-

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rung. Sie stellt eine verzögerte Reaktion auf eine außergewöhnliche Bedrohung dar, zum Beispiel durch einen Unfall, aber auch durch körperlichen Missbrauch oder Vergewaltigung. Auch wenn diese Störung depressive und ängstliche Phänomene einschließt, ist sie doch hauptsächlich durch sich aufdrängende Erinnerungen an das Trauma (Flashbacks), durch ein Vermeiden von Situationen, die an das Trauma erinnern könnten, sowie durch Übererregung, Schreckhaftigkeit und Schlafstörung charakterisiert. Hier ist das (präreflexive) Selbstgefühl stark betroffen, sodass es bei starker Ausprägung zu einem Gefühl der Entfremdung von sich selbst oder der Umgebung kommt (Depersonalisations- und Derealisationsstörung). Das Gedächtnis und auch die Identität kann in Zusammenhang mit der Abwehr traumatischer Erinnerungen dissoziativ gestört sein (dissoziative Amnesie, dissoziative Identitätsstörung). Etwas andere Verhältnisse liegen bei Anpassungsstörungen vor. Sie sind weniger durch akute traumatische Belastungen bedingt als durch anhaltende belastende Lebensumstände, an die Betroffene sich nicht anpassen können. Hier stellt sich die Frage, inwieweit bestimmte Selbstkonzepte zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, zum erschwerten Umgang mit bestimmten Belastungen und damit zur psychischen Störung in einer herausfordernden Lebensveränderung beitragen. Das Selbstbild kann sich zwar unter schweren Belastungen verändern. Doch tragen kulturelle Einflüsse und biografische Erfahrungen in der Kindheit wesentlich dazu bei, was jemand von sich denkt und wie er sich bewertet. So haben Menschen mit Anpassungsstörungen, die unter Ängstlichkeit oder depressiven Verstimmungen leiden, biografisch bedingt oft ein Bild von sich entwickelt, dass von Zweifeln, Unsicherheit und Abhängigkeit geprägt ist und sich deshalb durch Vorsicht und rationale Kontrolle auszeichnet. Ihre Angstbereitschaft fördert aber auch eine gewisse Rigidität des 108

«Selbst». Da es für sie besonders wichtig ist, dass sie notfalls Unterstützung bekommen, neigen sie zur Anpassung an Bezugspersonen und herrschende Normen. Gleichzeitig bemühen sie sich aber oft um größere Unabhängigkeit. Ihre Lebensproblematik macht sie besonders krisenanfällig. Ein Hauptproblem besteht häufig darin, dass sie ihren Gefühlen wenig vertrauen. Dadurch können sie aber ihr präreflexives «Selbst», ihr «Gefühlsselbst», wenig nutzen. Es fehlt ihnen in der Krise gleichsam an festem Boden, der sie absichert. Denn auch ein durchdachtes reflexives Selbstbild kann diese Grundsicherheit nicht geben. Therapeutisch sind deshalb auch Behandlungen besonders erfolgreich, die Patienten darin unterstützen, sich der Angst (auch direkt mittels Expositionen) zu stellen und sie auszuhalten. Im Prinzip fördern solche Therapien das Vertrauen in Gefühle. Diese Therapien können aber nur dann einfühlsam angewandt werden, wenn das reflexive Selbstkonzept der Betroffenen berücksichtigt und der meist biografische Hintergrund der Problematik verstanden wird. Bei depressiven Verstimmungen liegt manchmal eine ähnliche Persönlichkeitsproblematik wie bei ängstlichen Reaktionen vor. So treten depressive Verstimmungen und ängstliche Reaktionen denn im Leben auch oft korreliert auf. Doch unterscheidet sich die Symptomatik insofern, als Angst mit Erregung und Depressivität mit Hemmung einhergeht. Angst ist zukunftsgerichtet und sucht eine Bedrohung durch Abwehr – sei es durch Flucht oder Angriff – abzuwenden. Depressionen sind auf Vergangenes ausgerichtet. Was belastet, ist schon eingetreten. Sie werden meist durch Verlust, Erschöpfung oder Aussichtslosigkeit ausgelöst. Das kann die unterschiedliche Ausdrucksweise und Symptomatologie von Angst und Depressivität erklären. Was schon verloren ist, kann durch Aktivität nicht gerettet werden. Aber vielleicht können Nachteile der Not durch Stillhalten begrenzt oder Lösungsansätze durch Nachdenken gefunden werden. 109

Tendenziell findet sich bei depressiven und ängstlichen Menschen ein von Unsicherheit geprägtes Selbstbild. Auch Selbstwertprobleme machen ihnen häufig schon in der Adoleszenz zu schaffen (Harter 2015). Mit dem Zusammenhang von Erziehungsverhalten der Eltern und späteren psychischen Problemen hat sich insbesondere die sogenannte Bindungsforschung beschäftigt. Die Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen (Hell 2015, S. 85/86): «Wer als Kind früh verunsichert worden ist oder sich bei seinen Eltern nie ganz geborgen fühlen konnte, wird auf (drohende) Trennungen und Verluste besonders unsicher und ängstlich reagieren. Weil ein Kind nicht üben konnte, aus einer bergenden und sicheren ElternKind-Beziehung heraus auf Unbekanntes zuzugehen – sich gleichsam vom sicheren Hafen aufs offene Meer zu wagen –, fehlt ihm als Erwachsener oft das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten. Er traut sich dann auch weniger zu, eine Belastung oder einen Verlust zu meistern. Erschwerend kann hinzukommen, dass ein Mensch, der durch instabile oder ambivalente Beziehungsverhältnisse in der Kindheit wenig Selbstsicherheit erwerben und seine soziale Kompetenz nicht voll entwickeln konnte, dazu neigt, sich von anderen Personen stark abhängig zu fühlen. Diese Abhängigkeit macht ihn besonders verletzlich für Rückzüge oder Abweisungen anderer Menschen. Sie erschwert aber auch seine eigene emotionale Entwicklung. Die Identitätsbildung bleibt oft unsicher, schwankend oder widersprüchlich. Aufgrund dieser Selbstunsicherheit wird es noch schwieriger, mit einer Verlustsituation umzugehen und die dabei auftretenden Gefühle zu ordnen. Stattdessen breiten sich Enttäuschung und Wut oder ein diffuses Gefühl des Gekränktseins im betroffenen Menschen aus. Durch die schwer abgrenzbaren, die ganze Person einnehmenden Enttäuschungsgefühle können noch vorhandene Kräfte und Lösungsmöglichkeiten zugedeckt oder absorbiert werden.»

Andere Schwierigkeiten der persönlichen Entwicklung kommen als Risikofaktoren hinzu. So finden sich bei depressiven 110

Menschen in der Kindheit häufiger Elternverluste durch Tod, Scheidung oder Trennung als bei nicht depressiven Menschen. Doch spielt auch hier entscheidend mit, wie mit verwaisten oder deprivierten Kindern umgegangen wird. Für manche meiner Patienten war der Verlust der Mutter oder des Vaters im Kindesalter vor allem eine traurige Erfahrung, die sie dank einer tragenden Beziehung durch eine andere Person – sei es eine Stiefmutter, einen Stiefvater oder eine andere Person – überwinden konnten. Für andere war es eine Katastrophe, weil sie sich allein gelassen oder unverstanden fühlten. Auch bei Elternverlusten dürfte die Hauptrolle spielen, welche Bindungsweise Kinder durch verbleibende Erziehungspersonen erfahren. So war für eine alleinlebende Tierärztin in mittlerem Alter, die ich wegen depressiver Verstimmungen und Panikattacken behandelte, der Tod des Vaters ein herber und folgenreicher Verlust, weil er für sie eine emotionale und erzieherische Stütze gewesen war. Sein Tod setzte sie einer schwer depressiven Mutter aus, die krankheitsbedingt auf sie gefühlsmäßig schlecht eingehen konnte und sie mit Leistungsansprüchen überforderte. Intellektuell hochbegabt konnte meine Patientin zwar schulisch brillieren, doch blieb ihr versagt, sich auch angenommen und geliebt zu fühlen. Sie entwickelte große Selbstzweifel, die sie mit beruflichen Erfolgen zu kompensieren suchte. Doch konnten diese ihr Selbstvertrauen nicht wie erwünscht stärken, umso mehr als sie sich durch ihre einseitige Leistungsorientierung schließlich auch beruflich überforderte und ihr auch in einer Partnerschaft das für sie so wichtige Verständnis versagt blieb.

Besonders belastend ist oft der Suizid eines Elternteiles. Er kann ein Kind traumatisieren, wobei allerdings auch hier die vorausgehenden Beziehungsverhältnisse und die nachfolgende oder ausbleibende Hilfestellung eine wesentliche Rolle spielen. Auch das Alter des Kindes, in dem es einen Elternteil verliert, und das Geschlecht des Suizidenten wie des Kindes sind bedeutsam.

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In meiner therapeutischen Tätigkeit habe ich einzelne Patienten behandelt, die als Knaben im Pubertätsalter ihren Vater durch Suizid verloren haben. In jedem Fall hat dieses Ereignis die jungen Menschen aus ihrer Bahn geworfen. Auch wenn meine Patienten im späteren Leben ihren Weg in beruflicher wie privater Hinsicht gefunden haben, so ist der Suizid des Vaters ein für sie einschneidendes Erlebnis geblieben. Sie reden kaum je darüber – und wenn sie es in der Therapie trotzdem tun, so ist auch Jahrzehnte später ihre Ergriffenheit und Verletztheit stark spürbar. Daran ändert auch nichts, dass sie die suizidale Handlung ihres Vaters einordnen und ein Stück weit verstehen können. Sie bleiben bildlich gesprochen «von der Kugel mit gestreift». Man kann die Wunde, die der väterliche Suizid geschlagen hat, psychologisch mit der Verletzung einer noch sensiblen männlichen Identität erklären. Doch ist die Verunsicherung umfassender. Weil der Tod des Vaters selbstgewählt ist, bedeutet er auch eine Ablehnung der Vaterschaft, die das heranwachsende Kind an einer sehr verletzlichen Stelle trifft. Es erlebt sich als ausgesetzt und kann diese Erfahrung auch später nur schwerhinter sich lassen. Der Verlust ist gleichsam verkörperlicht oder embodied. Einem meiner Patienten half, dass er nicht allein war, sondern mit seinen Brüdern sein Schicksal teilen konnten. Er hat dennoch eine Sensibilität für Trennungssituationen behalten, die es ihm schwer macht, sich in Beziehungen emotional tief einzulassen.

Allerdings hängt das Selbstbild nicht nur von Erfahrungen als Kind, sondern auch von späteren Einflüssen und von aktuellen Umständen ab. Schützend wirken sich tragende Beziehungen, ein gutes soziales Netz, Halt gebende Glaubens- und Wertvorstellungen sowie therapeutische Hilfen aus. Auch können emotionale Schwierigkeiten in der Kindheit durch spätere gute Lebenserfahrungen, etwa eine tiefe und anhaltende Liebesbeziehung, korrigiert werden.

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Moderne Ideale und psychische Erkrankungen Von enormer Bedeutung ist aber auch der Einfluss kultureller Normen und Werte. Sie prägen das Selbstbild und insbesondere das Selbst-Ideal mit. Darauf wurde bereits in Kapitel 4 kurz eingegangen. Hier soll es spezifischer um den Zusammenhang moderner Selbst-Ideale mit psychischen Krankheiten gehen (vgl. Hell 2013). In der depressiven Blockade wird die heute gängige Vorstellung eines starken, autonomen und flexiblen Subjekts zur Farce. Im depressiven Zustand von Verlangsamung und Energieverlust widerspricht ein Betroffener fast allen Fähigkeiten, die in einer Leistungs- und Informationsgesellschaft erwartet werden. In der Depression ereignet sich, was der moderne Mensch am wenigsten erträgt: Er erlebt klar und wach mit, wie seine persönlichen Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten eingeschränkt werden. Seine Gedanken und Erinnerungen werden schwerer abrufbar. Planen und Entscheiden sind ebenso blockiert wie ausführende Bewegungen oder körpersprachliche Ausdrucksformen. Neben der depressiven Störung stehen auch viele andere psychiatrische Erkrankungen mit überfordernden Selbstansprüchen in Zusammenhang. Zwangskranke neigen dazu, aus innerer Unsicherheit heraus alles im Griff haben zu wollen. Ihr Selbstbild hat oftmals perfektionistische Züge. Gerade dieser Selbstanspruch führt aber dazu, dass sie sich schneller und stärker überfordern und in Angst geraten. Menschen mit narzisstischen Tendenzen blähen demgegenüber ihr Selbstbild eher auf und laufen Gefahr, durch Misserfolge besonders gekränkt zu werden. Suchtkranke schließlich suchen ihre Enttäuschung, ihren Selbstvorstellungen nicht entsprechen zu können, mit Alkohol, Medikamenten oder Drogen zuzudecken. Oder sie versuchen damit die engen Grenzen ihres Selbst zu erweitern oder 113

aufzulösen. Doch vergrößert sich durch den Substanzmissbrauch oft noch die Diskrepanz zwischen Selbstanspruch und Alltagsrealität. Dieser Zusammenhang wird in der Erzählung vom «Kleinen Prinzen» von Saint-Exupéry treffend in einen kurzen Dialog gebracht: «Warum trinkst du?», fragt der kleine Prinz den Säufer. «Um zu vergessen, dass ich mich schäme», antwortet dieser. «Weshalb schämst du dich?», fragt der Prinz. «Weil ich saufe.» (Saint-Exupéry 2000, S. 42 f. [1943]) Solche Teufelskreise, die zu immer größerer Not führen, sind bei vielen psychisch Kranken zu beobachten. Der Trinker ist über sein Trinken enttäuscht, der Depressive über seine depressive Blockade und der Angst- und Zwangskranke über seine Angst. Es fällt ihnen schwer, in der Ent-Täuschung, die sie erleben, auch das Aufdecken einer Täuschung zu sehen, die mit ihrem Selbstbild zu tun hat. Stattdessen halten sie an ihren Selbstansprüchen fest. Dabei wäre es gerade in leidvollen Herausforderungen für einen Menschen hilfreich, das eigene seelische Erleben annehmen zu können und die Selbstinfragestellung durch ein normiertes oder idealisiertes Bild von sich selbst möglichst klein zu halten.

Psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfestellungen Nur, wie kann ein Mensch, der sich selbst infrage stellt, wieder zurück zu sich selbst finden? Man kann ja die eigene Biografie und die selbst durchgemachte Sozialisation nicht einfach wie eine Schlangenhaut ablegen und die Außenperspektive komplikationslos durch eine Innensicht ersetzen. Man kann sich nicht selbst ins Paradies katapultieren. Die Differenzerfahrung zwischen innen und außen bleibt.

