Schmelztiegel Wien - einst und jetzt 9783205120650, 3205981065, 9783205981060

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Schmelztiegel Wien - einst und jetzt
 9783205120650, 3205981065, 9783205981060

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Schmelztiegel Wien - einst und jetzt

SCHMELZTIEGEL WIEN EINST UND JETZT Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten

Aufsätze, Quellen, Kommentare von Michael John und Albert Lichtblau

Mit einer Einleitung von Erich Zöllner 2., verb. Auflage

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, das Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, das Kulturamt der Stadt Wien, den Stadtschulrat für Wien und die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien. Umschlagbild: Kroatische Verkäuferin am Wiener Naschmarkt, 1912 (Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schmelztiegel Wien - einst und jetzt: zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten; Aufsätze, Quellen, Kommentare / von Michael John u. Albert Lichtblau. Mit e. Einl. von Erich Zöllner. - Wien; Köln; Weimar: Böhlau. NE: John. Michael (Hrsg.) [Hauptbd.]. - 2., verb. Auflage, 1993 ISBN 3-205-98106-5

ISBN 3-205-98106-5

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 1990 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. und Co.KG., Wien. 2., verb. Auflage 1993

Satz: KLOSS • SATZ, 1100 Wien Druck: Tiskama Ljudske pravice, Laibach

Inhalt

V

Inhalt Vorwort. Von Gero Fischer, Gernot Heiß, Michael Mitterauer, Hildegard Pruckner und Waltraud Weisch Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern. Von Erich Zöllner

IX 1

1. Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien 1.1. Österreich als Aufnahme- und Abgabeland 1.2. Die Dimension der Zuwanderung 1.2.1. Die Wiener Bevölkerung 1830-1981 1.2.2. Zuwanderungsströme 1.2.3. Geburtsorte und Heimatberechtigung der Wiener Bevölkerung 1.2.4. Ausländische Staatsbürger in Wien 1.3. Die Tschechen und Slowaken 1.3.1. Herkunft und Dimension 1.3.2. Die Berufstätigkeit der Tschechen und Slowaken in Wien 1.4. Die Juden 1.4.1. Herkunft und Dimension 1.4.2. Berufsstruktur 1.4.3.Glaubensströmunge n 1.5. Die Ungarn 1.6. Die Italiener 1.7. Sinti und Roma 1.8. Die Chinesen 1.9. Die Kroaten 1.10. Die Slowenen 1.11. Die bulgarischen Gärtner 1.12. Die Schweizer Uhrmacherkolonie 1789-1801 1.13. Die Bosnier 1.14. Die Gotscheer 1.15. Die US-Amerikaner 1.16. Die Ukrainer 1.17. Deutschsprachige Minderheiten aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn: Flüchtlinge und Vertriebene 1.18. Die Filipinos 1.19. „Türkische", armenische, griechische, aromunische Kaufleute 1.20. Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener in der NS-Zeit . . . 1.21. Die Kolporteure aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei 1.22. Die Arbeitsmigranten aus der Türkei und Jugoslawien Anmerkungen

11 11 12 12 12 12 13 18 18 19 33 33 34 34 48 52 57 61 62 63 64 65 66 66 67 70

2. Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien 2.1. Die Überwindung von Distanzen 2.2. Die Ursachen der Arbeitsmigration 2.2.1. Die Ursachen der Abwanderung: die Push-Kräfte

89 89 91 91

71 74 76 77 81 82 86

VI

Inhalt 2.2.1.1. Die Bedingungen für die Abwanderung aus Böhmen und Mähren bis 1918 2.2.1.2. Die Bedingungen für die Abwanderung der Arbeitsmigranten aus Jugoslawien und der Türkei 2.2.2. Die Ursachen der Zuwanderung: die Pullkräfte 2.2.2.1. Der Bedarf an ausländischen bzw. fremdsprachigen Arbeitskräften . . . . 2.2.2.2. Die Organisation des Sogs: Formen der Vermittlung 2.3. Politische Ursachen der Zuwanderung 2.4. Die Ursachen der Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien 2.5. Andere Migrationsformen Anmerkungen

91 92 93 93 94 107 114 120 123

3. Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien 3.1. Formen der Ansiedlung 3.2. Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet 3.2.1. Die tschechische Minderheit 3.2.2. Die jüdische Minderheit 3.2.3. Die Migranten der Gegenwart 3.2.4. Parallelen im räumlichen Verteilungsmuster zuwandernder Minderheiten in Vergangenheit und Gegenwart Anmerkungen

127 127 143 143 145 147

4. Wohnverhältnisse und Migration 4.1. Wohnen der Zuwanderer in der Kaiserzeit 4.2. Wohnen der Zuwanderer in der Gegenwart 4.2.1. Die Wohnverhältnisse der ausländischen Arbeitsmigranten 4.2.2. Wohnen nichtösterreichischer Randgruppen 4.3. Jüdisches Wohnen in Wien Anmerkungen

169 169 183 183 185 204 210

5. Familie, Nachbarschaft und Vereine - Die sozialen Beziehungen im näheren Umfeld der Zuwanderer 5.1. Die innerfamilialen Beziehungen der Arbeitsmigranten in Kaiserzeit und Zwischenkriegszeit 5.2. Die innerfamilialen Beziehungen der Arbeitsmigranten in der Gegenwart 5.3. Die jüdische Familie 5.4. Verwandtschaft, Nachbarschaft und Vereinsleben. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Minderheiten Anmerkungen

213 214 226 238

148 167

244 261

6. Minderheiten- und Ausländerpolitik 265 6.1. Über die Analyse und Relevanz von Minderheiten- und Ausländerpolitik 265 6.2. Die Regulierung der Arbeitsmigration 266 6.2.1. Das Heimatrecht und Schubwesen 266 6.2.2. Die Ausländerbeschäftigungspolitik 267 6.3. Schulfrage, Umgangssprachenerhebung und politische Betätigung: Die Wiener Tschechen und die Minderheitenpolitik 277 6.4. Minderheitenpolitische Diskriminierung der Roma und Sinti 289 6.5. Die Wiener in der rassistischen Sichtweise der NS-ldeologen 292 6.6. Politischer Antisemitismus 294 Anmerkungen 337 7. Mehrheit und Minderheiten 341 7.1. Vorurteile gegenüber Minderheiten in Österreich - Ausmaß und Formen - oder „Ausländer, Juden, Hundekot" 341 7.2. Erklärungsversuche und Überlegungen zur Funktion von Vorurteilen gegenüber ethnischen Minderheiten 345 7.2.1. Makrotheoretische Ansätze 345 7.2.2. Gruppenpsychologische Ansätze 346 7.2.3. Individualpsychologische Ansätze 347 7.2.4. Rechtfertigungspsychologische Ansätze 349 7.2.5. Tradition als konstituierendes Element der Minderheitenfeindlichkeit 350 7.3. Wiener Spezifika der Minderheitenfeindlichkeit und des Fremdenhasses 357

Inhalt 7.3.1. Α Hetz muaß sein 7.3.2. „Ka schlechte Gwissen" und „Mirsan mir" 7.3.3. Novak kontra Kolaric - Nationale Überkompensation als Elemente der Fremdenfeindlichkeit 7.4. Assimilation, Akkulturation, Integration und kulturelle Identität 7.4.1. Eine Begriffsklärung 7.4.2. Zur jüdischen „Assimilation" - Reaktionsformen auf Anpassungsdruck und Judenfeindschaft 7.4.3. Die Arbeitsmigranten - ein kursorisches Beispiel zu Assimilation und Integration aus Vergangenheit und Gegenwart 7.5. Abseits von Klischees Anmerkungen kulturelle Beitrag Der Beitrag der Migranten Über die Vereinnahmung der Zuwanderer- und Minderheitenkulturen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens 8.3.1. Literatur und Bühnenkunst 8.3.2. Musik 8.3.3. Bildende und darstellende Kunst 8.3.4. Andere Bereiche 8.4. Der Widerstand der Wiener Tschechen 8.5. Sport 8.5.1. Jüdische und tschechische Sportvereine in Wien 8.5.2. Jüdische und tschechische Fußballspieler 8.6. Der Einfluß der Zuwanderersprachen und Sprachmoden 8.7. Namen 8.8. Speisen 8.9. Gasthäuser 8.10. Exemplarische Beispiele nicht-adaptierter Möglichkeiten 8.10.1. Märchen 8.10.2. Spiele 8.10.3. Migrantenliteratur Anmerkungen

VII 357 359 361 382 382 384 385 402 411

8. Der 8.1. 8.2. 8.3.

417 417 418 422 423 425 426 426 431 433 433 434 439 442 443 447 451 451 451 452 461

Quellenverzeichnis

463

Nachwort

485

Vorwort

IX

Vorwort Am 12. September 1983 traf sich im „Pädagogischen Institut der Stadt Wien" eine Gruppe von Lehrer/inne/n und Wissenschafter/inne/n. Anlaß dazu war das Dreihundert-Jahre-Jubiläum der zweiten Türkenbelagerung, das an diesem Tag in Wien feierlich begangen wurde. Was die Gruppe zusammenführte, war freilich nicht die Absicht, ein historisches Ereignis zu feiern, sondern gerade die Sorge darüber, was ein solcher Umgang mit Geschichte zur Folge haben könnte. Die Lehrerinnen und Lehrer, von denen die Initiative zu dem Treffen ausging, arbeiteten durchwegs an Schulen mit einem hohen Anteil an Ausländerkindern. Wie würde es auf türkische Kinder in Wien 1983 wirken, wenn sie im Schulunterricht oder bei Führungen durch die eben eröffnete Großausstellung mit dem herkömmlichen Türkenfeindbild konfrontiert würden, wie es aus Anlaß solcher Jubiläen immer wieder in besonderer Weise reaktiviert wird? Die Gefahr war real, daß eine ohnehin schon benachteiligte Minderheitengruppe durch den Umgang des offiziellen Österreich mit seiner Geschichte noch weitergehend diskriminiert würde. Die Problematik von Jubiläen und Geschichtsbewußtsein hatte auch die eingeladenen Wissenschafter schon seit längerem beschäftigt. Bereits im vorangegangenen Jahr war es zu einer sehr grundsätzlichen Kontroverse über die gesellschaftliche Verantwortung von Historikern im Zusammenhang solcher Gedenkjahre gekommen. Die Gruppe war sich einig, daß es zu wenig sei, sich auf eine Kritik traditioneller Formen von Jubiläen zu beschränken. Man wollte als Gegenposition einen eigenen Beitrag leisten, der den befürchteten Tendenzen entgegenwirkt. Es sollte der Versuch unternommen werden, alternative Umgangsformen mit Geschichte aufzuzeigen, die nicht ethnozentristisch und damit implizit minderheitenfeindlich sind, sondern antidiskriminatorisch in die Gegenrichtung weisen. Grundgedanke des Vorhabens war es, durch die Darstellung der Zuwanderung nach Wien in Vergangenheit und Gegen-

wart strukturelle Einsichten in die spezifische Situation von lmmigrant/inn/en zu vermitteln und damit vielleicht auch mehr Sensibilität für deren Probleme zu wecken. Aus diesem Bemühen entstand das Projekt „Schmelztiegel Wien - einst und jetzt". Der Begriff des melting pot, des „Schmelztiegels", entspricht der historischen Realität des Habsburgerreiches; diese brachte einen Bewohnertypus hervor, der durch spezifische Merkmale gekennzeichnet war. Er steht hier nicht im Sinne eines kategorischen „Einschmelzens" auf eine einzige nationale oder kulturelle Identität, sondern wird so verstanden, daß er Platz bietet für plurikulturelle Konzepte. Das primäre Ziel der Bildungsarbeit in der Schule führte zu einer Ausführung des Arbeitsvorhabens in Form eines Aufsatz-, Kommentar- und Materialienbandes. Diese Form schien über die schulische Verwendung hinaus auch für die Erwachsenenbildung geeignet - insgesamt für eine engagierte Kulturarbeit mit aufklärerischem Anspruch. Ein solches wissenschaftliches Vorhaben mit primär didaktischer Zielsetzung ist freilich mit den Grundsätzen der österreichischen Institutionen der Forschungsförderung schwer in Einklang zu bringen. So war es ein langer und mühsamer Weg, bis es gelang, die notwendigen Mittel für die geplante Zusammenarbeit von Lehrer/inne/n und Wissenschafter/inne/n zu erhalten. Dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport sowie dem Kulturamt der Stadt Wien ist schließlich für die Förderung des Kooperationsvorhabens zu danken. Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter Michael John und Albert Lichtblau besorgten die Auswahl der Quellen, kommentierten das gesammelte Material und verfaßten die Überblicksdarstellungen zu den Themenschwerpunkten. In monatlichen Treffen wurden diese Arbeiten mit einer Gruppe von acht Lehrer/inne/n auf ihre didaktische Umsetzbarkeit hin koordiniert. Die Rohfassung des Bandes bildete die Grundlage einer Evaluierungs-

χ phase, an der sich vierzig Lehrerinnen und Lehrer aus allen Schultypen von der ASO bis zur AHS beteiligten. Die Ergebnisse dieser Erprobung der Materialien im Schulunterricht wurden von Hildegard Pruckner und Waltraud Weisch in einem didaktischen Beiheft zusammengefaßt, das gesondert publiziert wird. Es handelt sich wohl um das auf breitester Grundlage durchgeführte Kooperationsprojekt von Schule und Universität, das - jedenfalls im Bereich der Geschichte - in Österreich bisher realisiert wurde. Chancen, aber auch Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens wurden allen Beteiligten im Zuge dieser Zusammenarbeit voll bewußt und finden im vorgelegten Band ihren Niederschlag. Sechs Jahre liegen zwischen der Idee zum Projekt „Schmelztiegel Wien - einst und jetzt" und dem Abschluß der Publikation. In den gesellschaftlichen Problemen, die den Anstoß zu diesem Vorhaben gegeben haben, hat sich in diesen Jahren manches geändert - freilich nicht in eine Richtung, die die Aktualität des Anliegens beeinträchtigen würde. Die Zahl der ausländischen Kinder an Wiener Pflichtschulen ist seit damals von 13,40% auf 23,51% angestiegen. Noch höher liegen die Zuwachsraten der lmmigrant/inn/en insgesamt. Die Ereignisse des Herbst 1989 lassen erwarten, daß das Problem „Schmelztiegel Wien" ganz neue Dimensionen erhält. Der Fall des „Eisernen Vorhangs" eröffnet Perspektiven der Zuwanderung, die derzeit noch gar nicht richtig abzuschätzen sind. Wie wird Wien auf diesen neuen Zustrom reagieren? Wie die Bevölkerung, wie die Politiker, wie die Verantwortlichen der Bildungspolitik und Schulverwaltung? Es ist kaum zu erwar-

Vorwort

ten, daß die Aufnahme von Zuwanderern - woher auch immer sie kommen - in Zukunft völlig ohne Probleme verlaufen wird. Der Umgang mit Fremdem ist Menschen zu allen Zeiten schwergefallen. Kollektive Lernprozesse vollziehen sich diesbezüglich nur sehr langsam, und auch der Rückfall hinter ein bereits erreichtes Niveau ist nie ganz auszuschließen. Solche Lernprozesse vollziehen sich nicht durch bloßes Predigen von Verständnisbereitschaft, Aufgeschlossenheit und Toleranz. Die konkreten Problemfelder, die durch Immigrationsprozesse entstanden sind, müssen benannt und diskutierbar gemacht werden. Die Geschichte der Zuwanderung eröffnet dazu besondere Einstiegsmöglichkeiten. Über Spannungsmomente der Vergangenheit kann man bereits entlastet sprechen. Analoge Spannungsfelder der Gegenwart sind dabei stets - implizit oder explizit - mit in der Debatte. Aus der historischen Tiefe als strukturelles Problem entwickelt können Minderheitenfragen in einer rational distanzierten Weise leichter diskutierbar gemacht werden. So kann eine historisch-sozialwissenschaftliche Bildungsarbeit zu den schon bestehenden und den wohl verstärkt auf uns zukommenden Problemen der Integration von Zuwanderern einen Beitrag leisten. Einen Anstoß für eine solche Bewußtseinsbildung durch Geschichte versucht der vorgelegte Band zu geben. Univ.-Doz. Dr. Gero Fischer Univ.-Doz. Dr. Gernot Heiß Univ.-Prof. Dr. Michael Mitterauer Univ.-Lekt. Hildegard Pruckner Mag. Waltraud Weisch

1

Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern

Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern Von Erich Zöllner Urteile über Länder, Provinzen, Städte, Märkte und ihre Bewohner, über Völker, Volksgruppen, über nationale, soziale und politische Gemeinschaften führen - notwendigerweise - zu arg vereinfachten Kollektivurteilen, zu stereotypen Formeln; ein wesentliches Element bildet dabei stets die Konfrontation der Gruppierung, der man sich selbst zuzählt, mit „anderen", seien sie Nachbarn, Zuwanderer, Fremde, von denen man sich distanziert, die man als nicht zugehörig empfindet, von denen man sich - meist mit Genugtuung, mitunter auch mit Neidgefühlen - abzuheben versucht. Viel wird dabei, bei Lob und Schelte, von früheren Generationen und deren Autoren übernommen und unverändert oder variiert wieder aufgefrischt. Im Falle Wiens steht ein großes, einschlägiges Quellenmaterial zur Verfügung, einige mehr oder weniger repräsentative Beispiele seien hier angeführt.1 In lateinischen Versen wurde, an ein Lobgedicht auf Paris anknüpfend, Wien im 13. Jahrhundert in einem Gedicht der sogenannten „Wiener Briefsammlung" bereits als berühmte Stadt gefeiert: Wir begegnen einigen dauernden Attributen des Wien-Klischees. Eine glorreiche, sehr berühmte Stadt in Österreich, mit gesunder Luft, angenehm an einem Flusse gelegen, dicht bevölkert, überreich an zärtlichsten Damen, mit fruchtbarem Lande, einer Fülle von Weingärten, in waldiger Umgebung, „wo es am köstlichsten zu leben ist".2 Hier ist offensichtlich, wie Alphons Lhotsky ausführte, eine spezifische Abwandlung des Topos vom Locus amoenus gegeben, der so viele Annehmlichkeiten aufzuweisen hat.3 Ähnlich schildert der gelehrte Mönch Gutolf von Heiligenkreuz mit einem kurzen, aber betonten Rückblick auf die römische Vergangenheit der Stadt, die freilich über das römische Lager hinausgewachsen

sei, die Schönheit der Lage. Wieder werden die Donau, der hervorragende Wein, das Jagdgebiet des Wienerwaldes, dann das Ackerland und die blühenden Gärten hervorgehoben; Wien halte jeden Vergleich auch mit den Städten Italiens und Frankreichs aus. 4 Vergleichbare Eindrücke, ergänzt durch Hinweise auf die Stephanskirche mit dem hohen Turm und der gewaltigen Orgel, auf die Hochschule und die sehr ansehnliche Herrscherresidenz hatte - etwa 1438 der weitgereiste kastilianische Edelmann Pero Tafur. 5 In einer Begrüßungsansprache des Theologen und Historikers Thomas Ebendorfer im Jahre 1461 an Herzog Albrecht VI. ist von der „strata argentea" beziehungsweise vom „Danubius . . . argento similis" die Rede, ähnlich wie später Franz Grillparzer Ottokar von Horneck die Wendung vom „Silberband der Donau" in seinem Lobe Österreichs gebrauchen läßt.6 Wien hat - daran zweifelt kaum jemand - eine schöne Lage. Wie aber steht es um die Wiener? Da gibt es viel auszusetzen, wenn Fremde und Wiener einander begegnen. Ein frühes Beispiel für eine kritische Sicht von außen bilden etliche lateinische Verse aus der Gefolgschaft König Rudolfs von Habsburg, in denen den Wienern ihr Widerstand gegen den rechtmäßigen römischen Herrscher als ein Unrecht, wofür der Stadt der Untergang drohe, vorgehalten wird.7 Wenn im übrigen die Auseinandersetzung zwischen Rudolf und Ottokar I. Premysl als Kampf zwischen Slawen und Deutschen gedeutet wird, so belegt das einmal mehr, daß nationale Auseinandersetzungen dem Mittelalter keineswegs fremd waren: Die Wiener gelten hier geradezu als Verräter am Deutschtum; Ottokar war freilich der große Förderer der deutschen Einwanderung in Böhmen, was ihm wieder von tschechischer Seite vorgeworfen wurde. 8

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Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern

Eine ablehnende Haltung, nicht nur der Wiener, gegen die neue habsburgische Herrschaft über Osterreich verraten auch die in den achtziger oder neunziger Jahren des 13. Jahrhunderts verfaßten satirischen Verse eines Ritters aus der Zwettler Gegend und Anhängers der Kuenringer, des „Kleinen Lucidarius". Früher hielt man den in diesem Werk genannten Spielmann Sffrit Helbling irrtümlich für den Autor.9 Die Österreicher („Osterleute") äffen, so meint er, allzusehr fremden Völkern nach, so rennen neben Thüringern aus der Neustadt, Polen aus Bruck, natürlich auch Sachsen aus Wien herum. Die Osterleute werden so „Osteraffen" und „Ostergänse". Dabei ist für den Verfasser der allerdings nur vereinzelt auftretende „echte Ostermann" ein Vorbild an Redlichkeit; ähnliche treffliche Eigenschaften haben einige wenige echte Osterfrauen, darunter die Gattin des Autors. Etwa um die gleiche Zeit gewährt uns der Wiener Erbbürger Jans Enikel, Hausbesitzer und Stadtbürger, einen vermutlich für die Mentalität vieler Angehöriger seiner Schicht ziemlich repräsentativen Einblick in die Selbstdarstellung des Wiener Bürgertums. Von seinen beiden Werken ist das „Fürstenbuch", in dem die Babenbergerepoche Österreichs als „gute alte Zeit" verherrlicht wird, für unser Thema maßgeblich. Für ihn ist notwendigerweise Wien das Zentrum der babenbergischen Herrschaft, das „Landl" ob der Enns und die angeblich um einen Spottpreis erworbene Steiermark sind nur Provinzen.10 Als Prototyp der das Land überflutenden Fremden galten zur Zeit der ersten Habsburger in Wien und ganz Österreich die „Schwaben", das heißt die schwäbischen Gefolgsleute der Habsburger. In der Continuatio Vindobonensis, einer Annalensammlung, lesen wir, daß Herzog Albrecht die Einkünfte der österreichischen Länder nach Schwaben verschob, überdies seien vornehme österreichische Damen gezwungen worden, Schwaben zu heiraten; freilich war in dieser Quellengruppe zuvor auch scharf gegen das „böhmische Joch" protestiert worden.11 Der steirische Reimchronist aber versichert, was immer man in Wien einem Schwaben gebe - er wolle zehnmal soviel hatten.12 Es gibt noch zahlreiche andere Hinweise auf die Antipathie gegen diese Ankömmlinge, die aber doch in wenigen Generationen im Lande verwurzelten und dann womöglich in ihrer alten Heimat, soweit sich diese den Eidgenossen anschloß, als „fremde Zwingherren" gelten sollten.13 Naturgemäß wird das positive Wien-Klischee durch die Jahrhunderte auch von negativen Perspektiven begleitet. Ein sehr ausgeprägtes, wieder in einer bestimmten politisch-militärischen Situation entstandenes, düsteres Bild präsentiert Michael Beheim, ein aus Württemberg stammender Gefolgsmann Kaiser Friedrichs III., der auch in anderen Diensten man-

cherlei schrieb und schließlich einen gewaltsamen Tod finden sollte, in seinem „Buch von den Wienern". Diese Wiener sind für ihn „die ungetreuen Diener, die Bösesten der Bösen", die selbst an Feiertagen den legitimen Herrscher in der Burg belagern und beschießen. Beheim, der selbst kaum eine Befähigung für eine differenzierte Beurteilung besaß, war durch die Politik der Wiener führenden Familien und Persönlichkeiten irritiert. Gegenüber Wien rühmte er die Loyalität der dem Kaiser stets ergebenen kleineren Städte Wiener Neustadt, Korneuburg, Krems und Stein. Sein Urteil ist freilich nicht unabänderlich; nachdem sich die Wiener mit Friedrich versöhnt hatten, war er durchaus bereit, ihnen freundlichere Worte zu widmen.14 Unter den anerkennenden Stimmen über die Schönheit der Lage Wiens nannten wir auch jene des Spätscholastikers Thomas Ebendorfer, an den heute noch die Ebendorferstraße nächst dem Hauptgebäude der Universität Wien erinnert, einen geborenen Niederösterreicher. Sein ideologischer Widerpart Aeneas Silvius, der sich in Österreich als wahrer Pionier, ja Missionar des neuen humanistischen Geistes fühlte, rühmte in seiner sehr bekannten, oft zitierten Beschreibung Wiens (etwa 1450/1451) wohl die stattlichen Häuser der Stadt mit ihren geräumigen Weinkellern, die prachtvollen Kirchen und die reichen Klöster. Die von zahlreichen Studenten aus dem süddeutschen Raum und aus Ungarn besuchte Universität ist nach seiner Schilderung freilich rückständig; die Studenten sind mehr dem Essen und Trinken, dann den Damen, als einem ernsthaften Studium zugetan. Wein wird in Wien überhaupt in ganz unglaublichen Mengen getrunken; täglich werden auch gewaltige Mengen von Lebensmitteln in die Stadt geführt, das Wiener Volk ist gefräßig, es verjubelt am Sonntag, was es während der ganzen Woche verdiente. Dirnen gibt es in großer Zahl, das Eheleben ist skandalös.15 Man kann Wien freilich auch ganz anders sehen, wenn man aus der Fremde kommt. Nicht selten sind es Wahlwiener, „Zuagraste", wie man in Wien zu sagen pflegt, die sich verpflichtet fühlen, ihr Wienertum besonders zu betonen und das Lob Wiens zu singen. Ein prominenter Vertreter dieses Typs ist Wolfgang Schmeltzl, ein gebürtiger Oberpfälzer; er war in Amberg einst protestantischer Kantor mit Weib und Kind, der in Wien zum Katholizismus konvertierte, Bürgerrechte erwarb und ins Schottenkloster eintrat. Später war er als Pfarrer in Niederösterreich tätig. Sein im Jahre 1548 publizierter, dem Wiener Bürgermeister Sebastian Schrantz gewidmeter Lobspruch auf Wien schildert es als Stadt eines frohen, gemütlichen, leichten Lebensstils.16 Die Donau, der Wein, der ausführlich beschriebene Stephansdom mit seinem hohen Turm, die Burg, das Besitzbürgertum, die Handelsleute, die Universität (die zweite

Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern

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nach Paris!) mit ihren Zelebritäten, ihrem Promotionszeremoniell und ihren Stiftungen gehören zu den Hauptcharakteristika dieses Wien-Lobes. Wien ist aber auch ein Bollwerk der Christenheit gegen die Türken, möge es auch in Zukunft gehalten werden! In der Stadt trifft man viele Fremde, die Wiener sind eifrig bemüht, ihnen Auskunft zu erteilen. Als Schmeltzl ein das Lugeck kam, begegnete er hier vielen fremden Kaufleuten. Jede Nation trägt ihre eigene Tracht, er glaubt nach Babel gekommen zu sein. Unter den vielen Sprachen nennt er Hebräisch, Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch, Türkisch, Spanisch, Böhmisch, Windisch (Slowenisch), Italienisch, „gut Niederländisch"; natürlich höre man auch Syrisch (Arabisch?), Kroatisch, Rätzisch (Serbisch), Polnisch und Chaldäisch (Aramäisch? Kurdisch?).17 In Wien fühlen sich alle Menschen wohl: „Wer sich zu Wienn nit neren kan, ist uberal ein verdorbner man" versichert der Mautner Kaspar Waidenlich dem eben in Wien eingetroffenen Schmeltzl, den er einst in Leipzig kennengelernt hatte. Schmeltzl findet diesen Ausspruch aber in den Jahren seines Aufenthalts durchaus bestätigt: „Der Schmältzl kein besser schmaltzgrub fand; ich lob diß ort für alle land." Abschließend äußert der begeisterte Wahlwiener seinen letzten Wunsch, Wien möge auch sein Friedhof s e i n . . . Machen wir einen zeitlich großen Schritt vom 16. in das 17. Jahrhundert. Edward Brown, ein anerkannter Arzt, Sohn des wohl noch prominenteren Mediziners und Archäologen, Thomas Brown, kam im Auftrag der Royal Society nach Europa, wo er nach einer Donaufahrt stromabwärts auch Wien besuchte. Weitere Reisen sollten ihn in den folgenden Jahren unter anderem in die Alpenländer, nach Italien, den Balkan, bis nach Vorderasien und Afrika führen. Browns Beschreibung Wiens ist sichtlich auch von früheren Autoren, etwa Aeneas Silvius, abhängig, aber anders als bei diesem ist Browns Wienbild fast durchwegs positiv. Natürlich gefallen ihm die schönen Kirchen, vor allem St. Stephan und die alten Klöster, die mächtigen basteienbewehrten Wälle, die kaiserliche Burg, das Lustschloß Favorita und das Neugebäude, um nur diese zu nennen. Er respektiert auch die Leistungen der Universität, die seiner Meinung nach eher auf historisch-philologischem Gebiet, auch bei den Medizinern, als in einer modernen Naturphilosophie erzielt werden. Die Bestände von Hofbibliothek, Münzkabinett und Schatzkammer sind höchst ansehnlich. In Wien begegnet man Menschen (wohl meist Fremden) verschiedener nationaler Herkunft in ihren Trachten; eine Sondergruppe bilden die von der (bald darauf erfolgten) Vertreibung bedrohten Juden. Im übrigen haben die Wiener - wie könnte es anders sein - eine heitere Lebensart; sie lieben Musik, Tanz und Schlittenfahrten. Einem Soliman haben sie tapfer Widerstand geleistet. Auch

Brown äußert den Wunsch, das Schicksal möge sie weiterhin vor den Türken bewahren. 18 Abraham a Sancta Clara (Johann Ulrich Megerle aus Kreenheimstetten, 1644-1709) gehörte zu den zahlreichen Schwaben, die - oft aus den österreichischen Vorlanden kommend - etwa bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein nicht unerhebliches, durch seinen Dialekt, der die Wiener erheiterte, auffallendes Element der Stadtbevölkerung bildeten. Nach Studien in Ingolstadt und Salzburg kam der bald als temperamentvoller und sprachgewaltiger Prediger populäre Augustiner-Barfüßer nach Wien, wo seinen Auftritten in der Augustinerkirche stets ein großes Publikum sicher war. Zu seiner Charakteristik Wiens und der Wiener ist wohl das während der Pestzeit verfaßte Predigtwerk „Merck's Wien" (1679) wesentlich; in diesem wird die Seuche als Strafe Gottes für übertriebenen Luxus und Wohlleben der Wiener aller Stände vom Adel bis zu den Dienstboten aufgefaßt. Man will sich nicht in die gottgewollte Ordnung fügen, ist titelsüchtig, läßt os an echter Frömmigkeit fehlen, ist sich der Vergänglichkeit des Menschenlebens nicht bewußt. Die Frauen sind übermäßig geputzt, lieben Modetorheiten, ihre Schönheit verführt Männer zur Sünde. Eindeutig treten in Pater Abrahams Werk konservative Wirtschaftsauffassungen hervor, die moderne Handelspolitik im Zeichen des Merkantilismus schien ihm Sitten und Moral zu gefährden. Scharfe Kritik gilt auch der Wiener Universität, sie werdo von den Wienern überschätzt, von den Professoren heißt es: „Je gelehrter, so verkehrter." Ein ziemlich ausgeprägtes intolerantes konfessionelles Element ist unverkennbar; schwere Ausfälle gegen Juden, Moslems, Hexen und andere Feinde einer katholischkonservativen Lebensart wiederholen sich; milder beurteilt Pater Abraham bereits die Protestanten. Im übrigen meint er trotz aller Kritik, daß man Wien nicht nur verdammen solle „als seye zu Wienn fast jeder Pflasterstein ein Lasterstein". Auah in der zur Türkenabwehr bestimmten Schrift „Auf, auf, ihr Christen" (1683), die Friedrich Schiller entscheidende Anregungen für die Kapuzinerpredigt in „Wallensteins Lager" gab, ferner in „Lösch Wien" (1687), findet sich mancherlei. 19 Natürlich sind Abraham a Sancta Claras Anklagen der Sündhaftigkeit des Menschen nicht auf Wien und die Wiener beschränkt: Schwächen, Laster und Sünden finden sich überall... Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), Gattin eines britischen Diplomaten und Whig-Politikers, der über Wien nach Konstantinopel reiste, um für einen Ausgleich zwischen dem Kaiserhof und der Pforte zu sorgen, weilte 1716/1717 zweimal in Wien. Sie war eine geistvolle, unternehmende Dame, die später durch ihren Einsatz für die Einführung der Kuhpocken-Schutzimpfung gegen Blattern (deren primitive Form sie in der Türkei kennengelernt hatte) sich

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große Verdienste erwerben sollte, aber auch durch freundschaftliche Kontakte wie heftige Auseinandersetzungen mit dem streitbaren Poeten Alexander Pope für Beachtung in der englischen High Society sorgte.20 Die an ihre Schwester und an gute Freunde gerichteten Briefe Lady Marys stellen sehr lebendige Erlebnisschilderungen einer ebenso gescheiten wie temperamentvollen und neugierigen, gelegentlich auch etwas boshaften Beobachterin dar.21 Im Herbst 1716 kam sie auf einer „Ulmer Schachtel" auf dem Donauweg nach Wien. Sofort berichtet sie über ihre Eindrücke. Die eigentliche Stadt sei klein, umso schöner die Vorstädte, vor allem die Josephstadt, in der man fast nur prächtige Paläste sieht. Die Häuser der Inneren Stadt haben fünf bis sechs Stockwerke, die Zimmereinrichtungen der Personen von Rang sind prachtvoll. Eine Opernaufführung unter freiem Himmel mit barockem Aufwand großer Dekorationen entzückt Lady Mary, für die Hanswurstkomödien hat sie - begreiflicherweise - wenig übrig; sie sind zwar lustig, aber allzu derb. Die Botschaftergattin erhält auch Zutritt bei Hof; sie ist begeistert von der Schönheit der Kaiserin Elisabeth Christine, sonst findet sie die Wienerinnen häßlich, am besten gefällt ihr eine bildhübsche junge Nonne, deren Schicksal die leidenschaftliche Protestantin bedauert. Im übrigen haben die verheirateten Wienerinnen ihre Liebhaber, ihre Gatten natürlich auch ihre Freundinnen. Beide Ehepartner finden das ganz in Ordnung. Lady Mary meint, sie sei selbst nicht ernstgenommen worden, da sie nach vierzehntägigem Aufenthalt noch keine Liebschaft begonnen habe. Im übrigen aber herrsche in Wien papistische Frömmigkeit, die Priester lügen und die Menge glaubt ihnen blind. Von Fremden kennt Lady Montagu neben Schauspielern und Sängern vor allem Angehörige des Adels; Spanier, meist Katalanen, die Karl VI. nach Wien folgten, die Portugiesen Dom Luis de Braganza und SilvaTarouca, den französischen Überläufer Bonneval, der später noch zu den Türken wechseln sollte, Prinz Eugens Schützling, den Dichter Jean Baptiste Rousseau, natürlich auch den schon längst zum Österreicher gewordenen Prinzen selbst. Wien werde von vielen Nationalitäten bewohnt, der kleine Kreis, in dem Lady Mary verkehrt, ist, wie sie ausdrücklich hervorhebt, nach ihrem Geschmack; das niedere Volk interessiert sie kaum. Gewisse Klischeevorstellungen und Pauschalurteile, von früheren Autoren oder von der öffentlichen Meinung übernommen, können sich auch eher nüchternen, mehrfach um Sachlichkeit bemühten Autoren aufdrängen. Sehen wir uns das Werk des Thüringers Johann Basilius Küchelbecker an; sein Titel ist: „Allerneueste Nachricht vom Roemisch-Kaeyserlichen Hofe, nebst einer ausfuehrlichen historischen Beschreibung der kaeyserlichen Residentz-Stadt Wien

und der umliegenden Oerter, theils aus den Geschichten, theils aus eigener Erfahrung zusammengetragen und mit säubern Kupffern ans Licht gegeben."22 Die erste Auflage erschien 1730; sie wurde wegen scharfer Kritik an gegenreformatorischen Maßnahmen und Tendenzen in Österreich verboten; die zweite, entschärfte Auflage wurde 1732 veröffentlicht. Der norddeutsche Protestant, der zweimal für einige Monate nach Wien gekommen war, stand im übrigen wohl loyal zum habsburgischen Kaisertum und respektierte Karl VI. als väterlichen, wenn auch von der Jagdleidenschaft erfaßten Herrscher. Wie Titel und Inhalt von Küchelbeckers Buch verraten, stützte er sich, allerdings nicht ohne Korrekturen, auf ältere Werke. Wie sieht nun der Verfasser die Bewohner der schönen österreichischen Hauptstadt? Diese Wiener respektieren Adel und Vermögen, der Verstand ist weniger wichtig. Sie erkundigen sich bei Fremden oft in etwas peinlich anmutender Weise, wie es um Stand und Besitz bestellt sei. Sie sind natürlich eifrige Besucher von Gottesdiensten und Prozessionen; Küchelbecker mißfallen die seiner Meinung nach lächerlichen Zeremonien. Sehr irritierte ihn überdies der Wiener Dialekt; der Akzent sei überaus unangenehm. Man liebe es auch, italienische, spanische, französische und lateinische Fremdwörter zu gebrauchen; das erkläre sich aus der Anwesenheit vieler Spanier, Italiener und Franzosen; in den Klosterschulen lerne man Latein, am Hofe spreche man Spanisch, Französisch, vor allem aber Italienisch. Die Erziehung lasse im übrigen sehr zu wünschen übrig; junge Adelige werden wohl nach Westen auf Kavalierstouren geschickt, man komme dann etwa nach Leiden oder Paris. Die Mode ahmt ausländische, vor allem französische Vorbilder nach. Die Universität wird von den Jesuiten beherrscht, an die protestantischen hohen Schulen reicht sie nicht annähernd heran. Wieder hören wir von der Neigung der Wiener zu übermäßigem Essen und Trinken, „oder besser zu reden, in Fressen und Sauffen". Das ist das Hauptvergnügen, dann schläft man, von den Gelagen ermüdet, lange und gerne. Auch die Spielleidenschaft wird bedauert. Die Frauen führen, ungeachtet aller kirchlichen Ermahnungen, ein freies Liebesleben. Insgesamt sind die Wiener eher grob und ungehobelt; es gibt aber doch auch ziemlich viele, die sich anständig benehmen. In den Jahrzehnten der Barockepoche gab es zwischen den Häusern Habsburg und Bourbon wiederholt schwere diplomatische und militärische Auseinandersetzungen, unterbrochen von Jahren freundlicher Kontakte, bis schließlich es der Politik von Fürst Wenzel Anton von Kaunitz glückte, zum Bündnis mit Frankreich zu gelangen. Bei alldem fehlte es nicht an Besuchen prominenter Franzosen in der Donaumetropole, worüber der Schreiber dieser Zeilen an

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anderer Stelle etwas ausführlicher berichtete.23 Sehr wohlwollende fremde Gäste waren etwa der Pariser Anatomieprofessor Charles Patin und der Benediktiner Casimir Freschot (Fraichot, Fraischot) aus Morteau in der Franche-Comte. Patin feierte Wien in seinen „Relations historiques et curieuses de voyages en Allemagne, Angleterre, Hollande etc." überschwenglich, er meinte, wenn man schon nicht als Franzose geboren sei, dann sei es wünschenswert als Deutscher, wenn man sein Leben nicht in Paris verbringen könnte, dann in Wien; ja, er erhebt Wien sogar zur Hauptstadt des Okzidents, wo man die kaiserliche Majestät finde, so wie einst in Rom . . . Wien sei eine Stadt des Vergnügens, aber auch von kulturellen Schätzen, so in den kaiserlichen Sammlungen; im Prater und in der Umgebung Laxenburgs gebe es auch entsprechende Voraussetzungen für die Hofjagden. Freschot befaßte sich während des spanischen Erbfolgekrieges in seinen „Memoires de la cour de Vienne" (1705), die sichtlich von der Anhänglichkeit des Sohnes der noch vor kurzem habsburgischen Franche-Comte an das Haus Österreich geprägt sind, nicht nur mit dem Hofe, sondern auch mit der Stadt. Wieder begegnen wir schon bekannten Formulierungen: Die Hofburg ist zu klein, die neuen Adelspalais sind dagegen prachtvoll, die barocken Kirchen sind der Stephanskirche weit vorzuziehen. Die Bürgerlichen eifern dem Adel nach, im übrigen spreche man in den Kaffeehäusern allzu kritisch über den Kaiser und dessen Regierung, wenn auch das Volk loyal sei. Die Wiener sind verschiedener nationaler Herkunft; neben Deutsch höre man viel Französisch und Italienisch. An diese „Memoires" knüpfte nun Küchelbecker ausdrücklich an, allerdings mit Kritik - Freschot habe ein verfälschtes Bild des Hoflebens gegeben. Sehr konservativ ist Freschots Haltung gegenüber der Universität; es ärgerte ihn, daß viele Studenten bescheidener sozialer Herkunft waren, zwar gebe es auch unter ihnen Begabungen, aber das Studium sollte doch den Adelssöhnen vorbehalten bleiben . . .

zahlreicher Künstler und Gelehrter, hören können; es gab in Wien bedeutende italienische Autoren, bald sollte auch ein englischer Kultureinfluß stärker fühlbar werden. 24 Montesquieu fühlte sich in Wien sehr wohl, davon zeugt sein berühmtes Bonmot, man sterbe zwar in Wien, aber man altere hier nicht. In Graz ging es freilich noch ungezwungener zu, die Damen gefielen ihm besser, so fühlte sich der französische Gast in der steirischen Landeshauptstadt wohl noch behaglicher. Aber auch in viel späteren Jahren dachte Montesquieu gerne an Wien zurück; sein für Staatslehre und Kulturphilosophie bahnbrechendes Werk, „L'esprit des lois" (1748), sollte, vorübergehend in Österreich verboten, in den maßgeblichen Kreisen große Resonanz finden; es gelesen zu haben, gehörte zum guten Ton. Irgendwelche Ressentiments nationalen Charakters würde man bei Montesquieu vergeblich suchen, ebenso mitleidige Herablassung eines selbstbewußten Repräsentanten des Fortschritts. So tolerant waren freilich nicht alle fremden Gäste . . . Ein Autor, der unendlich viel schrieb und sich dabei in arge literarische und wissenschaftliche Fehden verstrickte, Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811), hatte nicht nur an Wieland, Schiller, Goethe, Kant und Fichte alles mögliche auszusetzen, was ihm scharfe Polemiken und argen Spott eintrug. Besonders schlimm schien es dem protestantischen - im übrigen keineswegs zelotischen - Apostel der Aufklärung um Wien und Österreich bestellt zu sein. In den Bänden zwei bis fünf der Beschreibung seiner „Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781" ( 1 7 8 8 1796 erschienen) gab er ein wohl differenziertes, insgesamt aber doch - wenigstens nach der Auffassung der Betroffenen - eher wenig schmeichelhaftes Bild von Wien und den Wienern; einmal mehr sehen wir einen Fremden von den Manifestationen der katholischen Kirche irritiert; insbesondere von den großen Prozessionen, aber auch von der Ohrenbeichte und den Ablässen. Als Kuriosum sei erwähnt, daß er das Glockengeläute als Belästigung der Fremden kritisierte. Auch das Stuwersche Feuerwerk, das die Wiener in Scharen anlockte, lehnte er ab. Wenn er gegen die Tierhetze wetterte, wird man ihm gewiß nur zustimmen können. Auch die Kritik an der geringen Effektivität der Verwaltung (trotz ihres großen Personalaufwandes) war nicht unbegründet. Nicolai respektiert freilich die aufklärerischen Bemühungen und Maßnahmen Josefs II.; wenn er andeutet, daß der neue Geist nicht allein von oben befohlen werden könne, hat er sicher recht, aber die Bereitschaft wesentlicher Kreise in Wien und Österreich für das neue Gedankengut wurde von ihm unterschätzt, gerade diese reagierten dann heftig.25

Charles de Secondat, Baron de la Brede et de Montesquieu, weilte kurz im Jahre 1728 in Wien, wenig später in Graz. Möglicherweise strebte er den französischen Gesandtenposten in der Kaiserstadt an. In seinen Schriften gibt er ein wohlwollendes Bild Wiens, er stellte erfreut fest, daß die französische Sprache in den führenden Kreisen allgemein verbreitet sei, darüber hinaus jedenfalls bestimmt, zur verbindenden Sprache der Völker zu werden. Tatsächlich weilten damals in Wien viele französische Künstler; seit 1736 sollten auch zahlreiche Lothringer französischer Muttersprache Franz von Lothringen, dem Gemahl Maria Theresias, nach Wien folgen. Montesquieu bewegte sich zumeist unter Aristokraten; anderswo hätte er Deutsch, aber auch Latein und Italienisch, die Sprachen des Volkes, der Kirche, auch

In der Stadt Wien floriert zwar nach Meinung Nicolais der Handel, ungeachtet zu geringer unternehmerischer Initiativen. Man begegnet Genußsucht und

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Wohlleben, dagegen werden die schon traditionellen Anklagen erhoben, ebenso gegen die Titelsucht der Wiener, bei denen der Adel alles gilt, während es ihnen an bürgerlichem Selbstbewußtsein fehlt. Ihrer Gastfreundlichkeit, ihrer Gutmütigkeit wird Lob gezollt. Die Damen sind hübsch, aber ailzusehr äußerem Glanz zugetan; es gibt viel uneheliche Wollust. Der Tagesablauf eines wohlhabenden Wieners ist nach Nicolai, dessen Schilderung an Schillers Xenie vom (Wiener) Volk der Phäaken erinnert, fast ganz dem Essen und Trinken gewidmet: In der Frühe verzehrt er - je nach Jahreszeit - Obers, Milchrahm oder Milchkaffee, dazu Kipfel; bevor er zur Messe geht, ißt er eine Portion „Gebetswürstel". Am Vormittag sitzt er in einem Wein- oder Metkeller, zu Mittag gibt es vier Gerichte, um vier eine Jause, um fünf geht man Kegel spielen. Bald ist unser Wiener wieder hungrig; er verzehrt Geselchtes, Kaiserfleisch oder Hendel, wenn jemand mäßig sein will, geht er in ein Gewürzgewölbe, speist dort hundert Austern etc., etc. Wann diese Wiener wohl arbeiten . . .? Es ist doch bemerkenswert, daß Nicolai, was den Lebensstil der Wiener betrifft, Vorwürfe erhebt, die gelegentlich sehr an die Schelte des ganz anders orientierten Abraham a Sancta Clara erinnern. Natürlich widersprachen Nicolai andere Besucher Wiens; von einem so übertrieben geschilderten Wohlleben könne keine Rede sein; die Wiener essen und trinken zwar gern, sind aber nicht unmäßig. Im übrigen wäre es verfehlt, Nicolais Kritik an den Wienern etwa von seinem Berliner Standort abzuleiten; die meisten Berlinerfühlten sich, wie Beispiele zeigen, in Wien recht wohl; gelegentlich scheint, darüber hinaus, eine gewisse Solidarisierung von Großstädtern festzustellen zu sein.26 Bald nach der Jahrhundertwende war Wien in den napoleonischen Kriegen zweimal vom Feind besetzt, dann aber Schauplatz des Wiener Kongresses. Soldaten, Reisende und Diplomaten schilderten ihre Eindrücke von der Kaiserstadt und ihren Bewohnern. Darüber ist viel publiziert worden. Wir hören wieder von der Enge der eigentlichen Stadt, von der Ausdehnung der Vorstädte, von der Pracht mancher Bauwerke. Die französischen Soldaten wollten vor allem das Leben zwischen den Kämpfen genießen, man schildert das gemütliche Zusammensein im Prater, rühmt seine Restaurants; in den Alleen treffe man verschiedenste Gesellschaftsschichten, es gebe da Griechen, Türken, Tschechen, Ungarn, Kosaken (?) und Juden, ebenso mischen sich Adelige, Bürger, Mönche, Soldaten und Dirnen untereinander. Man geht freilich auch in die Theater. Die Qualität der Bühnen und Stücke wird sehr verschieden beurteilt. Die musikalische Leistungsfähigkeit der Wiener und Österreicher wird freilich anerkannt. 27 Die Wiener gebildete Bevölkerung respektierte ihrerseits wohl zumeist verschiedene traditionelle kulturelle Einflüsse, von Werken der Literatur bis zu mo-

dischen Kreationen; es überwog aber doch eine Abwehrstimmung, die mehr gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich als gegen das frühere Regime gerichtet war; die Mehrzahl der Wiener begrüßte die Wiederherstellung des Bourbonenkönigtums, dessen Anhänger unter den fremden Gästen man zumeist respektierte, wenn es auch unter den Wienern etliche Sympathisanten mit dem revolutionären Geist gab.28 Aber lassen wir nun Besucher der kommenden Friedensjahre zu Wort kommen. Bemerkenswerte Ausführungen über Wien und die Wiener finden sich in den Briefen von Martha Bradford, geborene Wilmot, der aus anglo-irischer Familie stammenden Gattin von Reverend William Bradford, dem Geistlichen an der anglikanischen Botschaftskapelle in Wien, an ihre Verwandten, insbesondere an Ihre Schwester und die Mutter, in den Jahren ihres Wienaufenthalts (1819-1829).» Mrs. Bradford konnte ihre zumeist mit kritischem Engagement geschriebenen Briefe dem Botschaftskurier mitgeben, dadurch entgingen sie der Metternichschen Zensur. Verschiedenste Fakten und Probleme fielen ihr in Wien auf; positive und negative Eindrücke wechseln einander in bunter Folge ab. Mit den Wohnungsverhältnissen in Wien war Mrs. Bradford unzufrieden, die Zimmer seien wegen der hohen Zinse und der stets drohenden Kündigung verwahrlost, es gebe eine unangenehme Flohplage. Wien wird mit einem großen Kaninchenbau über der Erde verglichen, in dem jeder Winkel zu enormen Preisen vermietet wird. Je nach dem Stockwerk unterscheiden sich die gesellschaftlichen Gruppierungen. Der Schuhputzer und sein Weib kommen aus dem Keller, der Hausierer und die Stallknechte logieren zu ebener Erde, die Adeligen und fremden Gäste im ersten Stock, die sonstigen Vornehmen des Landes im zweiten und dritten, die Liebhaber reiner Luft und billiger Wohnungen im vierten, die Putzmacherinnen und ihr Anhang im fünften Stock, die Studenten und die Gefühlvollen im sechsten, die armen, hungrigen Dichter im siebenten und achten Stock. Man trifft sich andererseits aber gemeinsam zur Unterhaltung, das Küchenmädchen legt ebenso Wert auf gute Kleidung wie die gnädige Frau. Die Lebenshaltungskosten seien hoch, aber man hört doch immer wieder von der Freude der Wiener, die bekanntlich wenig arbeiten und gerne gut essen, am Genießen. Die Bradfords hatten in Gesellschaft des britischen Botschafters manche Gelegenheit, mit Angehörigen des Adels und des diplomatischen Korps zu verkehren. Ausführlich wird über Bälle und Empfänge berichtet, über Diners, über Sommerfrischenaufenthalte in Baden oder Bad Ischl; das Kastenwesen der Wiener Aristokratie, die Titelsucht der Österreicher werden gerügt. Im Prater freilich kommen alle Schichten der Bevölkerung zusammen, vom Kaiser bis zum bärtigen Türken und

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dem jüdischen Hausierer. Mrs. Bradford brauchte zweifellos etliche Zeit, sich an Wien zu gewöhnen, aber dann hatte sie starke Sympathien für die Stadt und ihre Bevölkerung; die Gesellschaftsschichten, in denen sie zumeist verkehrte, waren aber nicht mehr die Träger der entscheidenden kulturellen Leistungen in einer Epoche, in der sich die Bürger vom Mäzenatentum des Hofes, des Adels und der Kirche bereits weitgehend emanzipiert hatten. Eine erhebliche Breitenwirkung sollte das Werk „Austria as it is" (1828) von Charles Sealsfield, eigentlich Karl Postl (1793-1864), eines Südmährers, geboren in Poppitz bei Znaim, entfalten. Unbefriedigt mit der ihm zunächst zugedachten geistlichen Laufbahn, er war als Angehöriger des Ordens der Kreuzherren mit dem Roten Stern zum Priester geweiht worden, entfloh er 1823 in die Schweiz, 1826 in die Vereinigten Staaten, wo er den Namen Charles Sealsfield annahm. Als politischer Publizist, Korrespondent und Reiseschriftsteller sollte er bald erfolgreich tätig sein; über seine Identität herrschte Unklarheit. „Austria as it is" übte in Form eines (fingierten) Reiseberichtes heftige Kritik am offiziellen Österreich des Kaisers Franz und Metternichs. Das Werk sollte sich auf das englische und amerikanische Österreichbild entschieden und nachhaltig negativ auswirken. 30 Er erkannte klar die Probleme des Vielvölkerstaates; besonders nahm er gegen die Verhältnisse in Böhmen Stellung, etwas positiver kam Mähren davon. Aber auch in Niederösterreich herrsche unter der Bevölkerung Mißtrauen gegen das Regime. Wien ist eine schöne Stadt, der Adel gebildet, in der Politik hat er kaum Einfluß, betätigt sich aber anerkennenswert in kulturellen und künstlerischen Bereichen. Das Wiener Volk war immer schon sinnenfroh, zufrieden und gedankenlos, vergnügungssüchtig, man bekommt in Wien selten ein kluges oder ernstes Wort zu hören, wohl aber gute Musik; diese macht den wichtigsten Teil der Wiener Bildung aus. Es gibt Museen, Galerien und Sammlungen, aber diese werden nicht entsprechend geschätzt, man strebt eher in den Prater, die Kaffeehäuser und das Leopoldstädter Theater. Vor allem aber wird fast dauernd gegessen und getrunken. Im übrigen kontrollieren unzählige Spitzel die Bevölkerung. Intellektuelle Aktivitäten werden unterdrückt. Juristen und namentlich Mediziner haben immerhin sehr anerkennenswerte Leistungen zu verzeichnen; das gilt auch für die Technische Hochschule. Sealsfield hatte in Amerika, aber auch in der Schweiz mehr Erfolge, mehr Anerkennung als in Österreich, das mag wohl auch ein Grund gewesen sein, daß ihn die Sklaverei in den Südstaaten der Union viel weniger irritierte als die Zensur in Österreich.

täten, denen man immer wieder begegne, dann über die verschiedenen sozialen Schichten; das Elend in den Arbeitersiedlungen ist nicht mehr übersehbar, die Unterprivilegierten beginnen ihre Forderungen anzumelden. Eine Zuspitzung sozialer und nationaler Konfliktsituationen führte zu den Ereignissen des Sturmjahres 1848. 31 Im Revolutionsjahr und unmittelbar nachher gehen die Urteile weit auseinander. Das gilt naturgemäß auch für die Wiener selbst; Wohlstandsbürger und Unterschichten hatten ganz verschiedene Zielvorstellungen, im August 1848 kam es zur „Praterschlacht". Da aber die revolutionäre Bewegung, zwar in sich gespalten, dem kaiserlichen Heer bewaffneten Widerstand entgegensetzte, so zürnten konservative Gäste, Diplomaten und Offiziere den Wienern, sei es, daß sie in ihnen echte Revolutionäre oder allzu leicht fremden demagogischen Einflüssen erlogene „revolutionäre Pygmäen" sahen. Für Banus Jellacid waren sie gar feige, blödsinnige, aufrührerische Backhendlfresser, mit denen er durch den Mund der Kanonen sprechen wollte, während er etwa die Husaren der ungarischen Revolutionsarmee respektierte; es schauderte ihn, auf sie schießen zu lassen, war man doch vor kurzem noch in der gemeinsamen kaiserlichen Armee kameradschaftlich verbunden gewesen. 32 Die Studenten waren den herrschenden Kreisen besonders verhaßt, man verlangte sogar die Verlegung der Universität Wien nach St. Pölten. Ein Robert Blum dagegen zollte den Wienern als gemütlichen, aber gründlichen Revolutionären hohe Anerkennung. Als die Revolution unterlag, mußte man sich umstellen und tat es auch. Hermann Scherer aus Cannstadt kam erst nach der Niederschlagung der Revolution nach Wien, er schrieb anonym für die Kölner Zeitung „Wiener Briefe", in denen er im September 1849 vom Wiener Bürgertum sagte, es repräsentiere den „Inbegriff jener indolenten, gesinnungs- und geistlosen Gemütlichkeit, welcher eine schlaffe Moral und ein oft weites Gewissen besser zusagt, als der strenge sittliche Ernst.. ,"33 Der aus einer slowenischen Handwerkerfamilie Krains stammende Anton Füster (Fister), erst ein Jahr vor der Revolution nach Wien gekommen, wurde hier Feldkaplan der akademischen Legion. Aus der amerikanischen Emigration äußerte er sich später sehr kritisch über die Wiener der „höheren Klassen"; die zum Teil angeborene, zum Teil „systematisch beförderte" Neigung zu sinnlichen Genüssen34 habe den Charakter vergiftet, sie seien „moralische Proletarier", der sogenannte Proletarier aber habe Mut, Biederkeit und Sittlichkeit. Wie man sieht, kann die Wiener Gemütlichkeit in hitzigen Zeiten sehr verschieden interpretiert werden.

In Schriften um die Jahrhundertmitte finden wir noch immer etliche traditionelle Feststellungen über Stadt und Vorstädte, über die zahlreichen Nationali-

Nach Revolution und Neoabsolutismus änderte sich das Stadtbild Wiens wesentlich; es gab keine Basteien mehr, kein Glacis, die Ringstraße und die sie säumenden Bauwerke traten an ihre Stelle. Die fol-

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gen, eines großen Bevölkerungszuwachses und weiter zunehmender Industrialisierung, eines verstärkten Kontrastes von Reichtum und Elend, sind nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung. Es soll aber noch ein kritischer Beobachter Wiens zu Wort kommen, der alte Urteile und Vorurteile in standortsund zeitbedingter Form, verbunden mit sehr ausgeprägten eigenen Überzeugungen, artikulierte. Heinrich von Treitschke (1834-1896), geborener Sachse, zunächst nach seinen persönlichen Neigungen zwischen Wissenschaft und Dichtung schwankend, wandte sich von liberalen mehr und mehr nationalen Tendenzen zu.35 Seit Beginn der sechziger Jahre hoffte er auf eine „Lösung der deutschen Frage" in einem preußischen Sinn; selbst die Annexion Sachsens durch den Hohenzollernstaat galt ihm 1866 wünschenswert. Die Reichsgründung von 1870 schien seine Hoffnungen zu verwirklichen. Seine „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", in der er aus seinen Sympathien und Antipathien kein Hehl machte, sollte die Geschichtsauffassung weiter Kreise prägen. Nun war zuvor Österreich der große Gegenspieler Preußens im Kampf um die Führung im Deutschen Bund gewesen, hatte seiner Meinung nach das größte Hindernis für die Verwirklichung einer gesunden, deutschen Erneuerung gebildet. Das „lustige Wien" aber war das Zentrum dieser Habsburgermacht. Zwar fehlte es den Österreichern ursprünglich, wie er einräumte, keineswegs an guten Anlagen, aber diese seien von der Gegenreformation schwer erschüttert worden; so konnte das Volk an der Donau etwa am Aufschwung der deutschen Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keinen Anteil haben. Das hinderte Treitschke freilich nicht, einem Grillparzer (trotz dessen Distanzierung vom nationalen Gedankengut) und einem Raimund gerecht zu werden. Aber für Wien, für die Eßlust, Trinkfreudigkeit und Unmäßigkeit der Wiener, denen es an sittlichem Ernst fehle, hatte er wenig übrig. Die sympathischsten Deutschösterreicher waren ihm die Vorarlberger im Westen, die ihm mehr Deutsche als Österreicher zu sein schienen, und die Siebenbürger Sachsen im Osten, diese als volksbewußte Protestanten, war für ihn doch „der evangelische Glaube der eigentlich deutsche Volksglaube". Diese beiden Volksgruppen waren offensichtlich weit genug von Wien entfernt, um eine positive Entwicklung durchhalten zu können. Wenn wir die durch einige Beispiele illustrierte Geschichte des Wien-Klischees bis nach Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgten, so ergab sich, daß bleibende Urteilskategorien bereits früh feststellbar sind, sie beziehen sich einmal auf landschaftliche Gegebenheiten, dann auf eine zum Teil mit diesen eng verknüpfte wirtschaftliche Situation und Funktion. Wechselnde politische, nationale und soziale Faktoren werden damit verbunden und verallgemeinernde

Schlüsse gezogen, die in bald mit einem positiven, bald mit einem negativen Vorzeichen versehene Pauschalurteile münden.36 Immer wieder wird viel von älteren Berichterstattern übernommen; die zähe Lebenskraft eines eingewurzelten Klischees geht nicht zuletzt auf diese starke (nicht immer zugegebene) Abhängigkeit vieler Autoren von einander zurück. Die vielberufene Wiener Fröhlichkeit und Gemütlichkeit, der Wiener Humor, bald als Seichtheit, bald als beispielhafter Lebensmut charakterisiert, wird von den Wienern akzeptiert, in der Regel natürlich positiv bewertet: „ . . . allweil lustig, fesch und munter, denn der Weaner geht net u n t e r . . . " - so wird man auch mit widrigen Schicksalsschlägen fertig; so will der „echte Urwiener" sein, mag der Vater auch erst aus Schwaben, aus Böhmen oder Mähren, aus dem niederösterreichischen Umland zugewandert sein. Mit dieser Mentalität konnte man Probleme nicht lösen, aber viele hofften, sie so besser überleben zu können . . .

Anmerkungen 1 Die vorliegende Abhandlung knüpft an Seminarübungen der Studienjahre 1963/1964, 1967/1968 und 1983/1984 an, welche den Leumund der Wiener und Österreicher im Wandel der Jahrhunderte betrafen. Den Teilnehmern fühle ich mich für Anregungen und Hinweise zu Dank verpflichtet. 2 MIÖG 14 (1893), S. 654, sowie Alphons Lhotsky, Mittelalterliche Lobsprüche auf Wien, in: Lhotsky, Aufsätze und Vorträge, Bd. 4, Wien 1974, S. 11 ff. 3 Lhotsky, Lobsprüche, S. 12. 4 Oswald Redlich/Anton Schönbach, Des Gutolf von Heiligenkreuz Translatio sanctae Delicianae, Sitzungsberichte der kaiserl. Akad. d. Wiss. 159 (1908), 2. Abt., S. 10, sowie bei Lhotsky, Lobsprüche, S. 12 f. 5 Karl Stehlin und Rudolf Thommen, Aus der Reisebeschreibung des Pero Tafur 1438/1439, Basler Zeitschr. für Geschichte und Altertumskunde 25 (1926), S. 45 ff. -Lhotsky, Lobsprüche, S. 14-17. 6 Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, hg. von A. Lhotsky, Mon. Germ. Script, rer. Germ. N. S. 1967, S. 528 f. - Lhotsky, Lobsprüche, S. 17 f. 7 Wilhelm Weyer, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichte 7 (1882), S. 216. - Vgl. Erich Zöllner, Österreichbegriff und Österreichbewußtsein im Mittelalter, in: Volk, Land und Staat. Landesbewußtsein, Staatsidee und nationale Fragen in der Geschichte Österreichs, Schriften des Inst, für Österreichkunde 43, Wien 1984, S. 17. 8 Über diese Kritik der Reimchronik Dalimils vgl. Frantisek Graus, Premysl Otakar II. - sein Ruhm und sein Nachleben, MIÖG 79 (1971), S. 84. 9 Josef Seemüller, Seifried Helbling, Halle 1886, S. 4, c. V, v. 3 ff., S. 2, c. XIV, v. 54 ff.; S. 126 f., c. III, v. 330 ff. Vgl. Ursula Liebertz-Grün, Seifried Helbling, Satiren contra Habsburg, München 1981 - Zöllner, Österreichbegriff (wie Anm. 7), S. 14 ff.

Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern 10 Jans Enikel, Fürstenbuch, hg. von Philipp Strauch, Mon. Germ. Hist. Deutsche Chroniken 3, S. 619 f. 11 Continuatio Vindobonensis, Mon. Germ. Hist. Script. 9, S. 710, 718. 12 Ottokars Reimchronik, hg. von Joseph Seemüller, Mon. Germ. Hist. Deutsche Chroniken 5, 2, S. 1186. 13 Vgl. Zöllner, Österreichbegriff (wie Anm. 7), S. 15 f. 14 Michael Beheim, Buch von den Wienern, hg. von Theodor Georg v. Karajan, Wien 1843, bzw. Neudruck 1867. - Vgl. hiezu Alphons Lhotsky, Quellenkunde zur Mittelalterlichen Geschichte Österreichs, MIÖG-Erg. Bd. 19, Graz-Köln 1963, S. 365 f. - Vgl. femer Paul Uiblein, Die Quellen des_ Spätmittelalters, in: Die Quellen der Geschichte Österreichs, hg. von Erich Zöllner, Schriften des Instituts f. Österreichkunde 40, Wien 1982, S. 108. 15 Aeneas Silvius, Historia Austrialis, hg. von Franz Kollar, Analecta monumentorum omnis aevi Vindobonensis 2, Wien 1762, c. 1 ff. - Eine gute deutsche Übersetzung von Theodor Ilgen, Die Geschichte Kaiser Friedrichs III. von Aeneas Silvius, Leipzig 1889, S. 14 ff. - Bei Aeneas Silvius finden sich im übrigen doch auch etliche positive Stellungnahmen zu Wien und Österreich. - Vgl. Lhotsky, Aeneas Silvius und Österreich, in: Lhotsky, Aufsätze und Vorträge 3, S. 26 ff. 16 Wolfgang Schmeltzl, Ein Lobspruch der hochlöblichen, weit berümbten, khünigklichen Stadt Wienn in Österreich etc., Wien 1548. Neuausgabe durch Heinrich Diezel (Hg.), Wien 1913. - Vgl. zum folgenden insbes. v. 85 ff., 194 ff., 325 ff., 345 ff., 520 ff. 17 Schmeltzl, hg. von Diezel, v. 325 ff. 18 Edward Brown, An Account of Several Travels through a Great Part of Germany, four Journeys. London 1673. - Vgl. auch die deutsche Übersetzung von Browns Reiseschriften: Brown, Durch Niederland, Teutschland, Hungarn, Serbien, Bulgarien, Macedonian etc. gethane ganz sonderbare Reisen, nunmehr in die hoch-teutsche Sprache übertragen. Nürnberg 1686. - Ferner: Erwin Stürzt, Das englische Österreichbild des 17. Jahrhunderts, in: Österreich und die angelsächsische Welt, hg. von Otto Hietsch, Bd. 1, Wien 1961, S. 68 ff. - Dietlinde Wehrenfennig, Englische Reiseliteratur über Österreich 1650-1750, phil.-Diss. Wien 1963, insbes. S. 26 ff. - Über andere englische Reisende des 17. Jhdts. vgl. man: John Stoye, Reisende Engländer im Europa des 17. Jhdts. und ihre Reisemotive, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hg. von Anton Maczak und Hans Jürgen Teuteberg, Wolfenbütteler Forschungen Bd. 21, Wolfenbüttel 1982, S. 131 f. 19 Abraham a Sancta Clara, Mercks Wien. Das ist des wüthenden Todes umständige Beschreibung, Wien 1679, Lösch Wien, Wien 1680, Auf, auf, ihr Christen, Wien 1683. - Vgl. ADB 21 (1885, unter Johann Ulrich Megerlin!) S. 178 ff., NDB 1 (1953), S. 21. Franz Loidl, Menschen im Barock (Abraham a Sancta Clara), Wien 1938. - Karl Helleiner, Das Bild der Wirtschaft und Gesellschaft bei Abraham a Sancta Clara, MIÖG 60 (1952), S. 251 ff. - Annegret Würtz, Die Schwaben in Wien von der Barockzeit bis in den Vormärz. Hausarbeit (maschinschr.) Wien 1984. - Robert A. Kann, Kanzel und Katheder, Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik, Wien-Freiburg-Basel 1962, S. 59 ff.

9 20 Robert Halsband, The Life of Lady Mary Wortley Montagu, New York 1956. - In Kürze vgl. Dictionary of National Biography 38 (1894) 259-263; Enzyclopaedia Britannica, Micropaedia, 15. Aufl., 6 (1983), 101 Of. Zur Einführung der Pockenimpfung: R. Halsband, Journal of the history of medicine 8 (1953). - Vgl. hiezu und zum Folgenden: Waldemar Zacharasiewicz, Das Bild Wiens und der Wiener im anglo-amerikanischen Schrifttum. Anglistik und Englischunterricht 29/30, Images of Germany, Heidelberg 1986, S. 247 ff. - Vgl. femer Leopoldine Bock, Wien in den Berichten der englischen Reiseschriftsteller von 1700-1848. Lehramtshausarbeit (maschinschr.) Wien 1953. 21 Robert Halsband, The complete letters of Lady Mary Wortley Montagu, 3 Bde., London 1965-1967. - Hier nach der deutschen Teilausgabe, Hans Heinrich Blumenthal, Der Lady Mary Pierrepont Wortley Montagu Reisebriefe, Wien 1931, Brief Nr. 7 , 8 , 9 , 1 0 , 1 1 , 1 2 , 1 3 , 20, 21, 22, 23. Diese Ausgabe enthält einige Briefe mehr als die Ausgabe und Übersetzung von Maria Breunlich, Lady Montagu, Briefe aus Wien, Wien 1985, die auf der Ausgabe von Robert Halsband basiert. Dafür enthält Breunlichs Ausgabe S. 84-86 auch die Vorrede von Mary Astell zu Lady Montagus Briefen, datiert vom 18. Dezember 1724, in der die Überlegenheit der Reisebriefe einer Dame über die Reisebeschreibungen der Männer gefeiert wird, ferner zeitgenössische Bilder Wiens und einiger in den Briefen genannter Persönlichkeiten. 22 Johann Basilius Küchelbecker, Allerneueste Nachricht vom Roemisch-Kaeyserlichen Hofe, etc., 1. Aufl. Hannover 1730, 2. Aufl. 1732. - Vgl. zu Autor und Werk: Max Vancsa, Quellen und Geschichtsschreibung, in: Geschichte der Stadt Wien, hg. vom Altertumsverein von Wien, Bd. 4, Wien 1911, S. 101 f. - Anna Coreth, Österreichische Geschichtsschreibung in der Barockzeit, 1620-1740, Wien 1950, S. 139. 23 Erich Zöllner, Das barocke Wien in der Sicht französischer Zeitgenossen. Erstmals erschienen in: Etudes europeennes. Melanges offerts ä Victor-L. Tapiö, Publications de la Sorbonne, Serie Etudes, Tome 6, Paris 1973. Neudruck: E. Zöllner, Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung. Ausgewählte Aufsätze, Wien 1984, S. 383 ff. - Hier sollen drei Autoren erwähnt werden: Charles Patin, Quatre relations historiques, Basel 1673, bzw. die dritte Auflage, Relations historiques et curieuses, Amsterdam 1697, ferner Casimir Freschot (Fraichot, Fraischot), M6moires de la cour de Vienne contenant les remarques d'un voyageur curieux sur l'ötat präsent de cette cour et sur ses interets, 3. Aufl., Köln 1705-1707; bzw. Oers., Remarques historiques et critiques faites dans un voyage d'ltalie en Hollande dans I'ann6e 1704, Köln 1705. Schließlich Ch. de Montesquieu, Voyage en Autriche, Oeuvres completes 1, Bibliotheque de la Pleiade 81, Paris 1949; vgl. auch Mes pensees, L'auteur, ebenda, S. 979 ff., 985. - Justus Schmidt, Voltaire und Maria Theresia. Französische Kultur des Barock in ihren Beziehungen zu Österreich, Mitt. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 11 (1931), S. 73 ff. enthält ergänzendes Material zum Thema. - Vgl. nunmehr insbesondere auch Grete Klingenstein, Jede Macht ist relativ. Montesquieu und die Habsburger Monarchie, in: Festschrift Othmar Pickl zum 60. Geburtstag, GrazWien 1987, S. 307 ff., insbes. S. 309-312.

10 24 Elisabeth Comides, Zwischen Giannone, Muratori und Metastasio. Die Italiener im geistigen Leben Wiens, in: Formen der europäischen Aufklärung, Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 3, Wien 1976, S. 224-250. 25 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, BerlinStettin 1783-1786, 12 Bde.; über das Echo vgl. u. a. Wolfgang Martens, Zum Bild Österreichs in Friedrich Nicolais „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781", Anzeiger der österr. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 116 (1979), S. 45 ff.; ferner Leslie Bodi, Tauwetter in Wien, Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781-1795. Frankfurt/Main 1977; ferner Evelyn Miksch, Wien um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Spiegel der Berichte ausländischer Besucher, Diss, (maschinschr.), Wien 1981, S. 193 ff. 26 Als Beispiel wäre etwa Adolf Glaßbrenner, prominenter Schilderer des Berliner Volkslebens zu erwähnen, vgl. dessen Bilder und Träume aus Wien, Bd. I, II, Leipzig 1936; ferner: Erich Zöllner, Wien um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Sicht seiner fremden Gäste, in: Probleme und Aufgaben der österr. Geschichtsforschung (vgl. oben Anm. 23) S. 402 f. 27 Vgl. Rotraut Hofmeister, Das Österreichbild der napoleonischen Soldaten, Dissertationen der Universität Wien 96, Wien 1973, S. 135 ff., insbes. S. 171 (Charles Louis Cadet de Gassicourt über das Miteinander verschiedener nationaler und sozialer Elemente im Praterleben). 28 Vgl. hiezu Ingrid Ganster, Die Beurteilung Frankreichs und der Franzosen durch die Wiener Stadtbevölkerung zur Zeit des Wiener Kongresses. Diss, (maschinschr.), Wien 1983; ferner: Hilde Spiel, Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1965 (Wiener Kongreßtagebuch 1814/1815). Wie der Rechnungsbeamte Franz Perth den Wiener Kongreß erlebte. Eingel., hg. und kommentiert von Franz Patzer, Veröffentlichungen aus der Wiener Stadt- und Landesbibliothek 8, WienMünchen 1981. 29 Vgl. More Letters from Martha Wilmot. Impressions of Vienna 1819-1829. Edited with an Introduction and Notes by the Marchioness of Londonderry and Η. M. Hyde, London 1935. Vgl. insbes. S. 65. Eine eingehende, verständnisvolle Interpretation des Quellenwertes dieser Briefe bei Anna Martha, Die Briefe von Martha Bradford als Quelle für das Kulturleben in Wien und Umgebung (1819-1829), Lehramtshausarbeit (maschinschr.), Wien 1980. 30 Austria as it is or Sketches of Continental Courts by an Eye Witness, London 1828; gleichzeitig erschien auch eine Ausgabe in französischer Sprache. Vgl. die deut-

Zur Geschichte des Klischees von Wien und den Wienern

31

32

33

34 35

36

sche Übersetzung: Österreich, wie es ist, oder Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents, übersetzt und hg. von Victor Klarwill, Wien 1913, Neuausgabe 1919. Vgl. Eduard Castle, Der große Unbekannte, Das Leben von Charles Sealsfield (Karl Postl), Wien-München 1952; femer: Postl Karl, ÖBL 1815-1950, Bd. 8, S. 225 f. Vgl. Wolfgang Häusler, Zur sozialen und nationalen Problematik der Revolution von 1848/49 in der Donaumonarchie, Schriften des Inst, für Österreichkunde 38, Wien 1981, S. 110 ff. - Ders., Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien-München 1979 (mit zahlreichen Hinweisen zur Quellenlage und zu weiterer Literatur). Häusler, Zur sozialen und nationalen Problematik, (wie Anm. 31), S. 117, 118f., 1 2 4 . - Z ö l l n e r , Wien um die Mitte des 19. Jahrhunderts, (wie Anm. 26), S. 418 (Andlaw-Birseck), 419 (JellaSc). Häusler, Zur sozialen und nationalen Problematik (wie Anm. 31), S. 117. - Zöllner, Wien um die Mitte des 19. Jhdts. (wie Anm. 26), S. 419 f. - Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung (wie Anm. 31), S. 365 f., Abb. 24, 25. - Rudolf Zewell, Die österreichische Revolution von 1848/49 im Urteil der Rheinländer, Dissertationen der Universität Wien 157, Wien 1983, S. 59 f. Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung (wie Anm. 31), S. 424 ff., insbes. S. 426. Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 1. Aufl., 5 Bde., Leipzig 1879-1894 (8. Aufl., 1909); Aufsätze, Reden und Briefe, hg. von Κ. M. Schiller, 5 Bde., 1929. - Vgl. ADB 55, S. 263-326; Ferdinand von Bilger, Heinrich von Treitschke und die österreichische Literatur, in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich von Srbik, München 1938, S. 363 ff. - Biograph. Wörterbuch zur deutschen Geschichte, 2. Aufl., München 1975, sp. 2927 ff. - Georg Iggers, Heinrich v. Treitschke, in: Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 66 ff. - Edwin Dillmann, Österreich und die Österreicher im Werke Treitschkes (Manuskr.). Friedrich Schlögl, Wiener Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. 1. Abt. Wien 1886. - Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848-1914, Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 9, Wien 1977. - Gustav Otruba, Wiens Bevölkerung - Nationale Herkunft und soziale Entwicklung, Der Donauraum 13 (1968), S. 31. - Reingard Witzmann, Wiener Typen. Bibliophile Taschenbücher Nr. 339, Dortmund 1982.

11

Österreich als Aufnahme- und Abgabeland

1. Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien 1.1. Österreich als Aufnahme- und Abgabeland Inner- und interkontinentale Wanderungen waren und sind typische Erscheinungen in der Phase der Auflösung von Agrargesellschaften und dem Hineinwachsen in industrialisierte Gesellschaftsformen. Die Pauperisierung der Landbevölkerung löste Wanderungsströme aus, so daß um die Jahrhundertwende von Dimensionen einer Völkerwanderung gesprochen wurde. Österreich war in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein bedeutendes Abgabeland von Arbeitskräften. Die Sogwirkung, dje von Amerika ausging, erfaßte auch das Gebiet der ÖsterreichischUngarischen Monarchie, die vor dem Ersten Weltkrieg neben Großbritannien und Italien zu den wichtigsten Abgabeländern für den amerikanischen Kontinent zählte. 1910 befanden sich 1,174.973 im Gebiet der Monarchie geborene Personen in den Vereinigten Staaten.1 Die Auswanderung aus Wien und Niederösterreich war jedoch eher gering. Die enorme Emigration der Burgenländer, die bereits vor 1914 sehr stark gewesen war, ist auch aus den Zwischenkriegsjahren noch in lebhafter Erinnerung und die Hoffnung auf die Erbschaft des „guten Onkels aus Amerika" nach wie vor geflügeltes Wort. Insgesamt wanderten 1921 bis 1937 71.919 Österreicher in außereuropäische Gebiete aus, davon bis 1934 19.089 Personen aus Wien. 2 Im 19. und 20. Jahrhundert wirkte ferner die Sogkraft des wirtschaftlich potenteren Deutschlands. Bis zum Ersten Weltkrieg handelte es sich hauptsächlich um Saisonwanderung. Laut einer preußischen Statistik befanden sich 1911 146.472 Arbeiter aus der Doppelmonarchie in Preußen, hievon waren 50.583 „deutscher Abstammung" zu 92 Prozent in Industrie und Bergbau beschäftigt.3 Ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist Österreich sowohl Aufnahme- als auch Abgabeland von Arbeitskräften, und es wird selten beachtet, daß die Zahl der österreichischen Arbeitskräfte im

Ausland nur unwesentlich unter jener der in Österreich Beschäftigten aus Jugoslawien und der Türkei liegt. Graphik 1: Österreich als Abgabe- und Aufnahmeland von Arbeitskräften 1954-1981

Österreicher

im

Ausländer

Österreich

in

Ausland

(in

der

Elisabeth Lichtenberger, Gastarbeiter. sellschaften, Wien 1984, S. 90.

BRD

und

der

Leben

Schweiz)

in zwei

Ge-

Außer den Arbeitsmigranten kamen vor allem politische Flüchtlinge nach Wien, die hier Schutz, Asyl oder eine vorübergehende Bleibe suchten. 1934 bis 1945 herrschte in Osterreich eine politische Lage, die viele Menschen zur Emigration zwang, beispielsweise die Sozialdemokraten Otto Bauer und Bruno Kreisky, die Wissenschafter Karl Popper, Sigmund Freud, Paul Lazarsfeld, die Komponisten Arnold Schönberg, Robert Stolz, Ernst Krenek, die Publikumslieblinge Karl Farkas, Hermann Leopoldi, Richard Tauber, die Dichter Ödön von Horvath, Fritz

12

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Hochwälder, Friedrich Torberg, Hans Weigl, Franz Werfel, Stefan Zweig, Robert Musil, aus dem Bereich

der darstellenden Kunst Fritz Wotruba, Oskar Kokoschka etc. 4

1.2. Die Dimension der Zuwanderung 1.2.1. Die Wiener Bevölkerung 1830-1981

1.2.2. Zuwanderungsströme

Soferne dies nicht anders gekennzeichnet ist, beziehen sich die Zahlenangaben auf das zum Zeitpunkt der Erhebung bestehende Stadtgebiet Wiens. 5 Die Statistiken der Monarchie erfaßten die anwesende Bevölkerung, jene der Folgezeit die Wohnbevölkerung. Für die im folgenden verwendeten Statistiken bietet die anschließende Tabelle mit der auf den gegenwärtigen Gebietsstand berechneten Einwohnerzahl Wiens eine Vergleichsbasis.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Struktur der Migration nach Wien: Die bis dahin bedeutende Zuwanderung aus deutschen Ländern nahm ab, während jene aus Böhmen und Mähren zunahm. Dies läßt sich anhand der Herkunftsdaten der Wiener Lehrlinge und Gesellen nachweisen. Wiens Attraktivität reichte in alle Teile der Monarchie. Während andere österreichisch-ungarische Großstädte wie Prag, Brünn oder Lemberg ihre Zuwanderer vornehmlich aus den Gebieten innerhalb der Landesgrenzen bezogen, strahlte Wien auch in die Attraktivitätssphären dieser Städte. 6 Der Erste Weltkrieg unterbrach den Zustrom der Arbeitsmigranten. Die bis dahin in ihrer Dimension geringe Zuwanderung aus politischen Gründen nahm überhand. In der Ersten Republik und im Austrofaschismus beschränkte sich die Arbeitsmigration nach Wien hauptsächlich auf die Bundesländer. In der NSZeit wurde die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, von Fremd-, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen größtenteils erzwungen. Die meisten kehrten nach Kriegsende in ihre Heimat zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte wiederum die politisch motivierte Zuwanderung: zuerst die sogenannten Volksdeutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, 1948 die Flüchtlinge aus der CSSR, 1956 jene aus Ungarn. Als in den sechziger Jahren Arbeitskräftemangel einsetzte, folgte Österreich dem Beispiel anderer Staaten mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Österreich blieb weiterhin Ziel-, jedoch hauptsächlich Transitland politischer Flüchtlinge aus den sozialistischen Ländern, insbesondere zur Zeit der Krisen in der ÖSSR 1968 und in Polen 1980.

Tabelle 1: Bevölkerung Wiens berechnet nach dem gegenwärtigen Gebietsstand 1830-1981 1830 1840 1850 1857 1869 1880 1890 1900

401.200' 469.400" 551.300' 683.000 900.998 1,162.591 1,430.213 1,769.137

1910 1923 1934 1939 1951 1961 1971 1981

2,083.630 1,918.720 1,935.881 1,770.938 1,616.125 1,627.560 1,619.885 1,531.346

' Schätzung

Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1983, Wien 1983, S. 13.

In den letzten Jahrzehnten der Monarchie beruhte das Wachstum der Wiener Bevölkerung auf einem Zuwanderungs- und Geburtenüberschuß: 1869 bis 1910 erzielte Wien durch die positive Wanderungsbilanz (= Zuwanderung abzüglich Abwanderung) einen Bevölkerungszuwachs von 662.300 Personen und durch den Geburtenüberschuß einen von 519.300 Personen. Der Erste Weltkrieg und der Zerfall der Monarchie stoppten diese Entwicklung abrupt. Von 1910 bis 1981 schrumpfte Wiens Bevölkerung um 552.300 Personen. Zurückzuführen ist dieser Rückgang auf den Verlust der Funktion Wiens als kosmopolitisches und ökonomisches Zentrum eines Vielvölkerstaates, der seither ständig negativen Geburtenbilanz und auf die Folgen der beiden Weltkriege. Der niedrige Wanderungsgewinn konnte diese Faktoren nur dämpfend beeinflussen. 1910 bis 1981 betrug der Bevölkerungsgewinn Wiens durch positive Wanderungsbilanz 156.600 Personen, hingegen der Bevölkerungsverlust durch die negative Geburtenbilanz 708.900 Personen (Quellen 1, 2).

1.2.3. Geburtsorte und Heimatberechtigung der Wiener Bevölkerung Die österreichische Statistik bietet seit 1880 mit der Umgangssprachenerhebung die Möglichkeit, die Verteilung der Sprachgruppen in Wien festzustellen. Die Ergebnisse sind allerdings unzuverlässig, weil immer wieder diskriminierende Ermittlungsverfahren und Assimilationsdruck Einfluß ausübten. Deswegen werden die Umgangssprachenstatistiken an anderer Stelle gesondert besprochen.

13

Die Dimension der Zuwanderung Genauere Auskunft über das Ausmaß der Zuwanderung nach Wien bieten die Geburtsort-Statistiken ab 1857. Der Anteil der in Wien Geborenen erreichte 1880 seinen Tiefststand mit 38,5 Prozent, stieg danach beständig an und erreichte 1971 65,3 Prozent. Parallel dazu schrumpfte der Anteil der außerhalb des Staatsgebietes der Republik Österreich Geborenen. Der Anteil der in den Bundesländern geborenen Wiener schwankte von 1857 bis 1971 im Bereich zwischen 15 und 20 Prozent. Das beschränkte Potential der Bundesländer, die ungünstige Altersstruktur der Wiener Bevölkerung und die beständig negative Geburtenbilanz lassen vermuten, daß auch weiterhin die Zuwanderung aus dem Ausland notwendig sein wird, um den durch eine negative Geburtenbilanz verursachten Bevölkerungsverlust zu verringern und um das Funktionieren infrastruktureller Einrichtungen aufrechtzuerhalten (Quellen 3, 4). Außer den Geburtsort-Statistiken informierten bis 1900 die Heimatrecht-Statistiken über das Ausmaß der Zuwanderung. Unter Heimatrecht verstand man das Recht auf ungestörten Aufenthalt in der Heimatgemeinde und den Anspruch auf Armenversorgung. 1863 brach eine Reform mit dem bis dahin geltenden Grundsatz, das Heimatrecht nach einer gewissen Aufenthaltsdauer zu verleihen, und erst eine am 1. Januar 1901 in Wirkung tretende Novellierung bestimmte, daß nach zehnjährigem, ununterbrochenem und freiwilligem Aufenthalt der Anspruch auf Heimatrecht bestand. Da Frauen und Kinder automatisch das Heimatrecht des Mannes bzw. Vaters erhielten, ist in den Statistiken die Zahl der in Wien geborenen zweiten Generation als auch jene der in Wien geborenen, mit Zuwanderern verheirateten Frauen Inbegriffen (Quelle 5).

scher Staatsbürger 1923 bis 1939 zurückzuführen (Quelle 6). Mit 7,4 Prozent Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung lag Wien 1981 beträchtlich unter den Werten anderer europäischer Großstädte, der tatsächliche Anteil betrug Mitte der achtziger Jahre etwa 10 Prozent: 1984 machte der Ausländeranteil in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland 12,7 Prozent aus, beispielsweise in München 16,0 Prozent und in Berlin 12,3 Prozent. Noch höhere Werte erreichten Schweizer Großstädte: 1980 wies Basel einen Ausländeranteil von 28,6 Prozent auf, Zürich 28,2 Prozent. 7

Geburten- und Wanderungsbilanz in Wien 1869-1981, Quellen 1, 2

Bevölkerungsbewegung in Wien

1.2.4. Ausländische Staatsbürger in Wien Die Statistiken ausländischer Staatsbürger in Wien sind für die Erfassung der Dimension der Zuwanderung von geringer Aussagekraft. Sie bieten jedoch Orientierungshilfe für unspezifizierte Bereiche der Geburtsort-Statistiken. Wegen unterschiedlicher Erfassungsprinzipien sind Ungenauigkeiten zu beachten. Beispielsweise lag die Zahl der Arbeitsmigranten aus Jugoslawien und der Türkei 1971 wesentlich unter den tatsächlichen Werten. Ferner ist zu berücksichtigen, daß im untersuchten Zeitraum die Bedeutung und der Umfang der Einbürgerungen unterschiedlich groß waren. In der Ersten Republik optierten viele für die neugegründeten Nachfolgestaaten der Monarchie, blieben jedoch weiterhin in Wien. Darauf ist die große Zahl tschechoslowaki-

Bevölkerungsbewegung in Wien nach d e m heutigen Gebietsstand 1869-1981 (in 1.000)

1.1.1870-31.12. 1.1.1881-31.12. 1.1.1891-31.12. 1.1.1901-31.12. 1 . 1 . 1 9 1 1 - 7 . 3. 8. 3 . 1 9 2 3 - 2 1 . 3. 2 2 . 3 . 1 9 3 4 - 3 1 . 5. 1. 6 . 1 9 5 1 - 2 0 . 3. 21. 3 . 1 9 6 1 - 1 1 . 5. 1 2 . 5 . 1 9 7 1 - 1 1 . 5.

1880 1890 1900 1910 1923 1934 1951 1961 1971 1981

Geburtenbilanz

Wanderungsbilanz

Gesamtveränderung

88,4 102,6 165,5 162,8 -103,9 - 87,0 -220,6 -104,0 - 76,1 -117,3

173,2 165,0 173,4 151,7 - 61,0 104,2 - 99,2 115,5 68,4 28,7

651,6 267,6 338,9 314,5 -164,9 17,2 -319,8 11,5 - 7,7 - 88,5

Statistisches Handbuch der Republik Österreich 1983, Wien 1983, S. 18.

14

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Bevölkerungsbewegung in Wien Bevölkerungsbewegung

in Wien nach dem gegenwärtigen

Gebietsstand

1870-1981

(Graphik).

GeburteoDilenz

Statistisches

Handbuch

der Republik Österreich

1983, Wien 1983, S. 18.

Geburtsort-Statistik 1857-1971, Quellen 3 , 4

Geburtsländer der Wiener Bevölkerung 1857-1971

Von der Wiener Bevölkerung1 waren geboren in

1857

1880

1890

1900

%

absolut

%

absolut

%

absolut

Wien Bundesländer2 Böhmen / Mähren, ab 1923 Tschechoslowakei Galizien, Bukowina andere Teile der österreichischen Monarchie4 Länder der ungarischen Krone, ab 1923 Ungarn Deutsche Staaten bzw. Deutsches Reich andere Staaten bzw. Ausland unbekannt

205.531 88.0003

43,8 18,7

271.429 131.694

38,5 18,7

610.062 206.774

44,7 15,1

777.105 250.857

46,4 15,0

98.068 3.417

20,9 0,7

188.379 13.577

26,7 1,9

354.423 24.163

26,0 1,8

411.037 36.763

24,5 2,2

8.777

1,9

16.746

2,4

31.408

2,3

36.616

2,2

23.547

5,0

54.128

7,7

100.666

7,4

22.780 3.093 16.008

4,9 0,7 3,4

20.142 8.661

2,9 1,2

25.515 11.537

1,9 0,8

162.579

9,7

insgesamt

469.221

100,0

704.756

100,0

1,364.548

100,0

1,674.957

100,0

absolut

%

15

Die Dimension der Zuwanderung Von der Wiener Bevölkerung1 waren geboren in

1910 absolut

1923 %

991.157 48,8 301.275 14,8

Wien Bundesländer2 Böhmen/ Mähren, ab 1923 Tschechoslowakei Galizien, Bukowina andere Teile der österreichischen Monarchie3 Länder der ungarischen Krone, ab 1923 Ungarn Deutsche Staaten, bzw. Deutsches Reich andere Staaten bzw. Ausland unbekannt

absolut

1934 %

1,004.301 53,8 304.737 16,3

182.761

insgesamt

absolut

%

1,077.102 57,5 349.133 18,6

absolut

absolut

%

%

1,134.192 64,2 329.086 18,6

1,054.788 65,3 312.563 19,4

292.880 15,6

467.158 23,0 47.115 2,3 41.955

1971

1951

2,1

9,0

556.742 29,9

2,031.421100,0

1,865.780 100,0

28.471

1,5

21.554 102.117 2.873

1/2 5,4 0,2

302.224 17,1 600 0,1

202.940 12,6 44.550 2,7

1,874.130 100,0

1,766.102 100,0

1,614.841100,0

Bis 1910 anwesende, danach in Wien wohnhafte Bevölkerung. Bis 1910 Tirol und Steiermark nach ihren damaligen Landesgrenzen und ohne Burgenland. 3 Inklusive Krain, Görz, Gradisca, Dalmatien, Istrien, Schlesien und Trient. 4 Hievon in Schlesien: 1857: 7.285; 1880:12.872; 1890:23.651; 1900:27.658; 1910:32.114. 1 2

Spalte 1-2: Statistik der Stadt Wien, Wien 1857, Probeheft, S. 46. Spalte 3-4: Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 104-107. Spalte 5-6: Österreichische Statistik, Wien 1893, Band 32, Heft 2, S. 62-68. Spalte 7-8: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wienfür das Jahr 1902, Wien 1904, S. 34-41. Spalte 9-10: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wienfördas Jahr 1912, Wien 1914, S. 891-898. Spalte 11-12: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien fir das Jahr 1929, Wien 1930, S. 5. Spalte 13-14: Statistik des Bundesstaates Österreich, Wien 1935, Heft 3, S. 14 f. Spalte 15-16: Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951, Wien 1953, Heft 12, S. 28. Spalte 17-18: Isis Datenbank des Österreichischen Statistischen Zentralamtes.

