Südslawisches Wien: Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart [1 ed.] 9783205215745, 9783205215721

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Südslawisches Wien: Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart [1 ed.]
 9783205215745, 9783205215721

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Miranda Jakiša | Katharina Tyran (Hg.)

SÜDSLAWISCHES WIEN



Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart

Böhlau Verlag Wien Köln



Gedruckt mit Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich die Stadt Wien Kultur die Österreichische Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Katharina Tyran (Lingscape ID19262) Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Sara Horn, Düsseldorf Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN: 978-3-205-21574-5

INHALT

Das südslawische Wien Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Südslawische Kulturräume in Wien: Performative Arenen der Sichtbarkeit

Keep it Jugo, do it Švabo: Wien im Tschuschen-Rap Miranda Jakiša . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Hor 29. Novembar: (Re-)Interpretationen postjugoslawischer Identitäten durch Gesangsaktivismus Jana Dolečki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(Post)jugoslawische Kulturräume in der Wiener Theaterlandschaft Darija Davidović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Orte des Austauschs: Südslawische Präsenz in Wien

Die Rolle des Wiener Kroatenballs für die Sichtbarkeit der kroatischen Volksgruppe in Wien Lydia Novak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Nordmazedonien nach Wien: Eine statistische und ethnographische Untersuchung nordmazedonischer Gemeinden und Kulturvereine (2002–2021) Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Knjižara Mi: Eine Buchhandlung, wie es sie nur in Wien geben kann Armina Galijaš . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mediale Bilder und literarische Perspektiven: Schreiben von und über Südslaw*innen in Wien

Musterschüler der Integration? Die Stellung der bosnischen Diasporacommunity in österreichischen Medien Nedad Memić . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Hauch von Beč: Südslawische Schriftsteller*innen in Wien Mascha Dabić . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Bulgar*innen in Wien: Exotismus des gegenseitig Unbekannten Bisera Dakova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Südslawische Migrationen, Erinnerungen, Identitäten: Ankommen in Wien

Flüchten, Ankommen, Erinnern: Eine Ausstellung als Erinnerungsort ex-jugoslawisch-Wiener Gegenwart Vida Bakondy/Amila Širbegović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Wien als Jugo-Hauptstadt“: Zu antinationalistischen Identitätsstrategien in der postjugoslawischen Diaspora Rada Živadinović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Topographie der Migration: Zur (Un-)Sichtbarkeit zugewanderter Rom*nja in Wien Sanda Üllen/Sabrina Steindl-Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sprachliche Präsenz des Südslawischen: Wien, Oida! Beč, Oida!

Slowenisch/Slowen*innen in Wien: Von Stereotypen, Kookkurrenzen und hungrigen Bäuchen Emmerich Kelih . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Bild der südslawischen Sprachen und ihrer Sprecher*innen in Wörterbüchern des Wienerischen Agnes Kim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vienna meets the Balkans: Sprachwissenschaftliche Perspektiven auf die balkanische Migrationsökonomie in Wien Nadine Thielemann/Lejla Atagan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Beč Oida: Zur Sichtbarkeit südslawischer Sprachen in der Wiener linguistischen Landschaft Katharina Tyran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

DAS SÜDSLAWISCHE WIEN Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart

„Wien, Oida! Beč, Oida!“ – Dieses Label, das sich in Wiens Straßen vielfach finden lässt und das auch auf unserem Buchcover abgebildet ist, zeigt beispielhaft und exemplarisch die Grundannahme dieses Bandes auf: Das Südslawische und die Südslaw*innen gehören zu Wien, wie die Stadt zu ihnen gehört. Das Sujet, das zum Merchandise eines Songs des Wiener Rappers Petar Rosandić alias Kid Pex gehört und in einigen Teilen Wiens sehr präsent ist, verbindet trotz seiner Kürze unterschiedliche Sprachebenen und trägt in seiner Sichtbarkeit maßgeblich dazu bei, dass selbst jene Wiener*innen, die es bisher nicht wussten, sehen: Wien ist nicht nur Wien, Wien ist auch Beč. Und Wien ist auch Dunaj oder Viena. Laut Integrationsmonitor der Stadt Wien 2021 leben gegenwärtig mehr als 180.000 Menschen südslawischer Herkunft in Wien, allen voran aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien, aber auch aus Slowenien, Nordmazedonien und Bulgarien. Jede*r zehnte Wiener*in ist damit Südslaw*in. Hinzu kommen die autochthone kroatische und slowenische Volksgruppe in Österreich, die beide in Wien eigene kulturelle Strukturen aufgebaut haben. Die Bundeshauptstadt stellt somit für alle genannten Gruppen einen zentralen kulturellen Bezugspunkt dar: Beginnend vom Crabaten-Dörfel am heutigen Spittelberg, über die Tätigkeit führender Sprachreformatoren wie Jernej Kopitar und Vuk Stefanović Karadžić, bis hin zu Schriftsteller*innen, Musiker*innen und Kabarettist*innen unserer Gegenwart, wie Barbi Marković, Marko Dinić, Jelena Popržan, den Wladigeroff-Brüdern oder Marina Lacković alias Malarina. Sogar der Ur-Wiener der österreichischen Musikszene, Dr. Kurt Ostbahn, gehört in diese Reihe, wurde er doch von Willi Resetarits verkörpert. Als Resetarits 1995 beim Fest der Freiheit auf einem trotz strömenden Regens übervollen Wiener Heldenplatz mit seiner Mutter Angela ein kroatisches Volkslied aus seiner Kindheit sang, war spätestens klar: Österreich und Wien sind keineswegs sprachlich und kulturell ‚nur deutsch‘, das Südslawische war und ist ‚immer schon‘ da.

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Miranda Jakiša & Katharina Tyran

Südslawische Verbindungen nach Wien wurden vor allem zu Zeiten des Habsburger Reiches geknüpft und werden bis heute fortgeführt und weiter vertieft. Zahlreiche Publikationen, Kartierungsprojekte und Übersichten befassen sich mit den südslawischen Verflechtungen Wiens, insbesondere mit der Anwesenheit prominenter Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen, die Abschnitte ihres Lebens in Wien verbrachten. In Wien wurde das Wiener Sprachabkommen von 1850 durch serbische und kroatische Delegierte unterzeichnet. Es legte den Grundstein für eine gemeinsame Schriftsprache der Bosnier*innen, Kroat*innen, Montenegriner*innen und Serb*innen und wirkte damit auch von Wien aus auf die Südslavia zurück. Im Arkadenhof des Hauptgebäudes der Universität Wien zeugen Denkmäler für die Lehrstuhlinhaber Franc Miklošič und Vatroslav Jagić, die bereits ab 1849 an der Universität Wien slawistische Forschung und Lehre vertraten, von der südslawistischen Forscherpräsenz in der Stadt. Und neben den bereits Genannten stehen auch die Namen Branko Radičević, Petar Preradović, Dositej Obradović, France Prešeren oder Ivan Cankar für prominente südslawische Schreiber und Intellektuelle, an deren Anwesenheit in Wien heute noch mit Gedenktafeln erinnert wird. Während die wechselseitige südslawisch-wienerische Geschichte weit zurückreicht, steht im Fokus dieses Buches aber gerade nicht die Vergangenheit, sondern ganz dezidiert die Wiener südslawische Gegenwart. Uns interessieren, statt der vielen historischen Verflechtungen, vor allem aktuelle Schauplätze, an denen südslawische Sprachen, Kulturen und Literaturen in Wien präsent sind und sichtbar werden. Mit den in diesem Band zusammengetragenen Beiträgen wollen wir aufzeigen, auf welche Weise sie im Stadtraum, in der Kultur und im öffentlichen Leben vertreten sind. Wir fragen gemeinsam mit unseren Beiträger*innen danach, wo südslawische Sprachen und Kulturen vorkommen, wie sie von Südslaw*innen im Stadtbild und der Gemeinschaft fortlaufend aktualisiert werden und wie die jeweiligen Erscheinungsformen südslawischer Präsenz in Wien gedeutet werden können. Uns interessieren konkrete Orte des Zusammenkommens, die eigentlichen Protagonist*innen ebenso wie Kulturund Kommunikationsräume, in denen Südslaw*innen mit der Stadt interagieren und sie mitprägen. Dabei ist die Wechselseitigkeit der Beziehung für uns von besonderer Bedeutung, denn die kulturellen Einflussströme laufen zeitgleich in beide Richtungen, sodass das Eine nicht ohne das Andere, das Südslawische (Wien) nicht ohne die Wiener (Südslaw*innen) und die (Wiener) Südslaw*innen nicht ohne (das südslawische) Wien vollständig erfassbar sind.

Das südslawische Wien

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Die Autor*innen dieses Bandes widmen sich dem Thema der südslawischen Präsenz und Sichtbarkeit in Wien aus verschiedenen disziplinären Perspektiven und bringen Erkenntnisse aus Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaft, Theater- sowie Geschichts- und Sozialwissenschaften zusammen. Die meisten Beiträge haben zwar einen wissenschaftlich-analytischen Fokus, richten sich aber doch auch an ein breiteres Publikum, das sich für das südslawische Wien interessiert. Einige Beiträge, wie der von Mascha Dabić und Bisera Dakova zur Literatur, sind sogar bewusst essayistisch gehalten oder sind von persönlicher Beteiligung am Forschungsgegenstand gekennzeichnet, ganz besonders die Beiträge von Jana Dolečki, Lydia Novak sowie Vida Bakondy und Amila Širbegović. Doch nicht nur sie, nahezu alle unsere Autor*innen vereinen mehrfache Zugehörigkeiten in sich selbst, was ihren Blick auf das südslawische Wien geschärft und zweifelsohne mit perspektiviert hat. Alle sind Wiener*innen (oder waren es zumindest). Nicht wenige der Beiträger*innen in diesem Band sind zudem aktiv an der Gestaltung von südslawischer Sichtbarkeit in Wien beteiligt, sei es in Form von Ausstellungen, Vereinsarbeit, Organisation kultureller Veranstaltungen wie Lesungen, Diskussionsrunden, Tagungen, Bällen, Kulturfesten und Ähnlichem oder als Schriftsteller*innen und Forschende. Auch wir als Herausgeberinnen und Südslawistinnen haben unseren eigenen Blickwinkel auf die Stadt eingebracht: Katharina Tyran, Sprachwissenschaftlerin mit südslawistischem Forschungsfokus, ist in Wien geboren und aufgewachsen und verfolgt seit Jahren südslawische Linguistic Landscapes rund um die Ottakringer und andere ‚Balkanstraßen‘, ebenso wie die Präsenz der anerkannten Volksgruppen in der Stadt, mit der sie als Teil der Wiener ‚Diaspora‘ der Burgenländischen Kroat*innen aufgewachsen ist. Miranda Jakiša hat der Ruf der Universität Wien auf die Professur für Südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft überhaupt erst nach Wien geführt und seither wurde sie schlicht von der immensen Präsenz des Slawischen und vor allem Südslawischen in Wien überwältigt: Hörsäle voll südslawischer heritage students, deutlich sichtbare südslawische Minderheiten, die mit Ausstellungen, Literatur, Musik und aktiver Kulturarbeit über die Stadt verteilt in Erscheinung treten und zudem eine emanzipierte und reflektierte ‚Jugo‘- und ‚Tschusch*innen‘Kultur stellen in der Stadt Wien ein einzigartiges südslawistisches Forschungsfeld dar. Südslawist*innen der Universität Wien brauchen jedenfalls nicht erst nach Südosten zu blicken, um Gegenstände für ihre Forschung und Lehre ausfindig zu machen. Unseren Beiträger*innen haben mit uns gemeinsam, zusammenschauend und interdisziplinär, Zugänge zu unterschiedlichen Kulturräumen von Süd­

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Miranda Jakiša & Katharina Tyran

slaw*innen, zu Orten ihrer Sichtbarkeit, Medien und Texten südslawischer Präsenz, zu Erinnerung und Migration zwischen Wien und der jeweiligen südslawischen ‚Heimat‘, zu südslawischen Identitätsentwürfen verschiedener Diasporagruppen sowie zur sprachlichen Allgegenwart des Südslawischen in der Stadt erarbeitet. Dabei wurden zwischen den einzelnen Perspektiven und Beiträgen naturgemäß auch eine Vielzahl an Verflechtungen sichtbar, die sich erst gemeinsam in der Gesamtschau zum südslawischen Wien verdichten. Wir wollen daher die Übersicht über die Beiträge von den Knoten- und Berührungspunkten aus angehen: Die Buchhandlung Mi [Wir] zum Beispiel, der sich Armina Galijašs Beitrag widmet, wird auch im Text von Vida Bakondy und Amila Širbegović als wichtiger südslawischer Treffpunkt in Wien beschrieben. Bakondys und Širbegovićs Ausstellung Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien, mit der sich ihr Beitrag in diesem Band befasst, fand 2020 in der Hauptbücherei am Gürtel statt und rückte die Geschichte und die Anwesenheit von aus Jugoslawien Geflüchteten in das Wiener öffentliche Bewusstsein. Die südslawische Gruppe der in den 1990er Jahren vor dem Krieg Geflüchteten, zu der im Grunde auch der Inhaber der Wiener Buchhandlung Mi, Miroslav Prstojević, gehört, bildet aber nicht alleine die (nach)jugoslawische, bosnische, kroatische, montenegrinische und serbische Leserschaft der Buchhandlung und südslawische Gemeinschaft in Wien. Ihr gesellen sich die Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre und deren Nachfolgegenerationen ebenso zu wie die EU-Freizügigkeitszuwander*innen der Nachwende-Jahre sowie die fortlaufende Bildungs- und Arbeitsmigration aus der gesamten Südslavia. Gemeinsam mit den in Wien bereits anwesenden Minderheiten bilden sie eine große diasporische Gemeinschaft mit Südslavia-Bezug, die sie in der Wiener Form und im Wiener Ausmaß letztlich einzigartig macht. Es ist daher kein Zufall, dass es gerade in Wien eine Buchhandlung gibt, die eine (post)jugoslawische Community unter einem Dach vereint – und eben nicht in Paris oder Chicago (Städte, die ebenfalls signifikante, aber weniger vielfältige südslawische Zuwanderung aufzuweisen haben). Es ist ebenso kein Zufall, dass der aktivistische Chor Hor 29.  Novembar [Chor 29. November], den Jana Dolečki als Chorleiterin für uns in die Stadt eingeordnet und südslawisch kontextualisiert hat, in Wien und nicht in einer anderen Stadt mit südslawischer Diaspora existiert. Der starken Präsenz des jugoslawischen Erbes in Wien – fast schon (aber eben auch nicht vollständig) als Jugonostalgie umschreibbar – wird in Rada Živadinovićs Beitrag nachgegangen, der Identifikationsstrategien vor allem in weiblichen Narrativen aus der postjugo-

Das südslawische Wien

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slawischen Diaspora abseits ethnonationaler Kategorien ausmacht. Ihrem Text sowie jenem Jana Dolečkis gelingt es, den produktiven, emanzipativen Beitrag zu einer übernationalen postjugoslawischen Zugehörigkeit der Wiener „Jugos“ herauszuarbeiten, für den erst (das Rote) Wien den ermöglichenden Boden bereitstellt. In Wien scheint eine spezifisch gemeinsame Zugehörigkeitsschreibung fortführbar zu sein – in einer Weise, wie sie in den Nachfolgestaaten ­Jugoslawiens nicht ohne weiteres möglich ist. Janas Dolečkis Wiener Chor, der das Gründungsdatum Jugoslawiens im Namen führt, ist dabei vor allem eine partizipative, kritisch-aktivistische Gemeinschaft von Wiener*innen, für die das Jugoslawische mehr Chiffre der Gleichstellungsidee ist und weniger eine ethnische, kulturelle oder sprachliche Zugehörigkeit: Auch österreichische und andere nicht südslawische Wiener*innen singen begeistert im Hor 29. ­Novembar mit. Der Tschuschen-Rap, den Miranda Jakiša sich näher angesehen hat, ist ebenso ein Wiener migrantisches Identitätsangebot, das nicht auf Südslaw*innen begrenzt bleibt, wenn es sie doch primär abzuholen sucht und mit balkanischen Musik-Elementen arbeitet. Das legendäre Jugo-Café Lepa Brena am Gürtel, in der Nähe des Westbahnhofs, dessen Stammkundschaft vor allem Wahlwiener*innen aus dem (nach)jugoslawischen Raum bilden und das als informeller Treffpunkt dient, findet sich in Mascha Dabićs Essay ebenso wie in Jana Dolečkis Reflexionen darüber, wo in Wien ein musikalisches Repertoire aus Jugoslawien fortgepflegt wird. Aus den Texten des Bandes kristallisieren sich auf solche Weise zunehmend gemeinsame Orte und Arenen des Südslawischen. Emmerich Kelih zeigt zusätzlich, dass dabei manche dieser Orte für das Slowenische auf eine lange Tradition zurückblicken können. Der Beitrag der Übersetzerin, Dolmetscherin und Schriftstellerin Mascha Dabić, der sich der literarischen Selbstreflexion von Südslaw*innen in Wien widmet, beschreibt das Wirken ausgewählter zeitgenössischer Schriftsteller*innen aus Serbien, Kroatien, und Bosnien-Herzegowina in der Stadt aus der Sicht einer Protagonistin und prominenten Übersetzerin südslawischer Literatur. Bisera Dakova erweitert das Spektrum um literarische Spuren und das kulturelle Wirken von Bulgar*innen in Wien. Darko Leitner-Stojanov und Siegfried Gruber zeigen auf, dass und wo sich in Wien nordmazedonisches kulturelles Leben in Vereinen und Kultureinrichtungen abspielt. Konkreten Spielräumen des südslawischen Theaters geht Darija Davidović nach, die in ihrem Beitrag ebenso festhält, welch subversives und kreatives Potenzial aus der Wiener-südslawischen Symbiose entstehen kann. Wie sich ein solches auch in der Musik manifestiert, zeigt Miranda Jakišas Text zum mehrsprachigen

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Wiener-südslawischem Tschuschen-Rap jenseits von „Muttersprachen“. Dass diese Rap-Kultur auch die sprachliche Landschaft der Stadt prägt, verdeutlicht Katharina Tyrans Forschung, die der konkreten Sichtbarkeit der südslawischen Sprachen in Wien nachgeht und subversive Zeichen in den analytischen Fokus stellt. Sanda Üllen und Sabrina Steindl-Kopf widmen sich dem Aktivismus ausgewählter Rom*nja-Vereine, die sich für eine stärkere Sichtbarmachung dieser minorisierten Gruppen vor allem im öffentlichen Raum und Stadtbild Wiens einsetzen. Und wie es einer anderen, anerkannten Minderheit, den Burgenländischen Kroat*innen gelingt, sich die Wiener Ballkultur anzueignen und sie mit neuen Inhalten zu bereichern, zeigt Lydia Novaks Text zum Wiener Kroatenball. Wie sehen sich die Südslaw*innen in Wien und wie werden sie gesehen? Auch dieser Frage gehen die Beiträge nach. Emmerich Kelih thematisiert die Eigen- und Fremdwahrnehmung des Slowenischen und der Slowen*innen in Wien anhand sprachlicher Korpora. Auf sprachliche Belege, nämlich die Analyse von Wörterbüchern, stützt sich auch Agnes Kim. Sie zeigt, wie Südslaw*innen von der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden und welche Stereotype dabei evoziert werden, ebenso wie Nedad Memić, der sich medialen Diskursen dezidiert zu Bosnier*innen widmet. In seinem Beitrag steht die Frage von ‚guter‘ Integration im Zentrum – auch das ist ein wiederkehrender Topos in vielen Beiträgen. So geben Nadine Thielemann und Lejla Atagan erste Einblicke in ihr Forschungsprojekt Vienna meets the Balkans, das der Frage nachgeht, wie Personen mit Balkan-Background in die Wiener Wirtschaft integriert sind und wie sie das Label Balkan auch bewusst für ökonomischen Erfolg im Unternehmertum nutzen. Wiener Südslaw*innen arbeiten mit zunehmendem, auch ökonomischem, kulturellem und politischem Erfolg an ihrer Sichtbarkeit im Stadtbild und Wiener Bewusstsein. Lange war das Bild der Südslaw*innen in Wien jedoch von ihrem sozioökonomischen Status als Wander-, später Gastarbeiter*innen und damit einhergehend über ihre (geringe) Kaufkraft und (unbedeutende) Stellung in der Wiener Gesellschaft geprägt. Dass dem nicht erst seit den 1960er Jahren so war, zeigt Agnes Kims Beitrag, in dem sie Begrifflichkeiten genauer auf die Spur geht. Ersichtlich wird diese Wahrnehmung von Südslaw*innen beispielsweise in stereotypisierenden Zuschreibungen zum „Tschuschen“ oder „Krowod“ als spezifische Type, die auch in das Wienerlied Eingang gefunden haben. ­Nedad Memić befasst sich zusätzlich mit der österreichischen Vorstellung vom „Bosniak“, die sich bis ins historische Wörterbuch zurückverfolgen lässt. Dass und wie solche Bilder heute spielerisch genutzt und re-interpretiert ­werden

Das südslawische Wien

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k­ önnen, demonstrieren Lydia Novaks Erläuterungen zum Programm des Wiener Kroatenballs, wo der „nach Zwiebel stinkende Kroate“ künstlerisch aufgegriffen und in einen neuen Kontext gesetzt wurde. Dass es gerade pejorative Begriffe sind, die sich (gesellschaftlich marginalisierte) Gruppen gerne zurückerobern, umdeuten und für sich nutzbar machen, zeigt auch die Behandlung des Wiener Tschuschen-Raps: In der Wiener Rap-Szene wurde der „Tschusch“ zum migrantischen Kampf- und Selbstbeschreibungsbegriff umkodiert und sogar zum Label migrantischen Kleinunternehmertums innerhalb der Wiener Hip-Hop-Kultur umfunktioniert, der es nun erlaubt, die Stadt Wien auch für sich zu reklamieren. Tschusch*in ist inzwischen eine Wiener Identität, die sich insbesondere künstlerische Kreise als utopischen Ort Wiener migrantischer Gemeinsamkeit erschaffen haben – das sogar über die Südslaw*innen hinaus. Rada Živadinovićs Forschungsergebnisse wiederum zeigen, dass auch der Begriff „Jugo“ eine solche positive Umdeutung erfahren hat und nicht mehr vorrangig ein Stigma bedeutet, wofür auch Mascha Dabićs Beschreibung von jugonostalgischen Jergović-Lesungen und Thielemanns und Atagans Interviews mit Wiener Balkan-Unternehmen, die sehr positiv eine jugoslawistische Selbstverortung betreiben, eine Bresche schlagen. Die Jugos (als Ausdruck für Jugoslaw*innen) waren im öffentlichen Bewusstsein seit der Arbeitsmigration von Südslaw*innen nach Wien ab den 1960er Jahren meist einfach die Gastarbeiter*innen. Diese spielen in einer Vielzahl der Beiträge in diesem Band, so bei Davidović, Dolečki, Gruber und Leitner-Stojanov, Jakiša und Memić eine tragende Rolle. Auch wenn die Gastarbeiter*innen in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch Ausstellungen, Projekte und Publikationen ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurden, gehören sie nach wie vor zu einer vergleichsweise unsichtbaren Gruppe in der offiziellen Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung der Stadt Wien und im Selbstverständnis der Wiener*innen. In einer GrassRoot-Aktion versucht daher der Wiener und Gastarbeitersohn Savo Ristić ein Gastarbeiter*innen-Denkmal am Wiener Hauptbahnhof, dem alten Südbahnhof und häufigstem Ankunftsort, zu realisieren, um an all jene Frauen und Männer zu erinnern, die als Arbeitskräfte gekommen sind, die Stadt und auch das Land mit aufgebaut haben, und so ein wichtiger mitgestaltender Teil Wiens und Österreichs geworden sind. Dass solche Sichtbarkeits-Initiativen durchaus erfolgreich sein können und als Empowerment einer bestimmten Community dabei auch kontrovers diskutiert werden, erläutern Sanda Üllen und Sabrina Steindl-Kopf in Hinblick auf topographische Bezeichnungen in Wien, die nach bekannten Rom*nja benannt wurden. Den generellen Wunsch nach mehr

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Sichtbarkeit thematisiert auch Vida Bakondys und Amila Širbegovićs Beitrag zur Ausstellung Nach der Flucht, die nicht zufällig in der Hauptbücherei am Gürtel eingerichtet wurde, sowie Miranda Jakišas Beitrag zu den TschuschenRappern, die – auch im Namen der Gastarbeiter*innen – ihren Ort in Wien claimen, während sie den Gürtel und „ihren“ 16. und 17. Bezirk besingen. Der Wiener Gürtel stellt eine essenzielle Demarkationslinie städtischer Ordnungskategorien dar. Vielen Beiträgen gemein ist dieses Aufdecken eines Gefälles von Zentrum und Peripherie in Wien. Katharina Tyrans Beitrag zeigt, wie sich südslawische Communitys an Hauswänden außerhalb des Gürtels zu einer stärkeren Sichtbarkeit verhelfen und dabei auch Konflikte austragen, und Darko Leitner-Stojanovs und Sigfried Grubers Beitrag verdeutlicht, dass das nordmazedonische Leben vor allem in einem der Außenbezirke, nicht im Zentrum floriert. Immer wieder zeigt sich im Band Südslawisches Wien, dass die vier aus dem Serbokroatischen/Kroatoserbischen hervorgegangenen Varietäten Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch nicht leicht zu trennen sind. Armina Galijaš thematisiert dazu passend auch die Sprachbezeichnung „naš jezik“ – „unsere Sprache“, die dieses Dilemma bewusst umgeht und dabei auch eine bestimmte Positionierung ermöglicht. Wir haben die Bezeichnung derjenigen südslawischen Sprachen, die zum (i/j/ekavisch-)neuštokavischen Dialektkontinuum gehören und für die auch die Akronyme BKS oder BKMS, oft auch in der Schreibung B/K/S oder B/K/M/S (gemeint sind bosnisch, kroatisch, montenegrinisch und serbisch) gebräuchlich sind, weitgehend den Autor*innen überlassen. Zusätzlich ist uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch andere südslawische Sprachen, das Slowenische, Bulgarische und Mazedonische, ihren Platz in der Stadt und in diesem Band gefunden haben. Wenngleich nicht im gleichen Ausmaß sichtbar, so zeugen doch die Beiträge von Emmerich ­Kelih, Bisera Dakova und Siegfried Gruber und Darko Leitner-Stojanov von ihrer Präsenz in Wien. Die meisten Beiträge unseres Bandes versuchen zudem, ihre behandelten Communitys auch numerisch zu fassen und berufen sich dabei auf ähnliches, aber nicht immer gänzlich übereinstimmendes Zahlenmaterial. Als Herausgeberinnen sind wir der Überzeugung, dass Zahlen immer erst im Kontext sprechen und unterschiedliche Fragestellungen auch unterschiedliche demographische Daten oder unterschiedliche Interpretationen derselben Zahlen verlangen. Wir haben daher darauf verzichtet, Gesamtzahlen oder verwendetes Quellenmaterial für den Gesamtband zu vereinheitlichen.

Das südslawische Wien

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Unser Dank geht an mehrere Studierende des Instituts für Slawistik der Universität Wien, die sich als Übersetzer*innen-Kollektiv engagiert und die ­Linguistic-Landscape-Forschung mitgetragen haben: Olja Alvir, Tamara ­Haddad, Verena Hartmann, Haris Huremagić, Matija Ilić, Sushila Doris Penn-­ Polykrates, Katarina Predić, Danilo Puškić, Nina Weifert und Angelika Zimmermann haben in gemeinsamer Arbeit mit Miranda Jakiša den Beitrag von Jana Dolečki aus dem Kroatischen übersetzt. Elisabeth Allabauer, Nestani Chumburidze, Karen Fromhold, Ivana Radovanović und Oskar Rupp waren maßgeblich an der Materialsammlung und ersten Aufbereitung der Daten beteiligt, auf denen der Beitrag Katharina Tyrans zur Sichtbarkeit südslawischer Sprachen in Wien beruht. Ganz besonders bedanken wir uns bei Olja Alvir, die mit großem Einsatz zur Fertigstellung des Manuskripts beigetragen und das Übersetzer*innen-Kollektiv tatkräftig angeführt hat. Unser Dank gilt ebenfalls Sylvia Richter, die uns so freundlich und ohne Umschweife unter die Arme griff, als wir technische Hilfe brauchten. Wir bedanken uns bei der Stadt Wien, beim Zukunftsfonds der Republik Österreich und bei der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Förderung und ihr Interesse an der Realisierung dieses Bandes zum südslawischen Wien. Wir lesen daraus, dass wir Südslaw*innen uns Wien nicht nur zugehörig fühlen, sondern auch in Wien angekommen sind. Miranda Jakiša & Katharina Tyran



SÜDSLAWISCHE KULTURRÄUME IN WIEN: PERFORMATIVE ARENEN DER SICHTBARKEIT



KEEP IT JUGO, DO IT ŠVABO: WIEN IM TSCHUSCHEN-RAP Miranda Jakiša

Tschuschen-Rap, Tschuschen-Rap, Keiner kann es übersehn. Tschuschen-Rap, Tschuschen-Rap, Ich muss zu den Tschuschen stehn. (Kid Pex, Tschuschenrap)

Rap als populärkulturelles Phänomen ist längst in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Auch Wien hat seinen eigenen Rap und das in vielfältigsten Ausprägungen. Zunächst eine Ausdrucksform marginalisierter Gruppen, die mit den Mitteln der Hip-Hop-Kultur über Breakdance, DJ-ing, Graffiti-­Writing und eben auch Rapmusik aus der Peripherie ins Zentrum drängten, hat Rapmusik sich früh einen emanzipatorischen Ruf erkämpft. Dass Rap sichtbar macht, was vorher gesellschaftlich und kulturell unsichtbar war, stellt einen Gemeinplatz unserer populärkulturellen Gegenwartseinsichten dar. Diese Fähigkeit der Rapmusik – entstanden in den Ghettos New Yorks der 1970er und 1980er Jahre und bald zum internationalen Exportschlager avanciert – hat mittlerweile unzählige sozial- und kulturwissenschaftliche Studien inspiriert. Rap ist heute ein etablierter Forschungsgegenstand, hat sich global einen festen Platz im gesellschaftlichen Bewusstsein erarbeitet und wird lange schon nicht mehr nur als Ausdruck von Jugendkulturen betrachtet.1 Rap läuft ebenso als Hintergrundmusik im Billa, wie er bürgerliche Varianten ausgebildet und sich zum pädagogischen Instrument an Schulen aller Bezirke und sozialen Schichten gemausert hat. Kaum ein Jugendzentrum, das Rap, Breakdance und Graffiti nicht als Form der Teilhabe und Selbstermächtigung in Workshops für Jugendliche anbietet – in Favoriten genauso wie in Währing. Dabei, so will es scheinen, hat die Hip-Hop-Kultur in ihrer kometenhaften Erfolgsgeschichte 1

Zur „generationalen Heterogenität“ der Hip-Hop-Kultur vgl. Dietrich, 2018, 4. An dieser Stelle danke ich Maurice und Shejla Jakiša, die ihr generationales Ott-Wissen mit mir geteilt und beim Entschlüsseln so manch eines Rap-Reims zur Seite gestanden haben.