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Man kann aber versuchen, sich mit dem eigenen Selbstbild auseinanderzusetzen und dazu auch therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Allerdings ist dies kein einfacher Prozess – auch auf therapeutischer Seite. Zwar darf Echtheit, positive Zuwendung und Empathie von Therapeuten erwartet werden, haben sich doch diese therapeutischen Eigenschaften in der Forschung in unzähligen Studien als methodenübergreifende Wirkfaktoren erwiesen (Orlinsky et al. 1994). Doch bewirken psychische Erkrankungen oft Interaktionsweisen, die eine offene Haltung und ein empathisches Eingehen erschweren. So führt zum Beispiel das Verhalten eines depressiven Menschen immer wieder dazu, dass sich Bezugspersonen und auch Therapeuten dadurch infrage gestellt fühlen und – um den depressiven Sog abzuwehren – selbstbehauptend negative Kritik an Depressiven üben oder ihnen Ratschläge erteilen, die im Grunde Schläge sind. Das geschieht bei Laien meist offener und direkter als bei Therapeuten, etwa wenn Angehörige und Freunde einen depressiven Menschen dazu auffordern, sich zusammenzureißen, sich am Schönen zu erfreuen oder das Belastende loszulassen. Doch sublime und versteckte Distanzierungsversuche sind auch bei Therapeuten keine Seltenheit: etwa, wenn ein aktionsgehemmter Patient vom Therapeuten dazu aufgefordert wird, aktiv an der Behandlung mitzuarbeiten, weil sonst alles keinen Sinn mache. Auch eine sachlich richtige Feststellung kann, wenn sie lieblosgeäußert wird, einen Patienten darin bestärken, dass er keine Zuwendung verdient. Umgekehrt fällt es einem Menschen leichter, seine negative Selbsteinschätzung zu relativieren, wenn er sich angenommen fühlt. Dann können einem leichter depressiven Patienten auch kritische Fragen oder Deutungen zugemutet werden – zum Beispiel ob er sich vorstellen könnte, dass seine Selbsterniedrigung ihn vor Überforderungen schütze

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oder dass sein Schuldgefühl keiner realen Schuld entspreche und einen anderen Grund habe. In Psychiatrie und Psychotherapie stoßen Therapeuten immer wieder an Grenzen, einen Patienten so anzunehmen, wie er wirklich ist und wie er sich fühlt. Selbst bei gutem Einvernehmen ist es oft nicht möglich, einen Zugang zum präreflexiven Erleben eines Kranken zu finden. So kann zum Beispiel ein Patient in tiefer Depression schwer erreichbar sein. Aber auch diese Aussage darf nicht als billige Ausrede dienen, sich Schwerkranken zwischenmenschlich zu entziehen. Gerade schwerer depressive Menschen brauchen engagierte Therapeuten. Allerdings bringt ein starkes emotionales Engagement auch die Gefahr mit sich, dass sich Patienten damit überfordert fühlen, weil sie unter dem Eindruck stehen, auch etwas zurückgeben zu müssen. Das kann ihren Leistungsdruck, der zur Depression beigetragen hat, noch erhöhen. So kommt es nicht selten vor, dass Menschen mit einer längeren depressiven Anamnese besonders heftig gegen ihre Depression ankämpfen, weil sie doch gute und «erfolgreiche» Patienten sein müssen, wie es ihr Therapeut «verdient». Das hat den Schriftsteller Adrian Naef (2003) nach seiner schweren Depression bewogen, von der Psychiatrie zu fordern, dass sie zwar dem Patienten – wenn nötig auch stationär – beisteht, aber auf den Patienten keinen Heilungsdruck ausübt. Damit trifft er einen sensiblen Punkt der psychiatrischen Versorgung. Wird doch heute von der Gesundheitspolitik aus ökonomischen Gründen eine möglichst effiziente, schnell wirksame Behandlung gefordert. Damit wird aber der Leistungsdruck nicht nur auf die Behandler, sondern auch auf die Patienten erhöht, mithin entsteht derselbe Druck, der oft schon zur depressiven Erkrankung beitrug.

In therapeutischer Hinsicht kann es für Patienten sehr wichtig sein zu spüren, dass das persönliche Engagement des Therapeuten zwar einen Behandlungserfolg anstrebt, aber damit nicht 116

ausschließlich verknüpft ist. Sonst verringert sich auch der allgemeine Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung, da diese nicht ohne Schaden ganz funktionalisiert werden kann. Der langjährige Genfer Klinikdirektor und Psychoanalytiker André Haynal sagte seinen Mitarbeitern jeweils, dass das Patienten-Therapeuten-Verhältnis immer ein feines Gleichgewicht von Einklang, aber auch von Dissonanz ist. Ohne Einklang keine Allianz, ohne Dissonanz keine Veränderung.

Trotzdem: Besonders wichtig sind Momente des Einvernehmens. Sie können aber nicht hergestellt werden. Sie können sich nur einstellen. Sie setzen Offenheit und Vertrauen von Patient und Therapeut voraus. Psychische Krankheiten können dies erschweren. Aber sie verunmöglichen es nicht. Umso ergreifender und nachhaltiger ist eine therapeutische Beziehung, die solche Momente kennt.

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6. Kapitel: Die Suche nach Identität – eine neue Art Heimweh

Die Frage «Wer bin ich?» ist alt. Sie hat schon die griechische Antike beschäftigt. Aber erst in der Moderne ist sie akut geworden und hat zum psychologischen Begriff der Ich-Identität geführt, der allerdings unterschiedlich angewandt wird. Auch in der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts ist zunehmend von Identitätsstörungen die Rede – zuerst am Beispiel der Schizophrenien, deren Problematik aber weit darüber hinausgeht, schließlich auch als spezifische Störung der Ich-Identität im Falle der «dissoziativen Identitätsstörung», früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Von dieser Krankheit betroffene Menschen weisen zwei oder mehrere alternierend auftretende Identitäten auf, die sich stark voneinander unterscheiden. Dabei kann je nach vorherrschender Identität die sexuelle Orientierung, die Handschrift, das Verhalten u. a. unterschiedlich sein. Das führt beispielsweise dazu, dass Betroffene handgeschriebene Notizen bei einem Identitätswechsel nicht als ihre eigenen erkennen oder nicht wissen, warum oder wie sie an einen bestimmten Ort gelangt sind. Diese schwere Störung macht deutlich, dass eine Ich-Identität nicht selbstverständlich ist. Allerdings muss auch bei dieser Störung vorausgesetzt werden, dass Betroffene eine Selbstwahrnehmung im Sinne eines Ich-Erlebens haben. Denn auch der Patient mit einer dissoziativen Identitätsstörung erlebt sich als Ich oder «Selbst», wenn auch im Zeitverlauf alternierend

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auf verschiedene Weise. Ohne diese Fähigkeit einer Perspektive der ersten Person könnte er gar nicht eine bestimmte, wenn auch wechselnde Ich-Identität annehmen. Es wäre psychotherapeutisch auch nicht möglich, Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung schrittweise dazu zu verhelfen, die verschiedenen Identitäten zu erkennen, besser damit umzugehen und teilweise zu integrieren. Es geht bei dieser Störung darum, wie sich jemand wahrnimmt. Dass sich jemand wahrnimmt, ist sogar Voraussetzung, dass sich jemand auf verschiedene Weise erfahren kann. Dabei können insbesondere extrem negative Erfahrungen in der Kindheit wie schwere Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung die Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit behindern und eine Abkapselung von Gedächtnisinhalten erleichtern.

In der Regel wird die Ich-Identität als kontinuierliches Bewusstsein von sich selbst definiert. Identität leitet sich von lateinisch «idem» (gleich) ab. Auch wenn sich Gefühle, Selbsteinschätzungen, Motive und Antriebe sehr stark ändern können – wie in extremis im Übergang von tiefer Depression in schwere Manie – erfahren wir diese verschiedenen Zustände aus der immer gleichen Perspektive. Diese Perspektive wird philosophisch Erste-Person-Perspektive genannt. Sie unterscheidet sich von einer Außensicht, der sogenannten Dritte-Person-Perspektive, die sich im Leben stark verändert. So sehen wir uns im Spiegel als Kind völlig anders als im Alter. Die Erste-Person-Perspektive macht uns aus. Mit ihr setzen wir uns nicht nur gleich. Wir sind sie. Sie ist gleichsam unser Ausgangspunkt. Demgegenüber nehmen wir uns mit der Dritte-Person-Perspektive nur gespiegelt oder gebrochen wahr. Sie ermöglicht uns aber, ein Bild oder ein Selbstkonzept, eine sogenannte theory of mind, von uns zu entwickeln. Dass wir aber diese Vorstellungen und Reflexionen als unsere eigenen empfinden, setzt die Erste-PersonPerspektive als Basis voraus. Sie erlaubt uns, uns auch dann kontinuierlich zu erleben, wenn wir uns von außen sehr ver120

schieden wahrnehmen oder ganz unterschiedlich von uns denken. In englischen Sprachraum wird «the self» häufig mit Identität gleichgesetzt. So trägt zwar das sehr einflussreiche Buch von Charles Taylor im Original den Titel «Sources of the self», doch spricht der Autor von «this portrait of identity» (Taylor 1989, S. IX). In der 8-bändigen «Encyclopedia of Philosophy» (Hg. P Edwards) findet sich unter «Self» nur ein Verweis auf «Personal Identity». Darin könnte sich der Einfluss von David Hume widerspiegeln. Ein viel zitierter Satz von Hume lautet: «For my part, when I enter most intimately into what I call myself, I always stumble on some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, love or hatred, pain or pleasure. I never can catch myself at any time without a perception, and never can observe anything but perception.» (Hume 1978 [1739–1740], S. 252, kursiv im Original) Interessant ist aber, dass Hume, wenn er von Identität spricht, von Empfindungen (perceptions) ausgeht und mithin das präreflexive Erleben betont, allerdings ohne diesen Begriff zu gebrauchen. In der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts hat Paul Ricœur in «Soi-même comme un autre» (1990) hilfreich zwischen zwei Identitätstypen unterschieden, deren Konzeption von den lateinischen Begriffen idem und ipse ausgeht: einerseits die Selbigkeit (mêmeté), mithin die Identität zweier Erscheinungsweisen, andererseits die Selbstheit (ipséité), die das Subjekt selbst und nicht seine bloße Erscheinung bezeichnet. Nach Ricœur ist es die unvertretbare Selbstheit, die Raum für persönliche Diversität und moderne Dekonstruktion schafft, ohne das einheitliche Selbstsein infrage zu stellen (vgl. Angehrn 1999b).

Ich bin mir bewusst, dass diese Hinweise sehr knapp sind (vgl. Hell 2013), möchte damit aber schon an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, dass rein reflexive Überlegungen die Kontinuität der Ich-Identität schwerlich ermöglichen. Sonst müssten uns die enormen körperlichen und mentalen Diskrepanzen zwi121

schen Kindheit und Alter an einer kontinuierlichen Identität zweifeln lassen. Auch könnte das Bild oder das Selbstkonzept, das wir von uns entwickeln, ebenso gut das Bild oder die Repräsentanz eines Fremden sein, wenn es nicht mit unserem Selbsterleben der Erste-Person-Perspektive verbunden wäre. Allerdings stellt sich die Frage, wie diese Verbindung zustande kommt. Auch fragt sich, welche der Bilder und Vorstellungen, die wir von uns haben, mit dem Selbsterleben stärker verbunden sind als andere. Diese unterschiedliche Bindung kann nämlich erklären, weshalb eine gewisse Unstimmigkeit innerhalb des Selbstbildes möglich ist, ohne dass ein Mensch dissoziiert, solange die zentralen Vorstellungen der sogenannten Subselves nicht infrage gestellt sind. Auch dürfte mit entscheidend sein, inwieweit jemand einen nicht nur reflexiven, sondern auch präreflexiven Zugang zu sich selbst hat, um eine gewisse Diskontinuität der inhaltlichen Selbstrepräsentationen durchzuhalten. Eine 30-jährige, hoch gebildete und intelligente Patientin, die ich seit Jahren therapeutisch begleite, hat in der Adoleszenz eine Anorexie und später auch bulimische Phasen durchgemacht. Sie litt in den letzten Jahren auch an depressiven und submanischen Episoden, die einmalig eine psychiatrische Hospitalisation nötig machten. Es gelang ihr aber, sich immer wieder zu fangen. So konnte sie sich beruflich in einem Start-up-Unternehmen als wissenschaftliche Mitarbeiterin im letzten Jahr stabilisieren. Obwohl sie in den schweren psychischen Krisen einmal wie gelähmt, dann wieder voller Tatendrang war und obwohl sie sich zeitweise für völlig unfähig hielt und sich in anderen Momenten Mitmenschen weit überlegen fühlte, verlor sie nie ihre Ich-Identität im Sinne einer gleichbleibenden Ich-Perspektive. Was sich jeweils dramatisch veränderte, waren ihr soziales Selbstbild und ihre Selbsteinschätzung. Auch wenn es ihr besser ging, blieb eine Ungewissheit, wie sie sich selbst zu verstehen hat. Dazu trug auch ihr Denken bei, das sehr scharfsinnig, aber auch höchst abstrakt war und alle Möglichkeiten of-

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fenließ. Sie suchte stets nach einer gedanklichen Grundlage, die ihr Sicherheit geben sollte. Damit vermied sie zwar, sich mit schmerzhaften Erlebnissen konkret auseinanderzusetzen, erhöhte aber die Gefahr, weiter an Bodenhaftung zu verlieren. Die Patientin hatte in ihrem Leben immer Halt im Denken gesucht, auch weil sie in ihrer Kindheit emotional traumatisiert worden war. Dass ihr klares rationales Denken ihr in existenziellen Fragen keine Gewissheit verschaffen konnte, erschütterte sie deshalb umso mehr. In den therapeutischen Gesprächen konnte sie diese Not ausdrücken. Sie wählte dafür auch das Bild, dass sie sich «in der Dialektik verirre». In großer Verzweiflung befürchtete sie einmal, dass sie infolge des immer weitergehenden «Denkens in Gegensätzen» schließlich den Verstand verlieren könnte. Besonders belastend waren für die Patientin erschöpfungsbedingte, kontaktarme Ruhezeiten, in denen sie sich in unlösbaren Grundsatzfragen verstrickte. Sexuelle Selbstbefriedigung verschaffte ihr kurzfristig ein besseres Körpergefühl, verwies sie aber auch auf ihre Beziehungsproblematik. Demgegenüber verhalfen der Patienten günstige Arbeitsverhältnisse und zwischenmenschliche Kontakte, die von Achtung und Interesse an ihrer Person geprägt waren, zu etwas mehr Selbstsicherheit. Dann konnte sie ihre außerordentliche Reflexionsfähigkeit auch konkreter im Alltag nutzen. Die Psychotherapie dieser hier anonymisierten und retuschiert dargestellten Patientin ist nicht abgeschlossen. Sie hat mir aber in besonderer Weise deutlich gemacht, dass die Ich-Identität nicht von Reflexionen bzw. vom reflexiven Selbstbewusstsein allein abhängt, sondern dass dazu ein präreflexives Selbstbewusstsein nötig ist.