Geburtsländer der Wiener Bevölkerung 1880,1934 und 1971 Von den 1880 in Wien anwesenden geboren in:

Personen

waren

Von den 1934 in Wien wohnhaften geboren in:

Personen

waren

I i Wien Eü Bundesländer H Böhmen, Mähren Η sonst. Cisleithanien EU Ungarn § Ausland

Μ

Wien

ΕΞ

Bundesländer

Ο

Tschechoslowakei



Ungarn

Ξ

sonst. Ausland

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in W i e n

16 Von den 1971 in Wien wohnhaften Personen waren geboren in:

Von den 1988 im Rahmen des Mikrozensus zählten Personen waren geboren in:

in Wien ge-

E l Wien

Wien

SEI Bundesländer

Bundesländer

Β

Aasland Ausland

Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 104-107. - Statistik des Bundesstaates Österreich, Wien 1935, Heft 3, S. 14 f . - Isis Datenbank des Österreichischen Statistischen Zentralamtes.

Österreichisches Statistisches Zentralamt, Mikrozensus 1988.

Heimatrecht-Statistik 1869-1900, Quelle 5

Heimatberechtigung der Wiener Bevölkerung 1869-1900

1869 absolut

Wien Bundesländer Böhmen / Mähren Galizien, Bukowina andere Teile der österr. Monarchie Länder der ungar. Krone, ab 1923 Ungarn Deutsche Staaten bzw. Deutsches Reich andere Staaten bzw. Ausland

270.911 95.436 158.709 7.972

44,6 15,7 26,1 1,3

247.967 118.173 215.522 15.871

35,2 16,8 30,6 2,3

476.418 218.349 453.119 28.774

34,9 16,0 33,2 2,1

636.230 254.204 518.333 45.717

38,0 15,2 30,9 2,7

13.343

2,2

18.690

2,6

37.218

2,7

42.798

2,5

38.925

6,4

60.857

8,6

115.736

8,5

140.280

8,4

14.642 7.576

2,4 1,3

18.546 9.130

2,6 1,3

23.680 11.254

1,8 0,8

21.733 15.662

1,3 1,0

insgesamt

607.514

100,0

704.756

100,0

1,364.548

100,0

1,674.957

100,0

%

1880 absolut

%

1890 absolut

1900 absolut

Es waren heimatberechtigt in

%

%

Spalte 1-2: Bevölkerung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, dann der Militärgrenze nach der Zählung vom 31. December 1869, Wien 1871, Band 1, Heft 1, S. 4. Spalte 3-4: Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 110-113. Spalte 5-6: Österreichische Statistik, Wien 1893, Band 32, Heft 2, S. 62-68. Spalte 7-8: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902, Wien 1904, S. 34-41.

17

Die Dimension der Zuwanderung

6

Ausländer-Statistik 1857-1981, Quelle 6

Ausländische Staatsbürger in Wien 1857-1981

1857

1869

1880

1890

1900

1910

Deutschland Frankreich Griechenland Großbritannien Italien Jugoslawien Polen Rumänien Rußland/Sowjetunion Schweiz Tschechoslowakei Ungarn Afrika Amerika Asien Türkei Australien

12.902 406 47 151 162

14.642 859 105 434 1.278

18.701 937 106 728 1.360

23.680 1.263

21.733 1.176

22.930 1.362

insgesamt

18.356

insgesamt

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

40.872 10.414 1.453 119.595 20.765 -

233.184

-

1.313 4.101 1.731

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

21 242 31 1.771

-

1934

-

-

21.324 3.867 390 1.170 58.166 9.598 61 1.176 811 11 129.654 5

_

_ -

27.381

1939

710 —

-

1.112 1

-

13.288 517 266 901 3 2.894



573

22.218

Türkei und Ägypten. Inklusive Irland, ab 1961 inklusive Nordirland. 5 Inklusive 9.286 Staatenlose. 7 Inklusive 13.223 Staatenlose, 282 ungeklärt. 9 Inklusive 4.910 Staatenlose, 35.259 ungeklärt bzw. unbekannt. I I Inklusive Türkei. I

3

1.322 1.526

1.074 1.703 1.643

-

-

-

-

1.344 3 2.502

-

-

4.212

801 952 1.247

511 990

3 13 6 493

15.665

1.152 3 2.506

-

132 433

1923 Deutschland Frankreich Griechenland Großbritannien Italien Jugoslawien Polen Rumänien Rußland/Sowjetunion Schweiz Tschechoslowakei Ungarn Afrika Amerika Asien Türkei Australien

1.256 1.724

1951

34.934 2 1961

-

1.279

-

1.274



1.2%

-

1.214 4

-

35.155 2 1971

-

41.399 2 1981

293 184 455 3 2.810 3.367 6.106 1.516 113 991 26.571 6 6.776 37 416 337 234 4

4.202 8 267 526 368 1.439 677 466 346 47 549 1.961 665 22 329 303 (73) 8

7.810 565 867 856 3 1.369 633 121 44 38 718 366 1.898 310 1.499 1.338 (145) 34

8.234 722 854 1.165 1.401 25.090 403 145 66 839 1.802 1.160 684 2.889 5.209" (2.435) 255

6.374 770 626 1.191 1.451 58.587 2.653 350 417 736 753 1.117 1.813 3.175 27.489 11 (19.710) 272

64.782 7

53.172 9

24.058 10

56.525 12

113.417

Ohne Angehörige der Länder der ungarischen Krone. Europäische Türkei. 6 Protektorat Böhmen-Mähren sowie Slowakei. 8 BRD und DDR. 10 Inklusive 4.473 Staatenlose und ungeklärt. 12 Inklusive 2.038 Staatenlose, 1.048 ungeklärt, 358 unbekannt. 2 4

Spalte 1: Statistik der Stadt Wien, Wien 1857, Probeheft, S. 58 f. Spalte 2: Bevölkerung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, dann der Militärgrenze nach der Zählung vom 31. December 1869, Wien 1871, Band 1, Heft 1, S. 4. Spalte 3: Österreichische Statistik, Wien 1882, Band 1, Heft 1, S. 10 f. Spalte 4: Österreichische Statistik, Wien 1895, Band 32, Heft 5, S. 2 f Spalte 5: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902, Wien 1904, S. 45. Spalte 6: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wieb 1914, S. 902. Spalte 7: Statistische Nachrichten, Wien 1925, S. 157. Spalte 8: Statistik des Bundesstaates Österreich, Wien 1935, Heft 2, S. 20. Spalte 9: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1939-1942, Wien 1946, S. 32. Spalte 10: Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951, Wien 1953, Heft 12, S. 126. Spalte 11: Ergebnisse der Volkszählung vom 21. 3. 1961, Wien 1964, Heft 13, S. 68. Spalte 12: Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1974, Band 309, Heft 15, S. 13-15. Spalte 13: Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1984, Band 630, Heft 10, S. 58.

18

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.3. Die Tschechen und Slowaken 1.3.1. Herkunft und Dimension Die Zahl der Wiener Tschechen ist wissenschaftlich nicht präzise zu ermitteln, weil sie infolge nationaler Interessen und Auseinandersetzungen zu keinem Zeitpunkt exakt festgestellt wurde. In der Literatur schwanken die Einschätzungen zwischen Extrempositionen, der Behauptung, Wien wäre zur Jahrhundertwende die größte tschechische Stadt mit 400.000 bis 600.000 Tschechen gewesen, und jener, daß die Zuwanderer aus Böhmen und Mähren größtenteils Sudetendeutsche wären. Die Vertreter der ersten Position nahmen die Zahl der in Böhmen und Mähren Geborenen und zählten die zweite Generation hinzu, die Vertreter der zweiten Position beriefen sich auf die Umgangssprachenerhebung und rechneten alle Personen mit deutscher Umgangssprache zu den „Deutschen". Die Migration aus Böhmen und Mähren nach Wien begann bereits in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Der Wiener Magistrat bezifferte die Zahl der jährlichen Zuwanderung aus den böhmischen Ländern mit 6.000 Personen. Diese Zahl beinhaltete viele Saisonarbeiter und temporäre Zuwanderer. Massiv setzte die Zuwanderung erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein. Während Wien 1820 nur 13.852 Fremde aus den österreichischen Provinzen zählte, stieg die Zahl 1830 auf 82.387 Personen. Die Zahl der Tschechen wurde auf 40.000 bis 45.000 geschätzt. Nach Schätzungen des Wiener Statistikers Czoernig und des Pragers Sembera hielten sich 1851 83.000 Tschechen in Wien auf. 8 Ab 1857 kann die Geburtsort- und HeimatrechtStatistik herangezogen werden, ab 1880 die Umgangssprachenerhebung. Folgende Höchstwerte wurden erreicht: 1900 waren 518.333 Personen in Böhmen oder Mähren heimatberechtigt; 1910 waren 467.158 in Wien anwesende Personen in Böhmen und Mähren geboren; 1900 gaben 102.974 Personen in Wien Böhmisch, Märisch oder Slowakisch als ihre Umgangssprache an. Ein Weg, sich der tatsächlichen Zahl der Wiener Tschechen zu nähern, ist es, zu untersuchen, aus welchen Sprachbezirken die Zuwanderer kamen. Von den 1910 467.158 in Böhmen und Mähren geborenen, in Wien anwesenden Personen stammten: •



206.133 (44,1%) aus Bezirken, in denen über 90 Prozent der Bevölkerung tschechische Umgangssprache angab; 133.198 (28,6%) aus Bezirken, in denen zwischen 50 Prozent und 90 Prozent der Bevölkerung Tschechisch angab;



53.425 (11,4%) aus Bezirken, in denen über 90 Prozent der Bevölkerung Deutsch angab; • 74.402 (15,9%) aus Bezirken, in denen zwischen 50 Prozent und 90 Prozent Deutsch angab. 9 Hinzuzuzählen sind 2.403 Personen, die in mehrheitlich tschechischsprachigen Bezirken Schlesiens geboren waren, und Slowaken, die in diesen Statistiken nicht erfaßt sind, weil die Bevölkerung der Ungarischen Länder extra erhoben wurde. 1900 waren 42.896 in Wien anwesende Personen in mehrheitlich slowakischsprachigen Bezirken der Ungarischen Länder heimatberechtigt, 1910 waren es 46.216 Personen (Quelle 38). Die Schätzzahl von 250.000 bis 300.000 Tschechen und Slowaken im Wien der Jahrhundertwende ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen. 10 Saisonarbeiter wurden in den Volkszählungen nicht berücksichtigt, weil die Daten jeweils zur Jahreswende erhoben wurden. Die Fluktuation der tschechischen Zuwanderer war beträchtlich. Die Historikerin Monika Glettler charakterisierte dies: „Man kann das Wiener Tschechentum während der drei Jahrzehnte seiner Blütezeit mit einem Hotel vergleichen, das zwar stets besetzt war, aber immer wieder von anderen Leuten." 11 Der Großteil der böhmischen Zuwanderer Wiens stammte aus den südlichen, an Österreich, Bayern und Mähren angrenzenden Bezirken, hingegen war die Zuwanderung aus den industrialisierten nördlichen Gebieten gering. Die südlichen, an Niederösterreich und Böhmen angrenzenden Bezirke Mährens gaben zwar die meisten Menschen an Wien ab, unterschieden sich aber nicht so sehr von den nördlichen Bezirken wie in Böhmen. Nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 setzte eine starke Rückwanderung ein, die auch auf die katastrophale Lebensmittelversorgung Wiens zurückzuführen war. Zwischen 1918 und 1922 ermöglichte das tschechische Generalkonsulat 103.746 Personen die Heimkehr. Die nichtregistrierten Zuwanderer waren wiederum Anlaß zu Spekulationen. Ihnen können allerdings jene Rückwanderer gegenübergestellt werden, die nach Wien zurückkehrten. Der Historiker Karl Brousek hält die Zahl von insgesamt 140.000 bis 150.000 repatriierten Tschechen und Slowaken aus Wien am wahrscheinlichsten. 12 Die bereits nach 1900 abnehmende Arbeitsmigration aus Böhmen, Mähren und der Slowakei hörte mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges völlig auf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges forcierte die Prager Regierung abermals die Remigration der Wiener Tschechen und Slowaken. Insgesamt stellte eine Repatriierungskommission rund 30.000 Legitimationen aus. Abzüglich jener, die vor der kommuni-

Die Tschechen und Slowaken stischen Machtübernahme im Februar 1948 zurückkehrten, schätzt Brousek die Zahl dieser Remigranten auf 10.000 Personen. 13 Seither kamen aus der CSSR nur mehr politische Flüchtlinge nach Wien. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR warteten 1968 etwa 162.000 tschechoslowakische Staatsbürger die weitere Entwicklung in Österreich ab. Das Rote Kreuz brachte einen Teil im Arsenal unter, viele kampierten. An die 129.000 Tschechoslowaken kehrten in ihre Heimat zurück, von den übrigen fand der Großteil in anderen Staaten Asyl. Der ehemalige Leiter des Flüchtlingsreferates im Innenministerium, Eduard Stanek, schätzt die Zahl der in Österreich aufgenommenen tschechoslowakischen 68er Flüchtlinge auf 2.000 bis 3.000 Personen. 14 Während die Zahl der Asylbewerber in den siebziger Jahren eher gering war, erreichte sie 1979 bis 1987 durchschnittlich 2.377 Asylbewerber pro Jahr. Zwischen 1950 und 1959 erhielten 804 ehemalige tschechoslowakische Staatsbürger in Wien die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen, zwischen 1960 und 1969:504, zwischen 1970 und 1979: 2.584, zwischen 1980 und 1985:1.069. 1 5 Vom „tschechischen Wien" ist nur wenig Übriggeblieben, die tschechische Sprache ist von den öffentlichen Orten verschwunden. Geblieben sind die vielen tschechischen Familiennamen in dieser Stadt. Johann Neumann berechnete für das Jahr 1965 den Anteil tschechischer Namen in Wien: „Setzt man die mit Sorgfalt ermittelte Zahl von 198.110 Einwohnern tschechischer Namen ins Verhältnis zur Gesamtzahl von 737.350 Bewohnern (Hauptmieter) Wiens, so ergibt sich für die Einwohner mit tschechischen Namen ein Anteil von rund 27 Prozent."16 Der häufigste Name war Noväk mit 2.020 Namensträgern, gefolgt von Svoboda mit 1.628, Dvorak mit 1.310 und Novotny mit 1.122.

1.3.2. Die Berufstätigkeit der Tschechen und Slowaken in Wien In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, speziell ab den zwanziger Jahren, stieg der Anteil tschechischer Lehrlinge im Wiener Handwerk enorm an (Quelle 17). Während beispielsweise 1820 16,8 Prozent aller Wiener Tischlergesellen aus Böhmen und Mähren kamen, waren es 1869 58,7 Prozent. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten Migranten aus Böhmen und Mähren einige Handwerkssparten, die „böhmischen Schneider" und „böhmischen Schuster" waren Realität (Quellen 14, 18-20). Schon während des 19. Jahrhunderts kamen viele tschechische Saisonarbeiter, um auf Wiener Baustellen Arbeit zu finden (Quellen 26, 27). Am bekanntesten waren die sogenannten „Ziegelböhm", die in den Wiener Ziegeleien während der Saison arbeiteten und den

19 Winter meist in ihrer Heimat verbrachten (Quellen 28-33). Die Berufsstatistik 1910 zeigt, daß in der tschechischsprachigen berufstätigen Bevölkerung Arbeiter, Taglöhner, Dienstboten und Lehrlinge höhere Anteile, hingegen Selbständige und Angestellte niedrigere Anteile erreichten als vergleichsweise innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung. Die Zuwanderer belegten hauptsächlich niedrige Sozialpositionen.17 1910 waren mehr als 60 Prozent der in Wien berufstätigen Personen mit tschechischer Umgangssprache Arbeiter, 17 Prozent waren Selbständige (Quelle 15). Zur Elite zählten lediglich die Beamten. Am 1. Januar 1914 waren von 6.293 Beamten in den Ministerien 4.772 (75,8%) Deutsche und 6 5 3 (10,8%) Tschechen. 18 Das Berufsbild der zugewanderten Frauen unterschied sich markant von jenem der Männer. 1880 waren von 53.251 in Böhmen oder Mähren geborenen, in Wien berufstätigen Frauen 40.040 (75,2%) im Dienstleistungssektor und nur 11.121 (20,9%) in Industrie und Gewerbe beschäftigt. Von den 1880 in Wien unter der Berufsbezeichnung „Hausgesinde" 62.914 tätigen Frauen waren 29.435 (46,8%) in Böhmen und Mähren geboren, hingegen nur 4.822 (7,7%) in Wien. 19 Die Migrantinnen bevorzugten den Beruf als Dienstmädchen, weil er die Versorgung und das leidige städtische Wohnungsproblem vorderhand löste, wenn auch das klassische Dienstbotenzimmer finster, schlecht zu lüften und klein war bzw. oft nur ein Bett in der Küche bereitstand. Die Alternative als Fabriksarbeiterin war für ledige Frauen wenig verlockend, unter anderem, weil Arbeiterinnen einen moralisch schlechten Ruf hatten, konnten sie sich doch frei bewegen und waren oft gezwungen, mit Männern das Zimmer zu teilen. Der Dienstmädchenberuf hingegen galt als Übergangsberuf zur Verehelichung, wenn auch die vom Dienstgeber erwartete „moralische Obhut" von etlichen dieser Herren mit sexueller Verfügungsgewalt verwechselt wurde 20 (Quellen 21-25). Die Slowaken wurden in den Statistiken der Monarchie, wie alle in den ungarischen Ländern Heimatberechtigten, gesondert erhoben, ihre Berufsstruktur ist daraus nicht eruierbar. Überliefert sind sie uns hauptsächlich als Hausierer: Die slowakischen Frauen, die Spielzeug anpriesen, der Ko'löffelkräwät und Zwief'lkräwät, die der Volksmund irrtümlich als Kroaten bezeichnete. Auch unter den Rastlbindern befanden sich Slowaken (Quellen 7-13). Das Versiegen des Zuwandererstromes nach 1918 bewirkte eine Stabilisierung der Berufspositionen und allmähliche Angleichung an jene der Gesamtbevölkerung: steigender Angestellten- und Selbständigenanteil bei gleichzeitig rückgängigem Arbeiteranteil.21 Die sich ankündigende berufliche Integration konnte erst in der zweiten und dritten Generation

20

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

vollzogen werden. Der in der Umgangssprachenstatistik erfaßte Teil der tschechischen Volksgruppe in Wien, also die österreichischen Staatsbürger mit tschechischer Umgangssprache, unterscheidet sich 1981 in der Verteilung der Berufspositionen kaum von der Gesamtbevölkerung mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Bei ausländischen Staatsbürgern mit tschechischer Umgangssprache treten hingegen deutliche Unterschiede auf (Quelle 16).

Slowakische Hausierer, Quellen 7-13 Bis zum Ende der Habsburgermonarchie zählten die slowakischen Hausierer und wandernden Handwerker wegen ihrer Sprache, ihrer Kaufrufe und ihrer Kleidung zu den auffälligsten „Wiener Typen".

Der Rastlbinder

Stoff verfertigten Rock auf, den häufig ein Gürtel abschloß; in der rauheren Jahreszeit trug er meist eng anliegende, mit roten Schnüren verzierte Hosen, im Sommer weite, rohleinene, in Fransen ausgehende Beinkleider und eigenartige Schnürstiefel. Den Rükken beschwerte ihm ein mit Blechplatten, Draht und Mäusefallen gefülltes Holzgestell. Von Haus zu Haus ziehend, vermeldete er sein Erscheinen durch heftiges Schlagen auf ein Blechgefäß, wozu er ein lautes „Rastelbinde, Fanneflicke (Pfannenflicker) ho, Flickehooo!" ertönen ließ. Zur Arbeit gerufen, pflegte der Rastlbinder im Hausgang oder im Hof auf seinem Werkzeugkästchen Platz zu nehmen und, meist umlagert von der gesamten Hausbubenschaft, flink und sachkundig sein Werk zu vollbringen. Diese überaus rechtschaffenen Leute, die ihre geschickte Arbeit für ein Spottgeld leisteten, fanden vorzugsweise von Seiten minderbemittelter Hausfrauen starken Zuspruch. Mancher von ihnen legte auf seine guten Mausfallen besonderen Wert und kündigte sich deswegen mit dem Rufe: „Gaafte (Kaufet) Mausfalli, Gatzi (Katzen), Ratzi (Ratten)!" an. Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch, auflage: 1956).

Wien 1984, S. 127-130

Der Glas-Kräwit

Rast'lbinder: Eine der zahlreichen, nach dem 1. Weltkriege aus Wien verschwundenen Straßentypen. Dieser aus der Slowakei stammende Landsmann des „Kochlöffelkrawaten" verstand sich auf die Kunst, löcheriges Blechgeschirr zusammenzuflicken sowie zerbrochene Ton- und Porzellangefäße durch Draht für Zeit und Ewigkeit wieder „ganz zu machen". Er fiel durch seinen lichten, aus grobem

L. E. Petrovits, Wiener Typen, Wien ca. 1900.

(Erst-

21

Die Tschechen und Slowaken

Der Kolöffl-Kriwit

Kolöffl - Spielelei

Eigentlich „Kochlöffelkroate", ein herumziehender Straßenhändler, einst ein viel gesehener Wiener Straßentypus. Dieser „Kräwät" war aber gewöhnlich kein Kroate, sondern ein Slowak. Denn er stammte meist - ebenso wie der „Zwieflkräwät" und der „Rastlbinder" - aus der Gegend um Trentschin in der Slowakei, wo Kroaten nur ganz vereinzelt siedelten. Ihre Reise nach Wien führten die Kolöffelkrawaten in der Regel auf Schusters Rappen durch. Diese harmlos-gutmütigen, grundehrlichen Leute ließen auf einer urzeitlichen, nicht einmal farbbestrichenen Holzflöte eine kurze, schalmeiartige Weise ertönen und luden sodann zum Kauf ihrer Waren ein mit den Worten: „Gaafte Guleffl, Spillerai!" (Kaufet Kochlöffel, Spielerei!). Je nach dem augenblicklichen Bestand ihrer Vorräte setzten sie dann ihre Warenbezeichnungen fort, ζ. B. „Fandl (kleine Pfanne), Sprudl (Sprudler für Flüssigkeiten), brettane Nudel (Nudelbretter), hulzane Fertl (hölzerne Pferdchen), was frißt gane Hai (kein Heu), flaischane Schlegl (Fleischschlögel), hulzane Tegl (hölzerne Tiegel)!" Gerne beschlossen sie ihre Warenlitanei mit einem schmollenden: „Gaafts (Kaufet), Mutterle, gaafts!" Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch, Wien 1984, S. 90.

Der Holzwaren-KräwAt

Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 55.

DerZwiefl-Kriwit

Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 53.

Eine jetzt verschollene Wiener Straßenfigur. Der Z. war ebenso wie seine engeren Landsleute, der Kolöfflkräwät und der Rastlbinder, ein aus der Slowakei stammender Wanderhändler, der meist in einem geräumigen Korbe Zwiebel zum Verkauf anbot. Er machte sich durch keine Rufe bemerkbar, und nur selten ließ einer in Haushöfen eine Schalmei ertönen, die er einer Holzflöte entlockte; die meisten standen an Markträndern, gingen durch die Gassen oder von Tür zu Tür. Hinsichtlich seiner Geschäftstüchtigkeit war der Z. geradezu der äußerste Antipode des Handlehs: gelang es diesem zufolge seiner geschäftlichen Energien rasch und gründlich, die früheren „Hasenbalgkramerinnen" zu verdrängen, so hatte der Z. auf dem von ihm erwählten Zweig wirtschaftlicher Spekulation dauernd mit der schwersten Konkurrenz der Markthändler und Greißler zu kämpfen und konnte nur durch Unterbietung der jeweiligen Marktpreise zu kümmerlichem Verdienst kommen. Er war ein durchaus rechtschaffener Mann, seine Ware vortrefflich, seine Preisbildung höchst bescheiden. Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch, Wien 1984, S. 197 f.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

13

15

Drahtbinder und andere

Beruf und Umgangssprache

Wie überall, so treiben auch in Wien die Drahtbinder ihr Handwerk. Es ist übrigens merkwürdig, welch' grosse Menge dieser Burschen aus „ der Treniiner Gespannschaft" vollkommen die Sitten der Wiener Gassenvögel eingenommen hat. Nützlicher sind die Slovaken aus andern Gegenden, welche hier einen ehrbaren Erwerb suchen. Zwiebeln, Spielsachen, Blumen, Grünzeug und Obst werden gemeiniglich von Slovakinnen, Kotzen aber und Leinwand von Slovaken zum Verkauf ausgetragen. Es giebt in Wien besondere Unternehmer, die ganze slovakische Familien miethen und von ihnen Hausirhandel treiben lassen. Sie haben ihre Herbergen in der Alservorstadt und wohnen vielfach in Kellern.

Berufsposition der Erwerbstätigen nach der Umgangssprache, Wien 1910

Josef Jirecek, Die äecho-slavische Bevölkerung in Wien, in: Jahrbücher für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft, hrsg. v. J. E. Schindler, Bautzen 1854, Neue Folge, Band 2, S. 584.

' 51,2 Prozent (oder 31.858) waren in Industrie und Gewerbe beschäftigt.

deutsch absolut

Berufe

Selbständige 299.522 Pächter u. Kolonen 1.183 Angestellte 122.036 Arbeiter 436.641 Lehrlinge 42.840 Taglöhner 6.055 mithelfende Familienmitglieder 10.802 Dienstboten und 82.128 Hausdienerschaft insgesamt

1,001.207

Österreichische Heft 2, S. 130.

tschechisch absolut % 29,9 0,1 12,2 43,6 4,3 0,6

10.554 21 2.276 37.303 4.846 1.046

1,1

188

0,3

8,2

6.023

9,7

100,0

62.257

100,0

Statistik, Wien 1914, Neue Folge,

16,9 0,0 3,7 59,9* 7,8 1,7

Band 3,

Berufsstatistiken, Quellen 14-16 14

Bevorzugte Berufe von Arbeitsmigranten

Berufe mit überdurchschnittlich hohen Anteilen von in Böhmen und Mähren geborenen Erwerbstätigen, Wien 1880 Beruf

Tischler

S.1 G.2 Schuster S.1 G.2 Schneider S.1 G.2 Schlosser S.1 G.2 Taglöhner Lehrlinge Dienstpersonal Hausgesinde

Erwerbstätige insgesamt

davon geboren in Böhmen Mähren absolut % absolut %

1.560 6.590 2.888 7.061 3.750 8.238 630 5.676 10.802 20.845 11.389 69.150

524 2.603 1.096 3.185 1.695 4.235 197 2.064 3.070 4.224 1.228 18.335

240 33,6 39,5 1.238 38,0 620 45,1 1.671 710 45,2 51,4 1.678 112 31,3 36,4 1.001 28,4 1.486 20,3 3.215 10,8 1.512 26,5 12.942

15,4 18,8 21,5 23,7 18,9 20,4 17,8 17,6 13,8 15,4 13,3 18,7

zusamm. %

49,0 58,3 59,4 68,8 64,1 71,8 49,0 54,0 42,2 35,7 24,1 45,2

' S . · Selbständige 2 G. • Gehilfen Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1887, Band 3, S. 246f.

16

Beruf und Lebensunterhalt

Berufsposition nach Lebensunterhalt bzw. Haupterwerb der österreichischen Staatsbürger sowie der österreichischen und ausländischen Staatsbürger mit tschechischer Umgangssprache, Wien 1981 Berufsposition

österr. Staatsbürger gesamt

Österreicher mit tschech. Umgangsspr.

Ausländer mit tschech. Umgangsspr

abs.

%

abs.

%

abs.

%

54.060 Selbständige Angestellte und Beamte 402.722 Facharbeiter 72.800 angelernte Arbeiter 59.867 62.086 Hilfsarbeiter

8,3

179

11,2

34

7,2

61,8 11,2 9,2 9,5

951 214 151 99

59,7 13,4 9,5 6,2

177 95 72 96

37,3 20,0 15,2 20,3

100,0

1.594

100,0

474

100,0

insgesamt

651.535

Österreichisches Statistisches der Volkszählung 1981.

Zentralamt,

Sonderauswertung

23

Die Tschechen und Slowaken

18 Lehrlinge aus Böhmen

Arbeitsbedingungen tschechischer Schuster

Experte Ruthner (Schuhmacher)

Experte: Die Arbeiter, ungefähr 16.000 bis 18.000, sind Traurig ist es anzusehen, wie es den böhmischen theils Sitzarbeiter, theils Fabriksarbeiter und -ArbeiLehrlingen in Wien geht. Arme Eltern schicken den terinnen, theils Werkstättenarbeiter bei den kleinen Sohn, sobald nur irgend möglich, ja oft ohne allen ge- Meistern. Die Sitzarbeiter umfassen ungefähr 8.000 nossenen Religionsunterricht nach Wien, um mit ihm bis 9.000, die Fabriken zusammen in der besten einer Sorge ledig zu werden. Hier erwarten den Bur- Saison 5.000, die Werkstätten bei 2.000. Nicht nur die schen einige Leidensjahre. Der Meister, die Meisterin Fabriken, sondern auch die städtischen Meister beund die Gesellen üben ihre Herrschaft an ihm aus, schäftigen Sitzgesellen. und was bekommt er dafür zum Entgelt? Man lehrt Reumann: Wie ist's mit den Lehrlingen bestellt? ihn öfters dafür keineswegs ein Handwerk, sondern Experte: Die Lehrlinge besuchen die Schule oft das allen Schmutz eines unordentlichen Lebens. Ebenso ganze Jahr nicht, viele werden gar nicht aufgedunist es bedauerlich, wenn man einen solchen Lehrbur- gen, nicht angemeldet. Früher war das noch häufiger schen einen schwerbeladenen Handwagen ziehen als jetzt. Ich selbst war zwei Jahre lang nicht angemelund dabei nach Luft schnappen sieht. Man errichtet det und ging nicht in die Schule, dann mußte ich noch Vereine gegen Thierquälerei, man verbietet eine drei Jahre lernen, da ging ich mit häufigen Unterbreschlechte Behandlung der Hunde, aber dahin ist chungen in die Schule. Die Anzahl der Lehrlinge ist unser filanthropisches Zeitalter noch nicht gelangt, eine sehr große, die Bestimmung, daß ein Meister erst dass es den Menschen gründlich vor schlechter Be- neben drei Arbeitern zwei Lehrburschen halten darf, handlung schützen sollte. An geistlicher Fürsorge wird einfach nicht gehalten. In Wien sind mangelt es den böhmischen Lehrlingen jetzt auch 5.000 Meister, in den Werkstätten sind 2.000 Arbeiganz und gar, obgleich sie dieselbe seiner Zeit in der ter, es existiren also wenigstens 3.000 Meister, welche Kirche der Mutter Gottes (von Näbrezi?) fleissig keine Gehilfen, sondern nur Lehrlinge beschäftigen. genug aufsuchten. Ein solcher Meister hält zwei, drei Lehrburschen ohne Arbeiter; ist einer frei, so kann er gehen und der Josef Jirecek, Die ciecho-slavische Bevölkerung in Wien, in: Jahrbücher für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft, hrsg. Meister v. nimmt einen neuen Lehrling auf. In die geJ. E. Schindler, Bautzen 1854, Neue Folge, Band 2, S. 581. nossenschaftliche Krankenkasse zahlen nur 2.500 Meister ein, die übrigen haben keine Gehilfen. Reumann: Wie sind die gesundheitlichen Verhältnisse? Experte: Charakteristisch ist die Thatsache, daß der Gehilfenausschuß einen Sanitätsdienst organisirt und gegen 100 Anzeigen gemacht hat. Nach längerer Zeit wurde er amtlich verständigt, daß in zirka 50 Betrieben nichts Sanitätswidriges gefunden worden sei. Thatsächlich aber sind überall die Doppelbetten vorhanden. Bei den übrigen wurde eine Strafamtshandlung eingeleitet, das ist jetzt ein Jahr, und das Resultat war, daß ein Einziger zu einer Geldstrafe von einem Gulden verurtheilt wurde. Den Uebrigen geschah gar nichts. Reumann: Wie ist's mit der Sonntagsruhe? Experte: Mit der Sonntagsarbeit ist es auch ähnlich. Es wurde neben einer Wachstube ein Lokale, ein Gassenladen, aufgestöbert, wo Sonntags gearbeitet Die Schuster bildeten nach den Kleidermachern zur Jahr- wurde; die Polizei ließ dort ruhig Sonntags arbeiten. hundertwende die zweitgrößte Berufsgruppe des Hand- Bei einer Versammlung wurde das vorgebracht, - der werks in Wien. 1882 erregte dieser Berufsstand durch die Polizeikommissär erkundigte sich genau und schrieb „Schusterkrawalle" großes Aufsehen. es auf; der Meister läßt Sonntag nach wie vor arDer Großteil der Schuster arbeitete in einem arbeitstei- beiten. ligen Zulieferungssystem für etwa 40 Wiener Konfektionsfirmen und fünf Schuhfabriken. Bei einer gewerbli- Stenographisches Protokoll der durch die Gewerkschaften Wiens chen Enquete informierte ein Schuhmacher über das einberufenen gewerblichen Enquete. Abgehalten vom 18. DezemWiener Schusterhandwerk. ber 1892 bis 12. Januar 1893, Wien 1895, S. 149.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

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Schusterwerkstatt

Franz Stadlmann/Regina Zwerger, Vom Tagwerk der Jahrhundertwende. Bilder der Arbeit 1870-1930, Wien 1985, S. 97.

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Einer der letzten tschechischen Schuster

Franz Meduna war einer der letzten , tschechischen Schuster" in Währing. Das war Stückarbeit, wissen Sie? Früher hat's ja die Industrie nicht gegeben, früher waren solche Meister, die, wie man sagt, eine Schuherzeugung gemacht haben. Die haben mit cirka dreißig Leuten gearbeitet und haben den Arbeitern immer alles gegeben, das komplette Material, Oberteile, Leisten, das ganze Zubehör, und alles. Und die Stückarbeiter haben zu Hause gearbeitet; und meistens haben die Frauen mitgearbeitet. Die haben eine kleine Wohnung g'habt, meist Küche und Kabinett, im Kabinett haben s' geschlafen und in der Kuchl haben sie gearbeitet, so war das bei die meisten Stückarbeiter. Mein Vater hat jeden Tag mit der Mutter zwei Paar Schuhe gemacht, aber da haben sie fleißig miteinander gearbeitet! Meine Mutter hat ja selber auch (auf Schuhe) arbeiten können, die hat ihr Fach gelernt. Sie hat schon mit sieben Jahren bei der Schuhmacherei gearbeitet, bei ihrem Vater; da ist sie in die Schlösser die Schuhe verkaufen gangen. Das war noch in Tschechien. Und wie meine Mutter dann verheiratet war, hat sie mit dem Vater gearbeitet; und der hat sie so abgerichtet, . . . also, die hat schneller gearbeitet wie er. Meine Mutter - so was gibt es nicht mehr! die hat gearbeitet wie eine Maschine. Sie hat im Ersten Weltkrieg in einer Fabrik gearbeitet; da hat sie

kommen können, wann sie wollen hat, um neun oder halb zehn; die hat die Arbeit geleistet, was die anderen Arbeiter von sieben bis um fünf gemacht haben! 500 oder 600 Paar am Tag hat sie ζ. B. Sohlen aufgedoppelt oder Absätze r a u f . . . sie hat den höchsten Lohn g'habt; das war Akkordlohn, das war damals beim M i l i t ä r . . . Im siebenundzwanziger Jahr hat dann der Vater im 16. Bezirk in der Speckbachergassen 34 das Geschäft gekauft. Bis 27 hat der Vater als Arbeiter für andere Stückarbeit g'macht; dann hat er sich selbständig gemacht. Er hat ja brauchen keine Meisterprüfung machen, damals war ja das nicht, damals ist er nur auf die Innung gangen und hat das gekauft; das ist nur kauft worden, da hat er müssen irgendeinen Betrag zahlen. Ich glaub, in den dreißiger Jahren haben sie die Meisterprüfung eingeführt; weil da waren so viele Arbeitslose, da hat wollen jeder ein Meister werden; und die meisten haben ja nix können! Jetzt haben sie's wahrscheinlich (deshalb) eingeführt. Meine Mutter war die Anregende . . ., sie war resolut und unternehmungslustig; der Vater hat ja das Geschäft in der Speckbachergassen nicht wollen kaufen . . . Der Vater war ein guter Arbeiter, aber Unternehmungsgeist hat er keinen gehabt. Er hat Angst gehabt; jetzt hat er ein bißl ein Geld gehabt, und jetzt hat er das müssen ausgeben. Das hat damals 3.500 Schilling gekostet, das war viel Geld und er hat sich plagt drauf, nicht? Die Mutter hat gesagt: Paß auf, Du wirst ruhig sein! Und jetzt werden wir das Geschäft haben! - Und ich hab mit der Mutter das Geschäft gründlich gemacht und renoviert; ich mit der Mutter, wir waren einmalig! Ich war damals schon fast ausgelernt... Es war dann schon die Zeit, wo's gegen die Arbeitslosenzeit gangen ist; da hat mein Vater für Privatkunden und auch für Erzeuger gearbeitet. Wenn er wenig Arbeit gehabt hat, sind wir fassen gegangen, haben, sagen wir, zwanzig Paar gekriegt, - Oberteile, Leisten und alles - , und die haben wir in rohem Zustand gemacht, und das ist dann in die „Putzerei" gangen. Ich hab gelernt. . . Mein Vater hätt' ja wollen, ich soll Friseur lernen; der hat ja nicht wollen, daß ich Schuhmacherei lern', er hat g'meint, als Friseur hätt' ich ein reineres G'schäft g'habt wie die Schuhmacherei. - Aber ich bin mit einem in der Volksschule gesessen, dem sein Vater war ein Oberteilherrichter, und der hat so einen kleinen Hammer g'habt, und dieser Hammer hat mich verleitet zu dem Gewerbe; ich hab mir g'sagt, das werd' ich auch lernen . . . Ich hab ja wollen gar nicht Schuhmacherei machen, ich hab nur wollen das Gewerbe Oberteilherrichter lernen; das ist ein eigener Lehrberuf, der Oberteilherrichter, der hat nur Oberteile gemacht; und ich hab ja auch nur einen Lehrbrief auf Oberteilherrichter. Erst

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Die Tschechen und Slowaken

wie ich dann die Meisterprüfung g'macht hab, da hab ich müssen alles machen . . . Ich hab nur bei tschechische Meister gearbeitet, ich war bei keinem deutschen. Ich hab nie in einer Fabrik gearbeitet, ich hab nur beim Meister gearbeitet, dort hab ich ausgelernt; und dann bin ich auch arbeiten gegangen in ein, zwei Betriebe; also Schuherzeuger, die mit so dreißig Handwerkern gearbeitet haben. Ich war nie arbeitslos; wenn ich nichts zu tun gehabt hab, wenn ich in keiner Firma war, hab ich beim Vätern gearbeitet. Mein Vater hat Bodenarbeit (Verbindung Oberteil mit Sohle) gemacht und ich war ein Herrichter. Einmal hat einer inseriert, er sucht einen Oberteilherrichter; der hat in der Geblergasse ein Souterraingeschäft gehabt . . . Na, was soll ich Ihnen sagen, damals war die Arbeitslosenzeit, da sind mindestens fünfzig dorten gestanden! Und ich war der letzte! Und der Werkführer dort fragt mich: Wo haben S' denn gearbeitet? Aha, beim Skokal. Der muß den kannt haben. Dann bringt er mir ein Modell, das war so ein Spangenschuh; sag ich: Ich trau mir zwölf Paar machen, zwölf Paar Oberteile in acht Stunden. Sagt er: Da sind Sie aber ein Reißer! Hab ich g'sagt: Ich kann's ja versuchen; weil ich kann arbeiten, und wenn ich arbeit', dann arbeit' ich. Sagt er: Na ja, kommen S' am Montag...

Woche und weibliche Dienstboten jede zweite Woche auf sieben Stunden Ausgang. Der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes war zu gestatten. In reichen Haushalten war das Dienstpersonal hierarchisch strukturiert, an unterster Stelle die jungen Kindermädchen oder sogenannte „Mädchen für alles", gefolgt von Stubenmädchen, Köchin, Wirtschafterin und Amme. Das typische Dienstmädchen war ledig, unter 30 Jahre alt und kam vom Land. Über Dienstbotenvermittlungsstellen bzw. Annoncen versuchten die neuankommenden Frauen eine „Stelle" zu finden. Barbara Spirik wurde 1883 in einem böhmischen Dorf als eines von vier Kindern geboren. Nach dem Tod der Mutter wurde eine Schwester zum Onkel, einem Schneider, nach Wien geschickt. Barbara Spirik arbeitete als Kindermädchen in ihrer Heimat bei einer Fabriksbesitzerfamilie und einem Gastwirt, anschließend half sie in der kleinen Landwirtschaft des Vaters mit.

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Weibliches Dienstpersonal im Haushalt

Da war ich zuhause noch, und hab ich die Landarbeit gemacht, und da hat die Schwester gesagt: „Mein Gott, du plagst dich so, so schwer tragen tust" und Helmut Paul Fielhauer, Geschäftsleute in Währing (1). Franz alles Mögliche. Sie hat gesagt: „Du kommst halt nach Meduna, Schuhmachermeister, in: Unser Währing, 1984, Heft 3, Wien." Na, meine Schwester hat wollen, ich soll nach S. 35-37, 40. Wien, und so ist es auch gekommen. In Wien war alles gemütlich. Auf der Gass'η haben sie gesehen diese Ammen, diese von Iglau, mit die roten Strümpfe, schwarze Halbschuh, breite Röcke. Die Menschen waren gemütlich, ist viel tschechisch gesprochen worden. Ich hab' ja nix deitsch kennen. Na, ich hab' mich nie für die deitsche Sprache interessiert. Ich hab bei der Tante gewohnt, und dann nach Ende des 18. Jahrhunderts setzte mit der Etablierung der vierzehn Tag ist die Schwester mit mir gekommen bürgerlichen Gesellschaft, der Herausbildung arbeitsteili- und hamma an Posten gesucht. Die Schwester ist mit ger Wirtschaft und der Trennung von Arbeit und Wohnen mir gegangen, hat sie, glaub ich, in Zeitung oder wo das Uberhandnehmen weiblicher Dienstboten in den gelesen. Da war eine ältere Dame und so, aber es hat Städten ein. Die traditionell von männlichen Dienstboten mir nicht gefallen. Es war zu düster: „Komm mit, miterledigten gewerblichen Arbeiten wurden zu eigenen komm mit, do bleib' ich net." Und dann sind wir zu Berufen, wie die des Kutschers und der kaufmännischen dieser jüdischen Familie gekommen in die HackenAngestellten. Mit der fortschreitenden Intimisierung der gasse. Der Herr von mir war ein Reisender, und sie bürgerlichen Familie und dem Ende der traditionellen hat gekocht. Der Herr war ja nie z'haus, er war a Tisch- und Gebetsgemeinschaft stieg die Distanz zum Slowak, sie hat a a paar Wort slowakisch kennen. Dienstpersonal. Die Dienstbotenordnungen blieben bis Und dann waren ja doch die zwei Kinder, die Frau zum Ende der Monarchie Relikte aus vorindustrieller Zeit. und ich, und alle acht Tag, mir scheint, war ich in der 1810 etwa sah die Wiener Dienstbotenordnung Strafen Waschküche. vor, die bis zur körperlichen Züchtigung reichten, welche Da war so ein kleines Vorzimmer, und da war so die Grenze der „geziemenden Mäßigung" nicht über- eine Eingangstür, und das war ein Fenster, und ich schreiten sollten.72 In später erlassenen Dienstbotenord- hab zum Zudecken gehabt so eine Steppdecke. Und nungen wurde dies zwar nicht mehr erwähnt, jedoch auch kommt meine Schwester, und hab ich g'sagt, die nicht dezidiert ausgeschlossen. Der Arbeitstag blieb unge- Kälte hat mich aufg'weckt. Jetzt, reden hab ich net regelt und dauerte meist von früh morgens bis spät abends. können, ich hab ja doch was woll'n. Bin ich zu einer Laut Wiener Dienstbotenordnung von 1911 hatten männ- tschechischen Frau gegangen, hob ich g'sagt, und sie liche Dienstboten Anrecht auf einen halben freien Tag pro hat's meiner Frau deutsch g'sagt. Aber meine Arbeit

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

hab' ich verstanden, das hat s' ma brauchen nicht sagen. Und Appetit hab ich a g'habt, und sie waren koscher, heute weiß ich's, waren streng. Die Kinder haben mich gern g'habt, ich hab die Kinder gern g'habt. Und wann der Herr gekommen ist, na, ich hab ihn immer den Koffer getragen zu der Haltestelle oder was, hat er mir fünf Kronen gegeben, und ich soll ja aufpassen auf die Kinder und so. Nach drei Monaten hat er g'sagt: „Ja unsere Pepi kann schon deitsch." (Nach ca. einem Jahr kehrte Frau Spirik zu einer ihrer früheren Arbeitsstellen in ihre Heimat zurück und kam anschließend wieder nach Wien.) Da hat's die Schwester in der Zeitung gesucht, kann ich mich erinnern, da war ma ja in der Wohnung, da war der Bub zuhause, der hat einen Hauslehrer gehabt. Und wir sind noch wohin gegangen, und dort hab' ich net wollen sein, wann ein etwas besseres Haus war. Nein, bleib ich nicht - nein, nein, nein, nein. Mir hat's net paßt, ich hab mich net wohlgefühlt. Des hab ich schon vom Vater geerbt, ich hab nie gern eine Frauenhand geküßt. Na, diese Untertänigkeit - na, des hab' ich vom Vater geerbt. In die Hermanngasse sind wir gegangen, und der Bub war allein, und die Schwester hat deitsch kennen, und hat sie g'fragt nach der Frau, und er hat g'sagt, mei Mutter ist im G'schäft, der Vater auch, vis-a-vis von der Volksbühne. Da sind wir dann ins G'schäft gegangen, und er hat mich aufgenommen. Ich hab die Hausarbeit gemacht und so. Die Frau war ja sehr streng, sie hat gern nachgewischt mit der Hand und so. Ich bin in der Küche gelegen, weil waren nur zwei Zimmer, Küche. Naja, ich hab mich sozusagen häuslich gefühlt, menschlich, weil sie haben dann auch in der Küche gegessen am Abend, und ich bin ja bei mein Bett gesessen. Die Frau hat g'sagt: „Mit Ihnen kann man sprechen." Und der Herr war ja a sehr nett zu mir, und haben wir an polnischen Gehilfen g'habt. Naja, ich war fast vier Jahre dort'n. Warum ich weggegangen bin? Wiss'n S' warum? Blöd! Die Frau war net g'scheit und ich war a net g'scheit. Nach vierten Jahr bin ich nach Hause gefahren auf acht Tag Urlaub. Und am dritten oder vierten Tag kommt a Karte, „Kommen S' gleich nach Hause, ich kann die Arbeit net leisten." Mem Gott! Und der Vater hat g'sagt: „Jetzt bist so lange weg und jetzt kommst nach Hause, wie hast du dir des ausgemacht?" Sagt er: „Da bleibst!" Na, und ich bin nach Hause kommen, ich sag Ihnen, die Frau war nervös und der Herr auch. Komm ich nach Hause, und am nächsten Tag in der Früh läutet's. Na, ich geh aufmachen, stellt sich ein Mädl vor. Sag ich: „Gnädige Frau, da ist ein Fräulein, ich waß net, was des is." Und die Frau geht zu der Tür, und hat sie gesagt: „Wir brauchen niemanden." Na, jetzt hab ich herausbekommen, sie ist in die Vermittlung gangen und hat sie sich ein Mädl bestellt. Und ich hab' gesagt: „Gnädige Frau, wie ist denn

das?" Sie war ja nervös, hat sie gesagt: „Naja, wenn Sie solange bleiben in Ihrem Böhmerlandl, ich hab ja net g'wußt, ob Sie nach Hause kommen." Sag ich: „Gnädige Frau, ich versteh das nicht. Der Vater hat gesagt, ich soll solang bleiben, solang ich mir das ausgemacht hab, und ich soll zurückgehen wie ein Soldat, weil der Soldat hat ja a seine Freizeit. Und hat er g'sagt, wann sie schimpfen, soll ich nach Hause kommen." Na, ein Wort aufs andere. Und Sie hat mich z'saummgeschimpft: „A Luder. Ganzes Jahr tut sie arbeiten, plagt sie sich. Α goldene Uhr hätt sie kriegt." Sag ich: „Wissn S' was, gnädige Frau, und jetzt sag' ich Ihnen die Wahrheit. Weil das für Weihnachten ist und Sie sich nicht einbilden sollen, daß ich wegen Christkindgeschenk dableib, so geh ich vor die Weihnachten, damit Sie's wissen!" „Und wo gehen Sie hin?" Sag ich: „Dort, wo mich die Füße hintragen und der Kopf hinführt!" Ich war a stolz. Und hat sie g'schimpft: „Falsche Behmin!", und i waß net was alles. Na sag' ich: „Jetzt weiß ich net, wer falsch ist, Sie haben mich ja gesucht." Selbstverständlich eins aufs andere, und der Herr hat nichts gesprochen. Ja, und ich hab gesagt, nach vierzehn Tag geh ich. Wissen S', was' gemacht hat? Ich war im Geschäft, und bis ich nach Haus gekommen bin, hab ich alles aus mein Kasten draußen g'habt, ich soll gleich geh'n. Und was war? Den Tag, da hat sie sich mit ihrer Schulkollegin ausgemacht. Und ich hab des eingepackt in Korb, und ich war so gebeugt, und die Frau sagt zu mir: „Was geschieht denn da?" Sag' ich: „Ich geh fort." Und sie beugt sich, die Frau, und sagt: „Kommen S' am Abend zu mir." Und ich hab g'wußt, wo sie ist, sie hat net der Frau g'sagt, wo ich hingeh. Und am Abend geh ich zu derer Frau und sagt sie: „Wissn S' was, ich wißat für Ihna einen christlichen Posten, das sind christliche Leut im neunten Bezirk." Und da bin ich halt hin. Gut, die Frau war ja nett, sie haben eine Uniformierungsanstalt g'habt auf der Universitätsstraße. Aber er war ein Schwein, war er durch und durch. Heute kann ich mich ausdrücken. Ein Schweinferkl durch und durch. Und das kann ich mich noch erinnern, hat er mir g'sagt: „Und mit Ihrem Schweigen werden Sie's net weit bringen." Wie und was, das kann ich Ihnen alles nicht sagen. Und ich hab ganzes Respekt und alles verloren. Das Kind war unfolgsam und alles mögliche. „Ich bin die Valerie, die Tochter vom Kaiser, und du mußt machen, was ich will." Und sie ist gangen und hat mir die Mehlspeis durcheinanderbracht. Natürlich hab ich's der Frau g'sagt, sag ich: „Gnädige Frau, das hat die Kleine gemacht." Natürlich, das war der Herrgott von der Frau, sie hat ja nix g'sagt. Und ich hab ihr öfter von zu Hause, von meine Kinderzeiten erzählt, das hat ihr schon gefallen. Also kurz und gut, ich bin weg. Interview mit Barbara Spirik, geb. 1883, auf Tonband.

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Die Tschechen und Slowaken

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Böhmische Kindermädchen

Das „böhmische Kindermädchen" fand selbst in Wiener Kinderbüchern Beachtung.

Hannakische und Iglauer Ammen, Quellen 24,25 Die Ammen aus der Hanttakei und dem Iglauer Bezirk, die sogenannten Hannakinnen und Iglauerinnen, gehörten mit ihren auffalligen Trachten zum Wiener Straßenbild der Monarchie. Die beiden folgenden Quellen ergeben ein kontrastiertes Bild. Hannakinnen

Carl Schandl, Wiener Kinder. Ein Bilderbuch für unsere Lieblinge aus der Kaiserstadt, Wien um 1890, S. 23.

Dienstmädchen-Klischee

— £(t)! -1::φ, bag bit ΐ)äLiefίφί 3&$ttflttng aurgebobrnrotrbtnfoil, benn — men ber Jptcr licbl, btn güd)tigt tr gar fe gern. Der Floh vom 29. September 1889, S. 3.

Seht sie heranrücken, meist zu dreien oder vieren, die vielfach übereinandergezogenen farbenprangenden Röcke kurz geschürzt, das blüthenweiße, faltige, stickereiverbrämte Hemd über den drallen Nacken in's schwerbelastete Mieder gespannt, das bunte Kopftuch über dem glänzend geölten Haare, den listig funkelnden Augen, der breiten, flachen Nase, dem vollen Munde mit den gesunden, beißlustigen Zähnen, die kräftig geformten Beine von hochreichenden Röhrenstiefeln bedeckt. Mädchenweiber sind es aus der Hanna, Mährens fruchtbarsten Landstrich. Die Hannakin, von der Natur zur Ernährerin trefflich ausgerüstet, wird zu dieser Bestimmung erzogen. Nach mehrmaliger Fahrt in die Fremde kehrt sie mit ihren Ersparnissen und Erinnerungen als vielbegehrte Partie in die Heimat zurück, um bald darauf am eigenen Herde zu walten. Vorläufig

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

genießt sie die kurzen Freistunden, welche der gebietende Pflegesäugling ihr vergönnt, und sucht mit Aug und Ohr und Hand festzuhalten, was sich ihr bietet oder sie der Rivalin mühsam abringt, denn nicht kampflos behauptet sie das Feld. Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, zig 1895, S. 164ff.

25

Prag-Wien-Leip-

Ammenwahl

Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt erzählen soll. Meine ältere Schwester konnte von meiner Mutter nicht gestillt werden, und unser Hausarzt ist auf dem Standpunkt gestanden, ein Säugling muß gestillt werden. Der einzige Weg zur Muttermilch zu kommen war eine Amme. Natürlich hätt's in Wien auch Ammen gegeben, aber mein Vater wollte für uns nur das Beste. Die besten Ammen gab es in Iglau. Warum in Iglau? Sie haben die beste Milch, sie sind gesund, also auf mit dem Hausarzt nach Iglau! Dort soll sich das so abgespielt haben, das war direkt so wie eine Verkaufsstelle. Da sind sie der Reihe nach gestanden, und der Hausarzt ist hingegangen und soll die Brust der Amme so (prüfende Handbewegung) gedrückt haben. Da ist dann der Strahl herausgekommen, und wenn er dick und weit gewesen ist, dann war das eine gute Amme. Und so sind sie mit einer Iglauerin nach Wien gekommen, und meine Schwester ist dann bestens genährt worden.

weniger fruchtbaren Gegenden Böhmens stammend, bleiben den Winter über gewöhnlich nicht in Wien. Im Frühjahr um die Osterzeit kommen sie zu Fusse in kleinen Karavanen nach Wien gezogen. Vater und Mutter und eine Schaar erbärmlich gekleideter Kinder jeden Alters schreiten über die lange Brücke in die Stadt. Allgemein kann man bemerken, dass die Frauen trotz iiller Beschwerden und trotz alles Ungemachs, dem sie sich unterwerfen müssen, stattlicher aussehen als die Männer und öfters bei aller Arbeit noch einen Säugling pflegen müssen. Soviel man aus den auf offener Strasse geführten Gesprächen entnehmen kann, so führen sie in der Ehe das Regiment. Als man von der am Wasserglacis eingestürzten Brücke die Steine an das Ufer beförderte und die Elisabethbrücke zur Vorstadt Wieden errichtete, zeichneten sich die schlanken, kräftigen Gestalten der mährischen Slovaken in ihrem weissen Leinwandhabit und mit ihren kleinen, runden und schwarzen Hüten vor allen andern Arbeiten aus. Josef Jirecek, Die cecho-slavische Bevölkerung in Wien, in: Jahrbücher für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft, hrsg. v. J. E. Schindler, Bautzen 1854, Neue Folge, Band 2, S. 582.

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Böhmische Taglöhnerin am Bau

Frau Mertinz, geb. 1901. Zit. nach Susan Zimmermann, Brauchen wir Anwältinnen der Frauen, in: AUF. Eine Frauenzeitschrift, Mai 1986, Nr. 51, S. 6.

Maurer und Handlanger, Quellen 26-27 Zur Zeit des Baubooms bezog Wien viele Bauarbeiter aus tschechisch- oder slowakischsprachigen Gebieten. Die Männer arbeiteten vorwiegend als Maurer, die Frauen und Kinder als Handlanger.

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Tschechische und slowakische Arbeitsmigranten am Bau

Die Handlanger und Maurer bei allen hiesigen Bauten sind Cechoslaven. Es giebt auch weibliche Handlanger. Nach der Aufrichtung des Gerüstes balangiren sie mit dem Kalkgefäss auf dem Kopfe bis in das vierte Geschoss hinauf! Während des Arsenalbaues zogen ihrer Abends ganze Schaaren in die Nachtherbergen. Diese Leute, mehrentheils aus den

Aquarell von G. Walgast, 1899, in: Gewerkschaftskalender Wien 1962, S. 64.

1963,

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Die Tschechen und Slowaken

Die „Ziegelböhm" stellten den Hauptanteil an den Arbeitern in den Ziegelwerken in und um Wien; daneben gab es noch kleinere Gruppen von Steirem, Polen und von Leuten aus dem Friaul. Die folgenden Quellen beziehen sich auf die Wienerberger Ziegelwerke, die unter Alois Miesbach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Aufschwung nahmen und nach dessen Tod 1857 unter seinem Neffen Heinrich Drosche weiter expandierten. Drosche investierte auch in der Bauindustrie und in Grundbesitz undführte technische Innovationen in der Ziegelfabrikation ein. 1850 arbeiteten am Wienerberg 2.890 Arbeiter, zur Jahrhundertwende waren es 6.000 bis 8.000.

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Tschechische Ziegelarbeiter

In Kurzform gefaßt, wickelte sich die Arbeit folgendermaßen ab: Zuerst mußte der unbrauchbare Ackerboden abgebaut werden, danach kam eine Schicht, der für Dachziegel geeignete „gelbe Lehm", und darunter der für die Ziegel am besten geeignete „blaue Lehm". Dieser Lehm wurde grabenartig mit einem messerscharfen Lehmkrampen ausgestochen und mit einer Schubkarre zu einem Haufen (80 cm hoch, 2-4 m breit) aufgeworfen, der oftmals umgestochen werden mußte. Bei den Wienerbergern allerdings wurde der Lehm zu Pyramiden aufgeworfen, um ihn der atmosphärischen Einwirkung auszusetzen. Langes Liegen bewirkte Qualitätssteigerung des Materials, ideal war, wenn der Ton erst im zweiten Jahr verarbeitet wurde. Nach dem Ausliegen wurde der Ton flach auf der Erde ausgebreitet und Wasser in Löcher der Oberfläche geschöpft, so daß ein richtiger Schlamm entstand. Hiezu hatte jeder Arbeiter sein Schlammloch, und das Material wurde mit kleinen Wagen, die von Hunden, Pferden oder Rindern gezogen wurden, dorthin gebracht. Danach wurde der Lehm bloßfüßig im Schlammloch getreten: „Do is a der Ton von uns tretn wurn. Des kennan Sie Ihna ja heit net mehr vurstelln, wos des für a hoarte Arbeit war. Mir san oft bis am Bauch in Lahm g'steckt und ham selber ausg'schaut wia Lahmpatzn. Wissen S', und dann ham ma oft schwere Krankheiten kriagt, in Rheumatismus und alles mögliche. No, mir hat's nix g'macht, i war allaweil g'sund." Der Ton mußte sich wie Butter schneiden lassen. Diese Ziegelmasse wurde von einem „Lehmscheiber" zum Schlagtisch gebracht. Manche Zieglerfamilie spannte einen „Lahmscheiberhund" vor die Scheibtruhe, aber nicht jede konnte sich einen leisten. Die Arbeit am Schlagtisch war Frauenarbeit: Sie schlugen den Ton mit einem Rundmesser ab, preßten

ihn in eine mit Sand bestreute Model und zogen mit einem Streichbrett den überflüssigen Ton ab. Danach wurden die Ziegel auf dem Trockenplatz aufgereiht, eine Arbeit, die oft von Kindern gemacht wurde. Durchschnittlich schlug eine Frau 6.500- 7.000 Ziegel pro Woche, Spitzenleistungen lagen bei 10.000. Ein Kontrolleur der Firma übernahm die Ware, lehnte jedoch minderwertige ab. Die Ziegel mußten möglichst restlos austrocknen, also kein Wasser mehr aufnehmen, erst dann wurden sie nach verschiedenen Methoden gebrannt. Zusammengefaßt nach: Erika Iglauer, Ziegel - Baustoff unseres Lebens, Horn-Wien 1974, S. 98 ff.

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Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen

Bis ungefähr 1897 gab es keine geregelte Arbeitszeit, erst von diesem Zeitpunkt an wurde sie auf 11 Stunden festgesetzt. Ein Arbeiter berichtete noch von einer 12-stündigen Arbeitszeit: „Mir ham oba no g'arbeit von sechs bis um a Sechse auf d'Nacht. Dö Fraun san hamgangan und ham no schnöll was kocht und dann sans ins Bett g'flogn, weil s' nimma weita können ham. Aba wissen S', was no interessant war? Früha ham de Kutscher die Ziagl transportiert, des war a mühevolles G'schäft und oft bis 12-1 Uhr in der Nacht. Da ham s' in der Früh um drei aufstehn müassn und die Pferd' herrichten und die Fraun ham müassen aufladn. Der reichste Kutscher hat 28 Paar Ross' g'habt." Die lange Arbeitszeit wurde später von einem anderen Arbeiter bestätigt, der mitteilte, daß seine Mutter, die eine „gute Schlagerin" war, noch 10 Stunden und mehr arbeitete und oft von 6 Uhr früh bis 6 Uhr abends, wobei sie die Arbeit nur unterbrach, um nach Hause zu rennen und das Essen herzurichten. Meistens aber ging die Ziegelschlägerin gar nicht weg. Eine Ziegelarbeiterin erzählte, daß sie schon mit 12 Jahren in den Ziegelschlag gegangen sei. Als 12-jähriger Bub mußte ein anderer Arbeiter schon in den Ziegelschlag gehen, da der Vater gestorben war. Die Mutter mußte, wenn entdeckt wurde, daß der Bub arbeitete, Strafe zahlen oder sich einen Tag lang einsperren lassen, da Kinderarbeit offiziell verboten war. Freilich nützte dies weder der Mutter noch dem Buben, da zu Hause acht hungrige kleine Mäuler gestopft werden mußten. Offiziell durfte erst mit 14 Jahren gearbeitet werden, doch war das Verbot der Kinderarbeit erst durch Victor Adler zustande gekommen. Mit 17 Jahren mußte ein Ziegelarbeiter bereits 36 kg schwere Lehmkuchen tragen. Der Vater habe noch 18 Stunden als Ofenbrenner gearbeitet, bevor er abgelöst wurde, berichtete eine Arbeiterin.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Infolge der harten Arbeit in den Ziegelwerken trugen die Arbeiter oft schwere gesundheitliche Schäden davon, abgesehen von der Tuberkulose, die wohl als eine der ärgsten Krankheiten in allen Industriebetrieben ihre Opfer forderte, kamen noch spezielle Berufskrankheiten der Ziegler hinzu. Stellt man sich vor, daß die Arbeiter früher monatelang den Ton mit bloßen Füssen durchtreten mußten und dabei tief im Lehm steckten, so waren Krankheiten wie Rheumatismus, Gicht oder Gelenksentzündungen keine seltenen Erscheinungen und ein Arbeiter mußte schon eine außergewöhnlich gute Konstitution besitzen, wenn er behaupten durfte, daß er trotzdem immer gesund geblieben sei. Auf die Frage, ob dann nicht oft wochenlange Ausfälle durch diese Krankheiten entstanden seien, erklärte man, daß die heutigen jungen Leute mehr krank seien als ihre Väter und Großväter. „Mir ham ja dazu ka Zeit g'habt, denn wann s' bei uns krank wurn san, dann hat de ganze Famülie jo nix zum Leben g'habt, da ham s' gehn müassn und ham net ans Kranksein denken dürfen." Hatte ein junger Bursch oder ein Mädchen im Ziegelwerk zu arbeiten begonnen, so spürten sie die Hände oft vor Schmerz nicht mehr. Durch das Wasser, das bei der Ziegelarbeit laufend beigemengt wurde, schwollen die Hände in der Nacht stark auf. Bedingt durch die schwere Arbeit hatten manche oft so starke Rückenschmerzen, daß man fürchtete, „es reiße einem das Kreuz ab". Aber nach drei Wochen wäre das alles vorbei gewesen. Trotzdem gab es noch zahlreiche andere Krankheiten, die zum Teil im Wienerberger Werksspital behandelt werden konnten. Allerdings war dieses Spital oft so überfüllt, daß die Leute auf den Gängen lagen. Erika Iglauer,

Ziegel

1974, S. 154-156,

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- Baustoff

158f.

unseres

Lebens,

Horn-Wien

Vom Alltag der Ziegelarbeiter

Das Verhältnis der Firmenleitung zu den Arbeitern war diktatorisch. Infolge der Enthüllungen von Victor Adler begannen sich die Ziegelarbeiter zu organisieren, und die neunziger Jahre waren geprägt von vielen Streikaktionen und Kämpfen. Im folgenden Abschnitt zeigt Erika Iglauer, wie sich dieser Druck auf die Kinder fortsetzte. Mit Stolz verweisen manche Ziegler auf ihren Ursprung und öfters ist der Ausspruch gefallen: „Mich hat meine Mutter aus dem Model g'schlag'n" oder auch „ich bin aus dem Model kräult" und man meint, daß man eben ein waschechter Ziegler sei, daß man

am Ziegelwerk geboren und aufgewachsen, immer mit dem Ziegel und dem Lehm verbunden bleibe. In den Werken der Wienerberger Ziegelwerke, wo noch um die Jahrhundertwende arge Wohnungsverhältnisse anzutreffen waren, konnte vorkommen, daß in einer Ecke des Zimmers, in dem mehrere Familien leben mußten, ein Plätzchen für die Wöchnerin vorgesehen war, und wenn sie merkte, daß ihre Zeit kam, dann holte man ein Fischgatter unter dem Bett hervor und stellte es um das Bett auf, bespannte es mit Leintüchern und dann legte sich die Wöchnerin zu Bett und wartete auf die Hebamme, die aber nicht immer zeitgerecht eintraf. Der Gewährsmarin, der mir dies erzählte, fügte noch hinzu: „No ja, die Kinder war'η wahrscheinli net drin im Zimmer, vielleicht aber do, denn des war damals net so hagli." Manchmal konnte die Hebamme bei der Geburt nicht anwesend sein, denn sie hatte ihre Wohnung im Professionistenhaus an der Triesterstrasse, und der Wienerberg ist ein gewaltiges Areal, wenn man es zu Fuß zu durchqueren hatte. So mußten die Frauen oft allein zurechtkommen. Vergleicht man die statistischen Angaben über die Kindersterblichkeit am Wienerberge, so wird einem die Tatsache eher erklärlich. Manche Frauen blieben an der Arbeit bis die Wehen einsetzten und gingen dann erst nach Hause. Es war auch nicht üblich, länger als acht Tage nach der Geburt zu Hause zu bleiben, denn „es war ja a Familienarbeit und mir hab'ns Geld braucht und a leichtere Arbeit konnten die Frauen deshalb a net machen, denn wir ham Wäsch' waschen müass'n und alles mögliche in dera Zeit. Des bringt heit kane mehr z'samm, was mir all's ham tuan müassn." Später ist es dann besser geworden. Infolge dieser sozialen Verhältnisse wurden bei der Geburt eines Kindes keine größeren Festlichkeiten abgehalten. Hatte man schon beim Eintreffen des kleinen Erdenbürgers nicht allzuviel Aufhebens davon gemacht, so wurde auch der kleine Bub oder das kleine Mädchen nicht mit der Sorgfalt beobachtet und betreut, wie dies heute eine Selbstverständlichkeit ist. Der Säugling wurde auf den Schlagplatz mitgenommen und dort entweder in eine Scheibtruhe gelegt, die gerade nicht gebraucht wurde, oder man spannte zwischen zwei Steher (Pfosten der Trockenhütte) ein Tuch und befestigte einen langen Strick daran. Das Baby kam in das Tuch, und begann es zu weinen, so zog die Mutter an dem Strick, der bis zu ihrem Schlagtisch reichte und wiegte damit das Kind wieder ein. Ein Arbeiter erzählte, daß seine Mutter das Kind am Rücken zur Arbeit mitgenommen habe und dann wurde es in den Schatten gelegt. Freilich sollte das Kind schön brav und ruhig sein und so bekam es einen Zumper in den Mund gesteckt, das ist ein Zipfel (Stück Tuch), der in Milch und aufgeweichtes

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Die Tschechen und Slowaken

Brot eingetunkt worden ist, denn „so feine Sachen wie die heutigen Kinder haben wir ja nicht gehabt. Wir haben an dem Zumper herumgezuzelt und Ruh' geben müssen." Bedeutend härter erging es einem anderen Arbeiter, der erklärte, als Kind im Graben gelegen zu sein, den Zumper bekommen zu haben und niemand hätte sich um ihn gekümmert. Im Ziegelwerk Oberlaa, das einstmals auch zum Wienerberger Ziegelwerk gehörte, dann aber in andere Hände überging, wurde der unbekleidete Säugling auf einen Sandhaufen gebettet, auf den man ein „Fürta" (Schürze) ausgebreitet hatte. Kein Mensch hat sich dann um das Kind gekümmert, das dort im Schmutz lag, nur wenn es gar zu arg brüllte, dann legte die Mutter das Streichbrett weg, öffnete die Kleiderschürze - mehr hatten die Frauen nicht an - und stillte das Kind. Wurden die Kinder größer, so setzte sie die Mutter in den Sandkasten beim Schlagtisch, wo sie still bei der Arbeit zusehen sollten. Es kam dabei aber öfter vor, daß die Mutter ihre beiden Mädchen mit dem Streichbrett wichsen mußte, weil sich diese mit Vorliebe mit dem Sand bewarfen. Der Vater fertigte zum Spiel ein Model für die Kinder an, damit sie sich schon frühzeitig üben konnten. Mittwoch war im Werk Wienerberg jeweils Rapport in der Hauptkanzlei und alle Kinder, die etwas angestellt hatten, wie etwa Fenster einschlagen oder andere unerfreuliche Dinge, mußten hingehen und auch der Vater hatte zu erscheinen, um zu erfahren, was sich seine Kinder im Laufe der Woche wieder geleistet hatten. Dabei drohten ihm die Werksbeamten gleich mit der Kündigung, falls er nicht sofort Schadenersatz leiste und den Unfug abstelle. Zu Hause angelangt, gab es dann ausreichende Prügel für den Missetäter, denn es war bei dem kargen Lohn für den Vater sehr bitter, auch die Streiche seiner Söhne wieder in Ordnung zu bringen. Das Geheul bei derartigen Anlässen war immer sehr groß, denn manche Kinder wurden sogar mit dem Riemen geschlagen. Voll Angst erinnerte man sich dieser Strafen, die zu Hause auf den Übeltäter warteten. Einmal kletterte ein Mädchen auf einen Baum, auf dem es absolut nichts zu suchen hatte, als der Werksdirektor vorbeikam und das Kind bemerkte. Die Drohung, dem Vater zu sagen, wo er das Kind angetroffen habe, bewirkte, daß dieses flehentlich bat, lieber gleich eine Ohrfeige zu bekommen, aber dem Vater nichts zu verraten. Zu Weihnachten mußten die Kinder zum Fabriksinspektor wünschen gehen, so hatte es der Vater bestimmt und danach mußte der Bub auch zu Generaldirektor Teirich in die Zentrale fahren, um auch ihm frohe Feiertage zu bestellen. „Stellen Sie sich vor, da hat uns der Direktor Teirich sogar in die Oper eingeladen. Wir Kinder in die Oper!

No, g'fallen hat's mir ja. Die Frau, die mit die Zuckerl umgangen ist, hat mir noch viel besser g'falln." Kinderbälle wurden von der Frau des Direktors arrangiert, aber es durften nur Kinder von Beamten hingehen und ganz wenige von den Arbeitern. „Ja, da hab i die Frau Direktor Netuka zum Tanz aufgefordert, hat aba mit so an Fratzen net tanzt." Erika Iglauer, Ziegel - Baustoff unseres Lebens, Horn-Wien 1974, S. 248-253.

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Ziegleifamilie mit „Lahmscheiberhund"

Bildquelle: Fotoarchiv Wienerberger Baustoffindustrie AG.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Zieglerinnen a m Schlagtisch

Ziegelarbeiter u n d -arbeiterinnen

Bildquelle: Fotoarchiv Wienerberger Baustoffindustrie AG.

Die Juden

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1.4. Die Juden 1.4.1. Herkunft und Dimension Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wien reicht bis in das 11. Jahrhundert zurück. Aus dem Jahr 1196 ist die Ermordung von sechzehn Juden durch Kreuzfahrer überliefert, die auch in anderen Städten Juden massakrierten. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte Wien bereits eine Synagoge. Im Spätmittelalter eskalierte der religiös argumentierende Judenhaß und gipfelte in Wien mit der Judenvertreibung unter Albrecht V. im Jahr 1420, welche in der Wiener Geserah überliefert ist: Die ärmeren Juden wurden ausgetrieben, die reichen in den Kerker gesperrt und 200 noch verbliebene Juden auf der Erdberger Lände verbrannt. Unter Rudolf II. durften sich Ende des 16. Jahrhunderts sogenannte „hofbefreite Juden" wieder in Wien ansiedeln. Den Schutz des Herrschers konnten sie nur als Geldgeber der Fürsten, als Heereslieferanten und durch ihre Kompetenz in der Münzverwaltung erwirken. 1625 wurden die Wiener Juden nach dem Vorbild Venedigs und des Kirchenstaates in der „Unteren Werd" in einem Ghetto konzentriert, das 1669 ca. 3.000 Bewohner beherbergte, darunter viele ärmere Juden. Mit der Palette judenfeindlicher Vorurteile, wie jener der Hostienschändung und Brunnenvergiftung, zwangen die Wiener den Kaiser, seinen Schutz aufzugeben. Unter Kaiser Leopold I. wurde ab 1669 die jüdische Bevölkerung erneut aus Wien vertrieben. Einem Zynismus gleich erhielt der Stadtteil, in dem das Ghetto lag, den Namen Leopoldstadt. Die ausgewiesenen Wiener Juden zogen nach Böhmen, Mähren und verbotenerweise auch nach Ungarn, wo die „Siebengemeinden" entstanden, darunter die jüdischen Gemeinden in Eisenstadt, Mattersburg und Frauenkirchen. Doch die einheimische Bevölkerung konnte die ökonomischen Funktionen, welche die Juden innehatten, nicht ersetzen, und bald wurde wieder auf sie zurückgegriffen. Allerdings erhielten nur einige Wenige das befristete Privileg, sich mit ihren Familien in Wien aufzuhalten. Nach dem Frieden von Passarowitz (1719) zwischen Österreich und der Türkei durften sich türkische Juden in Wien niederlassen, es waren zumeist sefardische Juden. Unter Josef II. trat in Wien 1782 das Toleranzpatent in Kraft. Die Abschaffung der Leibmaut und anderer Diskriminierungen sollte die Eingliederung der tolerierten Juden in die bürgerliche Gesellschaft ermöglichen. An eine Vergrößerung der jüdischen Gemeinde war jedoch keineswegs gedacht. Unter Franz II. wurden Teile des Toleranzpatents zurückgenommen. Ab 1792 überwachte ein sogenanntes Judenamt die jüdische Bevölkerungs-

bewegung, um ärmeren Juden den Zugang zur Stadt zu verwehren. Nur Juden aus der Türkei und den Tolerierten war es gestattet, sich dauernd in Wien aufzuhalten, alle anderen mußten eine Leibmaut (Bollentaxe) zahlen. Trotz aller Schikanen vergrößerte sich die Wiener jüdische Gemeinde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anhand der Geburtsund Sterbematrikeln und der Zahl jüdischer Trauungen bezifferte der Historiker Akos Low die Zahl der Gemeindemitglieder im Jahr 1830 mit 3 1 0 Personen und 1848 mit 4.000 Personen, von ihnen waren bloß 197 toleriert23 (Quelle 34). Mit der Revolution 1848 schien eine neue Epoche der Toleranz anzubrechen, es wurde die Aufhebung der Leibmaut beschlossen. Im darauffolgenden Neoabsolutismus setzte ein starker Zuzug der jüdischen Bevölkerung nach Wien ein, obwohl die rechtliche Lage noch widersprüchlich war. Erst das Verfassungsgesetz 1867 und der interkonfessionelle Ausgleich 1868 brachten die Gleichberechtigung. In der ersten Phase der jüdischen Zuwanderung nach 1848 überwog der Zustrom aus Ungarn und Mähren. Die teilweise Auswertung der Volkszählung 1857 ergab, daß 25 Prozent der Wiener Juden in Ungarn geboren waren, 2 0 Prozent in Wien, 15 Prozent in Mähren, 10 Prozent in Galizien und 4 Prozent in Böhmen, 2 Prozent in anderen Teilen der Monarchie und 5 Prozent außerhalb der Habsburgermonarchie. Von den aus Ungarn stammenden Juden kamen 20 Prozent aus Preßburg (Bratislava) und 5 Prozent aus dem Gebiet des heutigen Burgenlandes. Von den mährischen Orten wurde Nikolsburg (Mikulov) besonders häufig genannt. 24 Bis zur Volkszählung 1880 stieg der Anteil der in Wien geborenen Juden auf 30 Prozent, zweitgrößte Gruppe waren die in Ungarn geborenen mit 28 Prozent. Der Anteil der in Böhmen geborenen Juden stieg leicht an, der in Mähren geborenen war gesunken (Quelle 37). Die Volkszählung 1900 wies Staatsfremde nach Konfessionen aus. Unter den 49.784 Staatsfremden mit mosaischem Glaubenbekenntnis waren 45.055 in den Ländern der heiligen Ungarischen Krone beheimatet, das waren 30,6 Prozent aller in Wien anwesenden Juden.25 Die Zuwanderung aus Galizien und der Bukowina setzte erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in stärkerem Ausmaß ein26 (Quellen 38-41). Im Ersten Weltkrieg flüchteten viele Juden aus Galizien und der Bukowina nach Wien. 1918 waren in Wien von 38.772 Flüchtlingen 34.223 Juden, unter ihnen viele religiös-orthodoxe und verarmte Menschen.27 Der Zuwachs durch Flüchtlinge erklärt den 1923 mit 38,3 Prozent noch niedrigen Anteil der in Wien geborenen Juden. 4 Prozent waren im übrigen Gebiet der Republik geboren und 57,7 Prozent im

34 Ausland.28 Mit 201.513 Personen erreichte die jüdische Gemeinde 1923 in Wien ihren Höchststand. Vertreibung und Massenmord der NS-Zeit dezimierten die jüdische Gemeinde in Wien auf einen Bruchteil ihrer früheren Größe. Trotz Zuwanderung aus Ungarn 1956 und aus der Sowjetunion nahm der Anteil der Personen mit israelitischem Religionsbekenntnis seit der Volkszählung 1951 bis 1981 ab. 1981 waren es 6.527 Personen, das entspricht einem Anteil von 0,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung Wiens29 (Quellen 35, 36, 42).

1.4.2. Berufsstruktur Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mußten Juden bestimmte ökonomische Funktionen übernehmen, hauptsächlich im Handel und Geldverkehr. Christlichen Klerikern war das Nehmen von Zinsen für verliehene Beträge verboten, in der Karolingerzeit wurde dieses Verbot auch auf Laien ausgeweitet. Dieses „sündhafte" Geschäft, das angesichts des Kreditbedarfes notwendig war, überließ man den Juden. Jahrhundertelange Reduktion auf einzelne Berufssegmente prägte die Berufsstruktur der Wiener Juden im 19. und 20. Jahrhundert. Die auf Diskriminierung beruhende Desintegration begann sich nach der Emanzipation allmählich aufzulösen. Der Anteil der im Handel tätigen Juden nahm ab: Waren, wie sich in diesem Zusammenhang aus Quellen der israelitischen Kultusgemeinde ersehen läßt, im Jahre 1870 55,6 Prozent der jüdischen Bräutigame im Handel erwerbstätig, sank der Anteil bis 1910 auf 33,3 Prozent. Hingegen stieg der Anteil der Angestellten von 2,8 Prozent auf 35,2 Prozent. Der Wechsel zu Angestelltenberufen stand erst der zweiten Generation offen. Der Anteil von Arbeitern blieb hingegen gering. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sich die Arbeiterschaft aus sozialen Schichten herausbildete, die bei Juden kaum vertreten waren, aus Klein-, Mittelbauern- und Handwerkerfamilien. Stärker ausgeprägt als bei anderen religiösen Bevölkerungsgruppen war bei Juden aller Schichten das Streben, Söhne etwas lernen zu lassen. Beispielsweise hatten im Studienjahr 1885/86 von insgesamt 5.926 an der Universität Wien inskribierten Studenten 2.095 (35,4%) mosaisches Glaubensbekenntnis. Im selben Jahr waren 28,8 Prozent der Wiener Mittelschüler mosaisch. Wegen geringer Karrierechancen im öffentlichen Dienst bevorzugten jüdische Studenten das Jura- und Medizinstudium. Jüdische Frauen waren 1910 mit 31,5 Prozent zu einem geringerem Prozentsatz berufstätig als nichtjüdische Frauen mit 46,2 Prozent, denn jüdische Frauen waren nach der Heirat seltener berufstätig30 (Quellen 43-50). Mit dem Zustrom der Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg nahm die berufliche Distanz zwischen jüdischer

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

und nichtjüdischer Bevölkerung in der Ersten Republik zu. Der Anteil der in Handel und Verkehr tätigen Beschäftigten stieg innerhalb der jüdischen Berufstätigen bis 1934 auf 54,5 Prozent an. Bei Nichtjuden war er mit 26 Prozent in etwa stabil geblieben. Hingegen fiel innerhalb der jüdischen Bevölkerung Wiens der Anteil der in Industrie und Gewerbe Beschäftigten auf 23,4 Prozent, während er bei Nichtjuden auf 50,2 Prozent anstieg. In einigen Berufssparten erreichten jüdische Berufstätige hohe Anteile: 1936 waren 62,7 Prozent der Wiener Zahnärzte Juden, 62 Prozent der Wiener Rechtsanwälte und 47.2 Prozent der Ärzte; weiters 67,6 Prozent der Kürschner und 39,8 Prozent der Juweliere, 74.3 Prozent der Weinhändler, 73,3 Prozent derTextilhändler, 60,6 Prozent der Spirituosenhändler und 53 Prozent der Wiener Schuhhändler.31

1.4.3. Glaubensströmungen Derzeit leben in Wien Angehörige dreier unterschiedlicher jüdischer Gruppierungen: aschkenasische, sefardische und chassidische Juden. Interpretationen des Talmuds stehen nebeneinander, die Einhaltung des Sabbath und der Genuß von koscherem Essen sind die generell verbindlichen Bräuche. Sefardim und Aschkenasim bezeichneten ursprünglich die territoriale Verteilung. Aschkenasim waren die Juden Deutschlands, Mittel- und Osteuropas. Sie beziehen sich wesentlich auf den Kommentar zum Schulchan Aruch des Krakauer Rabbiners Moses Isseries (1510 oder 1520-1572). Bis zum Genozid der Nationalsozialisten waren etwa 90 Prozent aller Juden Aschkenasim. Sefardim bezeichnet die spanischen und portugiesischen Juden, die 1492 ausgewiesen wurden und sich in der Mehrzahl in anderen Mittelmeerstaaten ansiedelten. Kernstück ihrer Lehre ist das von Josef Karo (1488-1575) verfaßte Gesetzeswerk Schulchan Aruch, zu deutsch: Gedeckter Tisch. Karo interpretierte die im Talmud ungeordneten, prinzipiellen religiösen Bestimmungen in übersichtlicher Weise. Im 18. Jahrhundert kamen sefardische Juden aus dem Osmanischen Reich nach Wien und trugen neben den „griechischen" Kaufleuten zum Aufblühen des Orienthandels bei, 1767 waren 19 „türkische Juden" in Wien. Im 19. Jahrhundert wurden einge Familien seßhaft, zwischen 1822 und 1841 wohnten 80 bis 100 sefardische Familien in Wien. 1778 und 1890 war die sefardische Gemeinde in Wien rechtlich anerkannt, danach wurde sie in die Kultusgemeinde eingegliedert. 1915 umfaßte die sefardische Gemeinde etwa 1.000 Personen, 1930: 600. 1985 lebten fünf traditionsreiche spaniolische Familien in Wien. Zuwachs erhielten die sefardischen Juden durch bucharische und georgische Juden aus der Sowjetunion, die sich zwar in einigen Bräuchen und Fragen,

Die Juden

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aber nicht grundsätzlich von der Sefardim unterscheiden.32 Die dritte Gruppe sind chassidische Juden, eine mystisch-religiöse Richtung. Begründet wurde der Chassidismus von Israel ben Elieser Ba.al Schemtow (1700-1760), der seine Lehren mündlich an Schüler weitergab. Von den Aschkenasim unterscheiden sie sich durch Herzensfrömmigkeit und geringere Betonung der Lehre. Sie praktizieren zum Teil sefardische Bräuche. Oer Chassidismus verbreitete sich anfangs in Gebieten Polens und Rußlands. Die chassidischen Juden in Wien kamen in ihrer Mehrzahl aus Galizien und der Bukowina.33

Die Wiener Juden im Vormärz, Quelle 34 Wie die nicht-tolerierten Juden trotz aller Schikanen, wie Judenamt und Kopfsteuer, in dieser Stadt sich aufhalten und arbeiten konnten, darübergibt die Autobiographie von Sigmund Mayer Auskunft. Erkam 1847 mit seinem Vater, einem Preßburger Geschäftsmann, nach Wien, um hier zu studieren.

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Sigmund Mayer erzählt

Ich war also in Wien! Hierher gelangt war ich mit meinem Vater stromaufwärts mit dem Dampfschiffe. Reisedauer sechs Stunden. Bei dichtem Nebel, der zuweilen das Schiff zum Stehen zwang, konnte die Fahrt auch 10-12 Stunden dauern. Immerhin bequemer, als mit der Landkutsche, die normal mindestens zehn Stunden brauchte. Auf der Landungsbrücke ein Korporal und drei Mann Polizeisoldaten, oder wie man sie in Wien spöttisch nannte: „Zaruck". Sie erhielten diesen Spottnamen, weil sie in ihrem böhmischen Idiom mit diesem Ausruf das Publikum zurückdrängten. Hier bemerkte ich schon etwas Absonderliches: Mit dem Paß drückte mein Vater, sowie jeder der mitfahrenden Kaufleute dem Korporal, der ihn abnahm und dafür den Passierschein hergab, einen Silberzwanziger, d. i. 70 Heller, still in die Hand. Dieser Silberzwanziger war ein Talisman. Der Paß kam im „Judenamt", von dem noch die Rede sein wird, nicht auf den großen Haufen, sondern in ein separates Fach, und die Spender des Silberzwanzigers waren davon befreit, wie es die Polizeivorschrift den fremden Juden gebot, sich die Aufenthaltskarte, und wiederum Paß und Passierschein zur Abfahrt, in eigener Person zu lösen; bei dem ungeheuren An-

dränge in diesem Amt nahm das jedesmal einige Stunden in Anspruch. Für diese Begünstigten übernahm eine Anzahl von Agenten, die mit dem Polizeibeamten in Verkehr standen, die gesamte Manipulation gleichsam en gros, indem sie in den jüdischen Traiterien, in den Geschäfts- und Kaffeehäusern usw. die Aufenthaltskarten der Fremden sammelten und in gleicher Weise für deren Abreise Linien-Passierscheine und Paß-Vidierung besorgten. Taxe: Ein zweiter Silberzwanziger. Agenten, Polizeisoldaten und - offenbar - die manipulierenden Polizeibeamten teilten sich darein. Wir Studenten genossen im „Judenamt" das Vorrecht, im zweiten Zimmer vom Amtschef Wiesenberger selbst examiniert und erledigt zu werden. Ich trieb mich in den ersten Tagen, während mein Vater seinen Geschäften nachging, im Geschäftsviertel, d. h. in den Gassen zwischen WipplingerstraßeHoher Markt-Salzgries herum. Dieser Stadtteil war kein geschlossenes Ghetto, aber seinem Charakter nach eine Judenstadt. Ich fühlte mich hier lebhaft an die rastlose Tätigkeit der Menschen in der Preßburger Judengasse erinnert. Am „Ruprechtsplatz", ein Teil der heutigen Judengasse begrüßte mich ein Mann, der früher in unserem Preßburger Geschäfte Kommis gewesen; er hieß Leopold Pollitzer. Ich frage ihn, was er treibe? Er meint: „Ich ernähr' mich und handle." - „Wo hast du dein Geschäft?" Er lacht und führt mich auf die Fischerstiege in einen großen Laden, an dessen Wänden ringsum versperrbare Stellagen stehen. In einer hat mein Mann ein kleines Häuflein Ware untergebracht; dorthin schleppt er von der Gasse weg die Kunden, denen er verkauft. Ich sage zu ihm: „Mit diesem bißchen Ware kannst du dich doch nicht fortbringen?" „Natürlich nicht, mein Lager habe ich ja in meinem Zimmer, aus welchem ich immer wieder frisches hole." Er führt mich in dieses Zimmer, wo ich schon etwas mehr, aber keineswegs viel Ware vorfinde. Er erklärt mir, daß er nicht die Mittel zu einem großen Warenlager habe, daß er fast jeden Tag in den ersten Morgenstunden in die Vorstadt fahre und von neuem einkaufe. Ich erfahre, daß es solcher „Platzsteher" das war die technische Bezeichnung - in diesem Winkel sehr viele gäbe, sie könnten sich erst dann, wenn sie genügend erworben hätten, einen Laden mieten und unter „Schutz" stellen. Letzterer namentlich koste mindestens 500 fl. jährlich. Ich lasse mir diesen „Schutz" erklären, schüttle den Kopf und meinte: „Wenn du also nicht unter ,Schutz' stehst, wird dich die Polizei abschieben?" Er erwidert mir lachend: „Neben jedem Tor ist ein Türl." Es ist inzwischen Abend geworden und er lädt mich zu einem Spaziergange ein. Wir gehen zur Mariahilferlinie hinaus und an der Straße neben dem Linienwall zur sogenannten kleinen Linie am Ende der Gumpendorferstraße

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

wieder hinein. Am Tore gibt er dem Polizeibeamten seinen Paß, natürlich mit dem obligaten Silberzwanziger, erhält ohne Anstand seinen Passierschein, mit dem er wieder, wie allwöchentlich, seine Aufenthaltskarte auf drei Tage und gegen die Taxe von einem Gulden die Verlängerung auf acht weitere Tage erhält. „Siehst du," sagt er, „so machen es alle, die nicht genug Geld verdienen, um den Schutz' zu bezahlen, ,Platzsteher' und andere kleine Geschäftsleute, Hausierer, Lehrer usw." Während ich des andern Tages durch die Salvatorgasse flaniere, grüßt mich aus dem Eingang eines Ladens ein junger Mann, dessen ich mich gleichfalls als Kommis in einem Preßburger Tuchgeschäft erinnere. Er hieß Lichtenstern; über seinem Laden hängt eine Tafel „V. S. Morawetz". Ich trete ein, frage den Inhaber: „Wer ist Morawetz? Warum dieser Name und nicht Lichtenstern?" Der Mann ist redselig, sagt mir: „Morawetz sei ein Kommißtuchfabrikant aus Iglau, gebe ihm aber als Triescher Landsmann um das halbe Geld,Schutz'; von dem Erzeugnisse dieses k. k. landesprivilegierten Fabrikanten war in dem Laden kein Stück zu sehen, der Ladenbesitzer machte sein Geschäft nur mit den Schneidern und diese könnten, sagte er, natürlich nichts anderes als Brünner Mode, Strich, feine Reichenberger Tuche verwenden." Als ich ihm naiver Weise über diese offenbare Täuschung mein Bedenken äußerte, meinte er lachend: „Da fragt keine Katz danach, das Schild deckt alles!" Am nächsten Tage stellte ich mich meinem Onkel Karl Mayer vor, einem der bravsten Menschen, die mir je vorgekommen. Auf der Tafel seines kleinen Ladens in der Seitenstettergasse wieder ein Rätsel: nicht sein Name, sondern „Karl Schlesinger". An der Seitentüre ein kleines Täfelchen: „Kommissionsniederlage von Karl Mayer aus Preßburg". Der Kommis löst das Rätsel. Das Schutzgeld an Karl Schlesinger betrug jährlich 600 fl. Im Gespräch erhalte ich auch Aufklärung über eine Tatsache, welche mir bei der Revue der Firmentafeln innerhalb dieses Stadtteils, seiner Gassen und Gäßchen, Höfe und Winkel aufgefallen war. Ich finde, daß einzelne Firmen wiederholt und zwar als Besitzer verschiedenartiger Geschäfte vorkommen. „Ja", meint mein Onkel, „das sind eben k. k. privilegierte Großhändler, die das Recht haben, so viele Handlungen zu betreiben, als sie wollen und die sich darum aus dem,Schutzerteilen' an die Juden ein Geschäft machen, welches mitunter sehr viel trägt. Kommt ein solcher ,Schützling' zu einem größeren Umsatz, so wird auch das ,Schutzgeld' gesteigert. Aus dem teuren,Schutz' treten und einen billigeren ,Schutzherrn' suchen, ist gefährlich; die Polizei kann hierdurch entweder von selbst oder durch eine Denunziation aufmerksam werden."