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auch einiges an ursprünglich revolutionärem, gesellschaftlich brisantem und kritischem Potenzial eingebüßt. Denn inzwischen beauftragen Städte StreetArt-Künstler mit der Graffiti-Verschönerung des öffentlichen Raums, statt die vermeintliche ‚Verschandelung‘ strafrechtlich zu verfolgen. Der Linzer Rapper und Neu-Wiener Average rappt unterdessen über das ‚Problem‘ der unverstandenen „Männergrippe“ und zitiert dabei – brav bildungsbürgerlich – Molières eingebildeten Kranken, während der in Favoriten geborene Rapper A.Geh Wirklich? ironisch-distanziert und in Wiener Mundart reimt: „I schunkl mit da Mutzenbocherin. Und jeda waas dass i da Prinz aus Grinzing bin.“ Alexander Gabriel alias A.Geh Wirklich? erklärt dazu im Track Samma uns ehrlich, „in dem Rap Spü geht’s zvü um Pling Pling, des Gängsta Ding hat in Österreich net vü Sinn.“ Marginalisiert ist an solcher Rap-Kunst bestenfalls die dialektale Ausdrucksform oder die soziale Zuordnung zum geschassten Durchschnitt (weiß, männlich, Mittelschicht), zu denen sie offensichtlich selbstironische Distanz einnehmen, nicht aber die generelle Zugehörigkeit des Rappers zu ­Österreich und zu Wien. Rap hat also auch eine ordentliche Portion gesellschaftlicher Domestizierung erfahren, die zumindest in Teilen, wie es scheint, das aggressiv Einfordernde marginaler, unterdrückter und diskriminierter Gruppen einkassiert hat. Doch vielen Rap-Performances geht es auch gar nicht (mehr) um Teilhabe am dominanten gesellschaftspolitischen Zentrum – sie sind schon dort! Es zeugt von der hohen Flexibilität und zeitgeschichtlichen Adaptabilität der Rapmusik, die ihre internationale Erfolgsgeschichte mitbegründet haben, dass Rap offenbar in allen Sprachen und Sprachvarianten, allen Bildungs- und sozialen Schichten und generationenübergreifend anzukommen weiß2 und dass die Frage des im Rap vorgebrachten Marginalen nicht immer im drastischen Kontrast zum Zentrum stehen muss. An dieser Stelle möchte ich zum Wiener Tschuschen-Rap überleiten. Wichtig war mir, die Betrachtung des Rap schon einleitend nicht auf eine Musik migrantischer, Jogginghosen tragender Möchtegern-Gangster zu beschränken. Rap sollte von vorneherein in der österreichischen Gegenwart so platziert werden, dass deutlich wird, Tschuschen-Rap ist nicht einfach eine Musik der gesellschaftlich unsichtbaren, bedauernswerten Underdogs, die sich nur aus dem ‚Untergrund‘ zu artikulieren wüssten, weil ihnen andere Zugänge verwehrt sind. Das machte in der Tat „net vü Sinn“! Tschuschen-Rap, 2

Tony Mitchell wendet daher Deleuzes Begriff des Rhizoms für den Rap an, der „rapidly bec[a]me globalized and transplanted into different cultures through the world.“ Mitchell, 2003, 5.

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ein österreichischer Jugo-Rap – auf die Begriffe wird nachfolgend noch näher eingegangen –, ist eine eigenständige österreichische, hoch artikulierte und künstlerische Ausdrucksform, die von einer bestimmten Gruppe der Wiener Südslaw*innen betrieben wird und die von deren spezifischer Weltsicht, Problemlagen und Einschätzungen berichtet. Dabei hat sich diese Gruppe ganz bewusst für den mehrsprachigen und transkulturellen Rap als Medium ihrer Inhalte entschieden.3 Der hier verwendete Begriff Tschuschen-Rap, den der Wiener Rapper Kid Pex auch zur Selbstbeschreibung einsetzt, lässt sich ohne weiteres auf andere Rapper*innen projizieren und fällt unter den Oberbegriff heritage-Rap. Rap als glokale Ausdrucksform ist „still very much concerned with roots, family, locality and neighborhood“4 und hält in seinen mehrsprachigen, transkulturellen Varianten, zu denen der Tschuschen-Rap gehört, Kontakt zu einer diasporischen, teilweise sehnsuchtsvoll überhöhten ‚Heimat‘. Heritage bezeichnet an dieser Stelle dabei gerade nicht eine kulturell vereindeutigende Heimatpflege in der eigenen Musik, sondern eine vielschichtig ­reflektierte Mehrfachzugehörigkeit migrierter Subjekte, die zwischen einem geteilten diasporischen Herkunftsbezug und einem gemeinsamen Ankunftsort gespannt wird. Ein solches Zugehörigkeitsverständnis stellt ohnehin in Europa die Regel dar. Die nationalstaatlich-monokulturelle und einsprachige Ausnahme, die sich seit der Nationalstaatenbildung beharrlich weiter behauptet, steht durch eine oft polemisch geführte „Leitkultur“-Debatte inzwischen überall berechtigt in der Kritik.5 Heritage-Rap reflektiert diese Zusammenhänge sehr bewusst. Auf das Spannungsfeld zwischen Verteidigung einer zentrierten, eindeutigen Zugehörigkeit und den Zentrifugal-Kräften, die gleichzeitig auf sie wirken, wird zurückzukommen sein, wenn die sprachlichkünstlerische Performance des Tschuschen-Rap „Jenseits der Muttersprache“6 behandelt wird. Klar ist, dass Österreichisch-Sein im Wiener Rap etwas ande3

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Andere Formen des emanzipatorischen Tschuschen-Ausdrucks finden sich z.B. in den Performances der Wiener Kabarettistin Marina Lacković, die mit ihrer Kunstfigur Malarina, einer serbischen Tschuschin, der österreichischen Gesellschaft und den Tschusch*innen einen Spiegel vorhält. Schon lange zuvor, seit über 30 Jahren, verfolgt auch die Wiener Tschuschenkapelle eine ebensolche Strategie. Mitchell, 2003, 6. Yasemin Yıldız arbeitet in ihrer Studie Beyond the Mother-Tongue am Beispiel türkisch-deutscher Literatur die „post-monolinguale Verfasstheit“ heraus, wobei sie Mehrsprachigkeit als historischen Normalfall der vermeintlichen Regel des Nationalsprachlichen und -kulturellen entgegenstellt. Vgl. Yıldız, 2012, 2. Ich beziehe mich mit der Formulierung auf den oben genannten Buchtitel Yasemin Yıldızs.

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res bedeutet als nur die Herkunft aus dem „Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome“.7

WIEN – DIE STADT IM RAP, DER RAPPER IN DER STADT

Rap als Ausdrucksform ist eine narrative, oral organisierte Wortkunst, die zentral auf Wirklichkeitsbezug und Welthaltigkeit gebaut ist und berichtenden, diagnostizierenden und Politik und Gesellschaft bewertenden Charakter hat. Der Rap der Anfangszeit wurde für die USA daher auch schon als „black CNN“ bezeichnet.8 Gemeint ist, dass Rap zum spezifischen Nachrichtenmedium einer marginalisierten Gruppe werden kann, zuerst eben von schwarzen Ghetto-Bewohner*innen der US-amerikanischen Großstädte. Rap als kommunikatives Gesamtsystem ist aber modular und exportierbar und hat künstlerisch selbständige lokale Varianten ausgebildet. Auch Neu-Wiener*innen können über ihre Stadt vieles aus dem Rap lernen, der Informationen zu Besonderheiten der Stadt wie dem Wiener Gemeindebauwesen, der sozialen Valorisierung einzelner Bezirke, der kulturellen Rolle Andreas Gabaliers oder Jörg Haiders, der Wiener Arbeiterkammer oder dem Selbstverständnis der „Bobos“ in „Bobostan“ kurz und bündig zu vermitteln weiß. Im Rap Vienna des Wiener Rappers RAF Camora – der selbst keinen Balkan-Hintergrund, sondern vielmehr eine österreichisch-italienische Familie hat – lässt sich allein schon erfahren, wie migrantisch geprägt und südslawisch Wien ist: Vienna, meine Stadt, meine Liebe Mein Hass, mein Herz, mein Vienna, Vienna Gürtelbezirke, Fünfhaus, Favoriten Balkanexpress, Zagreb, Tuzla, Audi RS Ćevape und Adanaspieße zu Mittag Audikolonne nach Croatia, scheiß auf Ibiza9 7

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Wobei diese Zeilen aus der österreichischen Bundeshymne von Paula Preradović, der Enkelin des kroatischen k.u.k. Offiziers und Dichters Petar Preradović, stammen. Siehe dazu Friedel, 2018, 3, die im Editorial der Themen-Ausgabe Rap der Bundeszentrale für Politische Bildung ausführt, Rap werde als „niederschwellige künstlerische Ausdrucksmöglichkeit für marginalisierte Gesellschaftsgruppen“ gesehen und darin zum „politischen Sprachrohr der Unterdrückten“. RAF Camora: Vienna.

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Rap war schon immer eine Musik der urbanen Zentren und Städte, die Nennung der konkreten Stadt oder des Stadtteils fungiert dabei als elementarer Bestandteil der Eigenverortung und Schaffung eines liedinternen Sprecher*innen-Standpunkts. Dieser ist weniger im rein geographischen Sinne zu verstehen, sondern meint die Darstellung einer bestimmten Problemkonstellation vor Ort, um die es den Rapper*innen jeweils geht. Im Rap wird über „global zirkulierende Symbole des Urbanen im Lokalen ein urbanes Lebensgefühl hergestellt“,10 wobei die städtischen Milieus authentifizieren und für realness stehen. Für die Rapmusik ist die konkrete Lokalisierung im hood, im Kiez, im Block, im sokak, im Grätzl etc. konstitutiv, die Orte sind aber zugleich austauschbar. „Rap […] has become a vehicle […] and a tool for reworking local identity all over the world. Even as a universally recognized popular music idiom, rap continues to provoke attention to local specifities”,11 so der australische Hip-Hop-Forscher Tony Mitchell. Rap erlaubt also, die spezifische Lage am jeweiligen Ort zu erfassen und sie in einer globalen Hip-Hop-Sprache des Urbanen zum Ausdruck zu bringen. Für die Reflexion des Südslawischen in Wien ist der Rap somit doppelt interessant: als Nachrichtenmedium von ‚der Straße‘ (oder da Gossn) und als selbstverortender Identitätstext. Beide geben Auskunft über die in Rede stehende Stadt. Die spezifische Wiener Konstellation im Tschuschen-Rap ist die Anwesenheit von Südslaw*innen – eben den Tschuschen und Tschuschinnen – in Wien. Wien gehört zu ihnen, wie sie zu Wien gehören. Der Wiener Rapper Kid Pex, als Petar Rosandić mit seiner Familie als Kind nach Österreich eingewandert, bezeichnet sich (in kroatischer Sprache) als Kind Wiens: „Ja sam dijete ovog svijeta//Dijete ovog Beča“12 [Ich bin ein Kind dieser Welt // Kind dieses Wiens], und verortet seine Raps (in deutscher Sprache) auch klar erkennbar in der Stadt: „Wir sind Arbeiterklasse wie Karl-Marx-Hof und Rapid“.13 Der hinter der Cover-Abbildung dieses Bandes stehende Track von Kid Pex Wien, Oida!, der gemeinsam mit der Wiener Rapperin Gazal Köpf realisiert wurde, ist nicht mehr und nicht weniger als eine im Refrain wiederholte Liebeserklärung an die Stadt: „Wien, Oida! Bleib so leiwand, bleib so stoark, Wien, Oida! Bist mei Leben, bist mei Ort!“.14

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Klein/Friedrich, 2003, 87. Mitchell, 2001, 2–3. Kid Pex: Dijete ovog svijeta. Kid Pex: Antifašista. Kid Pex: Wien, Oida!.

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Wiener Rapper mit südslawischem Hintergrund greifen die für den Rap topische Stadtzugehörigkeit vielfach auf, dabei häufig Wien als Balkan- und Jugo-Stadt umschreibend. Švaba Ortak – Pavle Komatina, geboren in Wien, aufgewachsen im 3.  Bezirk, mit montenegrinisch-bosnischen Eltern – nennt sich in Bis dato „Wiener Winner im Rap“ und „Balkanese aus Vienna“.15 Sein Crew-Kollege und Ottakringer Rapper Manijak rappt in Dijaspora: „Welcome to Vienna, Balkans nördlichste Stadt // Früher Visum verlängern, jetzt gehört mir der Pass“.16 2018 bekräftigt Denis Abramović alias Manijak im Interview für die Diaspora-Zeitschrift Kosmo mit dem Worten „Wien ist Jugo-Town“17 die Auskunft, die er bereits 2011 dem Biber gibt: „OTK ist Balkan! Auf der Ottakringer geht’s voll ab, du findest dort vom Sandler bis zur Jugo-Firma ­alles: Fortgehen, Einkaufen, Essen gehen – wie in der Heimat.“18 Und Aleksandar Simonovski alias Yugo (vormals Jugo Ürdens), geboren in Skopje in einer mazedonisch-serbischen Familie und als Kind nach Wien gekommen, rappt: „Nenn mich Yugo“19 und ergänzt „Ich lauf durch meine Stadt, mach dies mach das // bin in Wien nicht in irgendeinem Kaff “.20 Jugos ownen Wien, so die Tschuschen-Rapper im Rap und in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Dabei geht es um die Einnahme und Aneignung Wiens, das nicht etwa vom Österreichischen befreit, sondern dessen Jugo-Elemente stattdessen sichtbar gemacht werden sollen. Mit dem auf den ersten Blick tautologischen Ausdruck „der lokale Ort“ erläutern Klein und Friedrich, dass Örtlichkeit im Rap zum Element einer imaginären Großstadt gemacht wird, dass es dabei aber nicht in erster Linie um eine konkrete Stadt geht.21 Das ist sicher einerseits richtig, kann aber andererseits auch einschränkend mit der Anmerkung versehen werden, dass gerade das Transponierbare des großstädtischen Imaginariums im Hip-Hop die eigene Stadt um-schreibbar und re-imaginierbar macht, sodass die konkrete Konstellation der jeweiligen Stadt doch wieder sehr relevant wird. Was zuvor nicht gesehen wird, zum Beispiel das Südslawische an und in Wien, wird im Tschuschen-Rap zu seinem Mittelpunkt um-erfunden und um-erzählt. Der 15 Švaba Ortak: Bis dato. 16 Manijak: Dijaspora. 17 https://www.kosmo.at/manijak-im-interview-wien-ist-jugotown/, letzter Zugriff: 14.03.2022. 18 https://www.dasbiber.at/content/3-minuten-mit-manijak, letzter Zugriff: 14.03.2022. 19 Yugo: Allegro. 20 Yugo: Babylon. 21 Klein/Friedrich, 2003, 98.

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Abb. 1. YouTube-Still aus „Hand hoch“ [PMC Eastblok]: Rapper im städtischen, über den Gemeindebau als Wien erkennbarem Milieu.

Tschuschen-Rap bedient sich der Bildwelt des Urbanen: Straßenzüge, Parkhäuser, Industrieanlagen und Graffiti im Hintergrund der Musikvideos, mit denen er sich in die städtische Hip-Hop-Kultur des globalen Dorfs einschreibt, zugleich aber reclaimen die Tschuschen- und Jugo-Rapper Wien als Stadt der Südslaw*innen. In der Abbildung oben wird deutlich, dass die Verortung in Wien sozial chiffriert wird. „Der Bezug zu Wien ist da, weil ich zeigen will, dass wir, die Migranten, die Gastarbeiter, die Tschuschen, auch Wiener sind. Im Rap geht alles ums Representen, und ich repräsentiere Tschuschen-Rap aus Wien. Das hat definitiv eine sozialkritische Bedeutung“,22 kommentiert Kid Pex.

GASTARBEIT UND EIGENVERMARKTUNG – NEUE REGIME DER SICHTBARKEIT

Der deutsche Musik-Journalist, MC und Rapper Hannes Loh erläutert 2002 in der Pioniersstudie Fear of a Kanak Planet zum Deutschrap von Migrant*innen: „Rap [gab] den Kindern der ersten Einwanderergeneration zum ersten Mal 22 Kid Pex im Interview mit Rosa Reitsamer und Rainer Prokop, zitiert nach Reitsamer/Prokop, 2019, 158.

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in der Geschichte der Migration die Möglichkeit, aus einem gesellschaftlichen Schattendasein herauszutreten und eine Präsenz und Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zu erobern.“23 „Meine Stadt, motherfucker, mach Platz da!“, rappt Mife entsprechend im gemeinschaftlichen Track mehrerer Wiener Jugo-Rapper Hand aufs Herz. Auch Petar Rosandić bestätigt noch 2022 im Interview mit Nada, der Magazin-Beilage der Wochenzeitung Novosti, dass Rap Migrant*innen etwas bietet, was die Gesellschaft zunächst verwehrt: „U Beču se nisam osjećao potpuno prihvaćen, a hip-hop je zbog interkulturalnog bogatstva postao moja domovina.“ [In Wien fühlte ich mich nicht vollständig anerkannt und Hip-Hop wurde durch seinen interkulturellen Reichtum meine Heimat.]24 Mit Rap lässt sich eine Position und Wahrnehmung erarbeiten, darauf bauen die Wiener Migrant*innen-Rapper, wenn sie das Balkanische an Wien besingen. Eine zusätzliche Sichtbarkeit, die sich neben der Anwesenheit der Süd­ slaw*innen in Wien im Tschuschen-Rap herstellen lässt, betrifft die Geschichte der Arbeitsmigration nach Österreich und damit die Geschichte der Gastarbeiter*innen generell. Diese ist, trotz einiger Anstrengungen in den letzten beiden Jahrzehnten, doch weitgehend unsichtbar im Stadtbild und der offiziellen Geschichtsschreibung Österreichs geblieben. Savo Ristićs Denkmalinitiative zur (Un-)Sichtbarkeit der Wiener Gastarbeiter*innen, die wir in der Einleitung zu diesem Band vorgestellt haben, und der Wunsch danach, sich „ins kulturelle Gedächtnis hinein zu reklamieren“, sind ohne Zweifel auch ein Thema im Tschuschen-Rap.25 Anders als das von Sanda Üllen und Sabrina SteindlKopf in diesem Band in Bezug auf die Rom*nja in Wien diagnostizierte „zum Schweigen bringen des Raums“, das sie, frei nach Karl Schlögel, für die nationalstaatliche Unsichtbarmachung bestimmter Gruppen ins Feld führen, bringt Rap den Raum gerade dezidiert zum Sprechen. Ansprechen, representen, ­ownen bedeutet im Deutschrap auch, das eigene Migrationswissen einzubringen und das „Fremd im eigenen Land“-Gemacht-Werden26 offensiv ans Licht zu bringen. Der deutsche Kanaken-Rap, der nicht einflusslos auf den DeutschRap in Österreich bleibt, steht schon früh für die Sichtbarmachung der Gast23 Loh/Güngör, 2002, 22. 24 Petar Rosandić – Rep je muzička forma manjine. Interview in: Nada. Društveni magazin Srpskog demokratskog foruma, Nr. 1157, 18.02.2022, 2. 25 Initiative Gastarbeiter*innen Denkmal, https://www.savo-ristic.com, letzter Zugriff: 14.03.2022. 26 Fremd im eigenen Land ist ein Hip-Hop-Song der Heidelberger Crew Advanced Chemistry, der bereits 1992 erschien und den Rassismus gegen Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen in Deutschland anprangert.

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arbeiter*innen ein.27 Bereits in Crew-Namen wie Sons of Gastarbeita, einer 1994 in Deutschland gegründeten Rap-Formation, zeigt sich die distanzierend resümierende, mit Stolz und Anerkennung die Leistung einer Elterngeneration reklamierende Haltung, die den Wunsch nach möglichst unsichtbarer Integration der Ersten Generation hinter sich gelassen hat. Auch in Österreich gab es eine vergleichbare Entwicklung mit Formationen wie Schönheitsfehler, deren Mitglied Milo erzählt: „Als Jugoslawe in Österreich war das für mich konkret die Möglichkeit auf die Bühne zu gehen und all den Wichsern meine Meinung zu sagen, wie es mir geht und wie’s in meinem Ghetto zugeht. Ich bin aufgewachsen in einer 20-Quadratmeterwohung ohne Fließwasser, Klo auf dem Gang für acht Parteien.“28 Den Begriff der Gastarbeit leicht verfremdet als „Gastarbeita“, in Wien oft „gastarbajteri“ für sich einzunehmen, spricht sowohl von Hommage an die Sprechweise der Eltern als auch für die Weigerung, den diskriminierenden und pejorativen Einsatz von „Gastarbeiter“ im Deutschen in die eigene Selbstwahrnehmung mitzunehmen. Spannend an der Aneignung des Begriffs Gastarbeit/ er*innen ist auch, dass spätere Migrationsgruppen und -generationen sich mit ihm identifizieren und solidarisieren, auch wenn die nominelle Gastarbeit in Österreich 1973 mit dem Anwerbestopp endet. Kid Pex’ 2009 erschienenes Album Gastarbeiterlife verdeutlicht diese Solidarisierung, denn die Ankunft seiner Eltern in Wien zeichnet Kid Pex explizit als ökonomisch motivierte Arbeitsmigration nach, obgleich seine Familie zu Kriegsausbruch in den 1990er Jahren nach Wien kam, lange nach der offiziellen Gastarbeit: Najbolji primjer u svemu Dali su mi moji roditelji Za kruhom su krenuli Da bi nama nešto stvorili Život ih u tuđinu bacio Ali sačuvali su čast Prošli svoju muku Dali mi primjer za pošten rad

Das beste Beispiel in allem Waren mir meine Eltern Sie machten sich auf den Weg dem Brot nach Um für uns etwas zu schaffen Das Leben hat sie in die Fremde geworfen Aber ihre Ehre bewahrten sie Durchliefen ihr Leiden waren mir ein Beispiel für ehrliche Arbeit.

27 Vergleiche dazu den wichtigen Band von Hannes Loh und Murat Güngör Fear of a Kanak Planet, der Güngörs „Vater und der ersten Gastarbeitergeneration in Deutschland gewidmet“ ist. Loh/Güngör, 2002, 5. 28 Verlan/Loh, 2000, 308. Zum österreichischen Rap von Migrant*innen siehe auch Klausegger, 2009, insbesondere 217–263.

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Die „ehrliche Arbeit“ seiner Eltern, die dem Broterwerb gefolgt sind, um den Kindern etwas bieten zu können, betrachtet das sprechende Ich im RapText als vorbildliches Leben. Auch Manijak und Švaba Ortak kennen denselben generationalen Zusammenhang und verstecken die Gastarbeit der Elterngeneration nicht: „Für Väter auf Baustellen, Mütter, die am Putzen sind // Und sich denken, wir waren arm, aber nicht unser Kind“.29 Die Forderung nach Sichtbarmachung entspricht der Forderung nach Anerkennung einer gesellschaftlichen und gesellschaftlich relevanten Existenz für die Gastarbeiter*innen und ihre Leistung in und für Österreich.30 Doch wie bekommt man, so fragt der Historiker Dirk Rupnow in diesem Zusammenhang, die Migrationsgeschichte nur ins österreichische Gedächtnis? „[Es ist] offensichtlich, dass verweigerte Repräsentation ein zentrales Problem darstellt und angesichts der durch die Migration bedingten Veränderungen in unserer Gesellschaft ein neuer Blick auf die nationale Geschichte notwendig wird. [...] Dies betrifft Eingeborene wie Zugewanderte gleichermaßen“.31 Das Wien Museum gab 2004 in der Ausstellung Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration den Gastarbeiter*innen erstmals eine aktivere Rolle in ihrer eigenen Darstellung.32 Neben solchen musealen Projekten zur Migration in Österreich, zu denen Vida Bakondy – auch in diesem Band gemeinsam mit Amila Širbegović – substanziell beigetragen hat,33 bietet auch der österreichische Rap eine performative Arena der Verhandlung von Gastarbeit an. Dabei kommt ihm zupass, dass der Rap eine orale Kunst des Erzählens ‚von unten‘ ist. Die Geschichte der Gastarbeit, deren historische und erinnerungspolitische Aufarbeitung gegenwärtig erst im Gange ist, war in vorhergehenden Jahrzehnten vor allem eine Geschichte mündlicher Überlieferung. Die erste Generation versuchte meist nicht aufzufallen, wie Mark Terkessidis in seiner kleinen Pionierstudie Migranten zeigen kann, und hat daher nur im familiären Kreis von Ankunft und von den Herausforderungen der Gastarbeit erzählt.34 Die Geschichte der Gastarbeiter*innen war ohne eine offizielle rahmende österreichische Geschichtsschreibung vor allem eine Oral History. Diese mündliche Überlieferungstradition findet sich nun im Tschuschen-Rap in einer ebenfalls Manijak feat. Švaba Ortak: Dijaspora. Vgl. Schaffer, 2008, 234. Rupnow, 2013, 11. Das Ausstellungsprojekt ist einsehbar auf der Webseite http://gastarbajteri.at, letzter Zugriff: 14.03.2022. 33 Vgl. dazu Bakondy 2018, Akkılıç/Bakondy et al. 2016. 34 Siehe dazu Terkessidis, 2000.

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oralen Darstellungsform wieder, die genauso im Bottom-up-Verfahren die Geschichte der Gastarbeit in Österreich von den Menschen her erzählt, die sie gelebt haben. Manijak leitet aus der Geschichte der Eltern seinen Anspruch auf Wien ab: Kaum zu glauben, aber sie wollen einen Wiener Serben aus Wien entfernen Aber bevor ich hier geh, würd ich lieber sterben Wir haben nichts zu verlieren, weil sie uns nicht akzeptieren Doch mein Vater ist seit Anfang der 70er hier Sag’s bis sie’s kapieren immer mal: Ich liebe diese Stadt Ich will einen Mietvertrag im Riesenrad.35

Die Änderung von Sichtbarkeitsregimen, wie hier für die Gastarbeitsanerkennung argumentiert, ist ein allgemeines Anliegen der Hip-Hop-Kultur. Dabei äußert es sich auch in der Kommodifizierung und Kommerzialisierung der eigenen Kunst. Die eigene Musik zu verkaufen, Tracks mit Erfolg zu Geld machen, hohe und gewinnbringende Stream-Zahlen zu erreichen, ein Label zu schaffen und die eigenen Marke zu vermarkten – das sind dezidiert besungene Ziele im Rap. Wie lässt sich das in Hinsicht auf Tschuschen-Rap verstehen? Martin Seelinger hat unter Bezugnahme auf diverse soziologische Forschungen zum Gangsta-Rap argumentiert, dieser bediene sich der Elemente des Krisendiskurses, der rund um migrantische Männlichkeit geführt wird, und eigne sich damit verlorene Deutungsmacht wieder an.36 Manijaks Ottakring-Hymne Jungs aus meiner Gegend bestätigt, dass sie „gefürchtet von vielen, denn sie sind Ausländer“, sind und quittiert diese Zuschreibung mit: „Yeah, Jungs aus meiner Gegend haben diesen bösen Blick drauf // komm in meinem Bezirk OTK“, und warnt die ‚Mehrheit‘: „bist du nicht von hier, stell dein Handy auf lautlos“.37 Unisono wird in Forschungen zum deutschsprachigen Gangsta-Rap hervorgehoben, dass gerade die aggressive Art der Kriminalitäts- und Gewaltverherrlichung und der narzisstisch anmutende Machismo als Reaktion auf gesellschaftliche Integrationsdefizite zu lesen sei. Im Tschuschen-Rap finden sich (auch) Bezüge zum Gangsta-Rap, die von der Androhung von Gewalt, über die Vorherrschaft im eigenen hood (Manijak: „meine Jungs regieren die Ottakringer Straße“, „Ich bin serbischer Verbrecher // Wehr mich mit nem Messer // Platze in dein Haus, sorry wenn ich dich geweckt hab“) bis hin zur Verherrli35 Manijak: Wien. 36 Siehe dazu Seeliger, 2018, 25. 37 Manijak: Jungs aus meiner Gegend.

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chung von Drogen-Kriminalität („das Drecksott38 in Wien“, „komm in mein Bezirk OTK, wenn du guten Shit brauchst“, „Gib mir Sonne, bisschen Ganja und para“) reichen und die häufig mit der Auskunft kombiniert wird, ja eh als „Ausländer“ zu gelten. Dem migrantischen Mann bleibt – folgt man der hier exemplarisch von Seeliger angeführten, in der Forschung recht konsensualen Argumentation – nur die Aneignung des Verbrecherimage mit dem Ziel der Abwehr oder Umdeutung dieser Zuschreibungen, häufig in der Form des HipHop-Entrepreneurs. In diesem Sinne wird das im Rap oft besungene Dealen und die Kleinkriminalität – nicht ohne Ironie – als eine Form des Unternehmertums begriffen, mit dem männliche Migranten es trotz statistischer Unwahrscheinlichkeiten in unserer Gesellschaft doch noch ‚zu etwas bringen können‘. Der Rap, in dem dann der eigentliche Aufstieg und Erfolg stattfindet, ritualisiert den Wunsch nach sozialem Aufstieg in prahlerischen Formeln und Schlagwörtern: fetten Benz oder Audi fahren, Kohle machen, Goldkette, Gucci, Rolex tragen und krasse Partys feiern. Dabei ist der Rap-Erfolg als Option für migrantisch-männlichen Aufstieg selbst ein Klischee, das die Rapper zur Sprache bringen, während sie es leben: „Aloah! Švaba, das Wunderkind ohne Euros-Homes // Doch mit gottverdammten hundert Millionen Euro Flows“.39 In Hand hoch! der Formation ORTAK ergänzt Švaba Ortak: „geh mir nach und du findest dich in fünf Jahren auf ner Segelyacht // Leben A-Klasse da brate ah mater // nach langer Zeit ist die Straße am Mic“.40 Auch in dieser Hinsicht lässt sich Rap als reflektierte Gesellschaftsdiagnose betrachten, in der problematische Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Allerdings existiert hier eine doppelte Blickrichtung: Die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft auf migrantische, als fremd markierte Männlichkeit kreuzt sich mit der populärkulturellen, auch kommerziellen Ausbeute derselben durch die Marginalisierten selbst, die in provokanter Übererfüllung den Rap als Bühne und Berufsperspektive nutzen. Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang am Video zu Jungs aus meiner Gegend studieren, in dem eine Ottakringer Drohkulisse von „Ausländern“ inszeniert wird, die der Mehrheitsgesellschaft drohen, „ihren“ Bezirk besser nicht zu betreten. In Hand hoch! rappt Manijak an die „Bobos“ aus den Innenbezirken gerichtet: „mag eben // 38 Ott oder Ot von Türkisch „ot“ [Kraut], Begriff für Marihuana. 39 Švaba Ortak: Teufelsdribbler. Ein anderes klischeehaftes Aufstiegsszenario ist der Fußball, für den heute ikonisch der bosnisch-schwedische Fußballer Zlatan Ibrahimović und sein prahlerischer O-Ton stehen. Es ist daher kein Zufall, dass Švaba Ortak von „Teufelsdribbler“ spricht, wenn er seine Rap-Kunst anspricht. 40 ORTAK: Hand hoch!.