Damit greife ich auf das Konzept des präreflexiven Selbstbewusstseins zurück (vgl. Kapitel 3). Es basiert auf einem leibseelischen Grundgefühl. Dieses «Leibgefühl» kann ein «Kristallisationspunkt des Ich-Identitätsgefühls» (Benedetti 1964) sein. Es ist im Vergleich zur philosophischen Erste-Person-Perspektive stärker auf den Körper ausgerichtet. Damit ist es auch besser an moderne neurobiologische Befunde anschlussfähig. Diese 123

machen zunehmend deutlich, dass das leib-seelische Erleben für das Selbsterleben grundlegender als das Denken ist. Paradigmatisch dafür steht der erste Buchtitel des promintenten Neurowissenschaftlers Antonio Damasio: «Ich fühle, also bin ich» (2000 [1994]) – in Abgrenzung von Descartes: «Ich denke, also bin ich». Damasio hat früh darauf hingewiesen, dass es (gemäß seiner Theorie der somatischen Marker) sensorische Afferenzen aus Lunge, Herz, Bauch und Haut braucht, damit der Mensch fühlen und sich selbst erfahren kann. Im Buch «Selbst ist der Mensch» (2011) schreibt er: «Wenn man vom menschlichen Bewusstsein spricht, denkt jeder sofort an die hochentwickelte Hirnrinde, und dennoch habe ich viele der vorangegangenen Seiten darauf verwandt, eine Verbindung zwischen dem Bewusstsein und dem bescheidenen Hirnstamm herzustellen. Bin ich bereit, die hergebrachten Weisheiten über Bord zu werfen und den Hirnstamm als führenden Partner im Bewusstseinsprozess anzuerkennen? Nicht ganz. Das Bewusstsein des Menschen erfordert sowohl die Großhirnrinde als auch den Hirnstamm. Allein kann die Großhirnrinde es nicht erzeugen. […] Kann es ein Bewusstsein ohne Gefühle geben? Nein. Das introspektive Erleben des Menschen umfasst immer auch Gefühle.» (Damasio 2011, S. 255)

Auch andere Neurowissenschaftler vertreten heute die Ansicht, dass Signale aus dem Körperinneren die Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstbewusstseins und letztlich auch der IchIdentität sind. «Das Erleben unseres Bewusstseins hängt zentral von den sensorischen Körpersignalen ab», sagt zum Beispiel Bigna Lenggenhager, Professorin für Kognitive Neuropsychologie in Zürich. Besonders umfassend behandelt der südafrikanische, aber mittlerweile in den USA forschende Neuropsychologe Mark Solms die Problematik des Selbstbewusstseins in seinem neuen, vielbeachteten Werk «The Hidden Spring – A Journey to the 124

Source of Consciousness» (2021). Auch für ihn sind die höheren neokortikalen Hirnstrukturen gerade nicht Träger des Bewusstseins. Die dort erfolgenden Verarbeitungen sind im Gegenteil von tiefer liegenden Strukturen in Hirnstamm und Mittelhirn gespeist. Solms belegt seine These nicht nur mit vielen empirischen Befunden, sondern auch mit eindrücklichen Beispielen von Patienten mit verschiedenartigen Hirnschädigungen. So weisen Kinder, die aufgrund einer Entwicklungsstörung ohne Großhirnrinde zur Welt kamen, durchaus Formen von Bewusstsein auf. Die Betroffenen, die bei guter Versorgung das Jugendalter erreichen können, sind nicht nur wach, sondern zeigen emotionale Reaktionen. Der schwedische Neurowissenschaftler Björn Merker, der diese Kinder untersucht hat und den Solms zitiert, kommt zum Schluss, dass zahlreiche Bewusstseinsphänomene ohne zerebralen Kortex auskommen. Zwar sind komplexere geistige Operationen wie logisches Schlussfolgern oder Selbstreflexion ausgeschlossen, das Erleben von Gemütszuständen wie Freude, Ärger oder Trauer aber sind möglich. Für Mark Solms speist sich Bewusstsein aus tief gelegenen Hirnarealen wie dem retikulären Aktivierungssystem und dem ventralen Tegmentum. Falls seine These stimmt, wird die psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud auf den Kopf gestellt. Dann würde dem (Selbst-)Bewusstsein nicht eine reflexive Struktur wie das «Ich» zugrunde liegen, sondern etwas Präreflexives wie das «Es».

Vom Selbstbewusstsein zur Ich-Identität Nun stützte sich Freud als Psychoanalytiker – auch wenn er als junger Neurologe neuroanatomische Studien durchgeführt hatte – aber nicht auf neurobiologische Experimente, sondern auf

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zwischenmenschliche Beobachtungen und sein eigenes Erleben. So beruht sein Strukturbegriff des «Ich» auch nicht auf einer Identifizierung des Selbstbewusstseins mit Hirnfunktionen, sondern auf der Beobachtung, dass der Mensch bestimmte Entscheidungen und Handlungen ich-haft trifft, während andere Antriebe ihm unbewusst bleiben und es-haft sind. Damit klingt im älteren psychoanalytischen Begriff vom «Ich» schon etwas an, was später zum Begriff der «Ich-Identität» beigetragen hat. Gemäß dem Historischen Wörterbuch der Philosophie bildet «die psychoanalytische Theorie der frühkindlichen Entwicklung und das ihr zugrundeliegende Persönlichkeitsmodell den Hintergrund vieler soziologischer und sozialpsychologischer Identitätstheorien […] Als der bedeutendste Protagonist der sozialwissenschaftlichen Rezeption Freud’scher Motive darf wohl T. Parsons gelten, der (uminterpretierte) Teilstücke der Psychoanalyse seiner weithin akzeptierten Sozialisationstheorie zugrunde legte. Auch E. H. Erikson, der dem Begriff der ‹Identität› in den Sozialwissenschaften Anerkennung verschafft hat, ist psychoanalytisch orientiert. […] Sozialisation stellt er als eine Kette von übernommenen und abgestoßenen Identifikationen mit primären Bezugspersonen vor, die erst mit der Adoleszenz abschließt. Nach Erikson ist daher eine Person erst nach dem Abschluss der Adoleszent mit sich identisch; erst dann kann ihr Ich-Identität zugesprochen werden.» (Ritter et al. 2017, S. 148)

Ich-Identität, eigentlich als Bewusstsein der Kontinuität über die ganze Lebensspanne definiert (Scharfetter 2002), wird in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen von Beginn an als Entwicklungsprozess verstanden, der verschiedene Phasen durchläuft und mit Brüchen einhergeht. Dieses sozialpsychologische Verständnis orientiert sich stärker am Inhalt des Selbstverständnisses als an der Voraussetzung eines konstanten IchErlebens. Dadurch lässt sich Ich-Identität aber auch nicht mehr scharf von Selbstkonzepten abgrenzen, die von soziokulturellen

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Einflüssen bedingt sind oder von Mitmenschen einer Person zugewiesen werden. Aus der sozialpsychologischen Auffassung von Identität kann gefolgert werden, dass es darum geht, unter den sich schnell verändernden Lebensumständen eine Identitätspassung zu finden, die glaubwürdig ist und nicht zur Selbstaufgabe führt. Das wird aber immer schwieriger. Nimmt doch die Geschwindigkeit zu, mit der sich die Lebensbedingungen und die soziokulturellen Werte und damit auch die Identifikationsangebote ändern. Was bereits über den soziokulturellen Druck und seine Auswirkungen auf das psychische Gleichgewicht in Kapitel 5 gesagt wurde, gilt in vergleichbarer Weise auch für die Identitätsentwicklung. Hinzu kommen soziale Rollen- und Identitätszwänge, die auch in der modernen neoliberalen Individualgesellschaft nicht wegfallen, sondern oft noch zunehmen. Es ist deshalb kein Wunder, dass heute die Suche nach einer persönlichen Identität immer wichtiger wird. Durch die wachsende Globalisierung und Multikulturalität wird der spätmoderne Mensch immer stärker vor die mit Konflikten beladene Frage gestellt, wer oder was er ist. Identität ist zu einer modernen Thematik geworden, die auch die Entwicklungs- und Sozialpsychologie intensiv beschäftigt. Hier wird Identität zu einem Projekt: «Wir sind nicht was wir sind, sondern was wir aus uns machen» (Giddens 1991). Ziel sei es, «eine eigene ergebnisoffene und bewegliche authentische Identitätskonstruktion zu schaffen» (Keupp 2009). Persönliche Identität soll ebenso das unverwechselbar Individuelle wie das sozial Akzeptable darstellen. Allerdings wird sozialpsychologisch auch die Abhängigkeit der Identität von zwischenmenschlichen Interaktionen betont. Der Medizinso-

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ziologe Anselm Strauss (1968) versteht zum Beispiel Identität hauptsächlich als ein Reflexbündel im Mehrfachspiegel von Mitmenschen. Sehr differenziert behandelt der deutsche Philosoph Jürgen Habermas das Problem der Identität. Dabei unterscheidet er neben IchIdentität auch eine soziale und persönliche Identität, wobei die persönliche Identität das Gesamte einer unverwechselbaren Lebensgeschichte darstellt. Habermas sieht im Anschluss an den amerikanischen Stigmaforscher Erving Goffman die Gefahr, dass soziale Wirklichkeit und persönliche Identitätsvorstellungen zu weit auseinanderklaffen. Entsprechend gelte es, die Balance zwischen sozialer und persönlicher Identität zu wahren. Dies geschehe allerdings oft dadurch, dass man sich einerseits im Vergleich mit anderen als gleichwertig einschätze (phantom-normalcy), sich aber andererseits von diesem Vergleich distanziere, um die eigene Unverwechselbarkeit nicht aufgeben zu müssen (phantom-uniqueness). Damit rette man die Balance zwischen sozialer und persönlicher Identität auf paradoxe Weise (Habermas 1969, S. 178–203). Die unterschiedlichen Identitätsbegriffe haben sich allerdings sprachlich wenig durchgesetzt. Ich übernehme sie im Folgenden nur dann, wenn ich von einer bestimmten Identitätsform ausgehe.

Sehnsucht nach einer inneren Heimat Tatsächlich ist der moderne Mensch besonders stark herausgefordert, seine körperliche und biografische Einmaligkeit zu bewahren und sich von sozialen Zuschreibungen und eigenem Erfolgsdruck nicht zu sehr entfremden zu lassen. Dafür ist aber eine Verankerung in sich nötig, die rein mental und reflexiv schwer zu erreichen ist. Immer mehr Menschen suchen denn auch danach, sich intensiver zu spüren, sei es durch sportliche Aktivitäten oder mittels meditativer Praktiken. Beides trägt zu einem besseren Körpergefühl bei. Doch ist der Effekt nicht immer nachhaltig. Vielfach bleibt eine innere Anspannung beste-

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hen oder kommt neu auf, weil sich die innere Ruhe infolge Alltagsbelastungen und sozialer Konfliktfelder nicht aufrechterhalten lässt. Oft ist die sportlich oder meditativ erzielte Entspannung auch nicht von einem Gefühl innerer Harmonie begleitet. Dann bleibt eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Harmonie bestehen. Man möchte gleichsam in sich selbst heimisch sein. Tatsächlich kann angesichts einer gewissen Entfremdung eine Art Heimweh aufkommen, eine Sehnsucht danach, bei sich zu Hause zu sein. Nun mag das gewählte Bild von Heimat und Heimweh im Zusammenhang mit Ich-Identität überraschen. Zwei verschiedene sprachliche Ausdrucksweisen prallen aufeinander, auf der einen Seite die sachlich-wissenschaftliche, auf der anderen die bildlich-poetische. Doch geben Heimat und Heimweh eine Gestimmtheit wieder, die zum Erleben von Ich-Identität gehören kann, aber bei Verwendung eines nüchternen wissenschaftlichen Ausdrucks wie Ich-Identität nicht mitklingt. Die Schwierigkeit vieler moderner Menschen ist nicht, dass sie sich mit anderen Menschen verwechseln würden oder dass sie ihren Körper, ihre Gefühle und ihr Denken nicht als eigene erlebten. Ihre Problematik liegt vielmehr darin, dass Vorstellungen, die sie von sich haben, ihnen nicht ganz stimmig oder zum Teil oberflächlich erscheinen. Ihr Selbstbild stimmt vielleicht auch mit den Eindrücken anderer Menschen nicht überein. Vor allem aber leiden sie darunter, dass sich der Wunsch, wie sie sein möchten, und die Wirklichkeit, wie sie sind, nicht decken. Sie fühlen sich manchmal selbstfremd. Manche drücken dies treffend in den bildhaften Worten aus «Ich gehe mir verloren», «Ich weiß nicht, wo ich hingehöre oder wer ich bin», «Ich möchte mich wieder finden». Dabei ist auch ein Anflug von Traurigkeit und Sehnsucht spürbar.

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Versteckte Identitätsprobleme bei psychischen Erkrankungen Bei vielen psychischen Problemen ist die Verunsicherung der Ich-Identität nicht auffällig. Im Vordergrund steht meist eine affektive oder kognitive Problematik wie bei Depressionen und Angststörungen oder eine organische Störung wie bei Delirien oder Demenzen. Dabei liegen bestimmte Krankheitssymptome vor, nach denen auch die psychiatrische Diagnose gestellt wird. Bei genauerer Prüfung und besserer Kenntnis der Patienten ist die Verunsicherung ihrer Ich-Identität bei manchen aber kaum zu übersehen. Als Beispiel wähle ich Patienten, die eine Burn-out-Problematik haben und an depressiven Verstimmungen leiden. Diese Patientengruppe wird mit besonderer Tüchtigkeit und großem Einsatz assoziiert. Man denkt primär nicht an eine unsichere Identität, die ihnen zu schaffen macht. Trotzdem ist dies häufig der Fall. Viele fühlen sich zu kurz gekommen, nicht adäquat behandelt, zu wenig ernst genommen oder akzeptiert. Manche verspüren einen Widerwillen, zur Arbeit zu gehen. Ihr Arbeitsplatz ist ihnen unvertraut, fremd geworden. Zudem führt die Erschöpfung dazu, dass sie mit sich selbst unzufrieden sind. Sie sind oft nicht nur unruhig und gereizt, sondern fühlen sich auch in ihrer Haut nicht mehr wohl. Sie erleben sich wie entwurzelt, ohne Halt, und leiden an einem Identitätsverlust. Weil Arbeit für die meisten Menschen ein wichtiger Faktor der sozialen Identitätsbildung ist, trägt Entfremdung von der Arbeit, ähnlich wie ein Arbeitsverlust, zu einer tiefen Verunsicherung bei. Viele empfinden eine Art äußerer und innerer Heimatlosigkeit oder ein Unbehaust-Sein. Das führt zu einer Sehnsucht nach Bestätigung, zu einem Wunsch nach Vertrautheit und Akzeptanz und zu einer subtilen Form von Heimweh. 130

Natürlich ist diese Art von Heimatlosigkeit unvergleichlich mit dem Heimatverlust von Emigranten, deren Identität in ganz anderer Gefahr ist. Aber ein Gefühl von Fremdheit am gewohnten Arbeitsplatz, mit dem man sich früher identifiziert hat, kann dennoch stark verunsichern. Identität hat mit Bindung zu tun. Wer Bindung und Vertrauen verliert, büßt auch an Selbstgewissheit ein. Das gilt in größerem oder kleinerem Maße auch für Burn-out-Betroffene und trifft umso mehr zu, wenn sie Demütigungen und Erniedrigungen am Arbeitsplatz erfahren haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein gewisser Selbstverlust oder mindestens eine Identitätsgefährdung in der psychotherapeutischen Begleitung von Menschen mit Burn-out eine wichtige Rolle spielt. Burn-out-Patienten brauchen eine Anbindung, die einem empathischen Attachment entspricht. Nun könnte man einwenden, dass der Zynismus, der nach Maslach et al. (1996) ein Charakteristikum von Burn-out-Betroffenen ist, einer solchen Suche nach Akzeptanz und Bindung widerspricht. Denn Zynismus ist eher ein Zeichen von Überheblichkeit als von Bedürftigkeit. Zynismus kann aber auch ein abwehrendes Verhalten sein. Wer in seiner Identität gefährdet ist, aber die damit einhergehende Verunsicherung nicht zu akzeptieren vermag, kann sich durch zynische Deklassierung seiner Arbeitskollegen selbst zu erhöhen und damit abzusichern versuchen. Eine besonders charakteristische Schilderung dieses Zynismus findet sich bei Herbert Freudenberger, der den Begriff des Burn-outs in die Sozialpsychologie eingeführt hat. Er hat sich in der ersten Publikation über Burn-out (Freudenberger 1974, S. 159 f.) selbst als Burn-out-Betroffener so charakterisiert: «Der Burn-out-Betroffene weiß alles besser, ist dabei im Denken rigide, unflexibel, kaum in der Lage, alternative und damit konstruktive Lösungen zu finden. Er ist in Gefahr, zum

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‹Hauszyniker› mit durchaus negativen Einstellungen zu werden. Er tadelt andere für Dinge, die falsch laufen» (Übersetzung DH). In einem späteren Werk beschreibt Freudenberger Burn-out-Betroffene als Beschämer (blamer) und Kritiker von allem, was in der Institution abläuft (Freudenberger 1986).