Bald darauf kommt auch meine Mutter nach Wien, um Modeware einzukaufen. Ich begleite sie auf ihren Gängen und wir passieren eine Reihe von Geschäften: Wilhelm Pollitzer am Ruprechtsplatz, L. Kolisch in der Krebsgasse, S. Trebitsch, Mandeles am alten Fleischmarkt usw. Jeder von ihnen ist nach der Firmentafel „Fabrikant", in Wirklichkeit sind sie aber alle Händler; das minime Werk, welches sie in der Vorstadt aufgerichtet, dient nur als Deckung für ihren Handel. Nach der Abreise meiner Mutter führt mich mein Vater in die Familie „Spitzberger"; kein großes, aber ein sehr freundliches Haus, dessen Mitglieder sämtlich gute Manieren haben. Man nimmt uns gut auf; über der Tür wieder eine seltsame Aufschrift: „Türkischer Großhändler". Spitzberger ist doch kein Türke? Mein Vater erklärt mir den Sachverhalt: „Taufen lassen hat er sich nicht wollen, so ist er türkischer Untertan geworden; als solcher kann er in Wien auch ohne /Toleranz' wohnen und handeln, so viel er will, die Polizei kann ihm nichts anhaben." Sigmund Mayer, Ein jüdischer Kaufmann 1831 bis 1911. Lebenserinnerungen, Leipzig 1911, S. 107-111.

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Bevölkerung mit israelitischem Religionsbekenntnis

Bevölkerung mit israelitischem Glaubensbekenntnis in Wien 1857-1981

Zeile

Jahr

Personen mit israelitischem Glaubensbekenntnis

Anteil an der Gesamtbevölkerung in %

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

1857 1869 1880 1890 1900 1910 1923 1934 1951 1961 1971 1981

15.116 40.230 72.588 118.495 146.926 175.318 201.513 176.034 11.224 8.354 7.747 6.527

3,2 6,6 5,3 5,3 8,8 8,6 10,8 9,4 0,6 0,5 0,5 0,4

Zeile 1: Statistik der Stadt Wien, Wien 1857, Probeheft, S. 44 f. Zeile 2: Bevölkerung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, dann der Militärgrenze nach der Zählung vom 31. December 1869, Wien 1871, Band 1, Heft 1, S. 2. Zeile 3: Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 26.

Die Juden

37

Zeile 4: Stephan Sedlaczek, Die definitiven Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1890 in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1891, S. 63-65. Zeile 5: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902, Wien 1904, S. SO f. Zeile 6: Österreichische Statistik, Wien 1917, Neue Folge, Band 1, Heft 1, S. 38 f. Geburtsländer der Wiener Juden 37 Zeile 7: Statistische Nachrichten, Wien 1925, S. 104. Zeile 8: Statistik des Bundesstaates Österreich, Wien 1935, Heft 3, S. 3. Zeile 9: Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951 nach Ge- Geburtsländer der Wiener Juden 1880 meinden, Wien 1952, Heft 10, S. 3. Zeile 10: Ergebnisse der Volkszählung vom 21. 3. 1961, Wien Bevölkerung mit 1964, Heft 13. S. 70. Geburtsland israelitischem Zeile 11: Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1974, Glaubensbekenntnis Band 309, Heft 8, S. 36. Zeile 12: Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1984, absolut % Band 630, Heft 10. S. 38 f. Wien 22.339 30.8 Mähren 9.336 12.9 Böhmen 7.050 9,7 Galizien 7.801 10.7 Bukowina 292 0,4 Die Bevölkerung Wiens nach dem 36 übriges Religionsbekenntnis 2.616 3,6 Cisleithanien 20.145 27.8 Ungarn 2.988 4,1 Die Bevölkerung Wiens nach dem Religionsbekenntnis 1857- Ausland 1981 (Graphik) insgesamt 100,0 72.567 Re1igionsbekenntnis •Hl

Bekenntnis

Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 16 f.

I Bekenntnis

| evangelisch

1857

1869 1880 1890 1900 1910 1923

1934 1939 1951 1961 1971 1981

1 'ai

Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1974, Band 309, Heft 8, S. 36. Beiträge zur österreichischen Statistik, Wien 1984, Band 630, Heft 10, S. 38 f. Bevölkerung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, dann der Militärgrenze nach der Zählung vom 31. December 1869, Wien 1871, Band 1, Heft 1, S. 2. Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951 nach Gemeinden, Wien 1952, Heft 10, S. 3. Ergebnisse der Volkszählung vom 21. 3. 1961, Wien 1964, Heft 13, S. 70. Österreichische Statistik, Wien 1917, Neue Folge, Band 1, Heft 1, S. 38 f. Stephan Sedlaczek, Die definitiven Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1890 in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1891, S. 63-65. Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 26. Statistik der Stadt Wien, Wien 1857, Probeheft, S. 44 f. Statistik des Bundesstaates Österreich, Wien 1935, Heft 3, S. 3. Statistische Nachrichten, Wien 1925, S. 104. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902, Wien 1904, S. 50 f

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Die Herkunft von Käthe Leichter

1895 wurde Marianne Katharina Pick in Wien geboren. Unter dem Namen Käthe Leichter war sie eine bekannte Sozialdemokratin der Ersten Republik. Die Familien ihrer Eltern waren in Nordböhmen und Rumänien beheimatet. Mein Vater stammte aus Nachod in Nordböhmen. Sein Vater war dort ansässig, hatte sein eigenes Haus, seine angesehene Textil-Handelsfirma und fühlte, obwohl frommer Jude, so deutsch, daß er 1866, als unmittelbar neben Nachod die Schlacht von Königgrätz geschlagen wurde, sein Haus den verwundeten Preußen, nicht den Österreichern zur Verfügung stellte und dafür die goldene preußische Medaüle erhielt. Das Kriegsjahr 1871 brachte ihm Unglück, Börsenverluste trieben ihn nach Amerika, von wo ihn der älteste Sohn zurückholte. Dann blühte die Firma wieder auf, hatte Ansehen im Land, und Pick aus Nachod wurde ein Begriff, nicht nur wegen der Solidität der Firma, sondern auch wegen der berühmten jüdischen Witze, deren Ausgangspunkt mein Großvater gewesen sein soll. Ich kann mich, da er seinen Lebensabend in Wien verbrachte, noch sehr gut an ihn erinnern: er und meine Großmutter, riesengroße, noch im Alter steif-aufrechte Menschen, vor denen

38 wir Kinder großen Respekt hatten, die zu uns Kindern gütig waren, aber durchaus nicht in einer liebkosenden oder verhätschelnden Weise, und Pflicht, Ordnung, Anstand ständig im Munde führten. Meine Großeltem hatten sieben Kinder - fünf Söhne und zwei Töchter -, alle große, starke, aufrechte Menschen wie sie, aber im Gegensatz zu ihnen dem Judentum schon recht entwachsen. Rein äußerlich sahen die stattlichen, lebensfrohen Brüder meines Vaters wie Porträts der niederländischen Schule, seine großen Schwestern mit dem glatt zurückgekämmten Haar, den hochgeschlossenen Kleidern und dem strengen Gesichtsausdruck wie Frauenbilder von Holbein aus. Das Deutsch, das sie sprachen, war das schönste Deutsch, das in den Sudetengebieten gesprochen wird. Vom Judentum hatten sie Familiensinn und strenges Festhalten an der Tradition und Sitte beibehalten, sonst fühlten sie sich durchaus als Glieder des aufstrebenden österreichischen Kapitalismus, den sie mit verkörperten. Stammte der Vater aus einer böhmischen Industriellenfamilie, so die Mutter aus einer rumänischen Bankiersfamilie. Wie so viele Juden, war mein Großvater mütterlicherseits aus dem damals österreichischen Czernowitz in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht nach Westen, sondern nach Rumänien gezogen, das neuerrichtete Fürsten- und später Königtum an der unteren Donau, das zwischen seiner herrschenden Bojarenschicht und dem in unvorstellbarem Elend lebenden Kleinbauerntum wunderbar Raum frei ließ für die unternehmende und geschäftstüchtige Schicht der Handels- und Geldjuden, die bald in Rumänien aus einer Zwischenschicht zu einer eigenen Herrenschicht wurden, sich allen Pogromen zum Trotz durchsetzten und die Beseitigung der Sondergesetze gegen die Juden bei den befreundeten Kapitalistenkreisen Englands erreichten. An das bodenständige Rumänentum nie assimiliert, von den Bojaren nicht für voll genommen, von den Bauern als Ausbeuter gehaßt, wurden sie doch zu einer wesentlichen, Reichtum, Macht und ausländische Verbindungen repräsentierenden sozialen Schicht des kleinen Staates. Die mütterliche Familie gehörte da sehr entschieden dazu. Denn mein geschäftstüchtiger und betriebsamer Großvater hatte nahe der Donaumündung, in dem mit der wachsenden Bedeutung der Donauschiffahrt aufblühenden Städtchen Galatz, seine Tätigkeit als Privatbankier begonnen und bald lief das Weizengeschäft, die Erdölsuche, der Transithandel, die neu entstehende Industrie. Bald gehörte auch die Familie zu den angesehenen und reichen Familien Rumäniens, und auch hier diente sie bald der Vergrößerung der Hausmacht. Neun Kinder hatte mein Großvater. Die Töchter verheiratete er nach London, Berlin, Wien, Lemberg, Bukarest. Die Söhne

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

aber, die in die Firma einzutreten hatten, wurden zur Anbahnung geschäftlicher Beziehungen und zur Erlernung des westlichen Schliffs und des modernen Kapitalismus nach London und nach Wien geschickt, heirateten aber dann, zurückgekehrt, ganz selbstverständlich die reichsten Töchter des Landes. So entstand ein Reichtum, der, jüngeren Datums und weniger fundiert als der meiner väterlichen Familie, blendender und eindrucksvoller war. Küthe Leichter, Leben und Werk, Wien 1973, S. 239 f., 244 f.

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Eine jüdische Jugend in Wien

Der Vater des Schriftstellers Ernst Waldinger kam aus Ostgalizien, die Mutter aus dem galizischen Biala, das an der galizisch-schlesischen Grenze lag. Ich wurde am 16. Oktober 1896 in Ottakring geboren, im sechzehnten Gemeindebezirke Wiens, um es näher zu bezeichnen, in Neulerchenfeld, jenem Teil dieses hauptsächlich von Arbeitern bewohnten Bezirks, der an die Josefstadt angrenzt und dessen Bevölkerung zumeist aus alten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien besteht. Dem guten Bürgerstand, freilich schon an seinem Rand, wo er sich dem Kleinbürgertum nähert, gehörten auch meine Eltern an. Mein Vater Salomon Waldinger stammte aus Drohobycz in Ostgalizien und war mit sechzehn Jahren nach Wien in die Handelsschule geschickt worden. In Wien verblieb er auch bis zu seinem Tode im Juni 1933; so hat er sich wenigstens die Greuel der Nazi-Epoche und das jüdische Martyrium erspart. Mein Großvater Reb Kaiman (Kalonymos) Waldinger, ein stiller, weiser und äußerst gütiger Mann, der aber zugleich voll von guter Laune war, - ohne selbst eine Miene zu verziehen, erzählte er die besten Schwänke und Anekdoten - paßte nach Boryslaw im ostgalizischen Ölgrubengebiet wie die Faust aufs Auge. Er stammte von Landjuden, die eine Milchwirtschaft betrieben, aus der Gegend von Stryj. Er war einer der ersten, der auf Petroleum stieß und hatte sich bei Rettungsarbeiten in Paraffingruben, die er unter ständiger Lebensgefahr unternahm, ein chronisches Asthma geholt, das er mit gelassener, lächelnder Geduld ertrug. Man grub damals noch primitive Schächte und ließ sich in einer Art von Bottichen zum Grunde hinab, um dort nach Erdwachs zu schürfen. Er war gutgläubig, großherzig, verlieh Geld, das er selten zurückbekam und unterschrieb Wechsel für Freunde, sogar für wildfremde Leute, die er meistens dann selbst einlösen mußte. In diesem wilden Westen der Monarchie, der natürlich noch korrupter war als das übrige Galizien, war er eine rührende Erscheinung, an der ich mit großer Liebe

Die Juden

hing, wenn ich ihn auch selten genug sah, da er nicht allzuoft nach Wien kam. Im Sommer 1905 verbrachte ich selbst mit meiner Mutter und meiner Schwester die Ferien in Boryslaw. Mein Großvater grub knapp vor seinem Tode noch einmal nach Petroleum. Er war der Präsident der Grubengesellschaft „Wanda" und erlitt bei der Inspektion des Bohrschachtes im tiefsten Winter einen Rückfall einer eben ausgeheilten Lungenentzündung, an der er starb. Dann entlockte einer der Gauner, der die Leitung übernahm, meinem Vater, meinem mütterlichen Großvater und einem meiner Onkel die Anteilscheine, die sie besaßen und mit denen sie an dem Unternehmen beteiligt waren: er behauptete, ein Nagel sei ins Bohrloch gefallen und verlangte mehr und mehr Geld für die Reparaturarbeiten, so lange bis den anderen Partnern die Geduld riß und er die Anteilscheine billig aufgekauft hatte. Dann begann die Grube plötzlich Öl zu geben und war fast über ein Jahrzehnt produktiv. Ch. B. wurde ein steinreicher Mann und übersiedelte nach Wien. Es war der ständige Schmerz meiner Mutter, daß uns diese Einkommensquelle, die uns wohlhabend gemacht hätte, wenn mein Großvater am Leben geblieben wäre, versiegt war. Mein Großvater war kein übertrieben religiöser Mann, obzwar er Vorstand seiner Synagoge war. Er ging europäisch gekleidet und nur am Sabbat trug er Kaftan und Zobelmütze und ich erinnere mich, was für einen fremdartigen Eindruck der großgewachsene Greis mit dem langen weißen Bart auf mich machte, als ich ihn zum ersten Mal in dieser Tracht sah, als er von der „Schul" nach Hause zurückkehrte. Seine Frau, meine väterliche Großmutter hingegen, hatte eine durchaus gelehrte Ahnenreihe und war sehr fromm. Sie rühmte sich, daß ihre Familie im „Goldenen Buch" genannt sei, das alle Abkömmlinge König Davids aufzählte, und ich pflegte meinen berühmten Anverwandten gegenüber schmunzelnd zu erwähnen, daß ich weitläufig sogar mit dem christlichen Heiland verwandt sei; allenfalls hat diese Familienlegende auch etwas mit der Tatsache zu tun, daß ein Dichter aus mir wurde - wenn man das überhaupt sagen darf, denn, trotz allem künstlerischen Fleiß und bei aller künstlerischer Zucht, ist das Dichterische letztlich eine Gnade, aber einen besseren Fürsprecher konnte ich nicht erworben haben als den königlichen Sänger David. Großmutter betrieb einen Schnittwarenladen und war eine tüchtige und energische Geschäftsfrau. Daneben war sie von einer unermüdlichen und nie endenden Hilfsbereitschaft, sammelte immerfort für Arme, speiste sie und hatte immer eine ganze Anzahl von Schützlingen, die sie befürsorgte. Mein Vater meinte scherzhaft, sie wolle sich einen Logensitz im Paradies sichern. Die rituellen Gesetze befolgte sie mit einer peinlichen Genauigkeit. Im Alter fastete sie

39 an jedem Montag und Donnerstag von früh bis Abend. Sie konnte nur hebräisch lesen und schreiben und erzählte uns Kindern - sie verlebte zwei Jahre bei uns in Wien, ehe sie nach Galizien heimkehrte, wo sie hochbetagt in den Wirren der letzten Jahre des Ersten Weltkriegs das Zeitliche segnete - daß es ihr größter Kummer war, als ihr überaus zelotischer Vater die deutschen Bücher, die sie sich heimlich verschafft und verborgen hatte, entdeckte und verbrannte. Die Großeltern sprachen natürlich jiddisch miteinander, aber sie konnten auch deutsch und waren des Polnischen und Ukrainischen mächtig. Das war bei meinem Vater nicht der Fall. Da er als Knabe infolge eines Steinwurfs eine bösartige Knochenverletzung erlitten hatte, - ich hörte ihn immer von „Knochenfraß" reden, - die eine langwierige und kostspielige Behandlung nötig machte, genoß er nur Privatunterricht, und zwar ausschließlich deutschen, wenn man von der gründlichen biblischen und talmudischen Ausbildung absieht, die, wie es üblich war, in der frühesten Kindheit begann. Meine Großmutter träumte davon, aus meinem Vater einen Rabbi zu machen, wozu er wahrhaftig besser geeignet gewesen wäre als zum Kaufmann und zum Kleinindustriellen. Als er selbst im Laufe seines späteren Lebens wieder orthodox wurde, kehrte er zu seinen früheren Talmudstudien zurück und war so bibelfest, daß er mir jede Stelle aus der Schrift, um die ich ihn befragte, auswendig hebräisch zitieren konnte. Heute, nach beinahe fünfzig Jahren, sehe ich das großväterliche Paar vor mir, wie sie auf der altmodischen Photographie, die auf der Kredenz in unserem Speisezimmer stand, festgehalten war: Den Großvater, mit dem weichen, langen, schneeweißen Bart, der die Brust bedeckte, mit leise lächelndem Mund, die Haut unter den kleinen Augen ein wenig straff über die Backenknochen gespannt, im doppelreihigen, schwarzen, kurzen Rock, aber die Hauskappe auf dem Kopf, wie es dem Juden, der nie nachts barhaupt gehen darf, geziemt; die energische, kerzengerade Großmutter, deren Gesicht noch immer Spuren einstiger Schönheit verriet, die Perücke, den „Scheitel", über dem geschorenen Haar, über der dunklen Bluse ein kokettes weißes Jabot. Meine Mutter - sie starb, 92 Jahr alt, 1963 in Boston - kam ebenfalls mit sechzehn Jahren aus dem Osten nach Wien; freilich war das ein anderer Osten als der meines Vaters. Meine Mutter ist in Lipnik, einem Teil Bialas, geboren. Biala ist durch eine Brücke mit seiner Schwesterstadt, dem schlesischen Bielitz verbunden, und lag damals an der äußersten Westgrenze des Kronlandes Galizien. Beide Städte waren intensiv und nationalistisch deutsch. Dieses betonte Deutschtum affizierte im 19. Jahrhundert, genau so wie in Böhmen und Mähren, auch die Judenschaft der Schwesternstädte. Meine Mutter wuchs demnach in einer Umgebung auf, wo das Judentum mehr peri-

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

pher, nicht mehr stark volkhaft gebunden war. Bielitz-Biala waren keine „Städtel" mehr; abgesehen davon, daß sie Zentren der Tucherzeugung der Monarchie darstellten, waren sie Städte, die sich ihrer Kultur und ihrer besonders guten Schulen rühmten, und man behauptete dort, daß sie die Wiener bei weitem überträfen. Daß das Elternhaus meiner Mutter orthodox war, verstand sich von selbst, doch handelte es sich um eine Orthodoxie ohne jeglichen Fanatismus. Meine väterliche Großmutter fragte meine Mutter, die sie im Hause einer Freundin in Wien kennen gelernt und für ihren Sohn zur Frau ausgesucht hatte, zunächst, ob sie einen koscheren Haushalt führen würde, worauf mein Vater damals anscheinend wenig Wert legte. Meine Mutter, die nach dem Tode der ihren dem Haushalt für ihren Vater und die zwei Geschwister, die noch in Wien geblieben waren, vorstand, bejahte das; das sei selbstverständlich und sei zu ihrer Gewohnheit geworden. Die Mutter meiner Mutter war einer tuberkulösen Infektion erlegen, nachdem die Familie nach Wien, und zwar zuerst in die Leopoldstadt, in das Wiener jüdische Ghetto, übersiedelt war. Sie war früh völlig verwaist gewesen und wurde reichen, schon damals stark polonisierten Verwandten, von denen später einer als Mitglied des Polenklubs im österreichischen Parlament saß, zur Erziehung übergeben. Sie wurde dort sehr ausgenützt und meist zur Hausarbeit verwendet, worunter sie sehr litt, weil sie ebenso begabt wie ehrgeizig war. Ich weiß das alles nur aus Berichten, denn sie war lange vor meiner Geburt gestorben. Den Mangel an eigener Erziehung wollte sie an ihren Kindern wettmachen. Das gelang ihr aber nur zum Teil, da keiner der Söhne es bis zur Reifeprüfung brachte; sie wurden alle tüchtige Kaufleute, die zu Ansehen und Wohlstand gelangten. Der Älteste betrieb eine führende Kunststickerei in Wien, der Zweitälteste besaß eine gut gehende Strumpffabrik in Chemnitz in Sachsen und der Jüngste wanderte bald von Fiume, wo er in einer Bank tätig war, nach Antwerpen aus und verlegte sich sehr erfolgreich auf den Holzhandel. Der älteste Onkel, Leopold, ein zurückhaltender, bescheidener und gutherziger Mensch, war von der Großmutter zum Rabbiner bestimmt gewesen. Das scheint eine Tradition in der Familie gewesen zu sein, denn auch aus mir und meinen Brüdern, freilich mit dem gleichen Mißerfolg, wollten meine Eltern Rabbiner machen. Der Vater meiner Mutter kam aus einem westgalizischen Städtchen aus bescheidenen Verhältnissen. Bemerkenswert war, daß er dennoch schon als Knabe deutsch schreiben und lesen gelernt hatte und sich schon in frühester Jugend in Czernowitz als Schreiber sein Brot verdiente. In Bielitz-Biala widmete er sich dem Getreidehandel. Er hatte große Speicher, in die der Weizen aus Kongreßpolen, damals noch in

Wagen, von schweren Pferden gezogen, geliefert wurde. Als dieser Handel unter ungarischem Druck durch hohe Prohibitivzölle lahmgelegt wurde, konnte er sich nicht umstellen und legte von seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr an die Hände in den Schoß und ließ sich von seinen Söhnen erhalten, was diesen bei seiner spartanischen Lebensweise und seiner äußersten Anspruchslosigkeit nicht schwer fiel. Er war ungemein adrett, seine Anzüge waren immer peinlich sauber gebürstet und er putzte sich seine Schuhe an jedem Morgen selber, weil kein Mädchen den Spiegelglanz, den er erzielte, zustande brachte. Der wortkarge, sehr phlegmatische Mann mit dem grauen Spitzbärtchen und dem gutmütigen Lachen gehört zum Bild meiner Kindheit. Merkwürdigerweise mußte er, obwohl er selbst nicht arbeitete, immer Betrieb um sich sehen; das wurde ihm ermöglicht, da er zuerst im Engrosgeschäft des Schwiegervaters seines ältesten Sohnes und dann im Parfumerieladen seines Schwiegersohnes in wohlbehaglicher Gemächlichkeit auf seinem Stuhl saß, seine kurze Pfeife rauchte und sich an der Tätigkeit der anderen erfreute. Ich habe ihn in meinem Gedicht „Großväter" verewigt. Dort führte er noch immer den sechsjährigen Knaben die alte Reiterkaseme in der Josefstadt entlang, - heute ist dort das Kasernengrundviertel rund um den Hamerlingplatz durch die Horianigasse in die Laudongasse zum Religionsunterricht, wo uns der schwarzbärtige, gestrenge Lehrer Wiesner die hebräischen Buchstaben beibrachte und uns die Welt der Bibel in kindlicher Weise erschloß. Ich war auf dem Weg zur Religionsstunde schwer von den Kasernentoren wegzubringen und sah fasziniert dem Fußexerzieren der verschiedenen Kavallerieeinheiten zu. Eine jüdische Hebamme, Madame Brill, eine dicke, behäbige, Ruhe und Vertrauen atmende Frau, brachte mich zur Welt wie nachher auch alle meine Geschwister und die meisten jüdischen Kinder des Viertels. Auch meiner Nichte half sie ans Licht der Welt, da meine Mutter, ihren Willen bei meiner Schwester durchsetzte, sich dieser Hebamme zu bedienen, als man längst schon Sanatorien und Gebäranstalten aufsuchte. Mein Vater betrieb im alten Adlerhof, schräg gegenüber meinem Geburtshaus, eine Erzeugung von Kinder- und Hausschuhen. Er hatte seine Vorkenntnisse in dieser Branche nach Absolvierung der Handelsschule in einer Fabrik am Neubau erworben. Daneben hatte er ein Detailgeschäft im selben Hause. Neben diesem Laden hatte sich Herr Preßburger, das Familienhaupt unserer Wohnungsnachbam, mit einem Kleidergeschäft etabliert. Ernst Waldinger, Darstellung einer jüdischen Jugend in Wien, in: Josef Fraenkel (Hg.), The Jews of Austria, London 1967, S. 259ff.

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Die Juden

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Der Stammbaum Arthur Schnitzlers weist nach Ungarn

Zu Wien in der Praterstraße, damals Jägerzeile geheißen, im dritten Stockwerk des an das Hotel Europa grenzenden Hauses, kam ich am 15. Mai 1862 zur Welt; und wenige Stunden später, mein Vater hat es mir oft erzählt, lag ich für eine Weile auf seinem Schreibtisch. Ob mir diesen für einen Säugling immerhin ungewöhnlichen Aufenthalt die Hebamme oder mein Vater selbst zugewiesen hatte, weiß ich nicht mehr; - jedenfalls gab die Tatsache ihm immer wieder Anlaß zu einer naheliegenden scherzhaften Prophezeiung meiner schriftstellerischen Laufbahn, - eine Prophezeiimg übrigens, deren Erfüllung er nur in bescheidenem Ausmaße und keineswegs in ungeteilter Freude erleben sollte. Die Familie meines Vaters war in Groß-Kanizsa, einer ungarischen Mittelstadt, zu Hause, soll ursprünglich Zimmermann geheißen und erst zu Lebzeiten meines Großvaters den Namen Schnitzler angenommen oder ihn von einer hohen Behörde zugewiesen erhalten haben. Meine Großmutter, Rosalie, war die Tochter eines gewissen David Klein aus Puszta Kovacsi im Zalaer Komitat und seiner Gattin Marie, geborener Rechnitz. Weiter vermag ich meine Abstammung väterlicherseits nicht zu verfolgen. Mein Großvater, Tischler wie angeblich auch seine nächsten Vorfahren, befand sich mit den Seinen zeitlebens in beschränkten, ja dürftigen Verhältnissen, und am Schluß eines Briefes, den mein Vater wenige Tage nach meiner Geburt an ihn gerichtet hatte, war der Wunsch zu lesen, daß „der Enkel dem Großvater das Glück bringen möge, das ihm bisher so unbarmherzig den Rücken gekehrt habe". Er soll des Lesens und des Schreibens unkundig, in seinem Handwerk aber beinahe ein Künstler gewesen sein . . . Im rüstigen Mannesalter, 1864, raffte ihn eine Lungenentzündung dahin, wenige Stunden nachdem er klagend ausgerufen: „So soll ich wirklich sterben, ohne meinen Enkel ein einziges Mal gesehen zu haben?" Meine Großmutter hielt sich, zur Witwe geworden, manchmal für ein paar Tage oder Wochen bei uns im Hause auf; ich erinnere mich ihrer als einer hageren, häßlichen, in grauen Lüster gekleideten Frau, über deren krankhaften Geiz man sich nach ihrer Abreise ehrfurchtslose Bemerkungen erlaubte und von der ich einmal eine silberne (selbstverständlich von meinem Vater bezahlte) Taschenuhr zum Geschenk erhielt. Am Morgen, da, wenige Jahre nach dem Tode des Gatten, die Nachricht von ihrem Hinscheiden bei uns eingetroffen war, sah ich meinen Vater, den Kopf in die Hände gestützt, in Tränen am Schreibtisch sitzen, was auf mich, der ich ihn vorher

niemals hatte weinen sehen, sonderbar, aber eigentlich nicht erschütternd wirkte. . . . Ich selbst bin ein einziges Mal, als fünf- oder sechsjähriger Knabe, für wenige Tage in die Heimatstadt meines Vaters gekommen; - ein Hof mit Hühnern, ein Bretterzaun, in dessen nächster Nähe die Eisenbahn vorbeilief, der in der Ferne verhallende Pfiff einer Lokomotive, das ist alles, was mir von jenem kurzen Aufenthalt im Gedächtnis verblieben ist. Seit wann meine Voreltern in Groß-Kanizsa, seit wann sie sich in Ungarn ansässig gemacht haben, in welchen Gegenden sie vorher umhergewandert und wo sie überall für kürzere oder längere Dauer heimisch gewesen sind, nachdem sie, wie wohl einzunehmen ist, vor zweitausend Jahren ihre Urheimat Palästina verlassen hatten, das alles ist mir vollkommen unbekannt. Sicher ist nur, daß mich weder Sehnsucht noch Heimweh jemals wieder nach Groß-Kanizsa gelockt haben; und wäre ich je zu längerem oder gar dauerndem Aufenthalt nach der Stadt verschlagen worden, in der meine Großeltern gelebt haben und in der mein Vater zur Welt kam, ich hätte mich dort gewiß wie ein Fremder, wenn nicht gar wie ein Verbannter fühlen müssen. So läge die Versuchung nahe, sich schon hier mit der fragwürdigen Auffassung auseinanderzusetzen, nach der jemand, der in einem bestimmten Land geboren, dort aufgewachsen, dort dauernd tätig ist, ein anderes Land - nicht etwa eines, in dem vor Jahrzehnten seine Eltern und Großeltern, sondern eines, wo seine Ururahnen vor Jahrtausenden zu Hause waren - nicht allein aus politischen, sozialen, ökonomischen Gründen (worüber sich immerhin diskutieren ließe), sondern auch gefühlsmäßig als seine eigentliche Heimat zu betrachten habe; doch es erschiene verfrüht, wollte ich schon hier bei einem Problem verweilen, das in der damaligen liberalen oder liberalisierenden Epoche zwar in einigen Köpfen gewiß vorhanden war, aber größere praktische Bedeutung noch nicht gewonnen hatte. Reichere und lebendigere Beziehungen als zur väterlichen Familie entwickelten sich naturgemäß zu den in Wien seßhaften Anverwandten meiner Mutter. Ihr Vater, Philipp Markbreiter, Sohn oder Enkel eines Wiener Hofjuweliers, Doktor der Medizin und Philosophie, war in früheren Jahren ein sehr gesuchter praktischer Arzt gewesen, überdies in seinen Mußestunden vortrefflicher Pianist, und er hätte es nach Bildung und Begabung in jeder Hinsicht weiter bringen oder sich zum mindesten auf gebührender Höhe halten können, wäre er nicht der Leidenschaft des Spiels von Jahr zu Jahr rettungsloser anheimgefallen. Von einer gewissen, jedenfalls ziemlich frühen Epoche seines Lebens an vergeudete er alles, was er besaß und erwarb, in der kleinen Lotterie oder in Börsenspekulationen. . . . Im ganzen habe ich seine Erscheinung als die eines meist unruhig verdrossenen, aber keineswegs unbe-

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

deutenden oder gar unvornehmen alten Mannes im Gedächtnis bewahrt. In guten Stunden stand ihm nicht nur bis in die allerletzte Lebenszeit eine gewisse weltmännische Liebenswürdigkeit, sondern auch eine überraschende Schärfe und Beweglichkeit des Geistes zu Gebote, wie er auch noch in seinen spätesten Jahren römische und griechische Klassiker auswendig zu rezitieren pflegte. Was mir an ihm ernstlich mißfiel, war eigentlich nur das mürrische Wesen, das er seiner einzigen lebenden Schwester gegenüber an den Tag legte, einem mittellosen, schwerhörigen und halb blinden alten Fräulein, dessen unverschuldete, mit Würde und Geduld getragene Gebrechen und kümmerliches Altjungfemlos er das bedauernswerte Wesen in einer mir unbegreiflichen Weise, wie ein an ihm verübtes Unrecht, durch üble Laune gewissermaßen entgelten ließ. Von ihren Neffen und Nichten aber, denen sie früher Unterricht im Klavierspiel und in fremden Sprachen erteilt hatte, wurde die „Tante Marie" mit herzlicher Dankbarkeit verehrt, auch die nachwachsende Generation hing mit Liebe an dem gütigen, stillen Geschöpf, und so geschah es oft, daß wir Kinder sie mit der Mama auch im Sommer auf dem Lande besuchten, meist in Mödling, wohin sie sich später gänzlich zurückzog und wo wir jederzeit gewiß sein konnten, sie in einer beschränkten, aber nett gehaltenen Häuslichkeit, in Gesellschaft eines Kanarienvogels, mit ihrer Starbrille über einen Leihbibliotheksband gebeugt, am Fenster anzutreffen. Bei ihr begegneten wir zuweilen auch zwei anderen zur Familie gehörigen alten Jungfern, die, sehr lang und hager die eine, die andere klein und verwachsen, schlechtweg „die Cousinen" genannt wurden, und die ich mir, da die eine nie ohne die andere auftrat, als voneinander getrennte Einzelgestalten überhaupt niemals vorzustellen versuchte. Meine Großmutter, in dem deutsch-ungarischen Städtchen Güns, nahe der niederösterreichischen Grenze, geboren, entstammte der ansehnlichen Familie Schey, die sich bis auf einen Ahnen namens Israel zurückverfolgen läßt, dessen Sohn Lipmann im Jahre 1776 starb. Dieses Lipmann Urenkel, Markus, verehelicht mit Sossei Strauß, war mein Urgroßvater, und seiner vermag ich mich noch heute als eines gelähmten, im Krankenstuhl sitzenden, auch der Sprache nicht mehr mächtigen Greises deutlich zu entsinnen. Er starb 1869, sein Bruder Josef war ihm 1849 vorangegangen, der jüngere, Philipp, als der erste baronisierte Schey, lebte bis zum Jahre 1880. Ihn sehe ich noch vor mir als einen hochgewachsenen, aufrecht behäbigen, spöttisch lächelnden, glattrasierten, mit altmodischer Vornehmheit gekleideten Mann in einem geräumigen, fast prächtigen Zimmer seiner Praterstraßenwohnung, deren bis zum Fußboden reichende Fenster durch vergoldete Gitterstäbe gegen die balkonartigen Vorsprünge gesichert waren; und es wird mir schwer, im inneren Bild seine

Arthur Schnitzler (Mitte) mit seinen Geschwistern Julius und Gisela.

imposante und etwas einschüchternde Erscheinung und die des alten geheimrätlichen Goethe auseinanderzuhalten. Die Wohlhabenheit der Familie Schey reicht weit zurück; im Beginn des vorigen (19.) Jahrhunderts wächst sie durch Tätigkeit und höchst geschickte Geldgebarung im Verkehr mit verschuldeten ungarischen Adeligen zu Reichtum an; eine teilweise Ubersiedlung in die Großstadt erfolgt, das Geschlecht verzweigt sich weiter, verschwägert sich vielfach in oft vorteilhafter Weise; Bankiers, Offiziere, Gelehrte, Landwirte gehen aus ihm hervor; auch an Originalen fehlt es nicht, in denen der Typus des jüdischen Patriarchen und des Aristokraten, des Agenten und des Kavaliers sich eigenartig vermischen; manche der jüngeren und jüngsten Sprosse unterscheiden sich von den Abkömmlingen altadeliger Geschlechter höchstens durch ein Mehr an Witz und die rasseneigentümliche Neigung zur Selbstironie; auch unter den Frauen und Mädchen - neben solchen, die in Aussehen und Gehaben ihren Ursprung nicht verleugnen wollen oder können - erscheint das Sportfräulein und die Modedame; und es versteht sich von selbst, daß in den Regionen, an denen ich hier, den Jahrzehnten vorauseilend, flüchtig vorüberstreife, der Snobismus, die Weltkrankheit unserer Epoche, ausnehmend günstige Entwicklungsbedingungen vorfinden mußte. Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, WienMünchen-Zürich 1968, S. 13-18. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.)

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Die Juden

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Die Familie Klaar stammt aus Galizien

Die Familie von Georg Klaar, der sich in der Emigration George Clare nannte, war im Osten der Monarchie beheimatet. Obwohl als Baruch Schapira 1864 in der galizischen Stadt Tarnow geboren, hatte er äußerlich nichts von einem osteuropäischen Juden an sich. Er glich viel eher einem amerikanischen Wirtschaftsgiganten als einem europäischen Geschäftsmann jener Zeit. Wallstreet hätte ihm gepaßt wie seine Glacehandschuhe. Das war kein reiner Zufall. Als sehr junger Mann war Bernhard in die Vereinigten Staaten ausgewandert und hatte dort den Grundstein zu seiner späteren geschäftlichen Karriere gelegt. Irgendwie stellte der junge Jude aus Galizien eine Verbindung zu einer der protestantischen Firmen in Amerika her, der Quaker Oats Company in Chicago, schon damals ein bedeutendes Unternehmen, wenn auch natürlich noch nicht der Nahrungsmittel-Gigant von heute. Gewalzter Hafer fürs liebe Vieh und Haferflocken für die Menschen waren seine Hauptprodukte in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. . . . Bernhard Schapiras scharfsinniger Verstand muß dem Hafer aber doch eine Zukunft gegeben haben und ebenso - und noch überraschender für jemanden mit seinen „koscheren" Traditionen - auch Speck und Schweinefett. Er kehrte nach Österreich zurück und ließ sich als Repräsentant für Quäker-Haferflocken und für Speck und Schweinefett Marke Harrison Brand nieder. Nachdem er sein Geschäft gegründet hatte, gründete er auch eine Familie. Er landete in den Armen der zweiundzwanzigjährigen Udel-Leie, später Adele, Immerdauer in Übereinstimmung mit den richtigen jüdischen Gebräuchen und Riten. Adele kam aus einer sehr großen Familie mit sieben Schwestern und sieben Brüdern. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Tabakhändlers. Vater Immerdauer war Lieferant für das staatliche österreichische Tabakmonopol. Ein Foto, um 1870 von einem Fotografen Blachowski in Lemberg aufgenommen, zeigt ihn zusammen mit seiner Ehefrau in der zeitlosen Tracht des orthodoxen Juden. Er trägt einen fast bis zum Boden reichenden Kaftan und ein schwarzes Jarmulke, die kleine Gebetsmütze, auf dem Kopf. Die modischen Kleider meiner Urgroßmutter spiegeln den Geschmack ihrer Zeit wider. Ihr glattes Haar unter dem kleinen Hut ist in der Mitte gescheitelt und sieht echt aus. Sie trug offenbar nicht die traditionelle Perücke der orthodoxen jüdischen Frauen. Obwohl die Klaars wie die Schapiras Juden waren und derselben sozialen Schicht angehörten, vereinigte die Heirat zwischen Ernst und Stella zwei verschiedene Elemente österreichischen Judentums. Die

Klaars waren Österreicher jüdischen Glaubens, während die Schapiras Juden waren, die in Österreich lebten. Daß Bernhard, Börsenrat und Präsidiumsmitglied der Wiener Kaufmarins-Innung, nicht jüdisch aussah, änderte daran nichts. Auch nicht die Tatsache, daß er fast der gleiche Familientyrann war wie Ludwig. Die Atmosphäre in der Wohnimg meiner Großmutter Adele trug den Stempel ihrer Persönlichkeit, und die war galizisch-jüdisch. Der Unterschied wird an den alten Fotos deutlich: Immerdauer im Kaftan und mit Seitenlocken und Herrmann mit der kerzengeraden Haltung und dem kaiserlichen Backenbart. Beide Männer gehörten derselben Generation von Juden an, beide kamen aus den östlichen Provinzen der Monarchie - aber der eine hatte den Weg der Assimilation beschritten, während der andere in der Welt der Ghettos verharrte. Obwohl also beide Urgroßväter aus denselben Gebieten der Monarchie kamen, waren ihre Ahnen unterschiedlichen historischen Erfahrungen unterworfen gewesen. Galizien fiel nach der zweiten polnischen Teilung an Österreich. Die Juden Galiziens trugen den Kaftan, die Tracht der polnischen Aristokratie, die die Aschkenasi-Juden im späten Mittelalter angenommen hatten, als sie aus Deutschland nach Polen kamen. Von ihren polnischen Gastgebern schließlich als Ausgestoßene behandelt, isolierten sie sich selbst in ihren physischen und intellektuellen Ghettos. Die Bukowina, das Land der Buchenbäume, war bis 1774 unter türkischer Herrschaft gewesen. Dann brachten es die Österreicher in ihren Besitz. Im Gegensatz zu den Aschkenasi-Juden, die vom 14. Jahrhundert an in Polen einwanderten, hatten sich die Juden in der Bukowina weit früher niedergelassen. Die ersten kamen vermutlich schon mit den römischen Legionen. Die Türken, viel grausamere, aber auch viel indolentere Herren als die Polen, machten keinen Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bewohnern der Provinz. Zwischen den periodischen Ausbrüchen von Mord, Plünderung und Raub, von denen jede Bevölkerungsgruppe ihr Teil abbekam, überließen sie die Bewohner sich selbst. Die Bukowina-Juden waren weltlicher und gebildeter im säkularen Sinne als ihre Brüder in Galizien. Zwischen den galizischen Juden und den Polen gab es eine Beziehung - nicht auf Liebe, sondern auf Haß aufgebaut, aber nichtsdestoweniger eine Beziehung. Zwischen den Türken und den Juden der Bukowina gab es nicht die geringste Beziehung. Die österreichischen Truppen, die in die Provinz einmarschierten, wurden von der gesamten Bevölkerung, einschließlich der Juden, als Befreier begrüßt, während für die Polen Galiziens die Österreicher eine Besatzungsarmee waren. Kein Wunder also, daß der Prozeß der Germanisierung, die Identifikation mit Sprache und Kultur der Befreier, bei den Bukowina-

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Juden sofort einsetzte. In Galizien blieben die polnischen Aristokraten die Herren der Juden, schalteten die eigene Kultur zwischen die Juden und die Österreicher und ließen so die Germanisierung oder Austrianisierung der Ghettos zu einem viel langsameren und schwierigeren Prozeß werden. Historische und kulturelle Faktoren schufen ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte des osteuropäischen Judentums: eine Enklave verwestlichter Juden in der östlichsten Provinz des Kaiserreichs, eine Insel westlicher Kultur, in der die Juden Träger und Verehrer der austro-deutschen Sprache, ihrer Kunst und Literatur waren. Dies erklärt, wie Herrmann mit seinem Säbel, den drei goldenen Sternen und den Sporen in meiner Ahnenreihe direkt neben den Tabakhändler Immerdauer geriet; es erklärt auch den unterschiedlichen Hintergrund der hochgebildeten und musikalischen Julie einerseits und den Adeles mit ihrem leicht jiddischen Akzent andererseits. Die Klaars und die Schapiras repräsentierten zwei unterschiedliche jüdische Welten, die schließlich doch wieder eins wurden - hinter den Toren von Auschwitz. Ernestine Schapira, meine Mutter, wurde am 13. Februar 1889 in Lemberg oder - um den polnischen Namen zu benutzen - Lwow geboren. Ihre Mutter Adele lebte damals noch bei ihren Eltern, da Bernhard geschäftlich viel auf Reisen war. Adele war bildhübsch, wenn auch etwas reichlich gepolstert. Sie besaß eine gewisse angeborene Intelligenz, den vom alten Immerdauer geerbten jüdischen Witz, aber es fehlte ihr an formaler Bildung. Orthodoxe Juden wie die Immerdauers legten den größten Wert auf die Ausbildung der Männer; Frauen brauchten nur zu wissen, wie man einen Haushalt führt. Und obwohl sie gewöhnlich auch ihre Männer führten, waren Bücher und Wissen nichts für sie. Zu eigenständigen Personen wurden sie nicht erzogen. George Clare, Das waren die Klaars. Spuren einer Familie, Berlin-Frankfurt/M-Wien 1980, S. 76 ff.

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Juden aus der Sowjetunion

Die gegenwärtig kleine jüdische Gemeinde Wiens erhielt seit den siebziger Jahren Zuwachs durch sowjetische Juden, die nach Israel auswanderten, jedoch nach einiger Zeit zurückkehren wollten. Da ihnen das nicht gestattet wurde, blieben sie in Wien. Ähnlich den orthodoxen galizischen Flüchtlingen des Ersten Weltkrieges stießen die Juden aus der Sowjetunion bei den Wiener Juden anfangs auf ein distanziertes Verhältnis. Erst allmählich konnten die Barrieren überwunden werden.

Die russischen Juden in Wien „In der Sowjetunion waren wir Juden, in Israel waren wir Russen." So charakterisiert Dr. Galibow die bisherigen Stationen in seinem Leben. Nach zwei Jahren in Israel versuchte er über Wien wieder in die UdSSR einzureisen. Nach einigen Jahren vergeblichen Bemühens, wieder in seine Heimat zurückzukehren, hat sich Dr. Galibow damit abgefunden, daß Wien vorläufig die letzte Station in seinem Leben ist. Daß damit ein gesellschaftlicher Abstieg verbunden ist, versteht sich von selbst. Aus einem ehemaligen angesehenen Chirurgen in der Sowjetunion ist ein Operationsassistent in Wien geworden. Er ist einer von cirka 3.000 (dreitausend) russischen Juden in Wien. Treffpunkt Tempelgasse, Sonntag nachmittags. Circa hundert russische Jugendliche versuchen in für sie unzulänglichen Räumlichkeiten für kurze Zeit ihre Probleme bei Schachspiel und Tischtennis zu vergessen. Daß sich trotzdem ein Großteil ihrer Gespräche um Arbeitsplatzsuche dreht, ist nicht verwunderlich. Juri erzählt: „Vor zwei Jahren habe ich die Hauptschule abgeschlossen und seit dieser Zeit bemühe ich mich um eine Lehrstelle. Da ich aber staatenlos bin, verweigert mir der Staat die Lehre. So helfe ich jetzt meinen Eltern am Gemüsestand." Einer der Leiter des Jugendzentrums drückt es drastischer aus: „Circa die Hälfte der Jugendlichen haben keine Arbeit oder keine Lehrstelle. Einige Jugendliche sind auch schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und Drogenprobleme hat es auch gegeben. Dank unseres Jugendzentrums haben wir zumindest das Problem des Rauschgiftes eindämmen können. Trotzdem sind unser größtes Problem in der Gemeinde die Jugendlichen. Für die Jungen ist es unverständlich, warum die Wiener Juden und die Kultusgemeinde so wenig für sie tun. Es wäre doch ein leichtes für einen jüdischen Geschäftsmann, einen jüdischen Lehrbuben oder ein jüdisches Lehrmädchen einzustellen. Schlomo Pinchasov kam vor acht Jahren mit seinen Eltern aus Israel. Nach der Hauptschule begann er eine Kürschnerlehre. Nebenbei besuchte er abends die Maturaschule, Schloß die Kürschnerlehre mit Auszeichnung ab und demnächst maturiert er. Von Anfang an hat er sich bemüht, mit jungen Juden in Kontakt zu treten. Er sagt: „Der erste Kontakt war schwer. Zu Hause sprachen wir nur russisch oder hebräisch; außerdem war mir die Mentalität fremd. Nach einigen Schwierigkeiten habe ich mich jetzt assimiliert und es geht mir ganz gut." Daß das Problem der Assimilation nicht nur die Schuld der Wiener Juden ist, sagt auch er: „Die meisten ziehen sich nach den ersten Kontaktversuchen wieder in ihr Ghetto zurück. Andere versuchen gar nicht mit anderen Juden in Kontakt zu treten." Das ist eines der Proble-

45

Die Juden

me der russischen Juden unter sich. Viele Wiener Juden wissen gar nicht, daß die sogenannten russischen Juden in den allermeisten Fällen gar keine Russen sind. Der Großteil der „russischen" Juden in Wien stammt aus Buchara. Es gibt außerdem noch Georgier und Gorski. Diese drei Gruppen sind sephardische Juden. Außerdem gibt es einige aschkenasische Juden aus den großen Städten des europäischen Teils der Sowjetunion. Was aber alle vier Volksgruppen gemeinsam haben, ist ihre für unsere Verhältnisse tiefe Religiosität. Der Umstand, daß die Russen verschiedenen Volksgruppen angehören und untereinander wenig Kontakt haben, macht die Arbeit für die Kultusgemeinde noch schwieriger. „Wir wissen von ca. 1.800 ansässigen russischen Juden. Wir schätzen aber, daß es insgesamt über dreitausend gibt," meint Paul Grosz. „Die meisten sind Marktfahrer oder Händler und arbeiten durchschnittlich zehn bis fünfzehn Stunden am Tag. Ihre größte Sorge gilt ihren Kindern. Und hier wollen wir den Hebel ansetzen. Besonders bei den bucharischen Juden. Da sie am besten organisiert sind, versuchen wir aus der Tempelgasse ein halbwegs akzeptables Kommunikationszentrum zu machen. Mit Bethaus, Jugendzimmern, usw. Dabei ist das Zentrum in der Tempelgasse nur ein Treffpunkt für die Bucharen, das die anderen meiden." Die Gemeinde (Wien) vom 11. April 1984 - 9. Nissan 5744, S.4f.

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Berufe jüdischer Bräutigame

Berufe jüdischer Bräutigame, Wien 1870-1910 (in %) Beruf

1880

1870 (N-72)

Beamte freie Berufe Industrielle Händler Angestellte Handwerker Arbeiter

(N-107)

1900

1890

1910

(N=155)

(N-206)

(N-261)

2,9 13,1 3,4 33,0 29,6 13,1 4,9

3,8 11,1 3,4 33,3 35,2 8,0 5,0

100,0

100,0

2,8 11,1 5,6 55,6 2,8 19,4 2,8

1,9 57,0 15,0 15,9 2,8

1,9 11,6 3,9 45,8 22,6 10,3 3,9

100,0

100,0

100,0

-

7,5

Marsha L Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914, Wien-KölnGraz, S. 59.

44

Stellung von Juden und Nichtjuden nach Berufsklassen, Wien 1910

Land- und Forstwirtschaft

01,%

Industrie u n d Gewerbe

28,3%

Handel u n d Verkehr öfentlicher u n d Militärdienst; freie Berufe; Berufslose

27,6% % 0

10

20

30

40

50

Nichtjuden

Österreichische Statistik, Wien 1914, Neue Folge, Band 3, Heft 2, S. 132.

45

Stellung von Juden und Nichtjuden nach Berufspositionen, Wien 1910

Selbständige u n d Pächter

Arbeiter u n d Taglöhner

27,9%

46,8%

10,5»

26,2-4

47,1%

21,2%

1,3%

Lehrlinge Hausdienerschaft ; Dienstboten

Mithelfende Familienmitglieder

1,0%

1,5%

1,0%

% 0

10

20

30

fl Nichtjuden

Bucharisches Bethaus

40

50

40

30

20 Juden

10

0 % I

I

Osterreichische Statistik, Wien 1914, Neue Folge, Band 3, Heft 2, S. 132.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

schen Staatsbürgerschaft bei Männern das erreichte 30. Lebensjahr, bei Frauen das 20., weiters Unbescholtenheit, tadellose politische Haltung und das Freisein von ekelerregenden Krankheiten. Man hatte offensichtlich Angst, daß die weit herumkommenden Hausierer staatsfeindliche Informationen verbreiten.

Wo die Hausierer herkamen Das Hausieren wurde als das Feilbieten im Umherziehen von Ort zu Ort, außer Märkten, und Anbieten von Waren von Haus zu Haus definiert. Die Bewilligung für die Ausübung des Hausierhandels wurde im Wohnort ausgestellt und als Voraussetzung galt neben der österreichi-

Die Herkunftsstatistik der in Wien tätigen Hausierer zeigt einen hohen Anteil ungarischer undgalizischer Hausierer. Viele von ihnen waren jüdische Hausierer,34 An der Spitze der Waren, mit denen hausiert wurde, standen Galanteriewaren, Kurz- und Schnittwaren.

Heimatberechtigung der in Wien tätigen Hausierer 1857-1913 Jahr

1877 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1913

Heimat der Hausierer Wien

NiederÖsterreich

Krain

Böhmen

Schlesien Mähren

Galizien

andere Krönländer

Ungarn

Bosnien

175 179 193 151 244 249 230 299 252

37 38 52 31 45 41 14 11 9

113 126 110 56 12 37 83 25

177 191 214 133 131 177 85 53 58

109 122 131 78 134 95 49 36 27

158 159 301 270 503 458 421 313 326

55 43 45 55 23 146 165 201 70

185 220 445 263 591 740 535 103 155

30 102 12

Ferdinand Tremel, Der Binnenhandel und seine Organisation, in: Adam Wandruschka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Wien 1973, Band 1, S. 370.

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Der H a n d l e

Der jüdische Hausierer ioar im Straßenbild Wiens um die Jahrhundertwende eine alltägliche Erscheinung. Handleh, wandernder jüdischer Hausierer. Er stammte meist aus dem Nordosten der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie: Galizien oder die Bukowina pflegte seine Heimat zu sein. Mit einem Aktionskapital von ein paar Gulden kam er, meist jiddisch sprechend, mit seiner Familie nach Wien und wußte es durch angeborenes Geschick, Sparsamkeit, unverdrossene Tatkraft und zähen Fleiß dahin zu bringen, daß er sich oft schon nach wenigen Jahren einen kleinen Geschäftsladen einrichten konnte, den er mit gleicher Emsigkeit allmählich vergrößerte. Er trug bisweilen einen Sack, häufiger aber ein dunkelfarbiges großes Tuch unter dem Arm, das er nach größeren Käufen als Bündel („Binkl") rucksackartig auf den Rücken nahm: daher bezeichnete man ihn auch als „Binkljuden". Dieser Kleingewerbetreibende, der Altkram (Hasenhäute,

Flaschen, Fetzen, Gerümpel aller Art) einkaufte und damit ganze Industrien zu beliefern wußte, betrat die Hofräume der Wohnhäuser, rief mit gellender Stimme sein „Hain, Hain" oder „Haindleh" oder „Haindleh-jidd", blickte dann forschend zu den Hofraumfenstern empor und verweilte eine kurze Zeit, um den Erfolg seiner Rufe abzuwarten. Auf Winke oder Rufe fand sich der Handleh gewöhnlich sehr rasch im richtigen Teile des Hauses ein, und nun begann ein wortreiches Feilschen um den Preis der Altware. Vielmals wandte er sich zum Fortgehen, um damit anzudeuten, daß er den verlangten Preis für zu hoch befinde, aber er kehrte immer wieder um und machte neue Angebote. Erst wenn er sich unter dezidiertem Kopfschütteln zum endgültigen Verlassen des Hauses anschickte, wußte die Verkäuferin (meist war es die Hausfrau oder das Dienstmädchen), daß nunmehr die Reihe an ihr war, mit sich reden zu lassen. - Unter Hinweis auf seinen Sack pflegte man schlimme Kinder mit der Drohung zu schrecken, der Handleh werde sie mitnehmen (wie etwa der buttentragende „Krampus"). Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch, Wien 1984, S. 75 f.

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Die Juden

Handl£h: „Was wollen Sie dafür?"

Bildquelle: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.Wiener Bilder vom 18. November 1900, S. 5,8 f.

Die Wiener Judengasse zur Jahrhundertwende Aus der Welt jener Kreise, in denen man die, von den Herrschaften abgelegten Kleider (und andere Gebrauchsgegenstände) zum Gegenstand eines ausgebreiteten und nicht unwichtigen Handelsverkehr

macht, führen uns die . . . Genrebilder, welche unser Specialphotograph in den Mittelpunkt dieser Welt der Judengasse . . . - aufgenommen hat. Wir sehen die traditionellen Händler..., die Juden in ihrem wie das alte Ghetto abgeschlossenem Gebiete der Judengasse und deren Umgebimg. Dort laufen die Fäden des Verkehrs zusammen, der sich durch die von

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Haus zu Haus wandernden Hausirjuden und Einkäufer über alle Bezirke Wiens erstreckt und nach entsprechender Behandlung durch den Schneider wandern die aus allen Bezirken stammenden, abgelegten Kleider wieder in die Welt hinaus. Der Handel mit denselben hat einen ganz bedeutenden Umfang, und die zahlreichen Läden in der Judengasse, der Ruprechtsstiege, der Sterngasse sehen Tag um Tag Käufer und Verkäufer in ihren dunklen Räumen. Wiener Bilder vom 18. November 1900,

S.5,8f.

Im 19. Jahrhundert waren jüdische Unternehmer in den ihnen traditionell zugeordneten Bereichen des Finanz- und Handelskapitals innovativ tätig. Vielfach früher als andere erkannten sie die Möglichkeiten, die sich in der entwickelnden kapitalistischen Industriegesellschaft anboten. Exemplarisch sei hier das auch heute noch unter diesem Namen bekannte Wiener Großkaufltaus Gerngroß erwähnt. Für Antisemiten wurden solche Warenhäuser zum Hauptangriffspunkt: schlechte „Ramsch"ware, unseriöse Reklamemethoden, Verlockung zum Diebstahl, Brandgefahr usw. waren deren Argumente. Die antisemitische Kleiderinnung inszenierte 1905 einen Gerngroß-Boykott, ein Tränengasattentat der Nationalsozialisten verursachte 1932 im Kaufhaus Gerngroß Panik.35 50

Jüdische Unternehmer

Gemgross Alfred (Abraham) Gerngroß, gebürtig aus Forth in Bayern, kam als „Kaufmann aus Frankfurt am Main"

nach Wien und gründete hier im Jahre 1881 gemeinsam mit seinem Bruder Hugo ein kleines Tuchgeschäft. Die Entwicklung in der Mariahilfer Straße zur größten Geschäftsstraße Wiens kam ihm sehr zugute, und mit dem amtlich genehmigten „Betriebsgegenstand ,Gemischtwarenhander " entwickelte es sich rasch zum größten Warenhaus Wiens. Die Firma kaufte nacheinander 13 Häuser in Wien VII, nämlich Mariahilfer Straße 38, 40, 42, 44, 46 und 48, Lindengasse 17, 19 und 21, Kirchengasse 2, 4 und 6 sowie Münzwardeingasse 9 und erlangte dadurch einen großen Häuserkomplex für die Ausbreitung des Warenhauses. Neben seiner Wohnung in Wien 7, Zieglergasse 2, besaß Alfred Gerngross eine Villa in Hadersdorf. Das Heimatrecht hatte er sich jedoch in Weikersdorf (bei Baden) gesichert. Seiner Ehe mit Emma, geb. Sichel, entstammten vier Söhne und vier Töchter. Mit zweien, Albert (geb. 27.4.1874) und Robert, schlossen Alfred und Hugo Gerngross einen Gesellschaftsvertrag. Als der dreiundsechzigjährige Alfred Gerngross am 7. 1. 1908 in seiner Wiener Wohnung starb, hinterließ er ein Vermögen von mehr als vier Millionen Kronen, ein Betrag, in dem die Mitgift für seine zwei bereits verheirateten Töchter, Rosa Bein, Kaufmannsgattin in Berlin, und Minna Reichl, Fabrikantensgattin in Wien, von je 250.000 Kronen nicht Inbegriffen ist. Ihn beerbten seine Frau, die schon genannten Kinder sowie die Söhne Paul (12. 2.1880-1.12.1954) und Dr. Otto (geb. 26. 2.1882), Universitätsprofessor der technischen Chemie, und die Töchter Lili (Elisabeth, geb. 20. 5. 1889) und Margarethe (geb. 12. 4. 1891). Die „Firma Gerngroß" wurde am 22.12.1911 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. R. Granichstaedten-Cerva/J. Mentschl/G. Otruba, Altösterreichische Unternehmer. 110 Lebensbilder, Wien 1968, S. 40f.

1.5. Die Ungarn Bereits im Mittelalter studierten ungarische Studenten an der Wiener Universität. Während der türkischen Herrschaft über Mittelungarn (1526 Eroberung Budas) übersiedelten ungarische Zentralämter nach Wien und wurden erst wieder Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverlegt.36 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Wien die einzig bedeutende ungarische Kolonie außerhalb Ungarns. Der Statistiker Czoernig schätzte die Zahl der „Magyaren" in Wien 1857 auf 10.000 Personen und hob die magyarischen Marktleute hervor37 (Quelle 51). Schnüre-, Knöpfe- und die eine bestimmte Stiefelform anfertigenden Zischmenmacher waren von Ungarn in Wien betriebene Gewerbe.38 Die Zahl der Zuwanderer aus den Ländern der hei-

ligen ungarischen Krone stieg in der Folge rasch an und erreichte 1910 mit 155.519 dort Heimatberechtigten ihren Höhepunkt. Da Ungarn jedoch ein Vielvölkerstaat war - es umfaßte die Slowakei, das Burgenland, Kroatien, Teile des gegenwärtigen Rumäniens etc. - , ist eine ethnische Zuordnung der Zuwanderer nur mit statistischen Hilfsmitteln möglich. Bei den Volkszählungen 1900 und 1910 tauschten Österreich und Ungarn die Zählkarten aus, und die in ungarischen Statistiken veröffentlichten Daten ermöglichen eine Annäherung an die ethnische Zusammensetzung der Zuwanderer. Hiezu wurde eine Methode übernommen, die der Statistiker Wilhelm Hecke anwandte: Die Zahl der Migranten wird in Beziehung gesetzt mit der Muttersprachenverteilung im Her-

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Die Ungarn

kunftsbezirk. Demnach waren 1900 insgesamt 54.958 Personen in Bezirken mit mehrheitlich ungarischer Muttersprache heimatberechtigt, 1910 waren es 65.290 der in Wien anwesenden Personen38 (Quelle 52). Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die konfessionelle Verteilung der Migranten aus den ungarischen Ländern: Etwa ein Drittel von ihnen waren Juden. 1880 hatten von 54.128 in Wien Anwesenden, in den Ländern der heiligen ungarischen Krone Geborenen 20.145 (37,2%) mosaisches Bekenntnis, 1900 von 140.280 in den ungarischen Ländern Heimatberechtigten 45.055 (32,1 Dies und der Anteil slowakischer Migranten erklären den hohen Prozentsatz der im Handel Tätigen (1880: 24,3%) bzw. der Selbständigen (1910: 30,3%) unter den transleithanischen Zuwanderern41 (Quelle 53). Nach dem Scheitern der bürgerlichen und proletarischen Revolution 1919 mußten viele Ungarn vor dem einsetzenden Terror des Horthy-Regimes flüchten. Manche Protagonisten der Revolution gelangten unter abenteuerlichen Umständen nach Wien. Unter den Flüchtlingen befanden sich etliche Künstler, die Wien anfangs der zwanziger Jahre zum Zentrum ungarischer Kultur-Avantgarde machten.42 1923 nannten 10.992 Personen Ungarisch ihre Umgangssprache; es waren 20.756 ungarische Staatsbürger in Wien. Eine große Zahl der Flüchtlinge verließ Österreich im nächsten Jahrzehnt. 1934 waren nur mehr 9.598 ungarische Staatsbürger in Wien, die Zahl der Personen mit ungarischer Umgangssprache verringerte sich auf 4.844. Zwischen 1919 und 1936 wurden in Wien 9.719 ungarische Staatsbürger eingebürgert43 (Quelle 54). Der nächste nennenswerte Zuwachs erfolgte nach den Ereignissen im Oktober und November 1956: 180.432 ungarische Staatsbürger flüchteten nach Österreich.44 Um diesen Ansturm bewältigen zu können, wurden das frühere Erziehungslager Traiskirchen und ehemalige Kasernen adaptiert. Die Aufnahme war in der Stimmung des Kalten Krieges und des Antikommunismus herzlich. 8.000 Flüchtlinge kehrten in ihre Heimat zurück, 18.000 blieben in Österreich, der Großteil jedoch fand in anderen Ländern Asyl. Laut Statistischem Jahrbuch der Stadt Wien waren 1956 11.926 ungarische Staatsbürger und 37.920 „Ungarnflüchtlinge" in Wien, 1957 fiel die Zahl bereits auf 7.235 ungarische Staatsbürger. Auch nach 1956 riß der Zustrom ungarischer Flüchtlinge nach Wien nie ab.45 1946 bis 1987 wurden in Wien 8.500 ungarische Staatsbürger eingebürgert (Quellen 55, 56). Vertreter der ungarischen Minderheit schätzen die Zahl der Ungarn in Wien inklusive der zweiten Generation auf 25.000 bis 50.000 Personen ein. 1981 erwiesen sich 5.683 Ungarisch Sprechende als größte fremdsprachige Gruppe mit österreichischer Staatsbürgerschaft in Wien. Von weiteren 2.390 ungarisch-

sprachigen Ausländern hatten 868 ungarische und 857 jugoslawische Staatsbürgerschaft.4® Die kontinuierliche Zuwanderung als desintegrativer Faktor spiegelt sich in der Berufsstatistik wider: Trotz höherem Bildungsniveau der Personen mit ungarischer Umgangssprache in Wien war 1981 der Anteil von Arbeitern und Selbständigen höher, der Anteil von Angestellten und Beamten niedriger als vergleichsweise bei den österreichischen Staatsbürgern 47 Mit dem Aufblühen des ungarischen Konsumtourismus etablierten sich im Wien der achtziger Jahre beiderseits der Mariahilfer Straße viele ungarische Geschäfte, besonders in der Lindengasse, Kirchengasse und Barnabitengasse.

Herkunft und Berufstätigkeit der Ungarn in Wien zur Zeit der Monarchie, Quellen 51-53

51

Ungarische Markt- und Fuhrleute

In der Monarchie bildeten sie einen Bestandteil des Wiener Stadtbildes, wie hier am Naschmarkt vor dem Freihaus.

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Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 33.

52

Die Anzahl der Slowaken und Ungarn war umstritten

Für nationalistisch geprägte Literatur über die ethnische Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung war die Zahl der in österreichischen Statistiken nur global erfaßten Slowaken und Ungarn unbekannt und umstritten. Der deutschnationale Statistiker Wilhelm Winkler schätzte für das Jahr 1910 auf30.000 Slowaken* Die Volkszählungsauswertung in ungarischen Statistiken wurde übersehen.

50

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

In Wien Anwesende mit ungar. Heimatberechtigung nach der mehrheitlichen Muttersprache ihrer Heimatbezirke, 1900 in den Heimatbezirken gesprochene Muttersprache

Anwesende, in den ungarischen Ländern heimatberechtigte Personen nach Herkunftsbezirken, in denen mehrheitlich folgende Muttersprache gesprochen wurde

Ungarisch

Slovakisch

Deutsch

Rumänisch

Serbisch

Kroatisch

90% und mehr 4.067 70% bis 90% 17.348 50% bis 70% 16.447 unter 50%, jedoch relative Mehrheit im Bezirk 17.096

4.377 18.774 19.745

_

_

_

_

15.177

1.549 1.700

150

1.837 606

_

593

2.127

3.087

295

567

42.896

15.770

5.376

3.237

3.089

567

insgesamt aus Bezirken mit mehrheitlicher Muttersprache 54.958

-

-

Ruthenisch

insgesamt

-

129.055 1

inkl. 154 aus Fiume und 3.000 unbekannt. Magyar Statisitikai Közlemenyek, Budapest 1907, Uj Sorozat, Band 5, S. 26 ff, 204 ff

1

53

In den Ländern der Ungarischen Krone geboren

54

Erwerbstätige und Angehörige nach Berufsgruppen in Wien 1880 Berufsgruppe

Gesamtbevölkerung Wiens

In Wien Anwesende, in den Ländern der ungarischen Krone Geborene

absolut

%

absolut

%

Urproduktion 4.444 Industrie und Gewerbe 282.821 Handel 96.813 42.257 Verkehr Dienstleistungen 212.925 von eigenen Mitteln Lebende 33.373 von Pensionen, Unterstützungen Lebende, in Berußvorbereitung Begriffene, Personen ohne Berufsangabe 32.123

0,6

439

0,8

40,1 13,8 6,0 30,2

14.820 13.144 2.253 16.120

27,4 24,3 4,2 29,8

4,7

3.910

7,2

4,6

3.442

6,3

insgesamt

100,0

100,0

Erwerbstätige Angehörige

407.284 297.472

57,8 42,2

36.613 17.515

67,6 32,4

insgesamt

704.756

100,0

54.128

100,0

Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1887, Band 3, S. 238f.

Die Ungarn im Wien der Ersten Republik, Quelle 54 Nach dem Ersten Weltkrieg waren die ungarischen Emigranten in Wien sagenumwoben und von den konservativen Medien wegen ihrer Teilnahme an der bürgerlichen bzw. proletarischen Revolution angefeindet.

Ungarische Emigranten der Zwischenkriegszeit

Alexander Gombossy, Budapest in Wien. Man kennt in Wien zwei Arten von Ungarn: die Repräsentanten des extremen Kapitalismus, die ungarischen Schieber, und die Repräsentanten des extremen Sozialismus, die ungarischen Kommunisten. Man kann nicht behaupten, daß diese zwei Menschengattungen besonders zur Volkstümlichkeit und Beliebtheit Ungarns beigetragen hätten. Nichtsdestoweniger öffnet sich vor dem ungarischen Schieber Tür und Tor . . . So antipathisch diese Sippschaft ist: wenn man sich nicht von Gefühls- oder Geschmacksmomenten leiten läßt, kann man vielleicht zugeben, daß durch die Schieberei mannigfache Waren, allerhand fremde und gute Valuten dem darbenden, verarmten Wien zugeführt wurden. Ihre Bestellungen, ihr Aufwand kommen schließlich und endlich der Bevölkerung zugute. Sie haben das Geld ins Rollen gebracht und in der Epoche des Ersatzes eine Art Ersatzindustrie geschaffen... Die hier in Wien wohnenden Kommunisten von vorgestern sind zum Teil die einst Mitgerissenen des Systems und nun die Mitgefangenen. Arme Professoren, Volksschullehrer, schwärmerische Juristen, kleine närrische Schriftsteller, unglückliche Mediziner, die alle irgendwie für eine Zeit vom Größenwahn befallen waren und die diese Zeit des Wahns wohl zu Unrecht mit der Buße ihrer ganzen Zukunft zu bezahlen haben . . . Die meisten leitenden Geister jener unseligen Zeit haben sich von kommunistischen zu unabhängigen Sozialisten entwickelt. So vor allem der oberste Heerführer der Roten Armee, der witzige und kluge Wilhelm Böhm, der in der letzten Zeit des Kommunismus als der Abgesandte der ungarischen Sowjetrepublik eine bekannte Figur war. Der „Triumphator" und Botschafter hat hier eine Zeitlang als Schreibmaschinenverkäufer sein Dasein gefristet.

51

Die Ungarn

Nun ist er wieder der alte Kämpfer geworden. Doch er kämpft gegen den Kommunismus. Zu diesem Kreis gehört auch Sigismund Kunfi, ein ausgezeichneter Redner und temperamentvoller Publizist, dem allerdings die Gabe der Mitteltöne versagt ist, . . . Heute ist der Mann unabhängiger Sozialist und schrieb für seine aussichtslose Zeitschrift, so lange sie existierte, aussichtslose Aufsätze. Die Zeitschrift hat nun aufgehört zu bestehen. Kunfi ist der Berichterstatter verschiedener österreichischer und ausländischer Blätter für imgarische Angelegenheiten geworden. Der Aermste hat sich nach rechts und links zu verteidigen. Seine Partei dürfte wohl seine Stammtischgesellschaft bilden . . . Der bekannte Rechtssozialist und Redakteur Jakob Weltner, einer der volkstümlichsten Arbeiterführer, will nichts mehr von Politik wissen. Er betreibt mit emsigen Fleiß einen kleinen Briefmarkenhandel, um seine Familie zu erhalten... Neues Wiener Tagblatt vom 26. Mai 1926, S. 2 f.

55

Ungarische Flüchtlinge

Flüchtlinge aus Ungarn überschreiten die ungarisch-österreichische Grenze bei Klingenbach. Bildarchiv der AZ.

1956 wurden die ungarischen Flüchtlinge von der österreichischen Bevölkerung herzlich und unter großer Anteilnahme aufgenommen. Die Haltung Österreichs und der Österreicher blieb den Ungarn in äußerst positiver Erinnerung.

56

Enttäuschte Gäste

In den Jahren nach 1956 wurde es immer schwieriger, für die noch nicht vermittelten ungarischen Flüchtlinge Einwanderungsländer zu finden. Ein Teil der Flüchtlinge hatte bis zum Ende derfünfziger Jahre Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Ladislaus Rosdy, Enttäuschte Gäste - enttäuschte Gastgeber. Flüchtlinge der Budapester Oktoberrevolution des Jahres 1956, zumindestens jene von ihnen, die bis heute noch nicht einmal den äußeren Umständen nach in ihrer neuen Umgebung Wurzel fassen konnten, beschäftigen die Öffentlichkeit wieder in erhöhtem Maße. Was zunächst die letztere betrifft: sie erfährt von Zwischenfällen aus den Zeitungen und nimmt die dort abgedruckten Kommentare zur Kenntnis, Kommentare, die bis heute ebenso oberflächlich und pauschal ungerecht sein können wie vor nicht ganz zwei Jahren, als sie in jedem Flüchtling den „Helden" sehen wollten, der auf den Straßen von Budapest „gekämpft" hatte. Auf diese Weise erfährt die Öffentlichkeit nichts oder herzlich wenig von den echten Problemen um die Flüchtlinge... Es ist eine Tatsache, daß etwa 30 Prozent der Arbeitsfähigen keinen Arbeitsplatz gefunden haben, obwohl es sich dabei größtenteils um Facharbeiter handelt. So gut wie alle Ungarn, die man über die Ursachen fragt, sagen, daß die österreichischen Firmen prinzipiell keine Ungarn aufnehmen. Aber auch die Einwanderungsbedingungen, besonders in die Vereinigten Staaten, wurden erschwert. Die Furche vom 6. September 1958, S. 4 f.

52

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.6. Die Italiener Die italienische Kolonie Wiens blickt auf eine lange Vergangenheit zurück. Seit dem 16. Jahrhundert wurden italienische Sänger, Musiker und Tänzer für den Hof engagiert, italienische Bauarbeiter zum Bau von Befestigungsanlagen, Schlössern und Kirchen geholt. Im 17. und 18. Jahrhundert waren Italiener die Träger der Hochkultur: Hof, Oper und Theater standen unter ihrem Einfluß. Zur Zeit Josef II. befeinden sich cirka 7.000 Italiener in Wien. Außer Künstlern waren noch italienische Hofbeamte und kaiserliche Niederläger in Wien, diese Kaufleute stammten zumeist aus der Lombardei, Venetien und der italienischen Schweiz. Als Gruppe, die in einer Berufssparte am längsten ihre ethnische Dominanz und Identität bewahren konnte, sind die italienischen Rauchfangkehrer zu bezeichnen. Sie majorisierten dieses Gewerbe von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert (Quellen 57, 58). Der Statistiker Czoernig schätzte, daß sich 1857 10.000 italienische Handelsleute und friaulische Bauarbeiter in Wien befanden. In den Statistiken nach 1857 scheint die Zahl der Italiener in Wien gering, die vielen italienischen Saisonarbeiter wurden wegen der Erhebung am Jahresende nicht erfaßt. 1900 waren 2.506 italienische Staatsbürger in Wien, und 1.368 in Cisleithanien beheimatete Personen gaben Italienisch als Umgangssprache an. 1909 arbeiteten 26.247 Wanderarbeiter mit italienischer Staatsbürgerschaft in Österreich. 1923 erreichte die Zahl der italienischen Staatsbürger in Wien mit 4.212 Personen ihren Höchststand. Zu den italienischen „Wiener Typen" gehörten die Figurini, das waren Verkäufer kleiner Gipsfiguren, die Zinngießer, im Volksmund „Katzeimacher" genannt und die italienischen Lebzelter. Trotz der geringen Anzahl prägten die Italiener die Vielvölkerstadt Wien als Bau-, Ziegel- und Erdarbeiter (Quellen 59, 60), Salami-Verkäufer (Quellen 61, 62), Scheren- und Messerschleifer (Quellen 63, 64) und nicht zuletzt bis in die Gegenwart als italienische Speiseeiserzeuger 49 (Quellen 65, 66).

Die italienischen Rauchfangkehrer, Quellen 57,58 Erst die Aufstockung der Wiener Häuser nach der Türkenbelagerung 1529 machte ein fachgerechtes Kehren der Kamine erforderlich. Die bis dahin wandernden Rauchfangkehrer wurden ansässig. 1664 zählte Wien bereits neun seßhafte hofbefreite [den Zunßgesetzen nicht unterworfene] Meister. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich die Herkunftsgebiete der Rauchfangkehrermeister in Italien auf Mailand und Piemont, in der Schweiz auf die Bezirke Tessin und Moesia. Von 728 Lehrlingen, die zwischen 1740 und 1863 aufgenommen wurden, stammten 250 (34,3%) aus der italienischen Schweiz und 62 (8,5%) aus Oberitalien. Von den 155 Lehrlingen aus Wien waren 99 Meistersöhne und stammten folglich zum Großteil aus italienischen Rauchfangkehrerfamilien. Erst im 19. Jahrhundert setzte ein stärkerer Zuzug böhmischer Lehrlinge ein. Sogar noch heute finden sich im Wiener Branchenverzeichnis unter den Rauchfangkehrern italienische Namen wie: Babula, Balaty, Bandera, Bellella, Bottoli, Cornelius, Destefani und Soremba. Wie es gelingen konnte, dieses Gewerbe in italienischen Händen zu behalten, darübergibt Else Reketzki Aufschluß.

57

Ein italienisch dominiertes Gewerbe

Die Meister schlossen sich streng ab und achteten darauf, daß so wenig als möglich andere Handwerker in ihre Familie Aufnahme fanden. Selten kam es vor, daß eine Tochter einen anderen Handwerker als einen Rauchfangkehrer heiratete. Ferner trachteten sie, ihre . . . Gewerbe ihrer Familie zu erhalten, und wenn sie es verkauften, dann nur an Italiener. Daß ein hier Geborener eine Meisterstelle erhielt, wenn er nicht Meistersohn war, kam selten vor. Gesellen, die in ein Gewerbe einheirateten oder es erkauften, waren meist Fremde, zum größten Teil Italiener. Ebenso holten sich die Meister die Lehrjungen aus ihrer Heimat, und so ist es zu verstehen, daß die Rauchfangkehrerei bis ins 19. Jahrhundert in italienischen Händen blieb, und daß die Orte, aus denen sie kamen, im 19. Jahrhundert dieselben waren, wie die im 17. und 18. Jahrhundert. Else Reketzki, Die Wiener Rauchfangkehrer, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1955/56, Wien 1956, S. 230.

Die Italiener

53

Rauchfangkehrer Die Vertreter dieses Gewerbes stammten im 18. und 19. Jahrhundert häufig aus Italien.

Italiener bei der Donauregulierung Die rauschenden Feste sind vorüber, die bunten Flaggen und Fahnen ruhen nun sorgsam aufbewahrt in irgendeinem Magazine und der Strom wälzt sich bequem im neuen Bette. Bei den offiziellen Banketten im Kursalon und im Hotel Metropole, welche aus Anlaß der Vollendung der Donauregulierung stattfanden, ließ man gar Manchen und gar Manches hochleben, aber auf einen Falter hat man unseres Wissens vergessen, auf jene Armee von Arbeitern, welche aus England, Italien, Böhmen und Mähren, aus Frankreich und der Schweiz herbeigeeilt waren, um bei dem großen Werke eigenhändig mitzuhelfen. Krampen, Hacken, Schaufel und Baggerkübel wurden von den Leuten unverdrossen Jahre hindurch, Tag für Tag in Bewegung gesetzt; die braunen Italiener mit ihren riesigen Hüten und sackartigen Gewändern, ohne die man sich heute in Wien gar keine große Bauarbeit denken kann, sie trieben mit stetem „Hüt" und „Hot" ihr Maulthier oder ihr Pferd an, welches den leicht gezimmerten zweirädrigen Karren zog, sie verführten die ausgehobene Erde und schufen so die weitgedehnten Ufer längs des neuen Donaubettes, aus denen bald die neue Donaustadt emporwachsen wird . . . Es war daher nur billig, wenn die verschiedenen Subunternehmer den ihnen unterstehenden Arbeitern am Festtage des 30. Mai Bankette gaben, die in ihrer Art nicht minder glänzend waren, als die offiziellen. Vor den Barrackenschänken flatterten lustig die kleinen Fähnchen in den Farben aller existirenden und noch zu entdeckenden Länder und im Freien, auf roh gezimmerten Bänken nahmen die Arbeiter Platz. Die Nationalitäten schieden sich auch hier scharf

Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 49.

Die italienischen Bau- und Erdarbeiter, Quellen 59, 60 Die italienischen Bauarbeiter, die sich ihren guten Ruf beim Eisenbahnbau einhandelten, wurden auch für die Wiener Großbaustellen herangezogen. In Bautrupps unter der Führung eines Capo Lavoro - blieben sie, solange es Arbeit gab, undfuhren danach gemeinsam wieder in ihre Heimat bzw. zogen zur nächsten Baustelle weiter.

54

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

voneinander, obwohl man zum Lobe der Arbeiter hervorheben muß, daß größere Reibereien aus Rassenhaß während der ganzen langen Arbeitsdauer nicht vorgekommen sind. Die Italiener tranken ihren Trentino und ließen sich die Polenta, die diesmal doppelt schmackhaft zubereitet war, wohl schmecken, während die handfesten Vertreter des slavischen Stammes ihrem „dervenö pivo" wacker zusprachen . . . Bei den Italienern ging es nicht ohne Reden ab. In dem Wirtshause in der Nähe der Gaswerke hatten sich die Landsleute aus dem Venezianischen eingefunden und der Senior derselben, eine der interessantesten Volksfiguren, Alessandro Pippo, der wie ein Hausvater von den jüngeren Arbeitern verehrt wird, brachte den ersten Toast auf den „imperatore cavaleresco Francesco Giuseppe" und auf die „bellissima cittä di Vienna" aus. Die Arbeiter brachen in begeisterte Jubelrufe aus und sangen das schöne, schwärmerische Lied „O Venezia benedetta" mit folgender Variation: „O Vienna benedetta non te voglio mai lasciar" (O gottgesegnetes Wien, nie will ich dich lassen). Illustriertes Wiener Extrablatt vom 5. Juni 1875, S. 1.

60

Italienische Erdarbeiter

Sie waren schon von weitem an den typischen zweirädrigen Wägen erkennbar.

Wiener Bilder vom 12. August 1900, S. 7.

Der Salamutschi-Mann, Quellen 61, 62 Salami-Verkäufer Friaul.

61

aus den Julischen Alpen und dem

Salami, Salamutschi!

Zum Zubehör unserer Gasthausgärten gehörte in der jüngsten Vergangenheit, die wir Älteren noch miterlebten, der kleine abgehetzte Brot-Schani und der Salamutschimann, dessen Ruf: „Salami, Salamutschi", mit lauter Tenorstimme hinausgeschmettert, allen Gästen die italienische Herkunft des Wurstverkäufers verriet. Er kam aus der Ebene am Fuß der Julischen Alpen, dem Friaul. Die Würste, die er an Feiertagen im Bauchladen feilbot, stellte er unter der Woche als Arbeiter bei Wiener Selchern her. Salami ist nämlich eine Friauler Spezialität. Die Ungarn lernten erst im vorigen Jahrhundert von Einwanderern aus Udine und Gemona, wie man die Königin aller Würste macht. Allein der Name - im Italienischen bedeutet Salame „Eingesalzenes" und wird auf Wurst im allgemeinen angewendet - weist unzweideutig nach Süden und nicht nach Osten hin. Wieso ein Teil der Friauler Wurstmacher in Wien hängenblieb, statt mit den Gefährten nach Ungarn zu marschieren, verschweigt die Chronik. Vielleicht erhofften sie bei uns günstigere Arbeitsbedingungen, vielleicht waren sie einfach zu müde zum Weitergehen. Die Benützung eines Fahrzeuges kam für die bettelarmen Emigranten nicht in Frage, und da sie, im Gegensatz zu den Schleifern, unterwegs keinen Groschen verdienen konnten, wanderten sie auf ihr Ziel in Eilmärschen. Ihre Enkel erzählen voll Stolz, daß die „Salumieri" acht, höchstens neun Tage für die 430 Kilometer lange Strecke vom Friaul bis Wien benötigten. Gelohnt hat sich diese Anstrengung jedoch nicht. Dieselben Salumieri, die in Ungarn eine blühende Industrie ins Leben riefen, sind bei uns nicht vorwärtsgekommen. In den letzten Jahren haben sie, oder richtiger ihre Kinder und Kindeskinder, Österreich zum Großteil den Rücken gekehrt. Arbeiter-Zeitung

vom 13. November I960, S. 9.

55

Die Italiener Der Salamutschi-Mann

Karren als Scherenschleifer durchs Land. Schon im Vormärz kamen sie auf ihren Wanderungen nach Wien. Um den Verwandten daheim einen Begriff von den Wiener Herrlichkeiten zu geben, vor allem um ihnen zu zeigen, was selbst ein armer Schleifer im Paradies an der Donau erreichen könne, kaufte einer von ihnen ein großes Faß und steckte jeden Sechser und jeden Kreuzer, den er erübrigte, hinein. Als es voll war, lud er das Geldfaß auf seinen Karren und führte es im Triumph bis zum Rendenatal. Man kann sich vorstellen, wie viele seiner Landsleute danach in die Wienerstadt pilgerten. Längst sind ihre Nachkommen bei uns seßhaft geworden. In den verschiedensten Bezirken haben sie ihre Läden, wo sie Stahlwaren verkaufen und in einem Hinterzimmer, das als Werkstatt dient, die Schleiferarbeit verrichten. (Ein Verbot der Wiener Polizei machte dem Umherziehen schon vor Jahrzehnten ein Ende.) Viele nahmen Wienerinnen zur Frau, fast alle, die noch leben, gingen hier zur Schule. Dennoch fährt jeder von ihnen ab und zu für ein paar Wochen „nach Hause", ins Hochtal, aus dem seine Ahnen gekommen sind. Arbeiter-Zeitung vom 13. November 1960, S. 9. Scheren- und Messerschleifer

Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 168.

Die italienischen Scheren- und Messerschleifer, Quellen 63, 64 Bis vor einigen Jahrzehnten waren noch die kleinen Läden der italienischen Scheren- und Messerschleifer über das Wiener Stadtgebiet verteilt. Die Wiener Scheren- und Messerschleifer stammten aus Italien Der Ursprungsort der Scheren- und Messerschleifer ist das Rendenatal. Val Rendena ist eines der engsten Dolomitentäler. Für Äcker bietet es keinen Platz, daher können Frauen und Greise das bißchen Landwirtschaft besorgen. Wer im Rendenatal jung und stark war, mußte von alters her eine Beschäftigung außerhalb suchen. Manche arbeiteten in Sägewerken, aber die meisten zogen und ziehen noch mit ihren

Wienerstadt, Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag-Wien-Leipzig 1895, S. 48.

56

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Die italienischen Speiseeiserzeuger, Quellen 65, 66 65

Speiseeiserzeuger aus dem Trentino u n d der Provinz Belluno

Unsere sechzig Gelatierfamilien (rund dreihundert Köpfe) stammen durchweg aus mehreren Gebirgstälern des Trentino sowie der angrenzenden Provinz Belluno. In Italien kommt es noch häufig vor, daß fast die ganze Bevölkerimg einer Gegend einen bestimmten Beruf oder Nebenberuf ausübt. Im ladinischen Grödner Tal zum Beispiel verfertigt ein guter Teil der Bauern schöne Holzschnitzereien . . . In Belluno also und in den benachbarten Dolomitentälern lernen schon die Kinder, wie man Eis nach überlieferten Rezepten erzeugt, mehr noch, sie wissen bereits, in welchem Land sie einmal ihre Fertigkeit ausüben werden, denn auch das wird von der Tradition geregelt. Ihre Domäne ist Westdeutschland, Österreich und Norditalien. Italien südlich der Po-Tiefebene bleibt dagegen den Gelatieri aus Neapel und Sizilien überlassen. Die Bewohner von Cassino gar, jener unglücklichen, im letzten Krieg dem Erdboden gleichgemachten Stadt, die sich ebenfalls mit Vorliebe der Herstellung von Speiseeis widmen, fahren im Früh-

Bildquelle: Bildarchiv der Österreichischen

Nationalbibliothek

ling scharenweise über den Ärmelkanal und kehren im Herbst, wenn die Engländer nicht mehr nach Icecream verlangen, in ihre süditalienische Heimat zurück. Da haben es unsere sechzig Familien in Österreich bequemer. Zugvögel sind sie zwar genauso wie ihre Kollegen, aber die Reise von Wien nach dem ererbten Nest ist weder sehr kostspielig noch lang. Auch sonst ist das Leben dieser untereinander vielfach verwandten und verschwägerten Leute bequem geworden. Während ihre Großväter mit der schweren Butten auf dem Rücken von Tür zu Tür gingen, um das Gefrorene anzubieten und die Väter weißlackierte Wägelchen zum Ton einer bimmelnden Glocke durch die Straßen schoben (wie eilig rannten wir als Kinder mit ein paar Hellern in der Hand hinaus, sobald wir das Gebimmel hörten), besitzen die Heutigen ihren Eissalon, der oft recht luxuriös eingerichtet ist. Fünfzig Prozent des Personals dürften Italiener sein, was gewöhnlich so aussieht, daß italienische Burschen hinter den Eismaschinen stehen, Österreicherinnen die Gäste bedienen und der Chef, ein distinguierter Herr, nur darauf achtet, daß alles klappt. Arbeiter-Zeitung

vom 13. November

I960, S. 9.

Eisverkäufer am Wiener Naschmarkt 1924

57

Sinti und Roma

1.7. Sinti und Roma In der Alitagssprache ist der Begriff Zigeuner negativ besetzt. Er wird daher oft als diskriminierend empfunden, nicht zuletzt auf Grund einer fälschlichen ethymologischen Ableitung von „Zieh Gauner". Als Eigenbezeichnung sind Sinti und Roma in Verwendung. Häufig verwenden Volksgruppenangehörige den Terminus „Zigeuner" selbst. Eine Mitverwendung dieses Begriffes scheint daher mit aller gebotenen Vorsicht als gerechtfertigt. Über die Geschichte der Roma und Sinti in Wien liegen kaum historische Arbeiten vor. An Hand von Zeitungsartikeln läßt sich feststellen, daß sie - mit Ausnahme der NS-Zeit - während des gesamten 20. Jahrhunderts anwesend waren, wenn auch mit großer Fluktuation (Quelle 67). Das Ausmaß war jedoch gering. Auch gegenwärtig kursieren nur Dunkelziffern, die zwischen 1.000 und 7.000 schwanken. Dies ist eine Folge davon, daß Roma und Sinti keine anerkannte Volksgruppe sind und sich nach außen hin oft nicht als solche deklarieren, um sich vor Benachteiligungen zu schützen. Die Lovara, zu deutsch Pferdehändler, gehören zur Gruppe der walachischen Roma, die sich bis ins 19. Jahrhundert 500 Jahre lang im Gebiet der Walachei und Moldau aufgehalten hatten. Über Ungarn kamen etliche Lovara zur Jahrhundertwende als Pferdehändler nach Wien (Quelle 68). Auch gegenwärtig sind viele im Handel als Teppich- und Autohändler tätig. Sinti, ebenso wie Arlije, gehören zu den nichtwalachischen Zigeunern, die aus ihrer griechischen Zwischenheimat unter türkischem Druck im 15. Jahrhundert nach Mittel- und Westeuropa wanderten. Die Wiener Sinti-Familien sind trotz fester Wohnsitze nach wie vor mobil und stehen in engen Kontakten zu deutschen Sinti. Etliche betreiben fliegenden Handel. Die Arlije und Kalderasch, zu deutsch Kesselflikker, sind eine bisher kaum beachtete Minderheit unter den Arbeitsmigranten aus Jugoslawien. Daß sie sich selbst nicht als Zigeuner bezeichnen, liegt auf der Hand. Ähnliches gilt für die burgenländischen Roma, die nach Wien pendeln. Nahezu alle der früher typischen Zigeunerberufe werden nicht mehr ausgeübt, das Kesselflicken, Siebmachen, Korbflechten und Scherenschleifen. Eine genaue Auskunft über die derzeitigen Berufe ist nicht möglich. Es ist anzunehmen, daß, abgesehen von den jugoslawischen Gruppen und den burgenländischen Roma, der Handel sehr wichtig ist50 (Quellen 69, 70).