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hart reden // hart leben // Gas geben // Siebener [gemeint ist ein BMW, der 7. Bezirk schwingt aber im Subtext mit], du mit deinem Drahtesel // Frag jeden, wer in deiner Scheißstadt der King ist“.41 Die negative Erwartung der Gesellschaft an junge südslawische Männer aus dem 16. und 17. Bezirk um die „Balkanstraße“ wird von diesen selbst zum vermarktbaren Markenzeichen und zum Geld gemachten Identitätsangebot, über das sie stolz boasten. Eine solche ökonomische Ausbeute als Marke und Label gehört integral zur Hip-Hop-Kultur: Der Sticker, der Hoody, Streetwear und Accessoires mit der eigenen Marke machen sichtbar, verschaffen ein Einkommen und wiederholen darin zugleich den Erfolg eines klassischen Wegs der Gastarbeit*innen: das Kleinunternehmer*innentum. Wie prominent dasselbe nicht nur Migrationsbiographien, sondern auch ganze Wiener Bezirke prägt, erarbeiten gegenwärtig Nadine Thielemann und Lejla Atagan in einem an der WU Wien angesiedelten Forschungsprojekt mit dem Titel Vienna meets the Balkans.42 Den sozialen Aufstieg, der als Wunsch hinter dem Unternehmertum der Wiener Migrant*innen ebenso wie hinter dem Erfolgswunsch der Rapper steht, kommentiert Manijak so: „Alle Jugos, die ich kenne, sind krisenresistent; heute mit der U-Bahn, brate, morgen wieder in nem Benz.“43 Auch Wien wird als Markenzeichen zur Marke und damit zum ökonomischen Erfolg eingesetzt, wie das Merchandise von Wien, Oida! illustriert.44 Für Südslaw*innen ist Wien als historischer Bezugspunkt übrigens allein schon im Namen ein Ort des sozialen Aufstiegs und gehobenen Lebensstandards. Die sogenannte Bečka škola, die Wiener Schule, ist eine feststehende Umschreibung für feine Lebensart und bessere Umgangsformen in den südslawischen Sprachen, die aus der Zeit der Habsburger Expansion stammt und bis heute meist ganz ohne ironischen Unterton verwendet wird. Es wundert daher nicht, dass der Begriff – nun mit der nötigen ironischen Distanz – auch in den Wiener Tschuschen-Rap Einzug gehalten hat: Kid Pex nennt 2014 gleich ein ganzes Album: Bečka škola [Wiener Schule].

41 ORTAK: Hand hoch!. 42 Siehe dazu die Vorstellung des Projekts sowie seiner ersten Ergebnisse durch ­Nadine Thielemann und Lejla Atagan in diesem Band. 43 Manijak feat. Švaba Ortak: Dijaspora. 44 Siehe hierzu Katharina Tyrans Beitrag in diesem Band, in dem sie die sprachliche Sichtbarkeit des Südslawischen unter anderem an Labels aufzeigt.

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VOM STIGMA ZUM CHARISMA – TSCHUSCH STRIKES BACK!

Im Unterfangen der eigenen Sichtbarmachung, die der Rap der südslawischen Präsenz in Wien zuteilwerden lässt, spielen Selbstbezeichnungsbegriffe eine entscheidende Rolle. Der Begriff Tschusch für Wiener Jugos oder JugoslaWiener*innen spielt dabei eine dem Begriff Kanake im Deutschrap vergleichbare Rolle.45 Die Sprachwissenschaftlerin Agnes Kim, die auch in diesem Band den Wörterbucheintrag „Tschusch“ behandelt, erklärt den Begriff als „in ganz Österreich weit verbreitete[s] Schimpfwort für besonders slawischsprachige Personen mit Wurzeln im Balkanraum, das früher auch spezifischer für Gastarbeiter*innen aus diesem Raum verwendet wurde“.46 Ein klar negativ konnotierter, in pejorativer Absicht gegen eine Gruppe von der Mehrheitsgesellschaft eingesetzter Ausdruck wird von der angesprochenen Gruppe im Tschuschen-Rap angeeignet und selbstbewusst in die Mehrheitsgesellschaft zurückgeschleudert: Das dem Begriff anhaftende Stigma wird dabei in Charisma umgewertet. Robin Brontsema erklärt solche „sprachliche Wiederaneignung“ und ihren Mehrwert folgendermaßen: „Linguistic reclamation, also known as linguistic resignification or reappropriation, refers to the appropriation of a pejorative epithet by its target(s). […] At the heart of linguistic reclamation is the right of self-definition, of forging and naming one’s own existence.“47 Es geht bei dieser Aneignung von Schimpfwörtern folglich um das emanzipative Wieder-ansich-Reißen von Bedeutung, die man sich nicht (mehr) nehmen lassen will. Kid Pex sagt dazu 2011 im Interview: „Also, Tschuschen-Rap das haben wir, mehr oder weniger, wenn ich so sagen darf, aus Spaß genommen. Weil Tschusch hat immer auf eine Weise einen abwertenden Effekt, wenn das Wort verwendet wird, aber im Hip-Hop wird alles immer ein wenig umgedreht, wir verkehren das Bild, also haben wir, wie die Schwarzen dieses Nigga sagen, Nigga, wir so Tschusch, Tschusch und dann Tschuschen-Rap. Und dann tragen wir das nach draußen, aber nicht auf abwertende Weise, sondern mehr ironisch.“48 Die mit „Tschusch“ Angesprochenen wehren die Ansprache und die von ihr trans45 Vgl. dazu Loh/Güngör, 2002, 27–32. Sie führen aus, warum das „K-Wort“ problematisch ist, warum es zugleich aber auch eine politische Haltung der Rapper auszudrücken vermag. 46 Siehe dazu Agnes Kim in diesem Band sowie unter https://iam.dioe.at/frage-desmonats/wie-funktioniert-etymologie, letzter Zugriff: 14.03.2022. 47 Brontsema, 2004, 1. 48 Ich danke Tamara Haddad für den Hinweis auf das Interview mit Kid Pex und Bloody MC in der Sendung Dijaspora uživo am 11.03.2011 beim österreichischen

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portierten Zuschreibungen ab, indem sie selbst das/dieses Wort ergreifen und neue Eigenschaften definieren, die Tschusch-Sein ausmachen. Der Widerstand gegen den Begriff hatte bereits in der Zeit der österreichischen Gastarbeit mit der Strategie des Perspektivwechsels gearbeitet, als, initiiert von der Aktion Mitmensch, 1973 in Wien die Plakataktion I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, Warum sogns’ zu dir Tschusch? sich gegen „Fremdenfeindlichkeit“ einsetzte.49 Während im Plakat [Abb. 2] das Schimpfwort aus der naiven Perspektive des Kindes hinterfragt und mit der slawischen Geschichte Wiens (einer Stadt, in der viele Nachnamen slawische Herkunft haben!) in Zusammenhang gebracht wird, während hier also das Slawisch-Sein in seiner kulturellen Unterschiedlichkeit überhaupt relativiert und die Fremdheit der Südslaw*innen in Wien in Frage gestellt wird, spiegelt Tschuschen-Rap radikal das Fremdsein zurück, indem „Tschusch“ bedingungslos angenommen wird. In Manijaks „Wien“ lautet es entsprechend: „deine Vorfahren waren auch Kanaken und Tschuschen // sie haben slawische Nachnamen [...] Ich weiß, diese Aussage passt vielen nicht // doch das ist die Wahrheit, Brudi // ich sag nur wie es ist“.50 Kid Pex rappt „Keep it Jugo // do it Švabo // ein Wiener, ein Tschusch und ein Babo“51 und meint diese ganz offensichtlich als Selbstbeschreibungsbegriffe. Auch für „Jugo“ lässt sich Ähnliches konstatieren wie für „Tschusch“. Der Begriff „Jugo“ wurde von der Mehrheitsgesellschaft bereits zu Gastarbeitszeiten als abwertender Terminus für Migrant*innen aus Jugoslawien im gesamten deutschsprachigen Raum verwendet. Zugleich kommt der Ausdruck „Jugo“ als Selbstbezeichnung der postjugoslawischen Diaspora-Community, der auf das Gemeinsame statt Trennende abhebt, zur Anwendung.52 In beiden Fällen unterscheidet der Begriff nicht zwischen der Gastarbeiter*innen-Generation der ersten Stunde, deren Folgegenerationen und der späteren signifikanten und bis heute fortdauernden Ankunft von Südslaw*innen in Wien und Österreich. Die Jugos oder JugoslaWiener*innen aller Einwanderungsphasen verschmelzen mit „Jugo“ gewissermaßen in begrifflicher Solidarität, die auch die Gastarbeiter*innen mit umfasst. Sender Okto, verfügbar auf Youtube, https://youtu.be/OfdDa1gEgOQ, letzter Zugriff: 14.03.2022. Übersetzung des Interviewauszugs M. J. 49 Zur Aktion Mitmensch und österreichischen Plakaten gegen Fremdenfeindlichkeit siehe die Publikation der Initiative Minderheiten. Am Anfang war der Kolaric. Plakate gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Wien/Berlin, 2003. 50 Manijak: Wien. 51 Kid Pex: Keep it Jugo, do it Švabo. 52 Siehe auch den Beitrag von Rada Živadinović in diesem Band.

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Miranda Jakiša Abb. 2: Plakat der Agentur Lintas im Auftrag der Aktion Mitmensch der österreichischen Werbewirtschaft 1973.

Die Solidarität im Tschuschen-Rap geht sogar weiter und inkludiert nicht nur alle Jugos, sondern auch weitere migrierte Gruppen. Deren Zugehörigkeit zu Wien wird, wie die eigene, nicht monokulturell zentriert, sondern eben vielfach, transkulturell und mehrsprachig gedacht. EsRap rappen in „Der Tschusch ist da“: „Der Tschusch ist da, der Tschusch ist da, der Tschusch ist immer, immer da [...] Wir brauchen kein Mitleid, Türken, Jugos, Gastler“.53 Das Wiener Geschwisterduo EsRap, Esra und Enes Özmen aus Ottakring, nennt ihr 2019 erschienenes Album sogar Tschuschistan. Im Interview erklärt Esra Özmen: „Oft steht die Frage im Raum: Bin ich Österreicherin oder Türkin? Wenn ich in der Türkei bin, werde ich als Österreicherin gesehen, hier dagegen bin ich die Tschuschin. Wir haben diesen Begriff positiv besetzt und spielen damit.“ Und Enes Özmen fügt hinzu: „Für uns ist Tschuschistan eine Utopie, ein Ort, an dem 53 EsRap: Der Tschusch ist da.

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sich alle Migranten zu Hause fühlen.“54 Eine Tschusch-Identität bewusst für sich selbst anzunehmen, bedeutet also eine migrantisch befriedete Welt zu denken und utopisch die in Wien doch existente Diskriminierung zu untergraben. Auch Kid Pex imaginiert alle Einwanderungsgruppen in seinen Lyrics als Gemeinschaft, wofür Zeilen stehen wie „Das ist linke Straßen-Untergrund-Gemeindebau-Guerilla // denn egal, wo du herkommst, bist du hier, bist du Wiener“.55 Als „Global Hip-Hop Nation“ hat die Kultur des Hip-Hops ein integral integratives Selbstverständnis, das das sprachlich Marginalisierte (z.B. Dialekte) ebenso wie an den Rand gedrängte Subjekte (z.B. Tschuschen) unter einem Dach aufzunehmen weiß. Ein (scheinbares) Paradoxon des Rap liegt daher im radikalen und mitunter aggressiven Ausschluss, etwa der Wiener Bobos, der ‚indigenen‘ Bevölkerung und ‚Bio-Deutschen/Österreicher*innen‘, dem eine globale, aufnahmefähige und aufnahmewillige Hip-Hop-Community der Inklusion gegenübersteht. Doch während ausschließende Begriffe gefunden und auch Droh-Gebärden vor allem als rituelle Hip-Hop-Elemente zum Einsatz kommen, sind Nicht-Tschuschen dennoch Teil des Ganzen. Der Wiener Tschuschen-Rap integriert alle anderen „Ausländer“, die weltweite Hip-HopGemeinschaft, die wiederum alle möglichen marginalisierten Gruppen umfasst, sowie die autochthonen Wiener*innen. Entsprechend rappen Kid Pex und Gazal: „Passt da des ned, dann horch nomal zu // Ob Schwarzkopf, ob Blondschopf, mit Zopf oder kahl // Bist du in Wien, ja dann is des egal.“56 Kid Pex, der sich sehr aktiv in der Flüchtlingshilfe engagiert und dessen Raps zwischen Deutsch und kroatischer Sprache changieren, rappt in Keep it Jugo, do it Švabo [wörtlich: „Schwabe“, pejorativ für Deutsche/Deutschsprechende]:57 Hrvatsko je srce // ali deutsch je mašina, Odrasto sa Turcima, Albancima, Bosancima, Srbima, Kurdima, domaćim Austrijancima, Snovi, nade, strahovi, dobre, loše misli, Na ulicama Beča svi smo jedno, svi smo isti.“58 54 Rap-Duo EsRap: Bei ‚Fürstenfeld‘ bekomme ich Gänsehaut, https://www.profil. at/kultur/rap-duo-esrap-bei-fuerstenfeld-bekomme-ich-gaensehaut/400952324, letzter Zugriff: 22.03.2022. 55 Kid Pex: Antifašista. 56 Kid Pex & Gazal: Wien, Oida!. 57 Der Begriff Švabo/Schwabo wird in Österreich von südslawischen und migrantischen Gruppen für die autochthone deutschsprachige Bevölkerung verwendet. 58 Kid Pex: Keep it Jugo, do it Švabo.

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[Kroatisch ist das Herz, aber deutsch die Maschine Aufgewachsen mit Türken, Albanern, Bosniern, Serben, Kurden, einheimischen Österreichern Träume, Hoffnungen, Ängste, gute, schlechte Gedanken Auf den Straßen Wiens sind wir eins, sind wir gleich]

Der Einschluss aller im Tschuschen-Rap zeigt sich auch in der Offenheit für alle Formen des sprachlichen Ausdrucks, auch des Wiener Dialekts sowie des bewussten Schönheitsfelers,59 der Mischung von Sprachen und des standardsprachlich nicht korrekten Ausdrucks sowie des Gastarbeiter*innen-Deutsch.

MEHRSPRACHIGKEIT „ JENSEITS VON MUT TERSPRACHE“

Tschuschen-Rap ist grundsätzlich mehrsprachige Dichtung. Während einige Tschuschen-Rapper auf Deutsch und alternierend in bosnischer/kroatischer/ montenegrinischer/serbischer60 Sprache rappen, andere nur auf Deutsch, werden in allen Raps auch Sprachen gemischt. Dies reicht von der Integration südslawischer Wörter in den deutschsprachigen Rap-Text, über das Einflechten deutscher Wörter in jeweils BKMS-sprachige Lyrics bis hin zum Einsatz des Wienerischen, das wiederum in beiden ebenfalls als eigene widerständige Sprechform fungiert. Wienerisch zu rappen bedeutet stets, das Wiener-Sein auch für sich zu beanspruchen, die ‚indigene‘ Sprache der Lokalität zu beherrschen, aber auch zu fühlen und sich darin mit den autochthonen Wiener*innen zu verschwestern und verbrüdern. Tony Mitchell argumentiert für internationale Rap-Szenarien von Neuseeland über Zimbabwe bis Italien, dass hier das Dialektale als „resistance vernacular“ zum Einsatz komme, das heißt, dass die eigentliche Sprache und Sprechweise der Menschen vor Ort gegen die dominante Sprache der Macht eingesetzt wird. Bevor ich auf diese These eingehe, die sich naturgemäß für Tschusch*innen in Wien etwas anders darstellt, möchte ich zunächst einen Blick auf die Mehrsprachigkeit der Tschuschen-Rap-Lyrics werfen. Typisch für internationalen 59 „Schönheitsfeler“ steht auf dem Cover der Crew Schönheitsfehler, Pionieren des österreichischen Hip-Hop, deren erste CD 1994 auch den südslawischen Titel Broj jedan [Nummer Eins] trägt. 60 Im Folgenden mit dem Akronym BKMS abgekürzt, das für das ijekavisch-neuštokavische Dialektkontinuum und damit die Sprachen Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch verwendet wird.

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Rap, nicht nur den südslawischen aus Wien, ist die Anpassung, in unserem Fall Slawisierung, von Rap-Ausdrücken wie „repati“ [rappen]. Im deutschsprachigen Rap-Text kommen zusätzlich bosnische, kroatische, montenegrinische und serbische (meist identische) Einschübe von Einzelwörtern oder Phrasen zum Einsatz: „tašna [Tasche] voller Gift“, „Haft in der torba“ [Tasche], „šta radiš, brate“ [wie läuft’s, Bruder], „ajde“ [auf geht’s, los], „čoban [Schäfer, Hirte] in der Seele“, „kafić“ [Café, Kneipe], „ćevape“ [Hackfleisch-Rollen, Ćevapčići], sowie für Hip-Hop-Topoi konstitutive Begriffe wie „brate“, „tebra“ und „bratko“ [bro, Bruder], „pička“ [pussy, wörtlich Fotze, übertragen für einen feigen Menschen], „para“ [money] oder „murija“ [cops, wörtlich dialektal Polizei], wie in der Line „Meine Fresse ungern gesehen bei der murija“61 oder „Ajde, ajde ruf die Murija!“62 Recht häufig wird in den Rap-Lyrics im Satz zwischen Sprachen changiert: „Wiener Jugo verwechsel’ das nicht // Komm in mein Bezirk OTK Treffpunkt // Od brata do brata od čoška do čoška [von Bruder zu Bruder, von einer Ecke bis zur anderen]“ oder „sag ihnen allen, da nisam klošar [dass ich kein Penner/Loser bin].“ Sowie umgekehrt Einschübe von Sätzen vorkommen, wie zum Beispiel „Ist so, bleibt so, war so“ oder „heimatlos, doch der kulturelle Reichtum ist mehr als nur ein Trost“ im darüber hinaus kroatischsprachigen Rap-Text.63 Auch halten zusätzliche Sprachen in den Tschuschen-Rap Einzug. Neben der Hip-Hop-Vernakularsprache Englisch (z.B. „hustle“, „mic“, „battle“) sind das vor allem das Türkische (z.B. „ortak“, Kollege/Partner; „pezevenk“, Zuhälter, Schweinehund), Arabische (z.B. „habibi“, Schatz/Liebling/Kumpel), aber auch ans Russische, Polnische und Ukrainische angelehnte Begriffe (z.B. „bra“, „bratan“, „bratkos“ Bruder), die aus dem Deutschrap von slawischen Rapper*innen übernommen werden. Die Anlehnung an und das Ausleihen bei anderen Sprachen von Wiener Migrant*innen im Rap zeugen von zusätzlicher sprachlicher Kompetenz und Lernfähigkeit sowie von einer Offenheit, die gleichzeitig die deutsche Standardsprache und ihre Wortschatz-Grenzen herausfordert. Tschuschen-Rap überschreitet klar das deutsche Vokabularium, wie es der Duden umreißt. Über die Jugendsprache, die sich ebenso nicht an das Standardvokabular hält, sickern regelmäßig auch Kanaken-Begriffe in das Wörterbuch-Repertoire ein, die nicht zuletzt vom Deutschrap unter Jugendlichen verbreitet werden.64 61 62 63 64

Manijak feat. Ortak: Es ist wie es ist. Kid Pex feat. Kroko Jack: So viel Polizei. Kid Pex: Keep it Jugo, do it Švabo. So sucht der Langenscheidt Verlag seit 2008 das „Jugendwort des Jahres“ und

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Die spezifische Mehrsprachigkeit des Tschuschen-Raps umfasst also RapLyrics auf mindestens zwei Sprachen, vor allem Deutsch und BKMS, wobei Deutsch meist die starke Sprache der Rapper*innen ist oder zumindest mögliche Rap-Sprache sein könnte. Die Tschuschen-Rapper, per definitionem Menschen mit Migrationsvordergrund (die Migrationsgeschichte ist am Namen, Aussehen, Zugehörigkeiten etc. für die Mehrheitsgesellschaft vermeintlich erkennbar), wählen also auch bewusst die andere, ihre marginalisierte Erstsprache, wenn sie in bosnischer, kroatischer und serbischer Sprache rappen. Mit dieser Selbstermächtigung zum BKMS-sprachigen Text fordern sie die Mehrheitsgesellschaft auf, andere (ihre!) Sprachen wahrzunehmen, und begegnen zugleich dem stummen Vorwurf der Elterngeneration oder diasporischer Communitys, keine ‚richtigen‘ Jugos, Serben, Kroaten etc. mehr zu sein. Hier lässt sich auf Mitchells These zurückkommend konstatieren, dass die (Fremd-)Sprache der Eltern den Status des Dialekts einnimmt, wohingegen das Wienerische die Sprache der Mehrheit darstellt. Tony Mitchells Überzeugung, dass „local indigenizations of the global music idiom of rap“, also das Einheimisch-Machen des Raps, das über die Verwendung des lokal Dialektalen und Gebräuchlichen abläuft, als Widerstand gegen den US-amerikanischen Kulturimperialismus verstanden werden muss,65 kann man für den Tschuschen-Rap daher erweitern: Mit Wienerisch macht Rap in Wien – das hat schon Falco vorgeführt – sich „das globale Musikidiom des Raps“ zu eigen, mit südslawischdeutsch-wienerischen Raps setzen die Tschuschen eine zweite Stufe der Aneignung obendrauf. In Bečki kodeks [Wiener Kodex] lässt Kid Pex wissen: „Wiener Untergrund, kana kriagt uns weg // I bi a Weaner Künstla“.66 Während Tschuschen-Rapper*innen Wienerisch einstreuen, bleibt der Großteil ihres Rap-Texts jedoch am gesprochenen Standarddeutsch orientiert, anders als zum Beispiel die Raps von Droogieboyz, die durchweg im Wienerischen gehalten sind.67 Während ihre Lyrics nur von Wiener*innen (ganz) verstanden werden können, verwendet der Tschuschen-Rap vor allem wiedererkennbare Ausdrücke, wie „leiwand“ oder „Watschn“: „Willkommen im schönen Wien, brate // Der größten Stadt in Österreich // Ja hier gibt es alles, ćevape, Schnitzel und Dönerfleisch // Alles leiwand hier, nur das Wetter könnte schöner nimmt eine Auswahl ins Wörterbuch auf, so auch z.B. „babo“ [romani: Boss, Chef; Begriff wird im türkischen, persischen und weiteren Sprachen verwendet] 2013, das durch den Rapper Haftbefehl weite Verbreitung im Deutschen erfuhr. 65 Mitchell, 2003, 4. 66 Kid Pex: Bečki kodeks. 67 Siehe/höre hierzu Droogieboyz: Wien.

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sein“68 oder „Ich geb dir Pflanzenfresser, Watschn // bis du weinst vor Panik“.69 Mit der standardsprachlichen Aussprache des Deutschen markieren Rapper*innen nicht österreichischer Herkunft auch ihr Anderssein unter den Wiener*innen. Ihre Mehrsprachigkeit zwischen Standard- oder Hochdeutsch, Wienerisch und südslawischen Sprachen erlaubt es dabei, sowohl die diasporischen Communitys als auch die Mehrheitsgesellschaft zu erreichen, wobei die Rap-Lyrics selbst letztlich keine klare Linie zwischen beiden ziehen.70 Wiener Rapper sind Wiener und die Mehrheitsgesellschaft wird in Wien nun mal von Wiener*innen gebildet. Aus der zweifachen „Indigenisierung“ der Rap-Sprache gehen also auch zwei Gruppen hervor, gegen oder an die sich der Widerstand richtet: die österreichische Mehrheitsgesellschaft und die Wiener Umgebungsgesellschaft, wobei die letzte um-geschrieben und als Eigenes re-narrativiert wird. Sprachlich besonders spannend ist der Tschuschen-Rap zudem dort, wo er mit dem bewussten Schönheitsfeler, dem merklichen Sprachfehler, arbeitet und sich daher den Grenzen des Standardsprachlichen verweigert. So finden sich überall agrammatische, asyntaktische Zeilen oder Verfremdungen deutscher Phrasen, zum Beispiel in Hand hoch: „Ortaks, Hand hoch // Pavle schreit Opa, die Bratkos sind rastlos“ oder: „Meine Zeilen haben Wertschätzung von in etwa Cristianos Transfer“. Evelyn Nien-Ming Chien hat in ihrer Untersuchung englischsprachiger Literatur mit dem Titel Weird English aufgezeigt, wie die unorthodoxe Verwendung der Sprache durch mehrsprachige Autor*innen eine neue englische Literatursprache konstituiert hat. Deren teils unverständliche, nicht wiedererkennbare Sprache, die mit syntaktischen und grammatischen Neuerungen arbeitet, zeige die Ambivalenz sowie den Enthusiasmus der Migrierten für das Englische und sei, so Chien, deutlich politisch motiviert.71 Chiens „weirding of English“ ließe sich ohne Weiteres auf das ‚merkwürdige Deutsch‘ des migrantischen Raps übertragen, in dem analog „linguistic utopias of heterogeneous discourses where no group has more dominance than any other in terms of linguistic power”72 erschaffen werden. An dieser Stelle möchte ich auf den Titel Keep it Jugo, do it Švabo eingehen, der in sich verschiedene Funktionen des Tschuschen-Raps vereint. Der Auf68 Manijak: Wien. 69 Pinki in ORTAK: Hand hoch. 70 Stellvertretend hierfür steht der Track Wien von Manijak feat. Esref & Sheyla J., der explizit beide Gruppen anspricht, den Rassismus in Wien beklagt und durch Einlagen in Wienerisch die Sprecherperspektive ändert. 71 Vgl. hierzu Chien, 2004. 72 Ebd., 202.

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ruf, Jugo zu bleiben, ist durch das „vernacular“ des von Haus aus englischsprachigen Hip-Hops bereits verfremdet und dadurch von vorneherein nicht als ungebrochene Heimat-Bezogenheit zu verstehen.73 Die Umgebungskultur der Österreicher*innen ist mit „Schwabo“ zwar einerseits begrifflich diffamiert, doch wird sie zugleich als Vorbild gepriesen. „Do it Švabo“ drückt in auffordernder Weise eine Hommage an die Art und Weise, wie in Österreich gelebt, gearbeitet und gedacht wird, aus. Švabo umfasst ein Set an Klischees, die mit einer ‚deutschen‘ Arbeitsmoral, mit Gründlichkeit und Qualität, aber auch mit distanzierter Sachlichkeit und spröder Leblosigkeit konnotiert werden. Etwas wie ein „Schwabo“ zu tun, bedeutet dabei, es gründlich und erfolgreich abzuschließen, daher kann vermutet werden, dass hier pragmatische Lebensbereiche: Schulabschluss, Studium, Arbeit, Verwaltung etc. gemeint sind. Dabei wird das (auch unzulässig) vereinheitlichende „Jugo“, für alle Südslaw*innen oder Migrant*innen aus der (post)jugoslawischen Region mit einem ebenso vereinheitlichenden und in Österreich nicht immer gern gesehenen „Schwabo“ quittiert, einem Ausdruck, der für Deutsche und Schweizer*innen ja gleichermaßen verwendet wird. Beide mit ironischer Distanz und Humor behandelten Kulturkreise enthalten dabei ein positives Identitätsangebot. Die appellative und nur von südslawischen Migrant*innen voll erfassbare Formulierung „keep it Jugo“ gemeinsam mit „do it Švabo“ ist nur beide Teile zu einem Gesamtbild integrierend komplett. Es ist weniger der Unterschied zwischen den beiden „Kulturen“ der Satzteile, sondern mehr der „dritte Raum“ des Dazwischen, der einen spezifischen von Jugos bewohnbaren und lebbaren Ort eröffnet. Der inhaltliche Aufruf, das Beste aus zwei Welten gleichzeitig zu leben, kommt sprachlich multilingual zum Ausdruck, wobei „Jugo“ ein deutschsprachiges, „Švabo“ hingegen ein südslawisches Wort für die jeweils andere Gruppe in einer darüber hinaus englischsprachigen Satzkonstruktion ist.74

73 Der Diaspora- und Migrationsforscher Boris Nieswand sieht Diaspora u.a. gekennzeichnet von „der Orientierung an einer realen oder mythischen Herkunftsregion“, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/264009/was-ist-eine-diaspora, letzter Zugriff: 22.03.2022. Heimatbezogenheit und -sehnsucht gehört in der Forschung stets wesenhaft zur Definition einer Diaspora. 74 Eine ähnliche sprachlich einfache ‚Lösung‘ für ein komplexes Problem bringt Lydia Novaks Text zum Wiener Kroatenball in diesem Band mit dem Veranstaltungstitel Hrvati meet Schönbrunn auf.