Auffälligerweise wird in der Burn-out-Literatur für diese zynische Haltung auch der Begriff «Depersonalisierung» verwendet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass manche Burn-outBetroffenen sich nicht mehr kohärent erleben, sondern zur psychischen Dissoziation neigen. Dazu kommt es, weil sie eigene Gefühle, insbesondere Schamgefühle, nicht zulassen und Gefahr laufen, in der kalten und beziehungsarmen Welt des Zynismus zu ersticken.

Verschämte Heimatsuche in der Psychotherapie Solche psychodynamischen Zusammenhänge weisen darauf hin, wie wichtig psychotherapeutisch der Aufbau einer guten zwischenmenschlichen Bindung für Betroffene ist. Wie der Verlust an persönlicher Identität mit einem inneren Heimatverlust verglichen werden kann, so kann die Psychotherapie metaphorisch als ein Angebot gesehen werden, sich innerlich heimisch zu fühlen. Wenn ich an meine eigene Psychoanalyse denke, hatte sie für mich vordergründig einen lehranalytischen Zweck. Es gehörte sich damals in den Nach-68er-Jahren eine psychoanalytische Ausbildung zu machen. Aber meine Analyse hatte hintergründig noch andere Motive. Ich war im Übergang ins Erwachsenenalter in einer Lebenssituation, die mir teilweise fremd war und auch zu Schamgefühlen beitrug. Ich verstand zwar meine Beziehung zum von mir sorgsam ausgewählten Analytiker vordergründig als Arbeitsbeziehung in einem besonderen Setting. Dass dabei aber mehr mitspielte, zeigte sich bei132

spielsweise bei Abwesenheit des Analytikers, die bei mir eine Art Heimweh wachrief, mitunter auch begleitet von ungern eingestandenen Gedanken, ich könnte im Stich gelassen werden. Zweifellos vermisste ich einen Bezug, der nicht einfach in einem Arbeitsbündnis aufging, sondern auch heimatlichen oder heimischen Charakter hatte. Rückblickend denke ich, dass ohne eine gewisse «Tragung» – im Sinne des Getragenwerdens – eine hilfreiche Übertragungsbeziehung zum Analytiker gar nicht möglich gewesen wäre. Erst diese «Tragung», dieses zu Hause Sein, hat es mir ermöglicht, Schamvolles zur Sprache zu bringen. Zudem habe ich in der Lehranalyse auch erfahren, wie schwierig es ist, sich selbst zu verändern. Der amerikanische Psychologe und Psychoanalytiker Roy Schafer warnt deshalb zu Recht vor einem therapeutischen Eifer, der den Patienten überfordert: «Therapeutic zeal indicates a lack of empathy – specifically empathy for how difficult it is to achieve significant change in one’s way of living. The patient must cope with so much anxiety, shame and guilt before that kind of change can begin.» (Schafer 2009, S. 410)

Davon spricht auch die moderne Psychotherapieforschung. Bekanntlich ist eine gute Beziehung zwischen Patient und Therapeut eine der wichtigsten Grundlagen für einen Behandlungserfolg (vgl. Kapitel 5). Es geht in Psychotherapien ja weniger um abstrakte Erkenntnisse als um emotionale und beziehungsorientierte Erfahrungen und persönliche Einsichten. So lässt sich aber auch Heimat verstehen, nämlich gerade nicht als eine sachliche und gesetzmäßige Feststellung, sondern als ein berührendes und gemeinschaftsbildendes Erleben. Mit Identität verhält es sich nicht so anders. Sie ist kein rein sachlicher Begriff, der scharf definiert werden könnte. Identität hat gefühlhafte Anteile. Sie entspricht, wenn auch nicht nur, einer Art Stimmigkeit mit sich selbst. Eine Identitätskrise zeigt einen Verlust des inneren Gleichgewichts an. Solange wir im Gleichgewicht sind, nehmen wir uns wie selbstverständlich und entsprechend

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auch kaum bewusst und reflexiv wahr. Erst eine Identitätskrise macht erkennbar, was vorher als Einheit unbewusst vorhanden war und jetzt schmerzhaft oder verstörend fehlt. Von Günther Anders stammt der Satz «Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird Identitätsstörung erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung gibt» (Anders 2002, S. 91). Die Literatur ist voll von Beispielen von Menschen, die an sich selber leiden und danach suchen, mit sich in Einklang zu kommen. Da findet zum Beispiel im Roman «Schiffsmeldungen» von Annie Proulx ein 36-jähriger Mann, der sich seit früher Kindheit infolge widriger Umstände als Versager erlebt hat, an einer unwirtlichen Küste in Neufundland erstmals eine Heimat und eine tragende Liebe. Sie lassen ihn zu sich selbst finden. Im Frühwerk von Adolf Muschg mit dem Titel «Albissers Grund» sucht der Romanheld Albisser in einer Psychotherapie nach Verständnis und Geborgenheit, die er in seiner Kindheit, aber auch an seinem Arbeitsplatz, vermisst hat. Er trifft auf einen ungewöhnlichen Therapeuten, der ihm jedoch das Gesuchte verweigert. Im Roman schießt Albisser auf seinen Therapeuten und verletzt ihn schwer. Der Roman hat autobiografische Züge. Sie sind aber dichterisch verarbeitet. Adolf Muschg war vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit wie sein Romanheld Albisser Gymnasiallehrer und litt wie dieser unter Entfremdungsgefühlen und damit einhergehenden hypochondrischen Störungen. Muschg suchte Hilfe beim bekannten Psychoanalytiker Paul Parin. Er erhoffte sich Heilung von seiner schweren Symptomatik. Dies blieb ihm versagt. Doch erkannte Muschg – auch über eine anschließende körperorientierte Psychotherapie – dass sein hypochondrisches Leiden ihm zeigt, dass er in seinem Körper nicht zu Hause ist und dass er seinen Leib wie einen Fremdkörper erlebt. Auch sein eigenes Schreiben hätte ihm, so Muschg, geholfen zu erkennen, woran es

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ihm gefehlt habe, nämlich sich selbst so anzunehmen, wie er ist und nicht so wie andere es sich wünschen.

Nun ist allerdings zweifelhaft, ob es die Identität, das gute Selbstgefühl, das zweifelsfrei und andauernd vorhanden ist, überhaupt gibt oder ob es gerade in der sich rasant verändernden Spätmoderne nicht mehr darum geht, ein inneres Gleichgewicht immer wieder neu zu finden. Das kann für die Psychotherapie die Konsequenz haben, nicht von einer linearen Identitätsentwicklung auszugehen, sondern das Aushalten einer gewissen Ambivalenz zu unterstützen. In jedem Fall braucht die psychotherapeutische Stärkung der Ich-Identität keine Dogmatik, sondern Offenheit und ein Mitgehen. Aber Identitätssuche erfordert, um erfolgreich zu sein, neben Verständnis auch Auseinandersetzung. Ein inneres Zuhause wird nicht dadurch gefördert, dass man mit dem Therapeuten nur einer Meinung ist und bestimmte Ansichten, Theorien oder Ideologien teilt. Zur Ich-Identität verhilft keine Gleichmacherei, sondern Zugehörigkeit und Abgrenzung. Identitätsentwicklung braucht Gemeinschaft, aber nicht, um darin völlig aufzugehen, sondern um das Eigene besser zu entfalten. Das kann unter den Begriff «Resonanz» gefasst werden (Rosa 2016). Resonanz meint eine Beziehungsqualität, bei der sich die beteiligten Personen wechselseitig seelisch nahekommen, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Ein solcher Resonanzraum kann ein Heimatgefühl schaffen. Auch die Psychotherapie ist eine kleinräumige Erfahrung. Sie soll genug Geborgenheit geben, um die anstehenden Schwierigkeiten anzugehen. Sie soll aber auch ihr eigenes Ende ermöglichen, den Abschied des Patienten in eine vom eigenen «Selbst» getragene Mündigkeit. Psychotherapie als Heimat steht im Gegensatz zu Globalisierung, Medialisierung und Verdinglichung. Diese machen 135

Menschen letztlich heimatlos und tragen zu Identitätsproblemen bei. Ich-Identität setzt in der Regel Vertrautheit, ein Gefühl des Zu-Hause-Seins voraus. Diese Vertrautheit umfasst immer auch das eigene Verhältnis zu anderen Menschen. Sie ist eine Art «Selbstständigkeit in Bezogenheit».

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7. Kapitel: Kein Selbstvertrauen ohne zwischenmenschliches Vertrauen

Vertrauen und seine Grundlage Vertrauen ist zu einem Begriff der Alltagssprache geworden, der ganz unterschiedlich verwendet wird. Er kann ein rasches, flüchtiges Vertrauen zu einer Person oder einer Gruppe bedeuten, mit der man kurzfristig zusammenarbeitet (sog. swift trust). Er kann aber auch eine tiefe zwischenmenschliche Vertrauensbeziehung bezeichnen, die sich über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut hat. Zwischen diesen Extremen finden sich viele Übergänge, die einmal näher beim flüchtigen Vertrauen, ein anderes Mal näher beim tiefen Vertrauen liegen. Eher spontane Vertrauensformen sind im Alltag häufiger als in Krisen getestete Vertrauensbeziehungen. Erstere sind aber deswegen nicht schlechtzumachen. Sie verweisen darauf, dass Menschen ein großes Bedürfnis nach Vertrauen haben und ein Zusammenleben von Menschen im Alltag ganz ohne Vertrauen undenkbar ist. Man kann sich natürlich fragen, ob bei kurzfristigen Kontakten wirklich von Vertrauen gesprochen werden soll. Hier spielt der Eindruck, den ein Mensch macht, sein gewinnendes Auftreten und sein Aussehen, eine wesentliche Rolle. Viele Untersuchungen haben zum Beispiel nachgewiesen, dass Menschen in Sekundenschnelle einem Menschen je nach Gesichtsausdruck mehr oder weniger zugeneigt sind. So vertrauen sie 137

einem Menschen, dessen Mundwinkel nach oben zeigen, U-geformt sind, tendenziell mehr als einem Menschen mit hängenden Mundwinkeln. Auch der Ausdruck der Augen spielt eine wichtige Rolle. So wirkt ein Blick, der Erstaunen ausdrückt, «Vertrauen erweckend» (Todorov und Mandisodza 2005). Es ist allerdings fraglich, ob hier von Vertrauen oder nicht eher von Sympathie gesprochen werden sollte, auch wenn Politiker je nach Gesichtsausdruck häufiger oder seltener gewählt werden. Es scheint mir aber problematisch, den Vertrauensbegriff auf einen bloßen Eindruck, den Menschen machen, zu reduzieren und nicht weiter Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit als gültige Kriterien für Vertrauen vorauszusetzen (Bierhoff und Rohmann 2017). In anderer Weise wird der Vertrauensbegriff in der Ökonomie und in der Managerliteratur erweitert. So wird bei ersten Geschäftskontakten bereits von Vertrauen gesprochen, wenn vorerst nur Kosten-Nutzen-Analysen, mithin Kalkulationen, eine geschäftliche Zusammenarbeit nahelegen (Shapiro et al. 1992). Auch der Begriff Kredit (von lat. credere für glauben, trauen abgeleitet), der im Frühkapitalismus als Leihwürdigkeit eingeführt wurde, trifft zwischenmenschliches Vertrauen nur sehr bedingt. Man kann zwar jemandem moralisch Kredit geben, aber in der Wirtschaft sind Kredite an finanzielle Interessen gebunden und so weit wie möglich abgesichert. Auch im Zusammenleben beruht nicht jedes Risiko, das jemand eingeht, auf Vertrauen. Auch das in der ökonomischen Forschung zur Messung von Vertrauen viel gebrauchte «Gefangenen-Dilemma» ist kein Vertrauenstest im engeren Sinne. Es geht um eine rationale Abwägung, ob es sich in einer Spielsituation lohnt, eher auf Kooperation zu setzen oder nur den eigenen Vorteil zu sehen und den Mitspieler zu benachteiligen.

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Das «Gefangenen-Dilemma» ahmt spielerisch eine Situation von Gefangenen nach, die unabhängig voneinander verhört werden und nicht miteinander kommunizieren können, wobei die Kronzeugenregelung gilt. Gefangene, die durch ihr Geständnis einen Mitgefangenen überführen, werden geringer bestraft, während ihr Komplize infolge ihres Geständnisses stärker bestraft wird. Würden aber beide nicht gestehen, wäre die Strafe für beide am geringsten. Das Dilemma liegt darin, dass der Einzelne zwar durch ein Geständnis unmittelbar einen Vorteil hat, aber bei angenommener Kooperation des Komplizen (und beidseitiger Ablehnung eines Geständnisses) besser fahren würde.

Wie in dieser experimentellen Spielsituation wird auch im Berufs- und Geschäftsleben oft von Vertrauen gesprochen, wo es eher angebracht wäre, von Kalkulationen um des eigenen Vorteils willen zu sprechen. Wirkliches Vertrauen setzt auch im Geschäftsleben voraus, dass sich unter den Geschäftspartnern eine bestimmte Vertrautheit entwickelt hat, die es erlaubt, den Partner nicht nur als verlässlich und glaubwürdig einzuschätzen, sondern ihm auch wohlgesinnt zu sein. Ähnliches gilt auch für berufliche Kontakte zwischen Mitarbeitern. Ohne Wohlwollen kann kaum von Vertrauen die Rede sein.

Verschiedene Formen von Vertrauen im heutigen Sprachgebrauch Heute hat sich der Begriff «Vertrauen» allerdings ausgeweitet. Unter Vertrauen wird auch in den Wissenschaften nicht mehr nur zwischenmenschliches Vertrauen verstanden. Vertrauen wird vermehrt abstrahiert und systematisiert. Man spricht vom Vertrauen in die Wissenschaft, in die Wirtschaft, in die Politik oder auch von Vertrauen in Institutionen. Durch diese Ausweitung verliert der Begriff allerdings an Prägnanz. «Systemisches

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Vertrauen», so der Begriff für diese Vertrauensform, ist nicht mehr personaler Art bzw. auf eine Person ausgerichtet. Darin widerspiegelt sich die moderne Entwicklung zu einem weniger lokal geprägten, sondern großräumig angelegten Leben mit vermehrt kurzfristigen Kontakten. Für die moderne Lebensführung spielen immer komplexer strukturierte Institutionen eine bedeutsame Rolle. Sie ersetzen gleichsam den Milchmann, den Postboten, den persönlich bekannten Polizisten und Gemeindepräsidenten vergangener Zeiten. Damit stellt sich aber für diese Organisationen die Vertrauensfrage auf spezielle Weise. Häufig wird versucht, das abstrakte, «systemische Vertrauen» in eine Organisation zu einem persönlichen Vertrauen zu machen. So wird vielfach von Institutionen eine Vertrauensperson eingesetzt, die für jedermann auf Anfrage zur Verfügung steht. Oder es wird eine Führungsperson medial so herausgestellt, dass das Unternehmen ein persönliches Gesicht bekommt. Dabei geht m. E. verloren, was Vertrauen als präreflexives (leib-seelisches) Empfinden ebenfalls auszeichnet und im Wesentlichen zwischenmenschlich zum Ausdruck kommt. Das soziologische Verständnis von Vertrauen bezieht sich auf Gesellschaftsprozesse. Das macht auch verständlich, dass der bekannte Soziologe Niklas Luhmann (2000) in einem viel zitierten Buch Vertrauen als Komplexitätsreduktion bezeichnet hat. Das traf den Nerv einer von verschiedensten Gesichtspunkten und Systemen überforderten Gesellschaft. Wer aber persönlich einem anderen vertraut, gewinnt nicht den Eindruck, dass er etwas aufzugeben hat. Im Gegenteil, er nimmt auch Zweifel und Risiken auf sich. Er vertraut, weil er diesem Menschen wohlgesinnt ist und ihm Vertrauen schenken kann und will. Noch anderer Art sind das Ur- oder Grundvertrauen, das Gottvertrauen und last but not least das Selbstvertrauen. Auch diese Vertrauensformen sind nicht zwischenmenschlicher Art. 140

Sie beziehen sich aber auch nicht auf Systeme. Sie drücken ein Vertrauen aus, das im Menschen selbst liegt oder ihn stärkt. Dabei ist insbesondere Selbstvertrauen, mithin das Vertrauen zu sich selbst, ein herausforderndes Thema, das bei der Auseinandersetzung mit Krisen des «Selbst» nicht fehlen darf. Ich werde darauf ausführlicher zurückkommen.