Zigeuner im Wien der Jahrhundertwende und heute, Quellen 67-70 Nur wenige Roma und Sinti konnten im franzisko-josefinischen Wien seßhaft werden. Die meisten waren auf „Durchreise".

67

Ein Zigeunerlager in Wien

An der Donaulände, Erdbergermais Nr. 28, haben Zigeuner ein Lager aufgeschlagen, dessen Anblick ein eigentümliches Kulturbild entrollt und landläufige Begriffe umstößt. Hier haben wir es auch mit einer reichen Patrizierfamilie zu tun, die es jedoch trotz ihres Wohlstandes zu keiner Lebenskunst gebracht hat und sich von ihren kulturlosen Stammesgenossen nur durch bessere Küche unterscheidet. Die Leute, deren männliche Mitglieder durchweg Kupferschmiede sind, verdanken ihren Wohlstand einem Geheimnisse ihres Handwerks, das die Zigeunertruppe, die aus zwei Familien besteht, schon durch drei Generationen bewahrt. Die Zigeunertruppe, die aus Warschau stammt, befindet sich seit vielen Jahren auf einer Reise durch den Kontinent und beabsichtigt drei Monate in Wien zu bleiben.

Wiener Bilder vom 15. Februar 1911,

68

S.9f.

Pferdehändler

Ein autobiographischer Bericht von Karl S., Wien, 27. März 1981, aufgezeichnet von M. Heinschink, Wien.

58

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Karl S.: Die Situation der Rom in Österreich kann man eigentlich mit der Zeit anfangen, mit einem Beispiel, an das ich mich jetzt noch genau erinnern kann. Das war die Zeit 1935/36. Befrager (B): Entschuldige, was ist Dein Alter in etwa? S.: Mein Alter ist jetzt 51 Jahre. Und wir sind zu damaliger Zeit mit Pferdewagen und mit der Familie in Österreich umhergefahren. Da haben noch die Stämme verschiedener Zugehörigkeit eigene Richtungen gehabt. B.: Kannst Du das noch näher erklären? S.: Ja, meine Familie ist meist die Richtung Steiermark gefahren. Hauptplätze waren damals ζ. B. Maikirchnerallee und bis hoch nach Graz und so weiter und dann wieder runter, weil alle Zeiten war in der Wiener Neustadt der Pferdemarkt. Das war alle Jahre einmal. Da haben sich alle Zigeuner aus ganz Österreich dort getroffen; also auf Wiesen und in der Nähe des Pferdemarktes und haben dort campiert, wie man heute sagt. B.: War das immer zu einer bestimmten Zeit? S.: Das war zu einer bestimmten Zeit. Da haben sich die Rom unheimlich gefreut, weil da wußten sie, daß sie Verwandte Wiedersehen, die sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Das war eigentlich eine Pflicht, daß jeder Zigeuner dorthin kommen mußte. Genauso, wie es früher war die heilige Wallfahrt nach Maria Zell. Dort haben sich zu Ostern alle Zigeuner getroffen. Die Rom von ganz Österreich, kann man sagen, und einmal im Leben hat er sozusagen eine Pilgerfahrt nach Maria Zell. Aber weiter damit, wie es früher war, als sie mit Pferdewagen umhergezogen sind. Das war dann so, daß man auf dem Pferdemarkt gehandelt hat. Und da waren sie oft und haben gute Geschäftsabschlüsse gehabt. Weil die haben meist die Pferde, die sie vorher getauscht und gekauft haben (haben sie dann), auf dem Markt verkauft oder wieder getauscht. Und die Familien waren eigentlich frei zu der Zeit, und da sind sie hingefahren wohin sie wollten. Das war ein lockeres, klasses Zigeunerleben, wie man heute so sagt. Und viele Zigeuner haben wieder die Strecken nach Tirol gehabt. Andere Zigeunerstämme haben wieder Kärnten gehabt. Das hat sich also so eingebürgert, daß Familien stammesmäßig . . . B.: Wenn Du von Zigeunerstämmen sprichst, meinst Du dann Lovara? S.: Lovara, und da waren aber die Sinti auch. B.: Aha, waren auch Sinti dabei? S.: Sinti waren auch dabei. Verschiedene Stämme. So wie wir zu ihnen sagen, zu den anderen, Romungri. Ζ. B. Sinti, die es damals hier gab, und wie wir heute noch sagen. Die sind eigentlich vom Burgenland, aber die sind damals auch so auf der Reise gewesen. Viele waren ζ. B. wie die Evura als Siebmacher oder Schleifer unterwegs. Und die Hauptstämme, so wie wir Lovara, waren mit Pferden. Deswegen war der

Markt für uns das Hauptgebiet, der Wiener Neustädter Markt. Der war ja eigentlich bekannt; der war ja sehr berühmt bei den Rom. Und das hat sich dann so eingeführt. Oft sind sie auf der Natur gewesen. Da sind Romungri, Sinti auch zusammengekommen. Haben sich gut vertragen, haben dort campiert und ein Lagerfeuer gemacht und haben gegenseitig Erinnerungen am Lagerfeuer ausgetauscht. Und dann war es auch so, daß sie an bestimmten berühmten Plätzen waren. Da war ζ. B. in Baden einer, der hieß „de la trinku patscha", unter den drei Bäumen. Das war ein Platz, den haben die Zigeuner so genannt, weil da drei Bäume waren. Und dann „van gautscho tro pai". Das war etwas von der Wiener Neustadt weg, das kalte Wasser, der kalte Fluß. Das war ein herrlicher Platz. An den kann ich mich noch erinnern. Da war ich circa 10 Jahre. Der ist unter den Zigeunerfamilien so bekannt gewesen, daß wenn sie gesagt haben, wo wollen wir uns in zwei Monaten treffen. Und da hat jeder gesagt, „van gautscho tro pai". Und da hat jeder gewußt, wo das ist. Also das kann man sich schon lebhaft vorstellen, daß das wirklich ganz interessant war. Auf alle Fälle hatten sie zu dieser Zeit ein schönes, freies Leben gehabt. Gut, es war damals auch so, daß ζ. B. von Steiermark irgendwie oft so ein Fall war, daß eine Zigeunergruppe ζ. B. mit Pferdewagen von einem Gendarmerieposten zum anderen Gendarmerieposten begleitet worden sind, bis sie draußen waren. Aber es ist meistens so gewesen, daß sie auf einem Platz 24 Stunden haben campieren können. Und der Platz hat dann, wenn sie weggegangen sind, gereinigt werden müssen. So haben sie den Platz verlassen müssen. Und ich kann mich erinnern, wir haben Rechen und Besen gehabt, und wir Kinder haben den Mist und das, was übrig geblieben ist, wieder weggeräumt, daß der Platz wieder rein war. Weil da haben sich später wieder Zigeuner dort getroffen. Und wenn sie irgendwie was Komisches gemacht haben, so daß der Platz nicht sauber war, haben sie wahrscheinlich nicht m e h r . . . B.: Eine Frage doch noch! Ward ihr und waren die anderen zu dieser Zeit bereits seßhaft? Also insofern, hattet ihr schon feste Wohnsitze gehabt oder überhaupt nicht? S.: Also zu dieser Zeit ist es hier so gewesen, daß viele Rom, Lovara in Wien schon richtig gut situierte Leute waren. Im 10. Bezirk waren etliche Familien, die Häuser gehabt haben, dreistöckige Häuser. Trotzdem sind sie aber im Sommer weggefahren. Im Winter waren sie aber in ihren Wohnungen, in den Häusern, in so einem Hof, und ihre Freunde haben in ihrem Hof campieren können, mit ihren Wohnwagen. B.: So wie heute auch noch? S.: So wie heute auch. Und dann war es zu dieser Zeit auch so, im Winter war es sehr bekannt und berühmt bei den ganzen Zigeunern von Österreich, im

59

Sinti und Roma

10. Bezirk, die Hellerwiese, hat sie geheißen. Das war bei der Kirche dort in der Nähe von einer Schokoladenfabrik. Und dort haben die Zigeuner, die Rom, das ganze Jahr bleiben können. Die sind dort nie belästigt worden. Quasi, daß dort oft 10, 15 bis 20 Wägen waren, mit Brek und Wohnwägen. Also im Winter über auf alle Fälle. In der Sommerzeit weniger, denn da sind sie wieder auf die Reise gefahren. Aber der Platz auf der Hellerwiese war sehr berühmt und eingeführt. Das war so der Stammplatz der ganzen Zigeuner von Österreich, kann man sagen. Die sich in der Nähe von Wien aufgehalten haben, sind alle dorthin und sind den ganzen Winter über dort geblieben. Und wie es halt immer so war, da haben sie schon gewartet, daß das Frühjahr kommt, und da sind sie ausgeschwärmt. Aber dort haben sie Ruhe gehabt. Die sind dort nie polizeilich oder so belästigt worden. Weil dort haben sie Jahrzehnte, Jahrzehnte kann man sagen, gewohnt, auf diesem Platz. Gießener Hefte für Tsiganologie, Heft Nr. 2,1984, S. 53-55.

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Roma aus Jugoslawien

Unter den gegenwärtigen Arbeitsmigranten aus Jugoslawien befinden sich etliche Roma. Keiner weiß, daß sie Roma sind. Mit einem Baby auf dem Arm gingen Fatime und ihr Mann nach Österreich. Das war vor acht Jahren. Heute arbeiten beide hier. Wenn Fatime um 5 Uhr die kleine Wohnung verläßt, sperrt ihr Sohn die Wohnungstür von innen und legt sich nochmals nieder. „Schwere, schmutzige Arbeit." Die kleine, schlanke Frau schaut auf ihre groben Hände. Sie wäscht Geschirr. „Ganze Tag von oben bis unten naß. Mit Handschuhe geht nicht, Arbeit zu langsam." Um 5 Uhr nachmittags kommt sie wieder heim. Der Bub war inzwischen in der Schule (dort ist er gern, er spricht fließend Deutsch), hat das Essen aufgewärmt, das sie vorgekocht hat, hat seine Aufgabe gemacht (ganz allein: gestochene Schrift, kaum ein Fehler, mit phantasievollen Zeichnungen verziert). Das Mädchen (sechs Jahre alt) war allein, hat die Betten gerichtet, hat saubergemacht, war mit dem Bruder nachmittags im Park (oder, was streng verboten ist und Strafen einträgt, im Freibad). Sie haben viele Freunde auf der Straße, auch österreichische. „Kinder müssen lernen, müssen Beruf lernen!" beschwört Fatime ihre Zukunft. „Mein Leben ist fertig, nur noch für Kinder ich arbeite. Sie sollen besser haben." Fatime ist 30. Ihr drittes Kind ließ sie in Mazedonien, um arbeiten zu können. Es starb mit einem

Jahr. Fatime selbst war nur acht Jahre in der Schule. „Ich gut gelernt, aber nicht ausgehalten, daß Lehrer immer sagt,dummes Zigeinermädchen' zu den ganz armen, ganz schmutzigen Romakindern. Waren gute Kinder! Ich nicht mehr zu dem Lehrer wollen. Deshalb kann nur Hilfsarbeit machen. Wenn ich oft allein sitzen, ich denken, ich fragen, warum leben so schwer die Roma: Sie kommen von Gott wie andere Menschen, sie kommen von Erde wie Baum - warum?" Arbeiter-Zeitung vom 3. Juli 1981, S. V.

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Wahrsagen und Kartenlegen

Wegen ihres Wissens über die Wirkung der Kräuter und der ihnen zugesprochenen Fähigkeit der Wahrsagerei waren Zigeunerinnen unter den ersten Frauen, die auf den Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt wurden. Es ist eine Überlegung wert, ob die Gefühle, die diesen Fähigkeiten gegenüber geäußert werden, nicht auch typisch sind für den Umgang mit den „Fremden": Neugierde, Angst, Über-, Unterlegenheit, Zynismus, Verlegenheit, Unsicherheit, Präpotenz,... Kugel, Karten und Kaffeesatz (Krista Federspiel). In Wien lebt eine Zigeunerin (bulgarischer Herkunft), die als Kind im KZ Auschwitz war: Nie konnte sie eine Schule besuchen, nie Wissen erwerben, und doch bietet sie ihren etwa fünf Stammkundinnen, aus sogenannten besseren Kreisen, was sie wirklich brauchen: Psychotherapie. „Sie könnten ohne mich nicht mehr leben", meint sie dazu nachdenklich, „sie erzählen mir einfach alles von selbst. Ich brauche nur noch meine Schlüsse daraus ziehen. Dann sag ich ihnen, das wird sich so oder so entwickeln - und das tritt dann eben ein." Für das Wahrsagen als Gewerbe haben Zigeunerinnen verschiedene Techniken. Die jugoslawischen Professionals, die bei uns damit ihr Geld verdienen (pro Seance immerhin zwischen 200 und 300 Schilling), ziehen dafür den Kaffeesatz vor - da sie bis zu zwanzig Schalen Türkischen pro Tag trinken, haben sie immer genug davon vorrätig. Die Tasse wird umgestülpt, etwas Flüssigkeit dazugegeben, dann muß der Kaffeesatz trocknen. Manche Wahrsagerin verlangt allerdings, daß ihre Kunden (zum Großteil ebenfalls Frauen) vorher eine Nacht mit der Tasse unter dem Kopfpolster schlafen. Beim Trocknen bildet der Kaffeesud Figuren, aus denen man mit etwas Phantasie Symbolfiguren wie Fisch, Vogel, Schlange und so weiter erkennen kann, die im

60

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Magischen und Geisterglauben jeweils ihre Bedeutung haben. Daraus sehen die Profis dann die Zukunft. Die Praktik der Chiromantie, des Handlesens, ist die am weitesten verbreitete: Ob - wie früher noch - oft am flackernden Lagerfeuer oder im Vorbeigehen auf dem Campingplatz oder an der Hausecke: Was die Zigeunerin den Neugierigen von den Augen liest, verschlüsselt sie erst in Sprüchen über die Lebenslinie, die Herz- und Kopflinie, interpretiert Venus- und Mondberg, betrachtet Ehelinie und Salomonring, kombiniert sie mit der Form der Hand und der Fingerkuppen und prophezeit dann geheimnisvoll der Erwartungsvollen. (Daß „reicher Kindersegen" nicht unbedingt mehr zu den klassischen Glücksansprüchen gehört, wissen die Zigeunerinnen natürlich längst.) Die Chiromantie ist seit dem frühen Altertum bekannt. Ähnlich wie die Astrologie wurde sie im Mittelalter in ein wissenschaftliches System gebracht und sogar noch im 18. Jahrhundert auf deutschen Universitäten gelehrt. Später zur abergläubischen Spielerei erklärt, erlebte sie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Renaissance, und heute wird die Lehre von der Charakterdiagnostik wieder wissenschaftlich betrieben. Die Zigeunerinnen haben (sicherlich, weil sie nie lesen konnten) über Jahrhunderte hinweg das alte Wissen bewahrt und wider alle Moden am verläßlichsten aus der Hand gelesen. Ob sie auch andere Wahrsagetechniken verwenden, hängt von ihrem Lebensraum ab. In Ungarn werfen sie Bohnen auf eine Felltrommel, auf der drei weiße und drei schwarze Kreise aufgezeichnet sind. Aus ihrer Verteilung wird dann auf das Schicksal geschlossen. Russische Zigeunerinnen werfen Knochen zu Boden und interpretieren deren Lage, andere verwenden dazu Muscheln, Teeblätter - oder sie gießen Blei. Würfel, Kristallkugel, Spiegel oder Blumen können als „Arbeitsgerät" dienen - ihre Menschenkenntnis aber ist das wichtigste Werkzeug. Eine Sonderstellung nehmen die Tarot-Karten ein (nicht die „säkularisierten Tarock-Spiele, die manche Männerrunde oder Wirtshausgesellschaft zusammenhält). Auf den 78 Karten soll in Bildern die Lehre

des indischen Tantrismus enthalten sein. Schon Paracelsus berichtet von den magischen Bildern der Zigeuner, der mystische Orden der Rosenkreuzer beruft sich auf diese orientalische Lehre und auch seine Epigonen im 19. und 20. Jahrhundert. In Novalis' Schlüsselroman der Romantik, im „Heinrich von Ofterdingen", erschrickt der Held vor dem „Bilderbuch, in dem er das ganze Schauspiel des eigenen Lebens finden kann". Diesen Satz kann man heute von jedem besseren Wahrsager hören: Philosophischen Naturen bieten sie die Schau dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält". In den TarotKarten findet sich die Zahlenmystik der VishnuGläubigen wieder. Das Glück wird in diesem „angewandten Weltbild" nicht einfach geschenkt: Es muß durch richtige Einstellung, durch Besinnung auf die eigene Person, ihre Fehler und Fähigkeiten, durch geistige Mobilität, durch Selbstdisziplin und Welterkenntnis erworben werden. Unglück erzeugt der Fragende selbst, wenn er auf die ihn umgebenden Kräfte (Politik, Wirtschaft, Familie, Natur . . .) nicht achtet. Es ist eine große Schau des ewigen Kreislaufes: Karma. Das Gesetz von Ursache und Wirkung. Das „Glücksrad", die zehnte Karte, ist ein Schlüssel dieser Vorstellungswelt: sie symbolisiert den Kreislauf des Scheins. Der Sinn des Lebens liegt in der Schönheit des Augenblicks. Wer sollte solche Gedanken besser ausdrücken können als Kinder eines Volkes, das aus seiner gnadenlosen Geschichte gelernt hat, daß auf ein „Unten" immer ein „Aufwärts" folgt und umgekehrt. Das Rad ist ihm Symbol geworden für das Leben im Wagen, das sich wandelnde Glück. „Ich lasse mir ab und zu die Karten legen", erzählt mir eine junge Frau, die mit Zigeunern aus dem Burgenland befreundet ist, „aber nicht, um mir die Zukunft sagen zu lassen, das tun Zigeuner auch nur bei Fremden, nie bei Freunden und nie untereinander, nein: Um das Leben besser erkennen zu können..." Arbeiter-Zeitung

vom 3. Juli 1981, S. X f.

61

Die Chinesen

1.8. Die Chinesen Bereits vor dem Ersten Weltkrieg versuchten Chinesen in Wien seßhaft zu werden, stießen jedoch auf massive Fremdenfeindlichkeit seitens konservativer Politiker und der Behörden. Durch Hausieren mit chinesischen Waren und das Vorführen artistischer Kunststücke versuchten sie Geld zu verdienen. Sie wohnten in einem sogenannten Auswandererheim in der Trubelgasse und im Fasanviertel nahe dem Arsenal. Die christlichsoziale Tageszeitung Reichspost attackierte die chinesischen Zuwanderer heftig (Quelle 71). Schließlich wurden im April 1914 aus Wien 24 Chinesen abgeschoben, nachdem sich die chinesische Gesandtschaft bereiterklärt hatte, die hohen Reisekosten zu übernehmen. Die Polizei drohte Zwangsmaßnahmen gegen jene Chinesen an, die bleiben wollten. In der Ersten Republik entstand wiederum eine kleine chinesische Kolonie, die auf 600 Personen geschätzt wurde. Sie wohnten in Breitensee und trafen sich im Cafe Bohmann, später in einem eigenen Versammlungslokal in derTiefendorferstraße, wo sie das chinesische Nationalspiel Majong, eine Art Domino, spielten. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen flüchteten viele in ihre Heimat. Unter dem absurden Vorwand der Spionage wurden jene, denen die Flucht nicht gelang, in Konzentrationslager deportiert. 1947 umfaßte die chinesische Kolonie bereits wieder 57 Mitglieder. Sie verlegten sich nun auf den gastronomischen Bereich: Die beiden ersten Chinarestaurants öffneten Ende der vierziger Jahre ihre Pforten, waren jedoch noch weit vom heutigen Standard entfernt (Quelle 72). In den siebziger Jahren etablierten sich in allen Wiener Bezirken Chinarestaurants, Mitte der achtziger Jahre waren es cirka 120. Die vorwiegend aus Taiwan stammenden Betreiber importieren Interieur und Zutaten für die Speisen aus ihrer Heimat und der Volksrepublik China.51

71

Die erste Chinesenkolonie in Wien

Chineseninvasion in Wien. Seit einiger Zeit tauchen in Wien und Umgebung auffallend viele Chinesen der niedersten Klassen auf. Sie haben ihr Quartier in der Nähe des Arsenals, im sogenannten Fasanviertel, das nachgerade das Chinesenviertel von Wien zu werden droht, und machen von hier aus Stadt und Land als Hausierer unsicher - natürlich unbefugt und unbesteuert, da ja nur Angehörige der Monarchie Hausiererlizenzen erwerben können. Das geniert die gelben Söhne der Mitte nicht. In schmieriger chinesischer Tracht oder auch fragwürdiger europäischer Kleidung streichen sie durch die Straßen, mit Vorliebe wo sich, wie vor dem Eislaufplatz, einiges Publikum ansammelt, bringen aus ihren weiten Taschen, Körben oder Zögern allerhand Fächer, Nippes, Statuetten zum Vorschein und gelegentlich an den Mann - öfter noch an die Frau. Besonders auf dem Lande, wo sie mit ihren großen Handtaschen umherziehen, treiben sie schwunghaften Hausierhandel und wissen ihre „echte chinesische" Schundware der durch ihre Erscheinung geweckten Neugier der Dorfbewohner oder Kleinstädter zu unverschämten Preisen aufzuschwatzen. Derart übertreten sie nicht nur das Hausiergesetz und die Steuervorschriften, sondern schädigen wohl auch die Käufer empfindlich. Es wäre an der Zeit, daß die Behörden diesem Treiben ein Ende setzen. Reichspost vom 19. Februar 1913, S. 6.

72

Chinarestaurants

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten in Wien zwei Chinarestau ran ts. Reich der Mitte in Rudolfsheim. Das unromantische Leben der chinesischen Kolonie.

A/s kurz vor dem Ersten Weltkrieg etliche Chinesen versuchten, in Wien Aufenthalt zu nehmen, empörte sich die christlichsoziale Tageszeitung Reichspost.

Das Shanghai-Restaurant des ehrenwerten Herrn Yeh Jen-Tchen in dem kleinen Häuschen auf der Meidlinger Hauptstraße mit seinen sauberen, gerade ausgerichteten Stühlen und linoleum belegten Tischen unterscheidet sich in nichts von den üblichen Gaststätten seiner Meidlinger Umgebung oder den ebenfalls restlos europäischen Interieur des zweiten chinesischen Restaurants in Wien am Neubaugürtel . . . Augenblicklich haben es die Chinesen in Wien sehr schwer, die für sie passenden Lebensmittel zu erhalten. Vor allem fehlt ihnen Reis. In den beiden

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

chinesischen Restaurants, in denen fast alle Angehörigen der chinesischen Kolonie ihre Mahlzeiten einnehmen, ist Schmalhans Küchenchef. Vor den mit Bohnen und Erbsen gefüllten Tellern, die dem am Fenster angebrachten Schild „Werkküche" alle Ehre machen, zerstieben romantische Illusionen von chinesischen Leckerbissen... Doch nicht einmal Stäbchen stehen ihnen zur Verfügung. Auf diese Feinheit verzichten sie übrigens, denn sie haben sich stark europäisiert, um nicht zu sagen wienerisch assimiliert. Lebt doch die Mehrzahl von ihnen seit acht oder zehn Jahren in Österreich, ja ihr Nestor weilt sogar seit über einem Vierteljahrhundert am Donaustrom. In früheren Jahren zogen diese Söhne aus dem Reich der Mitte als Händler mit selbstgefertigten Papierdrachen und -schirmen und ähnlichem Spielzeug von Kirtag zu Kirtag übers Land. Der Profit dieser kleinen Kaufleute, die auch heute

1.9.

noch das Gros der Kolonie bilden, war nicht enorm. Aber die sprichwörtliche asiatische Genügsamkeit war stets ihr wichtigster Helfer auf dem Weg zu einer gewissen Wohlhabenheit. Heute hat keiner eine Konzession, um das ambulante Gewerbe wieder ausüben zu können. So schafft der eine als Hilfsarbeiter auf einem Bau, ein zweiter ist als Botenträger tätig. Gelegenheitsarbeiten verschaffen vielen ihr schmales Brot. Doch trotz Bedrängnis halten alle eng zusammen und helfen einander, wo sie nur können. In ihren, hauptsächlich im 3. Bezirk um den Sportplatz in Rudolfsheim liegenden Behausungen gehen sie ihren unauffälligen Geschäften nach, ständig mit dem Ziel vor Augen, im Laufe dieser europäischen Jahre soviel zu verdienen, daß sie im Alter wieder in die ferne Heimat zurückkehren und sich zur Ruhe setzen können. Wiener Tageszeitung

vom 29. Juli 1948, S. 5.

Die Kroaten

Sowohl aus dem Gebiet des Burgenlandes und der angrenzenden ungarischen kroatischen Gemeinden als auch aus Kroatien und Bosnien kamen kroatische Zuwanderer nach Wien. Zur Zeit der Monarchie waren außerdem noch einige Siedlungen im Marchfeld kroatisch. Die Geschichte dieser Minderheit in Wien ist nur spärlich aufgearbeitet. Stadtbekannt waren etwa die kroatischen Gemüsehändlerinnen auf den Wiener Märkten (Quelle 73). In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist ein beachtlicher Zustrom festzustellen: 1880 waren 389 in Wien Anwesende in Croatien-Slavonien geboren, 1890 bereits 3.531, und bis 1910 stieg die Zahl auf 6.136 Personen. Außerdem waren 1910 4.739 in Wien Anwesende in ungarischen Bezirken mit mehrheitlich kroatischer Muttersprache heimatberechtigt.52 Von den 328 Personen mit kroatischer Umgangssprache, die 1880 in Wien anwesend waren, stammten 100 aus Croatien-Slavonien und 114 aus den ungarischen Ländern. Von ihnen waren 92 Studenten und 85 im Handel tätig, hievon 58 als Hausierer und 19 als Kaufleute.53 Nach der Eingliederung des Burgenlandes in das

Gebiet der Ersten Republik begann die Zuwanderung burgenländischer Kroaten in größerem Ausmaß. 1929 waren cirka 5.000,1936 cirka 7.000 burgenländische Kroaten in Wien, etwa ein Drittel als Pendler und zwei Drittel mit festem Wohnsitz. Unter den ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1956 befanden sich auch Kroaten, die bei den Wiener Burgenland-Kroaten Anschluß fanden. Mitte der achtziger Jahre wird die Zahl der burgenländischen Kroaten in Wien mit 5.000 Personen beziffert.54 Hinzuzuzählen sind noch Kroaten aus Jugoslawien. Nach einer repräsentativen Untersuchung stammten 1981 9,8 Prozent der jugoslawischen Arbeitsmigranten in Wien aus Kroatien; das wären umgerechnet cirka 6.000 Personen.55

Kroatische Gemüsehändlerin, Quelle 73 Auf den Wiener Märkten boten Kroatinnen Gemüse an.

Die Slowenen

63

1.10. Die S l o w e n e n Bis zum Ende der Monarchie nahm die slowenische Sprachgruppe in Wien beständig zu. 1910 bezeichneten in Wien 1.118 Personen slowenisch als ihre Umgangssprache. Die Problematik der Umgangssprachenerhebung läßt sich anhand dieser Volkszählung nachweisen: Von den 6.620 Personen, die in mehrheitlich slowenischsprachigen Bezirken der Steiermark, Kärntens und von Görz-Gradiska geboren waren und zum Zeitpunkt der Volkszählung in Wien anwesend waren, bezeichneten nur 356 Personen, also 5,4 Prozent, Slowenisch als ihre Umgangssprache. 56 Lederer und Gerber waren bevorzugte Gewerbe der Slowenen in Wien. Einige Persönlichkeiten des slowenischen Kulturlebens hielten sich vorübergehend in Wien auf. Ivan Cankar, ein bedeutender

Dichter der slowenischen Moderne, wohnte mit Unterbrechungen bis 1909 in Ottakring. Slowenische Studenten gründeten 1923 den Klub slowenischer Studenten, der bis in die Gegenwart aktiv blieb. In der Zwischenkriegszeit schwankte die Zahl der Slowenen. Das höchste Ausmaß erreichte sie bei der Umgangssprachenerhebung 1923 mit 1493 Personen. 57 Die slowenische Sprachgruppe Wiens profitierte in den sechziger und siebziger Jahren von der Zuwanderung slowenischer Arbeitsmigranten aus Jugoslawien. 1981 waren in Wien von 1.027 Personen mit slowenischer Umgangssprache 624 Österreicher ( - 60,8%) und 363 Jugoslawen ( - 35,3%). Innerhalb der jugoslawischen Migranten unterscheiden sich die slowenischen Arbeitsmigranten durch höhere Anteile von Angestellten und Beamten. 58 (Quelle 74).

64

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Berufe der Slowenen in Wien 1981, Quelle 74

74

Wiener Slowenen

Berufsposition der österreichischen und jugoslawischen Staatsbürger mit slowenischer Umgangssprache in Wien 1981.

Erwerbstätige mit slowenischer Umgangssprache nach Staatsbürgerschaft Berufsposition

Selbständige Angestellte und Beamte Facharbeiter angelernte Arbeiter Hilfsarbeiter insgesamt

österreichische Staatsbürger

jugoslawische Staatsbürger

absolut

%

absolut

%

32

9,6

14

5,7

178 39

53,3 11,6

59 31

24,0 12,6

51 34

15,3 10,2

54 88

22,0 35,7

334

100,0

246

100,0

Österreichisches Statistisches Zentralamt, Sonderauswertung der Volkszählung 1981.

1.11. Die bulgarischen Gärtner Zahlenmäßig waren die Bulgaren unbedeutend, doch durch die Konzentration auf ein Gewerbe, nämlich den Gartenbau, waren sie für die Gemüseversorgung Wiens wichtig. Ende des 19. Jahrhunderts gelangten sie als Saisonarbeiter nach Wien. Einige kauften in Kaiserebersdorf und Simmering Grundstücke, begannen mit dem Landbau und beschäftigten bulgarische Saisonarbeiter. Aber auch in anderen Teilen Österreichs siedelten sich bulgarische Gärtner an, im burgenländischen Seewinkel, in Wiener Neustadt, Graz, Linz und Salzburg. 1910 waren 410 bulgarische Staatsbürger in Wien anwesend. Infolge der türkischen Besetzung ihres Landes konnten die Bulgaren auf deren hochstehende Gemüse-Anbaukultur zurückgreifen. Sie brachten Arbeitsgeräte und -methoden mit nach Österreich. Mit einem raffinierten Bewässerungssystem konnten sie auch scheinbar unwirtschaftlichen Boden ertragreich bepflanzen (Quellen 75, 76). Die bulgarischen Gärtner führten auf den Wiener Märkten mit mehreren Sorten den Speisepaprika ein, der lange Zeit ihr Hauptprodukt blieb, ferner setzten sie auf den Märkten die Frühjahrszwiebel und den Speiseporee durch. Melanzani hingegen lehnten die Kunden vorerst ab. Wegen ihrer Anbauerfolge entwickelten sich die bulgarischen Gärtner zu einer ernsthaften Konkurrenz der Wiener Kollegen, die in den Zwischenkriegsjahren versuchten, die Bulgaren für ihre schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich zu machen. Dies ging im Austrofaschismus so weit, daß 1935 und

1936 Bulgaren auf den Wiener Märkten nicht mehr zugelassen wurden. Trotz Aufhebung des Verbotes nach Intervention der bulgarischen Gesandtschaft wagten sich die bulgarischen Gärtner 1936 nicht auf die Wiener Märkte. In der NS-Zeit ließ man sie nach dem Ausfall österreichischer Gärtner unbehelligt. In dieser Zeit bestand in der Lobau auch eine Kolonie bulgarischer Bauarbeiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die meisten bulgarischen Gärtner in Österreich, weil sie in ihrer Heimat der Kollaboration mit den Nationalsozialisten verdächtigt wurden.

Das Bewässerungssystem der bulgarischen Gärtner, Quellen 75, 76 Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie auf dem Wiener Naschmarkt eine eigene Bulgarenreihe. Sie waren für die gute Qualität ihrer Waren bekannt. Auch heute noch sind auf Wiener Märkten bulgarische Namen zu sehen.

75

Bulgarische Gärtner

Einer der wesentlichsten Vorteile der Bulgaren gegenüber ihren österreichischen Kollegen war ihr Bewässerungssystem. Während die Wiener Gärtner bis zu den Knien im Wasser stehen mußten, um mühsam

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Die Schweizer Uhrmacherkolonie 1789-1801

aus Schüsseln zu bewässern, hatten die Bulgaren ein ausgeklügeltes Rinnensystem, welches ein leichtes Gefalle hatte, durch diese Rinnen wurde das Wasser direkt in die Beete geleitet. Man legte einen oder mehrere Hauptgräben an, von denen das Wasser in die quer dazu angelegten Seitengräben flöß. Zwischen diesen Seitengräben lagen die Beete (ca. 1,20 breit und 6 m lang), alle Beete waren mit kleinen Erdwällen eingefaßt. Wird nun das Wasser eingeleitet, muß schnell gearbeitet werden, denn in der Minute sollen sechs- bis achthundert Liter durch die Kanäle geflossen sein. Man nahm aus den Beeteinfassungen Erde weg, sodaß das Wasser das jeweilige Beet überfluten konnte. Mit der aus der Beeteinfassung entfernten Erde wurde die Rinne wieder abgesperrt, dann öffnete man die nächste, ließ Wasser einrinnen, sperrte die Rinne ab und immer so weiter. Das „Erdeumsetzen" geschah mit der Hand, die Gärtner benötigten dazu einen einzigen Handgriff. Dieses System wird als Ägyptisches System bezeichnet.

gegenüber dem Brunnenwasser. Nicht nur deshalb, weil deren Wärmegrad höher war und die Pflanzen daher nicht so sehr abgekühlt wurden, sondern weil das Wasser auch immer organische Stoffe enthält, die die Pflanzen ernähren. Marietta Boross, Bulgaren und bulgarisches System im Gartenbau Ungarns, in: Acta Ethnographien, Academiae Scientarum Hungaricae, Budapest 1980, S. 132 f.

Kv

La

ψ

κ κ ρκ

Petra Helm, Nahrungsmittelversorgung Wiens. Die Wiener Gemüsegärtner, Wien 1982, S. 58 f. (unveröff. Manuskript).

76

Bewässerungssystem

Bei der Anlage des Gartens wird das Bewässerungssystem mit größter Sorgfalt vorbereitet. Die Seiten des Hauptkanals dichten sie mit Hacke, Stampfer, Walze ab und nur dann halten sie den Kanal für gesichert, wenn er schon mit Gras bewachsen i s t . . . Die bulgarischen Gärtner bevorzugten immer das „lebende Wasser", das Wasser der Flüsse und Bäche

Links: Bewässerungssystem des bulgarischen Gartens. Kv Brunnen, V - rada (Bewässerungskanal), Κ - kavai (Furche), F fit erα (mit Furchen umgebenes Feld), L " leha (Grundstück zwischen zwei V). Rechts: Furchen dichtende Walze.

1.12. Die Schweizer Uhrmacherkolonie 1789-1801 Infolge politischer Unruhen in ihrer Heimat durften sich unter Josef II. Genfer Uhrmacherfamilien in Konstanz am Bodensee niederlassen. Als sich die Klagen der Konstanzer über die neuen Bürger häuften, baten einige von diesen nach Wien übersiedeln zu dürfen. Da Josef II. ohnehin die Absicht hatte, den Uhrenimport herabzusetzen, kamen 1789 die ersten Kolonisten nach Wien. Die Sackuhr- und Bestandteilfabrikanten erhielten Werkstätten und Wohnungen im Piaristenkloster, in der jetzigen Ziegelofengasse. Der Historiker Rudolf Till schätzte, daß es sich um etwa 80 bis 100 Familien, 200 bis 250 Personen handelte. Der Erfolg befriedigte allerdings kaum, obwohl die Preise für Sackuhren um 25 bis 30 Prozent sanken, doch es konnte

kaum ein Zehntel des Bedarfs produziert werden. Während der Französischen Revolution gerieten die Schweizer Uhrmacher in Wien unter den Verdacht, mit dieser zu sympathisieren, einige wurden sogar wegen ihrer Freundschaft zu französischen Kriegsgefangenen verhaftet, jede weitere Zuwanderung von Schweizer Uhrmachern wurde unterbunden. Als unter Kaiser Franz II. die Industrieförderung und Subventionspolitik gänzlich aufhörte, zog dies die verschuldeten Uhrmacherkolonisten schwer in Mitleidenschaft. 1801 wurden ihnen die Quartiere im Piaristenkloster gekündigt, dies bedeutete das Ende der Schweizer Uhrmacherkolonie in Wien. Ein Teil von ihnen kehrte daraufhin in die Heimat zurück.59

66

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.13. Die Bosnier Nach der Besetzung von Bosnien-Herzegowina durch österreichisch-ungarische Truppen 1878 kamen vereinzelt bosnische Händler und Hausierer nach Wien. Zum Jahresende 1910 waren in Wien 2.059 Soldaten aus Bosnien und Herzegowina stationiert und 181 Zivilpersonen anwesend60 (Quelle 77).

Der Bosniak Bosnier: eine der auffallendsten ehemaligen Wiener Straßentypen, nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Wiener Stadtbild verschwunden. Der hochgewachsene, bisweilen einem Urwaldriesen gleichende Bosniak, scherzweise auch mit französischer Endung „Bosnieur" genannt, war ein aus den einst zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörigen südslawischen Gebieten Bosniens oder der Herzegowina stammender Verkäufer von Feuerzeugen, Pfeifenspitzen, Uhren, Uhrketten, Ringen, Halsbändern, türkischen Messern und Dolchen, die er gewöhnlich in

einem mit Riemen am Leib befestigten kistchenartigen, gefächerten Behälter unterhalb der Brust trug. In malerischer Tracht, mit seinem dunkelroten, weithin bemerkbaren Türkenfez, mit blauer, oben weiter, unten enger Hose, mit buntem gesticktem Gürtel und braunroten Opanken stand er an belebten Straßenecken des Stadtinneren und an den Pratereingängen oder ging dort gemächlich und unhörbar auf und ab. Der gemessen-vornehmen Art seiner Landsleute gemäß, sprach er kein Wort zur Anpreisung seiner Kostbarkeiten, sondern sah mit kindlich-unschuldvoller Miene die Leute an und neigte sich dann und wann mit huldvollem Blick auf seine Waren nieder. Fand sich ein Käufer, so war dieser über die Höhe der genannten Preise zunächst verblüfft; aber der Bosniak hatte nach der in seiner Heimat damals üblichen (morgenländischen) Sitte, die auf das „Handeln" (Feilschen) um den Preis eingestellt war, in der Regel das Drei- oder Vierfache des tatsächlich gewünschten Betrages verlangt. Er ließ also gutmütig mit sich „handeln", und wenn er zuletzt ein Viertel der begehrten Summe erhielt, dankte der Riese mit befriedigtem Kopfnicken und schlich langsam und lautlos weiter. Man nannte ihn auch „Hadschiloja". Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch,

Wien 1984, S. 31 /.

1.14. Die Gotscheer Gotschee gehörte zur vorwiegend slowenischsprachigen Provinz Krain, dessen Hauptstadt Laibach (Ljubljana) war. Cirka ein Drittel der Einwohner Gotschees sprachen Deutsch. Die Wiener nannten die Südfrüchtehändler aus Gotschee auch Krainer Buben. 1910 waren 1.116 in Wien anwesende Personen in Gotschee geboren61 (Quellen 78, 79).

Gotscheer Südfrüchtehändler, Quellen 78, 79 Bereits im Vormärz prägten sie das Wiener Stadtbild.

78

Händler aus Gotschee

Wandernd sind auch die Gottscheer, Hausirer (Krämer) mit italienischen Früchten. Die Gottscheer

sind weder Wenden nach Gothen, wie man sie insgeheim dafür hält, sondern Deutsche. Kaiser Maximilian I. siedelte ungefähr im Jahr 1509 dreihundert kriegsgefangene Familien aus Franken und Thüringen in Krain in der Gegend von Hozhevje oder Gottschee an, und gab ihnen die Bestimmung, in diesem Theile des alten Japidiens die Wälder auszuroden und den Boden zu bebauen. Diese Colonie gab den Gottscheern von heute das Daseyn. Weil aber die Ertragsfähigkeit des Bodens so gering ist, daß nicht selten ein Saatkorn nur zwei Körner Frucht bringt, so verlegten sich die Gottscheer nebst der Verfertigung von Holzwaaren vorzüglich auf den Handel mit Südfrüchten, Liquers, Oel und dergleichen. Damit durchwandern sie den ganzen Kaiserstaat bis an seine äußersten Gränzen. Das Gottscheerländchen ist ein Herzogtum, nachdem der Besitzer desselben, Fürst Karl Auersberg, im Jahr 1791 zum Herzoge von Gottschee erhoben wurde. Im Jahr 1810, als Krain unter französische Herrschaft gekommen war, wurden die Gottscheer als Ausländer behandelt und mit dem

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Die US-Amerikaner Hausiren in Oesterreich nicht zugelassen. Im Jahr 1813 erhielten sie jedoch die Befugnis wieder, den Hausirhandel ausüben zu dürfen. Mathias Koch, Wien und die Wiener, Karlsruhe 1842, S. 334 f.

79

Got(t)sch£wer oder Got(t)scheber(er)

Diese vor dem Ersten Weltkrieg zum Wiener Stadtbild gehörige Straßenfigur betrieb namentlich Hausierhandel mit Südfrüchten und Süßwaren. Der Gotschewer tauchte vornehmlich spätabends oder nachts in den schlichteren Gaststätten auf. Rief ihn der Wink eines Gastes, so stellte er einen Korb beträchtlichen Umfangs, der mit Schachteln voll Datteln oder Zuckerzeug, mit Feigenkränzen und

Naschwerk aller Art gefüllt war, neben dessen Tisch nieder, holte hierauf aus seiner Rocktasche ein Säckchen mit Losen oder mit bezifferten Holzmarken hervor und ließ den Gast sein Glück erproben. Sehr häufig wurde „Grad und Ungrad" gespielt (scherzweise auch „Kraut und Unkraut" genannt): dabei sagte der Spieler zuerst das Wort „Grad" (d. i. eine gerade Zahl) oder „Ungrad" und zog sodann aus dem Ziffernsäckchen eine Marke, die dann für den Gewinstfall eben die vorausgenarinte Eigenschaft der Zahl aufweisen mußte. Je nach der Höhe des (vereinbarten) Einsatzes fiel der Gewinn oder Verlust aus; gegen einen geringen Betrag konnte ein Feigenkranz oder eine Bonbonschachtel rasch erspielt sein. Mauriz Schuster, Alt-Wienerisch, Wien 1984, S. 68 f.

1.15. Die US-Amerikaner Bereits zur Jahrhundertwende wohnten cirka 1.000 Staatsbürger aus den Vereinigten Staaten in Wien (Quelle 80). Diese Zahl wurde auch in der Zwischenkriegszeit kaum überschritten. In den sechziger Jahren stieg die Zahl der US-Amerikaner von 1.128 Personen bei der Volkszählung 1961 auf 2.089 bei der Volkszählung 1971. Bis zur Volkszählung 1981 sank die Zahl der US-Staatsbürger in Wien auf 1.933 Personen ab (Quelle 81).

Die amerikanische Kolonie zur Jahrhundertwende, Quelle 80

ein von den amerikanischen Studenten auf der großen Wiese vor der Rohrerhütte exekutiertes Baseballspiel, welches im Sportleben Amerikas eine dem Derby und den Universitätswettfahrten in England vergleichbare Rolle spielt. Mit nicht erlahmendem Interesse folgten die Zuschauer den einzelnen Phasen des Spieles, ihr Verständnis durch zahlreiche Beifallsäußerungen nach gelungenen Würfen manifestierend . . . Das Spiel, welches von 3 bis 6 Uhr abends währte, endete mit einem Sieg des Austrian Teams, welches 20 Points erzielte, gegen 16 Points des United States Teams. Um 8 Uhr abends begann das Tanzvergnügen, welchem sich die Jugend in animiertester Weise bis Mitternacht hingab.

Die kleine amerikanische Kolonie in Wien ließ es sich nicht entgehen, ihre Feste zu feiern.

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Amerikaner in Wien

Ein amerikanisches Nationalfest in Wien Zur Feier des Independence Day, des größten Nationalfeiertages der Amerikaner, hatten sich am 4. Juli zahlreiche Mitglieder der amerikanischen Kolonie Wiens auf der Rohrerhütte, Neuwaldegg, eingefunden. Die Hauptattraktion des Festes bildete

Wiener Bilder vom 11. Juli 1906, S.6ff.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Die US-Amerikaner im Wien der achtziger Jahre, Quelle 81 81

Amerikaner über Österreich

Wie Amerikaner Österreich und die Österreicher sehen. Schon Ferdinand Raimund traf den Nagel ins Nix: „Es streiten sich die Leut' herum, wohl um den Wert des Glücks, der eine heißt den andern dumm, am End' weiß keiner nix." Aber wer weiß, vielleicht sind die keinen, die nix wissen, die Allerglücklichsten oder zumindest jene, die ihr Wissen rechtzeitig vergessen. Denn glücklich ist, wer vergißt. Also sind wir Österreicher glückliche Menschen. Das wollen nur ein paar dahergelaufene Amerikaner nicht wahrhaben, die schon deshalb die Allerglücklichsten sind, weil sie's von klein auf gelernt haben. Kaum zieht man ihnen den Schnuller aus dem zahnlosen Mund, brüllen sie: „I'm happy, I love me, yeah, I'm happy." Klar, daß sie uns für alles andere halten. Terry, österreichisch verehelichte Zlabinger, Lehrerin an der American International School in Wien, serviert in ihrer Maisonette in Wien-Hemals Gulasch und Semmelknödel, dazu amerikanisches MichelobBier. Ihre Gäste sind amerikanische Kollegen und Österreicher. Die Österreicher, Ablenkweltmeister von jenem Wald, der nicht ihr Heim ist, versuchen, ein sinnvolleres Gespräch in Gang zu bringen. Was denn die Amerikaner von Österreich und den Österreichern hielten? Michael Marinucci, italienisch-stämmiger Amerikaner und ebenfalls Lehrer an der amerikanischen Schule, sagt: „Österreich ist ein wunderschönes Land, ihr habt alles, Wohlstand, Sicherheit, alles funktioniert. Ich frag' mich nur: Wieso sind die Österreicher so unglücklich?" Jesus, hätt' ich beinah geantwortet, du verwechselst die grantelnde Schale mit dem lachenden goldenen Wienerherzen. Aber drehen wir die Frage um: „Ja, ich weiß eigentlich auch nicht, warum ihr Amerikaner so glücklich seid!" Plötzlich klein geworden, sagt der Amerikaner: „Ich weiß nicht, warum ich mich beschwere, es zwingt mich niemand hier zu sein, aber ich bin gern da. Es ist ein großartiges Land, es könnte nur noch viel besser sein. Im Grunde sind es viele Kleinigkeiten, die mich stören. Gemessen an den Problemen in meinem Land sind sie nichtig." Na also, mit Nichtigkeiten kennen wir uns aus. „Nazi", war es aus dem Amerikaner herausgebrochen, bloß weil ihm eine Verkäuferin in Gänserndorf

klipp und klar wissen ließ: „Fremde mit ana großen Goschn hamma net gern!" Was mußte er auch bemerken, daß das Hundehalsband der nächsten Größe sicher gleich viel koste wie das kleinere! Den Preis, Herr Amerikaner, bestimmen wir, auch wenn er der gleiche ist. „Na, na, na, so is des net", sagte die Verkäuferin, weü's eh so war. Daherlaufen und z'ruckreden, na, na, na, da bleiben S' g'scheiter, wo der Pfeffer wachst - net mit uns in Gänserndorf! Er wohnt nur in Gänserndorf, der Mister Marinucci. Dort hat er sich zusammen mit einem österreichischen Freund ein Haus gebaut. Der Nachbar, der sich wie jeder Kleinbesitzer sogleich mit einem Zaun umgab, ließ sofort wissen: „ Wanns was Größeres machts, miaßts mi fragen." So was versteht der Mister Amerikaner nicht, der kommt aus der Wüste, ka Kultur, aber mitreden! Der Mann gegenüber wusch sein Auto, und das Waschwasser rann auf Nachbarsgrund. Der durch Wasser schwer Geschädigte erschien mit violettem Kopf auf der Szene und schrie sich all seine Verletzungen aus Jahrzehnten vom Leib. Und dann kommt so ein dahergelaufener Amerikaner und sagt: „Ich versteh' das nicht, ο Gott, was sind die Österreicher kleinlich, sie streiten andauernd um nichts. Es war nur Wasser, um Gottes willen." Wenn er mit seinem kleinen Honda durch die Stadt fährt, rollt er, wie er es von daheim gewohnt ist, betont langsam, vorsichtig und rücksichtsvoll. Die

Mike Marinucci versteht die Österreicher nicht, er fragt: „Warum seid ihr so unglücklich?"

Die US-Amerikaner

Verkehrskameraden hinter ihm hupen, betätigen die Lichthupe, zeigen ihm den Vogel oder heißen ihn einen „Trottel". Beim Einparken in eine Parklücke bemerkt er, daß Passanten stehenbleiben und ihm zuschauen, daß er's auch richtig macht und daß er an kein anderes Auto anstößt. „Die Österreicher", behauptet er, „kontrollieren einander." Auf der Suche nach einem Parkplatz verfuhr sich Michael in ein Marktgelände. Ein Mann versperrte ihm den Weg und schrie „Trottel", ein zweiter „Du Blöder", ein dritter schlug ihm einen Zahn aus. Einmal fand er hinter dem Scheibenwischer einen Zettel f,Saupolack, geh ham!" Trotzdem mag er diese Stadt. Er hält Wien für eine der schönsten und reizvollsten Städte der Welt. Er kam vor zehn Jahren mit all seinen Klischees von Wien, jener Stadt, in die sich jeder Ausländer verlieben müsse. Ein bißchen wird diese Liebe getrübt, sagt er, sobald man die Sprache beherrscht. Lonnie Johnson, Associate Director des Institute of European Studies in der Wiener Johannesgasse, kennt das Land, er hat zwei Bücher über Österreich geschrieben. Er hält es für ein besonders schönes und reizvolles Land, sozial, sicher, ordentlich und sauber. Es beschäftigt ihn, wie die Österreicher Aggressionen verarbeiten: „Der Österreicher bringt sich selber um, der Amerikaner bringt seinen Nachbarn um." Lonnie liebt Österreich wie die meisten hier lebenden Amerikaner. Ganz versteht er's nicht. Wie viele seiner Landsleute entkommt ihm immer wieder das Wort „schrecklich", und er sagt es, wie man zu einer Liebe sagt, die man nicht ganz wahrhaben will. „Wenn ich am Sonntag um 4 Uhr nachmittag zu einem richtigen, originalen kleinen Wiener Heurigen geh', seh' ich den Herrn Österreicher. Das ist oft gar nicht lustig. Er trinkt drei Vierterln, und wenn er hinausgeht, denk' ich, jetzt geht er nach Haus' und hängt sich auf." Er tut wenigstens keinem anderen was zuleide, ist das nicht wunderbar? Er geht, berauscht, und lebt seinen Tod, und oft scherzt er darüber. Andere scherzen so nüchtern über den Tod anderer. Schon wahr, vielleicht liebt er sich nicht, vielleicht geniert er sich vor sich selber. Es liegt ihm nicht, „I'm happy" zu schreien, weil er es für einen Frevel hält. Und weil doch das Glück ein Vogerl ist. Wenn der Wiener morgens in den Spiegel schaut, sagt er: „Alle Menschen san ma zwider, am meisten i mir selber." Wenn der Amerikaner Renato Cremona, Besitzer der Pension Nossek am Wiener Graben, morgens in den Spiegel schaut, sagt er: „Es ist eigentlich wunderbar, daß es dich gibt." Dann wirbelt er so vergnügt hinaus auf den Graben, daß ihn alle ernsten Wiener für so betrunken halten, wie man in Wien sein muß, um vergnügt zu sein. Gegenüber dem ersten Bekannten oder auch Nichtbekann-

69 ten öffnet er seine Arme und sagt: „Sag, ist das nicht ein herrlicher Tag!?" Der bekannte Nichtbekannte: „Jo, aber im Radio ham s' schon wieder schlecht ang'sagt."

Renato Cremona schaut in den Spiegel und sagt: „Es ist wunderbar, daß es dich gibt."

Ein Renato Cremona läßt sich durch solch eingelernten Negativismus nicht beirren. Er sagt: „Na, um so besser, du weißt eh, wie die von der Wettervorhersage immer danebenhauen!" Und wenn's schüttet und hagelt und schneit zugleich, wird sich der Renato auf den Graben schmeißen und die letzten Flüchtenden zusammenrufen und wird sagen: „Kinder, ist das nicht großartig, was wir da erleben?!" Er wird alle potentiellen Aufhänger um sich versammeln, wird zu ihnen gleich du sagen und sie auf einen Kaffee einladen. Er wird ihnen mit dem ersten Wort den Strick wegnehmen, womöglich tanzen sie bis 7 Uhr früh. Und hängen sich erst nachher auf. Aber der Renato, der wird überleben, mit all seiner charmanten Frechheit, er wird die Leute unterhalten wie der liebe Augustin. Er ist Amerikaner österreichisch-italienischer Abstammung, im Grunde wül er ein besserer Österreicher sein, weltmännisch, freundlich-vergnügt und hilfsbereit. „Hilfsbereitschaft", sagt Lonnie Johnson, „ist hier eine Frage von Glück. Die Österreicher oder vor allem die Wiener als unfreundlich zu verdammen,

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

wäre übertrieben, aber es sind schon eher die Ausnahmen, die einen erfreuen, nicht die Regel." Ihnen allen sind diese Stickers „Ich bin ein freundlicher Wiener" und „Wien ist eine kinderfreundliche Stadt" aufgefallen. Johnson: „Man muß Werbung machen, um einen Mangel zu überdecken." Ron Pisarkiewicz, Amerikaner polnischer Abstammung, Tuba-Bläser der Wiener Philharmoniker, hat mit seiner Frau Susan in zahlreichen europäischen Großstädten gelebt. Heute bewohnt er eine 120-Quadratmeter-Altbauwohnung in der Porzellangasse. Der Vormieter ist in der Wohnung verbrannt, der frühere Hausbesitzer wurde ermordet.

„Die Deutschen", sagt Susan, „sind aggressiv und langweilig. Die Österreicher sind alle ein bißchen verrückt, aber langweilig sind sie nicht." Wie andere hier lebende Amerikaner auch, halten sie insbesondere die Wiener für ziemlich verschlossen, „die Leute haben wenig Freunde". Aber sie halten die Österreicher für hochbegabte Leute. „Schau", sagen sie, „wir kennen hier einen jungen Burschen, heroinsüchtig, eine ungeheure künstlerische Begabung. In Amerika wäre er ziemlich sicher ein großer Künstler. Hier versandelt er, oder er wird vernichtet." Profil vom 10. November 1986, S. 80 f. (Robert Buchacher).

1.16. Die Ukrainer Über die ukrainische, früher ruthenisch genannte Minderheit in Wien ist wenig bekannt, obwohl zur Jahrhundertwende in Wien zwei ruthenische Arbeitervereine aktiv waren.62 Von den 1.432 Personen, die 1910 Ruthenisch als ihre Umgangssprache bezeichneten, waren 1.041 in Galizien und 326 in der Bukowina geboren. Unter ihnen waren nur 172 Frauen.63 In der Ersten Republik befand sich eine ukrainische Flüchtlingskolonie in Wien (Quelle 82).

Ukrainische Flüchtlinge im Wien der zwanziger Jahre, Quelle 82 Nach Auflösung des kurzlebigen, selbständigen ukrainischen Nationalstaates und dem Sieg der Roten Armee flüchteten 1920 viele Ukrainer nach Wien. Im folgenden Artikel schätzt der Autor 1922 10.000 Ukrainer in Wien, in einem anderen Artikel aus dem ]ahr 1924 werden 2.000 ukrainische Flüchtlinge in Wien vermutet,64

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Ukrainische Emigranten in Wien

Wie einst die Schweiz die Zufluchtsstätte verschiedener politischer Flüchtlinge bildete, ist derzeit die Stadt Wien zum Asyl aller politischen Emigranten

geworden. Unter diesen nimmt die ukrainische Emigration eine ansehnliche Stelle ein. In Wien halten sich nämlich ungefähr zehntausend Ukrainer auf. Diese kamen teils aus der Großukraina, von wo sie vor der Schreckensherrschaft der Bolschewiken flohen, und teils aus Ostgalizien. Manchen von ihnen gelang es, einen Teil ihres Barvermögens zu retten, die meisten aber leben von Unterstützungen, die sie von Verwandten und Landsleuten in Amerika erhalten. Wenn man bedenkt, daß in den Vereinigten Staaten fast eine Million Ukrainer leben, so bedarf es wahrlich keiner allzu großen Opfer, um bei der Entwertung der Krone die Wiener ukrainische Kolonie durch Dollarspenden reichlich unterstützen zu können. Die Mehrzahl der ukrainischen Emigranten sind Intelligenzler. Sie wissen das Asyl, das sich ihnen in Wien aufgeschlossen hat, zu schätzen: die ganzen Jahre hindurch hat kein Ukrainer die Ordnung der Stadt und des Staates, der ihnen zur zweiten Heimat geworden ist, gestört. Ruhig gehen sie ihrer Arbeit nach und wenn man die Summen addiert, die sich aus den in Wien in Druck gegebenen und zum großen Teil durch österreichische Arbeiter hergestellten Verlagswerken ergeben, so kann man ruhig behaupten, daß sie Wien nicht nur nicht zur Last werden, sondern nach ihren Kräften zum Wiederaufbau der wirtschaftlichen Verhältnisse beitragen. Neues Wiener Tagblatt vom 22. Dezember 1922, S. 4.

Deutschsprachige Minderheiten aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn

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1.17. Deutschsprachige Minderheiten aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn: Flüchtlinge und Vertriebene Die Geschichte deutschsprachiger Minderheiten in den oben genannten Staaten reicht unterschiedlich weit zurück. Beispielsweise wurden im 18. Jahrhundert Bauern und Handwerker zur Besiedlung der Batschka und des Banats angeworben. Die Bezeichnung „Donauschwaben" für diese Siedler ist irreführend, denn sie kamen aus mehreren Gebieten und Ländern. Das Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland förderte den Aufschwung deutschnationaler und nationalsozialistischer Strömungen in den diversen deutschsprachigen Minderheiten in unterschiedlicher Weise. In Jugoslawien etwa standen Nationalsozialisten jenen gegenüber, die eine Kulturpolitik in der Tradition der Monarchie praktizierten. Im sudetendeutschen Gebiet der Tschechoslowakischen Republik errang die den Anschluß an Deutschland propagierende Henlein-Partei bei den Parlamentswahlen 1935 zwei Drittel der Stimmen.65 Das aggressiv-deutschnationale Auftreten von Teilen der Minderheiten riß tiefe Gräben in den Beziehungen zu anderen Volksgruppen und verschärfte sich nach der Besetzung durch deutsche Truppen im Kriegsverlauf. Adolf Hitler empfahl bereits in einer Rede vom 6. Oktober 1939 die ethnographische Neuordnung Europas, einen Bevölkerungsaustausch zur Bereinigung der Nationalitätenkonflikte.®6 Ein Teil dieser Minderheiten wurde im Verlauf des Rückzuges „deutscher" Truppen evakuiert bzw. flüchtete. Im Herbst 1944 setzten sich in Siebenbürgen und im Gebiet des Staates Jugoslawien Flüchtlingstrecks in Bewegung. Andere flüchteten per Bahn, Schiff und Autostopp (Quelle 83). Nach dem Kriegsende beschuldigten mehrere Staaten die deutschsprachigen Minderheiten kollektiv für die Greueltaten der NS-Herrschaft. Die Folgen waren: Internierung, Zwangsarbeit, Enteignung und Aussiedlung. Die Tschechoslowakei griff sogar auf Methoden der Nationalsozialisten zurück: Armbinden zur Kennzeichnung, Verbot der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel etc. Mit den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz von August 1945 wurde die Aussiedlung der deutschen Minderheiten aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei geregelt. Laut Eduard Stanek kamen 556.000 Personen nach Österreich, von ihnen wurden 302.000 ansässig. Es handelt sich somit um die größte Flüchtlingsgruppe, der in Österreich Asyl gewährt wurde. Von den Flüchtlingen in Wien stammten knapp zwei Drittel aus der Tschechoslowakei, weitere 20 Prozent aus Jugoslawien. Die Aufnahme der Flüchtlinge war anfangs

distanziert, und gesetzliche Bestimmungen behinderten sie in der Berufsausübung. Erst allmählich setzte sich die Gleichstellung dieser Staatenlosen bzw. Personen mit ungeklärter Staatsbürgerschaft durch.67 Bis 1954 wurden in Wien etwa 80.000 sogenannte Heimatvertriebene eingebürgert68 (Quelle 84).

Bericht über die Flucht aus Jugoslawien, Quelle 83 Der Gymnasialprofessor J. P. flüchtete im Oktober 1944 vor den anrückenden sowjetischen Truppen von Novi Sad (Neusatz) mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Budapest. Für eine seiner Töchter konnte er in Budapest einen Heimplatz finden. Als die sowjetischen Truppen immer näherrückten, flüchtete er weiter nach Wien.

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Auf der Flucht.

Wien war schon in meiner Jugend der Wunsch meiner Träume, das Wien des letzten Kriegsjahres bleibt mir aber wie ein riesiger Trümmerhaufen im Gedächtnis. Schon die Ankunft am Bahnhof bot ein trauriges Bild. Im arg beschädigten Gebäude lagen am Fußboden verwahrloste Gestalten herum, im Wartesaal war eine Luft zum Ersticken. In der frühen Morgenstunde machte ich mich auf den Weg zu meinem Sohn. Müde schleppte ich mich durch die große Stadt. Angekommen, las ich auf der Namensliste: Dr. L. P. Eine wohltuende Wärme lief durch meinen ganzen Körper: mein jüngerer Sohn ist also auch zum Arzt promoviert worden. Es war die erste Freude seit Wochen. Doch erfuhr ich gleich danach, daß er nach der Promotion einrücken mußte. Ich nahm sein Zimmer in Besitz und eilte zurück, um die Meinigen „heimzubringen". Ich hoffte bei einer Oberschule eine Anstellung zu bekommen. Man stellte mir eine in Reichenberg in Aussicht. Es vergingen Wochen, die Ernennung aber blieb aus. Kein Wunder! Niemand wußte, was der Morgen bringt! Die Ämter waren stundenlang geschlossen, die Beamten saßen während der Fliegeralarme im Schutzkeller. Wer morgens wegging, konnte froh sein, wenn er abends seine Wohnstätte unversehrt wiederfand. In manchen Stadtteilen blieb kein ganzes Haus. Einmal fiel eine amerikanische Bombe 20 m von unserer Wohnung in einen Garten,

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

der Luftdruck fegte die Dächer der ganzen Umgebung weg. Ein anderes Mal sprang ich mit meiner Tochter noch rechtzeitig vom Straßenbahnwagen ab und eilte in den Schutzkeller vor dem Wiener Rathaus. Als wir nach zwei Stunden herauskamen, fanden wir unseren Wagen völlig zertrümmert. Kein Tag verging ohne traurige Erlebnisse. Wir verkauften allmählich Ringe und Ketten, um den Hunger stillen zu können. In tiefer Sorge um meine in Budapest gebliebene Tochter und ihre drei kleinen Kinder stand ich eines Tages am Fenster und schaute in den kalten Winter hinaus. Da erblickte ich beim Nachbarshaus eine Frau mit Kindern, wie sie mit dem eisigen Wind kämpfte. Entsetzt erkannte ich in den Armen meine eigenen Kinder. Ich rannte um sie. Halb erfroren, sanken sie mir in die Arme; doch als ich sie in unser Zimmer führen wollte, stand die Hausfrau vor mir und wollte den Kindern den Eintritt verbieten, ihr Parkettboden sollte von den schneeigen Schuhen nicht naß werden. Noch heute ballt sich mir die Faust, wenn ich an diese Szene zurückdenke. Mit bewegten Worten schildert mir die Tochter ihre Angst, die sie in der von den Russen gestürmten Stadt Budapest aushielt; das Haus, in dem ich sie gesichert glaubte, wurde zerstört. Ein deutsches Militärauto nahm sie mit den Kindern auf und brachte sie bis Györ (Raab). In einem Gasthaus fand sie hier Unterkunft, mußte ihre Kinder neben betrunkenen Soldaten auf der nackten Erde betten, in grimmiger Kälte auf Gelegenheit warten und streckenweise bis Wien weiterfahren. - Da war es schwer, mit sieben Personen in einem kleinen Zimmer zu leben, auch nahm die Stadt Wien in der verhängnisvollen Zeit keine Familien mit Kindern auf. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Wiener Durchgangslager mußten meine Kinder sich wieder von uns trennen. Mit einem Transport kamen sie nach Frankenstein in Schlesien. Als die russische Front auch dahin immer näher rückte, wurden die Hüchtlinge wieder gegen Westen konzentriert, und so kamen die Meinigen nach Komeuburg bei Wien. Es war eine schreckliche Zeit. Kein Tag verging, daß Wien und die Umgebung nicht mit Bomben belegt worden wäre. Wer sein Haus verließ, wußte nicht, ob er es nicht in Trümmern, seine Angehörigen als Leichen wiederfinden werde. Das unreine Lager, die im Schutzkeller verbrachten nächtlichen Stunden, die Masernepidemie, die das jüngste Kind schwer mitgenommen hat, dann die Sorge um den Familienvater, von dem man nicht einmal wußte, an welcher Front er sei, brachten meine kleine Familie der Verzweiflung nahe. Als sich die Möglichkeit bot, mit einem Kindertransport in das Waldviertel (im nördlichen Teil Österreichs) zu fahren und als wir selbst auch mitfahren konnten, beeilten wir uns, dem Gefahrenzentrum

Wien zu entkommen. Nach langer Reise kamen wir in ein kleines Dorf, Grünbach ein der Thaya. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, München 1984, Band V, S. 109 f.

Ein Flüchtlingslager in Wien 1949, Quelle 84 Die ersten Nachkriegsjahre waren für die Flüchtlinge karge Jahre. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren gelang ihnen der Aufbau gesicherter Existenzen in Österreich, in vielen Orten entwickelten sie eine beachtliche Eigenheimbautätigkeit. Hier ein Bericht aus dem Jahre 1949.

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Bacska-Flüchtlinge auf dem Kobenzl

Bauernfleiß rings um das Schloßhotel - Zwölfhundert Menschen mit ungewisser Zukunft In diesen vier Jahren seit dem Kriegsende ist viel vom Leid der vertriebenen Deutschen aus dem Bereich der einstigen Donaumonarchie gesprochen und geschrieben worden. Man hat sie auch hier in Stadt und Land gesehen, wie sie oft ziel- und planlos herumgetrieben worden sind. Österreich hat sich im großen für viele von ihnen - und wie viele gehörten doch einstmals zu Österreich! - als die arme, selber klein gewordene, aber warmen Herzens gebliebene Mutter erwiesen, bei der sie nicht vergebens um eine Mahlzeit und ein schützendes Dach gebeten haben. Es sind noch tausend Probleme geblieben, deren Lösung lange auf sich warten lassen. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Ein ganz kleiner Ausschnitt soll gezeigt werden, etwas, das viele Wiener, die in den sieben Kriegsjahren so manchen schweren Schlag erlitten haben, in ihrem Gram zum Verstummen bringen soll, wenn sie sich einmal so ein paar Hundert von der Heimat Vertriebener genauer ansehen. Ein ergreifendes Bild Kommt man bei einer Wienerwaldwanderung auf den Kobenzl, bietet sich einem das Bild, das dem gewohnten Beschauer wohl nicht fremd sein mag, das aber jenem, der jahrelang nicht hier war, ans Herz greift. Das Schloßhotel, gelegentlich der Einnahme Wiens im Jahre 1945 sehr arg mitgenommen und verwüstet, ist notdürftig bewohnbar geworden. Die beiden Flügel, einstmals Cafesalon und Speisesaal und ganz verglast, haben nur wenige Scheiben, der Rest ist Pappendeckel. Die Schloßterrasse, dürftig halb Rasen, halb Gehweg, liegt einsam da, einsam,

Deutschsprachige Minderheiten aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn

auch wenn gerade ein paar Menschen an der Balustrade lehnen. Was für Menschen sind das, die da hinunterschauen in den Sonnendunst über der Stadt und weiter hinaus ins Ungarische? Folgt man ihren Blicken, scheint es, als schauten sie noch weiter. Schwaben aus der Bacska sind es, ein paar von den zwölfhundert, die hier im Schloßhotel und den ringsum liegenden dreizehn Baracken an den Hängen des Wienerwaldes leben. Von heute auf morgen. Das Schicksal hat es ihnen schlecht gedankt, daß ihre Urväter nach den Türkenkriegen in die ungenützte, von viel verheißendem Löß strotzende Ebene ins Land gerufen, dort eine der fruchtbarsten, reichsten Kolonien geschaffen haben, wo jetzt der montenegrinische Bergbauer mit primitiven Anbauproblemen nicht fertig werden kann. Blindwütig vertrieben hat man die Nachfahren dieser beispielhaften Kolonisatoren. Verstreut über halb Europa, ein wenig schwer in Wort und Schrift, aber so treu wie ihre wasserblauen Augen, und voll Fleiß und Arbeitslust, haben sie sich einstweilen mit ihrem ungewissen Schicksal abgefunden. Lagerschule und Kindergarten

Inmitten der „versunkenen Pracht" um das Schloßhotel Kobenzl sind Fleiß und Sauberkeit, soweit der enge Raum es zuläßt, allenthalben zu sehen. Sie bilden einen winzigen Staat, diese zwölfhundert Bacskaleute, es sind auch etliche Banater unter ihnen. Sie haben eine eigene Lagerschule, bis zur vierten Klasse. Auf der Dachterrasse oberhalb des einstigen Cafes ist der Kindergarten. Der Restaurantsalon ist der Allround-Raum der kleinen Kolonie. Hier wird sonntags um neun Uhr morgens der katholische, um zehn Uhr der protestantische Gottesdienst abgehalten. Abends ist es der Festsaal. Bäuerliches Theater wird gespielt, mit viel Heimaterinnerung, auch Tanzunterhaltungen finden hier statt. Sie haben ihren eigenen Arzt und eine Krankenschwester. Wovon sie leben

Wovon sie denn eigentlich leben, fragt man sie. Ja, bis auf die ganz Alten arbeiten alle. Die meisten Männer im Baugewerbe, als Hilfsarbeiter. Man habe

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ihnen wiederholt vorgeschlagen, doch aufs Land zu gehen, dort gebe es starke Nachfrage. Ja, sie täten es gerne, aber da wäre ein Haken: in der Russenzone würden sie sofort die Zugehörigkeit zur amerikanischen Zone verlieren, mit allen entsprechenden Folgen. Spezialisten aus Mangelberufen haben natürlich sofort Arbeit gefunden, die Frauen machen viel Gelegenheitsarbeit in der näheren und ferneren Umgebung. Untätig wären nur die ganz Alten. Für die gebe es eine große Hoffnung. Nach dem Zusammenbruch von 1918 wanderten viele Schwaben aus der Bacska nach Übersee aus. Abgesehen davon, daß von dort sehr viel Liebesgabenpakete kämen, nehmen viele jetzt ihre alten Eltern oder Großeltern zu sich hinüber. Zudem habe Schweden jetzt eine größere Aktion eingeleitet und sei bereit, alle Männer und Frauen aus der Bacska hinaufzunehmen. Lieder der Heimat

Da spielt auf der breiten Straße, die vom Schloßhotel zu dem jetzt wieder in Betrieb gesetzten Restaurant vorn an der Straßenbiegung führt, eine Kindergruppe. Ein Mädchen steht in der Mitte. Innerhalb von zehn Minuten mußte sie fort von der Heimat. Aber sie singt mit den Kindern Lieder der Heimat, ewige Lieder, ewig, ob sie in der Theißebene oder auf dem Kobenzl gesungen werden. Ringsum zwischen den Baracken an den Hängen unter der Schloßterrasse, wo einst die täglich liebevoll betreuten rostroten Tennisplätze standen, ist alles voll von Kukuruz. Letzte, winzige Erinnerimg an die mächtig spendende, überreiche Heimaterde. Da geht breitbeinig, schon ein wenig unsicher im Schritt, der einstige Großbauer N. aus dem Neusalzer Komitat mit seiner langen, geraden Pfeife und sieht über die Böschung hinunter in die kleine Niederung. Er erfreut sich an dem reifenden, hohen Blütenstand. Kleine Freude des Erdgebundenen, Erdverwachsenen. Zwanzig Quadratmeter nennt er hier „sein eigen", daheim waren es hundertfünfzig Joch. Er konnte sie mit noch viel jüngeren und stärkeren Augen als heute beim besten Willen nicht übersehen. Jetzt kann er die „Ernte" an den Fingern abzählen . . . Die Presse vom 7. August 1949, S. 5.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.18. Die Filipinos In den siebziger Jahren warb die Gemeinde Wien philippinische Krankenschwestern an. Zum Zeitpunkt der Volkszählung 1981 hielten sich 981 philippinische Staatsbürger in Wien auf (Quelle 85).

Filipinos in Wien, Quelle 85 85

„Fräulein Schokolade"

In Wien leben heute 2.100 philippinische Staatsbürger und hundert eingebürgerte Filipinos. In ganz Österreich wird ihre Zahl auf 4.000 bis 5.000 geschätzt. In Rom sind es 15.000, in den USA 1,5 Millionen. Sie haben ihr Land nicht verlassen, weil sie die Inseln, deren Klima, deren Fruchtbarkeit so unerträglich fanden. Sie haben ihr Land verlassen, weil die ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen unerträglich waren. Sie suchten Lebensstandard, Entfaltungsmöglichkeit, Freiheit. Manche über eine Heirat. Andere - wie die Krankenschwestern - über bilaterale Kontrakte. Weil Wiens Spitäler über großen Mangel an diplomierten Krankenschwestern klagten, schloß die Stadt 1973 ein Abkommen mit dem philippinischen Arbeitsministerium: Diplomierte philippinische Schwestern sollten mindestens drei Jahre in Wiener Spitälern arbeiten. Die Stadt Wien verpflichtete sich zur Übernahme der Reisekosten und zur Nostrifizierung des philippinischen Schwesterndiploms nach Absolvierung eines Deutschkurses. Geboten wurde ein Monatsgehalt von anfangs 7.500, später 9.000 Schilling sowie die Unterbringung in Schwesternheimen. Bedingung: Die Schwestern mußten unverheiratet sein. Im Lauf der Jahre kamen Hunderte philippinische Schwestern nach Wien. Etliche gingen wieder zurück in ihre Heimat, viele heirateten Österreicher und sind bereits österreichische Staatsbürger. Eine dieser Schwestern, 35, stammt aus einer bekannten philippinischen Familie. Sie bat, deshalb ihren Namen nicht zu veröffentlichen. Nennen wir sie Maria. Sie lebt seit 1974 in Wien, ist mit einem Österreicher verheiratet und hat mittlerweile zwei Kinder. Die Filipinos nennen Kinder aus solchen Mischehen „mestiza" oder „mestizo", das ist keineswegs ein abwertender Begriff, ganz im Gegenteil. Maria absolvierte eine fünfjährige Schwesternausbildung in Manila (entspricht dem amerikanischen nurcing degree. Studienkosten umgerechnet 300.000 Schilling) und arbeitete anschließend drei Jahre als

Diplomschwester in einem Privatspital. Sie verdiente 400 Pesos im Monat (damals umgerechnet etwa 1.600 Schilling) bei freier Station, was für eine ledige Frau durchaus nicht schlecht war. Aber sie wollte weg, zumindest für ein Jahr, einfach so, als Abenteuer. Es war zu dieser Zeit nicht leicht, aus den Philippinen rauszukommen, Visaanträge wurden oft abschlägig behandelt. Anstatt eines angestrebten Vertrages für die USA oder Kanada bekam sie einen für Wien und war enttäuscht. Sie kam zusammen mit sechs anderen Diplomschwestern und acht Hebammen. Ein Magistratsbeamter holt die Gruppe mit einem Kleinbus vom Flughafen ab und startet gleich zu einer Stadtrundfahrt. Marias erster Eindruck: „Eine Stadt der alten Leute." Zweiter Eindruck: „Man ist hier sehr kinderfeindlich. Die Leute wollen nicht, daß sich Kinder wie Kinder benehmen."

Maria bezog für 70 Schilling im Monat ein Schwesternheim auf der Baumgartner Höhe, begann in einem Gemeindespital zu arbeiten und fühlte sich miserabel. Erstens wegen mangelnder Sprachkenntnisse (sie besuchte einen sechswöchigen Intensivkurs), zweitens, weil die Arbeit einer Diplomschwester in den Wiener Gemeindespitälern keineswegs der Arbeit einer Diplomschwester auf den Philippinen entspricht. Philippinische Krankenhäuser entsprechen dem US-Modell: Die Diplomschwester steht dort ungefähr in der Mitte zwischen Arzt und Hilfsschwester. In den Wiener Gemeindespitälern unterscheidet sich die Tätigkeit der Diplomschwestern (auch der österreichischen) laut Aussagen mehrerer philippinischer Schwestern nicht wesentlich von der Tätigkeit einer minderqualifizierten Pflegekraft. „Ich darf hier nicht einmal Spritzen verabreichen, wofür ich ausgebildet bin", sagt Maria, „die Ärzte haben es verboten, sie wollen keine Verantwortung übernehmen."

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Die Filipinos

Gerald Kummenecker, Funktionär der PhilippineAustrian Friendship Society und Ehemann einer philippinischen Diplomkrankenschwester, schlägt in dieselbe Kerbe: „Auf den Philippinen tut die Diplomschwester viel mehr für den Heilungsprozeß des Patienten, hier ist sie eine bessere Serviererin." Schwester Maria nennt nicht den medizinischen Standard, wohl aber die Pflege „konservativ und unmodern" . „Ich wollte unsere nurcing procedure hierherbringen, aber man will keine Veränderung. Sie sagen: Das hamma immer so gmacht." Ein schwedischer Pfleger, der im Spital neu aufgenommen wurde, fragte Schwester Maria. „Wie schaut das Organisationsschema aus?" Schwester Maria nach 12jähriger Tätigkeit: „Ich hab' keine Ahnung." Zunächst erlebte Maria in ihrer neuen Umgebimg keinerlei Diskriminierung. „Die Leute waren sehr freundlich. Wenn ich den Spazierweg durch die Schrebergärten zur Baumgartner Höhe gegangen bin, schenkten mir alte Leute sogar Blumen. Und die Kinder nannten mich,Fräulein Schokolade.' Aber es blieb nicht immer so. Zunächst begannen kleine Sticheleien, etwa in Form eines Satzes aus dem Mund einer österreichischen Krankenschwester: „Die Filipinos haben alle schon an Freund, die schnappen uns die besten Männer weg." Maria, die angibt, sie sei im Alter von 24 Jahren als Jungfrau nach Österreich gekommen, heiratete einen Österreicher. Als sie hochschwanger ins Krankenhaus kam, schimpfte dort ein Techniker: „Diese Ausländer, unverschämt, schröpfen den Staat, und mir zahlen des mit unsere Steuern." Am Ende sagte er: „I wüll ka Kind, i nimm mir lieber an Hund." An der Bushaltestelle hörte sie einen Österreicher sagen: „Schau, diese Schwarzen kriegen Kinder, unsere net." Eine Filipina aus der Philippinisch-Österreichischen Gesellschaft über die Wiener: „Die Kinder treiben sie ab, und den Hunden ziehen sie Jackerln an, damit sie's nicht kalt haben." Auf den Philippinen sind die Kinder der Mittelpunkt jeder Familie. Die philippinische Durchschnittsfamilie hat sechs Kinder, und es gibt gar nicht wenige Familien mit bis zu 24 Kindern. Aufgrund einseitiger Ernährung (meist nur Reis und etwas Gemüse, wenig Fisch) ist ein hoher Prozentsatz der Kinder zwar nicht unter-, wohl aber fehlernährt. Wie philippinische Eltern mit ihren Kindern umgehen, läßt sich jeden Sonntag bei der 11-UhrMesse in der Wiener Jesuitenkirche beobachten. Schon vor der Kirche treffen zwei Welten aufeinander. Österreichische Gläubige, meist ältere Leute, verlassen kurz vor 11 Uhr das Gotteshaus. In das Grau der alten Leute mischt sich ein buntes, viel jugendlicheres Volk. Filipinos aus ganz Wien

kommen zum philippinischen Gottesdienst. Bunt gekleidet, lebhaft. Viele Kinder, viele Babys, Kinderwagen. Eine Gruppe junger Burschen schleppt eine HiFi-Anlage und Musikinstrumente ins Gotteshaus. Während des Gottesdienstes laufen Kinder umher, in den Bänken füttern Mütter ihre Babys, auf einem Pult liegen Orangenschalen, auf einem anderen steht ein Babyfläschchen. Neben einem Filipino hängt ein Hut mit Gamsbart.

Hut mit Gamsbart, teefarbene Haut: eingebürgerter Filipino in Wien.

Ein Merkmal vieler Füipinos in Wien wie auch sonstwo auf der Welt: hochgebildet, aber sich nie zu schade, auch einfache Arbeiten anzupacken. Die Filipinos, Frauen wie Männer, gelten überall als eifrige Arbeiter mit ungeheurem Aufstiegswillen und ohne Scheu, auch vorübergehend hinabzusteigen. Rolando Caguete, 37, zum Beispiel war Rechtsanwalt auf den Philippinen. Heute arbeitet er als Packer bei einer österreichischen Export-Import-Firma. Seine Frau war 1979 als Diplomschwester nach Wien gekommen. Er kam „aus Liebe" nach. Acht Monate hatte er keine Arbeit. Oder Francisco, 30, aus Manila: Er folgte vor vier Jahren seiner Verlobten, einer phüippinischen Diplomschwester, nach Wien. Die beiden heirateten und haben mittlerweile zwei Kinder. Francisco arbeitete ein Jahr lang als Tellerwäscher im Eurest-Restaurant der UNO-City, mittlerweile ist er Buchhalter und arbeitet am Computer. Gilbert, 26, . . . kam erst vor kurzem als Tourist nach Wien. Er will sich um einen Job umschauen und sagt, die Arbeitssuche sei ein Teufelskreis: Der Unternehmer gibt einem die Arbeit nur, wenn man bereits eine Arbeitsbewilligung hat. Die Arbeitsbewilligung aber bekommt man nur, wenn man schon eine Arbeit hat. Sein erster Eindruck von Wien? - „Die Leute hier lachen nicht. Sie schauen immer so böse. Wahrscheinlich sind sie unglücklich." Profil vom 17. März 1986, S. 62-66 (Robert Buchacher).

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.19. „Türkische", armenische, griechische, aromunische Kaufleute Als „türkische Kaufleute" wurden Armenier, Griechen, spanolische Juden und Aromunen bezeichnet, die Staatsbürger des Osmanischen Reiches waren. Die Armenier, die seit dem Mittelalter in Diaspora leben, dominierten während des 16. und 17. Jahrhunderts den Orienthandel. Sie wurden außerdem - so auch von den Habsburgern - für Spionage- und Kurierdienste verwendet. Mit dem Vorstoß des Osmanischen Reiches auf den Balkan und bis nach Ungarn verlegten etliche Armenier ihre Lager nach Wien, das zu einer Brücke zwischen den armenischen Handelsvorposten in London, Amsterdam und der Levante wurde. Kriege störten immer wieder ihren Handel, so war die Zerstörung des persischen Isfahan, wo sich eine armenische Kolonie befand, ein schwerer Schlag für den armenischen Seiden- und damit Luxuswarenhandel. Ihr wirtschaftlicher Niedergang in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts spiegelte sich etwa darin, daß 1767 von 21 in Wien weilenden Armeniern (Männern) acht als Hausierer Kaffee und Süßwaren auf Jahrmärkten anboten. Von den männlichen „türkischen Untertanen" waren 18 türkische Juden, 21 Armenier und 82 „Griechen", von denen die meisten aus Nordgriechenland bzw. Makedonien stammten; von diesen Griechen waren 72 Handelstreibende. 90 Jahre später, 1857, waren von den 251 Griechisch-Orthodoxen in Wien 58 Prozent im Handel tätig. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Wien ein Hauptumschlagsplatz im Handel zwischen dem Balkan, dem Osmanischen Reich und Mitteleuropa, der von griechischen Kauf leuten betrieben wurde. Bei diesen handelte es sich wieder um Angehörige mehrerer ethnischer Gruppen. Viele waren Aromunen, die im 18. Jahrhundert eine zentrale Position im Geschäftsverkehr zwischen Europa und dem Orient innehatten und schließlich den zunehmenden Repressionen im Osmanischen Reich weichen mußten. Da sie neben ihrer Muttersprache, einem der vier Hauptdialekte des Rumänischen, Griechisch als die am Balkan übliche Verkehrssprache verwendeten, bezeichnete man sie als Griechen. Heute erinnert noch die Dumbastraße an ein bekanntes Mitglied dieser aromunischen Kaufleute (Quellen 86, 87). In dieser Zeit errichteten große Kaufhäuser aus Deutschland, der Schweiz und England ständige Vertretungen und Verladungsmagazine in Wien. Hier wurden Geschäfte abgeschlossen und Zahlungsmodalitäten ausgehandelt. Wien entwickelte sich zu einem wichtigen Geld-, Bank- und Wechselplatz. Der Handel wirkte sich belebend für Gewerbe, Transport, Geldwesen und die Industrie aus.

Infolge politischer Veränderungen und Änderungen im Transportwesen verlor Wien um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Umschlagplatz seine Bedeutung.®9

Die griechische Kolonie, Quellen 86, 87 86

Karavanserei in der Ungargasse

Durch die engen Familien und Freundschaftsbeziehungen, die die Mitglieder der griechischen Kolonie mit den Griechen auf dem Balkan und im Orient verbanden, hatten die Griechen gewissermaßen ein Handelsmonopol, das sich zugunsten des alten Österreich und vor allem Wiens auswirkte. Wie beherrschend die Stellung der griechischen Kaufleute im Südosthandel war, geht schon daraus hervor, daß sich neben Schweizer und norddeutschen Kaufleuten selbst Londoner Häuser des Wiener Platzes bedienten. Die Seidenwaren aus der Lombardei und Piemont gingen damals nicht etwa über die Seehäfen Genua, Venedig oder Triest, sondern der Achse über Wien nach der Levante, weil man es für vorteilhafter hielt, mit den griechischen Kaufleuten von Wien und über sie mit deren auswärtigen Klientel zu arbeiten. In den Griechenquartieren Wiens wurden zuweilen bis zu 300 Lastwagen zusammen abgefertigt, unter denen sich oft ganz schwere, große Fahrzeuge mit vielen Zentnern an Lasten befanden. Nach zeitgenössischen Schätzungen sind in guten Zeiten bis zu 10.000 Fuhren im Jahr von der unteren Donau und dem Balkan nach Wien gekommen, so daß per Achse eine Menge von einigen Millionen Doppelzentnern bewegt wurde. Dazu kamen noch die Schiffsfrachten auf der Donau. Hauptartikel dieses Handels waren Landesprodukte des Orients, die teils für den lokalen Verbrauch bestimmt waren, teils aber auch nach Deutschland und der Schweiz weitergeführt wurden, die ihrerseits diese Waren an andere Länder weitergaben. Der Hauptteil der Einfuhr aus dem Südosten entfiel auf Schafwolle, die vor dem Aufblühen der australischen Schafzucht einer der wichtigsten Ausfuhrartikel des Südostens war. Neben der Schaf-

Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener in der NS-Zeit

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wolle wurde späterhin auch die Baumwolle in beträchtlichem Umfang eingeführt. Neben Wolle und Baumwolle wurden noch Gerbund Farbstoffe, Reis, Kaffee, Rauchwaren und Leder gehandelt. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1942, S. 3.

„Griechen" im Kaffeehaus auf der Rotenturmbastei Zeichnung von }. A. Klein, 1817. Reingard Witzmann (Hg.), Das Wiener Kaffeehaus. Von den Anföngen bis zur Zwischenkriegszeit, Wien 1980, S. 65.

1.20. Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener in der NS-Zeit Als Folge von Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft stieg in Deutschland ab 1935 der Bedarf an Arbeitskräften, die Zahl der Arbeitslosen sank, eine Landflucht setzte ein. Bereits 1937 wurden polnische Landarbeiter für Deutschland angeworben. Nach dem „Anschluß" Österreichs wurden cirka 100.000 österreichische Arbeitskräfte nach Deutschland dienstverpflichtet. Während des Weltkrieges mußte der Ausfall der im Krieg befindlichen Soldaten ersetzt werden. Eine eigene Gesetzgebung ermöglichte die zwangsweise Verpflichtung von Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten. Die in der rassistischen NSIdeologie geringgeschätzten ausländischen Arbeitskräfte waren einer Unzahl diskriminierender Bestimmungen und Strafmaßnahmen ausgesetzt: Internierung, Unterbringung in umzäunten Lagern, Ernährungsentzug etc. Im Herbst 1940 waren bereits zehn Prozent aller Beschäftigten im Deutschen Reich Ausländer. Bis zur Niederlage in der Sowjetunion wurde auf den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener verzichtet, man ließ diese bewußt verhungern: Bis Ende 1941 starben 60 Prozent der 3,35 Millionen Gefangenen. Erst im Februar 1942 begann der Arbeitseinsatz der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Ende 1944 waren im Deutschen Reich mehr als sieben Millionen Zivilarbeiter und Kriegsge-

fangene beschäftigt. Nach militärischen Rückschlägen wurde ab Mitte 1942 das Arbeitskräftereservoir in den Konzentrationslagern mobilisiert. In Österreich begann der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte 1939. Beim Bau der Linzer Hermann Göring Werke, der VOEST, waren 8.000 Ausländer beschäftigt. In Wien stand das Großtanklager Lobau auf dem Programm. Anfangs wurde nur ein geringer Teil der „Fremdarbeiter" in der Industrie eingesetzt, hauptsächlich arbeiteten sie in der Landwirtschaft und auf Baustellen. Der Großteil kam aus dem „Protektorat" Böhmen und Mähren sowie aus der Slowakei. Geringere Kontingente stellten Italien und Bulgarien. Einer Statistik vom 25. April 1941 zufolge waren in Wien und Niederösterreich 50.385 Ausländer beschäftigt, das waren 5,3 Prozent aller Beschäftigten. Um dem Engpaß in der Wiener Rüstungsindustrie entgegenzuwirken, wurden ihr Ende des Jahres 1942 13.600 Arbeitskräfte zugeführt, davon 83 Prozent Ausländer. Im Rahmen der landesweit angelegten Sonderaktion „Panzer 43" erhielten die SimmeringGraz-Pauker Werke und Saurer-Wien neue ausländische Arbeitskräfte. Der Anteil der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in der Industrie stieg rapide an. Am 31. Mai 1944 erreichten die ausländischen Ar-

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

beitskräfte an den in der österreichischen Industrie Beschäftigten einen Anteil von 28 Prozent, an den in der Rüstungsindustrie Beschäftigten sogar 42 Prozent.70 Zur Herkunft der „Fremdarbeiter" in Österreich liegen bisher nur ungenaue Angaben vor. Während im Deutschen Reich in der ersten Phase des Weltkrieges polnische Zwangsarbeiter die größte Gruppe waren, dominierten in der zweiten Phase sowjetische Kriegsgefangene, gefolgt von Polen, Tschechen, Franzosen, Italienern und anderen. In Österreich waren die Zwangsarbeiter aus dem Donau-BalkanRaum stärker vertreten als in Deutschland (Quellen 88-90). Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte ermöglichte einen Umstrukturierungsprozeß in Richtung großindustrieller Produktionsformen. „Die ausländischen Zivilarbeiter/innen, Kriegsgefangenen und KZHäftlinge mußten die .Modernisierung* Österreichs zu Zehntausenden mit ihrem Leben bezahlen. Die das Glück hatten zu überleben, erhielten für ihre Arbeit weder von Firmen noch von der Republik Österreich eine Entschädigung."71

Italienische „Fremdarbeiter" in Wien 1939-1945, Quellen 88-90 Als Gegenleistung für die Unterstützung mit Kriegsgeräten und Rohstoffen stellte die italienische faschistische Regierung dem Deutschen Reich ab 1939 Arbeitskräfte zur Verfügung. Die NS-Medien gaukelten eine Harmonie vor, die der Realität kaum entsprach.