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TSCHUSCH*IN – EINE EINZIGARTIGE WIENER IDENTITÄT

Abschließend möchte ich auf die Frage der Herkunft und Ankunft und auf diasporische Tschusch-Identitäten eingehen, wie sie sich im Tschuschen-Rap artikulieren. In zahlreichen Raps werden musikalische Balkan-Elemente eingeflochten, die eine folkloristische Zugehörigkeit zu Balkan-Kulturen mit dem globalen Hip-Hop-Idiom Rap in seiner deutschsprachigen Variante verknüpfen. Dies impliziert eine diasporische Verbundenheit zu einer zurückgelassen ‚Heimat‘. Manijak feat. Švaba Ortak beschreibt in Dijaspora nach einem balkanisch-musikalischen Intro: „überleben in der Diaspora, Hundert Euro schick ich immer Oma, grüß die Familie via pozdrav“,75 während Švaba Ortak in Bis dato seine Herkunft als Teil seiner Gegenwart erwähnt: Hajde, komm mal mit uns und wir bringen dich durch Wien, Vato Gürtel Vollgas im Mercedes mit unseren Chicanos Wurd’ zwischen Knastbrüdern, Pezevenks, Flexern und Dealer groß Doch hab niemals vergessen, wo ich herkomme bis dato.76

Dass nach der letzten Line zur Herkunft, die hier zitiert wurde, der Rap-Text die Sprache zu BKMS wechselt, lässt Herkunft über die Frage der ‚eigen(tlich)en‘ Sprache mehrdeutig werden. Anders Kid Pex, Freshmaker und Chieel in Domovina [Heimat], die nicht auf Deutsch, sondern gleich auf BKMS verkünden, dass „Gene“ sie mit einer „Heimat“ verbinden, in der sie aber nicht mehr „zu Hause“ sind: Volim te Austrijo, jer tu sam odrasto Ali moji geni eto plešu kolo tamburaško, Tu i tamo kažem zbogom Bečkom asfaltu, i vratim se opet na moju staru rodnu kartu, Predugo sam vani da glumim kod kuće.77 Ich liebe dich Österreich, denn hier bin ich aufgewachsen Aber meine Gene tanzen eben Tamburica-Kolo [Reigen] Dann und wann sage ich dem Wiener Asphalt ade, und kehre zu meiner alten Heimatkarte zurück. Zu lange bin ich dort weg, als dass ich zu Hause spiele. 75 Manijak feat. Švaba Ortak: Dijaspora. 76 Švaba Ortak: Bis dato. 77 Kid Pex, Freshmaker & Chieel: Domovina.

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Der Bezug zu ‚unten‘, zur alten Heimat der Elterngenerationen oder dem zurückgelassenen Geburtsort ist nicht ungebrochen, aber auch nicht „zwischen den Stühlen“, wie sich die Mehrheitsgesellschaft das mitunter als migrantische „Zerissenheit“ zusammenkonstruiert, sondern ein Tschusch ist ein „Wiener Jugo, verwechsel das nicht!“78 Wie in den Beiträgen von Jana Dolečki, Rada Živadinović und Armina Galijaš in diesem Band ausgeführt, steht „Jugo“ als Begriff für eine Heimatvorstellung, wobei diese „Heimat“ in Wien rekonstruiert und dabei auch neu erfunden wird. Denn nicht nur gibt es kein Jugoslawien mehr, bestenfalls eine „Jugosphäre“, wie es Kid Pex in Anlehnung an Tim Judahs Begriff ausdrückt, sondern das Jugoslawien der Eltern wird auch wie die nachjugoslawischen Staaten meist nur aus Heimaturlauben gekannt.79 So ergänzen die Rapper in Domovina [Heimat], dass man sie beim Besuch von Opa in der Heimat am Wiener Balkan-Akzent erkennt: „nemoj se čudit Bečkom Balkan akzentu, s didom danas jedem Ličku palentu“80 [Wunder dich nicht über den Wiener Balkan-Akzent, heute ess ich mit Opa Polenta nach Lika Art]. Manijak jedenfalls macht deutlich, Wiener Jugo ist eine Jugo-Kategorie für sich, die eindeutig ist (aber von anderen verwechselt werden könnte). Roman Horak hat in seiner Studie zum Musikverhalten der zweiten Gastarbeitergeneration in Wien eine Dreiteilung vorgestellt, die auch hier erhellend ist. Horak unterscheidet drei Kulturen, die im Musikgeschmack junger Migrant*innen zusammenkommen: die Elternkultur, mit folkloristischem Background und interpretativen Mustern, die aus dem Herkunftsland stammen, die Kultur der Ankunftsgesellschaft, der teilweise unverstandene, aber dennoch anzunehmende Normen unterliegen, sowie die US-amerikanische Populärkultur mit ihrem Freiheitsversprechen, meist ist dies Hip-Hop.81 Interessant ist Horaks Hinweis, dass die Ankunftskultur zwar manchmal nur „nach außen hin“, also scheinbar, angenommen wird, aber eben auch einen Ausweg aus der „narrowness of the traditional parent culture“ bietet. Die Tschuschen-Rapper imitieren Švabos teilweise nur, doch in Hinsicht auf das zu Hause, über Freunde und Verwandte und die jeweilige Diaspora-Community vermittelte patriarchale Verständnis von Familie und Gesellschaft birgt die Annahme der Ankunftsgesellschaft auch eine Ausstiegsoption in sich. Sie führt im Rap auch 78 Manijak: Es ist wie es ist. 79 Kid Pex sagt im Interview mit dem Magazin Nada: „Beč je i dan danas na neki način jugosfera“ [Wien ist bis heute auf eine Weise eine Jugosphäre], Nada. Društveni magazin Sprskog demokratskog foruma, Nr. 1157, 18.02.2022, 2. 80 Kid Pex, Freshmaker & Chieel: Domovina. 81 Vgl. hierzu Horak, 2003, 184.

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zur Auseinandersetzung mit der im Rap verbreiteten Misogynie und Homophobie. In Jungs aus meiner Gegend wird die Diskrepanz von gesellschaftlicher Erwartung hier vs. dort in der Formulierung: „Scheiß auf Graffiti, schmier nicht die Wand an // hier bist du unerwünscht wie Schwule auf dem Balkan“82 zur Sprache gebracht. Rap hat in seiner ritualisierten Frauen- und Schwulenfeindlichkeit ein Forum aufgemacht, in dem diese, zumindest im TschuschenRap, kathartisch reinigend ausgesprochen werden kann. Tschuschen-Rap ist daher nicht einfach patriarchaler Balkan-Rap, sondern eine postbalkanische Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern in Österreich, die sich auf die Rap-eigene (zugegeben zum Teil auch hochproblematische) Beschäftigung mit Rollenbildern und Genderfragen aufpropft. Dem Rap generell den Vorwurf zu machen, er vertrete überkommene Männlichkeitsideale und nähre gewalttätige kulturelle Erwartungen und Erfahrungen durch den im Genre gepflegten Einsatz von frauenfeindlichen Ausdrücken, Gangster-Vokabular oder martialischer Sprache, ist, als werfe man der Volksmusik vor, den Klimawandel und die Massentierhaltung zu leugnen, wenn sie Kühe auf der Bergwiese oder das (aussterbende) Edelweiß besingt. Diese Elemente gehören topisch zum Genre, sie werden in der einen oder anderen Form aufgerufen und es gilt im genaueren Hinhören zu bestimmen, welche Nachrichten über das rituelle Schimpfen und Boasten hinaus herauszuhören sind. Im Tschuschen-Rap reicht die Skala von der Abwesenheit alles Gewalttätig-Misogynen bei Kid Pex bis zum Beschimpfen eines im Rap-Battle angesprochenen imaginierten ‚Gegners‘ durch das sexualisierte Aufrufen der Mutter, Schwester, Partnerin. Solche bei Manijak, Ortak, Pinki und weiteren Jugo-Rappern zu findenden sexistischen Schimpftiraden haben ihren festen Platz auch in südslawischen Sprechgewohnheiten.83 Rap wird gerade für den Tschuschen-Rap zur Arena, die Begegnung von patriarchalem Erbe aus der ‚balkanischen‘ Kultur der Vorfahren, der zu Hause gehörten südslawischen Volksmusik und -dichtung sowie der biographischen Urlaubserfahrung ‚unten‘ mit der ‚fortschrittlichen‘ österreichischen Gleichstellungsdebatte in Szene zu setzen, ja, sie aufeinander loszulassen. Denn gerade der formal ritualisierte, inhaltlich ans Lokale adaptierbare Rap hat im provokanten, eine deutliche Sprache sprechenden Duktus das Pozential die klischeehafte Verlogenheit dieser Gegenüberstellung an die Oberfläche zu treiben. Weder hat sich die österreichische Gesellschaft vom Patriarchalen und Frauenfeindlichen befreit, noch 82 Manijak: Jungs aus meiner Gegend. 83 Dubravka Ugrešić kommentiert sie in ihrem Essay „Mi smo dečki“ [Wir sind die Jungs], in: Dubravka Ugrešić. Kultura laži. Zagreb 1996.

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ist Gleichstellung den südslawischen Kulturen fremd, wie aktuelle Debatten zeigen. Historisch stehen sozialistische Gleichheitsbestrebungen und die deutlich bessere Stellung der Frauen in Jugoslawien den heutigen nationalistischen und traditionalistischen Diskursen der Nachfolgestaaten diametral entgegen. Ohne die patriarchal organisierte, männerdominierte balkanische Ordnung herunterspielen zu wollen, weist Tschuschen-Rap in Gender-Hinsicht einige fruchtbare Ansatzpunkte auf, neu über Zuschreibungen an den Balkan und über vermeintlichen Fortschritt in Österreich nachzudenken. Murat Güngör und Johannes Loh schreiben 2017 über den Gangsta-Rap, der „Bilder fremdländischer Bedrohung: urbanes Selbstbewusstsein, Hedonismus, Gewalt“ bei manchen wecke, dass dieser auch Teil einer „kulturellen Empowerment-Strategie“ der Gastarbeiter*innen und ihrer Nachkommen sei und uns daher viel eher „an die Kriege und Krisen, die Menschen dazu zwingen alles hinter sich zu lassen, um eine neue Heimat zu suchen“,84 erinnern sollte. Einen solchen versöhnlichen Ausblick gibt Sheyla J. im Outro von Wien: Wien bleibt unsere beste Stadt Ich bin nicht dein Feind, auch ich bin hier daheim Wir haben die Straßen bunt gemacht85

Tschusch*in-Sein, soviel steht fest, stellt eine spezifisch österreichische und Wiener migrantische Identität dar. „Die Tschuschen in Wien sind anders als in anderen Städten“, rappen Švaba, Manijak und Pinki. Dem lässt sich enthusiastisch hinzufügen, dass Migrant*innen und Jugos nirgends sonst überhaupt „Tschusch*innen“ sind – nur in Wien! Literaturverzeichnis

Akkılıç, Arif/Bakondy, Vida/Bratić, Ljubomir/Wonisch, Regina: Schere, Topf, Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte, Wien 2016. Bakondy, Vida: Objekte der Erinnerung – Erzählungen zur Migration. Ein Sammlungsprojekt und eine Ausstellung zur Migrationsgeschichte im Wien Museum, in: Gehmacher, Johanna/Löffler, Klara/Prager, Katharina (Hg.): Biografien und Migration, ÖZG, Bd. 31, Nr. 3, 2018, S. 189–201. Brontsema, Robin: A Queer Revolution: Reconceptualizing the Debate Over Linguistic Reclamation, in: Colorado Research in Linguistics, June 2004, Vol. 17, Issue 1, Boulder, Colorado 2004, S. 1–17. 84 Güngör/Loh, 2017, 220. 85 Manijak feat. Esref & Sheyla J.: Wien.

Keep it Jugo, do it Švabo: Wien im Tschuschen-Rap

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Miranda Jakiša

Diskographie

A.Geh Wirklich?: Samma uns ehrlich, 2007. A.Geh Wirklich?: Prinz aus Grinzing, 2017. Average: Männergrippe, 2019. Droogieboyz: Wien, 2017. EsRap: Der Tschusch ist da, 2019. Kid Pex: Dijete ovog svijeta, 2010. Kid Pex: Tschuschenrap, 2010. Kid Pex: Bečki kodeks, 2010. Kid Pex: Keep it Jugo, do it Švabo, 2016. Kid Pex: Antifašista, 2017. Kid Pex & Gazal: Wien, Oida!, 2020. Kid Pex, Freshmaker & Chieel: Domovina, 2018. Kid Pex feat. Kroko Jack: So viel Polizei, 2018. Manijak: Jungs aus meiner Gegend, 2017. Manijak feat. Ortak: Es ist wie es ist, 2014. Manijak feat. Esref & Sheyla J.: Wien, 2017. Manijak feat. Svaba Ortak: Dijaspora, 2021. ORTAK: Hand hoch!, 2016. RAF Camora: Vienna, 2017 Švaba Ortak & PMC feat. Wienelite: Hand aufs Herz, 2012. Švaba Ortak: Serben in Wien I, II und III, 2010, 2011, 2019. Švaba Ortak: Teufelsdribbler, 2016. Švaba Ortak: Bis dato, 2019. Yugo: Allegro, 2018. Yugo: Babylon, 2020.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: mit freundlicher Genehmigung von PMC Eastblok. Abb. 2: Agentur Lintas im Auftrag der Aktion Mitmensch der österreichischen Werbewirtschaft 1973. Mit freundlicher Genehmigung der Initiative Minderheiten.

HOR 29. NOVEMBAR: (RE-)INTERPRETATIONEN POSTJUGOSLAWISCHER IDENTITÄTEN DURCH GESANGSAKTIVISMUS Jana Dolečki

Die Einwohnerschaft der Stadt Wien gilt heute als eine der diversesten in Europa. Dieses Spezifikum Wiens geht auf äußerst dynamische historische und gesellschaftliche Prozesse in der bewegten Geschichte der Stadt zurück. Die aktuelle Statistik zeigt, dass im Wiener Stadtgebiet gegenwärtig fast 800.000 Menschen (41,3 Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung) mit Herkunft aus einem anderen Land leben – sei es nun, dass sie eine andere Staatsangehörigkeit besitzen oder österreichische Staatsbürger*innen mit nicht österreichischem Geburtsort sind. Die größte Gruppe darin bilden Angehörige der Nachfolgestaaten Jugoslawiens (heute: Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Nord-Mazedonien, Montenegro, Kosovo und Slowenien).1 Wie andere Migrationsgruppen in Österreich hat auch diese Gruppe dabei ihre ganz spezifische historische Entwicklung durchlaufen, die von politischen, gesellschaftlichen, aber auch ökonomischen Transformationen gekennzeichnet ist. Diese Entwicklung reicht von der konstitutiven Rolle (jedenfalls eines Teils) der Südslaw*innen im Rahmen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie über die jugoslawische Arbeitsmigration ab den 1960er Jahren bis hin zur Migrationswelle, die von den jugoslawischen Kriegen in den 1990er Jahren ausgelöst wurde. Gerade in den 1990er Jahren erlebten die Südslaw*innen und Postjugoslaw*innen eine radikale Transformation, die auf das direkte Einwirken der jugoslawischen Zerfallskriege und den Zusammenbruch von Staaten 1

Die offizielle Statistik der Stadt Wien spricht für Anfang 2020 von 41,3 Prozent migrantischer Bevölkerung, die also eine nicht österreichische Herkunft aufzuweisen hat (ungeachtet der Staatsangehörigkeit, die auch österreichisch sein kann). Derselben Statistik zufolge zählt die Community in Wien, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, ca. 150.000 Menschen. Diese Statistik schließt dabei allerdings die zweite und dritte Generation aus; https://www.wien.gv.at/spezial/integrationsmonitor2020/ demografie-und-einwanderungsrecht/kernergebnisse/, letzter Zugriff: 12.02.2022.

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im sozialistischen Ostblock zurückzuführen ist. Bis dato als „jugoslawisch“ definiert, zerfiel die vorher einigermaßen als homogen aufgefasste Migrant*innen-Gemeinschaft in national unterschiedene Gruppen,2 während zugleich die supranationale jugoslawische Identität zum leeren oder bloß symbolischen Signifikanten herabgestuft wurde. Dies galt also nicht nur für die jugoslawischen Nachfolgestaaten selbst, sondern eben auch für alle Orte, an denen (post)jugoslawische Diasporagemeinschaften existierten, so auch in Wien.3 Obgleich heute die vorherrschenden politischen Projekte in der nachjugoslawischen Region die gemeinsame Geschichte zwischen 1945 und 1991 als Anomalie im Prozess eigener ethnonationaler Identitätsformation betrachten, gibt es im letzten Jahrzehnt vermehrt sporadische, aber doch positive Bewertungen des jugoslawischen Erbes und der jugoslawischen Erfahrung. Solche Haltungen werden vor allem von Seiten der Zivilgesellschaft, von NGOs und von der akademischen Gemeinschaft artikuliert. Zwar sind somit jugoslawische Werte nicht in offizielle Erinnerungs- und Identitätspolitiken integriert, aber die Zunahme einer „positiven Erinnerung“ an das jugoslawische gesellschaftspolitische Projekt ist doch unübersehbar.4 Dieses Phänomen einer Neubewertung muss kritisch vom Phänomen der „Jugonostalgie“ unterschieden werden, eines gesellschaftlich-kulturellen Prozesses, der „das kollektive Erinnern auf eine Anzahl persönlicher Erfahrungen und individueller Erinnerungen reduziert“5 und damit weniger auf die Neu- und Wiederbewertung 2

Die Homogenität der jugoslawischen Diaspora in Österreich und Wien sollte allerdings nur mit Zurückhaltung argumentiert werden. Denn neben der übernationalen, gemeinsamen Zugehörigkeit, die von jugoslawischer Seite auch in Österreich propagiert wurde, gab es Fraktionen, z.B. die kroatische, die sich insbesondere in Österreich ab den 1960ern auf mehrere Weisen national-ausschließend organisierten. Mehr dazu bei Waldrauch und Sohler, 2004, 179–217. 3 Unter den Begriff der „(post)jugoslawischen Migration“ fasse ich alle Migrationsbewegungen nach Österreich während und nach Bestehen des Staates Jugoslawien. 4 Obgleich es schwierig ist, dieses Phänomen zu generalisieren und als gemeinsamen Entwicklungsprozess der Nachfolgestaaten Jugoslawiens zu betrachten, stützen einige Beispiele die These auch. Eines der jüngsten Beispiele des Eingehens eines solchen Erbes in staatliche Politik stellt der offizielle Besuch des kroatischen Premierministers bei der offiziellen Jahresfeier zum „Tag des antifaschistischen Kampfes“ in Kroatien 2021 dar. Siehe https://www.aa.com.tr/ba/balkan/hrvatskapremijer-plenkovi%C4%87-sutra-po-prvi-put-na-obilje%C5%BEavanju-dana-antifa%C5%A1isti%C4%8Dke-borbe/2280407, letzter Zugriff: 12.02.2022. 5 Krašovec, 2011,  http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/ html/n/nostalgia/yugonostalgia-primoz-krasovec.html, letzter Zugriff: 12.02.2022.

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Jugoslawiens als politisches System gerichtet ist. Neben dem mangelnden politischen Potenzial charakterisiert die Jugonostalgie eine Idealisierung des jugoslawischen „Alltags“, was wiederum häufig mit Kommodifizierung einhergeht und somit vor allem Prozesse kapitalistischer Warenproduktion antreibt.6 Solche Prozesse des Hinterfragens und der Bestätigung ausgewählter positiver Seiten des jugoslawischen Staatsprojekts und seines kollektiven Identifikationsentwurfs vervielfältigen sich für die Diaspora gleich auf mehreren Ebenen. Wie bereits betont, müssen kollektive Identifikationspraxen bestimmter Migrant*innen-Gemeinschaften7 vor dem Hintergrund zweier wechselseitig zusammenhängender Referenzfelder betrachtet werden, nämlich jener der Herkunfts- und der Ankunftsgesellschaft. Im Falle Österreichs und der Stadt Wien bedeutet das, auch die staatliche Politik in die Analyse mit einzubeziehen, da sie mit ihren Zugängen die Definition von Migrationsgemeinschaften wesentlich beeinflusst. Gleichzeitig dürfen Migrationsgemeinschaften nicht nur als passive, von staatlicher Politik geformte Objekte begriffen werden, sondern vielmehr als Möglichkeitsräume, die selbst neue Formen kollektiver Selbstidentifikation erschaffen und darin politische Prozesse hinterfragen oder sich ihnen auch gänzlich entziehen. Gerade das gleichzeitige Existieren in und zwischen zwei unterschiedlichen staatlichen Systemen erlaubt es Migrationsgemeinschaften, neue Formen des Zusammenlebens zu denken. Vor dem Hintergrund dieses Potenzials erscheint die Stadt Wien als Begegnungsort und Ort des Zusammenlebens unterschiedlicher postjugoslawischer nationaler Gruppen als ideale Plattform, um eine (post)jugoslawische gemeinsame Identität zu reaktivieren. Dieses Gestaltungspotenzial kollektiver Selbstidentifikation steht im analytischen Fokus dieses Textes. Er untersucht das kritische Potenzial dieser Identifikationspraxis und versucht auf die Frage zu antworten, auf welche Art und Weise eine (post) jugoslawische Identitätskonzeption heute in Wien als Widerstand gegen dominante, kollektive Identitätsmatrizen sowohl innerhalb Österreichs als auch innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens gelesen werden kann. 6 Zu Jugonostalgie siehe Maksimović, 2017, 1066–1081; Kolstø, 2017, 760–781; Palmberger, 2008, 355–357; Velikonja, 2015, 366–398. Zur Literatur über Musik und Jugonostalgie siehe Hofman, 2015, 145–164; Petrov, 2018, 119; Petrov, 2016, 203–215. 7 Unter Migrationsgemeinschaften verstehe ich nach Ljubomir Bratić „die seit der ersten Anwerbungswelle der 60er-Jahre in den letzten 40 Jahren nach Österreich eingewanderten Personen und deren Nachkommen in der zweiten bis vierten Generation, zunächst unabhängig davon, ob sie mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt haben oder nicht.“ Bratić, 2001, 516.

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Der vorliegende Text wird das angeführte Phänomen anhand der Aktivitäten des Wiener Chors Hor 29.  Novembar (in weiterer Folge: der Chor) im ersten Schritt durch eine detaillierte Beschreibung seines „musikalischen Aktivismus“8 untersuchen. Wie ich zeigen werde, leistet dieses nominal musikalische Kollektiv durch sein Repertoire und seine Auftrittspolitik eine (Re-) Definition und (Re-)Aktivierung jugoslawischer Identitätsmuster, und das gleich auf mehreren Ebenen: Erstens auf der Ebene klassischer Fragen der Zugehörigkeit, zweitens in Bezug auf die Beziehung zur breiteren Wiener (post) jugoslawischen Gemeinschaft, und drittens im Verhältnis zur „ansässigen“ österreichischen Gesellschaft. Einführend werden die Organisationsmodelle und das Selbstbild des Chors aufgezeigt sowie ein Einblick in das Repertoire und in die Repertoirepolitiken gegeben. Ebenso gehe ich auf Strategien des „musikalischen Aktivismus“ ein, dessen Ziele die Kommunikation einer jugoslawischen Identität und gleichzeitig die Transformation kollektiver Identitäten sind. Die Herangehensweise fußt dabei auf einer etwas einzigartigen „internen“ Perspektive der Autorin. Seit 2014 bin ich beim Hor 29.  Novembar als Dirigentin und Vereinsvorständin tätig. Daher wird der folgende Text größtenteils aus persönlichen Erfahrungen und Einblicken bestehen, die innerhalb einiger Jahre direkter Teilhabe an konkreten Aktivitäten gesammelt wurden und die durch eine Reihe an Textmaterial rund um den Chor sowie interne Archivdokumente des Kollektivs ergänzt werden. Den Grenzen einer solchen Herangehensweise an das Thema bewusst, bin ich dennoch der Überzeugung, dass dank einer solchen Einsichtnahme ein erweiterter Blick auf die erwähnten Konzepte geworfen und ein Beitrag dazu geleistet werden kann, zukünftiges wissenschaftliches Interesse für solche und ähnliche Phänomene zu wecken.

1. HOR 29. NOVEMBAR: GESCHICHTE UND KONTEXT

Ein kalter 29.  Novembermorgen 2009 in der Menzelgasse. Sie liegt im Wiener Bezirk Ottakring, traditionell ein Arbeiter*innenbezirk mit einem großen (post)jugoslawischen Migrationsanteil. Vor dem Haustor der Nummer 3 findet sich ein Grüppchen von etwa zehn Menschen in einer recht losen Chorformation ein. Sie sind in die Fahnen eines schon lange nicht mehr bestehenden Landes eingewickelt und fangen nach ein paar Akkorden Gitarrenintro an, auf 8 Unter musikalischem Aktivismus verstehe ich die Verwendung von Musik als Werkzeug für politisches Engagement, das sich dem Hinterfragen von Machtpositionen widmet und nicht ihrer Verfestigung.

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Serbisch zu singen: „Otiš’o si u svet beli zbog prokletih para/Ostadoše mala deca, tvoja majka stara/Tamo osta mladost i lepota/Austrija, Austrija, košta me života.“9 Es ist eine Punk-Version des Liedes Austrija, Austrija [Österreich, Österreich], einst ein Hit der serbischen Turbo-Folk-Sängerin Zorica Marković, das hier nun durch die Straße hallt. In den Fenstern erscheinen langsam die Köpfe neugieriger Anwohner*innen, von denen zweifelsohne viele sowohl die Sprache als auch den Inhalt des Liedes verstehen, das auf nachdrückliche Art und Weise von diesen spezifischen Arbeitsmigrationserfahrungen erzählt. Am Ende des Songs stimmt jemand Happy Birthday an. Ein Ständchen mit Doppelbedeutung: „Geburtstag“ haben sowohl Jugoslawien10 als auch der Chor Hor 29.  Novembar. Zeitpunkt und Ort der Aktion sind, wie auch bei allen folgenden selbstorganisierten Aktionen des Chors, nicht zufällig gewählt. Die Menzelgasse 3 ist die ehemalige Adresse des Arbeiter*innenklubs „Mladi radnik“ [Junger Arbeiter], einem der vielen gesellschaftlich-sportlichkulturellen Vereinen, die von der jugoslawischen Diaspora in ganz Österreich in den Jahrzehnten starker Migrationsbewegungen gegründet worden waren. Der am 29. November 196911 gegründete Verein war ein Ort, an dem jugoslawische „Gastarbeiter*innen“ ihre Freizeit verbrachten und aktiv verschiedene Gemeinschaftsformen praktizierten (durch Folklore-, Bildungs-, Sport- und andere Beteiligungsprogramme). Obwohl nicht bekannt ist, wann genau der erwähnte Verein seinen Betrieb einstellte, ist davon auszugehen, dass mit Anfang der 1990er Jahre und dem Beginn der Bürgerkriege in Jugoslawien seine grundlegende Funktion in Frage gestellt wurde: Mit dem Aufkommen der Folge- und Nationalstaaten verloren diese und ähnliche Institutionen, welche für die Aufrechterhaltung und Förderung der Idee der supranationalen jugoslawischen Identität gegründet worden waren, ihr grundlegendes Bezugsfeld. Während und nach der Zeit der Jugoslawienkriege verschwanden solche Vereine (bundesweit umfasste der Jugoslawische Dachverband 121 Vereine vor 9

[Du bist in die weite Welt gegangen, wegen des verdammten Geldes / Kleine Kinder und deine alte Mutter hast du zurückgelassen / Die Jugend und die Schönheit blieben dort / Österreich, Österreich, du hast mich mein Leben gekostet.] 10 Der Tag der Republik Jugoslawiens war ein Feiertag in Gedenken an den 29.11.1943, an dem der AVNOJ (Antifaschistischer Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens) in der bosnischen Stadt Jajce die Grundlagen des Staatssystems definierte, das zwei Jahre später als SFRJ gegründet wurde. 11 Bereits hier wurde mit der Datumswahl die Bedeutung des offiziellen „Tages der Republik“, der am 29. November gefeiert wurde, zusätzlich unterstrichen und der Bezug zur Heimat Jugoslawien damit wachgehalten.

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1990)12 entweder ganz oder wurden entlang nationaler Trennlinien umgestaltet. Diese Organisationen, nun Heimatvereine zur Förderung der einzelnen nationalen Kulturen, wandten sich der Interessensvertretung bestimmter nationaler Gemeinschaften der Nachfolgestaaten Jugoslawiens zu. Ein solcher Prozess war natürlich weitgehend bedingt durch die vielfältigen Abhängigkeiten zwischen der (post)jugoslawischen Diaspora und den politischen Systemen in der (neuen) Heimat. Die Folgestaaten erkannten insbesondere zu Anbruch und während der Kriege der 1990er Jahre in den Diasporagemeinschaften eine bedeutende Aufwertungsmöglichkeit ihrer eigenen ethnonationalen Bestrebungen und sahen diese auch als Möglichkeit internationaler Repräsentation ihrer Politik. Gerade dieser radikale Übergang und die Fixierung auf ethnokulturelle Identitäten, welche mit der Negation des jugoslawischen ideologischen Erbes sowohl in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens als auch in Österreich einhergingen, waren der Stein des Anstoßes für die ersten Aktivitäten des Hor 29. Novembar.

2. MUSIK UND AKTIVISMUS

Wenngleich offiziell am 29. November 2009 gegründet, so entstand der Chor irgendwann im Oktober desselben Jahres in den Kellerräumen des Integrationshauses im 2.  Wiener Gemeindebezirks. Initiiert wurde das Projekt von dem Künstler/Aktivisten Alexander Nikolić und dem Filmwissenschaftler Saša Miletić. Die Gründungsmitglieder, etwa zehn Personen, waren Individuen jugoslawischer Herkunft mit Wiener Adressen,13 verschiedener sozialer und professioneller Hintergründe, die aber ähnliche Einstellungen bezüglich der Frage der Bedeutung des jugoslawischen gesellschaftspolitischen Erbes hatten. Wenngleich dieses Kollektiv zuerst sehr informell organisiert war, kristallisierte sich schnell das Bedürfnis heraus, jene politisch-soziale und kulturelle Identität, welche diese Gruppe als verdrängt betrachtete, wirksam und öffentlich wieder zu „fördern“. Im gemeinsamen Wunsch, neue und andere Formen 12 Bratić, 2000, 13. 13 Die Gruppe der Gründer*innen bestand aus Menschen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach Wien gekommen waren, und stellte somit einen Querschnitt der (post)jugoslawischen Migrationserfahrung dar. Ein Teil erreichte Wien im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen, andere waren als Studierende in den frühen 1980ern gekommen, die nächsten waren in Österreich geborene Kinder, deren Eltern Arbeitsmigrant*innen waren, und so weiter.