Definitionsversuche von zwischenmenschlichem Vertrauen Angesichts der angeführten Vielfalt, wie Vertrauen sprachlich gebraucht wird, drängt sich die Frage auf, ob Vertrauen überhaupt einheitlich definiert werden kann. Was Augustinus über die Zeit treffend formuliert hat, gilt in abgewandelter Form auch für das Vertrauen. «Wenn mich niemand darüber [was Zeit ist] fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf Fragen erklären möchte, so weiß ich es nicht.» Es fehlt zwar nicht an Versuchen, Vertrauen – auch Selbstvertrauen – zu definieren. Je nach wissenschaftlichem Fachgebiet fallen die Definitionen jedoch unterschiedlich aus. Es macht sogar erhebliche Mühe, generell zutreffende Kriterien für zwischenmenschliches Vertrauen zu finden. Man müsste dazu einen von Vertrauen unabhängigen, äußeren Standpunkt einnehmen, der einen Vertrauen wie eine Sache mit den Sinnen wahrnehmen lässt. Vertrauen ist aber weder ein objektivierbarer Gegenstand noch ein Erleben, das sich ohne Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und in die Sprache charakterisieren lässt.

Die Schwierigkeit, Vertrauen scharf zu definieren, hängt auch damit zusammen, dass Vertrauen keine Einstellung ist, der wir uns in jedem Fall bewusst sind. So kann uns manchmal erst ein Vertrauensbruch schmerzhaft bewusst machen, dass wir Ver-

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trauen verloren haben. Anders als Angst, Traurigkeit, Freude, Wut oder Scham können wir Vertrauen auch nicht unmittelbar spüren und körperlich empfinden. Deshalb ist Vertrauen nicht als Emotion charakterisierbar. Andererseits ist Vertrauen nicht nur eine kognitive Einstellung. Wer vertraut, erlebt sich anders, als wenn er misstraut. Er empfindet eine subtile Art von Geborgenheit, vielleicht auch von Großherzigkeit. Gerade diese schwer fassbare leib-seelische Gestimmtheit, die mit Vertrauen einhergeht, macht Vertrauen zu etwas Besonderem. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es um die biografische Entwicklung von Vertrauen gehen wird. Schon hier drängt sich aber auf, nicht nur von reflexivem Vertrauen, das eine Risikoabschätzung bedingt, zu sprechen, sondern auch von präreflexivem Vertrauen, das leib-seelischer Art ist. Man kann sich zwar entscheiden, jemandem Vertrauen zu schenken, doch tritt Vertrauen nur ein, wenn die gewünschte Einstellung auch mit unseren Sinnen – gleichsam mit unserem Herzen – übereinstimmt. Eine reine Kopfentscheidung lässt uns schwerlich vertrauen. Was aber Vertrauen erleichtert, ist die geistige Auseinandersetzung mit Misstrauen. Oft hindern uns Vorurteile, einem Menschen zu vertrauen. Wenn es aber gelingt, diese Vorurteile zu hinterfragen und stimmig abzubauen, kann sich Vertrauen leichter einstellen. Abgrenzung des Vertrauens von ähnlichen Begriffen: Manchmal ist es leichter, ein Erleben oder eine Einstellung wie Vertrauen zu klären, indem man herausarbeitet, was es nicht ist. Dafür ist die Abgrenzung von verwandten Begriffen geeignet. Im Falle von zwischenmenschlichem Vertrauen habe ich bereits darauf hingewiesen, dass jemandem vertrauen nicht identisch damit ist, sich auf jemanden zu verlassen. Ich verlasse mich z. B. auf die Fachkompetenz eines Arztes, aber ich vertraue ihm nicht unbedingt als Person. Ich kann mich auch auf meinen Computer verlassen, ohne

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ihm als technische Maschine zu vertrauen. Gewöhnlich wird Vertrauen auf eine Person bezogen, während ich mich auch auf ein Gerät, den Fahrplan oder eine Organisation verlassen kann. Allerdings weitet sich wie bereits dargestellt der Begriff des Vertrauens zunehmend aus. Dazu gehört beispielsweise das systemische Vertrauen, das scheinbar keine einzelne Person voraussetzt. Doch dürfte das Vertrauen in die Wissenschaft, in die Wirtschaft oder eine Institution teilweise davon abhängen, ob man vertrauenswürdige Personen dieser Systeme kennt, die gleichsam eine Brückenfunktion zwischen interpersonalem und systemischem Vertrauen erfüllen (Hartmann 2021). Einfacher ist die Abgrenzung von Zutrauen und Vertrauen. Man kann jemandem Gutes, aber auch Schlechtes zutrauen. Im Unterschied dazu geht Vertrauen immer vom Positiven aus, insbesondere von der Vertrauenswürdigkeit einer Person. Zudem schließt Vertrauen die Person als Ganzes ein, während Zutrauen auch einzelne Eigenschaften einer Person betreffen kann. Auch zwischen Vertrauen und Glauben gibt es Abgrenzungen. So kann man der Mitteilung eines Menschen Glauben schenken, ohne dass man dem betreffenden Menschen als Person vertraut. Hingegen haben Gottvertrauen und Glauben an Gott miteinander zu tun. Luther hat christlichen Glauben sogar weitgehend mit Vertrauen gleichgesetzt. Allerdings lässt sich nicht jede Vorstellung von Gott mit Vertrauen in Verbindung bringen. Wer Gott für einen grausamen Demiurgen oder Rächer hält, wird schwerlich Gottvertrauen haben. Vertrauen in Gott setzt Glauben an einen guten Gott voraus. Hier wird Gottvertrauen zu einem Grundvertrauen, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass Gottvertrauen interpersonal ist, mithin einen personalen Gott voraussetzt, während Grundvertrauen eher ein Welt- oder Seins-Vertrauen bedeutet.

Als Psychiater und Psychotherapeut gehe ich von zwischenmenschlichem Vertrauen aus, weil es in meiner ärztlichen Tätigkeit die Hauptrolle spielt. Auch Selbstvertrauen ist in meinen therapeutischen Gesprächen ein wichtiges Thema. Beide, zwischenmenschliches Vertrauen und Selbstvertrauen, machen im 143

Leben eine Entwicklung durch. Beide hängen auch wesentlich mit biografischen Erfahrungen mit Mitmenschen zusammen. Diese Zusammenhänge sind intensiv von der Entwicklungspsychologie untersucht worden, insbesondere von der sogenannten Bindungsforschung. In der Regel wird die Sicherheit einer Bindung, die ein Kind von Eltern oder einer anderen engen Bezugsperson erfährt, als Voraussetzung für die Vertrauensbildung angenommen. John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, verstand Vertrauen als Pendant zur Bindung des Kindes an die Eltern. Er stellte fest: Das Ausmaß der guten Bindung des Kindes an einen Elternteil «bezieht sich eindeutig auf dasselbe Kindheitsmerkmal, das Bendek (1938) als ‹Vertrauensbeziehung› bezeichnet, […] und Erikson (1950) als ‹basic trust› (Grundvertrauen)» (Bowlby 1984, S. 310 [1969]).

Entwicklung des Vertrauens: präreflexives und reflexives Vertrauen Wann und wie tritt Vertrauen im Leben auf? Die Antwort darauf ist stark von der Definition des Vertrauensbegriffs abhängig. Wenn Vertrauen als kognitive Einstellung verstanden wird, die um das Risiko der Enttäuschung weiß – wie Vertrauen oft definiert wird (z. B. Hartmann 2011, 2021) – so haben neugeborene Kinder noch kein Vertrauen. Das Kind ist sich weder sich noch anderer reflexiv bewusst. Vertrauen im Sinne einer risikobewussten Einstellung ist erst möglich, wenn sich ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren so weit entwickelt hat, dass es sich selbst erkennen und eine mentale Vorstellung von sich und anderen Menschen (eine sog. theory of mind) bilden kann. Voraussetzung dafür ist, dass sich Kinder im Spiegel erkennen und in der Lage sind, sprachlich zu kommunizieren so-

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wie eine altersentsprechende Hirnentwicklung durchgemacht haben. Es ist aber nicht zu bezweifeln, dass Kinder schon vor dem dritten bis vierten Lebensjahr eine Vertrautheit mit der Mutter wahrnehmen und sich auf verschiedene Bezugspersonen (Mutter, Vater, Erzieherinnen, enge Bekannte und Verwandte) in unterschiedlicher Weise beziehen. Diese noch nicht kognitive, sondern sinnlich wahrgenommene Beziehungsqualität bezeichne ich als präreflexives Vertrauen. Die bei einjährigen Kindern erfassten Bindungstypen (sicher, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend, desorganisiert) widerspiegeln im Wesentlichen, inwieweit das Kind einer Mutter aufgrund von deren Bindungsverhalten präreflexiv vertraut. Sicher gebundene Kinder zeigen ein starkes Vertrauen, unsicher gebundene ein schwaches oder ambivalentes Vertrauen. Die vertrauensvolle Bindung eines Kleinkindes an seine Mutter oder andere enge Bezugspersonen ist aber wesentlich von Berührungen und anderen einfühlsamen Reaktionen abhängig. Dabei spielt die Psychomotorik eine Hauptrolle. Natürlich sind auch Hören und Sehen wichtig, um präreflexive Vertrautheit zu schaffen. So wird die Stimme der Mutter schon pränatal gehört. Doch ist der taktile Kontakt mittels Sensoren der Haut und das tiefere Körpergefühl mittels propriozeptiver Sensoren prä- und postnatal wohl am bedeutsamsten (Grunwald 2008). Der Tastsinn, der von allen Sinnen weitaus die meisten Rezeptoren hat, ist für die Vertrauensbildung kaum zu überschätzen. Auch die Körperwärme der Mutter schafft Wohlbefinden und Vertrautheit. So haben Neugeborene, die von den Eltern in die Arme genommen werden, noch Stunden später eine stabilere Körpertemperatur als Kinder, die zunächst ohne körperliche Nähe auskommen müssen (Böhme 2019). Wenn eine Mutter dem Kind die Brust gibt, es streichelt oder in die Arme nimmt, verschafft sie ihm neben Wohlbefinden auch ein 145

Gefühl des Angenommenseins und der Sicherheit. Neue Forschungen belegen, dass der Mensch über spezielle, sogenannte C-taktile Fasern verfügt, die speziell auf Streicheleinheiten reagieren (Böhme 2019). Präreflexives Vertrauen, so kann geschlossen werden, basiert auf physiologischen Prozessen, die dem Kind helfen, eine Bindung und damit Vertrauen zur Mutter und anderen Bezugspersonen aufzubauen und zu erhalten. Ob eine Störung dieser physiologischen Prozesse Anlass zu Kontaktstörungen und bestimmten psychischen Erkrankungen geben, ist noch offen. Bei Autismus zum Beispiel wird eine solche Störung diskutiert. Ich gehe davon aus, dass die weitere Vertrauensentwicklung auf einem solchen basalen körperlichen Kontakt zwischen Mutter und Kind basiert. Fehlt es an präreflexivem Vertrauen, so ist auch die weitere Vertrauensbildung erschwert. Diese weitere Entwicklung ist vor allem kognitiv durch eine differenziertere Verarbeitung von Wahrnehmungen charakterisiert, was wiederum eine entsprechende Hirnentwicklung voraussetzt. So vermögen Vorschulkinder immer besser einzuschätzen, inwieweit Bezugspersonen unterstützend sind und was von ihnen erwartet werden kann. Sie sind sich nun auch selbst reflexiv bewusst. Dies führt zu einer komplexeren Vertrauensweise, die ich reflexives Vertrauen nenne. Dabei verbindet sich das basale präreflexive Vertrauen zu einem Menschen mit einer mentalen Repräsentation dieses Menschen. Ein Kind kann ungefähr im Alter von vier Jahren bereits Schlussfolgerungen darüber anstellen, was andere Menschen in einer bestimmten Situation denken. Es kann dies oft auch sprachlich formulieren. Es kann somit abschätzen, wie verlässlich und wie vertrauenswürdig jemand ist. Als Folge dieser Entwicklung reagieren Kinder mit mehr oder weniger Vertrauen auf eine Person. Vertrauen ist zu einer kognitiven Einstellung geworden, die auch eine leiblich-sinnliche Komponente hat. 146

Sehr prägnant fasst Marina Zulauf Logoz die Folgen des mütterlichen Bindungsverhalten im Vorschulalter auf die Vertrauensbildung des Kindes im Schuljahr zusammen: «Kinder mit sicherer Bindungsqualität (B-Muster) haben Vertrauen darin entwickelt, dass der Ausdruck ihrer Gefühle sinnvoll und hilfreich für die Regulation ihres Befindens ist, wirken emotional offen und flexibel. Kinder mit unsicher-vermeidender Bindungsqualität (A-Muster) haben die Erfahrung gemacht, dass starke Bedürfnisse nach Nähe zurückgewiesen werden, aber positive und neutrale Gefühle von der Umwelt akzeptiert werden. Sie lernen, negative Gefühle durch Ablenkung oder Unterdrückung selbst zu regulieren, nehmen aber innere Anspannung in Kauf. Diese Kinder wirken reserviert bis feindselig und einzelgängerisch. Kinder mit unsicher-ambivalenter Bindungsqualität (C-Muster) haben die Erfahrung gemacht, dass die Reaktionen ihrer Bezugsperson wechselhaft und wenig auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. Auch diese Kinder haben nur partielles Vertrauen in ihre soziale Umwelt und lernen, dass erst angestrengte Gefühlsäußerungen beachtet und beantwortet werden. Ihr Pendeln zwischen aggressivem und hilfheischendem Verhalten wirkt unreif, aber auch anspruchsvoll. Kinder mit hoch-unsicherer, desorganisierter Bindungsqualität (D-Muster) erleben, dass Bindungsfiguren Gefühle des Kindes nicht regulieren können und starke negative Gefühle überwältigend und beängstigend werden. Im Vorschulalter reagieren solche Kinder auf Bindungsmaterial blockiert, verstört oder mit Gewalt und Katastrophenphantasien.» (Zulauf Logoz 2012, S. 789)