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Italiener im Arbeitseinsatz

Männer aus dem sonnigen Süden in der Lobau. Vivace bei der Arbeit, dolce beim Gesang. - Besuch bei den italienischen Arbeitskameraden. Inmitten der Lobau, eingebettet in die malerischen Donauauen, erhebt sich ein schmuckes Lager, das sich in die Landschaft harmonisch einfügt. Hier leben rund tausend italienische Arbeiter, die aus ihrer sonnigen Heimat zu uns gekommen sind, um gemeinsam mit den deutschen Arbeitskameraden zu schaffen. Der italienische Arbeiter, ganz besonders der Bauarbeiter, ist bei uns immer gern gesehen, denn er versteht sein Fach, er besitzt geschickte und fleißige Hände, die zupacken. Geführt von Oberlagerführer Posch gehen wir durch die Lagerstraßen, in denen reges Leben herrscht. Ein Großteil der Männer ist erst vom Weihnachtsurlaub, den sie in der Heimat verbracht haben,

zurückgekehrt, sie beginnen erst am nächsten Tag wieder mit der Arbeit. Die einen schlendern durchs Lager, die anderen sitzen im warmen Zimmer, spielen und singen und tauschen ihre Reiseerlebnisse aus. Etwas außerhalb sehen wir eine Gruppe bei der Arbeit. „Forza . . . Forza . . .!" tönt es uns entgegen. Einige Männer bemühen sich einen schweren Stamm von der Straße zu rollen, und begleiten diese Arbeit zur Hebung ihrer Kraft mit dem italienischen „Horuck", das eben „Forza" (Kraft) heißt. Wir sprechen einen Mann an, holen unsere paar italienische Brocken hervor und formen die Worte mit mimischer Untermalung mühsam zu einem Satz. „Mit mir könnan S' deutsch red'n", hören wir da auf gut wienerisch. Wir haben zufällig den Dolmetsch angesprochen, der zwar auf den Namen Giovanni hört und ausgezeichnet italienisch spricht, der aber bei seinem jahrelangen Wiener Aufenthalt auch das urwüchsige Wienerisch erlernt hat. Mit Hilfe des Giovanni verständigen wir uns mit den italienischen Arbeitskameraden. Es gefalle ihnen sehr gut in Wien, erzählen sie, nur molto freddo (sehr kalt) sei es, meinen die Sizilianer. Auch das Einheizen bereite ihnen Schwierigkeiten, da sie in ihrer Heimat nur offene Feuerstellen haben; da passiere es oft, daß das Feuer einige Male ausgeht, weil sie die Technik des Feuermachens noch nicht ganz beherrschen. In ihrer blumenreichen Sprache begleiten sie einen derartigen Ofenstreik mit recht munteren Reden. Beim Betreten eines Hauses kommen wir gerade dazu, wie einer, vor dem Ofen kniend, leicht angekohlte Holzstücke hineingibt und gleichsam beschwörend dem Wärmespender zuredet, doch endlich zu brennen. Beim Tisch sitzen einige und singen mit ihren wohlklingenden Stimmen ein altes italienisches Volkslied, Contadinella bella . . ., Fiamenghi, der Meister der Gitarre, begleitet sie alle, erzählt uns Oberlagerführer Posch. Es gibt einige „Carusos" und „Giglis" unter den Arbeitern, die ausnehmend schöne Stimmen haben. In den Feierstunden klingen Tag für Tag aus jedem Haus die eigenartig schmelzenden Weisen heraus, die auch hier so anheimelnd wirken. In der Küche treffen wir Lagerführer Helmesberger, dem das leibliche Wohl der italienischen Arbeitskameraden anvertraut ist. Er besorgt Spaghetti, Makkaroni und die verschiedenen anderen italienischen Leckerbissen, die dann von einem italienischen Koch in die Leibgerichte, wie Pasta asciutta, Minestrone und wie all die Speisen heißen, umgewandelt werden. . . . Das Leben im Lager ist sehr billig. Verköstigung und Quartier kosten pro Tag 1,30 Reichsmark. Die Männer sind durchwegs verheiratet und Familienväter. Sie können von ihrem monatlichen Lohn monatlich einen schönen Betrag ihren Familien

Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener in der NS-Zeit senden und ausreichend für deren Unterhalt sorgen. Aus 27 Provinzen stammen die Männer, aus der Poebene, aus Neapel, Sardinien und Sizilien. Mag dem einen oder anderen das Klima nicht sonderlich zusagen, sie fühlen sich dennoch wohl hier bei uns, denn angefangen vom Oberlagerführer bringt ihnen jeder echte Kameradschaft entgegen. Man sieht auch nur lachende, freundliche Gesichter im Lager, das Einvernehmen zwischen den italienischen und deutschen Arbeitskameraden ist das denkbar beste. Als wir aus dem Lager fahren, winken sie uns freundlich zu. Wenn wir auch sprachlich Schwierigkeiten hatten, gefühlsmäßig hatten wir uns glänzend verstanden. Völkischer Beobachter (Wien) vom 8. Jänner 1941, S. 7.

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Zwangsarbeit. Sand im Getriebe der Kriegsmaschine

Ab Spätsommer 1941 begannen sich die Meldungen über schlechte Arbeitsmoral der Fremdarbeiter zu häufen. Besonders heftig wurden die italienischen Arbeitskräfte kritisiert, .. .In Tirol zeigten sich die Italiener so undiszipliniert und unverläßlich, daß „ein Erziehungslager (KZ) errichtet werden mußte, um störrische Elemente zur Ordnung zu bringen".72 (Hannes Hofbauer) Schon seit Wochen wurde ihm jedesmal speiübel, wenn er an diesen Nazisprüchen vorbei zur Arbeit mußte. Wand an Wand reihten sich Hakenkreuzsymbole und deutschnationale Arbeitsaufforderungen. Nikola Danolfi hatte es satt. In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli des Jahres 1941 schlich er zusammen mit ein paar Kollegen durch die Gassen des Arbeitslagers und heftete handgeschriebene Aufrufe an die Außenwände der schäbigen Wohnbaracken. Es war eine laue Frühsommernacht und Nikola empfand eine tiefe Genugtuung beim Überkleben der Hakenkreuze. Nun zierten seine Parolen die Bretterwände. „Genossen! Wir sind Betrügern in die Hände gefallen, ab morgen wird gestreikt!" Eine halbe Stunde nach Mitternacht kehrten die nächtlichen Agitatoren wieder in ihr Matratzenlager zurück; etwas aufgeregt, lagen sie noch stundenlang wach. Das DAF-(Deutsche-Arbeitsfront-)Lager an der Laaerbergstraße in Wien-Favoriten war eines jener Nazi-Arbeitslager, dessen Arbeitskräfte sich vornehmlich aus italienischen Oppositionellen zusammensetzten. Etwa 660 solche italienische Fremdarbeiter, die Mussolini im Austausch gegen Nazi-Kriegsgeräte ins Deutsche Reich schickte, waren dort interniert. 40 verschiedene stramm deutschnational geführte Firmen der näheren Umgebung beschäftigten

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diese Arbeiter meist als Deichgräber oder Ziegelarbeiter - außerhalb des Lagers. Von ihren Familien getrennt, führten die meist unfreiwillig ins Deutsche Reich verschickten Ausländer ein durch die nationalsozialistischen Arbeitsgesetze determiniertes erniedrigendes Dasein. Die Verpflegung war hundsmiserabel, die tägliche Arbeitszeit extrem lang, der Wohnort ein Gefängnis, das nur für die unmittelbare Zeit der Ziegelherstellung verlassen werden durfte. Zu Hunderten lebten sie - zusammengepfercht - am Laaerberg. Zur schrankenlosen Willkür der Lagerleiter wurde eine Verpflegung verabreicht, die - auf minimale Mengen begrenzt - aus gestrecktem Brot, Abfallfleisch und fauligen Erdäpfeln bestand. So war es nicht verwunderlich, daß der Streikaufruf, den Nikola Danolfi und seine Kollegen nächtens affichiert hatten, auf fruchtbaren Boden fiel. Eine Handvoll kleiner, selbstbeschriebener Zettel, von einem sorgsam zerissenen größeren Papierbogen abgetrennt, bewirkte in den Morgenstunden des 18. Juli eine massenhafte Arbeitsunlust. Anstatt ihre Ziegeleien und Deichgräberplätze aufzusuchen, spazierte fast die gesamte Lagerbelegschaft freiheits- und lebenshungriger Italiener durch die Straßen von Favoriten. Auch Nikola schlenderte zwischen den Geschäften und Parks dieses Wiener Stadtteils herum. In puncto Ziegel stand an diesem Tag die Produktion still. MOZ, Nr. 9, vom September 1984, S. 40.

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Wander Bertoni erzählt. · .

Nach dem Sturz Mussolinis und der Besetzung Nord- und Oberitaliens durch „deutsche" Truppen, wurden 1943 cirka 600.000 italienische Militärintervenierte zur Zwangsarbeit herangezogen. Im September 1943 wurden 3.000 dieser italienischen Zwangsarbeiter auf Wiener Betriebe, vor allem Rüstungsbetriebe aufgeteilt. Unter ihnen befand sich der Bildhauer Wander Bertoni. Bertoni: Ich bin als Zwangsarbeiter nach Wien deportiert worden. Es gab da ein zentrales Lager, wo von ganz Europa Leute kamen, und dort haben sich darin die Fabriksbesitzer ihre Arbeiter geholt. Frage: Können Sie den Vorgang beschreiben? Bertoni: Ich war drei Tage in einer Baracke, und nach drei Tagen wurde ich abgeholt auf Grund meiner Unterlagen - ich war Eisendreher, ein sehr gesuchter Beruf, und ich hätte da in einem kleinen Betrieb im XVIII. Bezirk arbeiten sollen. Man hat mich abgeholt und dann verloren, und ich bin wieder zurück in die Baracke, alleine mit der Straßenbahn. Dann war ich vier Tage dort. Ich war praktisch acht Tage in diesem Lager ohne Essen, denn man hat die Leute kaum

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

ernährt, weil die Leute aus diesem Übergangslager abgeholt wurden. Nach acht Tagen bin ich erst endgültig in die Alserstraße in einen kleinen Betrieb gekommen, die haben Bauapparate gemacht, so Kessel etc. Ich war der einzige Dreher drinnen. Es waren ca. 35 Personen und etwa 20 verschiedene Nationen. Frage: 20? Bertoni: 20! Ich wohnte anfangs in einem Lager, in dem alle Nationen versammelt waren, ich glaube, das war auf einem Hügel in Lainz draußen. Frage: Und wie war das Lager organisiert? Bertoni: Das Lager war von österreichischen Zivilisten bewacht, man hat sich älterer Leute bedient, die nicht zum Militär getaugt haben. Die waren sehr stolze Aufpasser, die waren nicht so freundlich wie man sich einen Wiener vorstellt, die waren sehr aggressiv. Sie haben wirklich diese Masse von Ausländern wie die Tiere behandelt. Sie haben einfach Mädchen geholt, jede Nacht ein anderes Mädchen ob sie Belgierin war oder Polin oder Dänin oder Französin - sie mußten mitgehen, kein Mensch hat sich überhaupt getraut, „Muh" zu sagen. Frage: Wie funktionierte da die Verständigung unter den Zwangsarbeitem im Lager? Bertoni: Mit einer inneren Aggressivität. All das Unbehagen wurde komischerweise im Lager ausgetragen, ohne Solidarität. Man hat sich nicht gemocht, nicht verstanden, man hat auch nicht gewußt, wer die Leute sind. Man hat dort auch wieder gesehen, wie sich die Länder gegenseitig zerfleischen - Raufereien, Brutalitäten - aber gegeneinander, nicht gegen die eigentliche Ursache. Man hat nicht gewußt, ist er ein Spion, ein Kollaborateur. Es gab wenig zum Essen, und 1943/44 war es wahnsinnig kalt, es gab aber nur zwei Decken. Man hat eine Portion Kohlen gekriegt, und einer hat die ganze Nacht geheizt, damit man nicht friert. Einer hatte immer Dienst, denn das Feuer ist schnell ausgegangen. Die Bekleidung war auch miserabel, man hatte keine Strümpfe, keine Unterwäsche. Ich bin von Italien mit meinem Sommerrock, einem Hemd und einem Pullover gekommen und diese Stücke mußten wir bewahren und retten.

Frage: Gab es im Lager auch eine Form des Widerstandes? Bertoni: Die Polen waren sehr aktiv im Lagerleben, sie hatten ein Stacheldrahtradio. Stacheldrahtradionachrichten hat man das genannt. Die mußten gut organisiert gewesen sein, sie waren ja die ältesten Gefangenen. Wir wußten genau, wo die Russen und die Amerikaner sind, wie die Situation ist an der Front. Und wir haben gewußt, daß es Vernichtungslager gibt. Ich hatte damals Freunde in Wien, die in Opposition standen, und die haben das nicht gewußt. Es gab noch ein Lager für Zivilisten in Oberlanzendorf. Das wurde von ukrainischen SS-Mannschaften verwaltet, Polen auch. Dieses Lager war furchtbar, die höchste Strafe waren 30 Tage. Nach einem Monat sind die Leute herausgekommen, man hat den Menschen nicht mehr erkannt - als Skelett. Wir haben uns so gefürchtet vor diesem Lanzendorf, der Name allein war schrecklich. Es war für die Fremdarbeiter ein Damoklesschwert. Frage: Die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert, das heißt, sie mußten immer mehr arbeiten? Bertoni: Immer mehr arbeiten. Aber am Ende wurde die Arbeitsstimmung immer schlechter. Die Polen waren in der Fabrik sehr aktiv, und man wurde zum Sabotieren animiert, es ist einfach das erwartete Pensum nicht erzeugt worden. Es waren hochinteressante Leute. In der Fabrik war ein Komponist aus Handern, ich hab ihn nie sprechen gehört, er hat als Hilfsarbeiter nur den Boden geputzt. Der hat von vornherein nicht gearbeitet, der hat vom ersten Tag an sabotiert. Naja, ich war jung damals, ich hatte Temperament. Nichtstun war furchtbar, aber am Ende hab ich dann auch weniger gearbeitet. Ich war gewöhnt, man arbeitet aus Freude, man macht aus jeder Arbeit ein Spiel. Ich arbeite nach wie vor sehr gern. Interview mit Wander Bertoni, geb. 1925, auf

Tonband.

Die Kolporteure aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei

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1.21. Die Kolporteure aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei Seit Mitte der sechziger Jahre werden Tageszeitungen auch von ausländischen Kolporteuren verkauft. Mitte der achtziger Jahre arbeiteten in Wien für die Kronen-Zeitung und den Kurier jeweils 600 bis 800 Kolporteure. Die Mehrheit stammt aus Ägypten, etwa 20 Prozent aus Indien und Pakistan und fünf Prozent aus der Türkei. Die Aufenthaltsdauer schwankt zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren, laut Auskunft des Kurier liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer zwischen eineinhalb und zwei Jahren. Diese Ausländer kommen meist als Touristen oder Studenten nach Wien. Ohne Chance auf die Erlangung einer Beschäftigungsbewilligung, bleibt für sie nur die Arbeit als Kolporteur. Diese Erwerbstätigkeit ist von den Einschränkungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes nicht betroffen, denn die Kolporteure werden nicht angestellt, sondern gelten als selbständig Gewerbetreibende. Deswegen sind sie vom Unternehmer nicht sozial- und krankenversichert, sondern nur haftpflicht- und unfallversichert. Unter den türkischen Staatsbürgern sind die meisten arbeitslos gewordene „Gasfarbeiter. Der Verdienst der Kolporteure besteht aus einer Werbepauschale für die Jacken und 80 Groschen Provision pro verkaufter Zeitung. Sogenannte „Steher" bieten die Zeitungen an bestimmten Standplätzen an und „Läufer" verkaufen sie in gastronomischen Betrieben (Quelle 91).

Tagesablauf eines Kolporteurs, Quelle 91 91

Ein „Kurier"-Doppelschichtler erzählt

Ich stehe um 4.30 auf, um 5.00 fahre ich weg; zuerst zu meiner Zeitungsausgabestelle, dann zum Standplatz. Dort muß ich spätestens um 5.30 sein. Sonst werden mir die 70,- S Fixum gestrichen und ich gehe am besten gleich wieder nach Hause. Beim nächsten Mal werfen sie mich höchstwahrscheinlich hinaus. Der Kollege von der Kronenzeitung geht um 8.30 heim, ich muß bis 11.00 stehenbleiben, auch wenn es

noch so kalt ist. Vor 11.30 komme ich nie nach Hause. Aber einkaufen gehen muß man ja auch manchmal. Ich mache mir einen Tee und lege mich gleich nieder. Um 14.00 stehe ich wieder auf und richte mir schnell was zum Essen, Zeit zum Kochen haben wir nur am Sonntag. Spätestens um 14.45 muß ich wieder weg, zum Pressehaus im 7. Bezirk. Dort stelle ich mich zuerst für die Zeitungsrückgabe an, dann für die Abrechnung. Die Restzeitungen vom Abend und vom Morgen werden nur bis 15.45 angenommen, der Mann an der Kasse geht einfach nach Hause. Einmal bin ich zu spät gekommen, weil so viele Leute angestellt waren, und mußte meine 30 Zeitungen wieder mitnehmen. 30 alte Zeitungen, die keiner mehr will, sind ein ziemlich großer Verlust. Danach geht es zur Abend-Zeitungsausgabestelle. Bis spätestens 16.45 muß man jetzt dort sein. Die Zeitungen kommen aber fast nie vor 17.00. Wenn ich auf die Zeitungen warten muß, macht das ja nichts, aber wenn die Zeitungen auf mich warten müssen - nur ein paar Minuten - gibt das gleich wieder 40,- S Verdienstabzug. Dann hastet man zum Standplatz, mit den schweren Zeitungen, aber der Kollege von der Krone ist immer schneller. Die erste Stunde kann man am meisten verkaufen, ab 19.00 geht nicht mehr viel. Von 22.00 bis 23.00 verkaufe ich manchmal überhaupt nichts mehr. Aber wenn ich eine Viertelstunde früher gehe und der Chef erwischt mich, verliere ich das Fixum. Um 23.30 komme ich heim und muß noch essen. Liege ich dann endlich im Bett, passiert es mir oft, daß ich stundenlang nicht einschlafen kann. Dabei ist die Zeit so kostbar. Da denke ich dann an zu Hause und an die Sinnlosigkeit dieser Arbeit. Man hat nicht einmal Zeit zum Kochen, das macht das Leben noch teurer. Bei der Arbeit rauche ich 2 Päckchen Zigaretten, weil man sonst auch nicht weiß, wie man die Zeit herumbringen soll. Mir bleibt kein Geld übrig, ganz im Gegenteil. Aber solange ich mir nichts erspart habe, kann ich mich zu Hause nicht sehen lassen. Alle würden mich auslachen. Jetzt war der 2 Jahre in Europa und hat überhaupt kein Geld. Ein völliger Versager. Das glaubt mir doch keiner, daß man hier so wenig verdient. Oh, du gastlich Land . . . Vom Leben der Ausländer/innen in Österreich, hrsg. vom Komitee für ein ausländerfreundliches Österreich, Wien 1984, S. 160.

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Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

1.22. Die Arbeitsmigranten aus der Türkei und Jugoslawien Mitte der sechziger Jahre setzte der Zuzug von Arbeitskräften aus Jugoslawien nach Österreich ein. Zu Beginn der achtziger Jahre stammte ein Fünftel der jugoslawischen Arbeitsmigranten in Wien aus dieser Frühphase. Mehr als die Hälfte kam in der Hauptphase, die vom Ende der sechziger Jahre bis zum Einsetzen der Wirtschaftskrise 1973 andauerte. 56,2 Prozent waren aus Serbien, 15,1 Prozent aus Bosnien-Herzegowina, 12,8 Prozent aus der Vojvodina, 9,8 Prozent aus Kroatien, 3,7 Prozent aus Makedonien, 1,6 Prozent aus Kosovo, 0,4 Prozent aus Slowenien und 0,3 Prozent aus Montenegro.73 Es fehlen allerdings Zahlen über die ethnische Aufgliederung der jugoslawischen Migranten.74 Die Zuwanderung türkischer Arbeitsmigranten begann in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Die Herkunftsregionen der türkischen Staatsbürger in Wien sind nicht bekannt. Eine Annäherung bietet die im November 1983 österreichweit durchgeführte Untersuchung des Instituts für Höhere Studien. Demnach stammten 24,1 Prozent aus Marmara und Thrazien, 19,3 Prozent aus der Schwarzmeerregion, 16,4 Prozent aus Nordzentralanatolien, 14,2 Prozent aus der Ägäisregion, 10,2 Prozent aus Ostzentralanatolien, 6,9 Prozent aus Südzentralanatolien, 5,8 Prozent aus der Mittelmeerregion, 1,8 Prozent aus Südzentralanatolien und 1,1 Prozent aus Nordostanatolien.75 Dies bedeutet, daß die Mehrheit aus den westlichen Gebieten der Türkei nach Österreich abwanderte. Der Anteil von ethnischen Minderheiten an diesen Migranten bleibt eine Dunkelziffer. Das tatsächliche Ausmaß der „GasFarbeiterbevölkerung in Wien läßt sich nicht exakt feststellen, Statistiken nennen unterschiedliche Zahlen. Beispielsweise bezifferte eine Enquete, ausgehend von den Beschäftigungsbewilligungen, die jugoslawische Wohnbevölkerung in Wien 1981 mit 82.000 Personen, während die Fremdenpolizei im selben Jahr 61.318 und die Volkszählung nur 58.590 jugoslawische Staatsbürger in Wien vermerkte. Bei der Betrachtung der fremdenpolizeilich gemeldeten türkischen Staatsbürger fällt auf, daß deren Zuwachs, abgesehen von einer Stagnationsphase 1981 bis 1984, konstant verlief, während die Zahl der jugoslawischen Staatsbürger 1973 bis 1983 sank. Der Zuwachs der türkischen Staatsbürger in den Depressionsjahren erklärt sich teilweise aus dem verzögerten Familiennachzug (Quellen 92, 93). Es ist auch weiterhin mit der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Österreich zu rechnen. Einerseits ist dies auf die niedrige Geburtenrate der inländischen Bevölkerung zurückzuführen, andererseits auf das Streben der Österreicher in höher qualifizierte Berufe. Die Wiener Handelskammer schrieb

1985: „Die Situation bei den Gastarbeitern ist nach wie vor dadurch geprägt, daß die Ausländer fast durchwegs Tätigkeiten ausüben, für die noch immer Inländer nicht zu bekommen sind. Also etwa die Beschäftigung mit ungünstiger Arbeitszeit - Wochenende und Nachtarbeit - sowie für Schmutzarbeiten bzw. niedrigentlohnte Hilfstätigkeiten."76 (Quelle 95). 1981 waren in Wien 91,9 Prozent aller Arbeitskräfte mit jugoslawischer bzw. türkischer Staatsbürgerschaft Arbeiter, 5,2 Prozent Angestellte oder Beamte und 2,9 Prozent Selbständige (Quelle 94). Die Arbeitsmigranten der Gegenwart weichen demnach in der Verteilung nach Berufspositionen von der Restbevölkerung wesentlich stärker ab als ihre tschechischen Vorgänger. Seit den siebziger Jahren vollzog sich ein Strukturwandel, ein Rückgang im nach wie vor dominanten Sektor Industrie, Gewerbe und Bau, hingegen ein Anstieg im Dienstleistungssektor: So war 1973 noch jeder fünfte „Gast"arbeiter in einem Metallberuf beschäftigt, 1985 nur mehr jeder zwölfte. Ähnlich verlief es in der Bauwirtschaft, der Textil- und Chemiebranche, hingegen stieg der Anteil der ausländischen Beschäftigten im Gastgewerbe und den Reinigungsberufen: 1985 waren fast 24 Prozent der Beschäftigten in Wiener Gaststätten Ausländer, zumeist Kellner und Schankhilfen, beinahe jeder zweite Hausmeister (47,2%) war ein Ausländer. Der Einstieg von Ausländerinnen, besonders der jugoslawischen Frauen, beeinflußte diesen Strukturwandel: „Jugoslawische Frauen gehen im Alter von 30 bis unter 50 Jahren knapp über 90 Prozent, Wiener Frauen durchschnittlich 73,7 Prozent, Türkinnen durchschnittlich nur zu 55,8 Prozent einer Arbeit nach."77 Angesichts des traditionellen Rollenbildes ist die Erwerbsquote der türkischen Frauen als hoch zu betrachten. Dieses Doppelverdienen dient zum Teil der Existenzsicherung, falls einer der Ehepartner seinen Arbeitsplatz verliert. 1983 waren Männer mit türkischer Staatsbürgerschaft durchschnittlich 10,2 Jahre in Österreich, Frauen 7,6 Jahre, Männer mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft 10,7 und Frauen 10,1 Jahre.78 Der Rückkehrwunsch der ersten Generation war sehr hoch: Von 900 Befragten der IHS-Studie wollten nur 30 nicht mehr zurückkehren. Allerdings sind die Rückkehrpläne bei den wenigsten konkret und wohl zu einem bestimmten Teil Schutzreflex auf den alltäglichen spürbaren gesellschaftlich und beschäftigungspolitischen Rückkehrdruck. Hingegen beabsichtigten 39 Prozent ausländischer Jugendlicher im Alter von 15 bis 25 in Österreich zu bleiben, und nur 30,5 Prozent wollten Österreich wieder verlassen. Rückkehrorientiert sind auch die Sparziele der Arbeitsmigranten: 43,5 Prozent der türkischen und

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Die Arbeitsmigranten aus der Türkei und Jugoslawien 65,9 Prozent der jugoslawischen Staatsbürger in Österreich nennen den Hausbau in der Heimat eines ihrer Sparziele 79 (Quellen 96, 97). Daß ihre Kinder in Wien zur Schule gehen, ist für viele Migranten ein Grund, Rückkehrabsichten nicht zu realisieren. 1981 waren 21,6 Prozent der jugoslawischen Staatsbürger in Wien unter 15 Jahre alt und 32,5 Prozent der türkischen Staatsbürger, hingegen nur 14,2 Prozent der österreichischen Staatsbürger. Mit 14,3 Prozent jugoslawischen und türkischen Schülern warder Anteil an den Wiener Pflichtschülern (ohne Mittelschulen) im Schuljahr 1984/85 dementsprechend überproportional (Quelle 98).

Internationaler Vergleich, Quelle 93 Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten lag Österreich Mitte der achtziger Jahre beim Anteil ausländischer Arbeitnehmer an den Gesamterwerbstätigen im Mittelfeld.

Die Zahlen der jugoslawischen und türkischen Staatsbürger in Wien, Quelle 92 Zwischen 1970 und 1987 nahmen in Wien 10.989 jugoslawische Staatsbürger die österreichische Staatsbürgerschaft an, zwischen 1982 und 1987 1.115 ehemalige türkische Staatsbürger.

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Erhebungsjahr

1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972' 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987

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„Gast"arbeiter in Österreich

Polizeilich gemeldete jugoslawische Staatsbürger in Wien 1.425 1.660 2.529 3.730 6.315 12.055 15.792 19.069 27.387 38.937 50.239 65.534 74.980 69.565 64.123 64.443 67.613 65.398 63.882 61.900 61.318 56.541 54.460 54.637 56.312 59.398 62.409

Polizeilich gemeldete türkische Staatsbürger in Wien

„Gasf arbeiter in Europa

Gastarbeiter in Europa Von je 1000 Erwerbstätigen sind Ausländer in:

2.646 3.149 4.589 5.283 7.411 9.536 10.448 11.223 12.206 14.582 15.996 17.800 22.032 25.037 25.342 25.401 26.565 28.703 31.774 33.394

1 6 6 H Schweiz

BR Deutschland Frankreich Österreich Mieder-Äiir lande

66

' Eine Sondererhebung der Fremdenpolizei im Auftrag des Wiener Magistrats ergab 1972: 74.538 Jugoslawen, 7.683 Türken.

Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, Wien 1962-1988.

Präsent vom 3. Mai 1984, S. 4.

84

94

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Berufsposition nach Staatsbürgerschaft

Berufsposition nach Staatsbürgerschaft in Wien 1981

Berufstätige insgesamt

Berufsposition

berufstätige jugoslawische Staatsbürger

Anteil jugoslaw. und türk. Arbeitnehmer an den Berufstätigen

berufstätige türkische Staatsbürger

absolut

%

absolut

%

absolut

%

%

Selbständige Angestellte/Beamte Facharbeiter angelernte Arbeiter Hilfsarbeiter

57.567 414.395 79.403 71.612 97.193

8,0 57,5 11,0 10,0 13,5

1.453 2.746 3.767 8.168 25.821

3,5 6,5 9,0 19,5 61,5

283 503 881 1.840 6.612

2,8 5,0 8,7 18,2 65,3

3,0 0,8 5,9 14,0 33,4

insgesamt

720.170

100,0

41.955

100,0

10.119

100,0

7,2

Spalten 1, 2: Beiträge zur österreichischen Spalten 3-5: Österreichisches Statistisches

95

Statistik, Wien 1985, Heft 630/20, S. 74. Zentralamt, Sonderauswertung der Volkszählung

Überdurchschnittliche Arbeitsbelastung

Die Berufsrealität der jugoslawischen und türkischen Arbeitsmigranten ist geprägt von überdurchschnittlicher Erwerbstätigkeit und Arbeitsbelastung. Diefolgenden Daten wurden 1983 österreichweit erhoben. Übersicht

Berufliche Belastungen und Branche von allen in der Branche beschäftigten „ G a s t arbeitern haben folgende berufliche Belastungen

(in Prozent) schwere körperliche Anstrengung Eintönigkeit andauernde Konzentration Zeitdruck Isolation gesundheitliche Gefährdung Unfallgefährdung nichts davon

Bau 73%, Metall 48% Textil 51%, Chemie 36%, andere Industrie 34% Metall 52%, Textil 58%, andere Industrie 42% Metall 34%, Textil 42% Textil 36%, Chemie 18% Bau 58%, Metall 54%, Chemie 54%, Textil 51 % Bau 63%, Metall 39%, Chemie 43%, andere Industrie 35% Gewerbe 25%, Dienstleistungen 29%

Der höchste Belastungswert ergab sich in unserer Erhebung beim Lärm - fast die Hälfte der beschäftigten Gastarbeiter ist unangenehmem Lärm im Betrieb ausgesetzt. Das Vorhandensein von Lärm hängt unter anderem mit der Betriebsgröße, der Ausländerquote im Betrieb und den Branchen zusammen; in der Textilindustrie sind ζ. B. 73% der Gastarbeiter belastendem Lärm ausgesetzt. Lärm ist zwar auch für

1981.

den Durchschnitt der österreichischen Arbeitnehmer der mit Abstand bedeutendste Störfaktor, der Wert (40,6%) liegt jedoch deutlich unter demjenigen der Gastarbeiter. Noch größer ist der Unterschied bei Staub, Nässe und Schmutz. - Sieht man vom Dienstleistungssektor und dem Kleingewerbe ab, so zeigt sich, daß in den wichtigsten Branchen mit Ausländerbeschäftigung überdurchschnittlich hohe Belastungswerte für unangenehme Umgebungseinflüsse am Arbeitsplatz nachgewiesen werden können. Die meisten Umgebungseinflüsse stehen überdies in statistisch signifikantem Zusammenhang mit der Ausländerquote im Betrieb, d. h. mit anderen Worten: Mit steigendem Anteil von Gastarbeitern im Betrieb erhöhen sich die Belastungswerte! Ganz ähnlich verhält es sich mit den tätigkeitsbezogenen beruflichen Belastungen: Schwere körperliche Anstrengung, andauernde Konzentration, Unfallgefahr sind die wichtigsten Belastungsformen; die meisten Belastungsformen stehen wiederum mit der Betriebsgröße, der Ausländerquote und den Branchen in Zusammenhang. Ungünstige Arbeitszeiten wie Schichtarbeit/ Wechseldienst, insbesondere Nachtarbeit oder Wochenend-/Sonn- und Feiertagsarbeit wurden von inländischen Arbeitnehmern - häufig trotz der Zulagen - zunehmend gemieden, so daß die Betriebe ausländische Arbeitskräfte nachfragten, die aufgrund ihrer hohen Einkommensorientierung die negativen Aspekte solcher Arbeitszeitregelungen in Kauf nahmen . . . So arbeiten etwas über 40% der ausländischen Arbeitnehmer in Schichten/Wechseldienst; im österreichischen Durchschnitt arbeiten 6,9% der unselb-

85

Die Arbeitsmigranten aus der Türkei und Jugoslawien

ständig Beschäftigten in Nachtschichten, bei den Gastarbeitern ist der Prozentsatz fast genau doppelt so hoch (14%). Mehr als jeder zehnte Gastarbeiter ist daher den gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, die mit der Nachtarbeit verbunden sind (zahlreiche arbeitswissenschaftliche / arbeitsmedizinische Studien kommen zu ganz ähnlichen Befunden bei den Betroffenen: Störungen des Herz-Kreislaufsystems, des Magen-Darm-Trakts, Schlafprobleme, Störung der Zirkardianrhythmik, Desynchronisation des Soziallebens etc.). Überdurchschnittlich häufig werden ausländischen Arbeitnehmern Überstunden angeordnet (23%); in den Intensivinterviews wurde auffallend oft beklagt, daß die Arbeitgeber nicht bereit seien, diese Überstunden zu bezahlen. Hannes Wimmer (Hg.), Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt-New York 1986, S. 249-253.

Perspektivenwandel, Quellen 96, 97 96

„Gasfarbeiter gesucht

1967 wurde auf dem Ostbahnhof für die ausländischen Arbeitsmigranten ein provisorisches Arbeitsamt eröffnet.

W. Konnert, Favoriten im Wandel derZeit, Wien 1974.

Als die jugoslawischen und türkischen Arbeitsmigranten nach Österreich kamen, mußten sie damit rechnen, eines Tages dieses Land wieder verlassen zu müssen. Ab den sechziger Jahren bis 1973 fand nahezu jeder Ausländer in Österreich Arbeit. Es wurde das Gefühl vermittelt, daß die „Gast"arbeiter tatsächlich benötigt werden.

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„Gasfarbeiter unerwünscht

Das Einsetzen der Wirtschaftskrise 1973 und der Arbeitskräfteabbau bedeuteten für ausländische Arbeitsmigranten eine drastische Verschlechterung der Berufs- und Lebensperspektiven in Österreich. Eine in Wien lebende Jugoslawin berichtete 1983 darüber. Früher war das noch etwas anderes, da hat man ein Jahr arbeitslos bekommen und jetzt sind es nur noch einige Monate und wie soll man in der kurzen Zeit eine Arbeit finden. Man muß ja schließlich diese Kredite zurückzahlen, die man hier aufgenommen hat, wenn sie uns nur ermöglichen würden, das alles zurückzuzahlen, was wir aufgenommen haben, dann später uns entlassen würden, dann würden wir auch zurückgehen, weil das wäre ja zu verstehen. Aber wie sollen wir das alles zurückzahlen, wenn wir keine Arbeit haben. Es heißt immer: Ausländer raus, raus, raus, zurück, zurück, zurück, egal, wo man hinkommt; Arbeitsamt oder Arbeit sucht, Ausländer raus, zurück, zurück. Warum haben sie das nicht am Anfang gesagt, sondern haben immer gesagt, bitte, bitte, bitte, bitte arbeiten, bitte, bitte, (in bettelndem Ton). Es ist mir in der Firma oft passiert, daß der Chef gekommen ist während der Arbeitszeit, hundertmal ist er gekommen und hat gesagt, können sie nach der Arbeit noch ein paar Stunden bleiben; und wenn ich gesagt habe, ich habe noch etwas anderes zu tun, ist er nochmals gekommen, wenigstens zwei Stunden und er hat so lange gefragt, bis ich dann ja gesagt habe, nur damit er mich in Ruhe läßt, auch wenn es nur eine Stunde war. Ihm war die Hauptsache, jemand bleibt da und arbeitet. Warum haben sie das nicht früher gesagt, uns beschimpft und so, wie sie uns gebraucht haben, sondern jetzt auf einmal? Interview mit JF 1 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

86

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

Die zweite Generation an den Wiener Schulen, Quelle 98 Vielfach wird übersehen, daß Zuwanderer, in diesem Falle die Kinder der jugoslawischen und türkischen Migranten, durch ihre Anwesenheit zur Erhaltung von Arbeitsplätzen und zur Sicherung bzw. Erweiterung infrastruktureller Einrichtungen beitragen.

98

.Gasf'arbeiter, eine Notwendigkeit

5

6

Gäste-Kinder retten Wiens Schulsystem Die Kinder der in Wien arbeitenden Ausländer retten unser Schulsystem! G ä b e es sie nicht, müßten an die 50 W i e n e r Pflichtschulen gesperrt und rund 600 Lehrer freigesetzt werden. Die Folge w ä r e n katastrophal weite Anmarschwege zur nächsten noch offenen Schule. S o sieht Wiens Stadtschulratspräsident H a n s Matzenauer die Lage, die durch extrem geburtenschwache Jahrgänge verursacht wurde. Matzenauer sieht aber auch die Kehrseite der Medaille: Zur Zeit ist jedes siebente Wiener Pflichtschulkind Sohn oder Tochter eines Ausländers. 1987, wenn der H ö h e p u n k t der geburtenschwachen Jahrgänge erreicht ist, wird bereits jedes fünfte Schulkind Ausländerfamilien entstammen. Und da es jetzt schon, speziell in den westlichen Außenbezirken, Klassen gibt, in denen zwei Drittel der Kinder eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen, hat sich bei den Eltern die M e i n u n g festgenagelt, die Qualität des Unterrichts leide. Matzenauer: „Das stimmt nachweislich nicht. Unsere Statistiken belegen das. Wir beschicken diese Schulen mit insgesamt rund 100 Begleitlehrern, die den Klassenlehrern zur Seite stehen und In- wie Ausländer fördern." Matzenauers T r a u m wäre es, zusätzlich 50 bis 100 Begleitlehrer engagieren zu können. Doch dafür - Lehrer gäb's ja genug - fehlen die Gelder.

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Kurier vom 1. Dezember 1984, S. 19.

Anmerkungen 1 Imre Ferenczi, International Migrations, New York 1929, S. 186. Sowie: Österreichische Statistik, Wien 1910, Neue Folge, Band II, 3. Heft, S. 37 *. 2 Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973, S. 140. 3 Walter Schätze!, Internationale Arbeiterwanderungen, in: Monographien zum Völkerbund, Berlin 1919, Heft 7, S. 15. 4 Vgl. ζ. B. Franz Goldner, Die österreichische Emigration

18 19

1938 bis 1945. Das einsame Gewissen, in: Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945, München-Wien 1972, Band 6. - Weiters: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940, Wien-München 1987. - Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, WienMünchen 1988. Zur Veränderung des Stadtgebietes vgl. ζ. B. Peter Pokay, Stadt im Wandel - Wien von 1850 bis zur Gegenwart. Territoriale Entwicklung Wiens, in: Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1985, Nr. 4, S. 10-23. Heinz Fassmann, A survey of Patterns and Structures of Migration in Austria 1850-1900, in: Dirk Hoerder (Hg.), Labor Migration in the Atlantic Economies. The European and North American Working Classes During the Period of Industrialization, Westport-London 1985, S. 69-93. Vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, Köln 1985, S. 110. - Vgl. ferner Statistisches Jahrbuch der Schweiz, Basel 1985, S. 46. Vgl. Karl Freiherr von Czoernig, Ethnographie der österreichischen Monarchie, Wien 1857, Band 1, S. 671 ff. - Vgl. auch Sylvia Koukolik, Studien zur Geschichte der Wiener aus den Ländern der böhmischen Krone in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wien 1971. (Unveröff. Dissertation). Wilhelm Hecke, Volksvermehrung, Binnenwanderung und Umgangssprachenerhebung in den österreichischen Alpenländern und Südländern, in: Statistische Monatsschrift, Neue Folge, 18 (1913), S. 351 f. Vgl. Michael John/Albert Lichtblau, Ceskä Videfi. Von der tschechischen Großstadt zum tschechischen Dorf, in: Archiv 1987. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien), 1987, S. 35 ff., 51 f. Vgl. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, München-Wien 1972, S. 41. Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen, Wien 1980, S. 32 ff. Ebenda S. 104 ff. Eduard Stanek, Verfolgt, verjagt, vertrieben. Flüchtlinge in Österreich von 1945-1984, Wien-München-Zürich 1985, S. 87 ff. Vgl. diverse Jahrgänge Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Wien. Johann Neumann, Tschechische Familiennamen in Wien, Wien 1972, S. 12. Vielen mißlang es, in der Stadt Fuß zu fassen. In der Statistik des Vereins gegen Verarmung und Bettelei waren 1890 25,7 Prozent (2.574 Personen) von den in Wien registrierten Armen in Böhmen geboren. Bei der Arbeitslosenerhebung vom 31. Dezember 1900 hatten von 32.995 Wiener Arbeitslosen 6.236 (18,9%) tschechische Umgangssprache. - Vgl. Karl Theodor von Inama-Sternegg, Die persönlichen Verhältnisse der Wiener Armen. Statistisch dargestellt nach den Materialien des Vereines gegen Verarmung und Bettelei, Wien 1892, S. 6 ff. - Sowie Glettler, Wiener Tschechen (wie Anm. 11), S. 63. Walter SchneefuB, Demokratie im alten Österreich, Klagenfurt 1949, S. 144. - Vgl. auch Glettler, Wiener Tschechen (wie Anm. 11), S. 70 f. Vgl. Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkzählung vom

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Die Arbeitsmigranten aus der Türkei und Jugoslawien

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31. December 1880, Wien 1887, Band 3, S. 239. 1910 waren von 44.483 in Wien berufstätigen Frauen mit böhmisch, mährisch oder slowakischer Umgangssprache nur 5.922 (13,3%) unter den Berufsbezeichnungen Hausdienerschaft und Dienstbote aufgelistet. Der niedrige Prozentsatz kann auf den Assimilationsdruck zurückgeführt werden. - Vgl. Österreichische Statistik, Wien 1914, Band 3, Heft 2, S. 130. Vgl. ζ. B. Marina Tichy, Alltag und Traum. Leben und Lektüre der Dienstmädchen im Wien der Jahrhundertwende, Wien-Köln-Graz 1984, S. 38 ff. Vgl. John/Lichtblau, Öeskä Vtdert (wie Anm. 10), S. 47. Camilla Theimer, Frauenarbeit in Österreich, Wien 1909, S. 138. - Vgl. auch Adelheid Popp, Haussklavinnen, Wien 1912. Vgl. Akos Low, Die soziale Zusammensetzung der Wiener Juden nach den Trauungs- und Geburtsmatrikeln 1784-1848, Wien 1952, S. 159 ff. (Unveröff. Dissertation). - Sigmund Mayer vermutet die Zahl der Juden in Wien vor 1848 zwischen 10.000 und 11.000 Personen liegend. Vgl. Sigmund Mayer, Die Wiener Juden, Kommerz, Kultur, Politik 1700-1900, Wien-Berlin 1918, S. 279. Vgl. Peter Schmidtbauer, Zur sozialen Situation der Wiener Juden im Jahre 1857, in: Studia Judaica Austriaca, Eisenstadt 1978, Band 6, S. 58 ff. Vgl. Österreichische Statistik, Wien 1905, Band 64, Heft 2, S. 16 f. Vgl. Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914: Assimilation und Identität, Wien-Köln-Graz 1989, S. 29. Anna Drabe/r/WoIfgang Häusler/Kurt Schubert/Karl Stuhlpfarrer/Hiko\aus Vielmetti, Das österreichische Judentum, Wien-München 1974, S. 132. Vgl. Statistische Nachrichten, Wien 1925, S. 104 f. Vgl. auch Kapitel 2.4. und 3.2.2. - Vgl. ferner Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte - Wirtschaft Kultur, Wien-Leipzig 1933. (Reprint 1988). - Klaus Lohrmann (Hg.), 1000 Jahre österreichisches Judentum, Eisenstadt 1982. Vgl. Österreichische Statistik, Wien 1914, Neue Folge, Band 3, Heft 2, S. 132. Vgl. Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934-1938, Wien-Salzburg 1973, S. 219 f. - Weitere Daten: Öffentlicher Dienst, Freie Berufe: Juden 20,1%, Nichtjuden 11,6%; Häusliche Dienste: Juden 1,3%, Nichtjuden 11,1%; Landwirtschaft: Juden 0,7%, Nichtjuden 1,1 %. Die Gemeinde (Wien) vom 13. Juli 1984/13. Tamus 5744, S. 7 ff. Interview mit Paul Chaim Eisenberg, auf Tonband. Dr. Eisenberg ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens. 1869 waren von den 578 in Wien anwesenden jüdischen Hausierern 4 in Wien heimatberechtigt, 57 in Böhmen, 84 in Mähren und Schlesien, 90 in Galizien und der Bukowina, 4 im übrigen Cisleithanien, 332 in den Ungarischen Ländern, 1 in Bayern, 5 in Rumänien und 1 in einem anderen Staat. - Vgl. Israel Jeiteles, Die Kultusgemeinde der Israeliten in Wien mit Benützung des statistischen Volkszählungsapparates v. J. 1869, Wien 1873, S. 176. Allgemeine Schneider-Zeitung, 1905, Nr. 1 ff. - Arbeiter-Zeitung vom 29. März 1933. Ernö Deak, Die Ungarn in Wien: Eine unsichtbare Volksgruppe?, in: Integratio, 15 (1982), S. 115 ff.

37 Czoernig, Ethnographie (wie Anm. 8), S. 675. 38 Heinz Zatschek, Die Handwerker Wiens, in: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien, Wien 1950, S. 36. 39 Für 1910 lautet das Ergebnis wie folgt: Von 147.856 in Wien anwesenden Personen aus den Ländern der heiligen ungarischen Krone waren in Bezirken mit folgender mehrheitlicher Muttersprache heimatberechtigt: ungarisch deutsch kroatisch ruthenisch

65.290 19.018 4.739 447

slowakisch rumänisch serbisch unbekannt

46.216 5.483 4.243 2.420

Berechnet nach: Magyar Statisztikai Közlömenyek, Budapest 1924, Uj Sorozat, Band 64, S. 76 ff. ( - Ungarische Statistische Mitteilungen, Neue Folge). 40 Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Band 2, S. 130. 41 1910 waren von den 147.856 in Wien anwesenden Personen, die in den Ländern der heiligen ungarischen Krone heimatberechtigt waren, berufstätig in: Land- und Forstwirtschaft Industrie und Gewerbe Gewerbe und Handel Öffentlicher Dienst, Militärdienst, freie Berufe, Berufslose

681 39.130 32.183

insgesamt

90.251

18.257

Nach Berufsklassen: Selbständige Pächter Angestellte Arbeiter Lehrlinge Taglöhner Mithelfende Familienmitglieder Hausdienerschaft (inkl. Angehörige)

27.303 76 9.569 36.986 3.700 1.323 860 10.434

insgesamt

90.251

42 43 44 45

Vgl. Österreichische Statistik, Wien 1913, Neue Folge, Band 2, Heft 2, S. 46 ff. Vgl. Kapitel 8, Quellen 5-11. Istvän Szöpfalusi, Lässätok, halljätok, egymäst, Bern 1980, S. 92. Stanek, Flüchtlinge in Österreich (wie Anm. 14), S. 60. Ungarische Flüchtlinge in Wien:

1957 1958 1959 1960

6.871 5.776 4.209 4.244

1961 1962 1963 1966

3.848 4.074 3.783 2.659

Vgl. diverse Jahrgänge von Jahrbuch der Stadt Wien, Wien. 46 Alexander Hanika, Volkszählung 1981: Umgangssprachenerhebung in Österreich. Revidierte Zahlen, in: Statistische Nachrichten, 1986, Heft 1, S. 4 ff. - Sowie Albert Lichtblau, Die „magyarischen" Sprachgruppen im Burgenland und Wien unter besonderer Berücksichtigung der Volkszählungsergebnisse 1981 (unveröff. Manuskript). 47 Eine Sonderauswertung der Volkszählung 1981 des Österreichischen Statistischen Zentralamtes ergab, daß 12,4 Prozent der ungarisch sprechenden Wiener

88

Anzahl, Herkunft und Berufstätigkeit der Zuwanderer in Wien

mit in- und ausländischer Staatsbürgerschaft Selbständige waren, 39,7 Prozent Angestellte und Beamte, 16,4 Prozent Facharbeiter, 15,2 Prozent angelernte Arbeiter und 16,3 Prozent Hilfsarbeiter. - 28 Prozent der Personen mit ungarischer Umgangssprache hatten eine höhere Schule bzw. Hochschule und verwandte Lehranstalt absolviert, hingegen nur 16,5 Prozent der Wiener mit österreichischer Staatsbürgerschaft. - Vgl. Lichtblau, Die .magyarischen" Sprachgruppen (wie Anm. 46). 48 Wilhelm Winkler, Die Tschechen in Wien, Wien 1919, S. 11 f. 49 Adolf Mais, Die .Katzeimacher". Ein Beitrag zur Kulturgeschichte einer handwerksgebundenen Volksgruppe, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, 87 (1957), S. 37 ff. - Vgl. auch: Ferdinand Opll, Italiani a Vienna, in: Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Wien 1987, Reihe B: Ausstellungskataloge, Heft 17 a. - Ferner: Monika Himmel, Die Italiener in Wien 1815-1848. Studien zu ihrer Sozialstruktur, Wien 1972 (unveröff. Dissertation). - Walter Schätze!, Internationale Arbeiterwanderungen, in: Monographien zum Völkerbund, hrsg. v. Deutsche Liga für den Völkerbund, Berlin 1919, Heft 7, S. 18 ff. 50 Einen Hinweis, daß sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien noch keine Zigeuner aufhielten: Mathias Koch, Wien und die Wiener, Karlsruhe 1842, S. 335. - Vgl. weiters Rüdiger Vossen, Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies. Zwischen Verfolgung und Romantisierung, Frankfurt-Berlin-Wien 1983. 51 Vgl. Günther Berger, Chinesen in Wien, in: Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Wien 1985, Reihe B: Ausstellungskataloge, Heft 9. 52 Vgl. Anm. 47. 53 Sedlaczek, Ergebnisse der Volkszählung (wie Anm. 40), S. 172 f., 184 f. 54 Vgl. Werner Varga/Demeter Karall, Die burgenländischen Kroaten in Wien, in: Integratio, Wien 1982, Band 15, S . 4 5 f f . 55 Elisabeth Lichtenberger, Gastarbeiter. Leben in zwei Gesellschaften, Wien 1985, S. 83,85. - Hinzu kommen noch Kroaten aus Bosnien. 56 Hecke, Volksvermehrung (wie Anm. 9), S. 350 f. 57 Feliks J. Bister, Wien als kulturelles Zentrum der Slowenen, in: Integratio, Wien 1982, Band 15, S. 75. 58 Vgl. Quelle 94. 59 Vgl. Rudolf Till, Die Schweizer Uhrmacherkolonie. Ein Beispiel merkantilistischer Gewerbepolitik, Zürich 1965. 60 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902, Wien 1904, S. 45.

61 Statistische Monatsschrift, Neue Folge 18 (1913), S. 348 f. 62 Vgl. Gustav Otruba, Wiens Bevölkerung - Nationale Herkunft und soziale Entwicklung, in: Der Donauraum 13 (1968), S. 31. 63 Statistische Monatsschrift, Brünn, Neue Folge 18 (1913), S. 348. 64 Neues Wiener Tagblatt vom 6. Oktober 1924, S. 4. 65 Vgl. Johann Brügel, Tschechen und Deutsche 1 9 1 8 1938, München 1967, S. 265 ff. 66 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, München 1984, Band 5, S. 75. 67 Vgl. Brunhilde Scheuringer, Dreißig Jahre danach. Die Integration der Volksdeutschen Flüchtlinge in Österreich, in: Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen, Wien 1983, Nr. 13. 68 Wiener Zeitung vom 17. August 1954, S. 2. 69 Vgl. Alexander Peez, Die griechischen Kaufleute in Wien, Wien 1888. 70 Norbert Schausberger, Mobilisierung und Einsatz fremdländischer Arbeitskräfte während des 2. Weltkrieges in Österreich, Wien 1970, S. 6. - Vgl. weiters Hans Pfahlmann, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1949, Darmstadt 1968; - Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des .Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, in: Archiv für Sozialgeschichte, Berlin-Bonn, 24 (1985), S. 285 ff. - Florian Freund/Bertram Perz, Industrialisierung durch Zwangsarbeit, in: Emmerich Talos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1 9 3 8 1945, Wien 1988, S. 95 ff. 71 Freund/Perz, Zwangsarbeit (wie Anm. 70), S. 111. 72 Schausberger, (wie Anm. 70), S. 5. 73 Lichtenberger, Gastarbeiter, (wie Anm. 55), S. 89. 74 Daten über die Ethnizität aller im Ausland sich befindlichen jugoslawischen Arbeitsmigranten sind enthalten in: Lichtenberger, Gastarbeiter (wie Anm. 55), S. 87. 75 Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 9, Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Wien 1985, S. 48. 76 Die Wiener Handelskammer vom 19. April 1985, S. 8. 77 Vgl. auch Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, hrsg. vom Magistrat der Stadt Wien, 4 (1984), S. 14. 78 Forschungsberichte, Ausländische Arbeitskräfte (wie Anm. 74), S. 64. 79 Vgl. ebenda S. 78. - Vgl. insgesamt auch Helga Leitner, Gastarbeiter in der städtischen Gesellschaft. Segregation, Integration und Assimilation von Arbeitsmigranten. Am Beispiel jugoslawischer Gastarbeiter in Wien, Frankfurt-New York 1983.

89

Die Überwindung von Distanzen

2. Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien 2.1. Die Überwindung von Distanzen Das Einsetzen des Eisenbahnzeitalters1 belebte nicht nur Handel und Industrie, es ermöglichte auch das schnelle Überwinden von Distanzen, die Ablöse der zeitintensiven Wanderungsarten (Quellen 100, 101) und erhöhte die Fern-Mobilität von Arbeitskräften. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurden sehr weite Strecken per Eisenbahn zurückgelegt, wie jene von China nach Österreich. Über chinesische Händler in Wien schieb die ihnen feindlich gesinnte christlichsoziale Reichspost am 21. Dezember 1913: „Über die Art und Weise wie diese lästigen Ausländer hereinkommen gab der Funktionär (der chinesischen Gesandtschaft - J./L.) Aufschluß: sie betteln sich im Wege der sibirischen Bahn durch. Perronkarten gäbe es dort nicht. Die Auswanderungslustigen betteln nur in den Stationen Reisende an und fahren immer kleine Strecken, bis sie endlich in Europa sind. Wir beziehen diese Chinesen über Rußland oder Ungarn."2 Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters beeinflußte die Nähe von Eisenbahnlinien und -Stationen das Wanderungsverhalten. Über die Herkunftsgebiete der Zuwanderer, die 1857 in der Wiener Josefstadt wohnten, stellt der Demograph Heinz Faßmann fest: „Die Zuwanderung nach Wien folgte keineswegs einer quantitativen Abstufung von konzentrischen Kreisen, sondern einer hierarchischen Struktur, wobei Verkehrsverbindungen, besonders Eisenbahnen, dominante Leitlinien darstellten." 3 (Quelle 99). Infolge der technologischen Entwicklung im Verkehrswesen spielt der Aufwand für die Überwindung von Distanzen gegenwärtig eine vergleichsweise geringe Rolle. So versorgen bereits Kolporteure aus Ägypten und Indien die Wiener mit Tageszeitungen. Der Linienbus von Istanbul nach Wien benötigt 35 Stunden, der Zug 45, das Flugzeug knapp zwei Stunden (Quellen 102, 103).

Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in den beiden Monarchiehälften 1845 bis 1912, Quelle 99 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das auf Wien zentrierte Eisenbahnnetz der Monarchie beständig.

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Eisenbahnnetz der Monarchie

Graphik 1: Eisenbahnnetz der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1845-1912

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1 1 12 1 3

" Gesamtnetz ungarische Reichshälfte

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19 20 21

in 1000 km

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Gesamtnetz österreichische Reichshalfte

Karl Bachinger, Das Verkehrswesen, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Wien 1973, Band 1, S. 302.

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

Per Pedes nach Wien, Quellen 100,101 Den Luxus einer Eisenbahnfahrt konnte sich nicht jeder leisten. Viele der Zuwanderer und Saisonarbeiter kamen zu Fuß nach Wien. Das Gepäck wurde getragen bzw. in einem Handwagen gezogen, manche hatten auch einen Hund, der diesen Wagen zog.

100

Zu Fuß unterwegs

Mein böhmischer Onkel, Stanislaus Koubek, ist 1910 ids 14- bis 15-jähriger Bub aus Mähren barfuß nach Wien gekommen, so hat er es mir erzählt, und hat hier als Tischlerlehrling gelebt und die meisten Jahre der Lehrlingszeit in der Werkstatt geschlafen, in einer Lade, in die man Holzscharten hineingetan hat. Ich glaub, er hat eine vierjährige Lehrzeit damals noch gehabt. Kaum war die abgeschlossen, ist er zum Militär eingezogen worden. Interview mit Herbert Wappelshammer, geb. 1927, auf Tonband.

101

bunden, natürlich haben sie wo übernachtet, so wie es die Bibel schreibt und sind dann weitergefahren und am Wienerberg gekommen. Und solche hat es viele gegeben. Viele ließen ihre Kinder zu Hause in Böhmen und sind nach sechs Monaten wieder nach Hause gekommen, mit dem ersparten Geld. Sie haben ein Wagel gehabt und einen Hund eingespannt und sind zu Fuß nach Hause gegangen. Der Potu&k war der letzte, der zu Fuß nach Böhmen gegangen ist. Die sind zirka 14 Tage gegangen, haben gerastet und gebettelt. Interview mit Ferdinand Nemecek, geb. 1903, auf Tonband.

Vom „Wie" zum „Warum", Quellen 102,103 Ein türkischer „Gast"arbeiter, der nach dem Militärputsch 1980 politische Verfolgung befürchtete, brachte es auf den Punkt:

Geboren im Straßengraben

Ferdinand Nemecek, ein Ziegler mit Leib und Seele, berichtete uns folgende Episode: Das waren so Wanderarbeiter, die Ziegelarbeiter. Wenn es ihnen wo nicht gepaßt hat, sie haben ja einen Schübbel Kinder gehabt, haben sie sich zusammengepackt und sind wieder weitergegangen. Die Leute sind alle zu Fuß nach Wien gekommen und im Herbst wieder zurückgegangen, denn früher ist bei den Ziegelarbeitern nur sechs Monate gearbeitet w o r d e n . . . Die Leute haben gebettelt und die Kinder sind nachgelaufen. Ich hab noch einen Mann gekannt, der hat Potu&k geheißen. Und wie 1910 die Volkszählung war, sind Magistratsbeamte gekommen. Wir haben eine große Küche gehabt, da waren 22 Parteien auf einer Küche, elf auf den Herd und elf auf den anderen Herd. Und als die Volkszählung war, waren alle in der Küche und der Beamte hat gefragt, wann sind sie geboren usw. und das haben sie niedergeschrieben. Und jetzt kommt der Potucek dran: „Wie heißen Sie?" „Alois Potuiek" „Wo sind Sie geboren?" „Im Straßengraben", sagt er zum Beamten und der hat ihn angeschaut: „Halten S' mich nicht für' a Norr'n do, für das bin ich nicht dahergekommen." Und da hat er ihn zweimal so gefragt. Seine Mutter hat außerhalb von Linz in einem Straßengraben ent-

102

Nur weg, so schnell wie möglich

Ich hatte Angst. So schnell wie möglich habe ich einen Paß genommen, dann bin ich hergeflogen . . . Für mich ist es egal, wie ich gekommen bin, für mich ist die Frage, warum bin ich gekommen. Interview mit Isa Lava, geb. 1953, auf Tonband.

103

Ankunft am Wiener Südbahnhof

Mit dem Slavija-Expreß kommen „Gast" arbeiter aus Jugoslawien.

Bildquelle: Albert Lichtblau.

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Die Ursachen der Arbeitsmigration

2.2. Die Ursachen der Arbeitsmigration Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die Hauptphasen der nach Wien gerichteten Arbeitsmigration im 19. und 20. Jahrhundert: den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Wirtschaftskrise 1873, dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem quantitativen Höhepunkt zwischen 1890 und 1900 und der Phase der „Gasfarbeiterzuwanderung ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis zum Konjunktureinbruch 1973. Die Arbeitsmigration nach Wien war während der Monarchie im wesentlichen eine Binnenmigration und wurde legistisch über das Heimatrecht geregelt. Die zwischenstaatliche Arbeitsmigration aus Jugoslawien und der Türkei wurde durch das mit weitaus größeren Eingriffsmöglichkeiten ausgestattete Ausländerbeschäftigungsgesetz und des Aufenthaltsrechtes geregelt und richtete sich somit im stärkeren Maße nach den Bedürfnissen des Zielgebietes. Die Wanderungsursachen lassen sich grob unterscheiden in: • Push-Faktoren: jene Kräfte, die den Wanderarbeiter in seiner Heimat motivieren, diese zu verlassen. • Pull-Faktoren: jene Kräfte, welche den Wanderarbeiter veranlassen, einen bestimmten Zielort zu wählen. Die Motive der Binnenarbeitssmigration bis 1914 lagen überwiegend im Bereich der Push-Faktoren. Eine Analyse von lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen tschechischer Wanderarbeiter, die nach Wien zogen, ergibt ein eindeutiges Übergewicht des Faktors Arbeitsplatzsuche.4 Ländliche Gebiete boten den Arbeitsplatzsuchenden zuwenig Möglichkeiten wie auch zu geringe Perspektiven der Lebensgestaltung (Quelle 114). Diese unhaltbare Situation legte es nahe, zur Lebensgestaltung nach Alternativmöglichkeiten zu suchen. Mit ein Grund war das geringe Lohnniveau ländlicher Arbeitsplätze und der eklatante Unterschied im Lohnniveau zwischen den Städten selbst (Quellen 117-119). Wien bot Zuwanderern vor allem Arbeit an. PullFaktoren wie jene der Bilder von Wien als Metropole, der Stadt des Kaisers, der Kultur und des Vergnügens spielten eine untergeordnete Rolle. Migrationsmotive waren im einzelnen Fall natürlich auch vielschichtiger und konnten sich als Motivbündel darstellen: Flucht vor der dörflichen Normenkontrolle, personen- und familienbezogene Ursachen, wie Entlastung des Familienhaushaltes, Familiennachzug oder Migration wegen innerfamiliärer Probleme (Quelle 123). Diese Binnenmigration ist in der Zusammenschau mit Entwicklungen der österreichisch-ungarischen Monarchie zu betrachten. Der Vielvölkerstaat ermöglichte die Wanderung über Sprachgrenzen hinweg,

die auch real nicht als Grenzen aufgefaßt wurden. In Wien entwickelte sich eine tschechischsprachige Infrastruktur, welche den Neuzuwanderern Einstiegshilfe bot. Die Zuwanderung stand auch in enger Verknüpfung mit Konjunkturverläufen und den Bedürfnissen des Wiener Arbeitskräftemarktes. Zu letzteren zählt der saisonbedingte Verlauf von Wanderungsschüben. Die Konjunkturabhängigkeit schwächte sich bei der Frauenmigration durch die Dominanz des Hauspersonalberufes ab. Charakteristisch für die Arbeitsmigration jener Zeit war die Wanderung über Zwischenstufen, vielfach eine Land-Stadt-Stadt-Wanderung, und die hohe Fluktuationsrate der Migranten: Zum Zeitpunkt der Volkzählung am 31. Dezember 1910, als sich der Großteil der Saisonmigranten nicht in der Stadt aufhielt, waren exklusive der Neugeborenen rund 80.000 Personen erst bis zu einem Jahr in Wien anwesend. Im Jahrzehnt zuvor wuchs die Bevölkerung Wiens durch Wanderungsgewinn durchschnittlich um 15.170 Personen. Dies bedeutet, daß pro Migrant, der in der Stadt blieb, zirka fünf Migranten wieder abwanderten.5 Diese Binnenmigration fand in einer Periode der Bevölkerungskonzentration und Urbanisierung statt. Wohnten 1843 in der österreichischen Monarchie 81,1 Prozent der Bevölkerung in Orten bis zu 2.000 Einwohner und 5,8 Prozent in Orten über 10.000 Einwohner, waren es 1890 67,5 Prozent bzw. 15,9 Prozent.® Subjektiv wahrgenommene Migrationsmotive waren demnach keine punktuelle Entscheidung, sondern entwickelten sich im Zeitverlauf. Die „Gasfarbeiterzuwanderung wäre zwar ohne Push-Faktoren nicht möglich gewesen, trotzdem muß diesen im Vergleich zu den Pull-Faktoren eine untergeordnete Rolle zugeschrieben werden, weil die Zuwanderung weitestgehend nach den Bedürfnissen des Zielgebietes Österreich zugelassen wurde, das seinen Arbeitskräftemangel in den Hochkonjunkturjahren durch ausländische Arbeitskräfte verringerte (Quelle 124). Abgesehen vom familienbedingten Migrationsmotiv des Familiennachzuges, dominierten unter den Pull-Faktoren wiederum das Arbeitsmotiv (Quellen 115, 116) und das Lohnmotiv (Quellen 120-124).

2.2.1. Die Ursachen der Abwanderung: die Push-Kräfte 2.2.1.1. Die Bedingungen für die Abwanderung aus Böhmen und Mähren bis 1918 Die Arbeitsmigration aus Böhmen und Mähren nach Wien war eine Binnenwanderung, die von den regionalen ökonomischen und sozialen Verhältnissen

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Die Ursachen der Zuwanderung nach W i e n

geprägt wurde. Wien überbot in der Zeit der Monarchie die Städte Böhmens und Mährens deutlich an Attraktivität. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Abwanderung vom Land in die Städte. Eine Voraussetzung dafür war das Leibeigenschaftspatent von 1781, das die Leibeigenschaft, Schollenpflicht und Zwangsgesindedienste aufhob. Dies bedeutete für die Landbevölkerung, beliebig einen Beruf ergreifen und den Wohnsitz wechseln zu können.7 Wichtige Erneuerungen brachten auch die Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzbuches von 1811, welches die aus dem Mittelalter stammende Muntgewalt (Schutzgewalt) des Hausvaters über Familie und Gesinde beseitigte, wodurch Dienstverträge zu bürgerlichen Verträgen wurden. Einerseits wurde die bäuerliche Bevölkerung durch diese Reformen von einengenden Bindungen befreit, andererseits verlor sie den Schutz seitens der Grundherrn. Diese Freisetzung der Landbevölkerung war mit eine Voraussetzung zur Bildung der Arbeiterklasse. Die Revolution 1848 hob die Untertänigkeit der Landbevölkerung (Robot) endgültig auf, und die Grundentlastung machte den Bauern zum Herren seines Landes und seiner Arbeitskraft. Der Kapitalismus begann sich auch in der Landwirtschaft durchzusetzen: „In den fünfziger Jahren gelangte schätzungsweise ein Drittel der Agrarproduktion auf den Markt, während in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bereits zwei Drittel der Gesamtproduktion für den Markt bestimmt waren. Der alte Typ der autarkischen Wirtschaft, vor allem in reichen Dörfern, war im Schwinden begriffen."8 Eine Folge davon war die Marktabhängigkeit, die sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch den Preisverfall bei Getreide und Zucker drastisch auswirkte. Einen Eindruck der Wirkung dieser Agrarkrise bietet die Statistik der Zwangsversteigerungen:9 Tabelle 1: Zwangsversteigerungen der in den Grundbüchern eingetragenen Liegenschaften; Zahl der Verkäufe in Böhmen, Mähren und Schlesien 1 8 6 8 - 1 9 0 2 Jahr 1868-1872 1873-1877 1878-1882 1883-1887 1888-1892 1893-1897 1898-1902

Böhmen

Mähren

Schlesien

8.578 7.996 16.500 17.528 23.173 12.050 11.433

3.073 3.631 10.336 7.493 9.583 7.440 6.857

368 686 1.717 1.120 985 975 953

Jan Havränek, Die ökonomische und politische Lage der Bauernschaft in den böhmischen Ländern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1966, II. Teil, S. 110.

Die Landbevölkerung im Süden und Südwesten Böhmens wurde vom Preisverfall des Getreides besonders hart getroffen, weil die Bauern dieser

Gebiete größtenteils vom Getreideanbau lebten und sich nicht rasch genug den neuen Marktbedingungen anpaßten. Die Zunahme von Kleinstbetrieben bis zu fünf Joch und von Wirtschaften von fünf bis zehn Joch, bei gleichzeitigem Rückgang der Mittelbetriebe (10 bis 15 Joch), verschärfte die Strukturkrise. Die Kleinbetriebe konnten die Familien der Besitzer kaum mehr ausreichend ernähren und zwangen sie zu zusätzlicher Erwerbstätigkeit (Quellen 104, 108-110). Schon im Vormärz konzentrierte sich die gewerbliche Produktion in den böhmischen Ländern auf die nördlichen Bezirke und konnte nur in bestimmten Regionen in den Zentralbereich vordringen (ζ. B. Steinkohle- und Eisenerzbergbau im Dreieck Pilsen-Bernau-Pfibram). Im südböhmischen Raum entwickelte sich hingegen keine nennenswerte Industrie, die Abwanderung nach Wien begann sich bereits abzuzeichnen. Der Revolution von 1848 folgte eine Umstrukturierung der bis dahin hauptsächlich gewerblich-bäuerlichen Wirtschaft. Bis 1873 erlebte die Industrialisierung im Geist des Wirtschaftsliberalismus rapide Fortschritte, besonders in den sudetendeutschen Gebieten des Nordens. Die dafür benötigten Arbeitskräfte wurden aus den tschechischen Gebieten bezogen, aber auch aus Polen, während deutsche Arbeiter wegen der besseren Bedingungen in das benachbarte sächsische Industriegebiet abwanderten. Die südlichen Regionen, welche für die Zuwanderung nach Wien besonders relevant waren, blieben von der Industrialisierung nahezu unberührt; nur um Budweis und um holzverarbeitende Orte konnten sich kleine Industrieinseln bilden.10 Die Wanderungsbewegung im böhmisch-mährischen Raum hatte drei Stränge: Niederösterreich mit dem Zentrum Wien, den industrialisierten Norden und Zentralraum von Böhmen und die Auswanderung nach Übersee.11 Trotz des riesigen Bevölkerungsverlustes von ungefähr einer Million Menschen durch Abwanderung wuchs die Bevölkerung in Böhmen und Mähren weiter an. 2.2.1.2. Die Bedingungen für die Abwanderung der Arbeitsmigranten aus Jugoslawien und der Türkei Etwa die Hälfte der 1983 in Österreich befragten „Gasfarbeiter aus der Türkei und drei Viertel jener aus Jugoslawien kamen direkt vom Land nach Osterreich. Da der Wanderung nach Österreich vielfach eine Binnenwanderung in Städte ihrer Heimatländer voranging, erhöht sich der Anteil der Landbevölkerung an den Zuwanderern noch: Insgesamt waren 78,5 Prozent der Befragten auf dem Land und 14,4 Prozent in einer kleinen bzw. mittleren Stadt aufgewachsen.12 In der Türkei wirkten als Push-Kräfte für die Landbevölkerung Unterbeschäftigung bzw. geringer Grundbesitz13 (Quelle 105). Seit den sechziger

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Die Ursachen der Arbeitsmigration

Jahren fanden innerhalb der türkischen Gesellschaft gravierende Strukturveränderungen statt: Der Anteil der Lohn- und Gehaltsempfänger stieg zwischen 1965 und 1980 beträchtlich, während jener der selbständigen und „mithelfenden Familienmitglieder" zurückging (Quelle 107). Tabelle 2: Erwerbstätige in der Türkei nach Stellung im Beruf 1965 und 1980 (in 1.000) Stellung im Beruf Selbständige mithelfende Familienangehörige Lohn- und Gehaltsempfänger nicht näher bezeichnete insgesamt

1965

1980

absolut

%

absolut

%

4.018

29,6

4.374

23,0

6.419

47,3

7.310

38,4

3.037 84

22,5 0,6

6.379 964

33,5 5,1

13.558

100,0

19.027

100,0

Statistik des Auslandes. Länderbericht Türkei 1984, hrsg. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart-Mainz 1984, S. 31.

Trotz der massiven Landflucht ist nach wie vor über die Hälfte der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Angesichts dieser Veränderungen und der ständig steigenden Zahl der Erwerbstätigen zeigte die türkische Regierung Interesse an der Bevölkerungsabwanderung. Abgesehen vom Abbau der Arbeitslosen erhoffte sie sich eine Schulung der Migranten und Deviseneinnahmen. Die Arbeitsmigration aus der Türkei fand selbst nach dem Anwerbestopp der westeuropäischen Industrieländer eine Fortsetzung; sie verlagerte sich auf den Irak, Saudi Arabien und Libyen; 1981 arbeiteten 888.300 türkische Staatsbürger im Ausland14 (Quellen 111,112). Ein zwischenstaatliches Abkommen regelte 1965 die Arbeitsmigration aus Jugoslawien nach Österreich. Im Gegensatz zur Türkei verstand Jugoslawien seine Wanderarbeiterpolitik nur als vorübergehende Maßnahme, die es infolge mißglückter Industrialisierungspolitik zulassen mußte. Die befristete Arbeitsmigration sollte nicht zur Abwanderung werden, dieser Konzeption wirkten jedoch die steigenden Arbeitslosenzahlen Jugoslawiens entgegen, wodurch eine Rückkehr unattraktiv wurde (Quelle 106). In einer von Elisabeth Lichtenbergerl 982 durchgeführten Untersuchung gaben 68,7 Prozent der befragten jugoslawischen Wiener „Gastarbeiter an, daß sie in ihrer Heimat über Grundbesitz verfügen.15 Die private Landwirtschaft Jugoslawiens ist von Klein- und Kleinstwirtschaften geprägt. Dadurch sind viele, um ein der Industriearbeit adäquates Einkommen zu haben, zum Nebenerwerb gezwungen, dem nicht selten die Auslandsarbeit folgt: 57,5 Prozent der befragten jugoslawischen Staatsbürger arbeiteten vor ihrer Migration im Nebenerwerb16 (Quelle 113). 1981 arbeiteten insgesamt 625.069 jugoslawische Staatsbürger im Ausland.17

Das Interesse an der Arbeitsmigration lag seitens der Herkunftsländer hauptsächlich in der Beschäftigung ihrer Arbeitslosen und der Entspannung des eigenen Arbeitsmarktes, auch nachgeordnet in der Devisenzufuhr durch die Arbeitsmigranten.18 Ein zusätzlicher Einflußfaktor der gegenwärtigen Wanderarbeiterfrage ist das bestehende Weitwirtschaftssystem, beispielsweise die Bedingungen der Kreditvergabe des Weltwährungsfonds.19 Hiebei stellt sich der Zusammenhang eines dualen Arbeitskräftemarktes zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern dar. Das Reservoir an billigen Arbeitskräften aus unter- bzw. weniger entwickelten Ländern wird sich weiterhin erhöhen: Der Anteil der Bevölkerung in unterentwickelten Ländern an der Weltbevölkerung betrug 1950 66 Prozent, im Jahre 1975 72 Prozent und wird im Jahr 2000 prognostizierte 79 Prozent erreichen, d. h., fünf Milliarden Menschen von insgesamt 6,35 Milliarden Menschen werden in unterentwickelten Regionen und Staaten leben.20

2.2.2. Die Ursachen der Zuwanderung: die Pullkräfte 2.2.2.1. Der Bedarf an ausländischen bzw. fremdsprachigen Arbeitskräften Für die Arbeitsmigration war die durch Arbeitskräftemangel im Zielgebiet ausgelöste Sogwirkung von zentraler Bedeutung. Die Arbeitsmigration richtete sich wesentlich nach den Bedürfnissen dieser Zielgebiete. Diese versuchten mit legistischen Maßnahmen die Zuwanderung zu regulieren. Im historischen Aufriß sind für Wien das Heimatrecht und ab 1925 die Inländerarbeiterschutzgesetze zu nennen. Im 19. und 20. Jahrhundert stand Wien wie alle europäischen Großstädte im Zeichen technologischer, ökonomischer und somit gesellschaftlicher Umwälzungen, zu denen die Ablöse der kundenorientierten Produktion durch die Marktproduktion, das Übergehen der Manufaktur- und Heimarbeit in die industrielle Produktion und somit die Herausbildung der Arbeiterklasse zählten. Nach den napoleonischen Kriegen setzte in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien ein Konjunkturaufschwung ein, dem ein Bauboom folgte. Den entscheidenden Anstoß auf dem Weg zur Industrialisierung gab aber erst der Ausbau eines Eisenbahnnetzes, dessen Zentrum Wien war. Nach einer Phase von verzögertem Wachstum 1848-1869 kam es 1869-1873 zu einem Industrialisierungsschub, der nach dem Börsenkrach 1873 von einem Konjunktureinbruch und Stagnation abgelöst wurde. Im Zeitraum 1890-1913, den der Wirtschaftshistoriker Gerhard Meißl als „Auf der industriellen Überholspur" charakterisierte, bildete die Elektroindustrie die Hauptträgerin der industriellen Dynamik. „Wien ist kurz vor dem Ersten Weltkrieg als

94 moderne industrielle Großstadt anzusprechen, die sich in ihrer Berufs- und Betriebsstruktur weniger von Berlin, der industriellen Großstadt par excellence, unterschied, als dies für die Hauptstadt eines noch weitgehend agrarischen Staates zu erwarten gewesen wäre." 21 Die Expansion der industriellen Produktion konnte nur durch Zuwanderung aus allen Teilen der Monarchie vonstatten gehen, und es war unter anderem das große Potential unqualifizierter Arbeitssuchender aus den Provinzen, das Wien als Standort für die Großindustrie attraktiv machte. Allerdings fanden die Arbeitsmigranten nicht nur in der Industrie Beschäftigung, sondern wurden ebenso vom Kleingewerbe angeworben. Vor allem Gewerbe mit geringem Sozialprestige fanden zuwenig Arbeitskräfte unter der ortsansässigen Bevölkerung. Die Ursachen lagen in den schlechten Arbeitsbedingungen und dem niedrigen Lohnniveau dieser Gewerbe. So erklärte ein Schuhmacher bei einer Enquete 1893, warum die Schusterlehrlinge durch einen sogenannten „Pan Tato" aus Böhmen und Mähren nach Wien „zugetrieben" wurden: „Die Meister klagen, daß die Schuhmacher hier keine Lehrlinge bekommen, weil die Zustände so bekannt sind, daß kein Wiener sich herbeiläßt, seinen Buben Schuhmacher werden zu lassen. Die meisten Lehrburschen werden daher aus Böhmen und Mähren importiert."22 Ohne Zweifel ist für die Zuwanderung auch die Zentralfunktion der Metropole Wien in Betracht zu ziehen. Die Ausstrahlung der Reichshaupt- und Residenzstadt reichte bis an die Grenzen der Monarchie, wenn auch die nähergelegenen Gebiete das Gros der Zuwanderer stellten; für die Migranten aus Südböhmen und Mähren stand neben Wien noch der stark industrialisierte Norden Böhmens zur Auswahl, und in den an die österreichische Reichshälfte angrenzenden Gebieten der Länder der ungarischen Krone war Budapest unmittelbare Konkurrenz. 23 In den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts löste der Arbeitskräftemangel die Sogwirkung auf die Arbeitsmigranten aus. Es bestand die Gefahr, daß unausgeschöpfte Produktionskapazitäten eine Konjunkturabschwächung bewirken. In dieser Phase war den Österreichern die Bedeutung der „Gasfarbeiter für den Aufschwung der österreichischen Wirtschaft durchaus bewußt. Anfangs der siebziger Jahre meinten 83 Prozent: „Wir müssen froh sein, daß ausländische Arbeitskräfte nach Österreich kommen, denn es fehlen überall Arbeitskräfte." 24 Die günstige Wirtschaftslage und das Überangebot an Arbeitsstellen, eine als „eklatanter Mangel an inländischen Arbeitskräften" bezeichnete Situation, 25 ließen die österreichischen Sozialpartner zum Mittel der aktiven „Gasfarbeiter-Anwerbepolitik greifen. Schließlich aber setzte infolge der Konjunkturabschwächung und deren Auswirkung auf

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien die Stellenangebote 1974 die restriktive Ausländerbeschäftigungspolitk ein (Quelle 125). 2.2.2.2. Die Organisation des Sogs: Formen der Vermittlung

Der Bedarf an „fremden" Arbeitskräften manifestiert sich im privaten, professionalisierten und institutionalisierten Informationsstrang, der in jene Gebiete reicht, deren Bevölkerung zur Abwanderung bereit ist. Historisch betrachtet spielte für Wien im 19. Jahrhundert die private Agententätigkeit die Hauptrolle in der organisierten Form der Vermittlung. Diese Agententätigkeit, die für den böhmisch-mährischen Raum gut belegt ist, betraf den Quellen zufolge hauptsächlich Lehrlinge und Arbeiter im kleingewerblichen Sektor (Quellen 127-130). Etwas anders war es bei den italienischen Saisonarbeitern: Ein sogenannter „Capo Lavoro" hatte die Aufgabe, einen Arbeitstrupp zusammenzustellen, in dem es durchaus zu ethnischen Vermischungen kommen konnte, mit dem er von Baustelle zu Baustelle als Partieführer dieses Trupps zog 26 (Quelle 130). Die staatlich organisierte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte setzte in Österreich erstmals unter nationalsozialistischer Herrschaft ein, wobei jedoch die Freiwilligkeit der Anwerbung kaum gegeben war. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann die institutionalisierte, auf den österreichischen Arbeitsmarkt hin orientierte Anwerbepolitik. Die Modalitäten der Anwerbung wurden in mehreren zwischenstaatlichen Abkommen festgelegt. Hauptsächlich wurde über die Arbeitsämter der jeweiligen Länder angeworben, in Istanbul sogar eine eigene Anwerbestelle eröffnet (Quelle 126). Abgesehen von der psychologischen Wirkung als Initialzündung, sollte jedoch die Bedeutung dieser institutionalisierten Form der Anwerbung nicht überschätzt werden. In der Frühphase der Zuwanderung versuchten auch Unternehmer direkt Arbeitskräfte anzuwerben (Quellen 131-133). Gewichtiger war jedoch die Vermittlung von Arbeitskräften durch Migranten im Auftrag des Unternehmens, das dafür „Prämien" zahlte. Diese Formen der Vermittlung verloren allmählich an Bedeutung, und die informelle Vermittlung durch Verwandte und Bekannte nahm überhand. Die Arbeitsmigranten selbst wurden zum Hauptinformanten über die Möglichkeiten und Perspektiven im Zielland. Oft fanden sie Arbeit für Personen ihres Heimatgebietes, die sie darum gebeten hatten. Dies galt auch für die Arbeitsmigration der Monarchie (Quellen 134139). Darüber hinaus versuchten Arbeitssuchende auf eigene Faust eine Arbeitsstelle zu bekommen (Quellen 140, 141). Für „Gasf'arbeiter war es in den Hochkonjunkturjahren bis 1973 keine Schwierigkeit,

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Die Ursachen der Arbeitsmigration

in Österreich einen Arbeitsplatz zu finden. In der darauffolgenden Phase nahmen Ausländerauch illegal, also ohne Beschäftigungsbewilligung, ihnen angebotene Arbeit an.27 Der Umfang dieser Gruppe konnte immer nur geschätzt werden.28 Zu Beginn der siebziger Jahre waren 56 Prozent der befragten türkischen Staatsbürger durch Vermittlung ihrer Bekannten oder Verwandten nach Österreich gekommen, 41 Prozent über ein Arbeitsamt in der Türkei, davon wurden 15 Prozent von österreichischen Unternehmen angefordert, und die restlichen 3 Prozent kamen aufgrund von Eigeninitiative.291983 waren von den in Osterreich befragten Arbeitsmigranten nur noch 34 Prozent der türkischen und 8,7 Prozent der jugoslawischen Staatsbürger offiziell angeworben worden.30

Unterentwicklung bzw. Ungleichentwicklung, Quellen 104-107 Die folgende Passage aus dem handschriftlich verfaßten Lebensbericht des 1863 im mährischen Klein-Senitz geborenen Jakob Stefan über seine Kleinhäuslerkindheit bietet einen Einblick in die alltäglichen Mühen, die für diese Familie zur Lebensbewältigung notwendig war.

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Kleinhäuslerkindheit in Mähren

Meine Eltern Franz und Eleonora waren Kleinhäusler und haben sechs Kinder gehabt, der Älteste hat Josef geheißen und ist schon mit neun Jahren gestorben. Die zweite war die Schwester Eleonora, ich bin am 30. Mai 1863 auf die Welt gekommen und zwar nicht alleine, sondern wir sind zu zweit gekommen, der andere war der Ältere und ist mit neun Monaten gestorben... Mein Gedächtnis reicht so bis ins vierte Jahr, als wir mit der Mutter in die Felder gewandert sind und dort den ersten Unterricht, das richtige Gras zu sammeln, erhalten haben. Zirka bis 10 Uhr, dann haben wir das gewonnene Gras zusammengetragen und in eine große Grasplache gebunden, welches dann die Mutter auf dem Rücken nach Hause geschleppt hat. Zuhause angekommen mußte jeder etwas beitragen um raschest die Erdäpfel zum Kochen zu bringen, auch Suppe ist gekocht worden... . . . das Schulegehen war nicht meine Hauptbeschäftigung, sondern das Arbeiten! Ich mußte alles Erdenkliche zusammentragen, was für den Haushalt nützlich und verwendbar war, hauptsächlich Mist. Zu meiner Zeit sind noch die Schweine ausgetrieben

worden, folgedessen wurde das ganze Dorf verunreinigt, so daß auch Reinigung notwendig war. Gerade dies war mein größter Beitrag für unser Fortkommen. Meine Nachkommen werden vielleicht sagen, wozu der Mist, wenn man keine Felder hat. Dieses will ich kurz erklären: Die Bauern hatten viele Felder, aber im Verhältnis nicht soviel Mist gehabt. Wenn wir vier bis fünf Fuhren Mist gehabt haben, so hat sich dies der Bauer auf seinen Acker geschafft und diese Fläche, wieviel daß der Mist gereicht hat, haben wir anbauen können, das heißt nur das eine Jahr. Gewöhnlich war das Kraut und die Ernte so, daß man für das ganze Jahr eingedeckt war. Für Erdäpfel ist auch gesorgt worden, aber mit Brot haben wir öfters große Knappheit erlebt, so daß wir manche Winter kein Brot gehabt haben... Freizeit hab ich wenig gehabt, nur gegen Abend ein bißchen Nachrennen oder Verstecken, das war das ganze. In den Schulferien hat sich die Arbeit noch verdoppelt, da ist noch das Klauben der Ähren auf den Feldern dazugekommen, das war die schlechteste Arbeit, schon wegen der Hitze. Jakob Stefan, Mein Lebenslauf. Erlebnisse und Erinnerungen. (Handschriftl. Autobiographie. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut Jur Wirtschafte- und Sozialgeschichte, Universität Wien) S. 1-3, 7-10.

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Alltag in Ostanatolien

Ein zur Zeit arbeitsloser kurdischer Arbeitsmigrant aus Ostanatolien über sein Heimatdorf: Mein Heimatdorf hat zirka 100 Häuser und etwa 1.200 Einwohner. Die Häuser sind meist ein- oder zweistöckig und aus Strohhäcksel vermengt mit Erde, Steinen mit Lehm oder Beton erbaut. Letztere sind zum Großteil im Besitz von Arbeitern, die außerhalb des Dorfes in größeren Städten oder im Ausland beschäftigt sind. Die Versorgung mit Trinkwasser reicht aus, die Bewässerung der Felder ist jedoch nicht ausreichend gewährleistet. Bis jetzt wurden dahingehend keine staatlichen Aktionen gesetzt. Daher wird hauptsächlich Getreide, Linsen und seit drei Jahren auch etwas Tabak angebaut. Durch den ausgeprägten Winter bedingt, der oft bis zu sechs Monate dauert, ist das Dorf an die 15 bis 20 Tage von der Umwelt abgeschnitten und auch keine extensive Viehwirtschaft möglich. Früher war das Dorf im Besitz von vier türkischen Familien, die auch noch an die zehn andere Dörfer verwalteten. Seit 1979 ist mein Dorf auch mit elektrischem Strom versorgt, ein großer Vorteil gegenüber den auch meist kurdischen Nachbardörfem. Seit 1978 haben sich an die

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

150 Bauern zu einer Kooperative zusammengeschlossen, um benötigte landwirtschaftliche Maschinen leichter erwerben zu können. Gekauft wird auf Raten. Zum Beheizen der Wohnungen dient vorwiegend getrockneter Kuhmist oder auch Holz, das allerdings mühevollst bis zu einer Entfernung von elf Stunden Fußmarsch vom Dorf gesammelt werden muß. Kohle als Brennstoff wird bei uns nicht verkauft. In den Familien wird nur kurdisch gesprochen, unter den Jugendlichen setzt sich aber das Türkische stärker durch. Seit 1948 gibt es im Dorf auch eine Volksschule, die aber bis 1955 von Mädchen überhaupt nicht besucht wurde. Auch jetzt läßt man sie meist nur die Schulpflicht erfüllen. Im Besitz meiner Familie befinden sich Grundstücke, die aber nur zum Teil intensiv bearbeitet werden können und daher auch nur die tägliche Versorgung garantieren. Interview mit Familie TF 1 (türkische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Landflucht in der Türkei

Die ungleiche Modernisierung und auch Mechanisierung innerhalb der Türkei beschleunigte die Landflucht. Für die Türkei schätzt man, daß durch einen Traktor durchschnittlich acht Bauern ihren Arbeitsplatz verlieren. Diese von außen hereinbrechenden Veränderungen lassen auch das Leben der rückständigen Bauern - die noch immer die Mehrheit büden - nicht unberührt: etwa der Bauern, die mit Esel und Holzpflug den ungedüngten und unbewässerten Acker bestellen oder der Nomaden, die mit ihren Zelten den jahreszeitlich wechselnden Weideplätzen ihrer Tiere folgen. Vor allem die Jüngeren wollen sich nicht mehr jahraus-jahrein mit Weizengrütze, Brot und Zwiebeln begnügen, während sich um sie herum alles ändert . . . Eine Arbeit in der Stadt ist der einzige Ausweg all dieser Menschen, denen die Landwirtschaft kein Auskommen mehr bietet. Donata Elschenbroich/Otto Schweitzer (Hg.), Die Heimat des Nachbarn, Gelsenkirchen-Berlin 1982, S. 195.

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Unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung

Die Migrationswellen standen in unmittelbarem Zusammenhang mit Wirtschafts- und speziell Agrarkrisen bzw. bestehender Ungleichentwicklung. Die folgenden Eckdaten weisen auf die Unterschiede der Herkunftsländer der „Gastarbeiter und Österreich hin. Eckdaten aus der Türkei, Jugoslawien und Österreich 1981 (in Prozent) Türkei

Jugoslawien

Österreich

1. Landwirtschaft 2. Industrie/Gewerbe 3. Dienstleistungen

54 13 33

29 35 36

9 37 54

Arbeitslosigkeit 1983

18

13

4,4

Analphabetismus der Personen über 14 Jahre 1981

40

15

1

1.540$

2.790 $

10.210 $

32,7

19,8

6,1

2,3

0.9

0,1

Beschäftigte in Sektoren

Bruttosozialprodukt pro Kopf in US-Dollar 1981 Inflation 1970-1981 Jährliches Bevölkerungswachstum 1970-1981

Der Fischer Weltalmanach 1985, Frankfurt am Main 1984, S. 319 f., 430, 539 ff (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.) Statistik des Auslandes. Länderbericht Türkei 1984, hrsg. vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart-Mainz 1984, S. 26, 32. Statistik des Auslandes. Länderbericht Jugoslawien 1985, hrsg. vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart-Mainz 1985, S. 28, 32.