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des Zusammenkommens zu finden und das (post)jugoslawische Erbe zu praktizieren und zelebrieren, griffen die Mitglieder des Kollektivs in ihrer Kritik des vorherrschenden Identifikationsdiskurses zur Musik. Dabei ist wichtig anzumerken, dass die Musik seit Beginn der Choraktivitäten hauptsächlich als Werkzeug gedacht war. Musik ist hier Hilfsmittel zur Förderung bestimmter politischer Einstellungen und Positionen der Gruppe und eine Möglichkeit, Definitionspraktiken in Frage zu stellen. Mit anderen Worten: Das Kollektiv sah sich damals (wie auch heute) nicht als professioneller Gesangsverein mit dem Ziel der Perfektionierung musikalischer Darbietungen, sondern gestaltete seine Aktivitäten vielmehr gemäß dem Konzept des „radikalen Amateurismus“.14 Der Chor definiert keine professionellen Kriterien für potenzielle Mitglieder und die musikalische Form selbst ist sehr heterogen, „unordentlich“, „punk“15 und widersetzt sich jeglichen systematischen Normierungen. Nicht weniger wichtig ist, dass der Chor in diesem Verzicht auf professionelle musikalische Ansprüche dem Publikum ein Partizipationsangebot macht. Darin wurde die Möglichkeit, zusätzliche Identifikationsebenen zu schaffen, erkannt. Gerade aufgrund der unkonventionellen musikalischen Form, die allen, unabhängig von musikalischem Talent oder Wissen, offensteht, schließt sich das Publikum seit Beginn des Bestehens sehr oft und spontan von selbst dem Gesang an. Durch das Aufrechterhalten und die Förderung dieser Art der Partizipation verwischt der Chor die Grenze zwischen Performanz- und Rezipient*innengruppe; dem Publikum wird Gelegenheit einer gewissen (wenn auch vorübergehenden) Partnerschaft im aktivistischen Engagement gegeben. Außerdem stellen übliche Konzerte und Auftritte nicht den primären Kontext für Choraktivitäten dar, was als weitere klare Abgrenzung zu traditionellen musikalischen Formen zu interpretieren ist. Neben der Organisation eines jährlichen Geburtstagskonzerts und einiger Konzertveranstaltungen, die auf Einladung verschiedener lokaler oder auch ausländischer Organisationen stattfinden, tritt der Chor überwiegend bei Protesten, Demonstrationen und Soli-Festen auf. Gelegentlich initiiert der Chor auch selbständig Protestaktionen und Interventionen (wie das Singen vor der bosnischen Botschaft in Wien als Zeichen der Unterstützung der bosnischen Antiregierungs-Proteste 2014; oder Singen vor der kroatischen Botschaft als Protest gegen den Freispruch Dario Kordićs im Fall des Massakers in Ahmići 2014; und Ähnliches). So er14 Nach Ana Hofman bezieht sich „radical amateurism“ im Musikbereich auf das politische Potenzial dieser Praxis. Hofman, 2020, 89. 15 Reitsamer, 2016, 63.

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Abb. 1: Auftritt des Chores vor der kroatischen Botschaft in Wien, 2014. Im Rahmen der Aktion wurden mehrere Lieder auf BKMS gesungen und die Namen aller Opfer des Massakers von Ahmići verlesen.

weist sich das Kollektiv als politisch aktives Subjekt der Wiener Szene, welches regelmäßig auf verdeckte politische Prozesse aufmerksam macht, die sehr wohl die breite städtische Gemeinschaft betreffen, insbesondere die (post)jugoslawische.16 Doch obwohl der Chor selbst nicht nach perfekter musikalischer Darbietung strebt oder auf ein klassisches musikalisches Repertoire besteht, kann man nicht sagen, dass Musikalität ein völlig sekundärer Aspekt ist und Lieder einzig auf die Botschaft ihrer Texte und ihrer Kontexte reduziert werden. Wie einschlägige Untersuchungen und insbesondere die Arbeit der Musikwissenschaftlerin Ana Hofman zeigen, können (oder müssen) die engagierten Genres 16 In der Annahme, dass eine bestimmte Verwaltungsvereinbarung die Möglichkeit der Organisation solcher und ähnlicher Aktionen erweitert, etabliert der Chor 2012 auch den Verein unter demselben Namen. Eine der grundlegenden Aktivitäten des Vereins ist die Organisation des Festivals alternativer Chöre (FAC), eine Veranstaltung, deren Hauptziel die Sammlung und Präsentation von Chorgemeinschaften aus Österreich und Europa mit ähnlichem Repertoire oder ähnlicher Organisationspolitik ist. Mehr über das Festival unter https://festivalalternativerchoere.wordpress.com/, letzter Zugriff: 19.04.2022.

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der Partisanen- und Arbeiter*innenlieder in ihrer affektiven Reichweite und ihrem Potenzial zur emotionalen Identifikation betrachtet werden, gerade aufgrund der kollektiven Strukturen, die Chören von vornherein zu eigen sind. Hofman betont, dass wenn gegenwärtig Lieder aus dem Erbe der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung in einem Kontext gesungen werden, in dem „alle mit der Vergangenheit verbundenen Emotionen ideologisch belastet sind“,17 es eben jener affektive Gehalt der Musik ist, der dann unterschiedliche, individuelle Zugänge ermöglicht, solche Einstellungen zu „überarbeiten“. Im Kontext von Musikinhalten als Instrument einer bestimmten kollektiven Identifikation in Migrant*innen-Gemeinschaften ist wichtig zu beachten, dass Musik aus dem ehemaligen Jugoslawien in Wien schon seit langem dazu eingesetzt wird, eine übernationale Migrant*innen-Gemeinschaft zusammenzubringen. Zahlreiche städtische Klubs und Cafés spielen ein musikalisches Repertoire aus Jugoslawien und den Nachfolgestaaten und fungieren heute als informeller Treffpunkt für eine breitere (post)jugoslawische Migrationsgemeinschaft.18 Obwohl an diesen Orten die eigene Rolle bei der Hinterfragung der herrschenden und dem Erschaffen neuer Gesellschaftsformen sehr oft nicht reflektiert wird (und man sich bei der Auswahl des „übernationalen“ Programms oft nur von Profitgedanken leiten lässt), sind diese Orte ein relevanter Punkt für eine umfassendere Analyse des Potenzials eines bestimmten musikalischen Inhalts zur Schaffung eines bestimmten kollektiven Zugehörigkeitsgefühls.

3. DIE REPERTOIREPOLITIK

Die Auswahl des musikalischen Repertoires des Hor 29.  Novembar orientiert sich an erkennbarem Engagement und zugehörigen Funktionen bestimmter Lieder. Das anfängliche Repertoire des Chorkollektivs fokussierte auf zwei grundlegende Themen, die als Kern einer Vision jugoslawischer Identität identifiziert wurden: das antifaschistische Erbe und das Phänomen der Arbeitsmigration. Die erste Gruppe von Liedern umfasste „Klassiker“ des jugoslawischen antifaschistischen Repertoires wie Po šumama i gorama [Durch Wälder und Berge] oder Konjuh planinom [Auf dem Berg Konjuh], während sich das oben 17 Hofman, 2020, 257. 18 Von urban-musikalisch orientierten Klubs wie dem ehemaligen Ostklub mit Themenabenden zur YU-Musik über das Balkan-Fever-Festival bis hin zu „Folk“Klubs mit Live-Musik wie Lepa Brena. Vgl. Gebesmair/ Brunner/Sperlich, 2013.

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erwähnte Austrija, Austrija auf die zweite Repertoiregruppe bezog. Obwohl die meisten der Lieder anfangs in den Sprachen der Region gesungen wurden,19 ließ der Chor später von der exklusiven Präsentation jugoslawischer Lieder ab, was mit seinem Wachstum und eingehender Diversifizierung der Mitgliedschaft zusammenhing. Der Name, welcher die Gemeinschaft symbolisch mit einer bestimmten Sprache und einem bestimmten Raum verbindet, wurde zwar beibehalten, aber das Repertoire des Chors schnell durch Lieder auf Deutsch, Jiddisch, Englisch, Türkisch und in weiteren Sprachen erweitert. Mit dieser „Öffnung“ des Repertoires beschloss der Chor nicht nur, die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen seiner eigenen Mitglieder widerzuspiegeln, sondern auch weitgehend, das (post)jugoslawische Erbe in direkte Verbindung zu anderen ähnlichen politischen und sozialen Bewegungen zu stellen. Die Erstellung des Chorrepertoires erfolgt nach Methoden, die das offene und partizipationsorientierte Funktionsmodell dieser Gemeinschaft weiter betonen. Obwohl sich das Modell selbst im Laufe der Jahre geändert und an die wachsende Mitgliederzahl angepasst hat,20 ist das Prinzip dasselbe geblieben. Alle Mitglieder des Chors haben das Recht, neue Lieder vorzuschlagen, die dann im Plenum diskutiert und eventuell ins Repertoire aufgenommen werden. Im Auswahlprozess wird besonderer Wert auf das politische und gesellschaftliche Engagement der vorgeschlagenen Lieder sowie auf deren mögliche Bedeutung für den aktuellen Kontext Wiens und Österreichs gelegt. In bestimmten Fällen wird dieser Prozess „umgekehrt“, das heißt, wenn Chormitglieder ein akutes soziales Problem bemerken, das sie ansprechen möchten, wird ein Lied gesucht, das die Situation am besten kommentiert. Mitten in der Flüchtlingskrise 2014 beschloss der Chor beispielsweise in Absprache mit neuen Mitgliedern mit konkreter Fluchterfahrung ein Lied auf Arabisch in sein Repertoire aufzunehmen (Mawtini21), um diese aktuelle Minderheitenperspek19 B/K/M/S und Slowenisch. 20 Derzeit „testet“ der Chor ein Modell zur Online-Songauswahl. Präziser ausgedrückt, reichen die Mitglieder ihre Songs auf einer internen Online-Plattform ein, auf der dann allen Mitgliedern Zeit bleibt, abzustimmen. Die ersten fünf Lieder mit den meisten Punkten werden dann im Plenum diskutiert und in den meisten Fällen in das Grundrepertoire aufgenommen. 21 Der Text des arabischen Liedes Mawtini („Heimat“) wurde 1943 vom palästinensischen Dichter Ibrahim Touqan geschrieben; die Musik komponierte im 19. Jahrhundert der Libanese Mohammed Flayfel. Touqan schrieb das Lied zur Zeit des arabischen Befreiungskampfes und allen voran des palästinensischen Aufstandes gegen das britische Mandat. Bis 1996 wurde Mawtini als inoffizielle Hymne Palästinas gesungen. 2004 wurde das Lied von der Übergangsregierung unter Führung

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tive in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Lieder aus dem Repertoire des Chors sind letztlich nicht nur in ihrem historischen Kontext relevant, sondern besitzen auch kritisches Potenzial für die Gegenwart. Gerade in dieser Praxis und Politik des Chors, welche einen Fokus auf das Kommentieren aktueller Ereignisse legt, liegt das konkrete gesellschaftspolitische Engagement des Chors.

4. JUGOSL AWIEN: REPERTOIRE UND AUSFÜHRUNG

Im öffentlichen Raum präsentiert sich Hor 29.  Novembar als „antifaschistischer, selbstorganisierter und mehrsprachiger Chor aus Wien“ sowie als ein „offenes Kollektiv, in dem jede*r mitwirken kann“.22 Abgesehen von diesen öffentlichen und offiziellen Bekundungen wird der Chor wohl gerade am glaubwürdigsten durch sein Liederrepertoire repräsentiert, welches eine genauere Darstellung erfordert. Das aktuelle Repertoire des Chores (aus dem Jahr 2021) umfasst mehr als 45 Lieder in 13 Sprachen, die sich in mehrere Themengebiete unterteilen lassen: Antifaschistische Kampflieder (aus Jugoslawien, aber auch international); Arbeiter*innenlieder sowie Lieder über andere emanzipatorische Bewegungen (feministische Positionen, Haltung zur Migration, verschiedene andere internationale revolutionäre Positionen etc.).23 Jedoch gibt es hier einen Widerspruch: Obgleich mehr als die Hälfte des Repertoires aus Liedern aus dem jugoslawischen Raum besteht, scheint es, als der USA zur neuen Nationalhymne des Irak erklärt. Obwohl von offizieller irakischer Behördenseite die Hymne als Symbol für ihre Legitimität gesehen wird, wird sie gleichzeitig auch von Demonstrant*innen im Irak (wie auch im Libanon) gesungen. 22 Siehe offizieller Internetauftritt des Hor 29. Novembar: https://hor29n.wordpress. com/, letzter Zugriff: 12.02.2022. 23 Das interne statistische Dokument des Hor 29. Novembar aus dem Jahr 2020 enthält einige interessante Daten über das Repertoire. Von den 45 Liedern darin sind 16 auf BKMS (oder „serbokroatisch“, da die meisten aus der jugoslawischen Zeit stammen), elf auf Deutsch, fünf in romanischen Sprachen (Italienisch, Portugiesisch, Katalanisch), je zwei auf Griechisch, Türkisch, Slowenisch und Romanes sowie je eines auf Arabisch, Kurdisch und Mazedonisch. Von den Liedern sind 18 in der Zeit von 1920 bis 1945, 15 in der Zeit von 1946 bis 1989 und nur vier nach 1989 entstanden. Thematisch gehören 26 Gedichte zum Bereich des antifaschistischen Kampfes und 19 kritisieren verschiedene gesellschaftliche Prozesse wie arbeitsrechtliche, feministische oder migrantische Themen. Vgl. Kuffner, 2020.

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ob die Mehrheit der Chormitglieder keine (post)jugoslawische Herkunft hat. Auch wenn die Mitgliedschaft im Chor starker Fluktuation unterliegt und somit die exakte Anzahl der Mitglieder, die regelmäßig und aktiv teilnehmen, nicht bestimmt werden kann,24 so lässt sich doch behaupten, dass bei größeren Veranstaltungen des Chores von ca. 40 Mitgliedern nur 15 von ihnen aus Jugoslawien oder dessen Nachfolgestaaten stammen. Obwohl der Chor heute als ein sehr heterogenes System funktioniert, das sich mit verschiedenen internationalen wie auch lokalen Themen von gesellschaftspolitischer Bedeutung auseinandersetzt, hinterfragt und präsentiert die Gruppe weiterhin engagiert eine spezifische (postjugoslawische) Identität durch einen Teil des Repertoires in den Sprachen der ehemaligen jugoslawischen Republiken. Freilich findet sich der direkteste Bezug zu Jugoslawien in den Liedern der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung, die einen beträchtlichen Teil des Gesamtrepertoires ausmachen. Wie Tanja Petrović anmerkt, muss die Darbietung der Partisan*innenlieder von Seiten des selbstorganisierten Chors als Reaktion auf den Geschichtsrevisionismus in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens verstanden werden wie auch als Teil einer breiteren Anstrengung, eine neue Haltung gegenüber der Partisan*innenbewegung und dem antifaschistischen Kampf zu etablieren.25 Indem er sich gerade auf diesen Teil des musikalischen Erbes konzentriert, (re)definiert der Chor Jugoslawien als ein historisches und aktuelles gesellschaftspolitisches Konzept, das aus dem gemeinsamen Kampf verschiedener jugoslawischer Völker aus klaren ideologischen Vorstellungen hervorging.26 Auf jeden Fall ist es wichtig zu betonen, dass die Darbietung eines antifaschistischen Repertoires dem Chor nicht als bloße museale Konservierung der akustischen Kulisse einer geschichtlichen Episode dient. Vielmehr wird dieses historische Material auf unterschiedliche Weise in aktuellen Kontexten (weiter)verarbeitet, modernisiert oder direkt beschrieben. Zum Beispiel kann diese „Aktualisierung“ auf der Ebene eines Eingriffs in den Text erfolgen, so wie im 24 Nach inoffiziellen Einblicken ins Chorarchiv und in die interne Mailingliste haben in den elf Jahren des Bestehens um die 200 Menschen den Chor durchlaufen. 25 Vgl. Petrović, 2011, 319. 26 Der Chor hat sich bereits zu Beginn dazu entschlossen, keine Lieder, die Josip Broz Tito gewidmet sind, zu singen. Man kam früh zur Auffassung, dass der Personenkult um diese Figur als Abkehr vom Verständnis des antifaschistischen Widerstands verstanden werden muss und dass eine Bewegung an „Universalität“, d.h. an Potenzial für eine allgemeinere Identifikation mit anderen, verliert, wenn sie an eine Person gebunden wird.

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nordmazedonischen Lied Site si pojdoa mamo [Sie sind alle gegangen, Mama] aus der Zeit des Volksbefreiungskampfes. Hier singen die Frauenstimmen statt „mladi partizani“ [junge Partisanen], „mladi partizanki“ [junge Partisaninnen] und erinnern auf diese Weise direkt an die weiblichen Kampfbeteiligten. Einen ähnlichen Eingriff gibt es im slowenischen Lied Na oknu glej obrazek bled [Sieh am Fenster ein blasses Gesicht], in dem die Strophe über einen in den Krieg ziehenden Partisanen, dem sehnsuchtsvoll vom Fenster aus nachgeblickt wird, von den männlichen Stimmen gesungen wird, um auf die „unsichtbare“ queere Geschichte des antifaschistischen Kampfes anzuspielen. Mit dem beschriebenen Chorrepertoire aus dem Erbe der antifaschistischen Bewegung und mit Liedern in Sprachen, die nach den 1990ern in den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens entstanden sind, vermittelt der Chor seine „Vision“ von Jugoslawien oder präziser, vom postjugoslawischen Raum. Einen bedeutenden Teil dieses Repertoires stellen Lieder dar, die der gegenwärtigen Arbeitsmigration, dem Phänomen der Gastarbeit und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Prozessen gewidmet sind.27 Neben dem genannten Beispiel Austrija, Austrija, kann Geljan dade/Prokleta je Amerika [Oh Vater, du bist gegangen/Verdammtes Amerika] als weiteres Lied genannt werden, in dem in einer Kombination aus Romanes und Serbisch über die negativen Folgen der Arbeitsemigration der Eltern gesungen wird. Durch den Austausch des Wortes „Amerika“ durch „Austrija“ stellt der Chor das Thema des Liedes gezielt in einen aktuellen österreichischen Kontext und eröffnet auf diese Weise eine Sicht auf die Arbeitsmigration, welche die hegemoniale Definition dieses Phänomens als „gelungenes Beispiel für Integration“ in Frage stellt.28 Ein ähnliches Vorgehen ist beim Lied Hej, nemački policajci [Hey, deutsche Polizisten] festzustellen, ursprüngliche von der Serbischen Turbo-Folk-Band Ritam Srca [Rhythmus des Herzens] im Jahr 2008 gesungen. Darin werden die 27 Weitere Aktualisierungen im Hinblick auf die Arbeitsmigration finden sich auch beim Repertoire in anderen Sprachen. Zum Beispiel endet das Lied „Die Arbeiter von Wien“ mit dem Ausruf „[W]ir sind die Arbeiterinnen von Beč“, womit die maßgebliche Rolle der jugoslawischen Arbeitsmigration bei der „Erbauung“ dieser Stadt bestärkt wird. 28 Diese Position vertrat der damalige österreichische Integrationsminister Sebastian Kurz im Jahr 2016 anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des „Abkommens zur Beschäftigung jugoslawischer Arbeitnehmer in Österreich“, https://www. bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aktuelles/2016/07/50-jahre-anwerbeabkommen-mit-ehemaligen-jugoslawien/, letzter Zugriff: 12.02.2022.

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Kriminalisierung des „Migranten“ sowie der Umstand thematisiert, dass viele Migrant*innen im Gefängnis landen, weil sie keine legale Anstellung finden. Um sich dem lokalen Kontext anzupassen und die grundlegende Botschaft zuzuspitzen, wird der Text so adaptiert, dass bei Auftritten in Österreich österreichische Polizisten, in Kroatien kroatische und in Serbien serbische Polizisten adressiert werden. Ähnlich wie beim antifaschistischen Repertoire versucht der Chor mit diesem Programmsegment gleichzeitig einen gewissen postjugoslawischen Inhalt und dessen breiteres Identifikationspotenzial vorzustellen. Das vielleicht beste Beispiel für das Beharren auf einer solchen Praxis ist die Teilnahme des Chors an der Ajnhajtclub-Ausstellung in der Wiener Galerie Q21 im Jahr 2016 anlässlich einer Veranstaltung zum 50.  Jahrestag der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens von Arbeitsmigrant*innen zwischen Österreich und Jugoslawien. Die Präsentation des Chors war ursprünglich als „museale Version der Wiener Arbeitsmigration“ konzipiert, die täglich in Museen zur Besichtigung oder zum Hören angeboten werden sollte, was der Chor jedoch ablehnte. Zusätzlicher Protest gegen diese Art der Musealisierung und damit einhergehenden Passivierung des explizit gesellschaftspolitischen Engagements des Kollektivs und seines Repertoires wurde durch Botschaften auf Transparenten zum Ausdruck gebracht, die die Mitglieder des Chors zu verschiedenen Zeitpunkten der Aufführung in die Höhe hielten. Auf den Transparenten [Abb. 2] formulierten die Chormitglieder ihre Kritik an der damaligen österreichischen Regierung und ihrer umstrittenen Politik gegenüber Migrant*innen und Asylsuchenden. Auf diese Weise versuchte das Kollektiv, mit dem präsentierten Repertoire eine kritische Haltung zu bewahren und auch aufzuzeigen, inwiefern (post)jugoslawische und auch alle anderen Arbeitsmigrant*innen als aktives politisches Subjekt innerhalb der österreichischen Gesellschaft verstanden werden müssen. Ebenso wie im Fall des antifaschistischen Programms wird auch der migrationsbezogene Part des Repertoires durch die Assoziation mit bestimmten Topoi der Arbeitsmigration und den öffentlichen Räumen aktualisiert, die mit diesem Phänomen in Verbindung gebracht werden. So organisiert der Chor jährlich eine Stadtrundfahrt, um seinen Geburtstag zu feiern, und bringt dabei sein Repertoire an ausgewählten öffentlichen Orten zur Aufführung, die die Aktualität der (post)jugoslawischen Arbeitsmigration symbolisieren, etwa am Busbahnhof Erdberg, der U1-Station Keplerplatz im 10. Bezirk oder im Shopping-Center in der Lugner City. Bezugnehmend auf Buciek und Juul schreibt Reitner den genannten Orten die Bedeutung von „monuments of distance“

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Abb. 2: Auftritt des Hor 29. Novembar im Rahmen der Ausstellung Ajnhajtclub in der Galerie frei_raum Q21 exhibition space. Das Zitat auf dem Transparent bezieht sich auf die Kritik am damals geltenden „australischen Modell“ der Behandlung von Menschen auf der Flucht, das einige österreichische Politiker*innen auch hier etablieren wollten.

zu,29 die als mnemonische Erscheinung auf Reisen und Mobilität verweisen und damit im eigentlichen Wortsinn als Elemente des erinnerungskulturellen Erbes eines sozialen Randes fungieren. Durch die Darbietung der Lieder an diesen und ähnlichen Orten identifizierte, markierte und aktualisierte der Chor nicht nur ihre symbolische Bedeutung, sondern trat auch direkt in Kommunikation mit der (post)jugoslawischen Gemeinschaft, die diese Orte nutzt. In der Praxis des Engagements des Chors ist die Kommunikation mit dieser spezifischen Gemeinschaft ausgesprochen wichtig, da ihre Mitglieder oft keinen leichten Zugang zu Inhalten haben, die das nationalistische Zugehörigkeitsparadigma kritisieren und andere, transformative Formen der kollektiven Identifikation bieten. Alle genannten Aktualisierungen und Referenzen des Repertoires in den (post)jugoslawischen Sprachen werden zusätzlich mittels einleitender Texte erläutert, die in den meisten Fällen zur Ankündigung der Lieder inkludiert werden. Dadurch, dass diese Ankündigungen in mehreren Sprachen erfolgen (Deutsch, den Sprachen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken sowie 29 Reitsamer, 2016, 68.

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Englisch), erfolgt eine klare Kontextualisierung der Aufführung, weshalb sie als Bestandteil der meisten Chorauftritte zu betrachten sind. Die Identifikation mit dem Erbe der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung, aber auch der Arbeitsmigration zeigt sich auch auf visueller Ebene. Auch wenn der Chor für die öffentlichen Auftritte keine Uniformen vorschreibt, tragen viele Mitglieder für gewöhnlich TShirts mit dem Chor-Logo, das sich aus den Symbolen eines Megafons und eines fünfzackigen Sterns zusammensetzt. Einige Mitglieder treten in blauen Arbeiter*innen-Hemden und -Anzügen auf, die mit Artefakten aus der jugoslawischen sozialistischen Vergangenheit geschmückt sind, wie zum Beispiel Pionierkappen und -tüchern. Ebenso findet man auf dem offiziellen Banner des Kollektivs, das oft am Aufführungsort aufgestellt wird, den Titel des Liedes Padaj silo i nepravdo, auch in deutscher Übersetzung „Macht und Unrecht stürzen“ (siehe Abb. 3). Diese Erscheinungselemente des Auftritts sollten nicht nur in ihrer begleitenden, „dekorativen“ Funktion betrachtet werden, sondern auch als Werkzeuge einer klaren gesellschaftspolitischen Kontextualisierung der Aufführung an sich.

5. (RE-)INTERPRETATION DER IDENTITÄT

Ausgehend von der Annahme, dass Musik als Mittel funktionieren kann, mit dem Individuen, Kollektive und Gemeinschaften sowohl in der Gegenwart Bedeutungen schaffen, als auch (Re-)Interpretationen bestimmter Identitätsäußerungen leisten können, betrachte ich im weiteren Verlauf des Textes die musikalische Aktivität des Hor 29.  Novembar als Ort, aber auch Praxis der Überprüfung verschiedener Identitätsmuster (individueller sowie kollektiver). Nachdem der Chor durch einen großen Teil seines Repertoires und seiner Aktivitäten der Präsentation einer (post)jugoslawischen Identität gewidmet ist, liegt der Fokus der Analyse eben auf der Frage, welche transformativen Prozesse hier angestoßen werden. Obwohl Theorien der Migration versuchen, das Konzept der Identität an sich mit dem Konzept der Zugehörigkeit30 zu ersetzen (und andere relevante wissenschaftliche Positionen Identität als komplett unklar und theoretisch nicht anwendbar verwerfen31), gründet sich mein Zugang zu dem Terminus auf der Position der konstruktivistischen Gesellschaftstheorie, welche essenzialistische Definitionen des Terminus „ablehnt“ und den 30 Vgl. Anthias, 2002, 491–514; Simonsen, 2018, 118–138. 31 Vgl. Brubaker/Cooper, 2000, 11.

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­ rozesscharakter der Identität betont.32 Somit fasse ich hier die Identität in ihP rem Potenzial des Erfindens und der Erschaffung bestimmter gesellschaftlicher Modelle und Muster auf, gemäß welcher sich die/der Einzelne selbst definiert. Die Analyse der transformativen Potenziale bestimmter Identitätsmodelle im weiteren Verlauf des Textes beruhen auf persönlichen Erfahrungen während einer mehrjährigen direkten Arbeit im Chor. Von dieser Position ausgehend ist es wichtig zu betonen, dass diese Analyse bestimmte transformative Potenziale in ihrem Vorhaben betrachtet, aber nicht nach einem konkreten Erfolg fragt. Hinsichtlich der Frage, wie die genannten Segmente des Chorrepertoires eine bestimmte (post)jugoslawische Identität in Österreich/Wien präsentieren oder Raum zu ihrer Erfragung bieten, ist es notwendig, dieses Phänomen auf (mindestens) drei Ebenen in Übereinstimmung mit der Spezifität des Repertoires zu betrachten. Die erste Ebene umfasst die Beziehung der Choraktivitäten, die (post)jugoslawischen Inhalten gewidmet sind, zu jenen Mitgliedern des Kollektivs, die aus ex-jugoslawischen Staaten stammen, für welche dieser Teil des Chorrepertoires ein etwas „intimeres“ referenzielles Identifikationsfeld darstellt. Ein Segment dieser Beziehung betrifft konkret das musikalische Erbe der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung. Jene Mitglieder mit einer konkreten Erfahrung des Heranwachsens in Jugoslawien, die einen Großteil dieser Lieder als Kinder oder Jugendliche in einem radikal anderen (oft auch auferlegten) Kontext und ohne ein echtes Verständnis von sowohl Text als auch Bezugsrahmen gesungen haben, entwickeln durch das Mitwirken im Chor größtenteils eine positive Beziehung zu diesem Inhalt. Der Grund für diese Transformation lässt sich am häufigsten durch die Tatsache erklären, dass sie durch das Singen der Lieder in einem anderen und andersartigen gesellschaftspolitischen Kontext deren breiteres emanzipatorisches Potenzial klarer erkennen. Durch die Transposition dieses musikalischen Erbes außerhalb der spezifischen politischen Bedingungen Jugoslawiens ermöglicht der Chor dieser Gruppe somit eine neue Kontextualisierung und indirekt die Interpretation der grundlegenden Botschaften dieses Repertoires. Andererseits ist es interessant, dass Mitglieder des Chors, die der (post) jugoslawischen Gemeinschaft in Österreich angehörig sind und nie in Jugoslawien oder einem der Nachfolgestaaten gelebt haben, etwas andere Transformationsprozesse durchlaufen. Auch deshalb, weil die meisten von ihnen dem jugoslawischen antifaschistischen Repertoire hier im Grunde zum ersten Mal begegnen. Für diese Mitglieder fungiert der Chor eher als ein Ort des 32 Vgl. Berger/Luckmann, 1996.

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Abb. 3: Chorauftritt im Rahmen des Festivals alternativer Chöre (FAC), Wien, 29.11.2019.