Die Psychologin Marina Zulauf Logoz weist in ihrer eigenen empirischen Arbeit nach, «dass von der Vertrauensbeziehung in der frühen Kindheit ausgehend ein sozialer Lernprozess in Gang zu kommen scheint, der positive und vertrauensvolle Beziehungserfahrungen ermöglicht und vermutlich in eine Wechselwirkung mit dem beobachtbaren Selbstvertrauen tritt» (Zulauf Logoz 2012, S. 796/797). Allerdings beeinflusst auch die Persönlichkeit des Kindes das Bindungsverhalten der Eltern. Zudem kann das Vertrauen der Kinder durch ihre Persönlichkeit mitgeprägt sein und da147

mit auch den Umgang der Eltern mit den Kindern beeinflussen. Bindung und Vertrauen sind zwar eng miteinander korreliert, doch muss der Einfluss des einen auf den anderen nicht einseitig sein. Zudem spielen neurobiologische Faktoren eine wesentliche Rolle. Die Vertrauensbildung im Kindesalter ist aber nicht unveränderlich. Spätere Beziehungen können diese Bindungs- und Vertrauensmuster verändern. So höre ich in Therapien immer wieder, wie entscheidend feinfühlig unterstützende Lehrer, Freunde oder Partner für die weitere Vertrauensbildung waren. Auch Psychotherapien können zur Vertrauensbildung beitragen. Dennoch gilt es gerade auch in Psychotherapien, die Auswirkung eines geschwächten präreflexiven Vertrauens nicht zu unterschätzen. Manche psychische Probleme lassen sich auf ein gestörtes Vertrauen zurückführen. So hängen Ängste, insbesondere auch generalisierte Angststörungen, oft mit einem früh angelegten Vertrauensmangel zusammen. Wenn jemand als Kleinkind, wenn man noch von Bezugspersonen völlig abhängig ist und ohne eigene narrative Geschichte ganz in der Gegenwart lebt, zu oft und zu lange allein gelassen worden ist, ist die Vertrauensbildung erschwert. Der frühkindliche Schrecken hat sich so verkörperlicht, dass man zum Beispiel nicht allein leben kann, ohne große Ängste zu haben. Herr Martin ist ein sehr erfolgreicher Kaufmann. Er weiß um seine gehobene gesellschaftliche Stellung und ist stolz darauf, sich vom einfachen Bauernkind zum erfolgreichen Manager heraufgearbeitet zu haben. Trotzdem leidet er unter anhaltenden Ängsten. Er fürchtet sich zum Beispiel anhaltend, es könnten sich Misserfolge einstellen oder er könnte körperlich erkranken. Diese Befürchtungen stellen sich besonders häufig ein, wenn er nicht durch Arbeit und andere Aktivitäten abgelenkt ist. Nachts findet er schwer Schlaf. Er braucht Schlafmittel, um nicht immer wieder aufzuwachen, weil ihm seine Zukunftsängste

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den Schlaf rauben. Obwohl er in der Vergangenheit viele berufliche Schwierigkeiten gemeistert hat, fehlt es ihm an Vertrauen, auch zukünftig mit persönlichen oder geschäftlichen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Dabei hat er kein schlechtes Selbstwertgefühl und weiß im Grunde um seinen Leistungsausweis. Aber es fehlt ihm an Vertrauen, dass er seine Zukunft meistern wird. Diese Angstbereitschaft lässt ihn nicht los, auch wenn er ausgeglichener Stimmung ist. Seine Angst sitzt tiefer. Tatsächlich mangelte es ihm schon in der Kindheit an Zuversicht und Spielfreude. Er schildert sich als eher gehemmtes und vorsichtiges Kind. Auch als Heranwachsender habe er keine größeren Risiken auf sich genommen. Es sei ihm im Gegenteil immer wichtig gewesen, sich abzusichern. So schreckte er auch in seiner Karriere vor allzu großen Schritten zurück, um kein Risiko einzugehen. Er verpasste dadurch nach eigener Einschätzung manche beruflichen Chancen, noch erfolgreicher zu werden. Andererseits ermöglichte ihm seine Vorsicht und Gewissenhaftigkeit, konsequent und ohne Niederlagen seinen Berufsweg zu gehen. Doch blieb ihm versagt, ein starkes Selbstvertrauen zu entwickeln. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass seine privaten Bindungen weniger von herzlicher Zuneigung als von Pflichtbewusstsein geprägt waren. In der Psychotherapie ging es gerade darum, seine versteckte emotionale Beziehungs- und Vertrauensfähigkeit, die er auch zum Therapeuten hatte, in den sich einstellenden Krisen aufzuzeigen und ihn darin zu unterstützen, die Angst vor Vertrauensmissbrauch zu vermindern bzw. das Vertrauen zu stärken.

Das zwischenmenschliche Vertrauen hat aber nicht nur eine biografische Geschichte. Es spielt auch evolutionsgeschichtlich eine wichtige Rolle. Vertrauen stellt die Basis für die menschliche Kooperationsfähigkeit dar und ist damit ein Eckpfeiler der kulturellen Entwicklung des Menschen. Vorstufen von Vertrauen finden sich schon bei Schimpansen (Engelmann und Herrmann 2016). Menschliches Vertrauen hat damit eine lange evolutionäre Geschichte. Es ist keine Nebensache, ohne die man auch gut leben kann. Nur haben sich die sozialen Bedingungen, 149

unter denen sich Vertrauen auf biologischer Grundlage entwickelt, stark verändert. Da Vertrauen aber kein Instinkt ist, auf den man sich verlassen kann, sondern immer wieder neu aufgebaut und bestätigt werden muss, kann es auch verloren gehen. Das erleben viele Menschen als enormen Verlust. Es löst schmerzhafte Emotionen wie Angst, Ärger und Traurigkeit aus. Oft bricht mit dem zwischenmenschlichen Vertrauen auch das Selbstvertrauen ein. Es bleibt aber eine Sehnsucht nach Vertrauen, auch weil Vertrauen mit einem sprichwörtlichen «warmen inneren Glühen» (Nowak und Sigmund 2005) einhergeht. Diese Sehnsucht zeigt sich nicht immer offen. Doch ist auffällig, dass viele Menschen bei Vertrauensverlusten nach Ersatzbefriedigungen suchen, um die verspürte innere Leere zuzudecken. Manche versuchen auch, einen zwischenmenschlichen Vertrauensverlust durch rasche Aufnahme anderer Beziehungen zu kompensieren. Doch können Ersatzbeziehungen nicht das gewünschte Vertrauen geben, solange keine Vertrautheit besteht.

Selbstvertrauen Gerade bei zwischenmenschlichen Vertrauensverlusten stellt sich die Frage, inwieweit Selbstvertrauen eine Hilfe sein kann, über aufkommende Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Überhaupt ist zu fragen, ob dem Selbstvertrauen unter den heute veränderten Lebensbedingungen eine besonders große Bedeutung zukommt. In Kapitel 4 habe ich bereits auf die Folgen der forcierten Individualisierung unserer Gesellschaft auf unser Selbstverständnis hingewiesen. Die psychologische Herausforderung liegt m. E. darin, dass die spätmoderne Soziokultur ein starkes Selbstvertrauen voraussetzt, das der Mensch braucht, um mit unvermeidlichen Rückschlägen oder Niederlagen fertigzuwerden, diese Vertrauensbasis aber immer schwieriger zu erreichen

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ist, je stärker biografische Brüche, private Veränderungen, berufliche Deregulierungen und postmoderne Beliebigkeit das Leben charakterisieren. Denn die Kontinuität, die noch vor zwei Generationen das Leben der meisten Menschen charakterisierte, ist vorbei. Der Berufsweg ist keine vorgegebene Wagenspur (französisch «carrière») mehr. Im privaten Bereich häufen sich Trennungen, Wohnortswechsel und Neuorientierungen. Die Entwicklung vom Wir zum Ich hat uns vermehrt auf uns selbst zurückgeworfen. Wir sind heute mehr als früher von uns selbst abhängig. Selbstvertrauen ist ein Wort, das erst ab 1750 überhaupt aufkam und in den letzten Jahrzehnten einen eigentlichen Boom erlebt hat (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). Es löste den Begriff «Selbstliebe» ab, der früher als moralisch negative Selbstbezogenheit verstanden wurde. Demgegenüber ist Selbstvertrauen wie Selbstachtung positiv konnotiert und frei von moralischen Bedenken. Diese Sprachentwicklung widerspiegelt die Selbstzentrierung des «Cogito» in der Neuzeit, die die früher vorherrschende Einbettung in den gottdurchwirkten Kosmos und in die hierarchisch strukturierte Gemeinschaft abgelöst hat.

Nun gibt der Begriff «Selbstvertrauen» vor, dass wir ein Vertrauen zu uns selbst haben können, wie wir Vertrauen zu Mitmenschen haben. Doch gilt es Unterschiede zu beachten. Zwischenmenschliches Vertrauen ist ein Vertrauen von mir zu einem anderen. Selbstvertrauen ist Vertrauen in mich selbst. Der Begriff des «Selbst» täuscht vor, dass wir ein «Selbst» haben und uns zu diesem «Selbst» verhalten können. Dieses «Selbst» ist aber keine andere Person. Ich kann mir selbst nicht wie einem Freund vertrauen, weil ich mich sonst aufspalten müsste in eine Person, die vertraut, und in eine Person, der vertraut wird. Ich kann zwar ein Bild von mir haben und diesem Selbstbild Eigenschaften und Einstellungen wie z. B. Zuverläs151

sigkeit zuschreiben. Aber im Grunde bin ich dieses Bild nicht selbst, sondern es ist nur eine Vorstellung, die ich von mir habe. Wenn ich sage, dass ich mir vertraue, tönt dies seltsam, irgendwie «schizophren». Ein anderer kann mir vertrauen, aber ich mir selbst? Trotzdem beschreibt Selbstvertrauen ein psychologisches Phänomen. Wenn ich die Erfahrung mache, dass andere mir vertrauen, gewinne ich den Eindruck, vertrauenswürdig zu sein. Vertrauenswürdigkeit wird eine mir zugesprochene Eigenschaft, mit der ich mich identifizieren kann. Dennoch bleibt Selbstvertrauen etwas Abgeleitetes. Ich kann mir schwerlich Vertrauen selbst zusprechen, wenn ich nicht die Erfahrung mache, dass andere mir vertrauen. Mein Selbstvertrauen hätte dann keine präreflexive Erfahrensbasis, sondern wäre eine rein kognitive Selbstzuschreibung. Sie würde keiner Kritik standhalten, weil sie nicht leib-seelisch verankert ist. Tatsächlich basiert Selbstvertrauen auch nach empirischen Befunden (Zulauf Logoz 2012, Suzuki und Tomoda 2015) weitgehend auf dem Vertrauen, das Personen von anderen Menschen erhalten haben. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut, wie wichtig Vertrauensbildungen sind, die auf dem präreflexiven Erleben in der Kindheit beruhen und dem Menschen eine Art «Embodiment» von Vertrauen verschaffen. «Reflexives Selbstvertrauen» bzw. ein «Selbstwertgefühl», das auf sich selbst zugeschriebenen Talenten und Leistungen beruht, hängt so lange in der Luft, wie es nicht mit präreflexivem Selbstvertrauen verbunden ist. Präreflexives Selbstvertrauen wird z. B. angelegt, wenn einfühlsame Betreuungspersonen das Kind darin unterstützen, selbstständig zu handeln und eigene Ziele zu erreichen. Das setzt aber wiederum Vertrauen der Eltern in das Kind voraus. Wenn von Grundvertrauen gesprochen wird, so ist wohl dieses präreflexiv erworbene Vertrauen gemeint. Es ist letztlich geschenktes Vertrauen. Dieses Grundvertrauen ist beständiger 152

als eine positive Selbstbewertung, die auf Erfolgen beruht, bei Niederlagen und Krisen aber schnell zusammenbrechen kann. Interessanterweise kann dieses basale Vertrauen auch etwas reaktiviert werden, indem man sich selbst berührt. So tendieren Menschen bei Unsicherheit unwillkürlich dazu, die eigene Stirn oder Wange zu berühren. Das hilft zwar nicht so gut, wie wenn jemand von einer geliebten Person gestreichelt wird. Dann erträgt ein Mensch sogar Schmerzen besser, die ihm zum Beispiel experimentell oder bei chirurgischen Kleineingriffen zugefügt werden (Ehlert 2017). Solche Studienergebnisse bestätigen die psychotherapeutischen Erfahrungen, die zeigen, wie stark die Resilienz und das Selbstvertrauen einer Person von zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflusst werden.

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8. Kapitel: Scham – Türhüterin des «Selbst»

Wer sich mit dem «Selbst» beschäftigt, kommt nicht darum herum, sich auch mit Scham auseinanderzusetzen. Denn Scham ist das Selbstgefühl par excellence. Dieses schwierige, aber sehr wichtige Gefühl trägt dazu bei, dass ich mich bewusst wahrnehme und über mich nachdenke. Scham zeigt mir blitzartig auf, dass ich nicht so bin, wie ich mich einschätze oder wie ich mich anderen präsentiere. Sich zu schämen ist zwar so unangenehm, dass ich mich gerne verstecken oder auflösen würde. Aber gerade die Scham verhindert, dass ich mich vor mir selbst verstecken kann.

Wer sich schämt, erkennt sich als anderen Scham ist zwar ein Gefühl, das ich als Subjekt erlebe, aber gleichzeitig macht mich Scham auch zu einer Person, der ich objekthaft gewahr werde. «Ich bin’s, aber ich bin’s doch nicht.» (Anders 2002, S. 66) Dieser Doppelaspekt von Subjekt und Objekt, von intensivem Selbsterleben und ohnmächtigem Ausgesetzt-Sein, zeichnet die Scham aus. Sie ist eine «Differenzerfahrung» (Seidler 1997, S. 127). Damit unterscheidet sich Scham von anderen Gefühlen, insbesondere von den sogenannten Grund- oder Basisgefühlen wie Angst, Ekel, Traurigkeit und Freude. Scham ist ohne refle155

xives Selbstbewusstsein nicht denkbar, während die Basisgefühle dieses nicht voraussetzen und auf Gefahren oder Zustände verweisen, die körperlicher Natur sind oder von außen kommen. So ängstigen wir uns zum Beispiel, unsere Gesundheit zu verlieren, oder sorgen uns um die Gesundheit unserer Nächsten. Wir fürchten uns vor Unfällen, vor Trennungen, vor Arbeitsverlust, finanziellen Einbußen usw. Zudem können wir uns davor fürchten, eine schmerzhafte oder höchst unangenehme Erfahrung zu machen – somit auch davor, beschämt zu werden. In einem solchen Fall haben wir allerdings Angst vor etwas Zukünftigem, das noch nicht eingetreten ist. Wir sind, solange wir uns vor etwas fürchten, nicht unmittelbar als Person infrage gestellt, wie das beim Schamgefühl der Fall ist. Ähnlich «äußerlich» sind auch andere Gefühle: Wenn wir uns ekeln, grenzen wir uns körperlich ab, um uns vor Schmutz oder Ansteckung mit einer Krankheit zu schützen. Sind wir traurig, so beschäftigt uns ein Verlust. Ergreift uns Wut, so sind wir über eine soziale Ungerechtigkeit oder eine persönliche Missachtung empört. Freuen wir uns, haben wir meist eine gute Nachricht erhalten.