Das Land kann seine Bevölkerung nicht mehr ernähren: Agrarkrisen, Armut, Landflucht, Quellen 108-113 Die Kleinwirtschaften der Monarchie reichten kaum zur Ernährung der Familie des Besitzers. Besonders hart waren die Kinder der Kleinhäusler betroffen. „Häuslerkinder waren sich schon sehr früh bewußt, daß sie für die Eltern eine Belastung waren, da sie Nahrung, Kleidung und Wohnraum brauchten. Sie wußten, daß sie bei den Eltern nur einen bestimmten Zeitraum verbringen konnten, da die schlechte ökonomische Lage keine andere Wahl ließ. So einschneidend die Trennung vom Elternhaus erlebt wurde, so selbstverständlich war sie für alle. Es gab für Häuslerkinder keine Alternative. Die Wahl eines anderen Berufes kam nur in wenigen Fällen in Frage, manchmal durften die Söhne ein Handwerk erlernen."31

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Agrarkrise in Mähren

Johann Hallawitsch wurde 1879 in Fröllersdorf im südmährischen Bezirk Nikolsburg geboren. Seine Eltern waren Kleinhäusler und hatten fünf Kinder, von denen drei früh verstarben:

97

Die Ursachen der Arbeitsmigration

Der Lebensunterhalt musste aus dem Ertrage der laufenden Ackerwirtschaft herausgearbeitet werden. Da aber die Grundstücke nur klein und zu weit vom Orte entfernt gelegen waren, musste die einzige Kuh als Zugkraft den Wagen ziehen, den Pflug, Egge und anderes Ackergerät vorgespannt verwendet werden. Besonders schwer war es, den Dünger auf die Felder zu schaffen; nach derlei schweren Arbeiten versagte der Milchertrag vollständig, bis die Kuh zur Ruhe kam und auf die Weide gebracht wurde. Sehr oft wurde die jährige Kalbin zu der Kuh beigespannt damit diese angelernt werde und beim Ziehen mithelfe. Die Hauptnahrungsmittel bildeten Kartoffel, Brot, Mehl, Kukuruz, Hirse und Kraut, sowie Hülsenfrüchte. Die Milch wurde verbuttert; Eier, Käse, Topfen, und Geflügel wurden zum Markt getragen und verkauft; auch die Schweine wurden verkauft es war alles in Hülle und Fülle, jedoch fehlte es an Käufern, deshalb wurden zum Wochenmarkt (jeden Mittwoch) in Dürnholz alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse geführt. Nicht selten war der Markt mit derlei überschwemmt, der Geldmangel war unerträglich. Sehr oft mussten die Frauen die Butter, Topfen und Eier nach Hause tragen, da sich keine Käufer vorgefunden hatten. Dies hat sich hauptsächlich vor den jüdischen Festtagen (Ostern, Langer Tag, etc. etc.), nachdem die Juden vom Markt ferngeblieben sind, ereignet. Im ganzen Ort fehlte es tin Geldmittel, ganz besonders bei den Kleinhäuslern. Die drei Greisler im Ort (Stogl, Brüstl, Abeles) zahlten für 2 Stück Hühnereier 3 Kreuzer. Es wurden fast alle Einkäufe mit Eiern bezahlt; wie oft wurden Kinder in Ermangelung von Geld mit Eiern einkaufen geschickt. Die Männer brachten Eier für Tabak oder Branntwein; Zucker, Oel, Petroleum, Germ wurden mit Eiern bezahlt. Wie schlecht es mit der Beschaffung von Kleidern und Schuhen stand, erhellt sich daraus, dass erst zum Martini-Markt in Dürnholz für Lederstiefel der einfachsten Ausführung 2025 Gulden bezahlt wurden. Die Kleider waren ebenfalls unerschwinglich. Der Meterzentner Gerste (100 kg) mit 4 Gulden bezahlt. Ein Bauernknecht erhielt 80 Gulden Jahreslohn. Welche Mengen an Getreide mussten verkauft werden, um nur die allernotwendigsten und einfachsten Kleidungsstücke anzuschaffen. Die langen Winternächte (die Beleuchtung bestand aus einer einfachen Petroleumlampe ohne Zylinder) wurden mit Ausklauben von Bohnen und Linsen oder mit Federschieissen zugebracht. Hiebei kamen die Nachbarn und halfen gegenseitig. Die Eltern lebten in unseren Kinderjahren sehr sparsam, fast notdürftig und ärmlich, besonders in Missemtejahren. Dann bildeten Kartoffel, Kraut, Rüben und Hülsenfrüchte die Hauptnahrung. Fleisch kam nur an den höchsten Feiertagen auf den Tisch. Zum Frühstück gab es entweder Einbrenn-, Kartoffel- oder Knoblauchsuppe; Kaffee gab es damals überhaupt

nicht. Die Kinder erhielten Milch oder Milchspeisen. Selbst Brot wurde gespart; da die eigenen Grundstükke sich für den Weizenanbau nicht eigneten, musste Kochmehl beim Bäckermeister in Dürnholz auf Borg gekauft werden. Auch Brotmehl wurde sehr oft vom Bäcker gekauft, wenn oft die Kornernte ungenügend ausfiel. Die Kartoffel musste fast jeden Tag die Mahlzeiten vervollständigen. Zu diesem Zwecke stand der Kachelofen, welcher in der Ecke des Zimmers stand und fast bis zur Decke reichte, mit Bratkartoffeln voll. Die Kinder assen soviel sie wollten. Johann Hallawitsch, Familienchronik - Mein Lebensweg. (Maschinschriftl. Autobiographie. Dokumentation lebensgesdiichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafis- und Sozialgeschichte, Universität Wien), S.lf.

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Kampf um das tägliche Brot

Der 1870 in Unter-Tannawitz in Mähren geborene und spätere österreichische Bundespräsident Karl Renner beschrieb den Niedergang seines auf Weinwirtschaft fußenden Vaterhauses ausführlich. Hieraus eine Episode, welche den Kampf ums tägliche Brot widerspiegelt: Was wir Kinder in jenen Jahren an Entbehrung litten, läßt sich kaum anschaulich schildern. Der Stiefbruder Zecha war 1868, die Schwester Maria 1871 ausgesteuert worden - beides eine verhängnisvolle Schwächung unserer Wirtschaft. So saßen denn mit den beiden Eltern zusammen und ohne gelegentliche Taglöhner, ohne Sequestrierer, zehn Personen um den gewaltigen eichenen Eßtisch der großen Stube, jede den irdenen Teller vor sich, den „Pakfong"-Löffel in der Hand, eine wagenradgroße Schüssel mit Suppe oder Gemüse auf der Tischplatte, und die Mutter begann auszuteilen. Das Brot wurde im Hause gebacken, in großen und runden Laiben, von denen die Mutter für jeden sein Stück herunterschnitt. Ängstlich verfolgten die Kinder das Messer, ob nicht gerade ihre Schnitte ungebührlich klein ausfiel, und nicht selten brach einer der Jungen in Geheul aus: „Dem andern sein Stück ist viel größer." Zur Zeit der Feldarbeiten aber konnte zu Mittag überhaupt nicht gekocht werden. Die Ackerflur des Marktes Unter-Tannowitz erstreckt sich vom Ort weg nach drei Richtungen eine bis anderthalb Stunden weit, Wiese und Wald liegen noch weiter abseits, zur Mahlzeit heimzugehen würde viel zuviel Zeitverlust gebracht haben. Dies hat zur Folge, daß die Feldarbeiter, nachdem die Kirchenglocke Mittag geläutet, unter einem Baume Rast machen, dort das Mitgebrachte, in der Regel Brot und Käse, verzehren, dazu aus einem Feldbrunnen Wasser und den mitgebrachten Wein trinken und erst nach Feierabend zu Hause warmes Essen finden. Diese Anordnung traf die Schuljugend schwer. Nach der Frühstückssuppe

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

bekam jedes Kind einen „Reanken" Brot zugeschnitten und hatte es sich für Mittag aufzuheben. Zur Mittagszeit aber war das Haus fast leer, Pferde, Rinder, Schweine waren auf der Halde unter der Aufsicht des Hüters, und die heimkommenden Kinder hatten nun zu Hause bei trockenem Brot, wenn es ihnen so beliebte, ihre Aufgaben zu machen. Als Jüngster erfuhr ich öfter zu meinem Leid, daß der eine oder der andere ältere Bruder, der sein Brot schon vorher aufgegessen hatte, sich an dem meinigen vergriff und daß ich nun bis zum Nachtessen durchhungern mußte. Um mein Mittagsbrot zu retten, verkramte ich es früh vor der Schule in den unmöglichsten Verstekken - so in der Scheune, wo ich einen Quertram erkletterte, unter Absturzgefahr darüberlief, um das Brot in der Ecke zwischen Tram und Dachsparren in das Stroh des Daches einzuwühlen. Wegen der Gefahr des Zugangs hielt das geraume Zeit. Eines Mittags aber, als ich auf dem Tram mich der Ecke näherte, fauchte es mich im Halbdunkel entsetzlich an, so daß ich im Schreck beinahe auf die Tenne herabgefallen wäre, mit meinem Brot aber fuhr der gelbe Kater des Nachbarn davon! Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten. Wien 1946, S. 50 f.

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Lebenserinnerungen,

Landflucht in Böhmen

Von diesem böhmischen Bauernhof zog ein Bauernsohn nach Wien, um Arbeit zu suchen.

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Auf dem Land in Anatolien

Bildquelle: Walter Lichtblau.

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Kurdischer „Gast"arbeiter holt seine Familie

Aus einem Interview mit einem kurdischen Arbeitsmigranten. Der Vater kam als Einzelzuwanderer nach Wien. Wegen der Aussichtslosigkeit in der Türkei holte der Vater schließlich seine Familie nach Osterreich. Wir waren schon acht Geschwister, wie mein Vater hierher gekommen ist. In der ganzen Geschichte seit zweihundert Jahren hatten alle höchstens drei Kinder gehabt. Das heißt, wir haben nicht so guten Grund gehabt, von dem wir alle hätte leben können. Wir hatten schon einen großen Acker, aber es hat keine Wirtschaftsmaschinen gegeben und außerdem fällt dort viel Schnee. Das Problem war, den meisten guten Grund haben die Grundbesitzer, die anderen Leute, die nicht so guten Grund gehabt haben, haben schon geteilt nach dem Ersten Weltkrieg. . . . Während mein Vater in Österreich war, konnten wir die Landwirtschaft überhaupt nicht weiterführen, also Ackern und Mähen, wir haben die Hälfte der Tiere verkauft. Es ist dort sehr schwierig Arbeit zu bekommen. Man ist dort mit 12 Jahren mit der Schule fertig. Das heißt im Bergbau werden schon Junge beschäftigt mit 12 bis 13 Jahren und mit einem kleinen Lohn. Interview mit Ali Imanli, geb. 1954, auf Tonband.

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Bildquelle: Maria

Eisenhamr.

Landflucht in Serbien

Die Phase der intensiven Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte verlief parallel zur Phase der Landflucht in den Abgabeländern, wie im folgenden Fall, in einem serbischen Dorf.

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Die Ursachen der Arbeitsmigration

Fast alle im Dorf leben von der Landwirtschaft. Im Dorf sind etwa 200 Häuser und vielleicht aus 30 bis 40 Häusern ist niemand im Ausland. Sonst aus jedem Haus. Die Leute sind meistens in Frankreich und Österreich, ein Teil auch in Deutschland. Weggegangen sind sie seit 1967/68. Mein Vater war immer Bauer, die Mutter immer zuhause. Gleich als Kind mußte ich Vieh weiden und alles andere machen. Auf dem Land ist mein Bruder geblieben und der Vater konnte damals auch noch arbeiten. Zu dritt wären wir zu viele auf dem Land gewesen. Ich bin direkt aus der Landwirtschaft nach Österreich gegangen. Interview mit Familie JF 27 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

Die Arbeitslosigkeit bzw. das Nichtvorhandensein von Dauerposten waren zwingende Gründe für die Arbeitsmigration. Über den ständigen Arbeitswechsel in seiner südmährischen Heimat schrieb Johann Hallawitsch:

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Zu wenig Arbeit in Mähren

Nachdem sich nur selten Gelegenheit zum Geldverdienen bot, ging ich in die Zuckerfabrik nach Grusbach, sieben Kilometer weit. Ich arbeitete beim Rübenwaschen, nach der Kampagne kam ich in den Zuckerkeller, dort hatte es 40 Grad Hitze, es wurde nur mit der Schwimmhose bekleidet gerobotet. Johann Slunsky, Josef Slunsky, Josef Egger und ich bildeten eine Partie. Es gab schönen Verdienst, aber die 36 Stunden beim Wochenwechsel von Samstag Mittag bis Sonntag abend hatten sich gewaschen . . . Da zu dieser Zeit bereits sehr viel Fröllersdorfer in Wien Arbeit und Verdienst hatten, habe ich den Entschluß gefaßt, auch mich nach Wien zu wenden, nur habe ich mich um einen Vermittler umsehen müssen. Ende März 1895 waren die Arbeiten in der Zuckerfabrik zu Ende, ich mußte neuerdings auf die Suche nach einem Verdienst gehen. Die Zuckerrüben-Arbeiten kamen erst später. So arbeitete ich bei Anton Jurditsch und zeitweise beim Josef Stich, die Bezahlung war sehr gering, da sie sich die Verköstigung entsprechend angerechnet hatten. Jetzt ging es bei den Rübenarbeiten los. Im Gutshof Kadholz, Mailberg wurden Akkord-Arbeiten vergeben; die Fahrt mit der Bahn bezahlte der Gutshof. Sofort ist die alte Vierer-Partie angetreten und wir fuhren los. Die ganze Woche verblieben wir dort und kochten uns auch selbst - fast täglich Kartoffel und Gemüsesup-

pen mit Nockerln. Genächtigt haben wir auf dem Heuboden mit einer Anzahl alter Pferdedecken. Körperpflege fehlte vollständig. Die Rückfahrt geschah oft im Viehwaggon. Johann Hallawitsch, Familienchronik - Mein Lebensweg. (Maschinschriftl. Autobiographie. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Wien), S. 8.

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Keine Verdienstmöglichkeit in Jugoslawien

8,6 Prozent der 1983 befragten „Gast"arbeiter Oerließen ihre Heimat aus Mangel an Arbeitsplätzen, 33,3 Prozent nannten sowohl die Verdienstmöglichkeit als auch die Arbeitssuche als Migrationsmotiv.32 Ich bin Seiler von Beruf. Mein Beruf ist im Aussterben. Ich habe als Seiler gearbeitet, aber es gab immer weniger Arbeit. Darum bin ich ins Ausland gegangen. Interview mit Familie JF 31 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Arbeit und Geld

Zvonko D., 31, stammtaus einem kleinen Dorf in der Nähe von Murska Sobota, Jugoslawien. Er ist bei einer Grazer Baufirma als Hilfsarbeiter beschäftigt und schickt seiner Familie - er hat zwei kleine Kinder - regelmäßig Geld. Warum er in Österreich arbeitet? Er sucht zuerst nach Worten, bevor er in etwas holprigem Deutsch Auskunft gibt: In meiner Heimat gibt es keine Arbeitsplätze oder zuwenig. Und schlecht bezahlt. Ich arbeite hier schon vier Jahre, jetzt noch acht Monate. Dann habe ich das Geld und kann mir ein kleines Haus bauen, selber, mit Freunden. Bei uns ist das Bauen billiger. Nein, mit der Arbeit hier ist er nicht zufrieden. Sie ist schwer und schmutzig, also gerade die Arbeit, die man mit Vorliebe Gastarbeitern zuteilt. Trotzdem: Er verdient ganz gut. Solidarität vom Juli-August 1969, S. 10.

Innerhalb der Monarchie bestand ein erhebliches Lohngefälle, das Michael Mesch für die Jahre 1890-1914 an Hand der von der Unfallversicherungsstatistik erfaßten Arbeit-

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

nehmer analysierte. Die deutschsprachigen Alpenländer galten als „Hochlohnregion", und unter ihnen nahm Wien die erste Position ein, die „Löhne in allen Branchen und für nahezu alle Qualifikationsstufen waren in der Hauptstadt am höchsten."33

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Lohngefälle in der Monarchie

Relationen der durchschnittlichen regionalen Tages- (LRi) und Stundenlöhne (LR2) 1906 (Wien - 100%)

Wien Salzburg Graz Triest Prag Brünn Lemberg

0 Lohn in K/Tag

LRi in %

3,47 2,82 2,94 2,81 2,49 238 2,10

100,0 81,3 84,7 81,0 71,8 68,6 60,5

0 tägl. Arb.- 0 Lohn zeit in Std. inh/Std. 9,83 10,30 10,16 10,02 10,16 10,29 10,54

353 27,4 28,9 28,0 24,5 23,1 19,9

LR 2 in % 100,0 77,6 81,9 79,3 69,4 65,4 56,4

LR - Durchschnittslohn der jeweiligen Anstalt in Prozent des niederösterreichischen Lohnniveaus. Κ - Kronen. Michael Mesch, Arheiterexistenz in der Spätgründerzeit - Gewerkschaften und Lohnentwicklung in Österreich 1890-1914, Wien 1984, S. 201.

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Johann Hallawitsch stammte ebenfalls aus Mähren. Er arbeitete 1896 in der Brauerei von Mauthner Markhof. Vor Monatsschluß erhielt ich meinen ersten Lohn. Ich habe fast die Besinnung verloren, als ich blanke 40 fl (Gulden) ausbezahlt erhielt. Zum Vergleich ein Beispiel: es kostete in Fröllersdorf eine schöne Kuh 80 bis 90 fl. Ich habe es nicht fassen können; von diesem Lohn mußte ich mich selbst verköstigen. Ich war ein starker Brotesser (den Laib bezahlte ich mit 8 Kreuzer, er wog 1 kg; 1/4 kg gekochten Selchspeck mit 15 Kreuzer). Vielfach habe ich den Gastwirten Selchfleich, Würstel, Presswürste ganze Fleischzöger voll, auf die Eisgrube zu legen übernommen und bekam dafür ganze Stangen Würste; daher brauchte ich nur ganz wenig Geld. Es fiel mir nicht schwer, den Eltern jedes Monat 20 Gulden heimzusenden; sie hatten damit große Freude und Hilfe, da man mit diesem Geld sehr viel ausrichten konnte. Ein Paar Zuchtferkel kosteten 10 fl! Johann Hallawitsch, Familienchronik - Mein Lebensweg. (Maschinschriftl. Autobiographie. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Wien), S. 10.

120 118

Der erste Lohn - ein Erlebnis

Jakob Stefan kam 1880 aus Mähren nach Wien und begann in einer Wagenfabrik zu arbeiten. Der erste Lohn blieb ein einschneidendes Erlebnis. Samstag bei der Auszahlung habe ich acht Gulden bekommen, und das ist mir unvergeßlich geblieben, mit einem Mal habe ich mich als reicher Mann gefühlt. Die Arbeit war sehr abwechselnd, was mich sehr gefreut hat. Bald habe ich eine Zulage bekommen. In einigen Wochen habe ich zu meiner Überraschung an einem Samstag bei der Auszahlung 35 Gulden bekommen, so daß ich nicht gewußt habe, ob da nicht ein Irrtum vorliege. Das hat Ausgleich geheißen. Mein lang ersehnter Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen, und ich hab mir einen Stoffanzug und einen Winterrock anschaffen können. Jakob Stefan, Mein Lebenslauf. Erlebnisse und Erinnerungen. (Handschriftl. Autobiographie. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Wien) S. 399.

Mein erster Lohn

Der Vater hat zu wenig verdient

Die bessere Verdienstmöglichkeit war unter den „Gast"arbeitern das wichtigste Migrationsmotiv: 43,2 Prozent der 1983 Befragten nannten ausschließlich das Verdienstmotiv.3* Warum ich gekommen bin, damals waren wir drei Kinder, Vater und Mutter, der älteste Bruder war verheiratet, er hat ein Kind gehabt, wir haben zusammen in einer Wohnung zusammengelebt, im Ort Semun in der Nähe von Belgrad, eine Vorstadt von Belgrad. Schwierig war, der Vater hat allein gearbeitet, allein verdient, damals war es noch so, daß die Schule nicht die Bücher gegeben hat und die Möglichkeit war nicht so gut und billig in die Schule reinzukommen, der älteste Bruder war in der medizinischen Schule, der mittlere in der chemischen Schule und ich war noch in der Pflichtschule, Gymnasium. Es war schwer alles zu kaufen, Kleidung, alles mögliche, der Vater hat zu wenig verdient. Er hat sich damals entschieden, auszuwandern, damals war die Möglichkeit ganz gut, Österreich hat Arbeiter gebraucht, die Österreicher haben wenig gearbeitet. Interview mit Djura Antonovit, geb. 1953,

Transkript.

Die Ursachen der Arbeitsmigration

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, . . das war alles zu wenig

Ich komme aus Jugoslawien, so etwa 120 km von Belgrad ist das. Es ist eine kleine Ortschaft, sozusagen mehr ein Dorf, aber das sind vielleicht 500 Einwohner. Insgesamt ist es eine ländliche Gegend. Meine Eltern haben früher Landwirtschaft betrieben bevor wir nach Österreich gekommen sind. Es hat sich überhaupt nicht ausgezahlt mit Landwirtschaft mehr zu arbeiten, der Vater hat in einem Betrieb gearbeitet und die Mutter hat halt Arbeiter aufgenommen und die Landwirtschaft betrieben. Aber das war alles zu wenig. Einkommen war wenig und es hat genau ausgereicht für Essen und Kleidung. Mehr war nicht drin. Und dann ist von meiner Mutter die Initiative ausgegangen, daß wir nach Österreich kommen. Interview mit Miljana StantHζ geb. 1962, Transkript.

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Im Ausland konnten wir mehr sparen

Nach dem Konkurs seiner Geschäfte konnte dieser „Gast"arbeiter in der Türkei nicht genügend verdienen, um die laufenden Kredite zu bezahlen. Wir haben festgestellt, daß die Leute, die im Ausland arbeiteten, mehr sparen konnten. Ich habe mit meiner Frau ausgemacht, daß ich für zwei Jahre ins Ausland fahre und soviel spare, daß wir unsere Schulden bezahlen können, und dann wieder zurückkomme . . . Nun habe ich gesehen, was durch Sparen alles erreicht werden kann und bin weiter in Österreich geblieben. Interview mit Familie TF18 (türkische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Den Hof bei Nacht und Nebel verlassen

Probleme in zwischenmenschlichen und innerfamiliären Beziehungen, der Druck von kulturellen, religiösen und politischen Normen bzw. die Gefahr, für ein Vergehen gegen die Normen von seiner Umwelt geächtet zu werden, waren durchaus relevante Migrationsursachen. Die Stadt bot mit ihrer Möglichkeit zu einem anonymen Leben ein Entkommen der dörflichen Bestrafungsmuster. Karl Renner berichtete über das Schicksal seiner Schwester.

101 Ich drängte darauf, zu erfahren, wie es Anna gehe? Verlegen suchte Dominik auszuweichen. Endlich rückte er heraus: Die Anna ist in Wien! In fassungsloser Verblüffung schrie ich ihn an: Was! Wie! In Wien!? Da begann er denn Ereignisse zu erzählen, an denen ich, da man sie geflissentlich vor mir verborgen hatte, bisher ganz vorübergegangen war. Unser Nachbar Leißner, der die zweite Haushälfte besaß und also Hof an Hof, beinahe Tür an Tür hauste, hatte als vermögensloser, aber hübscher und tüchtiger Bursche eine junge und vermögende strohblonde Witwe geheiratet, die im Orte als geizig und zänkisch bekannt war; er tat dies in dem stillen Gottvertrauen auf seine Kraft: „Ich werde den Schimmel schon derreiten." Und das gelang ihm auch - etliche Jahre. Aber der Kindersegen blieb aus, ein Übel, das der Bauer schwer überwindet, und, wie das so kommt, jeder Teü gab dem anderen im stillen und bald laut schuld. Einmal vor etlichen Jahren waren Dragoner im Orte einquartiert, ein Dragonerwachtmeister bei Leißner, und da dachte die Nachbarin, weiß Gott, vielleicht, die Probe auf ihre Empfänglichkeit zu machen, vielleicht auch überhaupt an nichts als ihr Vergnügen und ließ sich mit dem Wachtmeister ein. Ertappt von ihrem Mann, wollte sie in den Hausbrunnen springen, überlegte sich's jedoch noch, als sie am Brunnenrand saß, und der Mann verzieh etliche Jahre. Nun aber wuchs Leißners Hofnachbarn eine Tochter heran, die war tüchtig, hübsch und voll sprühenden Lebens und noch dazu aus einer Familie, bei der Kindersegen niemals eine Frage war. Leißner hätte gern gesehen, daß Anna bei ihm als Magd eintrete. Aber das wollte Anna um keinen Preis. Da ging nun das unglückliche Werben und Sichwehren an, Tag um Tag, beinahe zwei Jahre lang. Und jetzt wurde mir mit einem Schlage klar, woher jenes nächtliche Weinen Annas! Eines Tages sei das Unglück geschehen gewesen. Anna habe ein Kind, eine kleine Amalie, Leißner habe Haus und Hof verlassen und sei bei Nacht und Nebel mit Mutter und Kind nach Wien gefahren. Den Scheidungsprozeß, zu dem er gar nicht bei Gericht erschienen, habe er in Kontumaz gänzlich verloren und damit auch alles Vermögen. Er habe jedoch in Wien eine Stelle als Hausbesorger gefunden und sei mit Anna dort zusammengestanden. Im Orte gelte das als eine große Schande und habe gerade noch gefehlt, um die ganze Familie in Mißachtung zu bringen. Ich war tief erschüttert, denn Anna war mir wie eine aufopfernde Mutter gewesen, und nicht als Schmach empfand ich ihr Los, sondern als unverdientes Unglück, das Erbarmen verdiente. Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946, S. 142 f.

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

Der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften, Quellen 124,125 Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen stellt (1976) in seiner Studie fest, daß die Knappheit am Arbeitsmarkt für den Bedarf an Arbeitskräften bestimmend ist. Die relativ hohen Wachstumsraten zwischen 1968 und 1974 wären ohne die ausländischen Arbeitskräfte nicht möglich gewesen.35

124

Die Presse vom 11. September 1973, S. 2.

Höhere Wachshimsraten ohne Ausländer nicht möglich

Gemeldete offene Stellen und vorgemerkte Arbeitslose im Jahresdurchschnitt 1971-1988 in Wien

1971

72

73

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75

76

77

78

79

80

81

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86

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vorgemerkte Arbeitslose (pro Monat im Jahresdurchschnitt) offene Stellen (pro Monat im Jahresdurchschnitt)

Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen stellte (1976) fest, daß die Knappheit am Arbeitsmarkt für den Bedarf an Arbeitskräften bestimmend ist. Die hohen Wachstumsraten zwischen 1968 und 1974 wären ohne die ausländischen Arbeitskräfte nicht möglich gewesen. Vgl. Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 28, Wien 1984, S. 7)

Landesarbeitsamt Wien, Jahresberichte.

125

hinaus typisch. Sowohl der Kapitalfluß als auch die Wanderung der Arbeitskräfte setzen wesentliche Impulse für die Volkswirtschaft. Der Hauptvorteil der Ausländerbeschäftigung liege in einer hohen Wachstumsrate der Volkswirtschaft. Regierung und Sozialpartner müßten sich um einen entsprechenden Aufklärungsprozeß bemühen, um der Bevölkerung die Vorteile der Beschäftigung von Gastarbeitern eindrucksvoll vor Augen zu führen. Die höhere Wachstumsrate, welche durch Gastarbeiterbeschäftigung entstehe, wirke sich auf fast alle Zweige der Volkswirtschaft stimulierend aus.

Institutionalisierte Anwerbung, Quelle 126 Die institutionalisierte Anwerbeform sollte mithelfen, daß die Migranten dem von Unternehmen geforderten Qualifikationsniveau entsprechen. Da im heimischen Arbeitskräftemarkt nicht mehr selektiert werden konnte, sollte dies im ausländischen geschehen. Die Anwerbestellen versuchten die Qualifikationswünsche zu standardisieren, indem ärztliche Untersuchungen und eine Prüfung der manuellen Fähigkeiten der Bewerber durchgeführt wurden.x In der Türkei animierte diese Vorgangsweise die Bildung von Schlepperorganisationen, welche den Bewerbern Einschulungen zur Erlernung der Handgriffe anboten.37 Diese Art der Arbeitsplatzvermittlung war insofern seriös, als dem Migranten Arbeitsplatz, Wohnstätte und Anreise gesichert waren. Ein gelernter Tischler aus Bergama in der Türkei, der des öfteren Beruf wechseln und wegen des Todes seines Vaters als ältester Sohn die Verantwortung für seine Familie übernehmen mußte, arbeitete unmittelbar vor seiner Anwerbung in Istanbul als Taxifahrer.

Ohne „Gast"arbeiter geht es nicht

Als bereits der Schwenk zur restriktiven Ausländerbeschäftigung offensichtlich war, verteidigten Vertreter der österreichischen Wirtschaft ihr Bedürfnis nach ausländischen Arbeitskräften. „Ohne Gastarbeiter geht es nicht." Handelskammer: Vorteile überwiegen, Wirtschaft wächst schneller. Gastarbeiterpolitik sei von der gesamten Wirtschaftspolitik nicht mehr loszulösen, stellt die Wiener Handelskammer in einer Aussendung fest, in der sie davor warnt, die Beschäftigung von Ausländern auch nur kurzfristig einzuschränken. Für die moderne Wirtschaft sei ein Ausgleich der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital über die Grenze

126

Anwerbung von Arbeitskräften

Ich hatte mit Kredit ein Auto gekauft und arbeitete als Taxler. Das Auto war so alt, daß ich das meiste, was ich verdiente, in die Reparaturen stecken mußte. Am Ende war es so, daß ich zwei Tage arbeitete und drei Tage Auro reparierte. Sogar meine Frau hatte Autoreparieren gelernt. Einmal machte ich Nachtdienst, es roch nach Fisch und ich wollte sehen. Ich sah viele Leute auf der Straße, die mit alten Fischkisten Feuer machten, um sich zu wärmen. Sie wollten auf der Straße übernachten, damit sie in der Früh bei der Anwerbestelle drankommen konnten. Alle wollten ins Ausland. Sie meinten, ich solle es auch versuchen. Ich fuhr nicht

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Die Ursachen der Arbeitsmigration

nach Hause und übernachtete mit ihnen auf der Straße. Am nächsten Tag kam ich als 27. dran. Ich wurde gesundheitlich untersucht und mußte eine Prüfung ablegen. Dort sagte mir ein Angestellter, daß ich eigentlich eine Arbeit hätte, daß es mir nicht so schlecht ginge und warum ich unbedingt fahren wolle? „Ich habe Schulden, ich muß sie unbedingt zurückzahlen", sagte ich ihm. . . . Zirka nach 3 Monaten empfing meine Frau mich weinend zu Hause . . . es kam ein Brief von der Anwerbestelle, die Antwort war positiv. Innerhalb einer Woche mußte ich nach Österreich. „Wo ist Österreich", fragte ich den Beamten. „In der Nähe von Deutschland", antwortete er. „Welche Währimg gibt es denn dort?" „Schilling", sagte er. „Und wieviel kriege ich?" „17 Schilling Stundenlohn". Wir sind mit dem Bus ziemlich früh angekommen. Wir waren sechs Leute. Wir warteten lange und niemand kam uns abholen. Wir waren sehr traurig, alle fast am Weinen. Wenn der Bus noch da gewesen wäre, wären wir alle wieder nach Hause gefahren. Die Passanten eilten in die Arbeit, niemand nahm von uns Notiz. Endlich wagte ich mich zu einem Passanten und erzählte ihm mit meinen wenigen Deutschkenntnissen von unserer Situation. Er kannte die Firma, rief dort an und sie kamen später und holten uns ab. Interview mit Familie TF 13 (türkische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

Private Vermittlung, Agententätigkeit, Quellen 127-133 Aus Böhmen und Mähren wurden von Schleppern junge Lehrstellen- bzw. Arbeitssuchende nach Wien gebracht und hier gegen Provision an die Meister weitergereicht.

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Mit der Lehrjungenmutter nach Wien

Da man aber keinen Schlosser wußte, bei dem der Knabe sich hätte zu einem tüchtigen Arbeiter ausbilden können, und er sich selbst von seiner Heimath, dem Grabe seiner Freuden, weit wegsehnte, so kam man überein, ihn bei der nächsten Gelegenheit der Lehrjungenmutter zu übergeben. Es war dieß in jener

Gegend ein Weib, wie es in Böhmen mehrere gab, das die lernbegierigen Jungen eines ganzen Bezirkes jährlich im Sommer versammelte und mit ihnen nach Wien zog, wo sie an die verschiedenen Meister hingegeben wurden. Es war gerade die Zeit, wo man die alte Lise erwartete, und richtig traf sie mit einer Schaar von fünfzehn dickköpfigen munteren Jungen im Laufe der nächsten Woche in Sternberg ein. An diese schloß sich nun auch unser Jan, der ein schlankes und dabei doch kräftiges Bürschchen von dreizehn Jahren war. Um die Stiefel zu schonen, lief das junge Volk barfuß, nur wenn man in eine Stadt kam, wurden sie angezogen, hie und da bekam man etwas von gutherzigen Leuten umsonst, besonders von solchen, deren Kinder auch in der Fremde waren; Milch, Brot. Obst theilte man ihnen gerne mit, wenn sie Abends hungrig und durstig in ein Dorf kamen; der Heuboden oder die Scheune waren ihr Nachtlager; zeitlich früh wurde aufgebrochen, streckenweise heilige Lieder gesungen, dann wieder gescherzt, gelacht, gerastet, oder die alte Lise erzählte allerhand Geschichten von den Burgen und Klöstern, an welchen man vorbei kam. Endlich kam man über Stockerau und Korneuburg an die Ufer des grünen Donaustromes, gegen den die Säzawa nur ein Bächlein war; man sah über die Auen den herrlichen Stephansthurm, der ihnen das lang ersehnte Ziel ihrer mühseligen Reise, auf welcher sie von Staub und Hitze viel auszustehen gehabt, andeutete. Mit einer Art Furcht gingen die Knaben über die lange dröhnende Brücke, unter welcher sich die tosenden Wellen des Stromes im wilden Tanze hervorwälzten. Endlich waren sie in der Leopoldstadt; wie betäubte sie in dem Häusermeere die auf- und abwogende Menschenmenge an der Ferdinandsbrücke und die Unzahl der rasselnden Kutschen, die in den Prater hinabrollten; neu waren ihnen auch die langen Schiffe und Kähne im Canale, neu die großen Häuser am Glacis. So manchem der Knaben, der in ländlicher Einsamkeit in einem Dörfchen sein bisheriges Leben zugebracht, wurde bange, und er schloß sich, um sich nicht zu verlieren, fester an seine Genossen, denen die alte Lise, schon bekannt mit den Wegen, rüstig voranschritt. Ohne die eigentliche Stadt zu betreten, führte sie ihr Gefolge auf die Landstraße in die bekannte Herberge der frisch ankommenden böhmischen Lehrjungen, wo sie ausrasten konnten, bis sie von ihren Meistern abgeholt würden. Jan hatte auf einen Meister nicht lange zu warten. Als es bekannt wurde, es sei ein Transport böhmischer Lehrjungen angekommen, fanden sich alsogleich Meister ein, welche gesonnen waren, einen Lehrjungen in ihr Geschäft aufzunehmen. Ludwig Just, Jan Slawik oder: Jugend eines Handwerkers, 1856, S. 46-50.

Wien

104

128

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

der Werber eine Krone, die sofort im Gasthaus umgesetzt wurde.

, Sklavenmarkt"

An einen afrikanischen Sklavenmarkt muß das bunte Treiben am Franz-Josefs-Bahnhof erinnert haben, jedesmal, wenn berufsmäßige „Schlepper" frische Ware, das heißt tschechische Knaben nach Wien brachten und die Meister hier zur Musterung ihrer Lehrbuben erschienen. Kurt Skalnik, Dr. Karl Lueger, Wien-München

129

1954, S. 36.

„Menschemnarkt"

Eduard Sueß traf 1872 am Frariz-Josefs-Bahnhof eine Schar von 40 oder mehr etwa zehnjährige Knaben, meist Tschechen, die unter Führung einiger Männer eben aus Böhmen gekommen waren. Dazu kamen Wiener Handwerker und wählten aus ihnen auf gut Glück ihre Lehrburschen. Da sie dem Führer die Reisekosten zu ersetzen und noch ein Prämie zu zahlen hatten, konnte man sich beinahe einen Menschenmarkt vorstellen. Eduard Sueß, Erinnerungen,

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Leipzig 2936. 18

Anwerber für italienische Arbeiter

Bei den italienischen Saisonarbeitern war vor dem Ersten Weltkrieg die Tätigkeit von Anwerbern verbreitet. Erika Iglauer konnte darüber für die Wienerberger Ziegelwerke folgendes in Erfahrung bringen. Die Wienerberger Ziegelwerke hatten einen eigenen Anwerber namens Pecini, der die Italiener im Frühjahr brachte. Pecini holte sie aus Gebieten, die hohe Arbeitslosenziffern aufwiesen. Er wußte, wieviel die Wienerberger bereit waren, für 1.000 Stück Ziegel zu zahlen. Die Anwerbung erfolgte nicht durch Handgeld, sondern wurde mit jedem einzelnen Interessenten abgemacht. „Und im Mai cirka sind sie gekommen und der Pecini hat sie eingeteilt, der hat das Kommando gehabt und auch von der Firma eine schöne Arbeit. Diese Italiener waren manchmal unzufrieden und der Pecini hat alles geregelt. Er sagte ihnen, ich hab euch unter der Bedingung hierher gebracht und ihr müßt das einhalten. Und er war der Dolmetscher." Auch bei der A. G. der Wiener Ziegelwerke benötigte man italienische Wanderarbeiter und sandte zu diesem Zweck die einheimischen Arbeiter auf den Südbahnhof in Wien, um in der nahegelegenen Branntweinstube, in der sich die Italiener aufzuhalten pflegten, diese zur Arbeit in Leopoldsdorf zu überreden. Für jeden angeworbenen Mann erhielt

Erika Iglauer, Ziegel - Baustoff unseres Lebens, 1974, S. 280f.

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Horn-Wien

Anwerbung durch den Arbeitgeber

Manche Unternehmer warben die ausländischen Arbeitskräfte selbst an. Größere Betriebe entsenden „Expeditionen" mit Psychologen und Kleinbus . . . Kleinere Unternehmen, insbesondere aus dem Gastgewerbe, suchen sich mitunter auf einer „Urlaubsfahrt" nach dem Süden selbst Arbeitskräfte aus, vielfach durch direkte Anwerbung eines geschickten Kellners. Gastarbeiter. Wirtschaftsfaktor Wien 1973, S. 24.

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und soziale

Herausforderung,

Eines Abends kam ein Österreicher

Auf diese Weise kam auch Frau }. aus Jugoslawien Anfang der siebziger Jahre nach Österreich. Eines Abends kam ein Österreicher, ein Nachbar, und fragte, ob ich arbeiten wolle. Ich meinte, ich würde das gerne, könne aber die Sprache nicht. Der Österreicher: Das sei kein Problem. Es sei in einer Pension, einem Hotel, in dem seine Mutter, sein Vater, seine Frau und er selbst arbeiten, sodaß sie sich mit mir verständigen könnten. Ich fing dort als Stubenmädchen an. Es war ganz nett, sie waren freundlich. Dann bin ich krank geworden und ging in den Krankenstand. Sie waren nicht sehr erfreut darüber, sie waren eher böse. Sie hatten angenommen, daß ich weiterarbeiten könne, daß ich während meines Krankenstandes in die Firma gehen könne und Wäsche bügeln könne, so zwischendurch. Und deswegen wurde ich gekündigt. Interview mit Liljana Jovanov, geb. 1942,

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Transkript.

Anwerbung durch das Arbeitsamt

Bei der Anwerbung von „Gast"arbeitern standen institutionalisierte Arbeitsvermittlung und private Vermittlungstätigkeit in direkter Konkurrenz. Eine große Textilfirma in der Umgebung Wiens beschäftigt 800 Gastarbeiter. 180 von ihnen sind Türken. Wir sprechen mit dem Personalchef. Er wirbt seine Arbeiter und Arbeiterinnen in Jugoslawien und in

Die Ursachen der Arbeitsmigration

der Türkei über die Arbeitsämter an. Pro Arbeitnehmer muß er in Jugoslawien 700, in der Türkei 1.100 Schilling Vermittlungsgebühr zahlen. Private Werbung ist verboten, aber sie wird mit allen möglichen Tricks immer wieder versucht. Die Behörden machen Jagd auf die privaten Werber, weil sie von denen ja um die Vermittlungsgebühr geprellt werden. Und auch aus sozialen Gründen. Denn die privaten Werber versprechen den Arbeitswilligen goldene Berge und verschachern sie dann wie Sklaven an verschiedene Firmen. Unser Personalchef lobt ganz besonders seine Türken. Immer wieder betont er, wie verläßlich sie seien: „Sie trinken nicht, sie leben sparsam, sie arbeiten fleißig. Den größten Teil ihres Lohnes schicken sie nach Hause. Nur ihr Wasserverbrauch ist enorm, denn sie waschen sich nach den Vorschriften ihres islamischen Glaubens dreimal am Tag. Aber das gönnen wir ihnen gerne."

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Über seinen Vater traten wir mit Herrn Zdrähal in Verbindung, da er schon zu dieser Zeit in Wien war. Auf diese Weise ist schon alles vorbereitet gewesen, daß ich schon einen sicheren Posten in Aussicht gehabt habe. Da ist auch der Tag gekommen, an dem ich freigesprochen worden bin. Nach dem Freisprechen bin ich vierzehn Tage noch als Geselle geblieben, da gerade etwas zu tun war. Zuhause habe ich mir 14 Tage Ferien ausbedungen, zum Ausrasten und Vorbereiten nach Wien. Nach 14-tägiger Rast und Vorbereitimg ist es zu der Wiener Reise gekommen, das war der 14. Oktober 1880. Zeitlicher als sonst aufgestanden, sauber gewaschen, zog ich das schönste Gewand an, ich habe nämlich nur das Eine außer dem Arbeitsgewand gehabt. Zum Frühstück hat es zu dieser Zeit schon Kaffee gegeben und Buchteln hat die Mutter gebacken, welche ich auf die Reise bekommen habe. Solidarität vom Juli-August 1969, S. 11. Sogar ein Zweigerl Rosmarien hat mir die Mutter eingepackt, weü gerade Kaiserkirtag war und falls dieser Brauch auch in Wien ist, so daß ich auch dies habe. Auf dem Weg durchs Dorf und auch über die Felder sind wir vielen Leuten begegnet. Mein Vater Vermittlung via Bekannte und Verhat immer die Frage beantwortet, ich ging aber stolz voraus. Ich muß noch betonen, daß wir zu Fuß nach wandte, Quellen 134-139 Olmütz gingen, weil zu dieser Zeit noch keine Bahn gegangen ist, das waren 3 1/2 Stunden Weg. Mitte Die unkomplizierteste Art für Zuwattderer aus Böhmen dieser Strecke steht ein Kreuz mit drei Lindenbäuund Mähren, in Wien Fuß zu fassen, war die Inanspruch- men, dort haben wir gerastet und gestärkt sind wir nahme der Hilfestellung von bereits in Wien arbeitenden bis zum Bahnhof weitermarschiert. Bekannten und Verwandten, die eine Arbeitsstelle Dort angekommen, da war viel zum Schauen, wußten. denn das war die erste Eisenbahnfahrt. Einige Stunden haben wir warten müssen, da der Zug erst gegen Abend gefahren ist. Vater hat die Karte gelöst, Verwandte als Arbeitsvermittler 134 sie hat vier Gulden gekostet, und gewartet bis zur Abfahrt des Zuges, mich zum Waggon begleitet, verUnd die Mutter, die wor als Dienstmädchen, heit sogt abschiedet, bis das dritte Glockenläuten zur Abfahrt ma holt Hausgehilfin, domols wors a Dienstmäd- gegeben wurde und der Zug sich in Bewegung setzte. chen, und eine Freundin von ihr, von Behmen eine Der Vater und die Mutter haben mir mit Tränen in Freundin, die hot ihr gschriebn, kumm noch Wien, den Augen nachgeschaut, sie sind dann erst wieder do kriagst bessere Stellungen, san reichere Leit in den langen Weg nachhaus gegangen. Mutter hat mir später erzählt, daß sie sich schon Wien, i waß scho jemand, der wos die nehmen tät, auf dem Rückweg Vorwürfe gemacht haben, daß sie und so is die Mutter noch Wien kummen. mich so in der Nacht fortgeschickt haben. Die Fahrt Interview mit Ottokar Merinsky, geb. 1902, zit. in: Michael John, Hausherrenmacht und Mieterelend. Wohnverhältnisse und war für die damalige Zeit ganz annehmbar. Heute möchte ich das nicht sagen, den die Waggons waren Wohnerfahrung in Wien 1890-1923, Wien 1982, S. 178. so beschaffen, daß jedes einzelne Abteil von beiden Seiten eine Thür gehabt hat und nicht heizbar war, so daß man sich eine böse Verkühlung leicht zugezogen Ein Bekannter vermittelt 135 hat, welche man jahrelang nicht loswerden kann, wie mir selbst einmal passiert ist. Nachdem der im mährischen Klein-Senitz (ΜαΙέ Senice) Um vier Uhr in der Floridsdorfer Station, welche geborene Jakob Stefan nach vier Jahren seine Schlosserleh- eher einem Schupfen als einer Station ähnelt, umgere beendet hatte, ermöglichte ein Bekannter seines Vaters stiegen. Vereinbarungsgemäß sollte mich der Herr die Abwanderung nach Wien. Zdrähal erwarten, aber er war noch nicht da. So bin

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Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

ich hinaus. Unterdes haben schon die Geschäfte aufgemacht, damals zeitlicher wie heute. Mein erster Gang war zum Greisler, habe mir ein Stück Seife gekauft. . . . Gleich daneben war ein Branntweiner, auch dort hinein und Stamperl Schnaps so gekauft. Dann bin ich wieder auf die Station zurück, da ist schon der Herr Zdrähal gekommen, mich betrachtend, ob ich der Stefan bin. So sind wir gleich gewandert in die Wagenfabrik, Quartier war auch schon gemietet, so daß ich gleich in das neue Heim eingezogen bin. Das war also Sonntag, der 15. Oktober, Kaiserkirtag. Aber in der Kaiserstadt war nichts davon zu merken, so daß mein Rosmarinzweigerl keine Verwendung gefunden hat. Den Sonntag war ich bei Herrn Zdrähal zu Gast, nach dem Essen bin gleich in mein Kabinett und habe mich schlafen gelegt, damit ich zum Antritt der Arbeit frisch und munter bin. Montag sechs Uhr bin gleich dem betreffenden Vorarbeiter, welchem ich unterstellt war, übergeben worden, der mir gleich die Arbeit angewiesen hat. Es war gleich so viel zum Feilen, daß mir beim Anblick allerhand war, so habe die ganze Woche gefeilt, was mir nicht gerade leicht fiel, da ich das aus der Lehre nicht gewöhnt war. Jakob Stefan, Mein Lebenslauf. Erlebnisse und Erinnerungen. (Handschriftliche Autobiographie. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Wien) S. 32, 35-39.

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Interview mit Familie JF 1 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Der Onkel fand Arbeit und Wohnung

Der Onkel meiner Frau war schon in Wien. Ich habe in Novi Sad gearbeitet. Die Arbeit war nicht schlecht, aber ich habe wenig verdient. Wir haben uns dazu entschlossen nach Österreich zu kommen. Der Onkel meiner Frau war schon damals in meiner jetzigen Firma. Er hat für mich eine Arbeitsstelle und eine Wohnung gefunden und dann sind wir gekommen. Interview mit Familie JF 2 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Mit einem Nachbarn nach Wien

Ich hatte Urlaub und kam mit einem Nachbarn nach Wien. Ich war nicht hundertprozentig entschlossen hierzubleiben. Da ich dann gleich Arbeit fand, blieb ich. Interview mit Familie JF 37 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

Mein Nachbar war schon in der Firma

Auch bei den Arbeitsmigranten der Gegenwart spielte der Informationsßuß über Bekannte und Verwandte eine wichtige Rolle. Mein Nachbar war schon früher hier in der Firma. Ich habe mich bei ihm beklagt, daß ich keine Arbeit habe und er hat mir vorgeschlagen, für mich in der Firma eine Stelle zu suchen. Gleich darauf habe ich eine Arbeit und einen Platz im Wohnheim bekommen. Interview mit Familie JF 31 (jugoslawische Arbeiterfamilie, Projektvercodung des Instituts für höhere Studien), Transkript.

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Wir haben auch gleich über die Firma die Wohnung gekriegt.

Mein Bruder hat mir eine Stelle gefunden

Ich habe unten genug vom Pendeln gehabt. Als wir geheiratet hatten, konnte ich bei der Familie der Frau in der Stadt wohnen, aber das gefiel mir auch nicht. Dann sah ich in Wien, daß es Arbeit gibt, daß alle ziemlich gut verdienen und gut leben. Mein Bruder hat mir gleich eine Stelle gefunden, gleich hier in der Nähe. Ich konnte in meinem Fach als Gießer arbeiten und bekam damals 8.000 bis 9.000 Schilling monatlich. (1973) Die Frau wurde auch in einer Metallfirma aufgenommen und wir entschlossen uns zu bleiben.

Auf gut Glück nach Wien zu kommen, galt in Südböhmen und Mähren in den letzten Jahrzehnten der Monarchie als üblich, weshalb die Frage nach der Ursache der Zuwanderung häufig in der folgenden Art beantwortet wurde: „Naja das ist so der Brauch geioesen, daß die Leute nach Wien gekommen sind." Oder: „ Früher sind so junge Leu te wie ihr zwei (beide 31 - J./L.) mit der Braut nach Wien gekommen, nau was ist? Die sind von zuhause weg, haben sich selbständig gemacht und sind da nach Wien gekommen. Wohin? Nau da am Ziegelofen."

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Auf gut Glück nach Wien

Imfolgenden Interview wird über die Zuwanderung eines tschechischen Schusters aus Südmähren berichtet. Mein Vater ist also krank gewesen mit dem Bein und wie er nach dem Spital gesund geworden ist, halbwegs hat gehen können, ist er von zu Hause weg, hat auf der Landkarte sich drei Orte ausgesucht: Krems, Stein, Mautern. Er hat gedacht, da werd ich irgendwo Arbeit bekommen. Und er ist nach Krems, nach Stein - nirgends hat er Arbeit bekommen, die Leute

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Politische Ursachen der Zuwanderung

haben ihm Almosen gegeben - „Ja, ich möchte Arbeit". Dann ist er über die Holzbrücke nach Mautern und dort hat er ein Jahr verbracht und das war, glaube ich, sein glücklichstes Jahr seines Lebens. Die Leute waren dort sehr freundlich . . . Und dann ist er nach Wien um noch das zu erlernen, was er zu erlernen hätte in seinem Gewerbe. Interview mit Franz Diwisch, geb. 1900, auf Tonband.

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Österreich, die erste Station in Europa

Manche, die von den Arbeitsaussichten angelockt wurden, sahen sich gezwungen, formale Hürden zu umgehen, um an ihr Ziel zu gelangen. Ein Beispiel hiefür ist die abenteuerliche Zuwanderung eines türkischen Kurden namens Turkan, der 1973 nach Osterreich kam. Der Sohn von Herrn Turkan übersetzte. Mein Vater hat gesagt, er wird so als Tourist in eine europäische Stadt fahren und wenn er Arbeit bekommt, bleibt er und wenn nicht, muß er wieder zurück fahren. Es gab Bekannte im VI. Bezirk, die vorher in Österreich waren. Mein Vater hat eine Nichte, die schon seit 1970 hier war und die hat ihm geschrieben, wenn er kommen könnte, es ist möglich, daß er eine Arbeit findet. Aber es war nicht ganz sicher, daß er eine Arbeit findet, das war eine Hoffnung. Der Hauptgrund war, daß in Zeitungen und sogar im Radio gesagt worden ist, daß im Ausland eine Möglichkeit ist, Arbeit zu finden. Es gab in jeder Stadt Anwerbestellen, wo man ansuchen konnte, ins Ausland arbeiten zu gehen. Bei uns hat sich anfangs niemand bei den türki-

schen Behördestellen als Arbeiter für Europa beworben. Zum Schluß bewarben sich schon viele und die Angestellten verlangten schon Bestechungsgeld. Wegen Kleinigkeiten wurde man abgelehnt, ζ. B. wurde gesagt, man sieht schlecht, weil man die Buchstaben nicht gekannt hat. Also, die vom Osten gekommen sind, konnten die meisten ja nicht Lesen und Schreiben und es waren nicht die Augen schuld, sondern sie konnten nicht lesen. Das war eine lange Geschichte, sie sind sogar durch die Grenze geflüchtet, also nicht offiziell von Italien nach Österreich gekommen. Es ist gesagt worden, es sei unmöglich, denn alle 100 bis 200 Meter steht ein Grenzposten. Sie haben einen Italiener gefunden und er hat ihnen diesen Weg gezeigt und 500 Mark pro Person kassiert, sie waren fünf Personen. Aber sie haben den richtigen Weg nicht gefunden. Sie waren 24 Stunden am Berg - ohne Essen und Trinken. Man kann Österreich die erste Station zu Europa nennen, es ist eine Brücke zwischen Asien und Europa - also als Industriestaat. Wie in Wohnungsangelegenheiten, gibt es überall Vermittler. Mein Vater möchte nicht gerne verraten, wie er dazu gekommen ist. Natürlich, wenn man die Sprache nicht kann, wenn man den Weg nicht weiß, wo man hin - , wie man alles machen s o l l . . . Also er ist in die Arbeit auch durch einen Vermittler gekommen, aber was ihm geholfen hat, das war seine Kraft, da er wirklich was kann. Natürlich hatten sie eine Probezeit und die nicht gut waren, wurden nicht aufgenommen. Interview mit Mehmet Türkan, geb. 1934, auf Tonband. Name auf Wunsch geändert.

2.3. Politische Ursachen der Zuwanderung Die Geschichte der politisch motivierten Migranten hat eine lange Tradition. Seit Beginn der Neuzeit war sie hauptsächlich kriegsbedingt und religiös-politisch begründet. Zu nennen sind die mehrfachen Vertreibungen der Juden und die Flucht bzw. Ausweisung von Protestanten oder religiöser Sekten. Beispielsweise wurden 1 7 3 2 und 1 7 3 3 etwa 1 9 . 0 0 0 Salzburger Protestanten zur Emigration gezwungen. 41 Selbst 1 8 3 7 ereignete sich ein ähnlicher Fall: „Eine kaiserliche Entschließung befiehlt den Zillertaler Protestanten, die auf ihrem Austritt aus der katholischen Kirche beharren, die Auswanderung. Ihre Bitte, eine eigene Glaubensgemeinschaft bilden zu dürfen, ist abgelehnt worden. 4 0 0 Menschen sind von diesem Erlaß betroffen. Sie dürfen ihre Habe und den Erlös ihrer Liegenschaften mitnehmen und wandern nach Süd-

amerika aus. - Noch heute existiert eine große Zillertaler Dorfgemeinschaft in den Anden."42 Im Vergleich zur Arbeitsmigration spielte die politisch motivierte Migration nach Wien im 19. Jahrhundert in ihrer Dimension eine untergeordnete Rolle, die Ursachen verlagerten sich vom religiösen auf den politischen Bereich. Revolutionäre und konterrevolutionäre Ereignisse lösten durch aktive Beteiligung großer Menschenmengen bei Mißerfolg mehrfach Fluchtbewegungen aus. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts gelangten französische Flüchtlinge, Adelige, Kleriker und Bürger, unter anderem nach Wien. Von der Residenzstadt erhofften sie, daß sie weiterhin am politischen Leben teilhaben und das gewohnte kultivierte Gesellschaftsleben fortsetzen könnten. Sie stießen jedoch auf die Revolutionsangst

108 österreichischer Politiker und standen unter ständiger Polizeiaufsicht. Trotzdem lobten die französischen Flüchtlinge die Atmosphäre Wiens. 43 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der russischen Staatsbürger in Wien von 1.703 Anwesenden zum Zeitpunkt der Volkszählung 1900 auf 4.101 im Jahre 1910. Dies stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den revolutionären Vorgängen in Rußland als auch der zaristischen judenfeindlichen Politik (Quelle 142).** Die politisch motivierte Zuwanderung nach dem Ersten Weltkrieg hatte ihre Ursache in den mißlungenen Revolutionen und mißglückten Nationalstaatsbestrebungen. Aus Ungarn mußten die Aktivisten und Anhänger der Nachkriegsregierungen vor dem Terror des autoritären Horthy-Regimes flüchten, aus der Ukraine die Anhänger des Nationalstaatsgedankens und aus der Sowjetunion jene, die gegen die russische Revolution gekämpft hatten (Quelle 143). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 emigrierten politisch und „rassisch" bedrohte Menschen nach Österreich. Die Flüchtlingspolitik erlangte in der Zweiten Republik durch die sich neubildende politische Lage der angrenzenden Staaten und schließlich den Neutralitässtatus eine staatspolitische Identifikationsfunktion. Nach der Flüchtlingswelle der sogenannten „Volksdeutschen" wurde Österreich zum Auffanglager der Flüchtlinge aus osteuropäischen Ländern, 1956 jener aus Ungarn, 1948 und 1968 aus der CSSR und 1981 aus Polen (Quellen 145, 146). Für die Mehrheit dieser Flüchtlinge wurde Österreich zum Durchzugsland, denn nur ein geringer Prozentsatz blieb in Osterreich. Die internationale Zusammenarbeit brachte es mit sich, daß Österreich auch Kontingente von Flüchtlingen anderer Kontinente übernahm. In den Jahrzehnten nach 1950 stammten über 90 Prozent des Flüchtlingszustromes nach Österreich aus Osteuropa (Quelle 147). Abgesehen von den „Volksdeutschen" Flüchtlingen, die sich in allen Teilen des Bundesgebietes ansiedelten, wurde Wien für eine große Zahl der Flüchtlinge zur neuen Heimat: 59,5 Prozent der Einbürgerungen ehemaliger ungarischer Staatsbürger fanden 1 9 8 3 - 1 9 8 7 in Wien statt, 56,8 Prozent der Einbürgerungen ehemaliger tschechoslowakischer Staatsbürger und 76,7 Prozent der Einbürgerungen ehemaliger polnischer Staatsbürger.45 Ein geringer Teil der Zuwanderer aus der Türkei kam aus politischen Gründen bzw. sieht diese als Grund für das weitere Verbleiben in Österreich. Zu dieser Gruppe gehören die Kurden, die in der Türkei nicht als eigene Volksgruppe anerkannt werden, und ehemals politisch Engagierte, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 Repressalien befürchten mußten (Quelle 146).

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

Politische Flüchtlinge, Quellen 142-147 Die Flüchtlinge aus dem Staatsgebiet des zaristischen Rußland, später jene aus der Sowjetunion, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Wien politisches Asyl suchten, sind ein Paradebeispielfür die Verflechtung und Vielfalt der Bedingungen politisch-motivierter Migration. Bis zum Ersten Weltkrieg emigrierten Angehörige der antizaristischen Opposition, der Bekannteste von ihnen in Wien war Leo Trotzki, ferner Studenten, die wegen konfessioneller Beschränkungen vom Studium in ihrer Heimat ausgeschlossen waren, und Juden, die vor der judenfeindlichen Politik und Pogromen Schutz suchten. Nach der Oktoberrevolution veränderte sich das politische Spektrum der Flüchtlinge in Monarchisten, Anhänger von Nationalstaatsideen und Angehörige von Truppen, die gegen die Rote Armee gekämpft hatten,46

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„Genösse Herr Doktor"

Leo Trotzki kehrte nach seiner ersten Emigration 1905 unter falschem Namen nach Rußland zurück, um am Aufbau des Petersburger Sowjets mitzuarbeiten, deren Vorsitzender er wurde. Nach seiner Verhaftung Ende 1905 wurde ihm und anderen Sowjets im Oktober 1906 der Prozeß gemacht. Auf dem Weg in die sibirische Verbannung gelang Trotzki die Flucht nach London und Berlin. Da er in Deutschland keine Aufenthaltsgenehmigung erhielt, wandte er sich nach Wien. Hier lebte er vom Oktober 1907 bis zum Ausbruch des Krieges mit Frau und Kind abwechselnd in Hütteldorf und Sievering. 1908 begann seine Mitarbeit an der „Prawda", einem damals unbedeutenden Menschewistenblatt, deren Herausgeber er 1908 wurde - nicht zu verwechseln mit der Petersburger Prawda, die ab 1912 unter dem Herausgeber Stalin erschien.47 Im Oktober (1907) war ich schon in Wien. Bald kam meine Frau mit dem Kinde. In Erwartung der neuen revolutionären Welle ließen wir uns außerhalb der Stadt, in Hütteldorf, nieder. Man mußte lange warten. Aus Wien trug uns nach sieben Jahren eine ganz andere als die revolutionäre Welle hinaus, jene, die den Boden Europas mit Blut getränkt hat. Weshalb wir Wien wählten, während die Emigration sich in jener Zeit in der Schweiz und in Paris konzentrierte? In jener Periode stand ich am nächsten dem deutschen politischen Leben. In Berlin konnte man sich aus polizeilichen Gründen nicht niederlassen. Somit wählten wir Wien. Aber während all dieser sieben Jahre verfolgte ich viel aufmerksamer das

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Politische Ursachen der Zuwanderung

deutsche Leben als das österreichische, das zu sehr an das Treiben eines Eichhörnchens in einer Trommel erinnerte. Hilferding brachte mich zuerst mit seinen Wiener Freunden zusammen: Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner. Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wußten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Cafe „Zentral" zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre. Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Wertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit - nicht Selbstsicherheit, sondern Selbstzufriedenheit -; mir war mitunter sogar, als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum. Die ersten Eindrücke vertieften sich in der Folge nur. Diese Menschen wußten viel und waren fähig, im Rahmen der politischen Routine - gute marxistische Aufsätze zu schreiben. Aber es waren mir fremde Menschen. Davon überzeugte ich mich um so stärker, je mehr sich der Kreis meiner Verbindungen und Beobachtungen erweiterte. Im ungezwungenen Gespräch untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des kleinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau. Ich konnte nur erstaunt innerlich ausrufen: „Das sind schon Revolutionäre!" Ich meinte damit nicht die Arbeiter, bei denen man natürlich ebenfalls nicht wenige spießige Eigenschaften, nur einfachere und naivere, finden konnte. Nein, ich begegnete der Blüte des österreichischen Vorkriegsmarxismus, Abgeordneten, Schriftstellern, Journalisten. Bei diesen Begegnungen lernte ich verstehen, welche verschiedenartigen Elemente die Psyche eines einzigen Menschen zu bergen fähig sein kann und wie weit es ist von der passiven Aufnahme bestimmter Teile eines Systems bis zu dem psychischen Erleben und zur Selbsterziehung im Geiste dieses Systems. Der psychologische Typus des Marxisten kann nur in der Epoche der sozialen Erschütterungen, des revolutionären Bruchs mit den Traditionen und Gewohnheiten entstehen. Der Austromarxist aber erwies sich zu oft als Philister, der den einen oder den anderen Teil der Marxschen Theorie studierte, wie man Jus studiert, und von den Prozenten vom „Kapital" lebt. Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit „Herr Doktor". Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit „Genösse Herr Doktor" an. Während der ganzen

sieben Jahre, die ich in Wien verlebte, war es mir nicht möglich, auch nur mit einer dieser Spitzen mich offen auszusprechen, obwohl ich Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie war, ihre Versammlungen besuchte, an ihren Demonstrationen teilnahm, an ihren Organen mitarbeitete und manchmal kleine Referate in deutscher Sprache hielt. Ich empfand die sozialdemokratischen Führer als fremde Menschen, während ich gleichzeitig in Versammlungen oder bei Maidemonstrationen mühelos eine gemeinsame Sprache mit den sozialdemokratischen Arbeitern fand. Leo Trolzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930, S. 196, 198 ff. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.)

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Russisches Flüchtlingselend in Wien

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Zahl der russischen Flüchtlinge in Wien auf5.000 bis 10.000 geschätzt, in den dreißiger Jahren auf ca. 1.000 Personen. Ein langgestreckter nüchterner Bau, Van-SwietenGasse 1, das alte Gamisonsspital. Ein endloser, die ganze Hauptfront des Gebäudes durchquerender Gang des ersten Stockwerks führt uns zu einem Seitenflügel. Hier hat ein Häuflein bedauernswerter Menschen ihr Asyl gefunden. Es sind die noch in Wien befindlichen russischen Revolutionsflüchtlinge, Opfer des bolschewistischen Regimes. Wir öffnen die Tür zu einem dieser Unterkunftsräume und erblicken ein größeres Zimmer, angefüllt mit übereinandergetürmten Strohsäcken und hoch aufgestapeltem Gerümpel, dazwischen dürftigsten Hausrat und in der Mitte dieses Wirrwarrs auf zwei roh gezimmerten Holzbänken zu beiden Seiten eines ebensolchen Tisches einen jungen Marin und zwei ältere Frauen, die sich bei unserem Eintritte, in russischer Sprache höflich grüßend, erheben. Glücklicherweise beherrscht der junge Russe die deutsche und die englische Sprache halbwegs geläufig, um auf unsere Fragen antworten zu können. „Wie lange sind Sie hier?" beginnen wir, nachdem wir ihn über den Zweck unseres Besuches aufgeklärt haben. „Seit ungefähr drei Monaten." „Haben Sie irgendwelchen Verdienst?" „Trotz unserer größten Bemühungen haben weder ich noch meine Kameraden irgendwelche Beschäftigung finden können. Wir wollen weiter nach Frankreich, wo wir viel bessere Aussichten hätten, doch können wir das Reisegeld nicht aufbringen." „Wieviele Flüchtlinge beherbergt das Spital gegenwärtig?"

110 „Ungefähr vierzig, die Hälfte etwa Studenten, die Hälfte ehemalige Offiziere der Wrangel-Armee." „Aus welchen Gegenden stammen die Hüchtlinge?" „Aus den verschiedensten Teilen Rußlands. So zum Beispiel ich und meine Leute aus Turkestan." Wir blicken überrascht den intelligenten jungen Mann an, der übrigens nicht im geringsten exotisch aussieht und in seiner echt russischen, etwas gravitätischen Höflichkeit einen höchst zivilisierten Eindruck macht. „Wer unterstützt Sie?" „Früher wurden die Flüchtlinge von einem russischen Komitee unterstützt, heute aber hilft uns bloß das russische Rote Kreuz - leider nur in unzureichendem Maße - aus." Das erwähnte Komitee unterhielt sogar im Garnisonsspital eine eigene russische Schule für die Flüchtlingskinder, ein Umstand, der in Wien so gut wie unbekannt geblieben ist. Wir sehen uns im Zimmer um. Die schmutzstarrenden, verwitterten Wände triefen vor Feuchtigkeit. Vier wahllos aneinandergereihte Feldbetten sind die Schlafstätten. „Gibt es hier Ungeziefer?" fragen wir ahnungsvoll. „Nun, über Mangel daran können wir uns nicht beklagen", lächelte der Turkestaner resigniert. „Das Schrecklichste aber sind die Ratten, die nachts hier ihr Unwesen treiben und uns nicht schlafen lassen." Ehe wir uns von unserem Schrecken erholt haben, tritt aus einer versteckten Ecke des Zimmers eine auffallend schöne junge Frau mit feinen Gesichtszügen hervor, die der junge Mann als seine Gattin vorstellt. In diesen entsetzlichen Verhältnissen mußte die zarte, schöne Frau leben! „Für uns als vierköpfige Familie stand leider nur dieses Zimmer zur Verfügung. Die ledigen Flüchtlinge haben wenigstens keine Ratten", sagte der junge Russe. „Warum haben Sie flüchten müssen?" „Ich bin aus Kokand, einem größeren Orte in Turkestan, der sowohl von Christen, wie von Mohammedanern bewohnt wird. Mein Vater war ein Teppichhändler und hat es im Laufe der Zeit zu bedeutendem Wohlstand gebracht. Im Jahre 1918 stand auch schon Turkestan unter der Herrschaft der Bolschewiken. Die Mohammedaner waren damals, ebenso wie die Christen, mit dem herrschenden Regime unzufrieden und unter der Bevölkerung gärte es stark. Dies machte sich ein mohammedanischer Bandenführer, ein Sarte, namens Ergasch, zunutze. Er drängte sich an die bolschewistischen Behörden heran und bot sich sowie seine Getreuen als Mithelfer zur Aufrechterhaltung des herrschenden Regimes an. Die Bolschewiken gingen dem schlauen Sarten auf den Leim und statteten ihn sowie seine Anhänger reichlich mit Waffen aus. Kaum aber hatte Ergasch seine Absicht erreicht, verkündete er offenen Aufstand und

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien gewann sogleich großen Zulauf von Seite der Mohammedaner. Aber auch die christliche Bevölkerung beteiligte sich an der Revolte. Die bolschewistische Garnison von Kokand war damals nur klein und weder so straff diszipliniert noch so gut ausgerüstet, wie dies die heutige rote Armee ist. Die Bolschewiken zogen sich daher auf ein Befestigungswerk zurück und wurden einige Tage von den Aufständischen hart bedrängt. Meine Mutter und ich taten damals freiwillig auf seiten der Aufständischen Sanitätsdienste in einem Spital. Die Bolschewiken erhielten jedoch bald Hilfe von Taschkend und Skobelew, so daß die Aufständischen von zwei Seiten angegriffen und noch dazu von der belagerten Besatzung beschossen wurden. Unter diesen Umständen wurde der Aufstand bald niedergeschlagen und die Bolschewiken begannen nun, furchtbare Vergeltung zu üben. Mit Hilfe von guten Freunden schmuggelten wir uns in ein anderes Spital, das die Bolschewiken sogleich für ihre Verwundeten eingerichtet hatten, ein, so daß wir sie glauben machen konnten, daß wir ihre Anhänger gewesen seien. Unterdessen durchstreiften rote Patrouillen den Ort, um zu plündern und alle mit Waffen Angetroffenen auf der Stelle zu erschießen. Ich war wegen des Schicksals meines Vaters in größter Unruhe und eilte trotz der Lebensgefahr in die Stadt, um mir Gewißheit zu holen. Was sich ihm Orte abspielte, war unbeschreiblich. Durch die Straßen rannten in wahnsinniger Hast flüchtende Menschen, Frauen mit ihren Kindern, die wie irrsinnig um den toten Gatten jammerten, furchtbar zugerichtete Verwundete, denen die Angst vor den Verfolgern und der Lebenswille ungeahnte Kräfte verliehen, und hinter all diesem her fluchende bolschewistische Patrouillen. Dazu der betäubende Lärm des den flüchtigen Aufständischen nachgesandten Verfolgungsfeuers. Vor den Häusern lagen noch die Leichen der Erschossenen, so wie sie niedergeknallt worden waren, und die aus den Fenstern geworfenen, zertrümmerten Einrichtungsgegenstände. Endlich erreichte ich unser Haus. Die Wohnung war vollständig ausgeplündert, alles nicht Verschleppbare kurz und klein geschlagen, unsere unschätzbaren Teppiche und unser kostbares, schweres Silberzeug verschwunden. Von meinem Vater keine Spur. Obwohl ich ihn verloren geben mußte, eilte ich noch aufs Geratewohl in das Spital, in welchem ich zuerst Dienst getan hatte. Dort aber traf ich zu meinem unaussprechlichen Glück meinen Vater, der mich gleichfalls gesucht und dem man soeben gesagt hatte, ich sei von dem Bolschewiken festgenommen und erschossen worden! Wir fielen einander in die Arme und weinten so in sprachloser Erschütterung einige Minuten . . . Dann suchten wir die Mutter auf und begaben uns zu Verwandten, um dort die Nacht zu verbringen. Auf dem Wege begegneten wir einer roten Patrouille, die uns anhielt. Der Führer erklärte

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Politische Ursachen der Zuwanderung

meinen Vater für verdächtig, ließ ihn kurzweg an die Wand stellen, und schon richteten sich die Karabinerläufe auf seine Brust. Da schrie meine Mutter, die zuerst starr vor Entsetzen dies angesehen, auf, stürzte sich dem Patrouillenführer zu Füßen und bat mit gerungenen Händen für den Vater um Gnade. Der Patrouillenkommandant starrte sie mit finsterer Miene einen tödlichen langen Augenblick schweigend an und gab dann mit dem Kopfe seinen Leuten einen Wink, worauf sich die Patrouille entfernte. Mein Vater war gerettet. Doch die Aufregungen und der Verlust seiner ganzen Habe hatten seine Gesundheit so erschüttert, daß er nach einigen Wochen starb." Hier hielt der junge Turkestaner eine Weile, überwältigt von der Erinnerung, in seiner Erzählung inne. „Da ich nach einem Jahre von meinen Feinden bei den Bolschewiken politisch verdächtigt wurde, mußte ich mit meiner Familie flüchten. Ich begab mich nach Bochara an den Hof des Emirs, wo ich sechs Monate blieb. Später schlossen wir uns heimkehrenden österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen an, von denen wir falsche Papiere, auf ungarische Namen lautend, erhielten, mit deren Hilfe wir uns in der Mitte unserer neuen Freunde nach Petersburg durchschmuggelten. Nach anderthalbjährigem Aufenthalt daselbst gelang es uns, mit Hilfe eben dieser Papiere die russische Grenze zu passieren. Wir wandten uns zunächst nach Ungarn, wo wir zwei Jahre blieben, und versuchten schließlich in Wien unser Glück. Hier warten wir nun bessere Zeiten ab." Gegen das Ende dieser interessanten Erzählung betrat den Raum ein hochgewachsener junger Mann, der uns später als ehemaliger Offizier der WrangelArmee vorgestellt wurde. An den Kämpfen unter General Wrangel hat sich auch eine beträchtliche Anzahl von ehemaligen deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen beteiligt. Der Kampf wurde auf beiden Seiten mit äußerster leidenschaftlicher Erbitterung geführt, denn kein Teil gewährte dem anderen Pardon. Das Ende der WrangelExpedition ist bekannt. Die Teilnehmer wurden, soweit sie mit dem Leben davonkamen, in alle Winde zerstreut und flüchteten unter unzähligen Lebensgefahren über die Grenze, zum größten Teile nach Jugoslawien, so auch der Anwesende, dessen Heimat die Krim ist. Da es inzwischen Mittag geworden ist, wollen wir nicht länger verweilen, um die Flüchtlinge nicht von ihrem Essen abzuhalten, das inzwischen die weiblichen Insassen - offenbar aus der Küche des Garnisonsspitals - geholt haben. Es werden kaum besondere Leckerbissen gewesen sein. Erschüttert von der Erzählung des Turkestaners verlassen wir das Spital. Dies sind die unbeachteten Affären der Weltgeschichte, von niemandem aufgezeichnet und doch bedeutungsvoll genug, um das

Leben zahlreicher Menschen zu vernichten oder ihr Glück zu zerstören. Neues Wiener Journal vom 9. November 1924, S. 13.

144

Flüchtlingswelle ans der CSSR

Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in die CSSR löste eine Flüchtlingswelle aus. Tschechoslowakische Staatsbürger warteten in Österreich die weitere Entwicklung in ihrer Heimat ab.

Bildarchiv derAZ.

145

Polenflüchtlinge - Unliked persons

Flüchtlingen aus den Comecon-Ländern wurde des öfteren unterstellt, daß ihre Motive im wirtschaftlichen Bereich liegen, daß sie sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge" seien. Zweifellos spielten ökonomische Beweggründe für die Migration vieler dieser Menschen eine wichtige Rolle, und die politische Begründung diente zur Sicherung der Aufenthaltsberechtigung. Bereits einige Monate vor Ausrufung des Ausnahmezustandes in Polen (Dezember 1981), stieg der Zustrom der Flüchtlinge aus Polen an. Für fast 8.000 polnische Emigranten soll Österreich zum Ausgangspunkt für ein neues, besseres Leben im Westen werden - an eine Bruchlandung denken sie erst gar nicht. Die alte weißhaarige Frau streckt abwehrend die Hände von sich: „Mit Leuten von der Presse möchte sie lieber nichts zu tun haben. Die können ihr ihren Sohn auch nicht auf dem Buckel herbeitragen", übersetzt Jerzy, ein 28jähriger Ingenieur aus Krakau, ihren polnischen Redeschwall. Seit zwei Jahren wohnt sie nun schon im Hüchtlingslager Traiskirchen. Die Kraftreserven, die sie sich für den Neubeginn in Amerika aufsparen wollte, sind längst aufgebraucht. Nicht mehr die Neue Welt

112 ist das Ziel, das sie noch erleben möchte, sondern nur mehr die Ankunft ihres Sohnes mit seiner Familie in Österreich, die sich immer wieder verzögert. Seine Mutter trägt einstweilen, um sich die unmenschliche Wartezeit zu verkürzen, für zu Hause bestimmte Lebensmittelpakete anderer Lagerbewohner aufs Traiskirchner Postamt oder wischt mit einem alten Putzlappen die Fensterbänke des Frauentraktes zum tausendstenmal spiegelblank. Die Frauen, die am selben Gang wohnen, wissen alle von ihrem Wettlauf mit der Zeit, „aber hier hat jeder seine eigene Geschichte", sucht die Informatikstudentin Agnieszka, die allein nach Österreich gekommen ist, nach Worten, um das Elend faßbar zu machen. Ihre Zimmergefährtin Haiina, eine verwitwete Näherin aus Stettin, kann die Tränen nicht länger zurückhalten und verschwindet hinter dem Stockbettenturm, der einzigen Rückzugsmöglichkeit in dem rund 20 m 2 großen Raum, den sich neun Frauen miteinander teilen. Nach wenigen Minuten kommt sie wieder und legt zwei abgegriffene Fotos auf den Tisch: Bilder ihrer beiden Söhne im Alter von 11 und 15 Jahren, die in der Einzimmerwohnung der Schwiegermutter zurückgeblieben sind. „Ich in Amerika, Söhne kommen nach", radebrecht Haiina den für sie wichtigsten Satz, der in den verschiedensten Abwandlungen unter polnischen Auswanderern immer wieder zu hören ist. Mit Reisetaschen bepackt, kaum der deutschen oder englischen Sprache mächtig, reisen sie als Touristen in einem seit Monaten ständig ansteigenden Strom nach Österreich ein, um hier Visa für die ersehnten Traumziele Amerika, Australien oder Kanada zu erhalten. Amerika ist dabei unangefochtener Spitzenreiter der Fernwehparade. „Erst einmal in New York sein, dann wird alles gut", beschreibt Agnieszka die Vorstellungen vieler ihrer Landsleute. „Unter den jungen Männern, die meistens allein gekommen sind, ist es besonders schlimm. Für die ist Amerika immer noch das ,wonderland', in dem es ein jeder, wenn er nur fleißig ist, zum Millionär bringen kann." Wer für dieses gefährliche Zerrbild verantwortlich ist, scheint kaum mehr zu klären. „For us America was always a mythos", übersetzt ein junger Pole den auf diesbezügliche Fragen einsetzenden Begeisterungssturm. Sein Bettnachbar weist auf das Massenquartier rundum: „Sie sehen ja, wie es uns hier geht. Aber das ist alles besser als das, was wir zurückgelassen haben. Jetzt haben wir wenigstens wieder Hoffnung." Sich ausdrücklich als „Politische" deklarierende Flüchtlinge sind dementsprechend selten anzutreffen, denn „bei der Lage in Polen kann man Politik und Wirtschaft nicht mehr gut auseinanderhalten".

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien Viele, die in diesen Tagen das Handtuch werfen und lieber die Demütigungen der Emigration auf sich nehmen, als weiter auf einen Aufschwung in ihrer Heimat zu warten, treibt eine Sehnsucht nach der Erfüllung von Grundbedürfnissen, die hierzulande unvorstellbar erscheint. Einkaiifen gehen können, ohne Schlange stehen zu müssen, Urlaub nehmen dürfen, wann und wo immer man möchte, das sind die Wunschvorstellungen, die fast jeder von ihnen, und wenn es sein muß mit Hilfe von Händen und Füßen, zu artikulieren versucht. „Mein Vater ist Fabrikarbeiter. Seit dem zweiten Weltkrieg hat er nur geschuftet, damit wir es einmal besser haben", erzählt die Studentin Agnieszka aus dem Leben einer Familie, die immer bei der Partei war. „Aber er hat nie etwas gehabt von seiner Arbeit. Das wollen viele aus seiner Generation ihren Kindern ersparen. Mein Vater hat mich verstanden, warum ich weggegangen bin." Profil vom 10. August 1981, S. 46 f.

146

Politische Flüchtlinge aus der Türkei

Von den 1983 in Österreich befragten türkischen Arbeitsmigranten gaben 4,3 Prozent an, wegen der politischen Situation in ihrer Heimat weiterhin in Osterreich zu verbleiben,4® Betroffen sind einerseits Kurden, die in der Türkei nicht als eigene Volksgruppe anerkannt werden undwegen ihrer Autonomiebestrebungen repressiver bis hin zu gewalttätiger Politik ausgesetzt sind, sowie die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verbotene Opposition. Nach der Ausrufung des Kriegsrechtes standen Verhaftungen von Oppositionellen auf der Tagesordnung. 1981 waren offiziellen Angaben zufolge etwa 30.000 Personen wegen politischer Vergehen in Haft, 1983 waren es immer noch mehr als 21.000. Mehrmals wurde über Folterung, Mißhandlung und Hinrichtungen berichtet.49

Ich bin in eine Schule gegangen, ich war ein demokratischer Mensch. In unserer Schule schoß eine faschistische Gruppe Fenster ein, darauf protestierten wir: Warum gibt es in der Schule keine Garantie für unser Leben? Die Polizei kam, nahm uns mit und folterte uns eine Woche. Nach einer Woche wurden wir vor Gericht gestellt und alle freigesprochen. Das passierte nur, weil wir eine linke Schule waren. Von 500 Schülern hatten wir nur 20 Faschisten. (Nach Abschluß der Schule arbeitete der Intervieiote als Maschinenbautechniker und engagierte sich in der später verbotenen Gewerkschaft DISK.)

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Politische Ursachen der Zuwanderung

. . . Unsere Wohnung wurde jeden Abend von der (Der Interviewte kam 1982 nach Österreich, wohnte Kriminalpolizei untersucht. Es wurde mir gesagt: anfangs bei seinem Onkel. Da ihm Freunde von einem „Sie machen eine politische, eine kommunistische Asylansuchen abrieten, versuchte er vergeblich Arbeit zu Propaganda, sie werden deswegen gekündigt." finden. Um bleiben zu können, nahm er kurzfristig Darauf ging ich in mein Dorf zurück und arbeitete Schwarzarbeit an und heiratete eine Österreicherin.) dort politisch. Ich wollte nicht mehr in die Türkei zurück. Wenn die Nach dem faschistischen Militärputsch kamen Polizei gesagt hätte, daß ich zurück muß, weil ich viele demokratisch gesinnte Menschen sofort ins Ge- kein Visum habe, hätte ich lOOprozentig Selbstmord fängnis. Gott sei Dank war ich in meinem Dorf. Die begangen. Menschen im Dorf hatten gute Ideen, sie waren nicht (Inzwischen fand er Arbeit in einem Wiener Großbetrieb nationalistisch, sondern sie hatten demokratische, so- und konnte durch Bestechung von Staatsanwalt, Richter zialistische Ideen. Es war mein Glück, daß ich in und Polizei in der Türkei sich so absichern, daß er inzwikeiner Stadt war. Die Polizei kam zwar schon, doch schen wieder seine Eltern zu besuchen wagt.) ich war nicht zuhause. Ich hatte Angst, aber die Interview mit Ahmet Kenar, geb. 1956, auf Tonband. Name auf Polizei wußte nicht, wer im Dorf politisch arbeitet. Wunsch geändert. Aber jeder in der Stadt wußte, daß unser Dorf ein sozialistisches Dorf war. Wir haben für unser Dorf gearbeitet, für die internationale Solidarität. Dann Der Hauptstrom kommt aus Osteuropa 147 mußte ich herkommen, denn ich hatte Angst. Freunde hatten mir erzählt, daß in Österreich mehr Demokratie herrscht als in anderen europäischen In der jüngsten Vergangenheit kamen die meisten FlüchtLändern. linge aus Osteuropa. Zustrom von Flüchtlingen (Asylwerber) 1970,1975 bis 1987 Staatsangehörigkeit

1970

Afghanistan Albanien 18 Ägypten 1 Äthiopien Bulgarien 166 Chile China Deutsche Demokr. Rep. 2 Indien Irak Iran -

_ Kambodscha Laos Libanon Pakistan Polen 207 Rumänien 156 Sowjetunion 6 Sri Lanka Syrien 1 Tschechoslowakei 1 .192 Türkei Ungarn 1 .161 Vietnam Zaire Sonstige bzw. ungeklärt 15 Staatenlose 9 Insgesamt

3 .085

1975

_

21 -

82 48 -

1 -

1 -

_ -

182 203 6 -

1 156 1 471 78

1976

_

20 3 4 109 88 -

1 3 103 -

83 -

1 -

291 203 16 -

1978

1979

1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

1987

_

3 66 5 2 87 57

48 12 5 23 109 43 12 5 20 62 34

31 12 5 13 108 13 1 3 33 28

68 29 11 4 86 26 1 8 7 51 137

161 27 8 4 74 9 6 9

14 62 3 5 126 25 2 12 3 49 338

36 57 3 4 96 17 12 5 2 11 279

31 88 2 5 92 14 2 3 3 36 296

25 28 6 42 93 18 1 4 18 122 522

5 5 3 3 1.870 737 19 11 6 1.975 54 922 69 9 42 82

1 1 4 3 1.823 502 15

20

662 890 13 4 12 2.333 56 1.642 78 1 34 40

12 2 7 4 568 2.329 9 2 13 2.147 163 2.220 42 6 32 23

9

4 1.651 39 961 118 3 25 77

16 2 5 5 2.466 501 20 5 6 1.941 31 1.229 108 7 32 37

6.314

5.868

7.208

6.724

8.639 11.406

-

-

-

3 8 46 1

18 28 3 4 107 36 1 1 5 45 10

9 2 29 4 773 958 15

13 10 95 15 1.095 976 5

64 4 2 105 57 5 1 21 9 9 1

_

538 551 7 -

6 15

53 10

5 394 14 534 14 2 35 113

1.502

1.818

2.566

-

3 194 5 467 53

1977

-

-

12 515 49 525 12 42 123

110 123

2 2 2 8 18 6 13 3 2.181 29.091 1.023 1.316 24 39 1 39 9 3.241 2.196 120 35 1.043 1.225 932 257 1 69 23 127 65

3.412

5.627

9.259 34.557

-

-

-

73 1.834 100 580 291 -

Statistisches Handbuch fir die Republik Österreich J988, Wien 1988.

-

37 190

-

-

6 -

-

19 22 667 1.460 22 11 27 2.705 408 4.689 28 10 35 14

114

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

2.4. Die Ursachen der Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien Die Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien konnte sich erst nach Aufhebung der Zuzugsbeschränkungen im Jahre 1848 entfalten. Bis zum Ende der Habsburgermonarchie waren die Migrationsmotive der jüdischen Migranten durch unterschiedliche Sozialstruktur, gesellschaftliche Stellung und politische Entwicklungen anders gelagert. Im Zentrum stand das ökonomische Motiv: wirtschaftlicher Niedergang und Armut einerseits und die Möglichkeit zu Karriere und Statusverbesserung andererseits. Der ökonomische Druck wurde durch antijüdische politische Agitation und Aktionen verstärkt: In den Hauptzuzugsgebieten der Wiener Juden richteten sich nationalistisch orientierte Agrarier und Kleinbürger auch gegen die Juden und schädigten diese durch antijüdische Konsum- und Kreditgenossenschaften50 (Quelle 151). Zusätzlich erschütterten antijüdische Boykottmaßnahmen die wirtschaftliche Stellung. Beispielsweise stand 1910 in Galizien die „Schankfrage" im Mittelpunkt öffentlichen Interesses: Der Ausschank alkoholischer Getränke war eine Haupterwerbsquelle der galizischen Juden und sollte möglichst christlichen Pächtern übertragen werden. 1893 hatte ein katholischer Kongreß in Krakau den Wirtschaftboykott gegen die galizischen Juden proklamiert. Für Böhmen und Mähren wurden 1912 als Hauptgründe der Abwanderung nach Wien genannt: „Zum großen Teile sind in diesen beiden Kronländern der nationale und konfessionelle Boykott und die zufolge der wirtschaftlichen Emanzipation der christlichen Bevölkerung erschwerten Existenzbedingungen für die Juden, insbesondere auf dem flachen Lande bestimmend hiefür geworden, ihre alten Wohnsitze zu verlassen, und so manche Jahrhunderte hindurch bestandene Kultusgemeinden gehen einer sicheren Entvölkerung und langsamen Auflösung entgegen."51 Während die jüdische Bevölkerung in Böhmen und Mähren zurückging, wirkte in Galizien der Bevölkerungsdruck durch überproportionale Zunahme der jüdischen Bevölkerung. Der sich im konservativen Lager zur „kulturellen Norm" etablierende Antisemitismus beeinträchtigte die jüdische Bevölkerung nicht nur auf ökonomischer, sondern auch direkt auf politischer Ebene. Antijüdische Einstellungen vertraten nicht nur antisemitische Politiker, sondern auch Vertreter der Kirche: In Galizien wurden zur Jahrhundertwende noch Fälle von Verschleppungen jüdischer Mädchen in Klöster und deren Zwangstaufen bekannt.52 Der behauptete Ritualmord an einem Mädchen in Tisza Eszlaer 1882 und das Erstarken der antisemitischen Bewegung führten zu antijüdischen Tumulten und Ausschreitungen in

Preßburg und Budapest. Antijüdische Unruhen und Beschuldigungen, wie der 1899 im böhmischen Polna behauptete Ritualmord, waren ab 1848 mit ein Grund für die Migration (Quelle 148). Obwohl in Wien ab 1895 eine antisemitische Gemeinderatsmehrheit regierte, galt Wien den Juden als Stadt mit liberaler Atmosphäre, als die Stadt des Kaisers, der die Gleichberechtigung verteidigte. Ähnlich anderen Migrationsgruppen ermöglichte eine informelle Infrastruktur von Bekannten und Verwandten die Zuwanderung nach Wien, die auch als Statusverbesserung interpretiert wurde (Quelle 149). Die Migrationsmotive unterschieden sich innerhalb der jüdischen Zuwanderer zusätzlich nach sozialen Kriterien. Was für das jüdische Bürgertum galt, wirkte in abgeschwächter Form auch für das jüdische Kleinbürgertum: Wiens Attraktivität beruhte auch in seiner Funktion als Metropole der Bildung und des geistigen Lebens: der Hochkultur in allen Facetten (Quelle 150).

Im Ersten Weltkrieg flohen Zehntausende Juden aus Galizien und der Bukowina vor der herannahenden russischen Front, und Wien wurde zu einem der Hauptzentren der Fluchtbewegung. Von 150.000 Flüchtlingen, die sich zu Beginn des Jahres 1915 in Wien aufhielten, waren 125.000 Juden (Quellen 152154). Bereits kurz nach Kriegsausbruch begann eine Offensive russischer Truppen gegen Galizien, bei der unter anderem Lemberg (Lwow) eingenommen wurde. Anfang 1915 wurden die russsichen Truppen zurückgeschlagen, diese konnten jedoch in der Brussilow-Offensive Mitte 1916 Teile Ostgaliziens zurückerobern. Auch nach Kriegsende blieb Galizien Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen.53 Durch Rückwanderung, Auswanderung und Repatriierungsdruck sank in der Ersten Republik die Zahl der Mitglieder der Wiener jüdischen Gemeinde. Von den früheren Zuzugsgebieten der Juden war Wien durch Grenzen abgeschnitten. Wien entwickelte sich nach 1918 zu einer Zwischenstation jüdischer Auswanderer aus osteuropäischen Ländern und ab 1933 für jene, die aus Deutschland flüchteten.54 Nur ein kleiner Prozentsatz der Vertriebenen kehrte nach dem Holocaust nach Österreich zurück, nur wenige wagten das erneute Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung. 1946 empfahlen Vertreter der Wiener Kultusgemeinden emigrierten österreichischen Juden, nicht in ihre frühere Heimat zurückzukehren.55 Die Zahl der Wiener Juden setzte sich 1946 zusammen aus ca. 3.000 Personen, welche die Konzentrationslager überlebten, und 2.000, die aus der

Die Ursachen der Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien Emigration zurückkehrten.56 Nach Kriegsende wurde Österreich wiederum zu einer Zwischenstation jüdischer Auswanderer aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und später aus der Sowjetunion. Auslöser waren, abgesehen vom Bedürfnis der jüdischen Bevölkerung, die Schauplätze des Schreckens zu verlassen, antijüdische Gewalttaten: Nach einer Ritualmordbeschuldigung im polnischen Kielce wurden 1946 von 200 Überlebenden des Holocausts 46 Juden ermordet. Im selben Jahr wurden bei dem Pogrom im ungarischen Kunmadaras drei Juden, in Diosgyör ein Jude ermordet.57 Bis 1950 durchwanderten ca. 180.000 Juden Flüchtlingslager in Österreich (Quelle 155).

Unter den ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1956 befanden sich im Jänner 1957 10.400 Juden, von denen jedoch der Großteil in anderen Ländern Asyl fand.58 Einen Zuwachs erhielt die jüdische Gemeinde ferner durch Juden aus der Sowjetunion.

Jüdische Zuwanderung, Quellen 148-155 Die Juden Preßburgs Oerblieben bis zur Revolution 1848 im Ghetto. Während der revolutionären Ereignisse dieses Jahres nützten die Preßburger Bürger den Aufruhr dazu aus, sich der Konkurrenz der Juden durch Vertreibung derselben zu entledigen. Diese Vertreibung mußte zwar nach dem Eintreffen ungarischer Truppen zurückgenommen werden, es istjedochzu vermuten, daß der hohe Anteil von gebürtigen Preßburgern unter den Wiener Juden bei der Volkszählung 1857 auch damit in unmittelbarem Zusammenhang stand. Der wegen der emanzipatorischen Richtung mit den Wiener Revolutionären sympathisierende Student Sigmund Mayer erlebte die pogromhaften Vorgänge während eines Ferienaufenthaltes in seinem Elternhaus.