„Erlernens“ eines bestimmten Erbes, das sowohl in formalen als auch in nicht formalen Familienbildungssystemen oft außen vor bleibt. Obwohl derart verallgemeinernde Schlussfolgerungen grundsätzlich vermieden werden sollten, lässt sich feststellen, dass die Aufführung des Repertoires in diesen beiden Untergruppen möglicherweise eine Arbeit an eigenen Erfahrungen Jugoslawiens darstellt und gleichzeitig eine potenzielle Transformation internalisierter Identitätsmuster ermöglicht. Da der Chor eine sehr klare, supranationale Vision von (post)jugoslawischen Zugehörigkeitsmodellen pflegt, stellt diese Transformation auch eine Art kritische Abkehr von den herrschenden kollektiven Identitäten dar. Somit kann die Mitgliedschaft Zugehörigkeitsbeziehungen entstehen lassen, die die nationalen Differenzierungen dieser Gemeinschaften sowohl im ehemaligen Jugoslawien als auch im heutigen Österreich aufheben. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass sich dieses Transformationspotenzial des Chors in Bezug auf kollektive Identitätsmuster im Laufe der Jahre verändert hat und dahingehend kontextualisiert werden sollte. Da nämlich der Chor seine politischen Ansichten im öffentlichen Diskurs explizit darstellt, fällt auf, dass neue Mitglieder, die sich seiner Tätigkeit anschließen, bereits a priori eine positive Einstellung zum jugoslawischen Erbe haben oder häufiger eine negative Einstellung zu nationalistischen Spaltungen im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Somit ist der Chor heute tatsächlich eher als ein Raum

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zum Erkennen oder weiteren Bestätigen persönlicher Identifikationsmuster zu sehen als ein Transformationsraum. Durch das Verhältnis dieser Mitgliedsuntergruppierungen und das Repertoire in den Sprachen der ehemaligen jugoslawischen Republiken, das sich aktuelleren Themen widmet (wie etwa der Lage der Arbeitsmigration), ermöglicht der Chor einen gewissen „Durchbruch“ bzw. eine Neupositionierung spezifischer Erfahrungen im öffentlichen Raum der österreichischen Gesellschaft.33 Dies ermöglicht der Gruppe selbst einen Ausdruck gesellschaftspolitischer Emanzipation. Da viele Mitglieder mit (post)jugoslawischer Herkunft keine klassischen aktiven politischen Subjekte der österreichischen Gesellschaft darstellen – die meisten von ihnen haben im Rahmen der aktuellen österreichischen Politik zum Beispiel immer noch kein Wahlrecht –, bietet ihnen der Chor durch das Praktizieren dieses Repertoires einen öffentlichen Artikulationsraum und eine Möglichkeit, direkte Kritik zu üben. Die Analyse der möglichen Neuinterpretation der (post)jugoslawischen Identität im Kontext der Mitgliedschaft des Chores selbst sollte diejenigen Mitglieder nicht auslassen, die in Österreich oder anderswo geboren sind, ohne konkrete Erfahrung Jugoslawiens oder Kenntnisse der Sprachen der ehemaligen jugoslawischen Republiken. Sie bilden die Mehrheit der Mitglieder und sind unterstützende, aber sehr wichtige „Agent*innen“ für die Förderung dieser Identitätspositionen und deren (Neu-)Definition im Sinne einer gemeinsamen gesellschaftspolitischen Emanzipation. Insofern entzieht sich die Praxis dieses Repertoires einer Bedingtheit als „Minderheit“ und wird als echtes gemeinsames Erbe präsentiert. Die zweite Ebene des transformativen Identitätspotenzials des Chors umfasst auch die Beziehung zu den Mitgliedern der breiteren (post)jugoslawischen Gemeinschaft in Wien. Ausgehend von der Tatsache, dass diese Gemeinschaft extrem heterogen ist, oft nach nationalen Schlüsseln zersplittert oder jedem Prozess kollektiver Identifikation völlig gleichgültig gegenübersteht,34 versucht der Chor, gerade diese Gemeinschaft auf verschiedene Weise anzusprechen, um ihr „alternative“ kollektive Identifikationsparadigmen vorzustellen. Nicht nur in der Auswahl des Repertoires, sondern auch in der öffentlichen Vermittlung ihrer Aktivitäten, insistiert der Chor auf den Gebrauch (auch) der Sprachen der ehemaligen jugoslawischen Republiken mit dem Ziel, „sprachlich“ mar33 Der Auffassung von der politischen „Unsichtbarkeit“ dieser Gruppe im Kontext der österreichischen Gesellschaft folgend, kann der Chor somit als eine Art Motivator und Agent verstanden werden, um den „Rand in die Mitte, das Äußere ins Innere“ zu setzen. Reitsamer, 2016, 67. 34 Vgl. Mijić, 2020, 1071–1092.

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ginalisierte Gruppen zu erreichen. Durch verschiedene partizipative Modelle, etwa thematische Workshops, Aktivismus in spezifischen städtischen VereinsLokalitäten, sowie durch die Mitarbeit mit verschiedenen „Agent*innen“ der Wiener Musikszene35 suchen sie außerdem konkrete Kommunikationswege. Natürlich sind die transformativen Leistungen, welche durch Bemühungen des Chors zur Förderung der Reinterpretation (post)jugoslawischer kollektiver Zugehörigkeiten erbracht werden, bei so einer zerstreuten Gemeinschaft nur schwer messbar und wider jeglicher Systematisierung. Allerdings wird aus Erfahrung der direkten Kommunikation mit diesem gezielten Publikum der Eindruck erweckt, dass die Mehrheit ihrer Auftritte und die anderen Aktivitäten des Chors eine sehr seltene Identifikationsmöglichkeit darstellen. In diesem Sinne muss die dritte Ebene der Neudefinition der (post)jugoslawischen Identität, die der Chor repräsentiert und praktiziert, betrachtet werden, nämlich jene in Bezug auf die breitere Wiener und sogar die österreichische Öffentlichkeit. Die in Österreich herrschenden Machtsysteme nehmen die Minderheitengruppen anhand der national-ethnischen Trennlinien wahr und erhalten sie auch durch systematische Politik als dahingehend diversifiziert. Von staatlichen Institutionen bis hin zu staatlichen Medien36 insistiert der dominierende öffentliche Diskurs vorwiegend auf einer politischen, aber auch anderweitigen Partikularisierung, mit sporadischen nominellen „Vereinheitlichungen“37 oder solchen, die von dem Ziel getrieben werden, ein „balkanisches Anderes“ zu schaffen. In diesen Diskursen wird, ganz wie auch in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, das gemeinsame Erbe verschwiegen oder in einen strengen historischen Kontext gestellt (beispielsweise beim Begriff der „Gastarbeit“, der sich auch weiterhin mit der jugoslawischen Migration verbinden lässt). Genau aus diesem Grund dient das supranationale Identitätsmuster, das der Chor im öffentlichen Raum Wiens, aber auch darüber hinaus, fördert, nicht nur als Gelegenheit, neue kollektive Zugehörigkeitsparadigmata 35 Von der Mitarbeit sollte vor allem der musikalische Auftritt mit Turbo Tanja, der Schlagzeugerin der Band des Klubs Lepa Brena hervorgehoben werden, welche Angehörige der (post)jugoslawischen Migration rund um die Volksmusik zusammenkommen lässt (siehe dazu auch den Beitrag von Mascha Dabić in diesem Band), wie auch die Zusammenarbeit mit dem Wiener Rapper und Aktivisten Kid Pex mit kroatischer Herkunft (siehe dazu auch den Beitrag von Miranda Jakiša in diesem Band). 36 In diesem Prozess sollten „Minderheiten“-Medien ausgeschlossen werden, deren wesentliches Ziel es ist, jene mit diesen Identitäten zu promovieren, wie etwa das Magazin Kosmo und Biber, oder bestimmte lokale Fernsehprogramme wie Okto. 37 Z.B. das häufige Verwenden von Begriffen wie etwa „Ex-YU-Communities“ u.Ä.

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zu erdenken, sondern auch als direkte und aktuelle Kritik der offiziellen Identitätspolitiken.

6. CONCLUSIO

Wie ich anhand des Textes gezeigt habe, muss der Hor 29. Novembar als Kollektiv betrachtet werden, das eine bestimmte (post)jugoslawische Identität in den öffentlichen Diskurs Wiens und Österreichs einführt. Die geschieht durch zwei Hauptthemen innerhalb seines Repertoires in den Sprachen der ehemaligen Republiken Jugoslawiens: Mit der Aufführung von Liedern, die im Rahmen der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung entstanden sind, präsentiert der Chor ein historisches musikalisches Erbe, das ethnonationale Spaltungen überwindet. Damit übt der Chor klare Kritik sowohl an den offiziellen Erinnerungspolitiken der Nachfolgestaaten Jugoslawiens als auch an der herrschenden österreichischen Regierungspolitik, welche deren Spaltungsbestrebungen kritiklos verfolgt und/oder gar stärkend daran mitwirkt. Gleichzeitig nutzt der Chor dieses historische Erbe mithilfe seines Repertoiresegments und seiner Gesamtaktivitäten in direkter und aktueller gesellschaftspolitischer Funktion, nämlich als Möglichkeit, gesellschaftliche Realität zu kommentieren. Indem er sein Repertoire in den Kontext seines breiteren musikalischen Programms stellt, welches internationalen emanzipatorischen Bewegungen gewidmet ist, bestärkt der Chor zusätzlich diese Positionen und interpretiert sie als untrennbaren Bestandteil globaler Phänomene des Widerstands gegen politische und soziale Unterdrückung neu. Im Vergleich zu ähnlichen Phänomenen der (Re)Interpretation der jugoslawischen antifaschistischen Bewegung auf dem Territorium der Nachfolgestaaten (insbesondere der Chöre, die dieses Repertoire pflegen) zeigt sich die Besonderheit des Hor 29.  Novembar in seiner supranationalen Mitgliedschaft, welche so auf direkteste Weise nicht nur neue Formen von Gemeinschaft symbolisiert, sondern auch schafft. Mit der Aufführung jenes Repertoires, das sich mit der oft vernachlässigten oder instrumentalisierten Perspektive der Arbeitsmigration befasst, schreibt der Chor diese marginalisierte gesellschaftliche Position in den öffentlichen Raum und in eine breitere kollektive Identitätsmatrix ein. Auf diese Weise hinterfragt der Chor dominante österreichische Identitätsvorstellungen, welche das politische Potenzial und die Bedeutung dieser spezifischen Migrationsgruppe oft ausschließen. Auch dadurch, dass der Chor als offenes Kollektiv agiert, an dem jede und jeder teilhaben kann, verwischt er feste Zuge-

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hörigkeitsgrenzen und ermöglicht gleichzeitig Visionen neuer Gemeinschaftsformen. aus dem Kroatischen übersetzt von einem solidarischen Übersetzer*innenkollektiv an der Universität Wien38

Literaturverzeichnis

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38 Olja Alvir, Tamara Haddad, Verena Hartmann, Haris Huremagić, Matija Ilić, ­Miranda Jakiša, Sushila Doris Penn-Polykrates, Katarina Predić, Danilo Puškić, Nina Weifert, Angelika Zimmermann.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: Bildrechte: Eva Moschitz. Abb. 2: Bildrechte: Lorenz Seidl. Abb. 3: Bildrechte: Lisbeth Kovacic.

(POST)JUGOSLAWISCHE KULTURRÄUME IN DER WIENER THEATERLANDSCHAFT Darija Davidović

1. EINLEITUNG

Noch Jahrzehnte nach dem Zerfall Jugoslawiens eilt Wien der Ruf voraus, das „Herz des Balkans“ oder die „Hauptstadt Jugoslawiens“ zu sein.1 Die vielfältigen historischen, politischen sowie kulturellen Verflechtungen Wiens mit den Südslaw*innen zeigen sich auch im Bereich des Theaters: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdichtete sich im Bereich des institutionalisierten Theaters2 die Zusammenarbeit zwischen Wien und südosteuropäischen Theatermetropolen, welche enge künstlerische Beziehungen in Form von Gastspielen oder Ausbildungsstätten für Theaterakteur*innen unterhielten.3 Wiener Theateragenturen ermöglichten den Belgrader Theaterhäusern Künstler*innen aus der ganzen Welt auftreten zu lassen, wie beispielsweise das japanische Künstler*innenduo Kawakami und Sadayakko oder den französischen Schauspielers Benoît Constant Coquelin, der als bester Molière-Interpret seiner Zeit galt. Wien 1 2

3

Vgl. Memić, 2016. Mit institutionalisierten Theatern sind Landes- und Stadttheater gemeint, die in das staatliche Theatersystem fallen und mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Kroatische Theater, wie etwa das Nationaltheater in Zagreb oder Osijek, waren durch den Einfluss der Donaumonarchie besonders stark von der Wiener Theaterkultur geprägt. Ähnlich war es auch um die Theater in Sarajevo bestellt. Am Nationaltheater Zagreb wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in hoher Zahl Dramen in deutscher Sprache aufgeführt. Eine Wende führten unter anderem AutonomieBestrebungen sowie das erstarkte Nationalbewusstsein Kroatiens gegen Ende des 19.  Jahrhunderts herbei. Aufgrund der auf kroatischen Bühnen dominierenden, deutschsprachigen Dramen wurde Wien lange als „Hauptfeind des kroatischen Volkes und seiner Kultur“ betrachtet, nichtsdestotrotz wurden viele kroatische Schauspieler*innen, Intendant*innen und Bühnentechniker*innen in Wien ausgebildet, Bühnenbilder in Wien angefertigt und nach Kroatien gebracht. Das kroatische Theatersystem stellte somit eine perfekte Kopie der des Wiener Theatersystems dar. Vgl. Agram, 2001.

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verhalf Belgrad somit zur Internationalisierung der eigenen Theaterlandschaft.4 In Österreich wurden vor allem Stücke des serbischen Dramatikers Branislav Nušić und des kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleža ins Deutsche übersetzt und auf zahlreichen österreichischen Bühnen gespielt5 (und werden immer noch aufgeführt, wie etwa Krležas U agoniji/In Agonie im Rahmen der Wiener Festwochen in der Regie von Martin Kušej).6 Der vorliegende Artikel wirft einen Blick auf die gegenwärtige wechselseitige Bezugnahme zwischen Wien und Theaterkünstler*innen aus den postjugoslawischen Ländern, die bisher in der theaterwissenschaftlichen Forschung unberücksichtigt blieb. In der Untersuchung werden anhand exemplarischer Beispiele die künstlerischen Handlungsräume und Verbindungen von Theaterkünstler*innen aus Serbien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina aufgezeigt und diskutiert. Den Fragen, wie diese Theaterkünstler*innen auf den Wiener Bühnen vertreten sind, welche Themen sie bearbeiten und welche Bedeutung sie in den jeweiligen Theaterinstitutionen bzw. in der lokale Theaterszene einnehmen, soll ebenfalls nachgegangen werden. Zunächst wird mit einem Blick auf die Spielpläne des Volkstheaters und des Burgtheaters exemplarisch aufgezeigt, inwiefern südslawische Theaterkünstler*innen an den zwei größten Sprechtheaterbühnen der Stadt vertreten sind und welche Themenbereiche sie dabei ansprechen.7 Anschließend folgt eine knappe Ausführung der Repertoirepolitik des Akzent Theaters, dessen Spielpläne eine hohe Zahl an Gastspielen aus Serbien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina aufweisen, um der Frage nachzugehen, welche Funktion dieses Theater im 4. Wiener Gemeindebezirk als postjugoslawischer Kulturraum in der Wiener Theaterlandschaft einnimmt. Anhand prägnanter Beispiele aus der Off-Szene soll gezeigt werden, mit welchen inhaltlichen und ästhetischen Formaten südslawische Theaterkünstler*innen auf die Gestaltung der freien Kunst- und Theaterszene einwirken. Dabei werden neben Sprechtheaterinszenierungen auch Performances sowie Musiktheaterstücke berücksichtigt. Für den Artikel wurden Korrespondenzen mit Theaterkünstler*innen und mit der Direktion des Akzent Theaters geführt, die in die Diskussion miteinfließen.

4 Vgl. Đokić, 2020, 240 f. 5 Vgl. ebd., 246. 6 Vgl. Haider, 2014. 7 Das Volkstheater Wien ist nach der Generalsanierung 1980 die drittgrößte Sprechtheaterbühne im deutschen Sprachraum und das Burgtheater mit dem Pariser Theater Comédie-Française das größte Sprechtheater der Welt. Vgl. APA, 2017.

(Post)jugoslawische Kulturräume in der Wiener Theaterlandschaft

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2. DAS VOLKSTHEATER ALS POSTJUGOSL AWISCHER BEGEGNUNGSRAUM

Wien eilt neben dem Ruf, eine „Hauptstadt“ Jugoslawiens zu sein, auch der Ruf einer Theaterstadt voraus: Mit 90 Theaterbühnen, von denen viele auch an den Randbezirken Wiens angesiedelt sind, rund 500 Theatergruppen, Produktionen in türkischer, tschechischer, slowenischer, ungarischer, griechischer oder englischer Sprache sowie zahlreichen Aufführungen in bosnischer, kroatischer und serbischer Sprache verfügt die Wiener Theaterlandschaft über ein dichtes und facettenreiches Angebot und spiegelt dabei kulturpolitisch die Pluralität Wiens wider. Durchschnittlich zählen allein die drei größten Theaterhäuser Wiens (Burgtheater, Volkstheater, Staatsoper) 1,3  Millionen Besucher*innen jährlich. Für Anna Badora, die von 2015 bis 2020 Intendantin des Volkstheaters war, weist Wien eines der besten Theatersysteme weltweit auf.8 Michael Schottenberg, Badoras Vorgänger, erweiterte in seiner Zeit als Intendant (2005 bis 2015) das Angebot des Volkstheaters um interkulturelle und mehrsprachige Theaterprojekte junger Künstler*innen aus der Region Südosteuropas.9 Und auch unter der Direktion von Badora bot das Volkstheater Aufführungen aus dem südosteuropäischen Raum eine Bühne. Für Badora hat das Volkstheater eine soziale Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung zu erfüllen, dementsprechend dürfe ein Angebot für Wiener*innen mit migrantischem Hintergrund oder aus bildungsfernen Schichten nicht fehlen. Theater fungiere laut Badora „[…] als Begegnungsort über soziale Barrieren hinweg, als Problemlösungsalternative.“10 Wie Theater als Problemlösungsalternative gedacht werden kann, wurde im Rahmen einer Festivalreihe des Volkstheaters Wien aufgezeigt, die von 2015 bis 2018 jeweils im November auf der Nebenbühne Volx/Margareten präsentiert wurde: Der Serbische, Albanische, Kroatische und Bosnisch-Herzegowinische November – so die einzelnen Titel des an zwei Tagen stattfindenden Festivals – zeigte Gastspiele junger Theaterregisseur*innen aus Zagreb, Mostar, Tirana oder Belgrad, die sich mit aktuellen soziopolitischen Themen ihrer Herkunftsländer beschäftigen. Im Rahmen des Serbischen Novembers 2015 wurde Branislav Nušićs Pokojnik/Der Verstorbene in der Regie von Igor Vuk Torbica gezeigt, eine Produktion 8 9

Vgl. Klien, 2018. Im Rahmen der Festivalreihe Die besten aus dem Osten (2009 bis 2015) wurden unter anderem Inszenierungen aus Kroatien, Serbien, Slowenien, Albanien, Polen, Ungarn, Rumänien, Ukraine und Israel gezeigt. Vgl. APA, 2015. 10 Vgl. Badora, Interview mit Cerny, 2015.

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des Jugoslovensko Dramsko Pozorište in Belgrad, sowie Bojana Lazićs Adaption von Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher (1968) mit dem Titel Žabar, produziert vom Nationaltheater Pirot.11 In Žabar verortet Lazić die von Fassbinder beschriebene xenophobe Münchener Vorstadtmentalität der 1970er  Jahre in der ruralen Gegenwart Serbiens. Anhand aggressiver, vulgärer, animalischer sowie rücksichtsloser Charaktere werden in der Aufführung Ursachen und Folgen von Rassismus und Xenophobie in Serbien ermittelt.12 Im selben Jahr wurde auch ein Screening von Aleksandra Zec von Oliver Frljić gezeigt, eine Inszenierung, die den Mord an der serbischen Familie Zec thematisiert, der sich kurz nach Beginn des Krieges in Kroatien 1991 in Zagreb zugetragen hat. Berücksichtigt man den im Festivalprogrammheft betonten Länderschwerpunkt auf Serbien und dessen Theaterszene, so mutet das Screening von Aleksandra Zec – eine Produktion des Nationaltheaters in Rijeka – wie ein kuratorischer Lapsus an, der wegen der erinnerungskulturellen sowie geschichtspolitischen Bedeutung dieser Theaterproduktion jedoch vernachlässigbar erscheint.13 Im Rahmen des „Bosnisch-Herzegowinischen Novembers“ 2016 wurde die Aufführung Ajmo na fuka/Lass uns Kaffee trinken in der Regie von Dragan Komadina gezeigt.14 Zentrales Motiv von Ajmo na fuka, einer Produktion des Nationaltheaters Mostar, ist die Sinnlosigkeit von Krieg: Ein toter Soldat, ehemals Mitglied des kroatischen Verteidigungsrates, und ein toter Soldat der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina, die sich einst in Mostar im Kroatisch-bosniakischen Krieg (1992–1994) bekämpften, warten gemeinsam darauf, von „dem da oben“ abgeholt zu werden.15 Währenddessen tauschen sie im Gespräch und bei einer Tasse Kaffee ihre Kriegserfahrungen aus, die überwiegend von menschlichen Verlusten zeugen. Aus ihren postmortalen Sprecherpositionen heraus treten sie als Korrektiv der Gegenwart in Erscheinung und bringen aktuelle erinnerungskulturelle Diskurse aus Bosnien und Herzegowina auf die Wiener Theaterbühne.16 Bijeli Bubrezi/Weiße Nieren – eine Produktion des Teatar&TD Zagreb in der Regie von Vedrana Klepica – sowie die Produktion Tri Zime/Drei Winter des Nationaltheaters Zagreb, inszeniert von Ivica Buljan, wurden 2017 im Rahmen des Kroatischen Novembers aufgeführt. Bijeli Bubrezi thematisiert den durch 11 12 13 14 15 16

Vgl. Volkstheater Wien, 2015. Vgl. Pavićević, 2020. Vgl. Volkstheater Wien, 2015, 2. Vgl. EstherArtNewsLetter, 2016. Vgl. Saldo, 2019. Vgl. ebd.

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die Geschichte hindurch prekären ökonomischen und sozialen Status von Frauen sowie ihre oft vernachlässigten Kämpfe um Gleichberechtigung.17 In Tri Zime wird vor dem Hintergrund zweier Kriege (Zweiter Weltkrieg, Kroatienkrieg) die Familiengeschichte von Ruža, einer ehemaligen Partisanin, dargeboten. Die gesamte Handlung spielt im Familienhaus, in dem Ruža sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs niederlässt und ihre Familie gründet. Die Familienchronologie fokussiert sich insbesondere auf das Schicksal der weiblichen Familienmitglieder, das über historische, politische und ideologische Konflikte verhandelt wird.18 Mit der November-Festivalreihe bot das Volkstheater Wien eine kreative und künstlerisch ambitionierte Problemlösungsalternative an, die vor allem Wiener*innen mit Verbindung zu den Nachfolgestaaten Jugoslawiens temporär einen Raum für Begegnungen auf Augenhöhe bot, abseits einer politisch instrumentalisierten Kriegsvergangenheit und den konkurrierenden Opfernarrativen ihrer Herkunftsländer. Wiener*innen, die nicht aus dieser Region stammen, wurden künstlerische Einblicke in die Geschichte der Herkunftsländer ihrer Mitbürger*innen gewährt, wodurch das Volkstheater als Raum für interkulturellen Dialog und Austausch in Erscheinung trat. Das Volkstheater unter Anna Badora förderte zudem Kooperationen mit internationalen Regisseur*innen außerhalb dieses Festivalformats, die aus der lokalen Position benachbarter Theaterkulturen heraus fungierten: Regisseur*innen, die einen Blick von außen auf die Österreicher*innen werfen würden, wie etwa Miloš Lolić, Dušan David Pařízek oder Viktor Bodó seien dem Volkstheater wichtig, so die Intendantin.19 Der gebürtige Belgrader Miloš Lolić gastierte 2010 am Volkstheater im Rahmen des Festivals Die besten aus dem Osten mit seiner Musil-Adaption  Die Schwärmer, für die er in Belgrad mit dem bitef-Preis für die beste Inszenierung ausgezeichnet wurde, um anschließend von 2012 bis 2018 regelmäßig am Arthur-Schnitzler-Platz  1 zu inszenieren.20 Für die Produktion Magic Afternoon (2012) wurde Lolić mit dem Nestroy-Preis als bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet.21 2016 inszenierte Lolić, der in Belgrad der 1990er Jahre seine 17 18 19 20

Vgl. Žganec-Brajša, 2017. Vgl. Kurelec, 2016. Vgl. APA, 2016. Miloš Lolić inszenierte am Volkstheater Wien Magic Afternoon (2012), Die Präsidentinnen (2014), Rechnitz (Der Würgeengel) (2016) und Lazarus (2018). Vgl. Residenztheater. 21 Vgl. Nestroypreis.

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Jugend verbrachte, Martin Pinters Party Time (1991) im Kasino am Schwarzenbergplatz, einer Probe- und Nebenbühne des Burgtheaters Wien. Pinter zeichnet in seinem Stück eine menschenverachtende und brutale Gesellschaft mittels einer Feiergemeinschaft nach, die Lolić in seiner Interpretation mit persönlichen Erfahrungen der Belgrader Realität der 1990er Jahre verbindet: „Schulen, Bibliotheken, Kinos [waren geschlossen, Anm. Darija Davidović]. Das Einzige, was offen war, waren die Clubs. Für meine Generation fällt die Musik mit dem Krieg zusammen. Die Clubbings waren unser Fluchtpunkt.“22 Seine Kariere und sein Profil als Regisseur konnte Lolić jahrelang am Volkstheater Wien schärfen, um anschließend vom Burgtheater engagiert zu werden und seinen prekären Status als „Gastkünstler*in“ mit der Zuerkennung der österreichischen „Staatsbürger*innenschaft für außergewöhnliche Leistungen“ zu überwinden.23

3. AUFHEBUNG DER TRENNUNG ZWISCHEN OST UND WEST

Im Kasino am Schwarzenbergplatz wurde mit dem transdisziplinären Projekt Europamaschine (2020) ein temporärer Kulturraum geschaffen, in dem postjugoslawische Perspektiven in einen europäischen Diskurs gebettet wurden. Die Aufhebung der Trennung zwischen Ost und West war diesem Konzept immanent. So wurde zwei Monate lang das Kasino zum Ort der Begegnung unterschiedlicher europäischer Perspektiven auf die (Gewalt-)Geschichte Europas und ihre gegenwärtigen Entwicklungen. Kuratiert wurde das Festival von Oliver Frljić und dem kroatischen Philosophen und Autor Srećko Horvat, die lokale, in Österreich ansässige sowie internationale Künstler*innen zusammenbrachten, um über die Zukunft Europas zu diskutieren. Eröffnet wurde das Festival mit der Aufführung von Heiner Müllers Hamletmaschine in der Regie von Oliver Frljić. In dieser Inszenierung geht Frljić ebenfalls Fragen nach der Zukunft Europas nach, indem er beispielsweise autoritäre Tendenzen einiger europäischer Politiker*innen an den Pranger stellt. Das Projekt Europamaschine sah nicht nur vor, über Veränderungen zu debattieren, sondern diese auch real zu bewirken. Diese Möglichkeit wurde beispielsweise in der Brunnenpassage im Rahmen eines einwöchigen Workshops ausgelotet, in dem Horvat, Frljić und die Theaterpädagogin Anna Manzano gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen künstlerisch-aktivistische Eingriffs22 Lolić, Interview mit Petsch, 2016. 23 Vgl. O.A., Kurier, 2020.

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möglichkeiten in den öffentlichen Raum sowie sozialphilosophische Fragen spielerisch erarbeiteten.24 Für Horvat entspricht das Konzept von Europamaschine einer Art „Wunsch-“ oder „Traum-Maschine“, die utopische Imaginationen über ein anderes Europa zulässt.25 Frljić hingegen sah im Konzept eine Öffnung des „Tempels der Hochkultur“26 für ein breites Publikum gewährleistet, um auch jene für das Projekt zu gewinnen, die in den meisten Fällen von der Hochkultur ausgeschlossen werden: With this program we want to open this institution for different other people who are most of the time excluded this way or that way from this institution. And another wish is also to bring the people from our homeland living here. So, there is a big Yugoslav community in Vienna and hopefully these people will be more present here during our events.27

Frljićs Konzept sieht Bezüge zum südslawischen Kulturraum innerhalb eines europäischen Diskurformats gegeben, um Verbindungen zu Wiener*innen mit südslawischem Hintergrund herzustellen. Umgesetzt wurde dieser leitende Gedanke unter anderem in Veranstaltungen wie Gastarbeiterexpress zu Wahnsinn und Revolution, eine Diskussion mit den Schriftsteller*innen Ivana Sajko und Marko Dinić; Paradise Lost and Found, ein Filmscreening und Gespräch mit Želimir Žilnik, dem Philosophen Boris Buden und der Professorin für konzeptuelle Kunst, Marina Gržinić, sowie in der performativ ausgestalteten Podiumsdiskussion On Love Afterwards. Eine öffentliche Montage von Milica Tomić. On Love Afterwards als immaterielles und performatives Monument der europäischen Gewaltgeschichte verbindet vergangene sowie gegenwärtige politische Imaginationen miteinander und widmet sich globalen Widerstandgeschichten. Hinterfragt wird die Gewalt als Mittel gegen Terror, zudem werden Erinnerungen an Narrative über Täter*innen und Opfer vergangener Konflikte reaktiviert, die aus dem globalen kollektiven Gedächtnis getilgt wurden. Mit überdimensionalen Bildfragmenten, die das erste Gipfeltreffen der Blockfreien Staaten von 1961 in Belgrad zeigen, erinnert das Projekt an das subversive Potenzial der Blockfreien, die sich abseits von (neo)kolonialen und kapitalisti24 25 26 27

Vgl. Brunnenpassage. Vgl. Burgtheater Wien, 2020. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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schen Prinzipien zu formieren suchten.28 Tomić verweist im Zuge dessen auch auf den grundlegend patriarchalen Zusammenschluss der Blockfreien Staaten, in dem sie die Abwesenheit von Frauen in den Foto- und Videomontagen markiert. Im Rahmen von On Love Afterwards sollte auch die Performance One day, instead of one night, a burst of machine-gun fire will flash, if light cannot come otherwise gezeigt werden, die Tomić 2009 in Belgrad als künstlerische Intervention im öffentlichen Raum konzipierte, die jedoch aufgrund von Sicherheitsbedenken in Wien nicht durchgeführt wurde. Mit einem Maschinengewehr in der Hand besuchte die Künstlerin Orte des antifaschistischen Widerstands in Belgrad. Die dabei entstandenen Fotos, die die Künstlerin mit der Waffe in der Hand zeigen, fügen sich zu einer collagenartigen Topographie des antifaschistischen Widerstands zusammen, die dem sozialen Gedächtnis der Belgrader*innen verloren gegangen ist. Die Aufhebung der Trennung zwischen Ost und West ist auch dem Konzept des Akzent Theaters im 4. Wiener Gemeindebezirk immanent und spiegelt sich vor allem in der Repertoirepolitik wider: Pro Spielzeit werden rund drei Sprechtheaterinszenierungen namhafter Theaterhäuser aus den Nachfolgeländern Jugoslawiens gezeigt, wie etwa dem Atelje 212 in Belgrad, dem Nationaltheater Sarajevo oder dem Zagreber Kerempuh. In Originalsprache werden Klassiker wie Balkanski Špijun, U agoniji oder Kirija sowie Dramen junger Autor*innen wie Olga Dimitrijević oder Boris Lalić aufgeführt. Daneben treten Kabarettist*innen in bosnischer, kroatischer und serbischer Sprache auf und es werden Musiker*innen geladen, die moderne Interpretationen traditioneller Sevdah-Lieder aufführen, etwa Božo Vrećo oder Amira Medunjanin. Wolfgang Sturm, Direktor des Akzent Theaters, sieht in seinem sozialdemokratisch geprägten Haus nicht nur die Möglichkeit, transkulturelle Verflechtungen zu erzeugen, sondern eine Verpflichtung, Wiener*innen mit Verbindungen zu anderen Sprachen und Kulturen ein Angebot zu machen und sie somit auch an der lokalen Hochkultur teilhaben zu lassen. Mit 450 Sitzplätzen lässt sich die Größe des Akzent Theaters – ein von der Arbeiterkammer Wien gegründetes und ­finanziertes Bespieltheater – mit der Größe des Akademietheaters Wien vergleichen. Die Besucher*innenstatistik der letzten Jahre zeugt von einer kontinuierlichen Auslastung von 80  Prozent im Allgemeinen und einer Auslastung von 90% bis 100 Prozent bei Gastauftitten aus den nachjugoslawischen Ländern.29 Dementsprechend fungiert das Akzent Theater als Ort, an dem Wiener*innen mit migrantischem Hintergrund mit der Bühnenkultur ihrer Herkunftsländer 28 Vgl. Fakultät für Architektur. 29 Vgl. Sturm, 2021.