Scham- und Schuldgefühl Ein von diesen Basisgefühlen abgrenzbares Selbstgefühl stellt auch das Schuldgefühl dar. Dabei wird oft diskutiert, was das Schamgefühl vom Schuldgefühl unterscheidet. Am häufigsten wird der Unterschied darin gesehen, dass das Schuldgefühl auf ein mangelhaftes Handeln bezogen ist, dessen schädliche Folgen man aber wiedergutmachen will («Ich tat etwas Schlechtes und will es korrigieren»), während das Schamgefühl durch eine negative Selbstbewertung und durch passiven Rückzug charakterisiert sei («Ich bin schlecht und muss mich verstecken»). Scham wirke sich deshalb nicht wie Schuld prosozial aus und

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habe auch ungünstige oder dysfunktionale Folgen. Diese Argumentation wird in einer aktuellen Übersichtsarbeit von Miceli und Castelfranchi (2018) meines Erachtens überzeugend infrage gestellt. Ohne auf alle herangezogenen Studien eingehen zu können, dürften schon die Kriterien von Schuldgefühl und Scham, die dieser verbreiteten Ansicht zugrunde liegen, mangelhaft sein. Schuldgefühle können auch dazu führen, dass man sich als Person schlecht fühlt («Weil ich schlecht gehandelt habe, bin ich schlecht»). Andererseits kann Scham häufig dazu beitragen, prosozial zu handeln. Zudem stellt sich die Frage, ob sich Schuldgefühle scharf von Schamgefühlen abgrenzen lassen. Schon Sabini und Silver (1997) haben eine schamlose Schuld als ein «anämisches Gefühl» bezeichnet. Mindestens ein starkes Gefühl von Schuld müsse mit Scham und anderen Gefühlen einhergehen, damit sie gespürt werden kann. Entsprechend spricht die Philosophin Ágnes Heller (1985) vom Schuldgefühl als «verinnerlichte Scham». Denn um sich schuldig zu fühlen, genügt es nicht, sich eines ungerechten Handelns oder einer Unterlassungssünde bewusst zu sein, mithin um seine Schuld zu wissen. Man muss auch Gewissensbisse haben und dafür Reue oder Scham empfinden. Was unterscheidet dann aber Schuldgefühle von moralischer oder Gewissensscham bzw. Schuldscham? Diese Frage drängt sich umso mehr auf, als es mimisch und physiologisch kein klar abgrenzbares Gefühl der Schuld gibt. Das Schuldgefühl geht in der Regel mit Scham und anderen Gefühlen einher. Auch neurobiologisch hat das Schuldgefühl viel mit Scham gemeinsam (Roth et al. 2014), wenn es auch Unterschiede zu Scham gibt, die nicht schuldbedingt ist. So werden zum Beispiel bei Schuld Hirnareale der kognitiven Kontrolle stärker aktiviert als bei Scham (Zhu et al. 2019).

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Nun ist Scham aber kein Gefühl, das direkt sagt, was richtig ist. Es entfaltet seine Wirkung indirekt, indem es auf eigene Mängel aufmerksam macht. Es leitet uns mittels negativer Impulse, die auf Positives aufmerksam machen. Wir schämen uns, wenn wir unsere Ideale verraten oder uns die gewünschte Anerkennung von Mitmenschen, die wir achten, fehlt. Aber kein Mitmensch kann bewirken, dass wir uns schämen. Mitmenschen können uns nur beschämen. Ob wir Scham empfinden, hängt von uns selbst ab. Scham ist deshalb nur zu verstehen, wenn wir von uns selbst ausgehen und Scham nicht nur auf bestimmte soziale Konstellationen zurückführen. Gesellschaftliche Stigmatisierungen und zwischenmenschliche Beschämungen lösen zwar häufig Scham aus. Aber Scham ist immer eine persönliche Reaktion, die uns zu einer Korrektur auffordert. Der Philosoph Max Scheler hat Scham als eine Schutzfunktion des Persönlichen vor der «Sphäre des Allgemeinen» (Scheler 1957, S. 80) bezeichnet. Der Schutz vor der «Sphäre des Allgemeinen» kann als Widerständigkeit gegen jede Verallgemeinerung und Versachlichung des Menschen verstanden werden. Scheler hat dem Schamgefühl deshalb einen behütenden, existenzsichernden und verbergenden Charakter zugesprochen.

Scham ist spezifisch menschlich – und omnipräsent Scham ist tief im Menschen verankert. Bisher wurde weltweit keine Bevölkerung gefunden, in der Schamgefühle fehlen. Auch historisch finden sich keine Hinweise auf Epochen oder Kulturen, die frei von Scham waren (Bischof 2012, Paul 2007). Das sollte uns nachdenklich machen. Wie kann ein Gefühl so große Verbreitung finden, wenn es so unangenehm ist? 158

So findet sich der für Scham typische Gesichtsausdruck in der ganzen Welt. Dazu gehört neben dem Abwenden des Blickes, dem Senken der Augenlider und einer Kopfdrehung zur Seite auch die besonders auffallende Rot- oder Dunkelfärbung der Haut, was im Übrigen dazu geführt hat, dass das Wort für Scham in vielen außereuropäischen Sprachen mit der Farbe Rot assoziiert wird (Casimir und Schnegg 2002). Diese transkulturelle Verbreitung macht eine ausschließlich soziokulturell bedingte Genese sehr unwahrscheinlich. Heute wird davon ausgegangen, dass Scham eine genetisch angelegte und biologisch verankerte Reaktionsweise des Menschen ist. Manchmal wird allerdings eingewendet, es gebe doch schriftlose Primärkulturen wie Indianerstämme, bei denen sich Menschen ihrer Nacktheit und anderer natürlicher Verhaltensweisen nicht schämten. Das trifft jedoch nicht zu. So reagieren etwa Yanomami-Frauen im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet, die lediglich eine dünne Schnur um die Körpermitte tragen, höchst verlegen, wenn sie aufgefordert werden, diese abzulegen. In diesem Falle kann eben auch die Schnur eine Grenze bezeichnen, die es zu beachten gilt. Derartige Kulturen kennen ein striktes Reglement der Blicke. Jemandem unverhohlen auf die Genitalien zu starren, kann strengste Sanktionen nach sich ziehen (Paul 2007). Im Übrigen beschränkt sich die Scham in der menschlichen Entwicklung keineswegs auf die primären Geschlechtsorgane oder die erwachende Sexualität. Neben Körper- und Geschlechtsscham finden sich auch andere Schamformen, etwa die Scham, leistungsmäßig versagt zu haben (Kompetenzscham), die Scham, einen Fehler gemacht oder ein Unrecht begangen zu haben (moralische Scham), oder die Scham, nicht genügend selbstständig zu sein (Abhängigkeitsscham). In der kindlichen Entwicklung treten einzelne dieser Schamformen sogar deutlich vor der diskutierten Körperscham auf. So schämt 159

sich zum Beispiel ein dreijähriges Kind, wenn es eingenässt hat, nicht für seinen Körper, sondern dafür, dass ihm die gelernte Kontrolle misslang, auf die es sonst stolz ist. Allerdings tritt Scham bei Menschen nicht schon unmittelbar nach der Geburt auf, sondern erst im dritten und vierten Lebensalter (Hay 2019). Scham setzt voraus, dass ein Kind sich selbst erkennen und beurteilen kann (Schuhrke 1999, Harter 2015). Sie bedarf mithin eines sogenannten «reflexiven Selbstbewusstseins». Dies wiederum macht eine vorausgehende kognitive Entwicklung nötig, die wiederum nicht nur von der Hirnentwicklung, sondern auch von zwischenmenschlicher Zuwendung und Betreuung abhängig ist. Schon daraus kann geschlossen werden, dass Scham ein sehr komplexes und – wenigstens in ihrer ausgereiften Form – spezifisch menschliches Gefühl ist. Während die aufgeführten Voraussetzungen eine SchamReaktion überhaupt erst möglich machen, wird vor allem von Erziehung und Soziokultur bestimmt, wofür sich ein Kind und später ein Erwachsener schämt. Es gilt also zwischen Schamfähigkeit einerseits und Schamauslösern andererseits zu unterscheiden. Auch wie mit Scham umgegangen wird, ist sehr von der einzelnen Person und ihren Lebensumständen abhängig.

«Türhüterin des Selbst» Dabei kann im Laufe des Lebens auch die Art der Scham eine Veränderung durchmachen. So zeichnet sich eine Frühform von Scham hauptsächlich dadurch aus, dass sich jemand vor anderen schämt (Schuhrke 1999). Diese soziale Scham setzt Mitwisser oder Schamzeugen voraus. Sie tritt zunächst im Vorschulalter auf, begleitet aber viele Menschen durch das ganze Leben. Mit der weiteren Entwicklung individualisiert sich aber

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die Scham. Ab dem Schulalter, sicher nachgewiesen ab acht Jahren (Harter 1996), kann sich ein Kind auch schämen, wenn niemand um sein Problem weiß. Jemand schämt sich dann allein – ohne Mitwisser oder Zeugen – vor sich selbst. Ich nenne diese Form personale Scham. Eine solche personale oder persönliche Scham wird von Gottfried Keller prägnant im «Grünen Heinrich» (2010 [1854]) beschrieben, als es Heinrich unmöglich wird, auf Verlangen der Mutter das Tischgebet zu sprechen. «Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Priester zu nennen pflegt; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selber nicht sprechen hören und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.» (ebd., S. 86/87) Gottfried Keller stellt die Situation in seinem autobiografisch geprägten Roman so dar, dass Heinrich beim Hersagen des Tischgebets einer Norm gefolgt wäre, von der er sich verabschiedet hat. Damit hätte er seine eigene Vorstellung von Gott verraten. Indem er stumm blieb, verstieß er gegen das Gebot der Mutter, aber nicht gegen seine eigene Überzeugung. Die Scham vor sich selbst schützte ihn davor, anders zu handeln.

Scham ist mithin nicht nur ein soziales Gefühl. Scham ist auch eine «Türhüterin des Selbst». Sogar soziale Scham dient nicht nur der sozialen Anpassung. Sie grenzt immer auch ab. Sie bewahrt uns als kritisches Selbstgefühl davor, Opfer der anderen zu sein. Deshalb sprechen wir zu Recht von Schamgrenzen, die gleichsam das «Selbst» bewachen. Auch wenn soziale Scham uns erfahren lässt, wie abhängig wir in unserer Selbstachtung von anderen sind, bewahrt sie uns doch auch vor völliger Selbstaufgabe. Wir spüren uns intensiv und können von uns selbst gar nicht absehen, wenn wir uns schämen. Wir sind uns selbst etwas schuldig.

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Der französische Psychiater und Psychotherapeut Serge Tisseron ist der Auffassung, jemand brauche gerade in Identitätskrisen Scham, um «dank der Scham sein Selbst als psychische Hülle zurückzugewinnen». Sie zeige ihm zwar in Beschämungssituationen die Abhängigkeit von anderen auf, aber sie bewahre ihn gleichzeitig «vor der völligen Unterwerfung unter einen andern» (Tisseron 2000). Aus dieser Perspektive hat Scham eine Schutzfunktion – und zwar nicht nur als eine Art Maske, hinter der sich jemand verstecken kann, sondern auch als Hilfe, sich bei drohender Selbstaufgabe weiter als Ganzes zu spüren und insofern bei sich zu bleiben. Jean-Paul Sartre geht als Philosoph in seinem Werk «Das Sein und das Nichts» (2014 [1943]) noch einen Schritt weiter. Scham offenbare, dass man nur selbstbewusst sein könne, wenn ein anderer schon «als Subjekt-Anderer» in einem präsent ist. Wäre der andere nur mein erblicktes Objekt, würde ich mich nicht schämen, wie ich mich auch vor einem Computer nicht schäme: «Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt» (ebd., S. 471). Man könnte Sartre sogar so verstehen, dass Selbstbewusstsein immer auch Schambewusstsein ist. Tatsächlich wird die eigene Gebrochenheit in der Regel erst im Schamerleben offenbar. Dann wird man dessen gewahr, was sonst durch eine Art «Urverdrängung» (Seidler 2001, S. 217) verborgen bleibt: dass ich den Blick des anderen, des Fremden in mir habe und ich nicht nur Subjekt, sondern gleichzeitig auch Objekt bin. Worauf hier nur verwiesen werden kann, diskutiere ich ausführlich in meinem Buch «Lob der Scham – Nur wer sich achtet, kann sich schämen» (2021).

Der Schriftsteller Günther Anders stellte in seinem Buch «Die Antiquiertheit des Menschen» schon vor 60 Jahren fest:

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«Scham bricht […] aus, weil man simultan ‹man selbst› und ein Anderes ist» (Anders 2002 [1956], S. 70). Aber Scham verhindert auch, dass man deswegen dissoziiert. Scham verbindet mein inneres leibliches Selbstgefühl mit meinem objektivierenden «Blick von außen» und verhütet damit in meinem Bewusstsein ein totales Auseinanderbrechen dieser verschiedenen Perspektiven. Ich bleibe mir im Schamgefühl selbst höchst intensiv und brennend bewusst und erkenne gleichzeitig, dass ich als Objekt wahrgenommen werde. Indem ich weder das eine noch das andere aufgebe, erlebe ich mich zwar in höchster Spannung, erhalte aber diese polare Bezogenheit, die letztlich mein Selbstbewusstsein ausmacht, aufrecht. In der Scham erlebe ich mich – auch wenn ich erröte – präreflexiv und leiblich wie brennend, während der bewusst wahrgenommene Achtungsverlust mich zu reflexiven und rationalen Überlegungen zwingt. Die Schnittstelle von Präreflexivem und Reflexivem bleibt zwar unbewusst, löst aber bildlich gesprochen eine Reibung aus, die mich erhitzt und zum Glühen bringt und gleichzeitig mein rationales Denken alarmiert.

Der sich schämende und der gekränkte Mensch Wie wichtig diese oft übersehene Schutzfunktion sein kann, zeigt sich besonders deutlich, wenn Scham mit dem Kränkungsempfinden beziehungsweise der narzisstischen Kränkung verglichen wird – worauf ich schon kurz im Kapitel 4 hingewiesen habe. Beides kann durch Beschämungen oder Kränkungen ausgelöst werden. Allerdings setzt Scham in der Regel voraus, dass jemand unter dem Eindruck steht, dass die Beschämung nicht ganz aus der Luft gegriffen ist und er eine Teilverantwortung für das Geschehen hat – auch wenn er die Beschämung keineswegs billigt.

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Demgegenüber fühlt sich der gekränkte Mensch verletzt und ungerecht behandelt. Er erlebt sich als Opfer. Demnach sind die Ausgangssituationen, die zur Scham- oder Kränkungsreaktion führen, nicht genau gleich. Vor allem unterscheidet sich grundsätzlich, wie Scham und Gekränktsein erlebt werden und zu welchen Handlungen sie führen. Scham brennt. Wer sich schämt, ringt mit sich selbst. Er ist bei sich. Er schämt sich seines eigenen Handelns oder einer ihm zugeschriebenen Eigenschaft. Er zieht sich oft still zurück oder sucht sich zu verstecken. Dieser vorübergehende Rückzug kann dazu dienen, sich wieder zu sammeln. Wer sich schämt, reflektiert sich kritisch. Er erlebt persönliche Werte oder seine Würde infrage gestellt. Er fragt sich meist, was er selbst dazu beitragen könnte, seine Selbstachtung zu bewahren oder wieder zu gewinnen. Dadurch kann Scham auch zur Selbstentwicklung beitragen. Demgegenüber ist der gekränkte Mensch tief verletzt. Er bleibt auf das Unrecht fixiert, das ihm widerfahren ist. Oft reagiert er mit Zorn und häufig mit Rachefantasien. Wer tief oder narzisstisch verletzt ist, kann schwer an sich halten. Er ist außer sich, auch im metaphorischen Sinn. Er ist erregt, errötet aber nicht. Er neigt zur Bitterkeit. Erst wenn die Kränkung abklingt, kann er sich wieder besser mit sich selbst auseinandersetzen. Dann kann er sich allenfalls auch seiner Rachewünsche oder seines kränkungsbedingten Verhaltens schämen. Oder es kann ihm peinlich sein, dass er überhaupt so gekränkt reagiert hat. Während der gekränkte Mensch sich vor allem mit vergangenem Unrecht auseinandersetzt und verständlicherweise auf Rehabilitierung pocht, ist der sich schämende Mensch eher gegenwarts- und zukunftsbezogen. Dabei sucht er sowohl persönlich wie zwischenmenschlich vor allem nach Ausgleich und Harmonie. Auch sein Erröten kann als Demutsgebärde verstanden werden. Dieser Unterschied zeigt sich ebenfalls in der deut164

schen Grammatik: «Sich schämen» ist aktiv, gegenwärtig und reflexiv, «gekränkt sein» ist passiv, vergangen und unreflektiert.