Pogrom in Preßburg Ich war für die Ostertage nach Hause gekommen, nicht wenig stolz als Wiener Student, der auch bei der Revolution mitgetan! In Preßburg war man viel nüchterner wie in Wien und Pest geblieben, immerhin schien man in freudiger Stimmung. Aber schon am darauffolgenden Tag, es war Freitag vor Ostern, zeigten sich Dinge, welche mit dieser Stimmung sich gar nicht vereinigen wollten. Um vier Uhr nachmittags zog ein langer Trupp junger Burschen, zumeist Lehrlinge, mit kleinen Fahnen, schreiend und auf die

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Juden schimpfend, durch die Stadt. Wir Kinder lachten, mein Vater machte aber ein sehr ernstes Gesicht und sagte: „Das haben diese Burschen nicht von selbst getan; das ist geplant und da kommt mehr." Er ließ das Geschäft früher als sonst schließen, verbot allen, das Haus zu verlassen und ließ das Tor absperren. In der Abenddämmerung ging nun ein wahrer Hexensabbat los. Die Bürger der Stadt hatten den Pöbel zur Plünderung der Juden aufgehetzt. Die beiden Gitter, die das Ghetto abschließen sollten, standen nicht am Ende der Judengasse. Eine Anzahl von Häusern, in denen sich gerade die besten Läden befanden, stand außerhalb der Gitter. Die Polizeiwache hatte diese abgesperrt und die Menge beraubte vorläufig diese außenstehenden Häuser und Gassenläden. Der Stadthauptmann rief den Militärkommandanten, den später auf der Pester Kettenbrücke ermordeten Feldmarschalleutnant Grafen Lamberg um Hilfe an. Der postiert je eine halbe Kompanie an den beiden Gittern, erklärt, nur die Judengasse, nicht aber die in der Stadt befindlichen Juden und Judenhäuser schützen zu können. Das gilt den Führern des Pöbels als Signal und Ermunterung, sich auf die Juden gehörigen Häuser in der Stadt zu stürzen. Das den schon geplünderten Häusern der Judengasse zunächst gelegene war unser Haus. Alsbald sammelte sich ein wütender Haufe, der zuerst durch einen Steinhaufen alle Fensterscheiben zertrümmerte und dann das Haus selbst zu erstürmen versuchte. Doch hatten wir das Tor inzwischen verrammelt und mit allem möglichen verbarrikadiert. Die Fenster des Erdgeschosses hatten starke Gitter, die den Hammerschlägen nicht weichen wollten. Einige von uns sahen vom Dach aus, daß der christliche Nachbar, der Fischmeister, einige Leitern herausräumte, die es den Stürmenden möglich machen sollten, durch die Fenster des ersten Stockes in das Haus zu gelangen. Dann standen wir alle in der Toreinfahrt, hörten das Gröhlen des wütenden Pöbels, das Klirren der Fensterscheiben, die Hammerschläge auf die Gitter und waren des Ärgsten gewärtig. Unter unseren Wohnparteien war nur ein Christ, der Spengler Berthold, welcher im rückwärtigen Trakte wohnte. Der brave Mann, welcher sich sonst nichts weniger als feundlich zeigte, sagte zu meiner zitternden Mutter: „Geben Sie mir die drei kleinen Kinder," sie waren zwischen vier bis sechs Jahren, „ich lege sie zu den meinen in die Betten und werde sie schützen wie die meinen. Mehr kann ich nicht tun, die Großen müssen sich selbst wehren!" Nachdem wir die Kinder übergeben hatten, legte er seine Bürgermilitäruniform an, rüstete sich mit Hinte und Seitengewehr aus und pflanzte sich vor seiner Wohnungstür auf. Er meinte: „Das wird wohl genügen; die Leute werden doch die Wohnung eines Bürgerfeldwebels respektieren." Inzwischen kletterten über das Dach des Hinterhauses zwei unserer Leute hinab, eilten zum Militär, das einige

116 Schritte entfernt, Gewehr bei Fuß, vorher der Plünderung der Läden und jetzt auch der Erstürmung unseres Hauses ruhig zusah und flehten den kommandierenden Hauptmann dringend um Hilfe an. Dieser ließ sich rühren und schickte einen Zug unter Trommelwirbel und mit gefälltem Bajonett auf den Platz. Die Menge entfloh sofort. Außer den zertrümmerten Fensterscheiben und den verbogenen Gittern hatten wir keinen Schaden gelitten. Andern jüdischen Hausbesitzern war es allerdings viel schlimmer ergangen. Aber am schlimmsten kam ein Gebäude weg, das schon nach seinem Zweck und Charakter Schonung verdient hätte: das vereinigte Schulgebäude der Todescoschen Anstalt, unmittelbar neben der Obersten Behörde der Stadt und des Komitats, dem Komitatshause. Das zwei Stock hohe Schulgebäude wurde vom wütenden Pöbel bis auf die nackten Mauern vollständig demoliert, das Dach angezündet, während nebenan, im Komitatshause, die Komitatsheiducken in voller Bereitschaft ausgerückt, ruhig zusahen. Am ganzen folgenden Tag dauerten die Unruhen und Plünderungen fort. Unter Lebensgefahr wagten sich die Vorsteher der Judengemeinde auf das Rathaus, erinnerten den Magistrat an seine Pflicht, verlangten Schutz. Dieser entschloß sich endlich, die Bürgermiliz unter Waffen zu rufen. Doch vergebens; die Bürger verweigerten die Ausrückung und erklärten in einer nachts abgehaltenen Versammlung, nicht eher unter das Gewehr zu treten, als bis der Magistrat sämtlichen Juden den Befehl gegeben, die Stadt zu verlassen und sich ins Ghetto zurückzuziehen. Der Magistrat folgte dem in der Nacht von den Bürgern gefaßten Beschluß, und des Morgens um acht Uhr klebte an allen Straßenecken der Befehl des Magistrats, daß sämtliche Juden ihre Häuser, ihre Wohnungen zu räumen haben. Wohin, wo sie Platz finden sollten, sei ihre Sache. Jetzt rückte die Bürgerwehr aus, postierte sich neben dem demolierten und verbrannten großen Schulgebäude, neben den geplünderten Häusern und leeren Läden. Die Preßburger Bürger von 1848 waren in ihrer Gesinnung nicht besser, in der Methode viel schlimmer und gewaltsamer geworden als ihre Ahnen vom Jahre 1527. Das Merkwürdigste jedoch in dem Verlaufe dieser zweiten Austreibung der Juden war, daß die Juden, welche doch genau wußten, daß der Magistrat nicht das Recht hatte, das Landesgesetz vom Jahre 1840 eigenmächtig für Preßburg aufzuheben, sich unterwarfen. In wenigen Stunden war tatsächlich kein Jude mehr außerhalb des Ghetto. Nur ein einziger hatte den Mut, zu widerstehen. Der Pächter des städtischen Brauhauses, Hermann Hirschl, erklärte dem Magistrat, er werde selbst der Gewalt nicht weichen, sondern ihr Gewalt entgegensetzen. Er verbarrikadierte sein Haus von allen Seiten und bewaffnete seine Knechte. Der Magistrat läßt den mutigen Mann im Hause - buchstäblich als einzigen

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

von allen Juden - in der Stadt. Ein Teil von ihnen hatte sich geflüchtet, die andern sich, wie sie konnten, im Ghetto untergebracht. Unsere ganze Familie hatte gleichfalls unser schönes Haus verlassen und in einer leerstehenden Wohnung des Bemauerschen Hauses Unterkunft gefunden. Nachdem die Juden aus der Stadt verschwunden waren, trat Ruhe ein. Aber noch am zweiten und dritten Tag kamen aus der nörlichen Umgebung, der Slowakei, Bauern und Bäuerinnen mit großen Tüchern und Körben, um an der Plünderung noch teilzunehmen. Da sie unverrichteter Dinge wieder abziehen mußten, plünderten sie zu Hause ihre Juden. So in Wagneustadtl und in anderen größeren und kleineren Ortschaften. Die südliche, magyarische Seite der Umgebung verhielt sich ruhig; kein magyarischer Bauer hat dort gegen seinen jüdischen Nachbar die Hand erhoben. Inzwischen hatte das Ministerium in Pest auf die Kunde von diesen Vorfällen einen königlichen Kommissär, Tarnoczy, mit genügendem Militär nach Preßburg geschickt. Er ließ sofort das Standrecht verkünden, erklärte, ohne Erbarmen jeden hängen zu lassen, der sich rühren würde, kassierte den Beschluß des Magistrates und forderte die Juden auf, unter seinem Schutze in ihre Häuser und Wohnungen zurückzukehren. Nur langsam, nach und nach, erst nach Wochen, wagten sie seiner Aufforderung zu folgen. Die Untersuchung, die Tarnoczy anstellte, ergab zur Evidenz, daß die Bürger der Stadt den Plan gefaßt und ausgeführt hatten, durch die Plünderungen die Austreibung der Juden vom Magistrat zu erzwingen. Er lehnte es aber ab, die Schuldigen weiter zu verfolgen und wir dankten Gott, daß wir am Leben geblieben waren. Sigmund Mayer, Ein jüdischer Kaufmann. 1831 bis 1911. Lebenserinnerungen, Leipzig 1911, S. 138 ff.

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Wiens Anziehungskraft

Der in Mähren geborene Musikkritiker Joseph Wechsberg beschrieb die große Anziehungskraft Wiens für deutschsprechende Juden in Ostrau. When somebody thought he was becoming prominent, he might move to Vienna where a man's opportunities were less limited and the rewards were higher. Vienna's attractions remained irresistible to the Germans and German-speaking Jews in Ostrau. Even a few wealthy Czechs were said to be wistful about the capital. My mother's annual visits were considered almost a status symbol at home. It was said, perhaps not jokingly, that some people stayed up late at night trying to discover a relative in Vienna whom they might visit, just as a start. Joseph Wechsberg, The Vienna I Knew: Memories of a European Childhood, New York 1979, S. 137.

Die Ursachen der Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien

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Die Familie wohnte im Winter in Wien

Vom kulturellen und gesellschaftlichen Leben Wiens, von der Aufgeschlossenheit gegenüber Modeströmungen ging eine Sogwirkung auf das Bürgertum in den Provinzen der Monarchie aus.

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wies die Kreditgenossenschaft 635.000 Mitglieder auf, die „Hangya" 1918 658.000. In diesen Kredit- und Verbrauchergenossenschaften sollte der bäuerlichen Bevölkerung eine Alternative zu den „Wucherern" der Dörfer geboten werden. Mit der Agitation gegen die zumeist jüdischen Kleinhändler, Krämer und Schankwirte der Provinz beabsichtigten die Agrarier, ihre Basis im Bauerntum zu sichern. Die Obergespane der Komitate Csongräd und Jäsz-Nagykun-Szolnok berichteten dem Innenministerium im März 1902, die dortigen „Hangya"Genossenschaften seien uneingeschränkt antisemitisch und würden die „Ausmerzung" der jüdischen Geschäfte als ihre Hauptaufgabe betrachten; die Einrichtungen der staatlichen Kreditgenossenschaft würden diese Tendenz überall dort aufweisen, wo Geistliche die Organisation und Leitung übernommen hätten.

In Wien hatten alle diese Industriellen Böhmens, unter ihnen auch meine Verwandten, ihre Herrschaftswohnungen. In Wien wohnte über Winter die Familie, hier gingen die Kinder in die Schule, hier führte die Frau ein großes Haus, während der Mann übers Wochenende kam, in Wien hatte man Burgtheater- und Opernabonnements, Konzerte und Geselligkeit, und nur im Sommer bewohnte man die Villa im böhmischen Fabriksort, um ein wenig Ortsherrschaft zu spielen. Keine dieser Familien wohnte in Prag, das als Provinzstadt galt. Alles gravitierte Rolf Fischer, Entwicklungsformen des Antisemitismus in nach Wien, dem gesellschaftlichen und geistigen Ungarn 1867-1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Zentrum der Monarchie. Die erste Generation war Symbiose, München 1988, S. 98 f. noch im kleinen böhmischen Ort geblieben, die zweite sah ihn nur besuchsweise, die dritte aber, die Kinder, die schon in Wien in die Schule gegangen waren, hatten für das böhmische Nest ihres Vaters nicht mehr allzuviel übrig. Sie zogen es vor, ganz in Flucht aus Lemberg Wien zu leben und das ererbte Kapital für sich arbei152 ten zu lassen. Der unpersönliche Betrieb durch Direktoren trat an die Stelle des alten Familienbetriebs, Helen Hilsenrad berichtet über die Flucht ihrer Familie von immer mehr Geld wurde zur Bestreitung des Haus- Lemberg (Lwow) nach Wien im Ersten Weltkrieg. Der halts und der gehobenen Lebenshaltung der Fabrik Vater ihres Freundes Jim, ein Beamter, konnte die Flucht entzogen. für beide Familien vorbereiten. Käthe Leichter, Leben und Werk, Wien 1973, S. 241.

Jim rushed home. In the afternoon he returned with the news that his father had managed to get permission for our familiy to leave on the same train that they were taking - the next evening at nine. It was a Antisemitismus in Ungarn 151 special train which the government had put at the disposal of its employees. So we were really going to Die agrarische Bewegung nahm Ende des 19. Jahrhunderts flee Lwow with the others. How unreal this seemed den Antisemitismus auch in Ungarn in ihr Programm auf. even in its urgency! Hanna und I frantically prepared the essentials, insisting that Mother rest until we left Wie stark war die Basis, an der diese antisemitisch the house. We packed the necessary clothing, a flour durchsetzte Argumentation wirksam wurde? Der bag with bread, and a large milk can containing Bauernbund wies 1906 wohl ca. 30.000 Mitglieder homemade preserves. auf; eine Angabe von 1908 sprach von 150.000 MitWe somehow found a carriage to take Mother and gliedern, war aber offensichtlich übertrieben. Zu the children to the station. The rest of us had to walk, Massenorganisationen konnte sich das Netz von Kre- for the trolleys were not running. dit- und Verbrauchergenossenschaften entwickeln. It was late in the evening when our train started to Die auf politischen Druck der Agrarier 1898 einge- move slowly out of the Lwow station. Jim and I richtete staatliche „Zentrale Kreditgenossenschaft" looked out of the window. We heard detonations (Orszägos Központi Hitelszövetkezet) stützte sich from a distance. The sounds did not seem far away. 1908 auf 2.096 Genossenschaften mit 551.514 Mitglie- In the darkness of night, we saw the fire-red sky. It dern; der 1898 von den Agrariern selbst eingerichte- seemed to me a mixture of fire and the blood of fallen ten Konsumgenossenschaft „Hangya" gehörten 1901 soldiers, which had risen so high, covering the sky. I 30.564 Verbraucher an. Beide Organisationen have never forgotten the sight of that sky. konnten ihre Mitgliederzahl stetig erhöhen: 1917 The next morning, we stopped at the station of

118 Tarnow, a small town. There we saw trains standing, crowded with refugees like ourselves from other cities. Some asked whether we had bread to give them. They and their children were very hungry. My mother did not hesitate. Readily, as was her way, she dipped into our supply and handed them bread through the train windows. Later we got off the train in another small city, Rzeszow. Here we remained for a brief time. My father rented rooms and also a bakery, where he baked bread. It was the only thing people wanted now. But we were soon forced to flee from Rzeszow, also, because the enemy was moving nearer and nearer. Everywhere we saw the pitiful picture of our retreating soldiers. Our two families packed again. This time we were put into cattle wagons, which were to take us to a town in the Carpathian Mountains. The journey was arduous with noise, discomfort, and fear. Children cried and could not be consoled. I watched my mother comfort Mela, Stela, and Bernatz. Her face was controlled, but somewhere within that ample frame I knew her heart must be breaking. Who could have foreseen this broken exile of ours, months ago, when a betrothal took precedence over all other news? Now all her years in Lwow were uprooted, jouncing in a cattle wagon. The wagon lurched suddenly, and I was thrown against Hanna. But she hardly seemed to notice. Her head was bent, her mouth fixed with depression. She must have been thinking of Josef. Where was he now? On what battlefield? Or was she perhaps even wondering where Nathan was, if he survived now. I, in contrast to the misery of my mother and sister, felt almost happy. For Jim sat next to me, a strange refugee in this cattle wagon. My love, my newfound joy, had come along with us, and I now felt almost ashamed as I studied the others. My happiness was a terrible incongruity in the midst of this flight. We arrived in the mountains very early in the morning. The large waiting hall of the railway station was crowded with refugees. Children and adults were lying asleep on the floor. We did not mind sleeping there also, although it was a hard stone floor. We were very tired. The next day, we acquired two empty rooms, with only straw on the floor to sleep on. Half an hour's walk from there was a larger city where the Austrian High Command had its headquarters. There, Jim and I saw Crown Prince Karl and his generals on the street. We stayed in this little town over the High Holy Days. Then we continued our journey. This time, our goal was Vienna. In Vienna, the government authorities were antiSemitic and wanted to refuse to admit Jewish refugees. They were forced to yield, however, at the

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien command of the Kaiser, who ordered them to admit his Jewish subjects to Vienna. En route to Vienna, our train stopped at a very small station. Looking out of the window, I read the Polish name Oswiedm. This was a very obscure place. We never dreamed that twenty-six years hence this unknown little spot would become the most infamous crematorium of all time - Auschwitz. Now we neared Vienna. From the bridge over the Danube, we saw the lights of the city. Never before had I seen such a dazzle of lights! Its beauty was before us, emboldening our hopes. And seeing it for the first time, I recalled the words that Jim hat written to me from Vienna, when he had come here as a student. „This is the eternal city of the goddess Vindobona, and of the god Danubius, to whom her soul belongs." I felt happy and grateful to be together with my family and Jim. This was our first escape from war. Helen Hilsetirad, Brown was the Danube, New 1966, S. 78 ff.

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York-London

Auf dem Markt im Werd

Straßenszene, aufgenommen am 27. September 1915.

Bildquelle: Bildarchiv der Österreichischen

Nationalbibliothek.

Die Ursachen der Zuwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Wien

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Die Aktivitäten professioneller Fluchthelfer und jüdischer Devisenschmuggler stellte für die „Brichah" zunehmend ein Problem dar, da diese die Im Ersten Weltkrieg um 1914/15. Sicherheit der illegalen Transporte in Frage stellten. Schon im Frühjahr 1946 hatte der Gold- und Devisenschmuggel, der aufgrund der stark divergierenden HlrtU»«*« Wechselkurse ein großes Geschäft war, die sichersten Routen für die „Brichah" unbenutzbar gemacht. Nachdem bei verschiedenen Grenzkontrollen große Geldbeträge bei „jüdischen Flüchtlingen" entdeckt worden waren, stieg die Zahl der Überfälle auf jüdische Flüchtlingstransporte sprunghaft an. Die Schmuggler und Schieber zwangen die „Brichah", neue sichere Wege aus Polen nach Italien zu finden. Eine weitere negative Folge dieser Entwicklung war, daß die Grenzbeamten begannen, auch den Flüchtlingen viel Geld, und teilweise auch die letzten Habseligkeiten, abzunehmen und nicht mehr nur die Spekulanten beim Grenzübertritt zur Kasse zu bitten. Waren die Flüchtlinge dann in der TschechoslowaBildquelle: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.kei, wurden sie von den tschechischen Behörden in Flüchtlingslagern gesammelt, entlaust und registriert. Die Flüchtlinge wurden während ihres Aufenthaltes von der tschechischen Regierung gemeinsam mit dem „Joint" [= American Jewish Joint Distribution Commitee] ernährt und betreut, wobei der Pogrome in Polen und Ungarn 155 „Joint" fast alle Lebensmittel zur Verfügung stellte. Der „Joint" trat in der Tschechoslowakei als Sprecher 1946 kam eine Flüchtlingswelle der jüdischen Bevölkerung und Vertreter der Flüchtlinge gegenüber der Regieüber die Grenzen, die im Sommer ihren Höhepunkt erreich- rung auf und organisierte zusammen mit den Behörte. Der Großteil überschritt illegal die Grenze und wurde den den Bahntransport über Preßburg nach Wien. nach einer Zwischenstation in Wien in die US-Zone ge- Zumindest im Juli überquerten die Juden die polbracht. Die Lage entspannte sich erst mit der Gründung nisch-tschechische Grenze mit Wissen der Grenzbeamten. Für viele Beamte entwickelte sich diese Masdes Staates Israels 1948. senflucht zum großen Geschäft. Als aber die Massenflucht einsetzte, blieb gar keine Auch den Weg von Preßburg nach Wien konnten Zeit mehr für aufwendige Fluchtvorbereitungen. Die die Rüchtlinge nicht ohne Einverständnis der Russen meisten Flüchtlinge nahmen sich nicht einmal mehr machen. Direkte Unterstützung kam von den Zeit, ihren Besitz, sofern sie welchen hatten, in Polen Sowjets keine, doch waren sie über die Tätigkeit der zu verkaufen. Nach dem Pogrom von Kielce hatten „Brichah" informiert. Allein vom 7. Juli bis zum sie nur noch den Wunsch, Polen so schnell wie 9. August reisten 32.000 jüdische Flüchtlinge über möglich zu verlassen, ohne aber klare Vorstellungen Preßburg nach Österreich ein. Bis zu diesem Zeitüber ihre Zukunft zu haben. In den nächsten Wochen punkt hatten die Amerikaner noch nichts unternomverließen im Schnitt täglich 700 Juden illegal das men, um diesen Flüchtlingsstrom auch nur zu Land in Richtung Tschechoslowakei. Der Grenzüber- bremsen. Die Hüchtlinge trafen unkontrolliert in tritt erfolgte meist bei Nacht in der Gegend von Wien ein, und die US-Armee gab ihr Bestes, die Leute Nachod und Bromov bei Mährisch-Ostrau. Der aus Wien in die eigene Zone zu schaffen. Die AmeriGroßteil der Flüchtlinge war unorganisiert, das heißt, kaner waren jedoch in keiner Weise auf diesen die Flüchtlinge schlugen sich allein durch Polen zur Zustrom eingestellt und organisatorisch total übertschechischen Grenze durch. Ein Teil überschritt die fordert. Die Armee stellte Unterkünfte, Basisrationen Grenze ebenfalls auf eigene Faust, andere ließen sich und Transportmittel zur Verfügung, der „Joint" half von professionellen Fluchthelfern um viel Geld über mit Zusatzrationen und Kleidung. Die Rationen die Grenze bringen. Neben diesen unorganisierten lagen zu diesem Zeitpunkt in der US-Zone bei Flüchtlingen verließen auch zionistische Gruppen 1.200 Kalorien und damit deutlich unter der Marke, mit Hilfe der „Brichah" [= Fluchthilfeorganisation], die Menschen benötigten, die jahrelang an Untererdie Führer und bewaffnetes Begleitpersonal stellte, nährung gelitten hatten und halb verhungert waren. das Land. Vor dem Massenansturm jüdischer Flüchtlinge im

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Ausspeisung von Flüchtlingskindern

1

120 Juli 1946 hatte der „Joint" die Zusatzrationen pro Kopf verteilt, nach dem Beginn der Masseneinwanderung mußten die limitierten Vorräte nach Bedürftigkeit abgegeben werden. Insgesamt ergänzte der „Joint" im Laufe des Jahres die Basisrationen jüdischer DPs [= displaced persons] in Deutschland und Osterreich durch den Import von 7.500 Tonnen hochwertiger Lebensmittel wie Fisch, Heisch, Butter, Fette und Zucker. Im Gegensatz zum „Joint" hatte die UNRRA [= United Nations Relief and Rehabilitation Administration] weder Personal noch Geld, um diese Neuankömmlinge zu betreuen. Aus diesem Grund übernahm die US-Armee die volle Verantwortung für die „Transients". Sie stellte neben der Unterkunft und Basisverpflegung sowie allen anderen notwendigen Gütern auch Verwaltungspersonal und Transportmittel zur Verfügung, während das UNRRAPersonal nur aushalf.

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien Die Flüchtlinge kamen meist fast mittellos, schlecht gekleidet und schmutzig in Wien an. Ihre wenigen Habseligkeiten führten sie in Bündeln oder Kisten mit sich. Sehr viele waren auch in einer schokkierenden körperlichen Verfassung und benötigten medizinische Betreuung. In aller Eile richtete daher die US-Armee gemeinsam mit dem „Joint" ein medizinisches Zentrum ein, in dem jüdische Ärzte die Flüchtlinge betreuten. Zudem stellte die US-Armee weitere Unterbringungsmöglichkeiten für 3.000 Menschen zur Verfügimg. Den Aufenthalt in Wien hielt man äußerst kurz. Im Juli wurden die Flüchtlinge meist innerhalb von drei Tagen nach ihrer Ankunft in die amerikanische Zone transportiert. Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948, in: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Innsbruck 1987, S. 105-107.

2.5. Andere Migrationsformen „Die Einzelwanderer... waren bis zum neunzehnten Jahrhundert überwiegend Deklassierte: Bettler, Vagabunden, Verurteilte oder entlassene Verbrecher, aus ihrer Kaste gestoßene Gewerbetreibende und Handelsleute, wohl auch heruntergekommene Adlige oder Kriegsgefangene."59 Diese auch „Kunden" genannten Wanderer hatten einen hohen Grad an Selbsthilfe entwickelt, der sich in einer eigenen Zeichensprache, den Zinken ausdrückte, welche den Wanderer darauf aufmerksam machten, wo er willkommen war und welche Orte er meiden soll. Bis zur NS-Zeit war diese Art der Fußwanderung häufig und üblich60 (Quelle 157).

Gesellenzuwanderung am Beispiel der Wiener Tischler, Quelle 156 156

Tischlergesellen in Wien

Nach Freisprechung der Lehrjungen war die Gesellenwanderung bis ins 19. Jahrhundert üblich und zum Teil noch Pßicht, um in der Fremde Erfahrungen zu sammeln. In vielen Orten fanden sie Unterkunft in Herbergen des jeweiligen Handwerks oder wohnten beim Meister. In größeren Städten wurde für ihre Vermittlung gesorgt. Das Wiener Tischlerhandwerk genoß einen über die Bei anderen Arten der Migration als den bespro- Grenzen des Landes hinausgehenden guten Ruf. Aus den chenen gibt es die verschiedensten Motive: Sei es die deutschen Ländern und Preußen, aber auch aus anderen Bedeutung der Universität Wien für angehende Stu- Ländern wanderten Tischlergesellen nach Wien bzw. denten oder Wien als mitteleuropäisches Kulturzen- wurden auf drei bis vier Jahre hierhergeschickt. 1796 bis trum für Künstler. Da Wien bis zur Mitte des 19. Jahr- 1805 kamen 31 Gesellen aus Dänemark, 18 aus Schweden, hunderts Umschlagplatz des europäischen Levan- 46 aus der Schweiz, 54 aus Polen und 52 aus Frankreich, tehandels war, spielte die Handelszuwanderung eine Elsaß und Lothringen nach Wien. Anhand der Zuschickbedeutende Rolle. Von den Handwerkern, die sich im bücher aus dem Jahre 1820 ergibt sich, daß von den 2.559 19. Jahrhundert auf Gesellenwanderung befanden, Wiener Tischlergesellen 15 Prozent aus Wien und den blieb nur ein geringer Prozentsatz in Wien oder kehrte Bundesländern der heutigen Republik Österreich waren, immer wieder zurück (Quelle 156). 34 Prozent aus dem deutschen Raum - ein Anteil, der in Wie jede Großstadt bot Wien auch diversen Fach- der Folge rapide abnahm -,17 Prozent aus Böhmen und leuten und Spezialisten Möglichkeiten der Betäti- Mähren, 15 Prozent aus Ungarn, 10 Prozent aus den gung, gegenwärtig als Standort internationaler Unter- übrigen Teilen der Monarchie, 3 Prozent aus dem Ausland nehmen und Organisationen (Quellen 158, 159). und 6 Prozent waren ungeklärter Herkunft.61

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Andere Migrationsformen

Die bürgerliche Tischler Herberge, Ballgasse 8, erworben 1772

Heinz Zatschek, 550 Jahre jung. Die Geschichte eines Handwerks, Wien 1958, S. 70.

Auf der „Walz" nach Wien, Quelle 157 Der spätere Vorsitzende der Gewerkschaftskommission Österreichs und 1918 bis 1920 Minister für soziale Verwaltung, Ferdinand Hanusch, begab sich als 17jähriger, wie viele andere seiner Altersklasse auf Wanderschaft. Zuvor arbeitete er in seinem schlesischen Geburtsort Wigstadtl in einer Bandfabrik. „Im Frühjahr 1884 hielt es Hanusch in seiner gewohnten Lebensweise nicht mehr länger aus. Gegen den Widerstand seiner alten Mutter entschloß er sich, auf die ,Walz' zu gehen. Einerseits scheinen ihn Bildungshunger und Reisebeschreibungen (auch Werke Heinrich Heines) angetrieben zu haben, ,das theoretische Wissen durch den Anschauungsunterricht' in der Fremde zu ergänzen, andererseits mag auch die Absicht mitgespielt haben, auf der Wanderschaft sein Glück zu suchen und seine berufliche und soziale Lage zu verbessern . . . Nur mit einem Bündel, das die nötigsten Dinge enthielt, wanderte er durch Mähren nach Wien." 62

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Ferdinand Hanusch auf der Wanderschaft

Es war ein wunderschöner Sonntagsmorgen. Die Sonne sandte schon frühzeitig ihre heißen Strahlen herab, um die Menschen aus den engen Wohnungen herauszulocken und in die freie Natur zu laden, das Werk der Wärmespenderin zu bewundem, die der Erde nach langem Winterschlafe wieder neues Leben eingehaucht und Blumen auf den Wiesen und Blüthen auf den Bäumen hervorbrachte. Ich stand auf der Donaubrücke und betrachtete den majestätisch dahinfließenden Strom mit seinem schmutziggrauen Wasser, in dem sich die Sonne spiegelte. Letztere verlieh dem ganzen Strome einen silbernen Glanz, auf welchem Ruderboote dahingleiteten und ein größerer Dampfer pustend stromaufwärts fuhr. Auf der anderen Seite des Ufers lag das große Häusermeer, aus dem der Großstadtlärm dumpf herüberdrang, der dem am Lande Aufgewachsenen Schrecken und Entsetzen einflößt. Ueber alles das ragt der alte Stefansdom hoch hinaus, Zeugnis ablegend von der Baukunst einer früheren Zeitepoche und mit Verachtung auf die Menschen herabsehend, die er schon in so vielen Generationen beobachten konnte. Ich versuchte mir, da es sonst niemand that, noch einmal Muth zuzusprechen und steuerte nun vollends über die Brücke, dem Labyrinth der Straßen und Gassen zu. Nun war ich in diesem großen Ameisenhaufen, selbst eine Ameise, die sich freilich erst die Wege suchen mußte, während sie den Vorübereilenden schon bekannt waren. Die großen Häuser, die großen Auslagen, die vielen Menschen, die an mir vorübereilten, ohne sich um mich zu kümmern, die dahinrasenden Fiaker und die auf dem Pflaster polternden Omnibusse, die Pferdetramway mit ihrem Geklingel und die schimpfenden Schwerfuhrleute, alles das erzeugt einen solchen Lärm, den der Großstädter wohl gewöhnt, der aber auf den zum erstenmale in eine Großstadt Kommenden so niederdrückend wirkt, daß er den letzten Rest von Muth verliert, weil es ihm unmöglich erscheint, sich in diesem Leben und Treiben zurecht zu finden. Ich frug vielleicht mehr als hundertmal, wo man zur Weberherberge komme und immer hörte ich die Antwort: „Gehen Sie hier geradeaus, dann rechts, dann links, dann geradeaus und dann fragen Sie wieder. So werden Sie schon hinkommen." Endlich, es mag schon spät am Nachmittage gewesen sein, langte ich müde vom Gehen auf dem ungewohnten Pflaster und vom Hunger und Durst ermattet, in der ersehnten Weberherberge an. Nun saß ich in dem düsteren Räume bei dem langen Tische, auf dem ein blechener Krug mit Wasser stand,

122 was dem Ganzen den Anstrich einer größeren Kerkerzelle gab, und stierte in's Leere. Es war mir unmöglich einen Entschluß zu fassen. Von draußen drang gedämpft der Straßenlärm herein und ich saß weiter auf der Bank, den Kopf in die Hände gestützt, allein in diesem Räume. Nach Wien zu kommen und hier mein Glück zu machen, das war der Traum seit meiner frühesten Jugend, wie es der Traum so Vieler ist. Nun war ich in Wien, in dieser Millionenstadt und saß einsam und verlassen da, so einsam, wie ich es im Leben noch nicht war. Ich sah im Gedächtnis meine weinende Mutter am Grabe des Vaters stehen und die Thränen, die beim Abschiede nicht fließen wollten, sie fielen nun auf den alten Holztisch . . . Es war in Wien im Jahre 1885. Ich war bereits zwei Monate arbeitslos; das Geld war aufgezehrt und ich hatte nur noch zehn Kreuzer in der Tasche, welche noch mein einziger Rettungsanker waren. Ich machte mir den ernsten Vorsatz, jeden Tag nur zwei Kreuzer zu verzehren. Für diese wollte ich mir immer ein Schusterlaberl kaufen und ich berechnete, daß ich so noch fünf Tage leben und während dieser Zeit vielleicht doch noch eine Arbeit finden könnte. Es war Anfang December. Der Wind pfiff eiskalt durch die Gassen und Straßen der Großstadt. Die Passanten hatten die Winterröcke fest zusammengezogen und die Krägen aufgestellt und suchten schleunigst wieder unter ein schützendes Dach zu kommen, sei es in ein Kaffeehaus oder Restaurant, in einen Concertsaal oder in ein stilles Heim. Auch ich gieng aus einer Gasse in die andere, von einem Platz auf den anderen um nicht stehen bleiben zu müssen, worin Polizisten gewöhnlich etwas „Auffälliges" erblicken. Der Wind pfiff durch meinen leichten Sommerrock, der schlaff über die Glieder hieng und sich garnicht mehr anstrengen wollte, mich zu erwärmen, da er seine Pflicht schon im Sommer erfüllt zu haben glaubte und sich gewiß darüber ärgerte, einen so armen Hungerleider kleiden zu müssen. Der vierte Tag meiner Hungerkur gieng zur Neige. Mit sehnsüchtigen Blicken blieb ich bei jedem Greißlerladen stehen und weidete meine Augen an dem in Körben vor den Laden ausgestellten Obste. Ein eigenthümliches Zucken gieng durch meine Finger und mehrmals war ich schon im Begriff die Hand auszustrecken, um mir einen Apfel oder sonst etwas Genießbares zu nehmen, aber jedesmal erschrak ich, wenn die Finger, vom Magen angespornt, die erforderliche Bewegung machen wollten. Ich wandte mich entsetzt ab und gieng weiter die Straße entlang, bis von neuem ein Selcherladen meine Blicke fesselte. Da hiengen die Schinken, mit grünem Laub verziert, um den Vorübergehenden den Appetit zu reizen und sie zum Kaufe anzulocken. Hunderte

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

Würste lagen in den Fenstern und hiengen an den mit Marmor ausgeschlagenen Wänden des Selcherladens, während junge Mädchen die Kundschaften bedienten. Ach, diese Eßwaren! Mein Magen rumorte bei diesem Anblick noch mehr und verlangte gebieterisch Nahrung, da ihm meine Augen verrathen haben mochten, daß ich vor einem Selcherladen stand, der mit Eßwaren gefüllt war. Ein Schwindel erfaßte mich und ich hätte die große Glasscheibe, die mich von den Würsten und Schinken trennte, zertrümmern können, um in den Besitz der nöthigen Nahrung zu gelangen. Ich haßte die Mädchen, die den Kunden mit freundlichem Lächeln den Schinken schnitten. Bei mir hätten sie sich diese Arbeit ersparen können, ich hätte auch ein ungeschnittenes, wenn nur recht großes Stück genommen und gierig verzehrt. Ich haßte die Menschen, die als Kunden in dem Laden standen und noch so glücklich waren, sich Nahrung kaufen zu können, ich haßte alle, die an mir vorüber giengen, noch eine bessere Kleidung trugen und wie satte Menschen aussahen. Ferdinand Hanusch, Aus meinen Wandeqahren. eines Walzbruders, Reichenberg o. ]., S. 8 ff.

Erinnerung

Ausländische Fachkräfte in multinationalen Betrieben und internationalen Organisationen, Quellen 158,159 158

Ausländische Fachkräfte in multinationalen Konzernen

Eine telefonische Rundfrage im Juni 1985 ergab folgendes Bild: Philips: Von ca. 300 im Management Tätigen sind 15 bis 20 Personen Ausländer, vorwiegend Holländer, die im Schnitt 5 bis 6 Jahre hier bleiben. Shell: Im Topmanagement sind unter fünf Personen je ein Engländer und ein Däne. Unter den acht Prokuristen ist einer Engländer. Diese Ausländer bleiben durchschnittlich 3 bis 4 Jahre in Österreich. IBM: Führungspositionen werden prinzipiell mit Staatsbürgern des betreffenden Landes besetzt. General Motors: Die Leitung des neuen General Motors Werk lag anfangs in Händen ausländischer Führungskräfte, die jedoch Schritt für Schritt durch inländische ersetzt werden sollen. Der erste Generaldirektor war Amerikaner, der zweite ein Deutscher. In der obersten Hierarchie sind von acht Personen drei Deutsche und ein Schweizer. In der Hierarchie darunter gibt es viele Verträge mit Deutschen. In der Regel bleiben die Ausländer zwei bis drei Jahre hier. Eigenrecherche.

Andere Migrationsformen

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Anmerkungen

Internationale Organisationen

Seit den siebziger Jahren wird versucht, den kosmopolitischen Charakter Wiens neu zu begründen. Eine wesentliche Rolle spielen hiebei die internationalen Organisationen: Die Auswirkungen der Tätigkeit der internationalen Organisationen in Wien sind nicht nur im materiellen, sondern ebenso im ideellen Bereich zu suchen. In politischer Hinsicht bedeutet die Präsenz der internationalen Organisationen eine Festigung der sicherheitspolitischen Situation unseres Staates. Der kulturelle und wissenschaftliche Gewinn liegt vor allem in den verstärkten Aktivitäten etwa des „Radio Blue Danube", zweier englischsprachiger Theater, in Kongressen, auf musikalischem und medizinischem Gebiet und nicht zuletzt im internationalen Schulangebot. In den zehn internationalen Schulen werden 4.302 Schüler, darunter 1.367 mit österreichischen Eltern, ausgebildet... Wiens Internationalität hat dadurch in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Im Rahmen der internationalen Organisationen und der diplomatischen Vertretungen befinden sich ca. 40.000 Personen in Wien.

Beschäftigte in W i e n 1981,1982,1983 und 1984

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Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung 1985, Nr. 2, S. l f .

der Stadt

Wien,

1 In der Habsburgermonarchie wurde das Eisenbahnzeitalter mit der Eröffnung der Pferdeeisenbahn LinzBudweis 1832 eingeleitet, die allerdings hauptsächlich auf Warentransport ausgerichtet war. 1836 wurde mit dem Bau der .Kaiser-Ferdinand-Nordbahn" begonnen, 1839 die nun mit Dampflokomotiven betriebene Teilstrecke Wien-Brünn fertiggestellt. 1848 erfolgte der erste Anschluß an ein ausländisches, nämlich an das preußische Streckennetz. - Vgl. Karl Bachinger, Das Verkehrswesen, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Wien 1973, Bd. 1,S. 278 ff. 2 Vgl. auch Neues Wiener Tagblatt vom 21. April 1914, S. 12 f. 3 Heinz FaBmann, Bevölkerungs-, Haushalts- und Familienstruktur der Josefstadt 1857, Wien 1980, S. 88. (unveröffentl. Dissertation). 4 Michael Jo/jn/Albert Lichtblau, Labor Migration in Vienna in the Era of Franz Josef: Images and Expectations, in: Dirk Hoerder/Horst Rößler (Hg.), Distant Magnets. Migrant Views of Opportunities in Industrializing Areas, New York (erscheint 1990). 5 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1913, S. 911. Die Zahl des durchschnittlichen Wanderungsgewinnes wird mit den restlichen 65.000 Migranten und zusätzlich der Saisonwanderung in Beziehung gesetzt. - Vgl. für Deutschland: Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 18801914, in: Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 64 (1977), S. 1—40. 6 Vgl. Heinrich Rauchberg, Der Zug nach der Stadt, in: Statistische Monatsschrift, 19 (1893), S. 125 f. - Zur „Urbanisierung" vgl. Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln-Wien 1983, S. 2-34. - Vgl. auch: Heinz Fassmann, A Survey of Patterns and Structures of Migration in Austria 1850-1900, in: Dirk Hoerder (Hg.), Labor Migration in the Atlantic Economies. The European and North American Working Class During the Period of Industrialization, WestportLondon 1985, S. 69-93. 7 Karl Bosl, Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder, Stuttgart 1968, Bd. 3, S. 27. 8 Jan Havränek, Die ökonomische und politische Lage der Bauernschaft in den böhmischen Ländern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1966, Teil 2, S. 123. 9 Vgl. auch Karl Dinklage, Die landwirtschaftliche Entwicklung, in: Wandruszka/Urbanitsch (Hg.), Habsburgermonarchie (wie Anm. 1), S. 415 ff. 10 Karl Brousek, Die Großindustrie Böhmens 1848-1918, München 1987. 11 Havränek, Lage der Bauernschaft, (wie Anm. 8), S. 124. Auswanderung aus den böhmischen Ländern in die Vereinigten Staaten: 1851-1870: 55.953; 1871— 1890:114.109; 1891-1910:137.313. 12 Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 9, Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Wien 1985, S. 49. 13 Vgl. ζ. B. Gabriele Paleczek, Feviyeköyü. Sozialer

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Wandel in einem anatolischen Dorf, Wien 1978. (unveröffentl. Dissertation). Statistik des Auslandes. Länderbericht Türkei, hrsg. vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden, StuttgartMainz 1984, S. 34. Elisabeth Lichtenberger, Gastarbeiter, Leben in zwei Gesellschaften, Wien-Köln-Graz 1984, S. 200. Lichtenberger, Gastarbeiter (wie Anm. 15), S. 202. Statistik des Auslandes. Länderbericht Jugoslawiens, hrsg. vom Statistischen Bundesamt des Auslandes, Stuttgart-Mainz 1985, S. 32. Beispielsweise betrug die Transferleistung der jugoslawischen .Gastarbeiter in ihre Heimat 1981 2.425 Millionen Schilling, was dem Jahresumsatz der Shopping City Süd gleichkam. Vgl. Lichtenberger, Gastarbeiter (wie Anm. 15), S. 174. Vgl. Oh, du gastlich Land . . . Vom Leben der Ausländer/innen in Österreich, Wien 1984, S. 6 ff. The Global 2000, Report to the President, Frankfurt 1980, S. 38 ff. Renate Banik-Schweitzer/Getharä Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der industriellen Produktion in der Habsburgerresidenz, Wien 1983, S. 38. Stenographisches Protokoll der durch die Gewerkschaften Wiens einberufenen gewerblichen Enquete, Wien 1895, S. 148. Von der Budapester Bevölkerung waren 1900 213.164 Personen in dem Gebiet „Linkes Donauufer" ( - Slowakei) und „Rechtes Donauufer" (= Burgenland und das daran anschließende kroatisch- und ungarischsprachige Gebiet) geboren, von den Wienern hingegen 94.491. - V g l . Die fünfzigjährige Entwicklung Budapests 18731923, in: Publicationen des Statistischen Amtes der Haupt- und Residenzstadt Budapest, Budapest 1925, Nr. 53, S. 16 f. Gastarbeiter. Wirtschaftliche und soziale Herausforderung, Wien 1973, S. 63 f. Landesarbeitsamt Wien. Jahresbericht 1972, Wien 1973, S. 20. Vgl. Stenographisches Protokoll (wie Anm. 22), S. 44 f., S. 50 f. Kurier vom 25. Februar 1971, S. 5. - Vgl. auch Profil vom 1. August 1983, Nr. 31, S. 41. So ζ. B.: Johannes Hawlik/Emst Hofbauer, Fremde in Wien, Wien 1982, S. 53 ff. Sie schätzten auf 10-15.000 ausländische Schwarzarbeiter in Wien. - Vgl. auch Lichtenberger, Gastarbeiter (wie Anm. 15), S. 95. Gastarbeiter, Herausforderung (wie Anm. 24), S. 24. Forschungsberichte, Ausländische Arbeitskräfte (wie Anm. 12), S. 43. Therese Weber, Häuslerkindheit. Autobiographische Erzählungen, Wien-Köln-Graz 1984, S. 33. Forschungsberichte - Ausländische Arbeitskräfte (wie Anm. 12), S. 210. Michael Mesch, Arbeiterexistenz in der Spätgründerzeit - Gewerkschaften und Lohnentwicklung in Österreich 1890-1914, Wien 1984, S. 220. - Vgl. auch BanikSchweitzer/Meißl, Wien (wie Anm. 21), S. 10. Forschungsberichte - Ausländische Arbeitskräfte (wie Anm. 12), S. 210. Franz KöppllGeorg Ziniel, Probleme ausländischer Arbeitnehmer am Beispiel Wien, in: Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, 28, Wien 1984, S. 7. - Vgl. auch: Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes aus-

Die Ursachen der Zuwanderung nach Wien

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ländischer Arbeitskräfte, hrsg. vom Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Wien 1976. Dokumentiert wurde dieser Vorgang für die deutsche Anwerbestelle, in: John BergerlJean Mohr, Arbeitsmigranten. Erfahrungen, Bilder, Analysen, Reinbek bei Hamburg 1976. Zusammengefaßt aus einem Gespräch mit Herrn B., der kurze Zeit in der Istanbuler Anwerbestelle arbeitete. Zit. nach Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, München-Wien 1972, S. 219. interview mit Franz Diwisch, geb. 1900, auf Tonband. Interview mit Ferdinand Nemecek, geb. 1903, auf Tonband. Vgl. Reformation, Emigration. Protestanten in Salzburg. Ausstellung 21. Mai-26. Oktober 1981, Salzburg 1981. Walter Kleindel, Österreich. Daten zur Geschichte und Kultur, Wien 1978, S. 236. Maria Pawlik, Emigranten der Französischen Revolution in Österreich (1789-1814), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 77 (1969), S. 78. Vgl. Kap. 1, Tab. 5. Vgl. Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1983-1988, Wien. Vgl. Neues Wiener Journal vom 16. April 1922, S. 11; 6. Oktober 1924, S. 4; 21. November 1937, S. 15. Vgl. Harry Wilde, Leo Trotzki in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1969. Forschungsberichte - Ausländische Arbeitskräfte (wie Anm. 12), S. 215 f. Amnesty International, Jahresbericht, Frankfurt am Main 1980-1986. - Vgl. weiters: Türkei. Folter und andere Menschenrechtsverletzungen, hrsg. von Amnesty International-BRD, Köln 1985. Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens, 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien-Köln-Graz 1989, S. 3 5 43. Theodor Haas, Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1910 und die jüdische Bevölkerung in Österreich, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (Berlin), 1912, S. 147. Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Berlin 1982, Bd. IV/2, S. 1648. Beatrix Holter, Die ostjüdischen Kriegsflüchtlinge in Wien (1914-1923), Salzburg 1978 (unveröffentl. Manuskript). Arieh Tartakower, Jewish Migratory Movements in Austria in Recent Generations, in: Josef Fraenkel (Hg.), The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 293. Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948, in: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Innsbruck 1987, S. 93. Tartakower, Jewish Migratory Movements (wie Anm. 54), S. 303. Albrich, Exodus (wie Anm. 55), S. 100,103. Tartakower, Jewish Migratory Movements, (wie Anm. 54), S. 306. Imre Ferenczi, Kontinentale Wanderungen und Annäherungen der Völker, in: Kieler Vorträge, 32, hrsg. von Bernhard Harms, Jena 1930, S. 7.

Andere Migrationsformen 60 Vgl. Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße, hrsg. vom Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982; sowie Lajos Kassäk, Als Vagabund unterwegs. Erinnerungen, Budapest 1976, S. 27 ff.

125 61 Heinz Zatschek, 550 Jahre jung. Die Geschichte eines Handwerks, Wien 1958, S. 59 ff. 62 Otto Staininger (Hg.), Ferdinand Hanusch (18661923), in: Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, 3, Wien 1973, S. 26.

Formen der Ansiedlung

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3. Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien 3.1. Formen der Ansiedlung Die unterschiedliche Verteilung sozialer Gruppen im Stadtgebiet ist in den modernen Großstädten seit der industriellen Revolution zu beobachten. Die soziale Distanz zwischen Mitgliedern sozialer Gruppen führt seitdem regelmäßig auch zur räumlichen Distanzierung und zur Differenzierung der Wohngebiete nach schichtspezifischen oder anderen sozialen Merkmalen. Drei Grundbegriffe werden bei der Untersuchung der unterschiedlichen Verteilung von Bevölkerungsgruppen im Stadtgebiet in der sozialwissenschaftlichen Literatur unterschieden: • räumliche Segregation: Das Ausmaß der ungleichen Verteilung von Bevölkerungsgruppen über die räumlichen Teileinheiten eines Stadtgebietes, ζ. B. über die Stadtbezirke; • räumliche Konzentration: Der Anteil einer Bevölkerungsgruppe in einer Teileinheit (Bezirk) der Stadt an der Gesamtbevölkerung dieser Teileinheit; • räumliche Distanz, räumliche Nähe: Wohnabstände zwischen Personengruppen (ζ. B. sozialen Schichten) in einem Stadtgebiet, in einem Stadtbezirk etc. An idealtypischen Formen der Ansiedlung sind zu unterscheiden: • das Ghetto: Bezeichnung für hochgradige Konzentration einer Bevölkerungsgruppe. Der erste Beleg des Wortes ist für Venedig gesichert, wo es bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein reines Judenviertel in unmittelbarer Nachbarschaft einer Gießerei (= ghetto, italienisch) gab. Eine andere Entstehungsinterpretation führt den Begriff auf das hebräische Wort ghet, das bedeutet Absonderung, zurück; • disperse Siedlungsform: bezeichnet eine große Streuung einer Bevölkerungsgruppe im Stadtgebiet.

Als Determinanten der räumlichen Segregation von Bevölkerungsgruppen in kapitalistischen Gesellschaften gelten in der Forschung unbestritten primär Bodenpreise, Grundrenten und Mieten.1 Da die Möglichkeiten des einzelnen im wesentlichen von seinem Einkommen bestimmt sind, ist die Miete der wichtigste Faktor für die Verteilung der sozialen Gruppen über die Stadt. Dies gilt in besonderem Maß für Zuwanderer, da sie meist von staatlichen und kommunalen Unterstützungen ausgeschlossen sind und waren. In einer Reihe von Studien zeigte sich indes, daß mit einem rein ökonomischen Erklärungsansatz zur Segregation, in dem Willensfaktoren lediglich nachrangig behandelt werden, nicht das Auslangen gefunden werden kann. Der deutsche Stadtforscher und Soziologe Ulf Herlyn unterschied daher grob zwischen • Segregation als dem Ergebnis objektiver gesellschaftlicher Rahmenbedingungen vor allem ökonomischer Natur, d. s. primär Miete und Einkommen; • Segregation als dem „Derivat (= Ableitung) sozial vermittelter Bedürfnisse, darunter etwa Einheitlichkeit der Lebensstile, Adresse als Image etc. Letztere Bedürfnisse müssen jedoch immer aus der sozialen Lage verschiedener sozialer Gruppen interpretiert, d. h. vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Stratifikation ( - Schichtung), die sozioökonomische Ungleichheit als konstitutives Element kennzeichnet, gesehen werden."2 Grundsätzlich gilt, daß Zuwanderer ebenso wie Einheimische hinsichtlich der räumlichen Segregation den gleichen Prinzipien unterworfen sind, Einkommen/Beruf und Miete stellen die wichtigsten Determinanten dar. Sie werden allerdings, sofern es sich

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

um anderssprachige, aus den unteren sozialen Schichten kommende Zuwanderer handelt, fallweise überlagert oder in besonderem Maß akzentuiert durch die Diskriminierung der Minderheit seitens der einheimischen Bevölkerung. Abgrenzungstendenzen der einheimischen Bevölkerung, basierend auf vermeintlicher Bedrohung, Vorurteilen und abschätziger Bewertung treten zur üblichen schichtspezifischen Abgrenzung hinzu. Es kann daher geschehen, daß Minderheiten in bestimmten Stadtteilen aus anderen als aus finanziellen Gründen nicht Fuß fassen können sowie Teile der einheimischen Bevölkerung Gegenden verlassen, die verstärkt von Minderheiten bewohnt werden. Dies betraf in der Geschichte Wiens zeitweilig die Juden, heute betrifft es die „Gasfarbeiter. In diesem Sinn äußerten 1973 in einer gesamtösterreichen Repräsentativumfrage 63 Prozent der Befragten die Ansicht, „Gasfarbeiter sollten abgesondert in eigenen Quartieren, sozusagen im Ghetto, leben. 3 Von wesentlicher Bedeutung ist die räumliche Segregation für Integration und Assimilation 4 von Zuwanderergruppen und nationalen bzw. religiösen Minderheiten. Ein geringer räumlicher Segregationsgrad von Minoritäten, also disperse Siedlungsformen, begünstigt grundsätzlich Integration und Assimilation. Was mittlerweile empirisch-sozialwissenschaftlich in mehreren Studien belegt ist, hat zu Zeiten der großen Arbeitskräftezuwanderungen vor dem Ersten Weltkrieg bereits der sozialdemokratische Parteiführer Otto Bauer formuliert: „Die Assimilation vollzieht sich am leichtesten, wo sich die Minderheit zerstreut und in die Wohnungen der Mehrheit einnistet; die Assimilation wird desto schwerer, je mehr sich die Minderheit zusammendrängt und je mehr sie sich von den Wohnsitzen der Mehrheit räumlich scheidet; die Assimilation ist völlig gehindert, wo die Siedlung der Minderheit eine von den Wohnsitzen der Mehrheit vollständig getrennte Sprachinsel bildet."5 Aus sozialwissenschaftlichen Faktorenanalysen geht ferner hervor, daß das Siedlungsverhalten eher größeren Einfluß auf die im kulturellen Bereich vor sich gehende Assimilation hat als auf das Integrationsverhalten, ausgenommen Fälle weitgehender Ghettoisierung. Für die soziale und sozioökonomische Integration spielen Wohnkultur und Wohnverhältnisse eine bedeutende Rolle.® Im internationalen Vergleich kann die räumliche Konzentration von Zuwanderer- und Minderheitengruppen in Wien als gering angesehen werden. Anders als im nordamerikanischen und australischen Raum, wo sehr große Nationalitätenviertel entstanden - Farbigenviertel etwa wie Harlem/New York mit schwarzem Bürgertum, Mittelstand und Proletariat, Puertoricaner-, Chinesen- und Italienerviertel - , war die Konzentration von nationalen oder religiösen Minderheiten in Wien immer wesentlich geringer; sie war

auch weniger stark als in London, Paris oder Berlin. Das steht im Zusammenhang mit der vergleichsweise viel kleineren Zahl fremdkultureller Zuwanderer, denn große Zuwanderergruppen können sich grundsätzlich leichter isolieren, eigene soziale und wirtschaftliche Organisationen aufbauen und sich so dem Anpassungsdruck leichter entziehen; ferner ist dieses Phänomen auf die spezifische Beschaffenheit der nach Wien zuwandernden Gruppen sowie auf die Besonderheiten des Wiener Wohnungsmarktes zurückzuführen. In Wien sind eher kleinräumige Konzentrationen auf Häuserblock- oder Hausebene typisch, während die Konzentration von Minderheiten auf Stadtbezirksebene in Wien nie auch nur annähernd die Prozentsätze jener Bezirke in New York und Chicago mit mehr als 90 Prozent schwarzem Bevölkerungsanteil oder des Bezirks Whitechapel in London mit ehemals 75 Prozent jüdischer Bevölkerung erreicht. Geschlossene oder halbgeschlossene Siedlungsformen sind nach ihrer Verursachung zu unterscheiden. Eine derartige Siedlungsform bilden jene Ballungen von Minderheiten, die auf politischen Entscheidungen basieren. Darunter wäre das Judenghetto des 17. Jahrhunderts im Unteren Werd (heute 2. Bezirk) zu reihen, ebenso die wohnungs- und siedlungspolitischen Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten gegen Juden und Zigeuner, die in der Errichtung von Sammel-, Arbeits- und Deportationslagern bestanden (vgl. Quellen 160, 161). Auf andere Weise ist heutzutage behördliches Eingreifen bei der Ansiedlung von Asylwerbern und politischen Flüchtlingen gegeben, deren Wohnstätten in Lagern, speziellen Kleinsiedlungen oder genossenschaftlichen Wohnhausanlagen administrativ bestimmt werden (Quellen

162,

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Betrachten wir die Motivation für „freiwillige" Konzentrationen von Minderheiten, d. h. für Ballungen, die nicht auf behördlichen Maßnahmen beruhen, so sind sie hauptsächlich 1. im eigenen Wunsch der Minderheit nach Kontakt, nach Nachbarschaft mit Angehörigen der selben Minderheit oder 2. in den Kosten für das Wohnen begründet. Ein bekanntes Beispiel aus der Geschichte Wiens, in welchem Falle wirtschaftliche Interessen, Zusammenhalt, Nachbarschaft und Erhaltung der kulturellen Identität die Ursache der räumlichen Konzentration war, ist das ehemalige Griechenviertel im 1. Bezirk (Quelle 164); weniger bekannt dürfte das Beispiel der holländischen Gärtner in Erdberg oder das der kleinen chinesischen Kolonie im Nachkriegswien sein (Quellen 165, 166). Die diversen Zigeunerlager und -ansiedlungen am Stadtrand Wiens sind in gleicher Weise einzuordnen (Quellen 167, 168). Andererseits siedelten sich Zuwanderer unterschiedlicher ethnischer Herkunft aufgrund der Wohnungskosten immer wieder in den selben Wohngegenden an, und zwar in

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Formen der Ansiedlung

dezentraler Lage (Quelle 169), oder in desolaten, alten und abgewohnten Häusern. Solche Quartiere waren im 19. Jahrhundert die sogenannten „Kräwätenstadel", die, fälschlicherweise so bezeichnet, meist von Slowaken bewohnt wurden. Ein ähnlicher, von serbischen Gemüsehändlern und anderen slawischen Zuwanderern belegter Gebäudekomplex war der „Ratzenstadl" (von Raizen - Serben, im Wiener Volksmund Razen) in Mariahilf (Quelle 170). Wie schon die Bezeichnung Stadel sagt, handelte es sich hier um sehr desolate Behausungen, die dementsprechend billig waren. Hier zeigt sich eine Parallele zu den Gepflogenheiten der Gegenwart, „Gastarbeitern relativ kostengünstige Wohnungen in Häusern anzubieten, die restlos abgenutzt sind und kurz- oder mittelfristig abgerissen werden sollen. Vielleicht noch stärker an den Begriff Stadel erinnern die alten Schuppen, Keuschen, Garagen und Baracken am Stadtrand, die noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts von „Gasfarbeitem bewohnt wurden (Quellen 171, 172). Einen Sonderfall von Zusammenballung im Stadtgebiet stellen Handelszentren und Märkte dar, die zum Großteil von Minderheiten oder ausländischen Arbeitern bzw. Besuchern frequentiert werden. Obgleich nicht Wohngebiete., erhalten diese Bereiche doch einen spezifischen Charakter. Das traditionsreichste und bekannteste Zentrum in dieser Hinsicht ist der Mexikoplatz im zweiten Wiener Gemeindebezirk (Quelle 173). Abgesehen von der qualitativ meist indiskutablen Unterbringung, darf das Zusammenwohnen von Zuwanderern und Minderheiten in Häusern, Gebäudekomplexen oder Straßenzügen in seinen Auswirkungen nicht ausschließlich negativ beurteilt werden. Das „Ghetto" gewährt insofern vor allem den Neuzugezogenen einen wichtigen Schutz, als dadurch der zweifellos von der einheimischen Bevölkerung ausgeübte Anpassungsdruck zumindest im Wohnbereich gemildert wird. Im Kreis der Landsleute oder der Angehörigen derselben Glaubensgemeinschaft können Gewohnheiten im Wohnverhalten, in den sozialen Beziehungen, beim Essen, bei religiösen Handlungen etc. beibehalten werden. Am ehesten kann hier Unterstützung, Solidarität und Rat gefunden werden, um mit den vielfältigen, in der ungewohnten Umgebung neu auftretenden Problemen fertig zu werden. Eine Variante geschlossener Wohnformen, der solche Schutzfunktionen nicht ohne weiteres zuzusprechen wäre, ist die Einquartierung in Wohnungsanlagen der Arbeitgeber. Diese traditionelle Unterbringungsform begünstigt die Reduktion des Zugewanderten auf seine Funktion als Arbeitskraft und die optimale Nutzung derselben. Sowohl in der Monarchie als auch in der Gegenwart wurden Beschäftigte der verschiedensten Berufsgruppen und Nationalitäten auf diese Weise untergebracht: In den Ziegelwer-

ken am Stadtrand Wiens lebten auf engstem Raum etwa 6.000 böhmische, mährische und slowakische Arbeiter (Quelle 174). Unmittelbar am Arbeitsplatz hausten damals italienische und ungarische Saisonarbeiter, die man bei der Donauregulierung, der Wienflußregulierung, dem Bau der Wiener Stadtbahn und bei anderen Großbaustellen beschäftigte. Sie, die nach Beendigung des Auftrags in ihre Heimat zurückkehrten, wohnten wohl am schlechtesten (Quellen 175-178). Auch noch in der Gegenwart ist es durchaus üblich, wenngleich nicht mehr so häufig wie vor zehn, fünfzehn Jahren, „Gasfarbeiter in einem Haus oder Wohnheim der Firma, bei der sie beschäftigt sind, einzuquartieren. In Vorarlberg lebt etwa die Hälfte der „Gasfarbeiter in Werkswohnungen; von den Wiener „Gasfarbeitem sind es nur mehr 4,5 Prozent, weil die für diese Unterbringungsform bedeutsame Einzelzuwanderung derzeit in Wien nur von marginaler Bedeutung ist. Ein Hinweis noch zuletzt: Die Zusammenballung und Zentrierung von Minderheiten wird oft überschätzt, teils deswegen, weil Minderheiten optisch stärker auffallen, der einzelne in seiner Wahrnehmung der kulturell verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen stärker sensibilisiert ist; handelt es sich um Minderheiten mit einer großen sozialen Unterschicht, kommt noch dazu, daß diese infolge der knappen Wohnraumsituation tatsächlich sehr stark öffentliche Räume wie Straßen, Plätze und Parks dominieren. Ein anderes Motiv der Überschätzung ist ein ideologisches: Bestimmte Minderheiten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielsweise die jüdische und tschechische Bevölkerung, seien überall zu finden, sie nähmen dem „Einheimischen" den Lebensraum weg und sind für ihn daher bedrohlich (Quelle 179).

Ghettoisierung „von oben". Behördliche Maßnahmen vom Absolutismus bis zur Gegenwart, Quellen 160-163 Maßnahmen des Staates oder der Obrigkeit in Hinblick auf den Wohnort von Minderheiten betrafen in der Vergangenheit vor allem die Juden. Das erste von Mauern abgeschlossene Ghetto im Unteren Werd entstand 1625, im Jahre 1670 wurde die jüdische Bevölkerung auf kaiserlichen Befehl der Stadt verwiesen. Das Ghetto lag im heutigen 2. Bezirk.

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien Das Ghetto in der Leopoldstadt

Die den Juden überlassenen Häuser waren armselige Gebäude, fast durchwegs mit Schindeln gedeckt, kaum den notdürftigsten Unterstand gewährend und meist nur einen Wohnraum aufweisend. In der verhältnismäßig kurzen Zeit der jüdischen Besiedlung entstanden 118 neue Häuser. Aber auch diese neuen Häuser darf man sich keineswegs als besonders umfangreiche oder solide Gebäude vorstellen; dies war nur zeitweise der Fall. Von 120 Gebäuden waren fünf mit Ziegeln, zwei zur Hälfte mit Ziegeln und Schindeln, die übrigen bloß mit Schindeln gedeckt. An die 20 Häuser tragen den Vermerk, daß sie baufällig seien, ebensoviele wurden als schlecht gebaut bezeichnet; 23 waren nur aus Holz und Lehm aufgerichtet.. . Ein unwillkürliches Gefühl des Mitleids beschleicht uns, wenn wir hören, daß das Auerpachsche Haus wie folgt beschrieben wird: Alles von Holz, 1 Stube, 1 Küche, 1 Keller, alles baufällig, oder das Haus des Alfanus gar nur aus 1 Stube, 1 Kammer und 1 Küche bestand. Das Haus des Abraham Herzfeld hatte nicht einmal eine Küche, es bestand nur aus Stube und Kammer, ohne alles weitere Zubehör . . . 1669 bewohnten das Ghetto ungefähr 2.000 Personen, die sich beiläufig auf 500 Familien verteilten. Das Ghetto umfaßte die folgenden Gassen: Große Sperlgasse, Haidgasse, Leopoldgasse, Große Pfarrgasse, Im Werd, Krummbaumgasse, Kleine Pfarrgasse, Tandelmarktgasse, Große Schiffgasse und Taborstraße... Aus dem Ersuchen der Juden um ein Handelsprivileg ist ersichtlich, daß das Ghetto mit einer Ringmauer umgeben werden mußte. Über die Höhe und das Material dieser Mauer ist uns nichts bekannt, wieviel Tore diese Ringmauer durchbrachen, ist uns ebenfalls nicht genau bekannt. In allen Quellen ist stets nur von dem Tor bei der Schlagbrücke die Rede, einmal ist erwähnt, daß den Juden einzuschärfen sei, das Ghetto in der Richtung zum Tabor hin nicht zu verlassen und kein Tor dort anzulegen. Im Inneren des Ghetto gewährte eine Wache, die von den Juden bezahlt werden mußte und für die ein besonderes Haus errichtet wurde, militärische Bedeckung.

In Wien gab es ein Zigeunersammellager am Bruckhaufen, ein Deportationslager in Simmering (siehe Bilder), Arbeitslagerin Straßhof und Simmering.

Bildquelle: DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes).

Hans Rotter/Adolf Schmieger, Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt, Wien 1926, S. 44^7.

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Deportation von Zigeunern

Den Höhepunkt staatlicher Gewaltmaßnahmen, erneute Ghettoisierung und Deportation, setzten die Nationalsozialisten 1939 bis 1945 gegenüber Juden und Zigeunern.

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Lager Traiskirchen

Flüchtlinge und Heimatvertriebene wurden in den letzten siebzig Jahren hauptsächlich in Lagern und Sammelstellen, in Baracken oder ehemaligen Kasernen untergebracht. Der Großteil der Flüchtlinge und Asylwerber ist gegen-

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Formen der Ansiedlung

wärtig im Lager Traiskirchen, 20 km südlich von Wien einquartiert. Das Lager kann rund 5.000 Personen Unterkunft bieten, es ist wegen der Wohn- und allgemeinen Lebensbedingungen in den letzten Jahren mehrmals scharf kritisiert worden. Konventionsflüchtlinge (m Personen, denen in Österreich politisches Asyl gewährt wurde), die in Österreich bleiben, erhalten nach einer gewissen Wartezeit von der Republik Wohnungen zugeteilt, in Österreich gibt es ca. 7.000, in Wien rund 1.000 Flüchtlingswohnungen. 1987 und 1988 war das Lager chronisch überfüllt. Fegefeuer Traiskirchen Der Traum vom Goldenen Westen treibt wiederum Tausende Osteuropäer zur Flucht - hinein in die ernüchternde Realität des österreichischen Auffanglagers. Seit dem Ungarnaufstand 1956 werden hier, in vollen Sälen und kahlen Gängen, mit Lagerordnung und Desinfektionsgeruch, euphorische Vorstellungen über den Goldenen Westen zerstört. Doch gerade die Hoffnung auf ein besseres Leben brachte viele von ihnen hier h e r . . . In einem Saal mit zwölf Stockbetten, rohen Bänken und Spinden, vertreiben sich 20 überwiegend junge Polen kartenspielend und dösend die Z e i t . . . Bis sich ein Aufnahmeland findet, bleibt den Lagerbewohnern im Prinzip nur eines: warten. An schönen Tagen bietet sich Besuchern beinahe eine Lageridylle. Flüchtlingskinder unterschiedlichster Herkunft spielen und lernen gemeinsam Englisch, ein Kurde schreibt im Schatten Briefe an daheim. Flüchtlingsfamilien sonnen sich vor ihren Baracken zwischen der zum Trocknen aufgehängten Wäsche. Doch das ist nur die Fassade. Fast alle Befragten beklagen ihr Schicksal. Besonders Familien, die in Österreich bleiben möchten und schon seit Monaten, manchmal seit Jahren auf eine Sozialwohnung warten. „In der Baracke ist viel Lärm, ich kann nie schlafen", sagt Anton, ein Rumäne, der zwar einen Job als Fernfahrer hat, aber mit Frau und Kind seit zwei Jahren im Lager lebt. „Chilenen kriegen gleich eine Wohnung, wir nicht", klagt auch seine mit einem Jugoslawen verheiratete Nachbarin. „Die Chilenen sind Kontingentflüchtlinge, deren Aufnahme Österreich zugesagt hat", erläutert der zuständige Ministerialrat Herbert Krizek. Schließlich müßten ja auch Österreicher längere Zeit auf eine Wohnung warten. Ostflüchtlingen sagen solche Kategorien nichts. Sie, die es gewohnt waren, das Lebensnotwendigste vom Staat zugeteilt zu bekommen, haben oft zu wenig Initiative, um sich selbst aus ihren Lagern zu befreien. Das Lager wird zum dauernden Wohnasyl, Spannungen, Exzesse mit eingeschmuggeltem Alkohol, Vandalismus und Raufhändel sind immer wiederkehrende Folgen. Profil vom 25. Mai 1981, S. 54 f.

Die Welle der Asylsuchenden aus aller Welt, speziell aus den östlichen Nachbarländern, nach Österreich schwillt wieder an. Wer nach Traiskirchen kommt, muß sich auf einen Kampf gegen Bürokratismus, auf ein Leben auf engstem Raum, teüs auf Widerstand der Bevölkerung gegen den Fremden gefaßt machen . . . Aus dem Fenster des Pfarrhauses blickt man direkt auf jenes Lagergebäude, in dem die Behörden Ende September einen sogenannten „Wartesaal" eröffnet hat, für Asylsuchende, die außerhalb des Lagers die Bearbeitimg ihres Antrags abwarten müssen. Dort bewegt sich eine Prozession die Treppe herunter, immer mehr Männer schleppen Matratzen und Taschen heraus. Warum nur Männer? „Wenn Sie in den Wartesaal schauen, dann werden Sie sehen, warum alleinstehende Frauen und Mütter sofort die Flucht ergreifen." . . . Im Wartesaal gedeihen Aggressionen und Gerüchte. Aber auch gegenüber, die Nachbarn schauen schon böse aus den Fenstern. „Wir haben Umfragen: 90 Prozent der Bevölkerung sind natürlich gegen das Lager", bedauert Bürgermeister Fritz Knotzer und denkt wehmütig an die Vergangenheit. „Im Jahr 1956, als das Lager für die flüchtenden Ungarn eröffnet wurde, hat man im Ort gesammelt für G'wand. Inzwischen werden Unterschriften gesammelt gegen das L a g e r . . . Der Standard vom 17. November 1988, S. 6.

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Notquartier im Donaupark

Im Jahr 1968flüchteten Zehn tausende tschechische Staatsbürger nach Österreich. Sie wurden vielfach in Notquartieren untergebracht. Das Bild zeigt die Halle im Donauparkgelände in Wien-Floridsdorf in der für etwa 300 Schlafstellen vorgesorgt worden war.

Bildquelle: Votava.

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

Beispiele geschlossener und halbgeschlossener Siedlungsformen. Minderheiten in eigenen Vierteln, am Stadtrand und in der Nähe des Arbeitsplatzes, Quellen 164-179 Die griechische und armenische Bevölkerung in Wien erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälße des 19. Jahrhunderts wegen der verbesserten Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich ihre Hochblüte. Sie war im ersten Bezirk, in der Gegend der Straße „Am Fleischmarkt" angesiedelt. Eine zweite kleinsträumige Konzentration bestand im dritten Bezirk.

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Griechische Niederlassungen auf der „Landstraße"

Wer in einer müßigen Stunde, aus der innern Stadt Wien kommend, die Ungargasse hinabgeht, der kann ungefähr zu Ende des ersten Drittels der Straße auf der linken Seite bei Nr. 37 ein grau angestrichenes, einstöckiges Haus wahrnehmen, welches rechts und links vom Thor zu ebener Erde und im ersten Stockwerke je sechs Fenster hat. Das Auszeichnende des Hauses liegt in einem riesenhaften Mittelthor. Nach Höhe und Breite beträchtlich über den Wuchs des üblichen Wiener Hausthores hinausgehend, ragt dies Thor tief in den oberen Stock bis fast zum Dache empor. Das Haus bildet die Gassenseite eines länglichen, mäßig großen, rings umbauten Hofes. Treten wir in den Hof ein, so gewahren wir rechts einen Brunnen, geradeaus zwei Reihen von Akazienbäumen, rundum aber kleine ebenerdige Magazine, welche, in ununterbrochener Flucht aneinandergebaut, das längliche Viereck des Hofes umgeben. Ihrer sind dreiundzwanzig. Sie sind durch Feuermauem getrennt, die oben über das Ziegeldach hinausragen. Ein jeder dieser kleinen Speicher hat zu ebener Erde ein Thor und über demselben, aus dem Dache vorspringend, einen Erker mit Rollbalken. Bringt man diese, jetzt nur wenig mehr benützten Einzelheiten in gegenseitige Beziehung, so wird der Zweck der ganzen Anlage klar: mitten in Wien haben wir das Bild einer Karawanserei, eines jener Häuser vor uns, die im Orient als Nachtherberge für Kaufleute und deren Lastthiere und Güter dienen. Durch das hohe Thor wurden die ankommenden schweren Lastwagen in den Hof vor die Speicher geführt und die Waaren entweder zu ebener Erde oder unter dem Dache abgelegt. Am Rollbalken wurden sie herabgelassen. Gegen Brand gewährten die starken Mauern einigen Schutz. Der Brunnen war zum Tränken der Rosse und im Nothfalle für Feuerlöschung bestimmt.

Die Kaufherren, ihre Fuhrleute und Knechte mögen im Hause an der Straße geherbergt haben; war das Hausthor zu, so war der ganze Han abgeschlossen und gesichert. Der mehrfach erwähnte Packhof in der Ungargasse, jetzt Eigenthum der Barmherzigen Brüder, von welchem auch die Familie Dumba noch einen Antheil besitzt, ist als ursprüngliche und guterhaltene Anlage der orientalischen Kaufleute merkwürdig. Aber solcher Gebäude gab es viele in Wien, ja es trennt uns kaum ein Menschenalter von der Zeit, wo die Niederlassungen der Griechen, die man auch „türkische Kaufleute" nannte, nicht nur einen guten Theil der heutigen Vorstadt Landstraße, sondern auch das nordöstliche Viertel der innern Stadt zwischen Wollzeile und Donaucanal erfüllten. In letzterem hatten sie als Eigenthümer oder Miether die schon bestehenden, von der zweiten Türken-Belagerung her erhaltenen Gebäude erworben. Der Steyrerhof in der Rothenthurmstraße war hier ihr Hauptquartier; der Hafnersteig, der Laurenzerberg, der Alte Fleischmarkt, die Köllnerhofgasse, die Schönlaterngasse, die beiden Bäckerstraßen waren in griechischen Händen. Jenseits der Wien in der Vorstadt Landstraße standen dann die Lagerplätze und Packhöfe für die minder werthvollen Waaren, die Einkehrhäuser für ein Heer von Fuhrleuten und Kramknechten, sowie die gewerblichen Anlagen. Sehr gerne suchten sie die Ufer des damals bis in die Gegend des Fürstenhofes, Beatrixgasse Nr. 19, und der Thierarzneischule, Linke Bahngasse Nr. 7, reichenden Wiener-Neustädter Canals mit ihren Niederlassungen auf. Die dem Erzherzog Rainer gehörigen Magazine am Canal, sowie Gebäude, die an Stelle der Sina'sehen Reitschule, Beatrixgasse Nr. 3, standen, dienten ihren Zwecken. Die Hauptmauth, damals ein Bretterbau, war von Speichern umgeben. Weiter draußen waren jene ausgedehnten Räume, die heute zum Gasthause „zum rothen Hahn", Landstraße, Hauptstraße Nr. 40, gehören, sowie das Haus „zum guten Hirten" unter den Weißgärbern von diesen geldkräftigen Kaufleuten benützt. Ihre Niederlassungen zogen sich mit ihren letzten Ausläufern bis Erdberg und Simmering. Die St. Marxer Linie ward damals oft scherzweise „die orientalische Linie" genannt. Zur Blüthezeit dieses Handels herrschte in den Straßen und Packhöfen ein reges Leben. Die Verfrachtung mit Roß und Wagen war zwar nicht so wirksam und großartig als der Eisenbahnverkehr, aber weit malerischer und die Einbildungskraft anregender. Oft sah man im Griechenquartier dreihundert Lastwagen beisammen, und darunter befanden sich, wie schon das Riesenthor des Hauses Nr. 37 der Ungargasse zeigt, wahre Ungethüme mit mächtigen Gliedern, breiten Felgen und einer Ladefähigkeit von etwa siebzig Meter-Centnern. Mitunter stieg letztere

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Formen der Ansiedlung

bis zu achtzig Meter-Centnern und stand dann nur um ein Fünftel zurück hinter der Fassung eines modernen Eisenbahnwagens. Insbesondere wurden die Baumwolle aus Macedonien und die Schafwolle aus den Donaufürstenthümern in hoch aufgethürmten Wagen verschickt, die oft von zehn, zwanzig, ja dreißig Rossen gezogen waren. Die Reise bis Wien dauerte etwa sechs Wochen; im Jahre konnten fünf, höchstens sechs Reisen hin und her gemacht werden. Kamen die Fuhrleute nach den Anstrengungen und Gefahren der Reise mit Ladung und Rossen heil in Wien an, so befanden sich Diener und Herren in froher Stimmimg, die Rosse selbst ahnten schon die winkende Ruhe. Die Fuhrleute, hoch zu Rosse, feuerten die Pferde an, und mit Hailoh und Jubel zogen die Gespanne in die Quartiere ein. Es hat sich noch die Erinnerung in Wien erhalten, daß insbesondere die Jugend solchen Schauspielen leidenschaftlich nachging. Die starken Wagen mit fremdartigem Inhalt, die kleinen, munteren, klingelnden, geputzten Rosse, der stolze Fuhrmann leben noch heute im Andenken manches Wiener Kindes, und die Fuhrleute waren den kleinen blonden Zuschauern und Begleitern zugethan und beschenkten sie mit allerlei Leckerbissen oder Seltsamkeiten des Orients. Alexander Peez, Die griechischen Kaufleute in Wien, Wien 1888, S. 3-5.

Geschworene aus ihrer Mitte und lassen den anderen kleinen Teil an der Verwaltung des Gemeinwesens, wiewohl diese mehr und dabei ungerechtfertigte Abgaben leisten müssen." Zu dieser Zeit war Kottendorf bereits in Erdberg aufgegangen. Die Landstraße in alter und neuer Zeit. Ein Heimatbuch, Wien 1921, S. 199.

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Chinesen in Rudolfsheim

Kleine Minderheiten mit großer kultureller Distanz neigen zur räumlichen Konzentration. Reich der Mitte in Rudolfsheim. In früheren Jahren zogen diese Söhne aus dem Reich der Mitte mit selbstgebastelten Papierdrachen und -schirmen und ähnlichem Spielzeug von Kirtag zu Kirtag übers Land. Der Profit dieser kleinen Kaufleute, die auch heute noch das Gros der Kolonie bilden, war nicht enorm . . . Gelegenheitsarbeiten verschaffen jetzt vielen ihr schmales Brot. Doch trotz Bedrängnis halten alle eng zusammen und helfen einander, wo sie nur können. In ihren hauptsächlich um den Rennweg im 3. Bezirk und um den Sportplatz in Rudolfsheim liegenden Behausungen gehen sie ihren Geschäften nach. Wiener Tageszeitung vom 29. Juli 1948, S. 5.

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Holländische Gärtner in Erdberg

Im 3. Bezirk erinnert die Nottendorfergasse an die gleichnamigen holländischen Gärtner, die Notten. Sie siedelten seit Jahrhunderten in Erdberg und wurden dort erst Ende des 18. Jahrhunderts majorisiert. Durch jahrhundertelange räumliche Konzentration und straffe Organisation der Minderheit auf genossenschaftlicher Basis konnten sie ihre Eigenheiten lange bewahren. Innerhalb der Grenzen Erdbergs entsteht im 14. Jahrhundert ein neues Dorf, „Nottendorf". Der Name ist niederdeutsch und heißt hochdeutsch „Dorf der Genossen". Auf Veranlassung des Landesfürsten siedelten sich dort niederdeutsche Gärtner an, die mit den Ansässigen durch die Gemeinsamkeit ihres Wirkens verbunden die Genossenschaft der Küchengärtner bildeten. Noch im 17. Jahrhundert machen sie den maßgebenden Teil der Bevölkerung aus. Sie nannten sich „Hausgenossen"; alle übrigen, die nicht „Genossen" waren, hießen „Mitnachbarn". Wie sehr die Gärtner ihre Rechte zu wahren und auszudehnen wußten, folgt aus einer Beschwerde, die sie 1773 an die Regierung richteten; darin heißt es: „Die 42 Hausinsassen, die aus puren Kuchelgärtnern bestehen, maßen sich die Herrschaft über alle 291 Hausbesitzer an. Sie nennen sich Gemeinde, wählen Richter und

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Zigeuner in Floridsdorf und Favoriten

In der Vergangenheit waren bei der durch Sprache, Kultur, Aussehen und Lebensform exklusiven Minderheit der Zigeuner zwei Siedlungsformen zu beobachten. Die mobile sowie die seßhafte Ansiedlung. Polizeiliche und behördliche Maßnahmen in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts brachten die letzten mobilen Siedlungen zum Verschwinden. In der Gegenwart gibt es in Wien nur mehr seßhafte Zigeuner, jedoch nicht mehr in dem Maße am Stadtrand konzentriert wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Besuch im Zigeunerlager bei den Donau tümpeln. Indien in Floridsdorf. Draußen in Floridsdorf, wo die kleinen Donauarme mehr oder minder ansehnlich an die Zeit erinnern, da die Donau noch frisch und lustig strömte, wo und wie sie wollte, sind seltsame Gäste eingekehrt. Seltsam um so mehr heute, da die Romantik der Landstraße längst verweht ist, wie ein Märchen aus langer, langer Vergangenheit. Die Vagabundenromantik des Zigeunertums ist hier plötzlich wieder erstanden. Eine Zigeunerschar hat sich mit ihren sturmverwitterten Wohnwagen niedergelassen und

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

häuslich eingerichtet, um hier einige Wochen zu verbringen. Ein Zaun mit Holzlatten, auf denen mehr oder minder fragwürdige Wäschestücke, übrigens blendend rein und weiß, zum trocknen und bleichen aufgehängt sind, umfriedet den Platz, auf dem die lustigen und ungemein zerbrechlich aussehenden Plachenwagen stehen. Blech, Holz, Pfosten, Geschirr und einige einschichtige Wagenräder liegen herum. Aus den windschiefen Rauchfängen kräuselt sich ganz sachte dünner Rauch. Eine junge Zigeunerin wäscht in einem undefinierbaren Gefäß Wäsche. Ein Köter, von dem man nicht weiß, wohin er gehört, kläfft heiser und dazwischen tollt eine Schar schmutziger Kinder, zerfetzt, beschmiert, aber lebenslustig und temperamentvoll. Und an dem Holzgatter lungern die Horidsdorfer Rangen und harren kampflustig der Dinge, die da noch kommen werden. Wie ein Stück Urvergangenheit mutet das Bild an. Exotische Romantik voll geheimnisvoller Rätsel. Grell tönt das Geknatter der Sprache ans Ohr. Seltsam, daß gerade jener Volksstamm, der sich am konsequentesten und restlosesten von jeder Beeinflussung anderer Kulturen fernhielt, in seiner Sprache Wörter und Wortstämme der Rotwelschsprachen aller Völker aufnahm und verwendet. Mystisches Rätsel, wie so vieles andere aus der ethnologischen wie auch kulturellen Geschichte dieses Vagabundenvolkes. Der Zigeunertrupp, es sind mit den Kindern zirka zwei Dutzend Personen, durchwanderte bereits Deutschland und die Tschechoslowakei. Es ist hiezu übrigens ein interessantes Detail, das sowohl Deutschland, wie insbesondere die Tschechoslowakei auch heute noch von ganzen Scharen und großen Trupps von vagabundierenden Zigeunern durchzogen werden, während Oesterreich bisher ziemlich verschont von dieser Landstraßenromantik (die Behörden und die Polizei nennen es anders) blieb. In den Erzgebirgs- und Böhmerwalddörfern sind die Zigeunerlager noch heute eine gar nicht so seltene Angelegenheit. Irgendwo in Indien soll seinerzeit die Heimat der Zigeuner gewesen sein. Als Angehörige einer der vielen indischen Pariastaaten verwandten Schandras des Pandschabs sollen sie in alle Welt gewandert sein, und seither als die letzten, die einzigen Nomadenvölker der Gegenwart in der ganzen Welt herumziehen. Man schätzt die Gesamtzahl der Zigeuner in Europa gegenwärtig auf etwas über eine Million, wovon die meisten in Spanien, Ungarn und Rumänien hausen. Ein kleiner, ein letzter Hauch dieser barbarischen Urvergangenheit umweht auch noch heute die Zigeuner. Seltsam geheimnisvoll mutet die große schlanke Zigeunerin trotz ihres armseligen Kleides an. Ein anderes Milieu und - „Filmmilieus" wurden erinnerungswach.

Die Zigeuner sind geborene Musiker. Auch im Floridsdorfer Lager gibt es Geigen in Hülle und Fülle. Sogar ein ganz kleiner Junge schon zupfte an seiner schwarz glänzenden Geige. Die Männer der Schar beschäftigen sich zum großen Teil eben mit Geigenbau und hoffen damit auch ihren Lebensunterhalt während ihres Aufenthaltes in Wien fristen zu können. Die Geigen, die sie besitzen, sind der einzige, der größte Reichtum ihrer Habe. Zigeuner werden übrigens nur in den seltensten Fällen reich, denn für den richtigen Durchschnittszigeuner hat Arbeit nur den Charakter einer Zufallsbeschäftigung, die solange geübt wird, bis die primitivsten Lebensbedürfnisse gestillt sind. Diese Bedürfnisse aber sind sehr gering . . . Ein seltsames Volk von Unrast und triebhafter Nomadenlust, die alle Versuche zur Seßhaftmachung seit Jahrhunderten negierte, muten diese Zigeuner wie Gäste aus einer anderen fernen exotischen Welt an . . ., wenn freilich auch die nicht gerade überragend interessante Umgebimg keinerlei indische Milieueindrücke zu erwecken vermag. Neues Wiener Journal vom 24. Oktober 1924, S. 12.

Lebhaft steht dem Schreiber dieser Zeilen noch das Bild Favoritens vor Augen, wie es sich zu Anfang der achziger Jahre darbot. An der Laxenburgerstraße 28 stand die große Bäckerei Cabek. Dahinter breitete sich die Cabekwiese aus, ein ideales Tummelfeld für ν uns Favoritner Jungen . . . Hinter der Cabekwiese erstreckten sich weithin Felder. Die Gegend des heutigen Erlachplatzes war eine tiefliegende Sandstättn, in der wiederholt Zigeuner ihre Zelte aufschlugen. Sie wurden von den Alten als Wahrsager aufgesucht, im übrigen wegen Eigentumsgefährlichkeit nicht gerne gesehen, von uns Jungen aber den ganzen Tag umlagert, da uns das abenteuerliche Zeltleben und das Abkochen im Freien mächtig imponierte. Favoriten. Ein Heimatbuch des 10. Wiener Gemeindebezirks. Wien 1928, S. 46 f.

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Zigeuner am Stadtrand

Zigeuner: Von der Romantik blieb nur die Musik -

Ein Besuch im Lager Aspem bei Wien - Neue Bauten und alte Sitten - Das „Volk" assimiliert sich - Sie machen den Behörden fast keine Schwierigkeiten Kein Zigeunerproblem mehr. Wenn man im 22. Bezirk in der Richtung des alten Flughafens Aspern fährt, dann bei dem Löwendenkmal - das an den Sieg über Napoleon erinnert - rechts abbiegt, kommt man bald auf den Kürbisweg, der als die „Hauptstraße" einer Zigeunersiedlung betrachtet werden kann. Wer sich unter „Zigeunersiedlung" einen Haufen von schäbigen Zelten oder aus Lehm

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Formen der Ansiedlung

„zusammengeklebten" Häuschen vorstellt, irrt sich gewaltig. Die Asperner Zigeunersiedlung besteht aus netten kleinen Familienhäusem, der Kürbisweg ist rein und von Zelten kann die Rede überhaupt nicht sein. In Österreich leben derzeit ungefähr 3.000 bis 4.000 Zigeuner, davon in Wien allein rund 1.500. Vor dem zweiten Weltkrieg waren es wesentlich mehr. Doch sind auch sie Rassenverfolgungen zum Opfer gefallen und wurden beinahe ausgerottet. Der Großteil der österreichischen Zigeuner wanderte aus den Oststaaten ein. Aus Ungarn, wo die Zigeuner ihrer Musik wegen so bekannt sind, kamen rund 500. In der allgemeinen Vorstellung leben sie als wandernde Gruppen, als Bettelmusikanten oder auch Rastelbinder und Siebmacher, die flink sind im Diebstahl und hie und da auch vor Kindesraub nicht zurückschrecken. Man stellt sich gern alte, buntgekleidete Weiber vor, die für ein paar Groschen wahrsagen und dabei einem die Geldbörse stehlen. Das alles ist nicht mehr ganz so. Gibt es also keine Zigeunerromantik mehr? Gewiß gibt es eine, aber nicht solch eine... Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt aus den verschiedensten Quellen. Vor allem aus der Wiedergutmachung wegen langjähriger KZ-Haft: Die Überlebenden erhalten von der Bundesrepublik lebenslängliche Renten. Dann spielen sie vielfach im Rahmen von Kapellen in Gaststätten. Als selbständige Gewerbetreibende beschäftigen sie sich mit Pferdehandel, oder sie arbeiten auch als Marktlieferanten, besonders mit Textilien. Das alles ist wenig romantisch. Motor besiegte Pferde In Wien sind viele Zigeunerfamilien motorisiert. Schon allein wegen der Motorisierung ist die alte Romantik, die einem farbenreichen Zigeunerlager mit Pferden und Zeltwagen vor die Augen malt, zerflossen. Sie mußte zerfließen. Aber ganz zerfloß sie doch nicht, sie ergab sich nur der Umwelt. Im Zimmer eines Familienhauses stehen moderne Möbel. Im Bücherschrank wurden wir auf reichlich gezierte Bücher aufmerksam, eine Serie, die den Titel trug: „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Bildern". In der Ecke stand ein Klavier und im Vorraum ein Aquarium. Dann kamen die Kinder. Viele, viele Kinder, kleine und große, gewaschene und ungewaschene. Sie luden uns zu einem improvisierten Konzert ein. Und bei diesem Konzert nahmen wir wahr, daß die alte Romantik, die im Blut der Zigeuner lebt, doch nicht gänzlich zerflossen ist: sie lebt weiter in der Musik oder, besser gesagt, in der Lust zum Musizieren . . . Starkes Stammesbewußtsein Ein starkes Stammesbewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl ist nicht nur innerhalb einer

Familie zu bemerken, sondern auch beim ganzen „Volk". Zigeunerehen werden nach eigenem Ritus geschlossen, aber auch vor dem Standesamt. Sie sprechen - neben der deutschen Muttersprache - eine eigene Zigeunersprache. Diese stammt höchstwahrscheinlich, wie das Volk, aus Indien. Jeder Zigeuner hat innerhalb seines Stammes einen Zigeunernamen, der jedoch mit seinem Familiennamen nicht identisch ist. Die in Österreich lebenden Zigeuner unternehmen oft Fahrten nach Deutschland, und die in Deutschland lebenden besuchen oft die österreichischen Verwandten. Als wir uns verabschiedeten, waren sie schon freundlich und eine Kinderschaar begleitete uns zum Wagen. Nicht aber so am Anfang. Sie empfingen uns mißtrauisch und unfreundlich. Bald erfuhren wir, warum. Vor kurzem - so erzählten sie - wurden sie „interviewt". Was dann über sie, ihre Sitten und Gebräuche geschrieben wurde, war ein grauenhaftes Märchen. Man soll von ihnen geschrieben haben, daß sie die eigenen Kinder aufessen, andere wieder rauben, mit einem Wort: sie seien Unmenschen. Wir versicherten ihnen, daß wir nur die Wahrheit über sie schreiben werden. Und die Wahrheit ist, daß sie den Behörden keine Schwierigkeiten bereiten; daß sie sich an die Umwelt anschließen und sich in der Umgebung langsam auflösen, assimilieren. Ein „Zigeunerproblem" existiert heute nicht mehr. Die „Zigeunerromantik" findet man - wenn man Lust dazu hat - in den Gasthäusern, wo gern und viel musiziert wird. Österreichische Tageszeitung vom 9. August 1959, S. 7.