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r­ egelmäßig in Verbindung treten können.30 Aufführungen, die in den jeweiligen Erstsprachen gezeigt werden, Inszenierungen von Klassikern wie etwa Branislav Nušićs Gospođa Ministarka oder Produktionen des Gegenwartstheaters wie Dino Mustafićs Rođeni u YU schlagen indes kulturelle Brücken, die historische Perspektiven mit Gegenwärtigem verbinden. Mit diesem breiten Kulturangebot wird ein klares Interesse an einer europäischen Integration und Solidarität artikuliert. In enger Zusammenarbeit mit postjugoslawischen Kulturvereinen in Wien werden dem Akzent Theater Inszenierungen für Gastauftritte vorgeschlagen, was dazu führt, dass den jeweiligen Vereinen auch die Möglichkeit einer Mitgestaltung der lokalen Kultur- bzw. Theaterszene eingeräumt wird.31

4. ANTIFASCHISTISCH, KL ASSENBEWUSST, „ JUGOSL AWISCH“ – DER VEREIN BOEM*

Die zunehmende Diversität sowie der stetig wachsende kulturelle Pluralismus der Wiener Lebensrealität spiegelt sich insbesondere in der Wiener Off-Szene wider. Als „Gastkünstler*innen“ schärfen Theaterkünstler*innen aus Serbien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina das transnationale Profil der Stadt Wien und geben mit ihren künstlerischen Arbeiten Einblicke in die Kulturszenen und Lebensrealitäten ihrer Herkunftsländer. Die flächendeckend stark subventionierte Off-Szene sowie die umfangreichen Stipendien- und Artist-inResidence-Programme, die dezidiert auf eine Förderung migrantischer Künstler*innen abzielen – etwa das Förderprogramm von KulturKontakt Austria –, ermöglichen Dramatiker*innen wie Tanja Šljivar, Olga Dimitrijević, Vedrana Klepica oder Dino Pešut temporär in Wien zu arbeiten und zu leben. Der Verein Kültür gemma – ein Projekt zur Förderung künstlerischer Arbeit von Migrant*innen – bietet Theaterkünstler*innen aus den postjugoslawischen Staaten finanzielle Mittel, um längerfristige Anbindungen an Strukturen und Institutionen zu schaffen bzw. aus den prekären Arbeitsbedingungen ihrer Herkunftsländer auszubrechen und in Wien dauerhaft Fuß zu fassen.32 Den Ausbau solcher transkultureller Offensiven fordert und fördert auch Boem* – Verein zur Förderung von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Kommu30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd. 32 Seit 2020 ist der Betrieb von KulturKontakt Austria – mit Ausnahme des Artist-inResidence-Programms – in den Betrieb der Agentur für Bildung und Internationalisierung OeAD übergegangen. Vgl. OeAD.

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nikation und bietet unter der Schirmherrschaft der Künstler Martin Hollerweger, Michael Kolivoda und Alexander Nikolić ebenfalls Artist-in-ResidenceProgramme an.33 Der Verein Boem* wurde 2010 gegründet und betreibt unter anderem das Café Boem*, dessen niedrigschwelliges Raumkonzept an die jugoslawischen Arbeiter*innenklubs in Wien angelehnt ist, wie sie vor dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens konzipiert waren: antifaschistisch, multiethnisch und angebunden an die vielfältige (post)jugoslawische Kultur mit diversen Kulturprogrammen wie etwa Chören, Lesungen und Theateraufführungen.34 Boem* hebt sich von anderen nachjugoslawischen Klubs, Cafés und Vereinen in Wien insofern ab, als dass der Verein von national kodierter Folklore oder Angeboten mit religiösen Inhalten absieht und sich dezidiert als Raum und Initiative innerhalb der zeitgenössischen Wiener Kunsts- und Kulturszene verortet: The BOEM* is, in all respects, a typical ex-Yugoslavian place. A little bit messy or you could also say: with patina. For more than a decade it’s been well known as „Yugocafé“. A typical Viennese corner-café. Due to the war in Yugoslavia (and the following nationalization), the former workers clubs lost their audience and, in many ways, their legitimacy. The few remaining non-commercial spaces turned out to be mostly breeding grounds for nationally coded folklore […] and folkloristic presentations. Part of the Yugoslavian foreign policy was to maintain a cultural as well as a political heritage for the workers abroad, which also contributed to the fact, that the workers understood themselves as „gastarbajteri“ and also behaved that way. The purpose was to secure an affinity for the Yugoslavian state, which also succeeded. These spaces had an explicitly antifascist character, the slogan of the Socialist Federal Republic of Yugoslavia, „Brotherhood and Unity“, was held high.35

Nicht die nostalgische Rückbesinnung auf vergangene Zeiten erscheint hier zentral, sondern die Verflechtung der lokalen Wiener Lebensrealität mit einer Alltagskultur, die sich an marxistischen Prinzipien orientiert, etwa daran, Arbeiter*innen Teilhabe am kulturellen und öffentlichen Leben sowie an solidarischen Zusammenschlüssen zu ermöglichen. Für Wiener*innen, die als zweite oder dritte Gastarbeiter*innengeneration Identitätskonzepte leben, die von Mehrfachzugehörigkeit bzw. von kultureller Hybridität36 sowie von ­sozialer 33 Vgl. IG Kultur Wien. 34 Postism, About Boem*. 35 Ebd. 36 Kulturelle Hybridität meint hier einen ambivalenten Hybridisierungsprozess, der

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Mobilität37 geprägt sind, scheint der Verein Boem* einen Raum zu bieten, in dem mit inkludierenden Kunst- und Kulturangeboten ebendiese Aspekte zusammengeführt werden. Abseits vom Nationalismus der jeweiligen Herkunftsländer kann der Verein Boem* als sogenannter Safe Space betrachtet werden, der auf einem antifaschistischen Wertekanon basiert und somit den Austausch zwischen jenen Wiener*innen aus den postjugoslawischen Ländern fördert, die sich ebenfalls an diesen Werten orientieren. Die Wiener Soziologin Ana Mijić kam in einer Studie aus dem Jahr 2019 zu dem Ergebnis, dass Wiener*innen mit südslawischer Herkunft eine stärkere Bindung zu Menschen mit ähnlichen kulturellen und sprachlichen Bezügen haben als zu anderen Österreicher*innen.38 Auch die Identifikation als Jugoslaw*in ist unter der jüngeren Generation weit verbreitet und ermöglicht es, Werte wie Antifaschismus, Klassenbewusstsein, Internationalismus sowie Brüderlichkeit und Einigkeit in ihren Alltag miteinfließen zu lassen bzw. diese Prinzipien auch mit queeren Lebenskonzepten zu verbinden.39 Mit Projekten wie New Boem*Ian Gastarbajter Opera (2012) oder Boem* featuring Krankenšvester: The Appendix Show (2015) greift der Verein Boem* solche hybriden (post)jugoslawischen Lebenskonzepte künstlerisch auf. Klassenbewusste, queere und jugoslawische Perspektiven werden hier mit wienerischen Perspektiven verbunden und zu schillernden, humorvollen, ironischen, überaffirmativen sowie sozialkritischen Inszenierungen und spektakelhaften Performances ausgeweitet. Die Sprechtheaterinszenierung Austrocalypse Now (2013/2014) hingegen basiert auf Interviews mit Kriegsveteran*innen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Das Drama beleuchtet Lebensrealitäten von Menschen, die nach den jugoslawischen Zerfallskriegen nach Wien kamen und mit PTBS zu kämpfen haben. Die Doku-Performance New Boem*Ian Gastarbajter Opera wurde 2012 in Anlehnung an Zelimir Žilniks Gastarbeiter Oper (1977) im Rahmen des OffProgramms der Wiener Festwochen im Kulturraum Wuk aufgeführt und von Alexander Nikolić inszeniert:

durch enge Kontakte verschiedener Kulturen, Sprachen oder Weltbilder etwas Drittes entstehen lässt. Vgl. Ette/Wirth, 2014, 7. 37 Mit Soziale Mobilität ist hier die Bewegung zwischen sozialen Lagen, Schichten oder Klassen gemeint. Vgl. Berger, 2011, 595. 38 Vgl. Mijić, 2020, 1073. 39 Vgl. Balunović, 2020.

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Die Gastarbeiteroper ist eine Baustelle. Auf dieser Baustelle sind wir die Poliere und die Lehrlinge des Geschmacks. Stück für Stück bauen und stückeln wir zusammen. Pfusch natürlich. Sterben und begraben werden möchte ich lieber hier. Das sagt die Kellnerin.  Am Krieg sind wir zerbrochen. Die schönsten Scherben sind in Wien. Rund um das BOEM* setzen wir sie zu einem schillernden Mosaik zusammen. In der Form unserer Oper. Keiner von uns war jemals in der Oper. Hier schon. In 5 Akten gewähren wir Einblick in die Suche. Der Gastarbeiter ist ein Phantom des Klassenantagonismus, eine Art Unterklasse des Arbeiters, ein temporärer Arbeiter, der abwesend und anwesend zugleich ist: anwesend für die Arbeit, abwesend fürs Leben. Genau genommen bildet er den äußersten Punkt der Entfremdung des Arbeiters: Er hat das Recht auf Arbeit, er hat kein Recht auf das Leben.40

Das Recht auf Leben sowie das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben setzt Nikolić künstlerisch um, indem er das wuk zu einem „Jugo-Beisl“ umgestaltet und die Hauptdarstellerin des Abends, die Kellnerin des Café Boem*, Lili, deutsche Schlagerhits in bosnischer/kroatischer/serbischer Sprache bzw. ein Lied mit den Zeilen „Österreich, Österreich, du hast mich meine Jugend gekostet“ singen lässt.41 Jugoslawische Balladen aus der 1960er Jahre sowie vom Hor 29. Novembar aufgeführte Protestsongs werden abwechselnd mit Beiträgen des Philosophen Branimir Stojanović und Erzählungen von Gordana dargeboten, die seit den 1960er Jahren in Österreich lebt.42 Der Klassenantagonismus wird in Form einer immersiven Balkan-Fete vor kuratiertem Kafana-Szenario ausgetragen. Die Geschichte der Gastarbeiter*innen wird aus biographischen Fragmenten musikalisch Stück für Stück zu einem Oratorium zusammengefügt, ohne dabei einer konkreten Dramaturgie oder inszenatorischen Stringenz zu folgen. Das Konzept wird jedoch klar ersichtlich: Es leistet der Selbstermächtigung migrantischer Arbeiter*innen im öffentlichen Raum mit einer Bühne Vorschub.43 Das Publikum kann sich an der Ausgestaltung der Geschichte der Gastarbeiter*innen beteiligen, indem es SMS-Nachrichten versendet, die anschließend auf eine Leinwand projiziert werden, Botschaften wie „Avanti Popolo!“ oder „Bandiera rossa“.44 Im Mittelpunkt des Abends stehen die Wiener Gastarbeiter*innen abseits der Baustellen und Toiletten als Protagonist*innen einer tragikomischen Oper auf der Bühne der Wiener Festwochen. Die Oper 40 Postism, Gastarbajter Opera!. 41 Vgl. Pohl, 2012. 42 Vgl. Dražić, 2012. 43 Vgl. Pohl, 2012. 44 Vgl. Geets, 2012.

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wird zwischenzeitlich von zwei Jörg-Haider-Darstellern unterbrochen, die Nikolić im 16. Wiener Gemeindebezirk gecastet hat, wodurch ironisch auf die Xenophobie, der Gastarbeiter*innen ausgesetzt waren, aufmerksam gemacht wird: „Die rot-grüne Kulturmafia schleust im Rahmen der Festwochen Ausländer nach Österreich.“45 Das Anliegen des Vereins Boem*, all jene an der Wiener Hochkultur teilhaben zu lassen, die in den Personalregistern der Theaterhäuser entweder gar nicht oder bloß als Putzkraft aufgelistet sind, wurde von den lokalen Theaterkritiker*innen weitgehend positiv aufgenommen. Die Performance The Appendix Show ist „[…] ein Re-Enactment der ersten wirklichen, faktischen tatsächlichen serbischen Schwulenhochzeit, die 2010 in der Galerie Boem in der Koppstraße gefeiert wurde.“46 An jenem Abend wurde die Feiergemeinschaft von einer Gruppe Menschen physisch angegriffen, die sich später als Kriegsveteran*innen der jugoslawischen Zerfallskriege zu erkennen gaben. Laut Angaben der Projektinitiatoren endete das gewaltvolle Handgemenge in „einem brüderlichen Tanzexzess und einem Saufgelage.“47 Aufbauend auf diesen Erlebnissen und der persönlichen Geschichte von Darko und Marko – zwei Kriegsveteranen, die sich an der Front verliebten und aufgrund homophober Anfeindungen nach Wien flohen – konzipierten Martin Hollerweger und Alexander Nikolić in der Rolle des Paares die Performance The Appendix Show: Die Beziehungen zwischen Soldaten wurden schon immer hinter vorgehaltener Hand in Kriegszeiten toleriert und sogar gefördert, um den Kampfgeist zu stärken. In Friedenszeiten ist jedoch dann kein Platz mehr für andere sexuelle Orientierungen und deren Ausleben. Als der Krieg vorbei und die Liebe füreinander stärker denn je ist, sind sie [Darko und Marko, Anm. D.D.] massiven Repressionen ausgesetzt. Sie müssen aus ihrem Heimatland Serbien fliehen – wo gewalttätige Ausschreitungen bei den Homophoben Demonstrationen auf der Tagesordnung stehen – und kommen nach Österreich.48

Begleitet wird die Performance The Appendix Show von der kroatischen HipHop-Gruppe Krankenšvester, die als Hochzeitskapelle fungiert und mit ihren vulgären überaffirmativen Texten auf die homophoben Gesellschaften post45 Ebd. 46 O.A., FM4, 2015. 47 Vgl. ebd. 48 Kalivoda, 2015, 15.

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jugoslawischer Länder aufmerksam macht.49 Zwei weitere Schauspieler*innen verkörpern indes die Heilige Maria und Jesus Christus, die auf die Erde kommen, um mit einem Exorzismus die gleichgeschlechtliche Vermählung zu verhindern. Die Trauung zwischen Marko und Darko bzw. Alexander und Martin vollzieht Jesus schließlich persönlich.50 Austrocalypse Now wurde ebenfalls von Nikolić inszeniert und entstand in Kooperation mit dem Volkstheater Wien. Die Premiere fand in der Brunnenpassage in Wien statt, es folgten Gastspiele in Serbien. Am Projekt waren nicht nur Künstler*innen des Vereins boem* beteiligt, sondern auch Kriegsveteran*innen aus Serbien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Sie führten untereinander Interviews, auf denen die Handlung des Stückes aufbaut, oder fungierten im Rahmen des Theaterprojektes als Berater*innen. Neben dem Theaterprojekt wurden auch Podiumsdiskussionen organisiert, um die marginalisierte Lebensrealität der in Wien lebenden Veteran*innen sichtbar zu machen.51 Die Bühne der Inszenierung ist schlicht gehalten, der gesprochene Text liegt im Zentrum der Aufführung: Bei einem polizeilichen Verhör sitzen um einen Holztisch herum der Verdächtige Zoran und zwei Polizist*innen. Die Hauptfigur der Aufführung Zoran leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in akuten Schlafstörungen äußert. Auf Anraten eines Militärpsychologen feuert er eines Abends einen Schuss ab, um ein Gefühl der Sicherheit zu evozieren, woraufhin er von der Polizei abgeführt wird. Im Laufe des Verhörs stellt sich heraus, dass Zoran ein serbischer Kriegsveteran ist und dass auch die Polizistin, die von Ana Stefanović-Bilić gespielt wird, jugoslawische Wurzeln hat.52 Zoran wirft ihr in aggressivem, patriarchalem Gebaren Verrat an ihrer Herkunft vor – zu gut integriert sei sie, lautet sein Vorwurf.53 Ihr Kollege, ein Österreicher, sieht im Fall Zoran eine Möglichkeit, seine Beförderung voranzutreiben und drängt den Verdächtigen zu einem Geständnis. Es stellt sich schließlich heraus, dass auch der Polizist als Berufssoldat zur persönlichen Bereicherung an den Zerfallskriegen beteiligt war. Die Inszenierung endet mit der Auflösung der strikten Rollenverteilung, die Schauspieler*innen erzählen aus einer vielstimmigen Perspektive Geschichten von Veteran*innen, die im

49 50 51 52 53

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 17. Vgl. Mazak, 2014. Vgl. Dabić, 2015.

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Rahmen dieses Theaterprojektes interviewt wurden.54 Dementsprechend wird in Austrocalypse Now die Auflösung einer Gut-und-Böse-Dichotomie bzw. eines einseitigen Blicks auf jugoslawische Kriegsveteran*innen vollzogen. Die Theaterprojekte des Vereins Boem* verbinden verschiedene Facetten der Wiener Lebensrealität miteinander, mit dem Ziel, postjugoslawischen Arbeiter*innen, Migrant*innen und Veteran*innen eine Öffentlichkeit zu bieten sowie queere Personen aus den postjugoslawischen Ländern sichtbar zu machen. Der oftmals als pejorativ kritisierte Terminus „Gastarbeiter*in“ erfährt hier eine positive Umdeutung: Im Kontext der künstlerischen Arbeit des Vereins Boem* werden sogenannte Gastarbeiter*innen zu Hauptprotagonist*innen der Kunstprojekte bzw. zu gesellschaftlichen Subjekten, wodurch sie einen Eingang in die Wiener Kunst- und Theaterszene erfahren. Ihre Mitgestaltung an diversen Kunstproduktionen erweist sich hierbei als Strategie der Selbstermächtigung. Daneben werden durch die Themenwahl der Theater- und Performanceprojekte auch Erinnerungen an die Zerfallskriege sowie die Folgen derselben in das öffentliche Bewusstsein tradiert. Diese prägen den Alltag vieler Wiener*innen mit südslawischem Hintergrund und tangieren dementsprechend auch die Wiener Lebensrealität im Allgemeinen. Ein wesentliches Prinzip des Vereins boem* spiegelt sich hierin wider, nämlich nicht nur Kunst über, sondern mit Menschen zu produzieren, die gesellschaftlich und kulturell marginalisiert werden.

6. ZEUGNISSE DES GASTARBEITER*INNENALLTAGS AUF WIENER BÜHNEN

Mit Arbeitsmigration, prekären Beschäftigungsverhältnissen und gesellschaftlicher Marginalisierung migrantischer Arbeiter*innen beschäftigt sich auch der Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur Darko Markov, der Anfang der 1990er Jahre aus Serbien nach Wien emigrierte.55 Verbreitete Trugbilder über Gastarbeiter*innen, die häufig in ihren Heimatländern vorherrschen – etwa der übermäßige Wohlstand sowie die Vorstellung, wie richtige „Serb*innen“ zu sein haben –, sind ebenfalls Themen, die Markov in seiner Literatur und in seinen Bühnenstücken berührt. Neben Lyrikbänden wie Pesme iz bečkog podruma/Gedichte aus dem Wiener Keller (2013) veröffentliche Markov auch Prosatexte wie beispielsweise Sumrak u bečkom haustoru 1–2/Dämmerung im 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Markov, O autoru.

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Wiener Haustor 1–2 (2010/2013) – eine tragikomische und dokumentarische Abhandlung über jugoslawische Gastarbeiter*innen in Wien, in der der Autor auch Kritik an der österreichischen Mehrheitsgesellschaft und ihren Ausgrenzungsmechanismen übt. Der Anfang seiner künstlerischen Tätigkeit ist in den Wiener Fabriken zu suchen: Als ich, dem Zufall geschuldet, nach Wien kam, begann ich, in einer Fabrik zu arbeiten. Alles sah wie in diesem Charlie Chaplin Film aus: Du darfst dich nicht umdrehen, sonst entsteht am Band eine komplizierte Situation, ein Fehler im Prozess. Ich war gezwungen, drei ganze Jahre in dieser Hölle verbraucht zu werden. Dort sah ich unsere Leute und deren Schicksal. Da hat es klick gemacht, diese Erfahrung, die ich machte, indem ich den Kapitalismus von seiner dunklen Seite kennenlernte. Genaugenommen, brachte mich diese Erfahrung in die Welt der Literatur [Übersetzung: D.D.].56

Darko Markovs erste Theaterinszenierung war eine Adaption von Sumrak u bečkom haustoru, die 2011 als Monodrama konzipiert wurde. Aufgeführt wurde das Stück unter anderem in der Sargfabrik, in zahlreichen Wiener Restaurants und Cafés sowie in Serbien. Basierend auf authentischen Erzählungen, die der Künstler gesammelt und literarisch verarbeitet hat, schildert Markov in der Rolle des Gastarbeiters Radiša auf tragikomische Weise die Bemühungen der Wiener Gastarbeiter*innen, ihren Status quo zu erhalten: von der Scheinehe zur Erlangung benötigter Papiere bis hin zu überspitzt dargestellten Sorgen und Klagen der ersten Gastarbeiter*innengeneration, ihre Kinder würden zu „waschechten Österreicher*innen“ heranreifen, wobei Markov manch humorvoll überzogenes Stereotyp forciert, um dieses gleichzeitig zu dekonstruieren. Sumrak u bečkom haustoru wurde bisher 25-mal aufgeführt und vor insgesamt 3000 Menschen gespielt.57 Dragana Antonijević, Anthropologin an der Belgrader Fakultät für Philosophie, bezeichnet Markovs literarische Werke und im Speziellen Sumrak u bečkom haustoru 1–2 als etnografska fakcija – als ethnographisch dokumentarische Fiktion bzw. als kognitives kulturelles Artefakt, welches Themen und Motive von soziokultureller Bedeutung vermittelt und Raum für anthropologische Interpretationen bietet:58 „Mit malerischen

56 Vgl. Markov, Interview mit Damjanov Rora, 2017. 57 Vgl. Markov, Monodrama: Sumrak u bečkom haustoru (Radiša). 58 Vgl. Antonijević, 2020, 64.

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­ eschreibungen gibt Markov Einblick in eine breite Palette von PersönlichB keitstypen und Lebensstilen unserer in Wien lebenden Menschen.“59 2014 gründete Markov die Theatergruppe Nesvrstani Diletanti, welche Stücke in serbischer Sprache aufführt und sich thematisch ebenfalls mit der Lebensrealität migrantischer Arbeiter*innen befasst. Die Theaterinszenierung Od vulkanizera do manadžera/Vom Reifenmonteur zum Manager (2014) beleuchtet das kulturelle, politische sowie öffentliche Geschehen in Wien aus der Perspektive postjugoslawischer Arbeitsmigrant*innen. Die Komödie mit rund ein Dutzend Darsteller*innen parodiert, aufbauend auf persönlichen Erfahrungen der Schauspieler*innen, stereotype Fremd- und Selbstzuschreibungen.60 Kako postati Vrhovni Srbin (u Beću, i šire)/Wie man ein erstklassiger Serbe wird (in Wien und darüber hinaus) (2016) ist das dritte Bühnenwerk Markovs. Darin wird ebenfalls mittels überzogener Charaktere und satirischer Einschübe der Alltag postjugoslawischer Arbeitsmigrant*innen parodiert: Im Zentrum der Handlung stehen drei selbsternannte „Vertreter*innen aller Serb*innen“ und ihr inferiores Treiben beim Versuch, in der österreichischen Politik Fuß zu fassen. Im ersten Teil der Inszenierung werden Gewohnheiten und Charakterzüge der drei Protagonist*innen vorgestellt. Vertraute Gespräche mit Berater*innen legen ihre Inkompetenzen und Verfehlungen offen, woraufhin allen dreien geraten wird, mit schwarzer Magie ihre Karrieren voranzutreiben. Nachdem auch die Wahrsagerin keine positiven Prognosen für die jeweiligen Kandidat*innen bereithält, wird sie von ihnen damit beauftragt, die Konkurrenz mit Flüchen zu belegen. Kako postati Vrhovni Srbin (u Beću, i šire) endet damit, dass die Karrieren der drei Held*innen, trotz eigenständiger Bemühungen, letztendlich der Entscheidungsmacht eines österreichischen Verwalters obliegen, womit Markov auf die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten von Migrant*innen hindeutet sowie auf den österreichischen bürokratischen Apparat und damit verbundene Abhängigkeitsverhältnisse.61 Das Stück wurde in der Brunnenpassage, in der Sargfabrik und im Rahmen des Projekts Europäische Theaternacht aufgeführt, die der kroatische Künstler Leo Vukelić 2011 in Anlehnung an das Projekt Noč Kazališta aus Zagreb nach Wien holte.62 Die Lebensrealität von Migrant*innen aus postjugoslawischen Ländern ist auch in den Bühnenwerken von Gastarbajteri/Die Gastarbeiter zentrales Thema. Die Theatergruppe wurde 2018 von den Schauspieler*innen Milenko 59 60 61 62

Vgl. Antonijević, 2020, 62. Vgl. Markov, Od vulkanizera do manadžera. Vgl. Markov, Kako postati Vrhovni Srbin (u Beću, i šire). Vgl. Praxis, 2012.

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Ametović und Zorica Đuđić gegründet. Die als Theaterverein geführte Gruppe zählt mittlerweile über 40 Amateurschauspieler*innen aus allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens und führt jährlich bis zu fünf Inszenierungen auf, die derzeit von der Stadt Wien gefördert werden.63 Der Terminus „Gastarbeiter*innen“ im Namen der Theatergruppe wurde auch hier bewusst gewählt, um denselben subversiv umzudeuten: Unser Publikum ist „gastarbeiterisch“, sowie auch unser Name „gastarbeiterisch“ ist. Viele Leute haben es mir übelgenommen (und manche tun es immer noch), dass ich einfach den Namen „Gastarbeiter“ benutze. Nun, weil viele Leute keine Ahnung haben, was dieses Wort wirklich bedeutet. In einem sehr hässlichen Licht wurde es in der Öffentlichkeit und vor allem in Serbien präsentiert. Ich möchte uns in einem anderen Licht vorstellen. Viele unserer Gastarbeiter oder wie soll ich sie nennen – „Unsere Leute, die in Wien leben“, nehmen mir das immer noch übel. Aber wir sind alle Gastarbeiter. Harte Realität. Aber in dieser Realität, wenn wir sie in unseren Aufführungen oder Serien darstellen, erkennen sich viele Leute wieder. Ich weiß genau, was unser Publikum mag, also schreibe und passe ich die Texte so an. Durch Comedy erreichen viele wichtige Themen/Botschaften die Menschen. [Ü: Darija Davidović].64

Die Gruppe führt überwiegend Komödien auf, die um die Themen Liebe und Familie kreisen. Die Komödie U Krevetu sa Lolom/Im Bett mit Lola (2019) etwa handelt von einer jungen Frau namens Lola und ihrem Geliebten, deren Beziehung von Intrigen, Fremdgehen und einer Klatschbase überschattet wird.65 Das Drama Orhideja/Orchidee (2020) behandelt das Thema unerfüllter Kinderwunsch: Die Handlung spielt in den 1920er Jahren. Zwei Paare, die gegensätzlicher nicht sein könnten, treffen aufeinander. Während das eine sich sehnsüchtig Kinder wünscht, erwartet das andere ein ungewolltes Kind und möchte es abtreiben. Laut Ankündigungstext „[…] soll dieses Stück motivieren Kinder zu behalten bzw. zu kriegen und keine Schwangerschaftsabbrüche zu machen“, nur weil es äußere Zwänge abverlangen.66 Geprobt und aufgeführt wird unter anderem im Wuk und auf der Kleinkunstbühne des Spektakels im 5. Wiener Gemeindebezirk sowie im Restaurant Beograd. Daneben zeigt die Theatergruppe mehrere Mini-Serien wie beispielsweise die Serie Naše Bečlije/Unsere 63 64 65 66

Vgl. WUK. Vgl. Amteović, 2021. Vgl. O.A., Dijaspora.TV, 2019. Vgl. O.A., meinbezirk.at., 2021.