Abwehr von Scham Doch ist es schwer, Scham anzunehmen. Das kann auch dazu führen, dass ihre Bedeutung unterschätzt wird. Wie wichtig dieses Gefühl aber für das soziale Zusammenleben und die persönliche Entwicklung ist, wird offensichtlicher, wenn ihr Fehlen bedacht wird. So geht die Abwehr oder der Verlust von Scham viel häufiger mit ernsthaften psychischen und sozialen Beeinträchtigungen einher als das Schamgefühl selbst. Menschen, die krankheitsbedingt (zum Beispiel infolge einer Demenz oder Psychose) keine Scham empfinden können, sind in sozialer Hinsicht stark beeinträchtigt (Hell 2021). Psychologisch leichter nachvollziehbar sind die ungünstigen Folgen einer Schamabwehr bei Substanzabhängigkeiten. Wenn jemand seine Schamgefühle, die zum Beispiel nach Trinkexzessen oder alkoholbedingten Kontrollverlusten auftreten, durch erneute Substanz-Einnahme immer wieder unterdrückt, vergrößert sich das Risiko einer Abhängigkeit. Scham steht dann als Motivation für die Bearbeitung und Überwindung der Problematik nicht mehr zur Verfügung. Gerade das Beispiel der Substanzabhängigkeit macht meines Erachtens deutlich, dass die Abwehr von Scham ein größeres Problem darstellt als das eigentliche Schamerleben. Negative Folgen der Schamabwehr lassen sich auch bei narzisstischen Problemfeldern beobachten. Um sich nicht infrage zu stellen, wird Scham oft mit Fremdaggression abgewehrt. Wut und Zorn dienen dann dazu, die als höchst unangenehm erlebte Scham zu verdecken oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mitunter ist in der Psychologie von einer

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«Scham-Wut-Spirale» die Rede (als ob Scham mit Wut einherginge). Genauer wäre es, von einer «Schamabwehr-Wut-Spirale» zu reden, denn Scham ist bekanntlich selbstkritisch und hemmt Aggressionen gegen andere. Der Schamforscher Michael Lewis sieht das Problem der abgewehrten oder uneingestandenen Scham vor allem darin, dass sie nicht mehr als Hinweis zur Verfügung steht, um eine Situation zu klären (Lewis 1992). Tatsächlich belegen viele Untersuchungen, dass vor allem das Verdrängen von Scham zu persönlichen und sozialen Schwierigkeiten führt. Was anfänglich entlastend wirkt, kann nachträglich zur Belastung werden oder mindestens einen Lernprozess behindern (Hell 2021).

Ein Sensor, der Alarm schlägt Uneingestandene oder abgewehrte Scham kann aber auch deshalb zum Problem werden, weil damit ein Warnsignal verloren geht. Noch allzu oft wird das Schamgefühl als Ursache einer Problematik statt als Hinweis auf ein bestehendes Problem gesehen. Man verwechselt mithin Ursache und Wirkung. Denn Scham, so unangenehm sie ist, plagt einen Menschen, um ihn aufzuwecken. Sie ist ein Sensor, der Alarm schlägt, weil eine ganz besondere Gefahr droht. Scham weist insbesondere, wie eingangs dieses Kapitels angeführt, auf eine Gefährdung der eigenen Achtung und Identität hin. Wir schämen uns beispielsweise, wenn wir wortbrüchig geworden sind oder auf andere Weise eine uns wichtige Wertvorstellung gebrochen haben – beispielsweise, wenn wir unaufrichtig, feige, inkompetent oder nicht autonom gehandelt haben. Und wir schämen uns auch, wenn Vorwürfe durch Mitmenschen, die wir achten und von denen wir geachtet werden wollen, einen sensiblen Punkt treffen, der unsere Selbstachtung

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infrage stellt. Und es versteht sich von selbst, dass wir die Scham, die uns alarmiert und auf diesen Verlust an (Selbst‐) Achtung hinweist, von allen Gefühlen am wenigsten schätzen.

Wertvorstellungen und Wertungen Nun können wir uns aber auch nach problematischen oder falschen Wertvorstellungen richten, die wir, wie selbstverständlich, von der Familie oder der Soziokultur übernommen haben. Ich denke etwa an ideologische Bewertungen, dass es sei eine Schande sei, arm, körperlich beeinträchtigt, psychisch krank oder homosexuell zu sein. Sind wir aber im Leben selbst von einer solchen Problematik betroffen, fühlen wir uns erniedrigt und gezeichnet. Aus Scham verbergen wir, was uns plagt. Erst wenn wir uns mit dem Schamgefühl auseinandersetzen, kann uns auch der Zusammenhang unserer Problematik deutlich werden. Was uns psychisch leiden macht, ist die Wertung unserer persönlichen Eigenart oder Erkrankung. Dann erweist sich nicht die Scham als falsch, wie mitunter postuliert wird, sondern unsere übernommene Wertvorstellung. Sie gilt es in einem oft mühsamen Prozess zu verändern. Dabei mögen wir auch erfahren, dass das besonders Fatale und Destruktive sozialer Erniedrigungen darin liegt, dass unsere menschliche Abhängigkeit von der Mitwelt dazu missbraucht wird, uns zur Anpassung zu zwingen. Umso wichtiger können tolerante Menschen, Gleichgesinnte und Gruppen sein, die uns darin unterstützen, sozialem Druck standzuhalten und die sozial bedingte Scham zu relativieren. Weil beim Auslösen von Scham sehr oft auch soziale Werte und Normen eine Rolle spielen, ist es wichtig, sich mit diesen verbreiteten Vorstellungen auseinanderzusetzen. Denn wenn es gelingt, sich von falschen, aber verbreiteten sozialen Normen zu

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lösen, finden falsche Vorwürfe keinen inneren Widerhall mehr. Sie lösen auch keine Scham mehr aus.

Norm kann jemanden tabuisieren Entscheidend ist, wofür man sich schämt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie prägte schon die Hauptströmungen der griechischen Philosophie und auch das frühe Christentum. Demophilos, einem griechischen Rhetoriker des vierten Jahrhunderts vor Christus, wird der Satz zugeschrieben: «Wo wir uns nicht schämen sollten, da schämen wir uns, und wo wir uns schämen sollten, da schämen wir uns nicht.» Der vorsokratische Philosoph Demokrit (460–370 v. Chr.) hält prägnant fest: «Man soll sich vor den Menschen nicht mehr schämen als vor sich selbst und nicht eher ein Unrecht begehen, wenn es niemand erfahren wird, als wenn es alle Menschen erfahren. Vielmehr soll man sich vor sich selber am meisten schämen und das soll als Gesetz für die Seele bestehen, sodass man nichts Unschickliches tut.» (DK 68 B 264; zit. n. Arweiler und Möller 2008, S. 227) In der Neuzeit ist die Einschätzung von Scham großen Schwankungen unterworfen, auch weil die Lebensbedingungen in den letzten Jahrhunderten sehr unterschiedlich waren. Zweifellos hat der Zivilisationsprozess, wie der Soziologe und Historiker Norbert Elias (1976 [1939]) behauptet, gewisse Schamformen akzentuiert. Während es im Mittelalter – selbst am Hofe von Königen und Kaisern – an der Tagesordnung war, im Beisein von anderen Menschen Wasser zu lassen, die Hosen herunterzulassen und zu rülpsen, sind solche Verhaltensweisen heute verpönt. Gleichzeitig lösen aber andere Verhaltensweisen wie zum Beispiel körperliche Entblößung heute weniger Scham aus.

Die Berliner Philosophin Hilge Landweer (1999) hat wohl recht, wenn sie davon ausgeht, dass das sich verbergende Gefühl der Scham kaum abgenommen hat. Es wird nur durch an168

deres ausgelöst als früher. Auch wie mit Scham umgegangen wird, hat sich gewandelt. Zudem dürfte Scham – nicht zuletzt durch ihre moderne Abwertung – vermehrt abgewehrt werden. So hat die Moderne zwar eine Enttabuisierung beziehungsweise «Entschämung» sexueller Praktiken und erotischer Reize gefördert. Gleichzeitig werden Menschen mit einem entstellten, adipösen oder alternden Körper aber vermehrt beschämt. Schönheitschirurgen haben alle Hände voll zu tun, um nicht nur allfällige körperliche Mängel zu beseitigen, sondern auch um Gesicht und Körper den Anschein von Schönheit und Jugendlichkeit zu geben. Auch bezüglich anderer sozialer Schamformen haben sich die Ursachen, sich zu schämen, verschoben. So werden heute Macht, Besitz und Erfolg ungenierter als noch vor ein paar Jahrzehnten zur Schau gestellt. Fake News sind zu einem modernen Begriff geworden, weil es offenbar an Scham fehlt, sich mit Unwahrheiten Vorteile zu verschaffen. Es ist schon alltäglich, dass für Produkte und Parteien mit schamlosen Übertreibungen oder Falschdarstellungen geworben wird. Gleichzeitig macht aber eine Bewegung der «politischen Korrektheit» von sich reden. Sie will insbesondere Benachteiligte und Minderheiten vor Abwertung schützen. Es soll eine Art «gesellschaftliche Entschämung» stattfinden, indem niemand mehr beschämend ausgegrenzt oder psychisch verletzt wird. Auch wenn soziale Schamgefühle in dieser Bewegung selten direkt angesprochen werden und mehr von psychischen Verletzungen und Kränkungen die Rede ist, spielen Schamgefühle hintergründig mit. Angesichts tiefer Verletzungen werden sie aber noch kaum angenommen.

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Gesunde Scham Scham ist zwar nicht gut an sich. Sie kann in extremis auch überwältigen und hilflos machen. Im Normalfall macht sie aber auf Wichtiges aufmerksam. Angesichts der heutigen psychosozialen Herausforderungen ist es gefährlich, sie zum Schweigen zu bringen. Ohne Scham ist es einfacher, andere Menschen zu beschämen. Es ist auch leichter, dem eigenen Narzissmus zu frönen. Auf diese Weise kann sich eine «Beschämungskultur» entwickeln, die Konkurrenzdruck mit gegenseitiger Erniedrigung und Kränkung koppelt. Erste empirische Arbeiten belegen, dass Menschen, die sich wegen eines Fehlers schämen, bei zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen kooperativer sind als Menschen ohne Scham. Auch sind sich schämende Menschen stärker motiviert, sich selbst zu verbessern. Insbesondere belegen erste Studien, dass sich maßvoll schämende Menschen ein größeres Entwicklungspotenzial haben als beispielsweise narzisstisch gekränkte Menschen (Hell 2021). Eine meiner Patientinnen, die schwere narzisstische Verletzungen erfahren und Scham früher abgewehrt hat, drückt eine ähnliche Erfahrung so aus: Sich ihrer Scham bewusst zu werden, sei zwar höchst unangenehm, doch werde sie dadurch nicht erniedrigt. «Ich fühle mich, wenn ich mich schäme, bedroht, doch nehme ich mich irgendwie ernst.» Der schweizerisch-amerikanische Psychoanalytiker Leon Wurmser (1990), der wesentlich zur Bedeutung von Scham in der Psychotherapie beigetragen hat, sagt es so: Scham schützt die menschliche Würde. Denn sie zeigt an, dass die Selbstachtung und die eigene Würde in Gefahr sind. Oder, wie man auch sagen kann: «Nur wer sich achtet, kann sich schämen».

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Schlussbetrachtung

Psychiatrie und Psychotherapie sind von Krisen des «Selbst» besonders herausgefordert. Sie machen einen wesentlichen Teil der psychischen Problematik aus. Es gäbe keine Psychiatrie und Psychotherapie, wenn der Mensch kein Selbstbewusstsein hätte und nicht an sich selbst und seiner Selbsteinschätzung leiden könnte. Insofern sind Psychiatrie und Psychotherapie spezifisch menschlich. Sie sind es auch, weil das, was Menschen psychisch umtreibt, von der menschengemachten Kultur mitbestimmt wird. Auch die sozialen Bedingungen und die zwischenmenschlichen Beziehungen tragen wesentlich zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei. In der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren ein sogenannter spiritueller Ansatz der Achtsamkeit verbreitet, der mit dem Buddhismus in Zusammenhang gebracht wird. Viele moderne Menschen verspüren in der heutigen Kultur einen Mangel. Sie wollen nicht nur vermessbarer Körper oder virtueller Geist sein, sondern haben auch das Bedürfnis, eine seelische Verankerung jenseits von materieller Dinghaftigkeit oder informeller Virtualität zu finden. Das hat dazu beigetragen, dass heute immer mehr Menschen in Meditations- und Achtsamkeitsübungen eine Bereicherung suchen. Indem sie ihren Körper bewusster mit den inneren Sinnen wahrnehmen, erfahren sie sich wieder vermehrt leib-seelisch. Das macht Sinn und trägt bei bestimmten Problemen nachweislich zur Erleichterung bei. 171

Die aktuelle Verbreitung des meditativen Ansatzes in der Psychotherapie und insbesondere in der Verhaltenstherapie westlicher Länder dürfte noch dadurch gefördert worden sein, dass die hier angewandte achtsamkeitsbasierte Therapieform die Selbstzentrierung moderner Menschen berücksichtigt. Es geht dabei nicht um den Bezug zu einem Du, sondern um die Beziehung zu sich selbst. Dabei wirkt sich aus, dass das moderne Verständnis des «Selbst» ein grundsätzlich anderes ist als das «Selbst» östlicher Religionen und des Buddhismus, aus dem diese Meditationspraktiken ursprünglich stammen. Werden diese Praktiken ausschließlich gebraucht, um den Alltagsstress besser zu bewältigen und um effektiver arbeiten zu können, so geht das spirituelle Moment verloren. Dann kann sich ein Mensch noch mehr im Kokon der Selbstzentrierung und Selbstüberschätzung verlieren. Das präreflexive Selbstbewusstsein kann deshalb nicht die letzte Antwort sein, um sich – losgelöst von Reflexionen – den drängenden Fragen von heute zu stellen. Es hat sich auch mit dem Zwischenmenschlichen zu verbinden.

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Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»

Das «Selbst» ist ein moderner Begriff. Er hat sich in den Wissenschaften parallel zur Individualisierung der Gesellschaft durchgesetzt und basiert auf der menschlichen Fähigkeit, sich ein Bild von sich selber zu machen und sich selbst zu behaupten. Wo er hauptsächlich als kognitiver oder reflexiver Selbstbezug verstanden wird, findet seine Anwendung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung rasch ihre Grenzen. Viele psychisch kranke Menschen sind affektiv herabgestimmt, spüren sich weniger. Sie erleben sich präreflexiv – in leib-seelischer Hinsicht – verändert. Das betrifft auch Identitäts- und Vertrauensbildung. Eine Krise des «Selbst» ist keine nur reflexive Problematik. Das präreflexive Selbstbewusstsein einzubeziehen erfordert ein erweitertes Selbstverständnis. Dazu werden in grundsätzlicher wie praktischer Hinsicht Vorschläge gemacht.

Daniel Hell ist emeritierter Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich. Er war lange ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und ist derzeit in eigener psychiatrisch-psychotherapeutischer Praxis tätig. Als Autor veröffentlichte er mehrere Fach- und Sachbücher, u. a. bei Schwabe Krankheit als seelische Herausforderung.

www.schwabe.ch

ISBN 978-3-7965-4442-2