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Das „böhmische Dorf"

In der billigen Wohngegend am damaligen Rande des 3. Bezirks, nicht allzuweit von den Tongruben und Ziegeleien entfernt, waren Mitte des 19. Jahrhunderts viele Tschechen anzutreffen. Auf höhere Weisung mußten in dieser Wohngegend Verlautbarungen auch in tschechischer Sprache durchgegeben werden. Wien, dieser Mikrokosmos von Oesterreich, ist zugleich ein Stück Heimat für den Böhmen. Die böhmische Sprache ist zu Wien im Ganzen genommen so allgemein, dass man sich bisweilen wie über Berge und Ströme versetzt glaubt, hinter welchen das Böhmerland liegt. Man gehe ζ. B. im Sommer, besonders Sonnabends, wenn die Wochenarbeit vollendet ist, auf den obem Rennweg, und man wird dort dieselben Persönlichkeiten, ohne Wamms und Tuch und mit gekreuzten Armen sich ihre kleinen und grossen Angelegenheiten erzählend antreffen, gerade wie man sie von Jugend auf in ihrer böhmischen Heimath zu sehen pflegte. Die junge Welt giebt sich hier ihr Rendez-vous unter freiem Himmel. Hie und da

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

findet man auch den kleinstädtischen Comfort einer Bank vor dem Hause. - Diesem Zipfel, welcher so treu den Typus der böhmischen Heimat bewahrt hat, haben die Wiener in der That den Beinamen „das böhmische Dorf" gegeben. Hier finden sich Wohnoder vielmehr Schlafhäuser für die böhmischen Arbeiter und Arbeiterinnen. Alle Tage gegen Abend ziehen sie in großem oder kleinem Schaaren unter lebendigem Gespräche in Dorf tracht, die allerdings augenscheinlich Spuren von Maurerarbeit an sich trägt, mit Körben oder Bündeln voll Spähne auf den obern Rennweg.

Verschwundene Ratzenstadlstiege. Magdalenenstrajie A. Stauda, 1900.

12. P'ioi

Josef Jirecek, Die cecho-slavische Bevölkerung in Wien, in: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft, Neue Folge, 2. Jahrgang (1854), S. 578f.

Das „Ratzenstadl" Das von Serben und Kroaten im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert bewohnte „Ratzenstadl" wurde 1962 abgerissen. Im Heimatmuseum Mariahilf befindet sich ein vollständiges Modell. Das Ratzenstadl um 1900.

Mariahilf. Das Wiener Heimatbuch, Wien 1965, S. 96.

Zitatencollage Die sogenannten Kräwätenstadel befanden sich in Wien meist am Stadtrand oder auf Brachland. Bexoohnt von Sloloaken, handelte es sich um besonders desolate Quartiere, die ansonsten kaum mehr Ertrag gebracht hätten. Ähnliche Behausungen wurden zur Endnutzung in der Hochphase der „Gast"arbeiterzuwanderung jugoslawischen und türkischen Arbeitern angeboten und vermietet.

Verschwundene Museum.

Giebelhäuser in der Kaunitzgasse.

Historisches

Für den Riesenbau des Arsenals, der im Ziegelrohbau errichtet wurde, waren allein mehr als hundert Millionen Ziegel nötig. Außer dem Bedarf an Ziegelarbeitern stieg die Nachfrage nach Bauarbeitern. Dies veranlaßte viele Slowaken, die aus dem Gebiet zwischen March- und Waagfluß stammten und die durch Verbauung ihre Hütten im 9. Bezirk (Gegend

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Formen der Ansiedlung

Lazarett- und Mariannengasse) verloren hatten, sich hier um Arbeit zu bewerben und anzusiedeln. Im Volke wurden sie Growoden genannt, daher hieß ihre Ansiedlung „Growodndeafl". Ein Teil der heutigen Gudrunstraße trug nach ihnen sogar den Namen Kroatengasse. Werner Schubert, Favoriten, Wien 1980, S. 37f.

Demolierung des Krowotenstadels in Margareten. Die Nikolsdorferstraße in Margareten, mit ihren uralten, ebenerdigen, bestens einstöckigen Häuschen, die unter moosbedeckten Schindeldächern stehen und noch von Petroleumlampen erhellt werden, wird bald nicht mehr zu erkennen sein. Der 15. des Monats wurde gleich für die Parteien dreier Häuser zum „Muß". Ein Bauunternehmer hat die drei Häuser Nr. 7, 9 und 11 aufgekauft und noch diese Woche wird mit der Demolierung begonnen werden. Von besonders interessanter Bauart ist das Haus Nr. 11, ein altes Fiakerhaus, wie überhaupt die Straße früher eine Fiakerkolonie war . . . In den letzten Jahrzehnten wurde aus der Fiakerkolonie eine Kolonie slowakischer Hausierer, daher die allgemeine Bezeichnung „Krowotenstadel".

pig und räumen nicht zusammen, das ist eben in ihnen so drinnen. Aber die Gemeinde möchte sie gern aus dem Haus hinaus haben, weil sie meint, daß das Dach zusammenbricht, oder was. Gastarbeiter. Wirtschaftsfaktor und soziale Herausforderung, Wien 1973, S. 48.

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Kräwätendöifel in der Josefstadt

Wien 8, Lerchenfelderstraße 98. Blick in den Hof. Um 1900.

Reichspost vom 17. Februar 1911, S. 6.

Zitat eines Polizeibeamten in Wien: So Bretterbuden, bei denen die Wand nur aus Brettern besteht, mit Fugen, wo man durchgreifen kann, das gibt es auch bei uns. Von so einem Quartier ist ein Teil jetzt abgebrannt, wie ich bei der letzten Streife gesehen habe. Aber im anderen Teil wohnen sie noch immer drinnen. Ich weiß, daß dort S 50,- im Monat bezahlt werden. Es ist wohl elektrisches Licht vorhanden, Klosett ist hinten in einer Grube. Gastarbeiter. Wirtschaftsfaktor und soziale Herausforderung, Wien 1973, S. 47.

Zitat aus einem Interview mit dem Vermieter eines alten Bauernhofes in Stadtrandlage: Seit einem halben Jahr habe ich sie. Es sind Jugoslawen, die hausen ja ganz primitiv. Es ist eine alte Hütte, hin machen können sie da nichts mehr. Wieviele? Ja, viele Leute sind es halt und viele Kinder haben sie mit. Zu viele Personen sind drinnen gewesen, weil in einem Zimmer auch fünf, sechs geschlafen haben. Es sind drei Familien, alles eine Verwandtschaft. Ja, verdienen tun sie gut. Die sind nur aufs gut Verdienen aus. In eine normale Wohnung läßt sie eh niemand hinein. Es ist so: In einem alten Haus, da brauchen sie nicht aufpassen, das ist für die Leute das Richtige. Eine neue Wohnung ist ja für sie nicht geeignet, weil sie nicht so aufpassen können. Sie sind nicht so kultiviert, wie hier die Leute. Sie sind schlam-

Bildquelle: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

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Der Mexikoplatz

„Ethnisches Gewürz Österreichs" Die Gegend um den Mexikoplatz „gibt" es eigentlich erst seit der Regulierung der Donau. Zuvor befanden sich hier dichte Auwälder, von kleineren Nebenarmen der Donau durchzogen, verwilderte Inselchen und versumpfte Tümpel. Als infolge der Donauregulierung von 1875 die Gebiete am rechten Ufer trokkengelegt und „urbanisiert" wurden, entstand hier die sogenannte „Donaustadt", eine Art Schuttabladeplatz für Architektur und Existenzen. In feuchten und dunklen Bassenawohnungen der rasch errichteten Zinskasemen fanden hier Zuwanderer aus Böhmen, Mähren, Galizien und Rumänien eine erste, verhältnismäßig billige Behausung in Wien; zur Arbeit mußten sie - wenn sie welche bekamen - oft nicht allzuweit gehen: In der unmittelbaren Nachbarschaft entlang des Handelskais entstanden Industrieanlagen, Speicher und Warenumschlagplätze. Vor allem aber so ziemlich alles an Produktionsstätten, was stank und rauchte: Lederfabriken, Färbereien, Margarine- und Kerzenfabriken sowie eine Brauerei. Außerdem blühte, bedingt besonders durch die Anlegestellen der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft,

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

pich. Auf ästhetisch Unbedarfte warten beschränkt formschöne, dafür aber ultrabunte venezianische Plastikgondeln, die um 160,- Schilling (Firma Topas) oder auch um 150,- Schilling (Firma Rosenberg) zu haben sind. Für das leibliche Wohl sorgen Schokoladenriegel, deren nie zuvor gesehene Marke auf einen ähnlich exotischen Herkuftsort schließen läßt, dem auch der in Kilosäcken zum Verkauf angebotene Kaffee entstammen dürfte. Einem anderen sinnlichleiblichen Wohl männlicher Kauflustiger serbokroatischer Zunge dienen Musikcassetten, auf denen eine nackte Akkordeonspielerin „Narodni seks urnebes" anpreist. Und sollte dem glücklichen Kunden darob die Hose zu eng werden, so braucht er laut „Rasprodaja" nur 50 „Silig" lockerzumachen, um eine „Muske pantalone" zu erstehen. Eine Hose um 50,Schilling, das gibt es (außer am Rohmarkt) sonst nirgendwo in Wien. Selbst in der Mexikoplatz-Filiale von „Schöps", einer Kleiderladenkette der Billigpreiskategorie, muß man mit dem vierfachen Preis rechnen. Überhaupt wirkt der Schöps, sonst immer eine Nuance schlichter, kleinbürgerlicher als seine Konkurrenten in den Einkaufsvierteln, vor dem Hintergrund der Basarläden wie ein Haut-Couture-Salon, wie ein Popper in der Samstag-Nacht-Schale, umringt von einer Gruppe Punks. Auch der Devotionalienhandel blüht. Zur Ausschmückung katholischer Hausaltäre dienen Madonnenstatuen in Flaschenform (um Weihwasser aus Tschenstochau aufzubewahren), oder Papst-Wojtilaaber auch durch zwei in der Nähe befindliche Groß- Portraits hinter Plexiglas; Andersgläubige können kasernen und die Nachbarschaft zum Vergnügungs- Josip Broz Tito im schmuck verschnörkelten Kunstviertel Prater, der Handel mit Waren und Dienstlei- stoffrahmen erstehen. stungen aller Art. Warum der Mexikoplatz trotz des eher schäbigen Diese Tradition hat sich ungebrochen bis heute er- und beschränkt anmutenden Warenangebots ein so halten. Dabei befindet sich der „Markt" für außerge- beliebtes Einkaufszentrum ist, hat nicht zuletzt mit den hier einmaligen Serviceleistungen der Händler wöhnliche Dienstleistungen, v o m preiswerten Geschlechtsverkehr mit älteren Damen oder jüngeren zu tun. Die Öffnungszeiten werden - sehr zum Ärger Herren bis zum freiverfügbaren Kleinkriminellen, des Marktamts - sehr flexibel gehandhabt und der etwa um einige „Blaue" (1.000-Schilling-Noten) richten sich nach der Ankunftszeit der Donauschiffe. bereit ist, einer Schauspielerin die Nase einzuschla- Selbst nach 20 Uhr findet man hier noch offene Läden gen, mehr in Richtung Stadt- und Praternähe. Zum und durch die Hintertür wird auch noch viel länger Zentrum des Handels mit „Waren aller Art" - auch so manches Geschäft möglich. An mancher Ladentür gerade solcher Art, daß man oft nur staunen kann, findet sich darüber hinaus ein Zettelchen: „Nach daß sich auch hiefür ein Käufer findet - hat sich aller- 19 Uhr 30 rufe Tel 26 . . .". Hier werden Rubel, dings der Mexikoplatz gemausert. Genauer gesagt ist Kronen, Lei, Zloty oder Forint akzeptiert wie in der er die Börse des „kleinen" Ost-West-Handels, ein Heimat der Kunden, bisweilen gerät der Handel auch Comecon-sumladen, in dem ein Ostemigrant als Ver- zum Warentausch, wenn Kameras, Vodka, östliche käufer an ungarische, rumänische oder russische Lizenzprodukte westlicher Zigaretten oder Salami in Westtouristen die Billig- und Surrogatvariante Zahlung genommen werden. Während lästige Rechdessen verdreht, was der Käufer für kapitalistisches nungen nicht nötig sind, sind Auftragsbestellungen und Paketsendungen nach Hause durchaus möglich. Luxusgut hält oder daheim einfach nicht bekommt. So kann man hier eine Eloxal-Digitaluhr um müde Sehr belebend und erleichternd auf den Warenum75,- Schilling ebenso erstehen wie Kunstlederjacken satz wirkt auch, daß der Handel in der Mutterspraum 200,-. Die Vinylversion eines Ozelotmantels wird che abgewickelt werden kann: Am Mexikoplatz ist ebenso feilgeboten wie ein sinnigerweise vor dem man slawisch polyglott. Taj-Mahal röhrender Hirsch als Plüsch-WandtepDenn die Händler stammen meist aus denselben

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Formen der Ansiedlung Ländern wie ihre Kunden. Die „ältere" Generation (wie die spätere vorwiegend jüdischer Konfession), durch Faschismus und Weltkrieg exiliert, 1945 aus Polen und der CSSR, 1956 aus Ungarn geflohen, hatte sich hier eine Existenz aufgebaut, die zumindest einen gewissen Kontakt zu ihrer Exheimat bewahrte. Hier fand und findet man Namen wie Menachem Melzer, Tobiasz Silberszac, Feig und Alaw. Im Laufe der letzten Jahre geriet der Mexikoplatz und die Lassallestraße aber fest in „russische" Hand. Die Namen über den Shops schnell hintereinander gelesen erinnern an einen Abzählreim: Koziachvüi, Tzachavashvili, Levishvili, Sosiashvili, Zonemasvili, Cicvasvili, Sepiasvili, Modsgwrishvili. Diese Georgier und Armenier haben sich, nachdem sie zuerst Ostwaren an „Westler", dann Westwaren an „Ostler" verschacherten, hier als marktbeherrschend etabliert. Und wahrscheinlich sind sie in einigen Jahrzehnten genauso echte Wiener wie die Besitzer der wenigen alteingesessenen österreichischen Geschäfte, die etwa Kubisko oder Perdula heißen. Oder wie Leo Palinkiewicz, der als Obmann des „Vereins der österreichischen Pensionisten der DDSG" vom in der Nähe des Mexikoplatzes gelegenen Gasthof Taudes aus Ausflüge und Betriebsbesichtigungen organisiert. Und so gem man über den Mexikoplatz witzeln und stänkern kann, er ist mehr als ein Umschlagplatz für skurrilen Ramsch und tristen Konsumkitsch. Er war und ist allen Fremdenhassern und Faschisten zum Trotz Behälter für jenes wichtige ethnische Gewürz, ohne das die Mischung „Österreicher" nicht vorstellbar wäre. (Hier hießen ja selbst die Nazi Globocnik, Skorzeny und Borodajkewicz). Er ist eine der ruhigsten Gegenden im 2. Bezirk, hier randalieren kaum Besoffene, hier gibt es verhältnismäßig wenig Messerstechereien. Schließlich ist und bleibt er ein ziemlich preiswertes Einkaufszentrum. Und gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession schauen nicht nur russische Matrosen, rumänische Touristen oder jugoslawische Gastarbeiter, sondern auch der „deutsche" Eisenbahner aus dem Gemeindebau in der Wehlistraße oder die Autoren dieser Zeilen gerne einmal am Mexikoplatz vorbei, um vielleicht günstig ein Paar „muske pantalone" zu erstehen. Der Mexikoplatz: Der kleine Ost-West-Handel, in: Wien wirklich. Ein Stadtführer durch den Alltag und seine Geschichte, Wien 1983, S. 88-90.

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Das böhmische Ägypten

Im Süden Wiens lebten bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts Tausende böhmische, mährische und slowakische Arbeiter in der unmittelbaren Nähe der Tongruben und Ziegelbrennereien.

Tritt man südlich zur Stadt hinaus, so bemerkt man daselbst eine Reihe riesiger Ziegeleien. Es ist dieses Miesbachs Inzersdorf - das böhmische Egypten. Wie einst die Israeliten Ziegel für die Faraonen brannten, so brennen hier die Böhmen Ziegel für die Bauten in Wien. Im Sommer arbeiten in Inzersdorf an sechstausend männlicher und weiblicher Arbeiter; im Winter kehrt die eine Hälfte zur Heimat zurück, die andere bleibt aber in Wien. Bei jedem Ziegelofen findet sich neben den Lehmgruben und Werkstätten ein grosses Gebäude mit zwei Lokalen, die durch eine kleine Flur mit einem grossen Heerd von einander geschieden sind. Zu beiden Seiten des Gebäudes gehen hölzerne, von aussen angesetzte Treppen zur Erde. Dort befinden sich die Logis für die Arbeiter. Gewöhnlich wohnen einige Familien in einem Lokal. Die Stätte einer jeden Familie ist durch eine Latte und einen Tisch begränzt. Die Wohnungen der Aufseher zeichnen sich durch grössere Reinlichkeit und Sauberkeit aus. Josef Jireüek, Die &cho-slavische Bevölkerung in Wien, in: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft, Neue Folge 2. Jahrgang (1854), S. 5.

Bildquelle: Wienerberger Ziegelfabriks- und Bau-Gesellschaft. Zweite Folge, Wien 1903, S. 49.

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Elende Arbeiterquartiere

In der Kaiserzeit wohnten die Saisonarbeiter fast immer in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes; entweder hatten sie für ihre Unterkünfte selbst zu sorgen, oder der Unternehmer stellte für die begrenzte Dauer des Aufenthalts in Wien das Quartier. Die k. k. Gewerbeinspektoren bezeichneten die Unterbringung meist als katastrophal, da der Arbeitgeber für diese möglichst wenig investiere. Ein trauriges Bild der überaus mangelhaften Vorsorge von Seite der Bauunternehmung lieferten die Unterstandsorte der Arbeiter bei der Donauregulierung, indem sie Anfangs meist in Erdhütten, später in sehr

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

primitiven Baraken zusammengepfercht ihre Unterkunft fanden. Deshalb herrschte auch dort der Typhus epidemisch und forderte zahlreiche Opfer. Mit größter Energie mußte diesen Uebelständen ein Ende gemacht werden, da durch sie auch die Bewohnerschaft der anliegenden, in sanitärer Beziehung ohnehin schlecht bestellten Häuser arg bedroht erschien. Noch größer wurde die Aufgabe, als die Vorbereitungen zur Weltausstellung eine zahlreiche Menge von Arbeitern nach Wien brachten, die bei dem Umstände, als auch hier für eine entsprechende Bequartierung der Zugewanderten nicht gesorgt war, sich in Keller, Dachböden, Ställe, Schupfen u. s. w. drängten und um so bereitwilliger Aufnahme fanden, als auf solche Weise hohe Mietherträgnisse für Ubikazionen erzielt wurden, die früher nahezu keine Rente abwarfen, ein Vorgang, welcher fort und fort zur Nachahmung und sonach zur Vergrößerung der geschilderten Uebelstände aufforderte. Die Gemeinde-Verwaltung der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1871 bis 1873, Wien 1874, S. 553.

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Die italienischen Arbeiter in Wien

dieser „Ansässigkeit" keinen zu hohen Begriff machen darf, da man bei dem erdarbeitenden Italiener mehr von einem „Nisten", als von einem eigentlichen „Wohnen" reden kann. Derzeit findet man diese fleißigen sparsamen Leuten in der Brigittenau, in Erdberg und am Währinger Spitz bei der Arbeit. Das Volk ist von einer Anspruchslosigkeit, die allein es erklärlich macht, daß sie fast den ganzen Verdienst ersparen, und doch arbeiten sie so billig, daß sie jeden Mitconcurrenten ausstechen. Sie lassen, wenn sie von Hause ausziehen, Weib und Kind zurück, ihre Briefe lassen sie alle poste restante adressiren und truppweise gehen sie auch zur Post, ihre Briefe zu holen. Ihre Ersparnisse verwahrt immer ein Vertrauensmann, den jede Gruppe aus ihrer Mitte wählt. Dort, wo sie für längere Zeit Arbeit gefunden, erbauen sie Baracken, wo sie abgeschieden von der übrigen Welt hausen. Die vorstehende Zeichnung gibt ein BUd von der italienischen Colonie, wie sie in der Brigittenau, wo eben ein großer Damm angelegt wird, eingerichtet hat. Wir sehen da ihr Fuhrwerk, ihre Baracke und einen Original-Italiener; im unteren Theile des Bildes ist ein beliebtes Sonntagsvergnügen der Italiener veranschaulicht. Sie spielen um eine Kleinigkeit Lotterie, und zwar mit zwei Karten: der Gewinner aller Einsätze muß die Anzahl Augen der Karten errathen. Es ist das sogenannte „Mora"-Spiel. Das letzte Eckbildchen zeigt die gemeinsame Schlafkammer. Illustriertes Wiener Extrablatt vom 23. März 1881, S. 1.

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Die Italiener als Arbeiter sind in unserem Oesterreich im Kleinen das, was die Chinesen im großen Stile in Nordamerika bedeuten, wo sie in Massen einwandern und durch ihre Billigkeit alle Arbeiten an sich reißen. In Nordamerika ist daraus eine gewichtige „chinesische Frage" geworden. Die Verhältnisse in unserem Vaterlande sind im Vergleiche mit den amerikanischen viel zu klein, um hier bei uns eine gleichgeartete „Italiener-Frage" zu erzeugen. Auch cultiviren die hereinwandernden Italiener nur eine einzige Specialität der Arbeit, und zwar: Die Erdarbeiten. In Wien, wo es in Erdbewegungen immer was zu thun gibt, hat sich förmlich eine solche italienische Colonie ansässig gemacht, wobei man sich indeß von

Gewerbeinspektoratsbericht aus dem Jahr 1894

In diesem Falle handelte es sich allerdings nur um die, im Vorstehenden bereits erwähnte, vorübergehende Unterbringung eines Theiles einer eben aus Galizien eingetroffenen Arbeiterpartie, bis dieselben in der Umgegend des Bauplatzes Unterkünfte gefunden, indem die Unternehmung an 19 Arbeiter dieser Partie bis dahin den Dachboden eines alten hölzernen Schupfens, der als Cementmagazin benützt wurde, als Schlafraum überlassen hatte, welcher, nur mittels einer Leiter zugänglich, als einzige Schlafeinrichtung eine Strohschüttung aufwies. Diese Unterkunft erschien mir trotz ihrer unentgeltlichen Beistellung und ihres provisorischen Charakters denn doch zu feuergefährlich und primitiv; über meine Beanständung wurden bereits am folgenden Tage andere Unterkünfte für diese Arbeiter ausfindig gemacht und von den letzteren bezogen. Die im Vorstehenden geschilderten Wahrnehmungen legten es mir nahe, auch nach den Schlafstellen der übrigen Mitglieder der erwähnten Arbeiterpartie zu forschen und fand ich, dass circa 20 derselben ihr Nachtlager in einem

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Formen der Ansiedlung

alten, gänzlich verwahrlosten hölzernen Stallbaue aufgeschlagen hatten, welcher ihnen von einem Gastwirte, bei dem sie sich verköstigten, angeblich ohne Entgelt überlassen wurde; der fensterlose Raum war niedrig und beschränkt im Ausmaße und der ungedielte Boden nur mit einer schmutzigen, zertretenen Strohschüttung bedeckt. Ich erstattete unverzüglich die Anzeige über diese Unterkünfte an das zuständige magistratische Bezirksamt, welches die sofortige Räumung derselben verfügte. Bericht der k. k, Gewerbe-Inspektoren im Jahre 1894, Wien 1895, S. 411.

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über ihre Amtsthätigkeit

Gewerbeinspektoratsbericht aus dem Jahr 1901

Die beim Bau des Winterhafens in Verwendimg gestandenen Erdhütten, deren im Jahresberichte pro 1899 Erwähnung geschah, sind über wiederholtes Andrängen der Behörden beseitigt und durch geeignete Wohnbaracken ersetzt worden. Der beabsichtigte Zweck wurde jedoch nur theilweise erreicht, da die Arbeiterschaft an eine auffallend niedrige Lebenshaltung gewohnt ist. So ist es erklärlich, dass trotz der dargebotenen Unterkünfte an schwer zugänglichen Stellen in den Auen neue zahlreiche Erdhütten entstanden sind und dass deren Bewohner für die Benützung derselben sogar zahlen wollten. Das Festhalten an den heimatlichen Lebensgewohnheiten war bei den Arbeitern und deren Familien so stark, dass Viele während der heißen Sommerszeit nicht in den Barakken, sondern im Freien nächtigten und dass Manche die Arbeit lieber verließen, als dass sie die Baracken bewohnten. Bericht der k. k. Gewerbe-Inspektoren im Jahre 1901, Wien 1902, S. 22.

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und es nicht mehr loslassen. Diese zudringlichen Händler sollen demnächst entfernt werden, nachdem hier ein Christen-Ghetto angelegt wird. Unweit davon die

über ihre Amtsthätigkeit

Überall Juden und Tschechen

Eine paranoide Sichtweise: überall Juden und Tschechen. In der aufgeheizten Atmosphäre des Wirtschafts- und Zuwandererbooms derfrühen siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts vermeinte mancher Betrachter an fast allen Ecken und Enden der Stadt jüdische Schmarotzer und tschechische Aufsteiger zu sehen: in der Taborstraße, auf dem Ring und sogar im Wienerwald, wie einige Beispiele aus einem „humoristischen" Stadtführer zeigen. In den hohen Markt mündet die Judengasse, die in früherer Zeit - als noch nicht ganz Wien ein großes Ghetto war - mit den umliegenden Gassen das eigentliche „Judenviertel" bildete. Gefährlich ist es mit einem Plaid oder Ueberzieher über dem Arm durch diese Gasse zu gehen, da gleich ein Dutzend angehende Rothberger über das Kleidungsstück herfallen,

Sterngasse, eine Sackgasse, die in das Polizeihaus, auch „Hotel Stern" genannt, mündet, durch welches man am schnellsten nach Stein und Neudorf gelangt. - Oestlich in der Seitenstättengasse befindet sich die Hauptsynagoge der Israeliten, welche in Wien blos 18 stabile Tempel besitzen. Da diese geringe Zahl nicht ausreicht, so werden an Festtagen die hervorragendsten Tempel der Venus Vulgivaga („Sperl", „Walhalla" etc.) in Bethäuser umgewandelt. - Zwischen Hohenmarkt und Graben laufen die Tuchlauben mit dem Strampfer-Theater, ein zweifüßiges Affentheater, worin fast nur Parodien von Sensationsstücken anderer Bühnen aufgeführt werden. Daneben das Schönbrunnerhaus, worin der Oesterr. Kunstverein seine Ausstellungen abhält, die sehr besucht sind, wenn ein pikantes Bild von Makart oder eine Venus Anadyomene zu sehen ist. Rundgang über die Ringstraße.

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

Die Ringstraße - die Zionstraße von Neu-Jerusalem - ist heute die prachtvollste Straße der Kaiserstadt. Die Paläste, welche dieselbe schmücken, sind fast durchgehends Eigenthum von Millionären des „auserwählten Volkes"; blos einige wenige sind im Besitze von christlichen Eindringlingen, die man aber auch einen nach dem andern zu vertreiben sucht. Die Ringstraße ist durchaus - ausgenommen wo sie abgestorben sind - mit Göfferbäumen bepflanzt, die darum so heißen, weil sie rastlos himmelwärts streben und meistens nach kurzem irdischen Dasein in ein besseres Jenseits eingehen. Die Ringstraße vom Burg- bis zum Kolowrat-Ring enthält, außer dem neuen Opernhaus, kein einziges öffentliches monumentales Gebäude, da man die Prachtbauten (Musikvereinsgebäude, Akademisches Gymnasium etc.) absichtlich in Seitengassen anlegte, um die Ringstraßenplätze möglichst theuer für einförmige Zinskasemen (siehe Palais Königswarter) zu verwerthen. Taborstraße hat ihren Namen von den vielen czechischen Lehrjungen, die meistens über Tabor hieherreisen, wo sie blosfüßig ankommen, später Meister und Hausherren werden, und dann unsinnig schimpfen, „af zätracene Deitsche, was untedruckens arme Bern". - Links von dieser Straße liegt der größte Garten Wiens, der Augarten mit der von Kaiser Josef II. verfaßten Auf-

schrift: „Allen Menschen gewidmeter Belustigungsort von ihrem Schätzer." Man sieht aber auch viele Bureaukraten und Jesuiten darin herumgehen. - Die nahe Brigittenau, einst eine vielbesuchte Au, jetzt die elendreichste Vorstadt Wiens, hat nichts als zwei Erinnerungen aufzuweisen; eine lustige: der ehemalige Brigittenkirchtag, und eine traurige: die standrechtliche Pulver-und-Blei-Begnadigung Robert Blum's die hier vollzogen ward. - Rechts von der Ferdinandsbrücke führt die . . . . . . großartigste Vergnügungslokal Wien's, wo man Demimonde, Spießbürgerthum, Börsenjobber und Sozialdemokraten bunt durcheinander gemischt findet. - Nördlich von Rudolfsheim und Fünfhaus liegt Lerchenfeld - eine Stadt aus Wirthshäusern dann Hernais und Weinhaus, wohin die Verehrer des „Heurigen (Wein vom letzten Jahr) pilgern. Der Fremde hat hier die Wahl, ob er in Weigel's „Palffygarten" den „höchsten Heurigen" aufsuchen, oder beim Gschwandtner oder Mandel sich durchprügeln oder beim Stadellehner sich hinauswerfen lassen will. „Gemüthlich" ist's überall, wo „Heuriger" geschenkt wird, wenn auch nicht so gut, gewiß so theuer als in der Stadt. Die Umgebungen von Wien, namentlich im Süden und Westen, sind reich an Naturschönheiten, deren Poesie jedoch durch zahlreiche Eisenbahnen und Judenüberschwemmungen fast noch mehr als durch die (nun glücklich gehemmte) Devastirung des Wiener Waldes gelitten hat. - Sehr sehenswerth ist das k. k. Lustschloß . . . F. F. Masaidek, Wien und die Wiener aus der Spottvogelperspektive. Sehens-, Merk- und Nichtswürdigkeiten, Wien 1873, S. 21, 30, 46, 68.

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet

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3.2. Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet Um einen umfassenden Eindruck von den Ursachen und den Bedingungen für die räumliche Verteilung der bedeutendsten Minderheiten im Wiener Stadtgebiet zu erhalten, ist die bezirksweise Betrachtung erforderlich. Nur dadurch werden die Wertungen ersichtlich, die bei der Raumbenutzung für die jeweilige Minderheit bestimmend gewesen sind, denn die Bezirke stellen - von der Bevölkerung einheitlich so empfunden - das zentrale Ordnungsprinzip in Wien dar und weisen darin jeweils bestimmte Charakteristika auf.7 Die entscheidenden Schritte in der Stadtentwicklung Wiens waren die erste und die zweiteStadterweiterung der franzisko-josephinischen Ära. Die erste fand nach 1858 statt, dem Jahr der Schleifung der alten Befestigungsanlagen. Die Entwicklungsperspektiven, die diese Maßnahme bot, inspirierte damals zum Plan der Teilung Wiens in Nationalitätenviertel, zu einem nationalitätenintegrationistischen Konzept, das von den maßgeblichen Stellen wenig beachtet wurde (Quelle 180). Die zweite Stadterweiterung fiel in die Jahre nach 1890, den Zeitpunkt der Eingemeindung von insgesamt 44 Vororten, den späteren Bezirken 10 bis 19. Die Stadt entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in peripherer Richtung: Das Wohngebiet der Oberschichten dehnte sich vom traditionell besiedelten Bezirk Innere Stadt in die Ringstraßenzone aus. Bedingt durch die Zunahme mittelständischer Schichten erfuhren die ehemaligen Vorstädte (2. bis 9. Bezirk) eine Aufwertung. Die Taglöhner- und Arbeitersiedlungen wurden aus dem Vorstadtraum in den ehemaligen Vorortebereich abgedrängt (in den 10. bis 19. Bezirk sowie 20. Bezirk, als proletarisch besiedelter ehemaliger Teil des 2. Bezirks, und 21. Bezirk, bis 1904 die eigenständige Gemeinde Floridsdorf). Damit entstand ein Gürtel von Arbeiterbezirken mit Kleinwohnungen. Gegenüber dieser Vorherrschaft des zonalen Bauprinzips gab es nur einzelne Ausnahmen, so die ehemaligen Weinhauerorte Währing und Döbling, die bei der Kaiserresidenz Schönbrunn gelegenen Orte Hietzing und Ober St. Veit, wo sich noble Cottage- und Villenviertel befanden. Nach der Ansicht des österreichischen Stadtforschers Richard Gisser war bereits gegen Ende der Monarchie das heutige Segregationsmuster der Sozialschichten voll ausgebildet, und es wurde seitdem mittels Zinsstop und Mieterschutz weitgehend konserviert. Die Neubautätigkeit paßte sich an das bereits bestehende Muster an. So ist die Verteilung der sozialen Schichten im Stadtgebiet seither im wesentlichen von Kontinuität gekennzeichnet.®

Die große Zahl der Zuwanderer beeinflußte im Lauf der Zeit das soziale Gepräge bestimmter Bezirke. Von Relevanz und statistisch einigermaßen gut erfaßbar sind die tschechische und die jüdische Zuwanderung sowie die Migration der Gegenwart. Die bezirksweise Verteilung der im Jahre 1910 cirka 150.000 ungarischen Staatsangehörigen wurde nicht erhoben.

3.2.1. Die tschechische Minderheit Eine spezifische Problemlage führt zu erheblichen Schwierigkeiten, die reale Verteilung dieser Bevölkerungsgruppe über die Stadtbezirke festzumachen. So ergeben sich Ungenauigkeiten und Unterschiede zwischen den beiden existierenden Datengruppen, die sich einerseits ein den Umgangssprachenerhebungen andererseits an der Herkunftserhebung der Bevölkerung orientieren.9 Aus der Zeit vor 1880 stehen nur spärliche Daten zur Verfügung. Diese deuten auf eine größere Konzentration tschechischsprachiger Zuwanderer im südlichen Teil Wiens hin, vor allem im Räume Favoriten, wo sich die großen Tongruben und Ziegelbrennereien befanden, die für die anstrengende, aber einfache Arbeit traditionell Arbeiter aus Böhmen, Mähren und der Slowakei beschäftigten. Tschechen und Slowaken wohnten ferner bevorzugt in Zwischenbrücken und Brigittenau, den proletarischen Teilen der Leopoldstadt, jenes Bezirks, in den die Hauptzuzugsstraße aus Böhmen und Mähren mündete; daran erinnert heute noch der Name der Taborstraße (Quellen 181, 182). 1880 wurde erstmals die Umgangssprache erhoben. Wenn auch diese Angaben äußerst problematisch sind und sich die Daten hinsichtlich der Umgangssprache bzw. der Herkunftsprovinz der Bevölkerung deutlich unterscheiden (Quelle 183), so ist doch für beide Datenformen charakteristisch, daß sie hinsichtlich der stärksten Konzentrationen übereinstimmen; sowohl nach der Umgangssprache als auch nach der Herkunft, relativ und absolut, lebten die meisten Tschechen im 10., sodann im 2. Bezirk. Auch nach 1890, dem Jahr der Eingemeindung von mehr als 40 Vororten, änderte sich nichts an der Konzentration der Tschechen im 10. sowie im 2. Bezirk bzw., nach der Abtrennung des rein proletarischen Teils Brigittenau, im 20. Bezirk. Von 1890 bis 1910 war der Anteil der Bevölkerung, der sich bei den Volkszählungen zur tschechischen oder slowakischen Umgangssprache bekannte, in diesen Bezir-

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

ken kontinuierlich am höchsten. Größere Anteile wurden auch in den westlichen Außenbezirken Ottakring und Hernais - hier befand sich ein Ziegelwerk - registriert (Quelle 184). Die Segregation der Tschechen in den Stadtbezirken sah ähnlich aus, 1900 lebte etwa ein Viertel in Favoriten, 12 Prozent in Brigittenau und Leopoldstadt, 11 Prozent in Ottakring; ungefähr ein Viertel der tschechischsprachigen Bevölkerung Wiens wohnte in den inneren Bezirken, wobei die weibliche Bevölkerung die Mehrheit stellte. An dieser Verteilung wird deutlich, daß sich die tschechischen Zuwanderer an die funktionelle Differenzierung der Stadtteile angepaßt haben: Die zu einem hohen Anteil in Industrie und Gewerbe unselbständig beschäftigten Zuwanderer siedelten sich in erster Linie in den Industrie- und Arbeiterbezirken 10, 16 und 20 an; ein großer Teil der weiblichen Zuwanderer lebte in den inneren Oberschicht- und Mittelstandsbezirken, dem Arbeitsort der Dienstmädchen, böhmischen Köchinnen und tschechischen Ammen; im periphären Nobelbezirk Döbling wohnte eine relativ kleine Gruppe Tschechen, die sich in diesem Zeitraum weder nennenswert verkleinert noch vergrößert hat. Die Historikerin Monika Glettler konnte deshalb zur Siedlungsweise der Wiener Tschechen resümieren: „Es ist auffallend, daß die sozialen und wirtschaftlichen Merkmale der Bezirke auf die tschechischen Gesellschaftsschichten geradezu kumulative Wirkung ausgeübt haben, die zu einer schärfer werdenden Ausprägung der (sozialen) Eigenart der Stadtteile beitrug."10 Diese generelle Einschätzung wird durch das räumliche Verteilungsmuster einzelner Berufssparten bestätigt, das der üblichen sozialen Verteilung in Wien entsprach; ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Untersuchung der sozialen und bezirksmäßigen Herkunft der Besucher der tschechischen privaten Komensky-Schulen (Quellen 185, 186). Die tschechische Bevölkerung, Bürgertum, Mittelstand und Arbeiterschaft, lebte in Wien vorwiegend in unterschiedlichen Stadt- oder Bezirksteilen und nicht gemeinsam in national geschlossenen Ansiedlungen. Das heißt, daß in Wien kleinere oder mittlere Konzentrationen auf der Basis der ähnlichen sozialen Lage und der Situierung von Arbeitsstätten entstanden. Diese sozial bestimmten ethnischen Ballungen wurden zu einem gewissen Grad durch eine damals in Proletarierkreisen übliche Praxis gefördert: dem Untermieter- und Bettgeherwesen. Tschechischsprachige Zuwanderer, meist Einzelpersonen, suchten und fanden sehr oft Bett- oder Schlafstellen bei tschechischen Familien, die auf das sogenannte „Bettgeld" angewiesen waren, um die hohen Mieten bezahlen zu können. Dies führte zu einer höheren „Konzentration" in den Wohnungen und damit also zu einer vergleichsweise höheren Wohndichte in den tschechischen Unterschichtenhaushalten, die sich

dann statistisch in den Werten zur relativen Konzentration der Tschechen in den Bezirken niederschlug. Dennoch, die Gruppe der tschechischen Zuwanderer war im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung offensichtlich sozial nicht homogen genug, um zu einer größeren national geschlossenen Konzentration zu führen. Daher konnte ein eigenes, größeres Tschechenviertel nicht entstehen. 11 Die Umgangssprachenerhebungen in der Monarchie erfaßten freilich nur einen Teil der Tschechen in Wien; ihre Zahl war sicherlich höher als von den Behörden ermittelt. Damit ist auch der Bevölkerungsanteil der Minderheit in den Bezirken höher anzusetzen. Nach seriösen Berechnungen wurde 1910 nur cirka die Hälfte der Tschechen erfaßt, doch läßt sich dieser Zahlenschlüssel nicht einfach auf Bezirksebene anwenden. Beim Vergleich der Daten von Herkunfts- und Umgangssprachenerhebungen in den einzelnen Bezirken wird deutlich, daß in den Bezirken mit hohem Tschechenanteil - es waren vorwiegend die Arbeiterbezirke 1 0 , 1 6 und 20 - die beiden Daten am ehesten übereinstimmen, in den bürgerlichen Bezirken am stärksten differieren. Begreift man die Diskrepanz der Herkunfts- und Umgangssprachenangaben als einen Maßstab der Assimilation, so zeigt sich daran, daß größere Ballungen einer Minderheit wie in den Arbeiterbezirken Favoriten, Ottakring und Brigittenau eher assimilationshemmend wirkten. In von Mittel- und Oberschicht dominierten Bezirken war dies offenkundig weniger der Fall, weshalb hier Herkunfts- und Umgangssprachenerhebungen wesentlich stärker differierten als in den Außenbezirken. Dazu kommt noch - analog dem Ausspruch eines betagten Wiener Tschechen „Wer was werden hat wollen, hat müssen Deutsch reden", 12 daß die Geschäftsleute, Mittelstandsangehörigen, Aufsteiger, aber auch die Dienstboten in den bürgerlichen Bezirken einem stärkeren Anpassungsdruck ausgesetzt waren (Quelle 187). Nach dem Ersten Weltkrieg reduzierte sich die Zahl der Tschechen durch große Rückwanderungswellen sowie durch Assimilation. Im Zuge des Entwicklungsprozesses von der Zuwanderergruppe zur autochthonen Minderheit waren 1919 mehr als 100.000, 1923 cirka 81.000, 1934 cirka 40.000 und 1939, als die Nationalsozialisten anstelle der Umgangssprache nach der Muttersprache fragten, ungefähr 60.000 Tschechen und Slowaken registriert worden. An den generellen Siedlungsprioritäten der Minderheit hatte sich in der Zwischenkriegszeit wenig geändert. In Favoriten, Brigittenau und Ottakring lebten nach wie vor rund 4 0 Prozent der Tschechen. Ebenso wie um 1900 wohnten auch 1939 ungefähr 60 Prozent der Minderheit in den Industrie- und Proletarierbezirken jenseits des Gürtels sowie in Brigittenau. Dies kann als Indiz dafür angesehen werden, daß dem Großteil dieser Generation der Minderheit ein sozialer Aufstieg nicht geglückt ist bzw., daß

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet Nicht-Assimilation und sozialer Aufstieg sich damals in Wien kaum vereinbaren ließen (Quelle 188). Die Rückwanderung in die Tschechoslowakei nach 1945, das allmähliche Aussterben der tragenden Zuwanderergeneration, weitere Assimilation sowie die Feindschaft zwischen den Alttschechen und den tschechischen Emigrantengenerationen (1948,1968) führten in der Folge zu einer uneinheitlichen, innerlich zerrissenen, kleinen Minderheit. In der neuesten Volkszählung von 1981 ist die Minderheit überhaupt nur mehr mit 4.932 Personen verzeichnet, was schon alleine etwa der Zahl der nach 1968 eingebürgerten ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger in Wien entspräche. Auch die Segregation der Minderheit ist stark verändert, lediglich 2 0 Prozent der „Volkszählungstschechen" leben in den traditionellen Wohngegenden des 10., 16. und 20. Bezirks, der Rest stark gestreut im Stadtgebiet (Quelle 189). Zu diesen großen Verschiebungen hinsichtlich der absoluten sowie der relativen Segregation keim es im Zuge der starken Reduktion der Minderheit; die Abnahme der Zahl der Wiener Tschechen und Slowaken sowie deren zunehmende Streuung im Stadtgebiet verliefen parallel.

3.2.2. Die jüdische Minderheit Das Siedlungsbild der jüdischen Minderheit unterschied sich deutlich von dem der tschechischen. 1857, als bereits cirka 100.000 Zuwanderer aus Böhmen und Mähren in der Stadt lebten, umfaßte die Judengemeinde wenig mehr als 15.000 Personen, 3,2 Prozent der Bevölkerung. 54 Prozent der Wiener Juden lebten im Bezirk Leopoldstadt, wo Mitte des 17. Jahrhunderts das alte Judenghetto gelegen war, 28 Prozent in der Inneren Stadt; 8 2 Prozent der kleinen Judengemeinde wohnten also auf relativ engem Raum, nahezu ghettoisiert. Ähnlich war das Siedlungsbild noch im Jahre 1869, wenngleich sich die extreme Ballung etwas vermindert hatte; im Zuge der Volkszählung wurde erhoben, daß ungefähr 20.000 Juden im 2. Bezirk wohnten, das war die Hälfte der Wiener Juden, ein Viertel der Minderheit im 1. Bezirk. Auch 1880 lebte die Hälfte der jüdischen Bevölkerung im 2. Bezirk, diesmal rund 35.000 Personen, im 1. Bezirk nur noch 17 Prozent; cirka 10 Prozent wohnten in dem in der Nähe der Inneren Stadt gelegenen 9. Bezirk, der in steigendem Maße die jüdische Bevölkerung anzog; drei Viertel der Juden lebten also 1880 im „Dreieck" der einander naheliegenden Bezirke 1, 2 und 9 (Quelle 190). Nach der Stadterweiterung von 1890 bot die räumliche Verteilung strukturell ein etwas verändertes Bild. Der Anteil der Juden im „Dreieck" an der Gesamtzahl der Juden sank 1890 auf 62,7 und 1910 auf 59,2 Prozent. Der Anteil der Juden im Gebiet des 2. und 20. Bezirks blieb von 1890 bis 1910 relativ kon-

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stant bei 40 Prozent, ebenso die absolute Zahl der Juden im 1. Bezirk, ihr Anteil an der gesamten jüdischen Bevölkerung nahm jedoch beträchtlich ab, während der relative Anteil im 9. Bezirk erheblich stieg. Da dieser Bezirk in Universitätsnähe liegt, übte er eine große Anziehungskraft auf Akademiker und Intellektuelle aus und in ihrem Gefolge auf ( H a u s a n gestellte. Während sich die Segregation der Juden im „Dreieck" insgesamt als rückläufig erwies, nahm ihr Anteil an der jeweiligen Bezirksbevölkerung zum Teil beträchtlich zu. Dies war eine Folge der kontinuierlich starken Zuwanderung. Hatte der Anteil an der Bevölkerung des 2. Bezirks 1880 noch 29,6 Prozent betragen, so waren es 1900 bereits 36,4 Prozent. 1880 war jeder zehnte Bewohner des 9. Bezirks mosaischen Glaubens, 1910 jeder fünfte (Quelle 191). Durch die relativ starke räumliche Konzentration der jüdischen Bevölkerung auf drei Bezirke kam die amerikanische Historikerin Marsha Rozenblit zur Ansicht, die Wiener Juden hätten sich in erster Linie dort angesiedelt, wo Juden lebten, und nicht nach den Kriterien der sozialen Schichtzugehörigkeit oder der nationalen Herkunft.13 Das trifft nur mit Einschränkungen zu. Die berufliche Gliederung der jüdischen Bevölkerung - mit einem hohen Selbständigen- und Angestelltenanteil deutlich anders als die der nichtjüdischen Bevölkerung14 - begünstigte eine Ansiedlung nach sozialer Zugehörigkeit in den bürgerlich-kleinbürgerlich geprägten Bezirken 1, 2 und 9. Es trifft allerdings zu, daß in den vornehmlich von Juden bewohnten Bezirksteilen des 2. und 9. Bezirks jüdisches Bürgertum, Mittelstand und Unterschichten zwar oft in verschiedenen Straßenzügen und Häusern - in relativer räumlicher Nähe zueinander wohnten (Quelle 192). Diese Erscheinung steht unter anderem höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit den Pogromängsten und -erfahrungen der jüdischen Bevölkerung, denn noch 1848 war in Preßburg das Ghetto geplündert und niedergebrannt worden 15 , und bis 1848 waren die Juden Wiens rechtlich Bürger zweiter Klasse gewesen, die völlige Gleichstellung erfolgte erst 1867. In Osteuropa, vor allem im zaristischen Rußland, fanden auch am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt. Während der Antisemitismus und die Gehässigkeiten der christlich-sozialen Partei unter der Führung Karl Luegers nach der Gründung der zionistischen Bewegung auf politischer Ebene zur Spaltung der jüdischen Bevölkerung geführt hatte, ist in sozialer Hinsicht die starke Konzentration jüdischer Bevölkerungsgruppen doch auch im weitesten Sinne als Errichtung und Aufrechterhaltung von Solidarstrukturen gegenüber dieser feindlichen Politik zu interpretieren. Eine weitere Erklärung für die freiwillige Ballung ist die religionsspezifische Attraktivität dieser Bezirke, da die jüdische Gemeinde als große und Wirtschaft-

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Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

lieh potente Minderheit in diesen Bezirken großzügig Zentren jüdischen Lebens einrichten konnte. Letztlich hingen für die traditionsbewußte jüdische Bevölkerung auch geschichtliche Erinnerungen an der Leopoldstadt, wo das jüdische Ghetto des 17. Jahrhunderts gelegen war, und am 1. Bezirk, im Gebiet um den Judenplatz, wo die Juden im Spätmittelalter bis zu ihrer Vertreibung im Jahre 1421 wohnten. In der Abnahme der Segregation der jüdischen Bevölkerung Wiens im 1., 2. und 9. Bezirk von 1 8 5 7 1910 zeigt sich auch eine gewisse Tendenz zu Integration und Assimilation, ein Prozeß, dem auf der anderen Seite die anhaltende Zuwanderung aus Osteuropa entgegenwirkte. Dies drückt sich am deutlichsten in dem auch sozialen Gegensatz zwischen der jüdischen Bevölkerung des 1. und des 2. Bezirks aus, zu dem der Politikwissenschafter John Bunzl festhält: „Die Juden im 1. Bezirk waren schon Wiener und wollten nicht mit ihren zugewanderten .Verwandten' verwechselt werden, die sich hauptsächlich im 2. Bezirk konzentrierten. Bei näherer Betrachtung fällt auf, daß die jüdische Bevölkerung der verschiedenen Bezirke auch regional unterschiedlicher Herkunft war. So gab es im 1. Bezirk einen besonders hohen Anteil von Juden aus Böhmen und Mähren, im 2. Bezirk einen solchen aus Ungarn und Galizien." 16 (Quellen 193, 194). Die in Wien relativ hohe Konzentration im Stadtgebiet unterschied das Siedlungsbild der Juden stark von dem der tschechischsprachigen Bevölkerung. Der Kommunalpolitiker Eduard Sueß konstatierte in seinen Memoiren 1916: „Die jüdische Zuwanderung stand und steht im eigentümlichen Gegensatze zu der tschechischen. Während die Tschechen durch ihre Sprache von dem ansässigen Wiener sich scheiden, ist jeder ankommende Jude der deutschen Sprache mächtig; während dagegen der Tscheche durch seine Konfession dem Wiener sich anschließt und oft hier seine Gattin aus den Eingeborenen wählt, ist der Jude konfessionell und ehelich getrennt, und während die Tschechen sich zerstreuen und in verschiedenen Vorstädten ansiedeln, ziehen es die Juden vor, sich in bestimmten Gebieten der Stadt zu sammeln." 17 Das Ausmaß der unterschiedlichen Siedlungsform läßt sich mit dem Dissimilaritätsindex messen. Er hatte 1900 bei den Vergleichsgruppen Tschechen und Juden 51,6 betragen, das bedeutet 51,6 Prozent der Juden oder 51,6 Prozent der Tschechen hätten übersiedeln müssen, damit beide Gruppen dieselbe räumliche Verteilung über die Stadtbezirke aufweisen. Dieser Index läuft von 0 bis 100, ein Wert um 50 signalisiert bereits außerordentlich starke Unterschiede im räumlichen Verteilungsmuster. 18 Zu dieser erheblichen Differenz in der räumlichen Verteilung trug in erster Linie die unterschiedliche Berufsstruktur, also die unterschiedliche soziale Schichtung der Tschechen und Juden, bei, die ge-

gensätzlicher war als die zwischen deutschsprachiger nichtjüdischer Bevölkerung und jüdischer Bevölkerung. Ferner trug dazu die unterschiedliche nationale Herkunft bei; es gab kaum Juden tschechischer Muttersprache, auch nicht aus Böhmen, Mähren und der Slowakei. Das Haupttrennungsmerkmal war die Religion. Die räumliche Verteilungsstruktur der beiden größten Minoritäten Wiens in derfranzisko-josephinischen Epoche bot durchaus das Bild sich dissimilierender Bevölkerungsgruppen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie entwickelten sich die beiden Minderheiten auch unterschiedlich weiter. Die Zahl der tschechischsprachigen Bevölkerung ging stark zurück, die Zahl der jüdischen stieg durch die kriegsbedingte Zuwanderung aus Galizien beträchtlich an. Mindestens 35.000 jüdische Flüchtlinge, vor allem aus den vom zaristischen Rußland bedrohten bzw. besetzten galizisch-polnischen Gebieten, befanden sich 1917 in Wien, etwa die Hälfte von ihnen quartierte sich jenseits des Donaukanals ein, in den Bezirken Leopoldstadt (20 Prozent) und, da es sich um einkommensschwache Flüchtlinge handelte, in Brigittenau (28 Prozent). 19 Da die Bevölkerungszahl Wiens nach dem Ende der Monarchie beträchtlich abgenommen hatte, die Zahl der Juden hingegen durch die galizischen Flüchtlinge angestiegen war, nahm der Anteil der Juden an der Bevölkerung Wiens zu. Im 2. Bezirk waren 1923 cirka 40 Prozent der Bevölkerung Juden, im 20. Bezirk 18 Prozent, im 9. Bezirk 25 Prozent und im 1. Bezirk 25 Prozent. 1934 gingen die hohen Anteile in diesen Bezirken nach einer leichten Reduktion der Minderheit durch Abwanderung in der wirtschaftlichen Depression, durch Religionsaustritte und durch natürlichen Bevölkerungsabgang geringfügig zurück. An der Konzentration der Juden im „Dreieck" hatte sich jedoch während der gesamten Zwischenkriegszeit bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich nichts geändert. Das NS-Regime erlaubte in den Jahren 1938 und 1939 vorerst noch die Ausreise der jüdischen Bevölkerung. Da man dazu hohe Geldmittel benötigte, kam es zu einer „sozialen Auslese". So waren bis Oktober 1939 etwa 50 Prozent der Juden des 1. Bezirks ausgereist, hingegen nur 10 Prozent aus dem 2. Bezirk. Weiters nahmen die nationalsozialistischen Behörden Umquartierungen vor, ansprechende Wohnungen wurden oft auch spontan „arisiert", d. h. von nichtjüdischen Wienern einfach gewaltsam in Besitz genommen. Als Ergebnis dieser Vorgänge hauste Ende des Jahres 1939 knapp die Hälfte der Wiener Juden, 45.653 Personen, zusammengepfercht im 2. Bezirk, 10 Prozent wohnten im 9. Bezirk. Gerhard Botz sprach in diesem Zusammenhang von neuen „Halbghettos am Donaukanal" 2 0 (Quelle 195). Der Großteil der 1939 in Wien verbliebenen Juden wurde in den Konzentrationslagern ermordet, starb in Arbeits-

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet

lagern, an Unterernährung, Krankheit oder direkt in Wien, ermordet von Gestapo, SA oder SS. Von 45.653 Juden, die 1939 im 2. Bezirk lebten, haben nur wenige das Terrorregime überlebt. Die Vernichtung der Wiener Juden bedeutete auch die Vernichtung der jüdischen kulturellen Prägungen des Lebens in Wien, vor allem die Vernichtung des bis dahin typischen Charakters des Bezirks Leopoldstadt. Ganze Bevölkerungsströme aus den böhmischen, mährischen, ungarischen und galizischen Städten und Schtetels waren mit der Nordbahn hier angekommen, viele waren geblieben und hatten dem Bezirk ihre Spuren eingeprägt (Quellen 196-200). Eine Kultur war von den Nationalsozialisten vernichtet worden. Nur der Kriegsausbruch und schließlich die Niederlage Hitlers haben verhindert, daß die Nationalsozialisten, wie geplant, gigantische Breschen in das bebaute, ehemals von Juden bewohnte Gebiet schlagen ließen, um dort einen breiten FührerPrachtboulevard und riesige Parteizentren errichten zu lassen (Quelle 201). Nur wenig deutet heute noch auf die vergangene Kultur hin. Drei Gedenktafeln findet man, wenn man die Straßen durchwandert, eine davon für am 12. April 1945, wenige Stunden vor der Befreiung, hinterhältig ermordete neun jüdische „U-Boote" in der Förstergasse. In den siebziger und achtziger Jahren kamen neue Zuwanderer nach Wien, meist aus der Sowjetunion oder Remigration aus Israel. Man schätzt die Zahl der Juden heute auf 10.000 bis 12.000, statistisch registriert wurden 1981 6.527. Etwa ein Viertel lebt in der Leopoldstadt. Es gibt wieder Restaurants, Geschäfte, Bethäuser, Schulen, ein Gymnasium - sachte Ansätze einer jüdischen Ansiedlung, die Erinnerungen an vergangene Zeiten wecken (Quellen 202, 203).

3.2.3. Die Migranten der Gegenwart Der Großteil der Wiener „Gastarbeiter stammt aus dem vonwiegend landwirtschaftlich geprägten Gebieten Serbiens, Kroatiens und der Türkei. Gemessen an einigen Statuskriterien, wie Schulbildung, erlerntem Beruf, Einkommen, und den damit verbundenen Chancen zu sozialem Aufstieg haben diese Migranten von vornherein eine Randstellung gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Diese Voraussetzungen, der Wunsch nach Rückkehr, und daher das Bestreben, die Ausgaben in Wien möglichst gering zu halten, die Unkenntnis des - schwer zu durchschauenden - Wiener Wohnungsmarktes und ethnische Diskriminierung bedingen eine Konzentration und Segregation der „Gastarbeiter auf Bezirke oder Bezirksteile mit einem hohen Anteil an kostengünstigen Altbauten, an Wohnungen aus der Gründerzeit, die dem heutigen Standard vielfach nicht mehr entsprechen (Quelle 204). Mit der hohen Fluktuation dieser

147

Bevölkerungsgruppe ändert sich laufend auch die Rangfolge der Bezirke hinsichtlich der Konzentration und Segregation. Vorrangig siedeln sich jugoslawische und türkische Migranten (Quelle 205): •





im dichtbebauten Stadtgebiet zwischen Gürtel und Stadtrand, vor allem im 15., 16., 17., in den gürtelnahen Teilen des 18. sowie des 10. Bezirks an; im dichtbebauten Stadtgebiet der inneren Bezirke, und zwar im 5., 7. sowie in Teilen des 2., 20. und 3. Bezirks; am Stadtrand, in der Nähe von Industrieanlagen; diese Wohngegenden waren vor allem in den siebziger Jahren für die Gastarbeiter relevant, gegenwärtig haben sie weniger Bedeutung.

Türkische und jugoslawische Arbeitsmigranten wohnen insbesondere in Stadtvierteln mit alter abgewohnter Bausubstanz, die für die einheimische Bevölkerung nicht mehr attraktiv genug sind. Sie sind vor allem in den folgenden Bezirksteilen, das sind Teileinheiten eines Gemeindebezirks, anzutreffen: Am Tabor (2. Bezirk), Siebenbrunnenplatz (5. Bezirk), Arthaberplatz, Erlachplatz (10. Bezirk), Reithoferplatz, Westbahnhof, Sechshaus, Rauscherplatz (15. Bezirk), Neulerchenfeld, Ludo-Hartmann-Platz, Richard-Wagner-Platz (16. Bezirk), Dornerplatz, Alt-Hernals (17. Bezirk), Kreuzgasse (18. Bezirk), Brigittaplatz, Wallensteinplatz, Nordwestbahnhof (20. Bezirk).21 Die „sonstigen Ausländer" unterscheiden sich sehr deutlich in ihren Wohngegenden sowohl auf Bezirksais auch auf Zählbezirksebene von den türkischen und jugoslawischen „Gastarbeitern. Nach sozialen Gesichtspunkten besteht die Gruppe der „Sonstigen" vorwiegend aus Beschäftigten von internationalen Organisationen sowie multinationalen Konzernen, aus ausländischen Studenten und - zu etwa 5 Prozent - aus den Zeitungskolporteuren. Damit unterscheidet sich dieser Personenkreis von Managern, Angestellten, Kaufleuten, Monteuren in der überwiegenden Mehrzahl sehr stark von den „Gastarbeitern. Der andersartige sozioökonomische, kulturelle und religiöse Hintergrund beider Gruppen führt zu einer räumlichen Entmischung zwischen den „Gastarbeitern einerseits und den „sonstigen Ausländern" andererseits, mitunter in ein und demselben Bezirk; so etwa im 2. Bezirk die Zählbezirke Am Tabor (10 Prozent „Gastarbeiter) und Praterstraße (9 Prozent „Sonstige") oder im 18. Bezirk, Währinger Cottage (13,7 Prozent „Sonstige") und Kreuzgasse (10,5 Prozent „Gastarbeiter). 22 Vergleicht man die Segregations- und Konzentrationswerte der ausländischen Arbeitsmigranten mit jenen in West-Berlin (Quelle 206), wo etwa im Bezirk Kreuzberg 31 Prozent der Bevölkerung, im Bezirk Tiergarten 33 Prozent, im Bezirk Wedding

148

Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

22 Prozent und im Bezirk Schöneberg 20 Prozent der Bevölkerung eine ausländische Staatsbürgerschaft innehaben, so hat Wien deutlich niedrigere Werte; ähnlich ist es beim Vergleich der Segregationsindices23 mit jenen von Melbourne und Chicago. Der räumliche Segregationsgrad ist in Wien vergleichsweise wesentlich geringer, wobei sich die kleine türkische Minderheit stärker segregiert als die jugoslawische (Quelle 207). Die soziale Randstellung der türkischen und jugoslawischen Arbeiter schlägt sich also in Wien nicht in einer hohen räumlichen Segregation nieder. Dies sollte jedoch nicht zu dem Schluß verleiten, es gäbe ein „integrationsfreundliches Wiener Großstadtmilieu" (E. Lichtenberger), das den ausländischen Arbeitern gute Chancen für ihre soziale, kulturelle und politische Eingliederung liefern würde. Der geringe Segregationsgrad dieser Bevölkerungsgruppe ist in Wien auf eine Besonderheit des Wohnungsmarktes zurückzuführen, die zu einer weitgehenden Immobilität der Wiener Bevölkerung in Stadtteilen mit alter Bausubstanz geführt hat. Der Mieterschutz hat hier übliche Umschichtungsprozesse der Bevölkerung innerhalb des Stadtgebietes verzögert, indem er den Auszug der einheimischen Bevölkerung aus den billigen Mieterschutzwohnungen in Stadtvierteln mit gründerzeitlicher Bausubstanz in bessere, aber wesentlich teuerere Wohnstandorte verhindert. In einer Studie der Magistratsabteilung für Statistik der Gemeinde Wien heißt es daher: „In Wien kommt es durch die Gastarbeiter zu einem punktuellen Auffüllen von Altbauten, in denen der Wohnungsbestand und das Wohnumfeld nicht mehr den heutigen Ansprüchen entspricht und aus denen besser gestellte Wiener Haushalte nicht in einer Art Fluchtbewegung weggezogen, sondern die Mieter - sehr oft Rentner - herausgestorben sind. Den Gastarbeitern steht mehr oder weniger nur der Markt der vor 1918 erbauten Wohnungen offen. Besonders begehrt sind bei den Gastarbeitern weiters auch Hausmeisterwohnungen in Privathäusern . . . zum Teil kann man in Wien eine Konzentration der Gastarbeiter in bestimmten Häusern feststellen. So kommt es zu einer kleinräumigen Separierung von der einheimischen Bevölkerung, nicht jedoch zu einer Segregation auf der Ebene von ganzen Straßen oder Stadtvierteln."24

3.2.4. Parallelen im räumlichen Verteilungsmuster zuwandernder Minderheiten in Vergangenheit und Gegenwart An Unterschieden in der Siedlungsweise der beschriebenen großen Zuwanderergruppen fällt vor allem der Gegensatz in der Verteilungsstruktur der jü-

dischen und der tschechischen Minderheit auf, der in der unterschiedlichen Berufsstruktur und sozialen Schichtung der beiden Gruppen seine Entsprechung findet. Wie bereits erwähnt, lebten die Juden relativ stark konzentriert im „Dreieck" 1., 2., 20. und 9. Bezirk, die Tschechen siedelten im Vergleich dazu dispers, hauptsächlich in den Kleinwohnungen der Arbeiterbezirke, besonders im 10., dann im 16., 17. und 20. Bezirk. Genau dort, in den Zimmer-KücheKabinett-Wohnungen sind gegenwärtig die modernen Arbeitsmigranten, die „Gasfarbeiter anzutreffen. Infolge der skizzierten Besonderheiten des Wiener Wohnungsmarktes ist die Mehrheit der „Gasfarbeiter relativ verstreut im Stadtgebiet angesiedelt, in noch stärkerem Maße als die Tschechen um die Jahrhundertwende (Quelle 208); dies drückt sich in einem niedrigeren Segregationsindexwert der „Gasfarbeiter des Jahres 1982 im Vergleich zu den Tschechen um 1900 aus. Bis auf die sehr hohe Segregation der Tschechen in Favoriten - 1900 wohnte dort fast ein Viertel der Wiener Tschechen - ist die Verteilung der Arbeitsmigranten aus Vergangenheit und Gegenwart jedoch nicht unähnlich (Quelle 209). Dies findet in niedrigen Segregations- und Dissimilaritätsindices seinen Niederschlag. Auffällig ist in diesem Zusammenhang - obschon ein Vergleich zwischen einer kleinen und einer wesentlich größeren Minderheit nur mit Vorbehalt durchgeführt werden kann - die ähnliche Segregation der türkischen Gastarbeiter und der tschechischen Minderheit vor 80, 90 Jahren; ihre bevorzugten Bezirke sind ident, es sind der 10., 16., 2. und 20., der Grad der Segregation in diesen Bezirken ist ähnlich. Wegen der unterschiedlichen Größe der beiden Minderheiten betrifft diese Ähnlichkeit jedoch nur die Siedlungsstruktur, nicht die Konzentration, nicht das Ausmaß in dem von ihnen ein Bezirk geprägt wurde bzw. wird. Das Ausmaß der kleinräumigen Separierung der Minderheit von der Mehrheit kann nur annähernd beschrieben werden. Bei Daten aus den Jahren 1857, 1869 und 1880 ist ein ähnlicher Anteil von Wohnungsbenutzungen per Haus durch Zuwanderer aus Böhmen und Mähren erhoben worden wie bei den türkischen und jugoslawischen Migranten 1981. Nur ungefähr ein Viertel jener Häuser, die von böhmischen und mährischen Zuwanderern bzw. von jugoslawischen und türkischen Arbeitsmigranten bewohnt wurden, ist von so vielen Personen der Minderheit belegt, daß die Gruppe dort mehr als die Hälfte ausmacht. Dieses Kriterium trifft hingegen bei der jüdischen Bevölkerung im Bezirk Leopoldstadt auf über 60 Prozent der Häuser zu. Diese Daten entsprechen dem Bild der bereits beschriebenen Unterschiede in der Siedlungsweise der Minderheiten bzw. bestätigen sie die Ähnlichkeit der Segregation der tschechischen Zuwanderer und der modernen Arbeitsmigrantion (Quelle 210).

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet

Bei Betrachtung der wichtigsten Aufnahmebezirke von Zuwanderern in Vergangenheit und Gegenwart kann durchaus eine gewisse Kontinuität festgestellt werden. Der 2. Bezirk war in seinen diversen Bezirksteilen eine bevorzugte Anlaufstelle für Tschechen und Juden, ebenso der 20. Bezirk für Tschechen, Slowaken und einkommensschwache galizische jüdische Zuwanderer, beide Bezirke sind es in ihren Altbaugebieten für Ausländer und Minderheiten auch heute noch. Die Kontinuität trifft ebenso auf die gründerzeitlich bebauten Teile der Arbeiterbezirke 10,16 und 17 zu (Quelle 211). Erst in letzter Zeit hat sich der 5. Bezirk zu einem Wohngebiet einkommensschwacher Minderheiten entwickelt - vor allem wegen der schlechten Infrastruktur und der abgewohnten Bausubstanz, was ein Angebot verhältnismäßig billiger Wohnungen impliziert. Auch den 15. Bezirk wird man vergeblich in der Reihe der um die Jahrhundertwende am meisten von Zuwanderern bevölkerten Bezirke suchen, wenn auch bestimmte Bezirksteile, wie Sechshaus, damals mit zu den übelsten Slums von Wien zählten; die aus der Gründerzeit stammenden oder noch älteren Arbeiterwohnungen beherbergen in der Gegenwart eine der höchsten „Gasfarbeiterkonzentrationen Wiens. Der Anteil der türkischen und jugoslawischen Staatsbürger an der Bevölkerung dieses Zählbezirks beträgt den für Wien außerordentlich hohen Wert von 16 Prozent.25 Neu in der Reihe der von Zuwanderern verstärkt besiedelten Bezirke sind der 18. und der 19. Bezirk, und zwar die Villenviertel Währinger und Döblinger Cottage, Pötzleinsdorf und Grinzing. Seitdem Wien in der Zweiten Republik zum Sitz internationaler Organisationen und zur Zweigstelle multinationaler Konzerne, zum wichtigen Angelpunkt internationaler Diplomatie wurde, ist dort ein beträchtlicher Ausländeranteil festzustellen.

Ein multinationales Stadtentwicklungskonzept aus dem Jahre 1858, Quelle 180 Nach dem kaiserlichen Beschluß zur Schleifung der Befestigungsanlagen und Erweiterung der Stadt wurde 1858 in einer großen Tageszeitung ein Stadtentwicklungskonzept besonderer Art vorgestellt. Die Gestaltung von Nationalitätenvierteln in der Residenzstadt Wien sollte den Zusammenhalt der Nationen des Habsburgerreiches stärken. Diese Idee wurde von den Behörden ignoriert und seitens der feinen Gesellschaft belächelt.

180

149

Gestaltung von Nationalitätenvierteln?

Ein Vorschlag für die Neubauten in Wien. Um der Centralisation Oesterreichs einen ewigen und unauslöschlichen Denkstein zu setzen, ist es von Wichtigkeit, den Nationen dieses großen Kaiserstaates bei dem gegenwärtigen Umbau Wiens in dieser Weltstadt eine Heimat zu geben. Dies wird möglich, wenn man ein italienisches, ungarisches, slawisches, griechisches Viertel beantragt. - Man denke sich einfach in die Lage ζ. B. eines Italieners, der bis Wien auf der Bahn fährt, am Bahnhofe ein italienisches Gefährte antrifft, welches ihn in das italienische Stadtviertel bringt, wo er Alles findet wie in Italien. Wird sich dieser Italiener nicht daselbst heimisch fühlen? Der Fremde hört auf, daselbst fremd zu sein, er ist ja in Wien zu Hause; italienische Aufschriften, Bauart, Gasthöfe, Cafes, ein Corso mit seiner Eigenthümlichkeit im Karneval, Palazzi des hohen Adels und der Reichen Italiens, bekannte Namen etc. - Alles erinnert an Italien. Wer das Gefühl kennt, das Jeder im fremden Lande empfindet, wird hier beipflichten, der den Italiener kennt. Es würden Massen von Italienern ihr Geld nach Wien tragen, der italienische Stamm würde sich in Sitten und Gebräuchen dem deutschen anschließen und eine großartige Vereinigung der Interessen würde hervorgerufen. Ist dieser Gedanke nicht einer näheren Erörterung würdig? So wie dem Italiener weise man auch den übrigen früher genannten Nationen ihre eigenen Stadtviertel an, die dadurch ihren eigentümlichen Typus an sich tragen, wodurch auch dem Fehlgriffe vorgebeugt würde, diese neue Stadt mit monotonen Straßen und Plätzen einzurichten, was sonst bei neuerbauten Städten unvermeidlich ist. Alles würde sich nach Wien drängen, die Elite des Kaiserstaates würde sich um den kaiserlichen Thron schaaren und unser großer Kaiser würde als geliebter Vater mitten unter seinen Kindern wohnen. Werfen wir nun einen Blick in die Zukunft. Die Residenz- und Hauptstädte geben zu Allem den Impuls für die nahen und enfernten Provinzen. Das deutsche Element ist in Wien so überwiegend, daß es für ewige Dauer daselbst gesichert ist. Das Heranziehen fremder Elemente würde jedoch in politischer Beziehung in die Geschichte Oesterreichs tief eingreifend und wohlthätig wirken und die Centralisation Oesterreichs besiegeln. Wenn auch nun die Befestigung Wiens durch Mauern aufhört, so würde eine glückliche Ausführung dieser Idee Wiens Ruhe befestigen, durch die faktische und kompakte Einbürgerung der Nationen Oesterreichs in Wien, die gegenseitig als gute Nachbarn auf die allgemeine Eintracht mit Eifersucht wachen würden; die Provinzen würden sich diese

150

Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

Eintracht zum Vorbilde nehmen müssen! Was folgt nicht Alles hieraus? . . . Die Wache Wiens bildeten sofort die Nationen Oesterreichs, deren Liebe sich im Throne konzentriert, auf welchem man den Vater der Völker Oesterreichs in unserem großen Kaiser anbetet. Die Statthaltereien müßten sofort in den betreffenden Provinzen Einladungen zur Wahl der Bauplätze ergehen lassen, um den Bedarf zu kennen. Wien würde so die wahrhaft originellste und liebenswürdigste Weltstadt werden, zumal die Architekten sich in Paris, Mailand und Venedig Geschmack erholen und daselbst Originalität suchen. In Hinsicht der Straßen und Plätze schlägt man vor, die Eckhäuser abzurunden. Die Alleen, namentlich jene des Exerzirplatzes oder Marsfeldes, seien mit gemischten Laub- und Nadelholzbäumen bepflanzt; diese geben sowohl im Frühjahr als Herbste nebst dem angenehmen Geruch auch ein wohltuendes Farbenspiel der Blätter und dienen ebenso zu guten Marschdirektionspunkten als den Pionnitschülern zur Schule wegen Kenntnis der Holzgattungen. In den Zwischenräumen der Bäume könnten Büsten, Statuen und Monumente großer Feldherren und berühmter Generale und Offiziere angebracht werden. Plätze werden beispielsweise folgende vorgeschlagen: 1. Der Franz-Joseph-Platz, ein regelmäßiges Fünf-, Sechs- oder Achteck; in der Mitte erhebt sich die Statue unseres Kaisers, von seinen Völkern getragen und umgeben; allegorische Figuren tragen Fackeln zur Beleuchtung. Die schönsten Paläste zieren den Platz. 2. Ein fünf-, sechs- oder achteckiger zweiter Platz, ebenfalls von Palästen der Nationen des Reiches umgeben. Daselbst steht ein Obelisk, allwo der Kaiser den Grundstein zur neuen Stadt legte; auf der Spitze des Obelisk ruht eine Goldkugel, auf welcher ein glänzender Adler mit ausgebreiteten Flügeln schwebt. Drei kolossale Tannenbäume stehen zur Seite des Obelisk und bezeichnen das kaiserliche Geschenk am Christtage. Die Kandelaber dieses DreiTannenplatzes sind gleich dem Markusplatz in Venedig im Tannenstiele zur Beleuchtung eingerichtet. Im griechischen Viertel finden wir einen DeltaPlatz ( ). Der Ghetto sei originell; ein Springbrunnen, dem der Po, Ticino, die Donau, Elbe, Weichsel etc. entquillt, sei eine weitere Zierde. Im italienischen Viertel seien Brücken im Venezianer Style etc. Es mögen hier diese wenigen Andeutungen meine gute Meinung für die gute allgemeine Sache beweisen, und es mag nicht unwahr sein, wenn ich behaupte, daß in der Ausführung dieser Gedankenreihe eine unaussprechliche Wichtigkeit für Wien und den Kaiserstaat liegt. Wohl dürften sich Gegengründe

finden, allein diese werden nicht maßgebend sein gegenüber dem Fernblicke auf die Zukunft, Machtentfaltung und Größe Wiens, wenn diese Metropole allen Nationen durch gastliche Aufnahme eine heimatliche Stätte zur ewigen Verbrüderung geben würde. Ostdeutsche Post vom 4. April 1858, S. 12.

Die räumliche Verteilung der Zuwanderer aus dem Staatsgebiet der heutigen Tschechoslowakei in Wien 1857-1910, Quellen 181-187 Im großen und ganzen gesehen scheint das Siedlungsbild der böhmischen und mährischen Zuwanderer auch in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein relativ disperses gewesen zu sein. Die hier verwendeten Daten geben die Herkunft der Bevölkerung an; es ist zu bedenken, daß in dieser Frühphase der Zuwanderung die Herkunft aus Böhmen und Mähren mit der tschechischen Umgangssprache stärker korreliert als in späteren Jahren, als viele Zuwanderer bereits einen Assimilationsprozeß durchlaufen hatten. Auf der eher spärlichen Datenbasis läßt sich der Süden Wiens und das Gebiet zwischen Donau- und Donaukanal als Siedlungsschwerpunkt der Böhmen und Mährer bezeichnen.

181

Verteilung der Zuwanderer

Ν - 99.300 Favoriten großteils noch beim 4. Bezirk

151

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet

Orientierungsdaten zur räumlichen Verteilung böhmischer und mährischer Zuwanderer in jene Stadtteile, in denen sie, gemessen am Anteil an der jeweiligen Stadtteilbevölkerung überrepräsentiert waren; im Jahr 1857.

sogenannte Deutschböhmen und Deutschmährer bezeichnet werden (Vgl. Kapitel 1). Die Diskrepanz zwischen beiden Angaben ist am geringsten in den Bezirken mit der stärksten Ballung, Wien 1880.

in Böhmen und Mähren geboren absolut % 99.333 1.934 13.167 871 6.891 10.665 11.818 939 3.516 1.588 744

Wien, gesamt Rossau Wieden Brigittenau Gumpendorf Landstraße Leopoldstadt Jägerzeile Erdberg Schaumburgergrund Zwischenbrücken

20,9 20,9 22,1 22,6 23,3 24,3 24,9 25,9 26,7 33,3 38,0 476.222

Wien, Gesamtbevölkerung

Statistik der Stadt Wien, 2. Heft, Wien 1861, S. 80f., 88 f.

182

Verteilung der Tschechen und Slowaken

Orientierungsdaten zur räumlichen Verteilung der Tschechen und Slowaken in Wien und seinen Vororten 1869; Separaterhebung aus den Volkszählungsdaten von 1869 durch einen tschechischen Historiker auf der Basis des Geburtsortes und des Familiennamens. Viele zugewanderte Taglöhner und Arbeiter hatten sich in den sechziger fahren, in den Zeiten großer Wohnungsnot in den billigeren Vororten angesiedelt; infolge des Wegfalls der sogenannten „Verzehrungssteuer" waren dort auch die Lebensrnittel billiger. Verteilung der Slowaken in Wien (in Prozent der Bezirksbevölkerung) Wien, gesamt Meidling Gaudenzdorf Sechshaus Fünfhaus Rudolfsheim

24,2 23,1 27,4 20,0 18,3 16,2

Ottakring Hemals Währing Simmering Inzersdorf

16,0 20,2 25,0 32,7 41,1

Alois Vojtech Sembera, Mnoho-li jest Öechü, Moravanu a Slovdku a kde obyiaji, Prag 1877, S. 5 f.

Herkunft Böhmen / Mähren

I. Π. in.

IV.

V.

VI.

vn. vra. DC. X.

Angabe der tschech. Umgangssprache

23,4 29,9 28,2 25,1 24,7 25,7 24,2 24,6 24,0 37,8

Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, IL Theil, Demographische Ergebnisse, Wien 1885, S. 14. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, chen 1972, S. 54.

183

1,4 7,6 3,3 1,7 4,5 1,9 1,4 3,0 2,9 17,6

Wien-Mün-

Die Problematik der Umgangssprachenerhebung

184 Die Umgangssprachenerhebung und die Daten hinsichtlich der Herkunft der Bevölkerung differieren sehr stark; nach seriösen Schätzungen können nicht mehr als 25 Prozent der Zuwanderer aus Böhmen und Mähren als

Die Verteilung der Wiener Tschechen

Die Wiener Tschechen in ihrer Aufteilung über die einzelnen Bezirke nach der amtlichen Statistik 1890-1910 (nach den Umgangssprachenerhebungen).

152

Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

Konzentration

Bezirk

I η in IV V VI vn vm IX X XI ΧΠ ΧΙΠ XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX " XXI

1890

Anteil an der Gesamtbevölk.

1900

Anteil an der Gesamtbevölk.

Segregation

1910

Anteil an der Gesamtbevölk.

1890

1900

1910

absolut

%

absolut

%

absolut

%

%

%

%

1.261 11.353 4.807 1.393 3.964 1.735 1.430 1.906 2.286 12.356 415 3.488 640 2.164 1.402 5.345 4.247 3.573 1.243

2,2 8,9 4,9 2,6 53 2,9 2,3 4,3 3,3 15,8 1,7 6,3 1,6 4,3 3,5 5,5 6,2 5,7 4,3

930 5.532 9.244 1.595 5.667 2.018 2.398 1.722 2.968 23.437 2.079 3.852 1.960 5.908 2.294 11.039 6.568 3.343 1.284 6.874 583

2,1 7,6 8,5 3,0 5,9 3,8 4,1 4,0 3,8 20,0 6,1 53 3,0 7,1 5,2 8,0 8,0 4,2 2,3 11,8 1,1

1.097 6.329 7.164 1.385 4.761 1.641 2.118 1.662 3.131 18.488 2.606 4.148 2.869 4.945 1.721 10.956 6.263 2.220 632 9.266 2.710

2,5 4,8 5,7 2,5 53 2,8 33 33 3,4 15,1 6,4 4,4 2,6 5,8 4,4 7,0 6,9 2,9 13 11,5 3,9

1,9 17,2 73 2,1 6,0 2,6 2,2 2,9 3,5 18,7 0,6 53 1,0 33 2,1 8,1 6,4 5,4 1,9 13

0,9 5,5 9,1 1,6 5,6 2,0 2,4 1,7 2,9 23,1 2,0 3,8 1,9 5,8 23 10,9 63 33 13 6,8 0,6

1,2 6,6 73 1,4 5,0 1,7 2,2 1,7 3,2 19,2 2,7 43 3,0 5,2 1,8 11,4 6,5 23 0,7 9,6 2,8

5,7

100

100

100

-

948

-

3,6

Militär

-

-

2.262

-

2.318

Gesamt

65.956

5,5

102.974

7,2

98.430

-

* Dem II. Bezirk angeschlossen. ** Bis 1904 eine eigenständige Gemeinde. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, Wien-München 1972, S. 54; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien ßr das Jahr 1912, Wien 1914, S. 912.

185

Ansiedlung nach Berufsgruppen

Wie aus den Jahreskalendern tschechischer Vereine hervorgeht, in diesem Falle des Jahrgangs 1909, siedelten sich diverse Berufsträger vor allem nach den Kriterien wirtschaftlicher Interessen an und nicht nach dem nationaler Zusammengehörigkeit. Dies zeigte sich etxua bei den Rechtsanwälten, Ärzten, Textilhändlern und Kürschnern, die allesamt kaum in Favoriten oder Brigittenau anzutreffen waren, sondern in den bürgerlichen Wohngegenden, in der Nähe der Kunden. Tschechische Advokaten in Wien. Dr. Karl Ascher, 1. Bezirk, Rudolfsplatz 2. Dr. Zdenko Aurednicek, 1. Bezirk, Habsburgergasse 5. Dr. Ludwig Bauer, 1. Bezirk, Schottenbastei 1. Dr. Ludwig Hezky, 1. Bezirk, Börseplatz 6. Dr. Josef Jahoda, 1. Bezirk, Herrengasse 6. Dr. Artur Kantor, 1. Bezirk, Wollzeile 10. Dr. Johann Lenoch, 1. Bezirk, Rauhensteingasse 3. Dr. Rudolf Manhard, 1. Bezirk, Franz Josefs-Kai 47. Dr. Andreas Urbanek, 1. Bezirk, Schottenring 28. Dr. Al. Mikyska, 3. Bezirk, Baumanngasse 3. Dr. Emil Polesovsky, 6. Bezirk, Mariahilferstraße 55.

Dr. F. Veprek, 6. Bezirk, Mariahilferstraße 55. Dr. F. Susil, 8. Bezirk, Josefstädterstraße 50. Dr. Max Wellner, 8. Bezirk, Josefstädterstraße 50. Notar: Dr. Fr. Belar, 14. Bezirk, Mariahilferstraße 191. Tschechische Aerzte in Wien. Dr. Fr. Jetel, 1. Bezirk, Graben 20 (1. Bezirk, Naglerg. 1). Dr. Josef Skultety, 2. Bezirk, Ausstellungsstraße 47. Dr. E. Glück, Augenarzt, 3. Bezirk, Hauptstraße 24. Dr. Karl Fischer, 3. Bezirk, Seidigasse 39. Dr. Fr. Reznicek, 3. Bezirk, Salesianergasse 2. Dr. Johann Struska, Professor der Tierarzneikunde, 3. Bezirk, Linke Bahngasse 11. Dr. Josef Drozda, Primararzt am Franz Josefs-Spital, Dozent an der Wiener Universität, 4. Bezirk, Hauptstraße 53. Dr. Johann Cermak, Zahnarzt, 6. Bezirk, Stumpergasse 3. (Ord.: 20. Bezirk, Wallensteinplatz 3.) Dr. Lambert Jelinek, 6. Bezirk, Brückengasse 14. Dr. Fr. Krsek, Zahnarzt, 6. Bezirk, Liniengasse 33. Dr. Anton Matousek. Dr. Koller, 6. Bezirk, Stumpergasse 23. Dr. Vinzenz Fukala, Augenarzt, 7. Bezirk, Kaiserstraße 86.

153

Die räumliche Verteilungsstruktur der Minderheiten im Wiener Stadtgebiet

Dr. Rudolf Machek, Zahnarzt, 7. Bezirk, Neustiftgasse 112. Dr. A. Zamara, Zahnarzt, 6. Bezirk, Getreidemarkt. Dr. Jan Milanec, 8. Bezirk, Skodagasse 10. Dr. Josef Jakubec, 9. Bezirk, Kinderspitalgasse 2. Dr. Thomas Sidlo, 9. Bezirk, Währingerstraße 12. Dr. Josef Buchta, Zahnarzt, 9. Bezirk, Althanplatz 11. Dr. O. Schulz, 9. Bezirk, Währingerstraße 67. Dr. Bohumil Hofmann, 10. Bezirk, Quellenstraße 107. Dr. Paul Suske, 10. Bezirk, Quellenstraße 110. Dr. Kohout, 10. Bezirk, Triesterstraße, Franz JosefSpital. Dr. Alois Smolik, Zahnarzt, 11. Bezirk, Hauptstraße 20 b. Dr. Franz Jezek, 14. Bezirk, Sechshauserstraße 39. Dr. Josef Vejda, 16. Bezirk, Neulerchenfelderstraße 80. Dr. Leopold Melichar, Zahnarzt, 18. Bezirk, Messerschmidgasse 20. Dr. Stanislaus Uhlir, 18. Bezirk, Schopenhauerstraße 37. Dr. Thoman, 18. Bezirk, Karl Beckgasse 1. Herrenkleidergeschäfte: J. Löwy (!), 1. Bezirk, Wildpretmarkt 9. R. Reimann (!), 1. Bezirk, Weihburggasse 9. S. Salzer (!), 1. Bezirk, Himmelpfortgasse 3. Josef Weiler, 1. Bezirk, Goldschmidtgasse 1. Heinrich Weinberger (!), 1. Bezirk, Singerstraße 10. Josef Weinberger (!), 1. Bezirk, Weihburggasse 5. „Zum Kleiderkönig", 2. Bezirk, Taborstraße 62. Ch. Dickler, 3. Bezirk, Löwengasse 26. Goldstein (!), 7. Bezirk, Kaiserstraße 40. Wenzel Bisof, 20. Bezirk, Jägerstraße 43. Kürschner: V. Jaburek, 3. Bezirk, Beatrixgasse 18, und 10. Bezirk, Bürgerplatz 15. Karl Rakosnik, 5. Bezirk, Reinprechtsdorferstraße 62. Anton Bosak, 7. Bezirk, Lerchenfelderstraße 51. Josef Kostal, 7. Bezirk, Mariahilferstraße 112 und 126. August Petrides, 7. Bezirk, Burggasse 46. Max Zakostelsky, 7. Bezirk, Westbahnstraße 28. Franz Brejla, 8. Bezirk, Blindengasse 25. Leonhard Vychodil, 16. Bezirk, Liebhartsgasse 43. Die Wiener Slawen. Statistik und Organisation der Tschechoslawen in Wien und Niederösterreich-Land, Wien 1910, S. 33 ff.

186

Soziale Herkunft der Schüler tschechischer Schulen

Bei Betrachtung des Zusammenhangs zwischen der räumlichen Lage tschechischer Schulen und der sozialen Herkunft der Eltern jener Kinder, die diese Schulen besuchten, läßt sich ein ähnlicher Schluß ziehen, wie im Kommentar zur vorigen Quelle. Im 10. Bezirk stammten cirka zwei Drittel aller Schüler aus Industrie- und Facharbeiterkrei-

sen, im bürgerlichen 9. Bezirk etwa fehlten Arbeiterkinder überhaupt. Soziale Herkunft der Eltern, deren Kinder die tschechische Volksschule im X. Bezirk besuchten 1894/95

Κ1 Beamte, Professoren, Lehrer, Ärzte, Pensionisten, Fabrikanten, selbständige Gewerbetreibende 8 Händler, Hausbesitzer 60 niedrigere Dienstboten, Handlungsgehilfen 24 Industrie- und Fabrikarbeiter 292 Taglöhner zusammen 1 2

384

1902/03

1907/08

Μ2

Κ1

Μ2

Κ1

M2

10 55

6 48

6 44

15 70

17 57

30 266

41 226 78

50 284 49

33 229 73

27 260 73

399

433

420

434

-

361

Κ - Knaben Μ - Mädchen

Soziale Herkunft - Sprachschulen 1895/96 1903/04 1903/04 ΠΙ. Bez. V. Bez. DC. Bez.

Kinder von höheren Beamten niedrigeren Beamten, Hilfskräften, Dienstpersonal Taglöhnem Handwerkern, Gewerbetreibenden, Geschäftsleuten Witwen Industrie- und Fabrikarbeitern insgesamt

7 17

8 -

1 21 3 29

37

37 9 13

109

67

54

48 -

-

Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, Wien-München 1972, S. 57.

187

Heimatberechtigimg der tschechischen Minderheit

Die Daten hinsichtlich der Heimatberechtigung erfassen nicht nur die Zuwanderer - also jene Personen, die in einem anderen Ort als Wien geboren wurden, sondern auch deren Kinder, die sogenannte „zweite Generation". Lediglich 38 Prozent (!) der Bevölkerung waren in Wien heimatberechtigt, 30,95 Prozent in Böhmen und Mähren. Im folgenden soll für das Jahr 1900 über das Ausmaß der Zuwanderung inklusive der zweiten Generation in den einzelnen Bezirken Aufschluß gegeben werden, vor allem aber über das Ausmaß der tschechischen Zuwanderung. Ein Eindruck von der unterschiedlichen Assimilation in den einzelnen Bezirken ergibt sich anhand der unterschiedlich starken Differenz zwischen den Heimatberechtigungs- und den Umgangssprachenangaben. Der beigegebene Assimilationsquotient wurde durch Division des jeweiligen Anteils der in Böhmen und Mähren Heimatberechtigten eines Bezirks mit dem Anteil deήenigen gewonnen, die Tschechisch als Umgangssprache angegeben

154

Die Ansiedlung der Zuwanderer und der Minderheiten in Wien

haben. In jenen Bezirken, in denen der Quotient am höchsten ist, und zwar im 1., 4., 13. und 19. Bezirk, ist auch der höchste Anteil der Dienstboten festzustellen. Sie konnten das Bekenntnis zu einer Umgangssprache nicht selbst abgeben, vielmehr wurde die Angabe häufig vom Dienstherrn gemacht. Der besonders starke Anpassungsdruck, der auf diesen Beschäftigten lastete, wird also zusätzlich noch dadurch verdeutlicht, daß ihnen somit die Kompetenz zur eigenständigen Wahl der Angabe der Umgangssprache entzogen wurde. Bei diesen Daten ist freilich zu bedenken, daß die Angaben hinsichtlich der Heimatberechtigung in ganz Wien cirka 20 bis 25 Prozent Deutschböhmen und Deutschmährer beinhalteten, in den einzelnen Bezirken jeweils mit unbekannter, unterschiedlicher Verteilung. Die Slowaken hingegen werden in den Heimatberechtigungsangaben Böhmen/Mähren nicht erfaßt, nur in den Angaben zur Nicht-Wiener Heimatberechtigung gemeinsam mit vielen anderen Zuwanderergruppen.

Quotient Heimatberechtigung Böhmen-Mähren/ tschechische Umgangssprache I. Π. in. IV. V. VI. vn. vra. IX. X. XI. ΧΠ. xm. XIV. XV. XVI. xvn. xvni. XIX. XX.

10,7 3,9 3,3 7,9 4,9 63 5,7 5,9 6,6 23 5,5 6,2 9,0 53 5,9 4,5 4,1 6,6 113 2,9

Je geringer dieser Quotient, desto stärker stimmt die Angabe der tschechischen Umgangssprache mit der Herkunft aus Böhmen und Mähren (inkl. zweiter Generation) überein.

73,5% Nicht in Wien heimatberechtigt

76,0%

Heimatberechtigt in Böhmen/Mähren 33, Tschech. Umgangssprache

45,7% ' / /

Μ

-20,0%.

11,8%.

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20. Bezirk

'////• 10. Bezirk

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