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Wiener oder Kuća nije tesna/Das Haus ist nicht zu eng auf ihrem YouTubeKanal sowie auf Teslavision, einer TV-Online-Plattform, die 2006 gegründet wurde, um ex-jugoslawischen Künstler*innen in ihren Herkunftsländern zur Bekanntheit zu verhelfen.67 Beworben werden die Aufführungen von Gastarbajteri unter anderem von Dijaspora.TV sowie von der Diaspora-Tageszeitung Vesti.

7. QUEERE POSTJUGOSL AWISCHE IDENTITÄTSKONZEPTE AUF DEN WIENER THEATERBÜHNEN

Die Gruppe Physical Theatre Collective Side Effect wurde 2019 vom Regisseur, Performer und Aktivisten Danilo Jovanović gegründet, der 2019 von Sarajevo nach Wien emigrierte und von Kültür gemma gefördert wurde.68 Das Theaterkollektiv besteht aus Performer*innen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Brasilien, Deutschland und Nigeria. Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit stehen migrantische und queere Körper und ihre Lebensbedingungen in Wien sowie migrantisch queere Positionen innerhalb der mehrheitlich weißen und bürgerlichen Wiener Queer-Community. Jovanović, der sich selbst dezidiert als Jugoslawe identifiziert („Ich bin in Jugoslawien geboren, also bin ich Jugoslawe“),69 verbindet seine künstlerische Arbeit mit queerem Aktivismus und entwickelte seine eigene Inszenierungsmethode „open soul concept“, die auf persönliche Inhalte setzt, statt mit klassischen Schauspielmethoden zu arbeiten. Seine Inszenierungsstrategien ermöglichen Performer*innen, direkt mit dem Publikum zu interagieren, indem spielerisch auf affektive Reaktionen oder spontane Impulse des Publikums eingegangen wird. Die erste Performance mit dem Titel How long are you planning to stay wurde im Rahmen der Wienwoche 2020 produziert und im Odeon Theater aufgeführt. Die Aufführung beleuchtet – ähnlich wie die hier bereits angeführten Werke anderer Künstler*innen – Ausgrenzungsmechanismen sowie die prekären Lebensbedingungen migrantischer Wiener*innen:

67 Vgl. Teslavision. 68 Vgl. Kültür gemma. 69 Vgl. Jovanović, 2021.

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Our bodies, movements and trembles store experiences. With outing our inner spaces, we reveal personal and collective emotions, memories and traumas. „How much power does the color of your passport hold? How long can you stay?70

In der Tradition des Physical Theatres fungiert der Körper als zentrales performatives Mittel, das gesprochene Wort dient der Ergänzung der körperlichen Ausdrucksmittel. Die Handlung baut auf persönlichen Erfahrungen der Performer*innen auf, die alle einheitlich in Schwarz gekleidet und auf der karg ausgestatteten Bühne Berührungspunkte unterschiedlicher migrantischer und queerer Biographien zu einer Geschichte zusammenführen, mit dem Ziel, einen multidirektionalen Blick auf diese Biographien zu werfen und dabei intersektionale Diskriminierungsmechanismen aufzuzeigen. Die Gruppe tritt als diverser Chor-Körper in Erscheinungen, der sich Themen wie Integration, Identität und Assimilation auf persönliche Weise annimmt, sich diesen aber auch humorvoll nähert: Wenn etwa in einer Szene die Gruppe in einem nachgestellten Integrationskurs deutsche Wörter ohne Akzent nachsprechen soll, diese jedoch, im Crescendo ausgesprochen, zu einem Klangkörper aus unterschiedlichen ausländischen Akzenten anschwellen, um im nächsten Moment von der Performer*in Iva Marković unterbrochen zu werden, die sich währenddessen, sichtlich erregt, auf dem Boden räkelt und lasziv „Deutsch! Deutsch!“ stöhnt.71 Die neurotisch abverlangte Perfektionierung der deutschen Sprache wird hierbei persifliert und Assimilation als Anpassungszwang kritisiert. Stories about Hugs ist das zweite in Wien produzierte Bühnenwerk von Danilo Jovanović. Gemeinsam mit Noel Iglesias, einem LGBTQI-Aktivisten, Künstler, Anwalt und Geflüchteten aus Äthiopien, entwickelte Jovanović ein Stück über migrantische schwule Liebe bzw. „queer migrant male love“72 und die Hindernisse, die queere migrantische Männer innerhalb einer mehrheitlich weißen und bürgerlichen Queer-Community zu bewältigen haben. Für dieses Theaterprojekt sammelte Jovanović verschiedene Geschichten, die von der Suche nach Liebe und Intimität, aber auch von Rassismus, Klassismus und sexualisierter Gewalt zeugen.73 In einem intimen Bühnensetting, in dem Jovanović Berührungen, aber auch Angst und Wut mit seinem Bühnenpartner austauscht, schafft er einen theatralen Raum, der zwischen Zärtlichkeit und Wut oszilliert. Neben der Suche nach Liebe thematisiert Jovanović ­Mechanismen 70 71 72 73

Vgl. Wienwoche. Vgl. Jovanović, 29.07.2021. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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männlicher Dominanz, die auch in schwulen Liebeskonstellationen toxische Männlichkeit, Gewalt und andere Formen der Unterdrückung reproduzieren. Aus der Perspektive von queeren Migrant*innen und Geflüchteten, die vom mehrheitlich weißen und bürgerlichen Milieu abweichen, greift Jovanović auch Themen auf, die in der schwulen bzw. queeren Community stellenweise immer noch marginalisiert werden – beispielsweise intersektionale Diskriminierungen, aber auch HIV.

8. DIE WIENER THEATERL ANDSCHAFT ALS REFUGIUM (POST) JUGOSL AWISCHER KULTURRÄUME

Diese Untersuchung hat gezeigt, auf welche vielfältige Weise südslawische Theaterkünstler*innen sowohl an den großen Wiener Bühnen als auch in der Off-Szene vertreten sind. Überschneidungen bei Themenkomplexen wie der Arbeitsmigration, Marginalisierung oder prekären Lebensverhältnissen führen folgerichtig zu einer intentionalen Ausrichtung der künstlerischen Angebote auf Inklusion, wodurch eine selbstbewusste Verortung der Wiener*innen sowie der lokalen Künstler*innen mit südslawischem Hintergrund innerhalb der Wiener Theaterlandschaft gefördert wird. Wien im Allgemeinen und die Theaterszene im Speziellen bieten Räume für Lebensentwürfe, die künstlerisch postjugoslawische Positionen mit lokalen Positionen zu hybriden, transnationalen Identitätskonzepten vermengen. Abseits vom Nationalismus und Revisionismus der Herkunftsländer werden damit Safe Spaces erzeugt, in denen nationale und ethnische Zugehörigkeiten im Alltagsleben keine signifikante Rolle spielen bzw. keine segregierenden Dynamiken befeuern. Im Gegenteil – innerhalb der lokalen Kunst- und Theaterszene entstehen Zwischenräume, in denen vermehrt sozialistische Werte mit lokalen Lebensmodellen zusammengeführt und zugleich Verbindungen zu den Herkunftsländern aufrechterhalten werden. Anhand der hier diskutierten Beispiele wurde aufgezeigt, inwiefern die Wiener Theaterlandschaft als Refugium (post)jugoslawischer Kulturräume bzw. Theaterkünstler*innen fungieren kann – indem ihnen Räume und finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Zudem lässt sich an den hier besprochenen Theaterbeispielen ein stets mitschwingender, klassenbewusster Umgang mit den Lebensrealitäten der Wiener*innen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens feststellen, der künstlerisch humorvoll vermittelt wird oder sich formal in der aktiven Mitgestaltung kulturell marginalisierter Arbeiter*innen äußert. Erstrebenswert wäre es, mehr weibliche Theaterkünstlerinnen aus der

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Region zu fördern und auf Wiener Bühnen einzuladen, damit sie ihre Perspektiven auf die hier erwähnten Themenkomplexe präsentieren können. Möglich wäre dies beispielsweise mithilfe eines dezidiert an migrantische Frauen gerichteten Förderprogramms, um die männlich dominierte Theaterlandschaft kritischer und facettenreicher zu gestalten. Literaturverzeichnis

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Korrespondenzen mit Theaterkünstler*innen

Ametović, Milinko, E-Mail-Verkehr, 05.08.2021. Jovanović, Danilo, Telefoninterview, 29.07.2021. Sturm, Wolfgang, Telefoninterview, 03.08.2021.

ORTE DES AUSTAUSCHS: SÜDSLAWISCHE PRÄSENZ IN WIEN

DIE ROLLE DES WIENER KROATENBALLS FÜR DIE SICHTBARKEIT DER KROATISCHEN VOLKSGRUPPE IN WIEN Lydia Novak

Das Motto „Sehen und gesehen werden“ wird in Wien besonders während der Ballsaison gelebt, die alljährlich vom 11. November um 11.11 Uhr bis Faschingsdienstag 24:00  Uhr abgehalten wird. Das „Gesehenwerden“ hat auch für Burgenländischen Kroat*innen in Wien große Bedeutung und ist besonders unter dem Aspekt der Sichtbarkeit der Volksgruppe im urbanen Raum von Relevanz. Als Minderheit sind die Kroat*innen zwar im Burgenland anerkannt, aber in der Großstadt Wien haben sie nicht dieselben Rechte, über die die Volksgruppe im Burgenland verfügt, obgleich hier eine große Community der Burgenländischen Kroat*innen lebt. Das komplette Fehlen zweisprachiger Schulbildung bzw. einer Möglichkeit derselben in Wien sticht unter den fehlenden Minderheitenrechten besonders hervor.1 Dieser ‚Unsichtbarkeit‘ wirkt der Hrvatski bal, der Wiener Kroatenball, dezidiert entgegen. Er wird seit 1948 ohne Unterbrechung veranstaltet. Die Geschichte dieses gesellschaftlichen Ereignisses geht allerdings in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Heute steht der Wiener Kroatenball (Hrvatski bal) in seiner Relevanz für die kroatische Volksgruppe an einer exponierten Stelle. Mit über 1000 Besucher*innen aus dem In- und Ausland zählt er jedes Jahr – 2021 und 2022 aufgrund Corona auch virtuell – zu den mittelgroßen Bällen der Wiener Szene (im Vergleich zu den großen Bällen etwa in der Wiener Hofburg). Diese jährliche Veranstaltung lässt sich – inklusive aller Vorbereitungen, Nachwirkungen und Begleiterscheinungen – auf mehreren Ebenen und aus mehreren Perspektiven lesen: Einerseits ist der Ball im Kontext der Wiener Balltradition einer der älteren Wiener Bälle; er erfährt eine südslawische bzw. kroatische Interpretation und spielt eine Rolle bei der damit verbundenen Sichtbarkeit der Volksgruppe. Anderseits ist der Wiener Kroatenball ein fruchtbarer Boden für neue Projekte und Ausdrucksformen kultureller Inhalte, vor allem im musikalischen Bereich. Zusätzlich lässt sich der Wiener Kroatenball als multifunktionale Brücke verstehen: auf der einen Seite als Ort 1

Vgl. Tyran, 2021, 95–117.

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der Vernetzung innerhalb der kroatischen Volksgruppe in urbaner Umgebung und außerhalb des primären Siedlungsgebietes auf österreichischer Seite (des Burgenlandes), auf der anderen Seite auch als Berührungspunkt zwischen der Volksgruppe und Kroat*innen neuerer Migrationsbewegungen, anderer Volksgruppen als auch zur (nur) deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung, was sich in der Besucher*schaft aus dem In- und Ausland widerspiegelt und mit publizierten Stimmen zum Ball jedes Jahr aufs Neue dokumentiert wird.2 Im Fokus dieses Beitrags steht die Gegenwart und jüngere Vergangenheit des Wiener Kroatenballes. Als konkrete Abgrenzung bietet sich der Ball in seiner 66. Ausgabe en suite im Jahr 2013 an. In der langen Geschichte des Wiener Kroatenballes ist dieses Jahr als eine Zäsur bzw. als ein Neustart zu verstehen, sowohl durch den neuen Ort der Austragung als auch durch die Veränderungen im visuellen Auftritt des Balles. Durch die Vergrößerung des Veranstaltungsortes war es auch notwendig, mit gezielter PR und Vermarktung ein größeres Publikum anzusprechen und zum Besuch des Balles zu motivieren. Dieser Neustart ist im Kontext von Sichtbarkeit, bewusstem Sichtbarmachen und auch im Zusammenhang mit der Reflexion der eigenen Rolle als repräsentatives Ereignis der Volksgruppe in Wien und innerhalb der Wiener Ballkultur signifikant. Um diese Rolle und Position des Hrvatski bal in Wien zu verdeutlichen – sowohl innerhalb der Volksgruppe als auch aus einer Perspektive von außen – wird vorab ein kurzer geschichtlicher Abriss gegeben.

EIN BLICK IN DIE GESCHICHTE – URSPRUNG DES WIENER KROATENBALLES

Der älteste Beleg eines Ereignisses bzw. Festes, das den Namen Kroatenball getragen hat, findet sich in der Klagenfurter Zeitung vom 28. August 1863: Eine echte Volksfestepisode war der Kroatenball im Wurstelprater [...][.] Zu den vielen Gästen, welche uns aus der Umgebung von Wien am verflossenen Sonntag mittelst Eisenbahn, Landzeiseln und Leiterwagen zugeführt wurden, hatten nämlich auch die kroatischen Colonien der Umgebung von Bruck an der Leitha, Mannersdorf, Hof, Au, Parendorf und Zurndorf ein ansehnliches Contingent gestellt.

Aus diesem Bericht geht klar hervor, dass auch damals schon Gäste aus dem 2

Vgl. Hrvatski Bal – Wiener Kroatenball. Ballbroschüren, 2013–2022.

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damaligen Westungarn und auch noch aus Niederösterreich eigens nach Wien gereist waren, um diesem Tanzfest beizuwohnen. Dem Bericht zufolge war der größte Unterschied zur heutigen Version des Kroatenballes Zeitpunkt und Ort der Veranstaltung: damals ein Outdoor-Fest im Hochsommer, heute ein klassischer Ball mitten in der winterlichen Tanzsaison. In der Beschreibung der Gäste, der Tänze und teilweise auch der Musik besteht allerdings – auf dieser oberflächlichen Ebene – kein allzu großer Unterschied zum gegenwärtigen Ball. Die wienerische Tanzlust fand auch mit dem Ersten Weltkrieg und dem ereignisreichen Jahr 1918 keinen Abbruch, denn „die Wiener Balltradition hat sogar das Ende der Monarchie relativ unbeschadet überstanden.“3 Seit den Kroatenbällen in Wien nach Gründung der Republik Österreich ist auch eine Kontinuität in der Organisation des Balles belegbar – vorwiegend durch Berichte in der Hrvatske Novine oder Naše novine, der Wochenzeitung der kroatischen Volksgruppe. Selbst ein Jahr nach der Entstehung des Burgenlandes als jüngstes Bundesland Österreichs im Jahr 1922 gibt es Zeitungsberichte über einen Kroatenball in Wien.4 Der Ball war seit seinen Anfängen bereits nicht nur eine Gelegenheit für Tanz und Vergnügen, sondern auch ein Ort der Vernetzungen und Begegnungen sowohl auf offizieller als auch auf privater und zwischenmenschlicher Ebene. S organizacijom ovoga bala i njegovim ugodanim odvršenjem naše bečko društvo ispunilo je opet svoju zadaću, da skupa spravlja Hrvate u Beču. Ako jur nije moguće sve spraviti na skupno kulturno djelo, onda je društvo bar spravi na skupnu zabavu, pri koj vindar ćutimo jedinstvenu narodnu skupapripadnost i skupnu našu zajednicu jezika i domorodstva.5 [Mit der Organisation dieses Balles und der gelungenen Abhaltung hat unser Wiener Verein wieder seine Aufgabe erfüllt, die Kroaten in Wien zusammenzubringen. Wenn es schon nicht möglich ist, alle zu gemeinsamer kultureller Arbeit zu bringen, so bringt der Verein sie wenigstens zum gemeinsamen Vergnügen, in dem wir dennoch die einzigartige Zugehörigkeit des Volkes und unsere Gemeinschaft der Sprache und Heimat fühlen. Übers. L. N.]

3 4 5

Walterskirchen/Baumgartner, 2001, 9. Hrvatske Novine, 15.02.1922, broj 7. Hrvatske Novine, 23.01.1937, broj 4.

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Seit Beginn der 1920er Jahre übersiedelten viele Burgenländer*innen, und damit auch Kroat*innen, nach Wien. Das jüngste und strukturell schwächste Bundesland verfügte über keine urbanen Zentren, viele Arbeiter, Hilfsarbeiter und auch Dienstmädchen emigrierten daher nach Wien.6 Durch fehlende Verkehrsverbindungen zwischen Wien und großen Teilen des Burgenlandes, da diese vorwiegend gen Ungarn orientiert waren, war Pendeln für viele keine Option. Daher wurden in Wien von den Burgenländischen Kroaten bereits in den 1920er Jahren – zur gleichen Zeit wie im Burgenland – die ersten Vereinigungen ins Leben gerufen, die anfangs neben der automatischen Pflege der kroatischen Sprache vorwiegend Unterhaltungszwecken dienten und regelmäßige Zusammenkünfte mit Gleichgesinnten ermöglichen sollten.7

Demnach wurden in der Ballstadt Wien auch Bälle als Möglichkeit der Zusammenkunft mit Gleichgesinnten und zur Pflege der gemeinsamen kroatischen Sprache organisiert. Obwohl der Trägerverein des Balles, der Burgenländisch-Kroatische Kulturverein in Wien (Hrvatsko gradišćansko kulturno društvo u Beču HGKD) als erster registrierter Verein der Burgenländischen Kroat*innen in Wien8 erst 1934 offiziell gegründet wurde, waren die Organisatoren der Bälle (Anm.: die männliche Form ist hier bewusst gewählt) vor 1934 größtenteils dieselben, wenn auch noch ohne offizielle Vereinsstrukturen. Für die Organisation des Jubiläumsballes 2007 (der 60. en suite) fand sich eine erweiterte, über den HGKD herausgehende Arbeitsgruppe, eine Art Ballkomitee, zusammen, die für den grundlegenden Relaunch des Balles bereits in Richtung der Entwicklung nach 2013 verantwortlich war. Dieses Ball-Team entwickelte sich zu einer eigenständigen Arbeitsgruppe unter dem Motto „Nach dem Ball ist vor dem Ball“, denn die Vorbereitungen und Nachbereitungen ziehen sich durch das ganze Jahr. 2017 wurde ein eigener Verein gegründet: Hrvatski bal/Wiener Kroatenball – Verein zur Förderung der Wiener Balltradition, der seither als Träger des Balles fungiert. Die genaueren historischen Zusammenhänge zwischen den Tanzereignissen aus dem 19. Jahrhundert, den Bällen aus den 1920er Jahren und der späteren Ballorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg ist noch nicht erforscht. 6 7 8

Vgl. Fercak, 2010, 72. Ebd., 92. Vgl. Fercak, 2010, 104.

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Dennoch sollen sie an dieser Stelle genannt werden, um die Entstehung und Entwicklung des Wiener Kroatenballes in seiner heutigen Erscheinungsform wenigstens rudimentär zu kontextualisieren.

VOM KROATENBALL IN WIEN ZUM WIENER KROATENBALL ODER WIENER KROATENBALL 2.0

Die 66. Ausgabe des Wiener Kroatenballes im Jahr 2013 markiert einen Neustart und auch ein re-branding dieses Balles als Wiener Institution. Dies hatte mehrere Gründe und ist an mehreren Faktoren ablesbar: Die offensichtlichste Änderung und Erneuerung war der Veranstaltungsort. Nach einer renovierungsbedingten Schließung des Parkhotels Schönbrunn im 13.  Wiener Gemeindebezirk von 2011 bis 2012 fand der 66. Ball, nach zwei Ausweichjahren im Kursalon Hübner im Wiener Stadtpark, wieder im gewohnten Parkhotel Schönbrunn statt. Nach der grundlegenden Erneuerung seiner Räumlichkeiten, die für Bälle benutzt werden können, bietet es mit einer vergrößerten Fläche auch Potenzial für mehr Publikum als im vorherigen Ballsaal und auch als im Kursalon Hübner. Um dieses neue Potenzial auch zu nutzen und das entsprechende Publikum zu gewinnen, wurde das Marketing des Balles neu aufgestellt: Vor allem durch ein speziell entworfenes Logo wurde und wird versucht, den Wiener Kroatenball als Institution und Marke zu positionieren und zu etablieren. Mit einem eigenen Logo und damit verbundenem hohen Wiedererkennungswert wurde eine Art Corporate Identity geschaffen, die auch der Abgrenzung zu anderen Bällen dient. Denn „Kroatenbälle“ verschiedener Variationen gibt es einige, vor allem im Burgenland bzw. innerhalb der kroatischen Volksgruppe diesseits und jenseits der österreichischen Staatsgrenze auf ungarischer und slowakischer Seite. Das Logo und die Marke Wiener Kroatenball führt zu einer klaren visuellen Abgrenzung und Positionierung, sowohl innerhalb der kroatischen Volksgruppe als auch gegenüber den „neuen“ Kroat*innen in Wien, Abb. 1: Logo des Wiener Kroatenballes.

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die in burgenländisch-kroatischen Kreisen oft als „Hrvačani“9 tituliert werden und mittlerweile einen eigenen Ball in Wien organisieren, der sich jedoch in Konzept und Aufbau vom Hrvatski bal unterscheidet. Steht dieses einfache Erkennungszeichen innerhalb der autochthonen und auch allochthonen kroatischen Community für Wiedererkennbarkeit und Abgrenzung zu ähnlichen Veranstaltungen, wird mit dem Logo gleichzeitig auch die Offenheit gegenüber allen Gruppen sowie auch gegenüber der Mehrheitsbevölkerung betont und propagiert. Denn im Kontext visueller Zeichen ist es hier wichtig zu erwähnen, dass der Hrvatski bal seit seinem re-branding ohne jegliche staats- oder landesspezifische Insignien oder Erkennungsmerkmale beworben wird: Weder auf Plakaten, Werbematerial, Drucksorten aller Art noch auf dem Ball werden Fahnen oder Wappen als Zeichen der Zugehörigkeit oder Abgrenzung verwendet. War vor 2013 noch ein kombiniertes Wiener-burgenländisches Wappen in Verwendung, so findet Inklusion seither durch eine vollkommene Exklusion von Wappen, Fahnen oder Hymnen statt. Ein weiterer Aspekt des re-brandings des Balles war die bewusste und verstärkte Betonung der Position im Wiener Kontext und im Kontext der Wiener Balltradition. Zum Transportieren und Kommunizieren dieser Inhalte dient die seit 2013 produzierte Ballbroschüre. Neben Programmablauf, Infos zu allen auftretenden Künstler*innen, Fotos und Stimmen zu vergangenen Bällen, wird in diesen Publikationen auch das Motto und die Bedeutung des Balles definiert und erläutert. Vor allem die eigene Rolle und die Verbindung und Verwurzelung in Wien wird explizit betont: Hrvati meet Schönbrunn – Das Motto des 66. Wiener Kroatenballes, wie auch der vergangenen und auch der nächsten Bälle ist daher: Wir Burgenländischen Kroaten tanzen zusammen mit allen Kroatinnen und Kroaten, Burgenländerinnen und Burgenländern, Wienerinnen und Wienern und den Vertretern aus Kroatien in die EU – und das tun wir in der „Europäischen Zentrale – an diesem Tag im Zentrum aller Kroaten“, im Parkhotel Schönbrunn – und dabei begleiten uns moderne und zukunftsweisende Ideen und gemeinsame Initiativen.10

Das hier etablierte Narrativ eines gemeinsamen Ereignisses im Sinne von Inklusion und Diversität wird für Gegenwart und Zukunft klar definiert, und auch auf die Vergangenheit ausgeweitet bzw. Aspekte, die auch schon lange 9 Vgl. Tyran, 2015, 140 ff. 10 Ballbroschüre 2013, 9.

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vor 2013 zu den Selbstverständlichkeiten des Balles gehört haben, werden klar hervorgehoben. Auf semantischer Ebene ist insbesondere relevant, dass der Name des Balles in kroatischer und deutscher Sprache nicht ident ist: aus dem Hrvatski bal [Kroatischer Ball] wird im Deutschen der Wiener Kroatenball. Der „Wiener“Zusatz gehört auch zum re-branding des Jahres 2013 und zielt auf die klar betonte Verortung auf Wien und die Wiener Balltradition ab. Im Spannungsverhältnis dazu steht die allgemein südslawische bzw. kroatische Komponente des Balles. Auch diese wird aktiv genutzt, um das Ereignis zu promoten: Einerseits auch bei den „eigenen“ Leuten, als Möglichkeit eines großen Zusammentreffens mit vertrauter Sprache, Musik und Unterhaltung, andererseits als hervorstechende Besonderheit im Wiener Ballkalender gegenüber potenziellem Zielpublikum aus der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung.

DIE INTERPRETATIO CROATICA DER WIENER BALLTRADITION

In Form und Ablauf des Balles ist kein großer Unterschied zu anderen Wiener Bällen festzustellen. Die Struktur ist angelehnt an die der klassischen Wiener Bälle: Eröffnung – Mitternachtseinlage – Quadrille – Tombola, und zwischen allen diesen Programmpunkten Tanzmusik verschiedener Genres. Wodurch konkret zeichnet sich nun die kroatische Interpretation am Wiener Kroatenball aus? Ein wichtiger Faktor ist in der musikalischen Realisierung auszumachen: Sag niemals nie, schon gar nicht zu Freunden mit kroatischen Wurzeln, denn das sind diejenigen, die wirklich noch wissen, wie man Feste feiert: kein Zwang zu Frack oder langem Abendkleid, dafür Musik, Tanz und Lebenslust. Jeder kommt, wie es ihm gefällt – das prachtvolle Flair des Ballsaals im Parkhotel Schönbrunn macht eh jeden gleich schöner. Kein Wunder, dass der Burgenländisch-Kroatische Kulturverein Wien seinen Ball seit nunmehr 20 Jahren hier veranstaltet. Wobei nicht nur die vielen kroatischen Gruppen aus diversen Ländern willkommen, sondern alle gerne als Gäste gesehen sind, die deren Kultur – hier vor allem natürlich die Musik – zu schätzen wissen.11

11 Karas, 2008, 46.

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Die Musik des Wiener Kroatenballes sticht auf jeden Fall hervor. Bei näherer Betrachtung der auftretenden Künstler*innen und Musikgruppen ist die Intention einer breiten Repräsentation eindeutig zu erkennen: Auf den Bällen zwischen 2013 und 2020 sind 45 Musikgruppen oder Künstler*innen aufgetreten, einige davon mehrfach, manche sogar jedes Jahr. 17 dieser Gruppen sind Teil der kulturellen Szene der kroatischen Volksgruppe; elf kommen aus Österreich, zwei Gruppen aus der Slowakei und Österreich, eine aus der Slowakei, drei aus Ungarn, und eine Musikgruppe versammelte Musiker aus Österreich, Slowakei, Serbien und sogar Spanien. Von den elf Akteur*innengruppen aus Österreich ist Kolo Slavuj hervorzuheben, zu dem – als überregionales Folkloreensemble der Burgenländischen Kroat*innen – auch Mitglieder aus allen Siedlungsgebieten der kroatischen Volksgruppe zählen (Österreich, Ungarn, Slowakei) sowie auch zugewanderte Kroat*innen und Angehörige anderer Volksgruppen. Das Ensemble mit Sitz in Wien ist 1971 anlässlich der Eröffnung des Balles gegründet worden und somit auch mit der Geschichte des Balles inhaltlich wie auch personell eng verbunden. Zu den Musikgruppen, die seit 2013 auf jedem Ball aufgetreten sind, gehört die Formation KroaTarantata aus Montemitro (kro. Mundimitar), einem Dorf in der italienischen Region Molise. Diese junge Gruppe, die zur kroatischen Minderheit in Italien zählt, den sogenannten Molisekroat*innen, ist somit als fixer Bestandteil des Hrvatski bal ein Paradebeispiel für Minderheiten-übergreifende Allianzen und Zusammenarbeit. Die Verbindung zu den Molisekroat*innen war auch vor 2013 schon manifestiert im Programm des Balles, da bei der Mitternachtsquadrille nicht eine klassische Wiener Quadrille getanzt wird, sondern die Kvadrilja aus Molise, die in Mundimitar bei Festen aller Art getanzt wird. Demnach wird wieder mit kroatischem Inhalt, in südslawischer Interpretation und sogar mit klar minoritärer Allianz, die Struktur des Wiener Balles auch um Mitternacht übernommen. Die Eröffnung funktioniert nach demselben Prinzip. In der Struktur gibt es keinen Unterschied zu anderen Wiener Bällen, jedoch findet sich der distinguierende Faktor im Inhalt: Vor 2013 war die Eröffnung klar von Folklore bzw. Volkstanz mit Trachten und traditionellen Instrumenten gekennzeichnet, seit 2013 gab es auch Eröffnungen rein musikalischer Natur, bei denen traditionelle Musik der kroatischen Volksgruppe dargeboten wurde, allerdings in „neuem“ Gewand und in neuen Arrangements: Das Blue Danube Orkestar & Družice wurde speziell für den Ball gegründet und war seit 2013 vier Mal Teil der Eröffnung. Auch im Namen dieser Formation ist einerseits ein eindeutiger Bezug zu Wien erkennbar, andererseits ist die Donau auch als verbindendes Element

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zwischen den Ländern, durch die sie fließt und aus denen die Mitglieder des BDO & Družice stammen, zu interpretieren: Österreich, Slowakei, Ungarn und Serbien. Seitdem Tanzfolklore nicht mehr eine zwingende Konstante bei der Eröffnung ist, haben dafür Tracht und Tamburica beim Entree und beim Empfang der Ehrengäste ihren Platz bekommen. Es liegt an dieser Stelle nahe, zu sagen, dass hier ein wenig das Klischee der kroatischen Volksgruppe bedient wird, die in der Öffentlichkeit oft nur mit den Insignien Tamburica und Tracht präsentiert und wahrgenommen wird.12 Da sie am Hrvatski bal aber dezidiert nicht als alleinstehendes Erkennungs- und Wiedererkennungsmerkmal der Volksgruppe intern und gegenüber der Außenwelt verwendet werden, sondern als eines von vielen musikalischen Genres, entzieht sich der Ball somit in den meisten Fällen auch dieser stereotypen Sichtweise. Neben der Musik, die in gewisser Weise auch universell verständlich ist, ist auch die Sprache – sowohl in gesprochener als auch in schriftlicher Form – ein essenzieller Teil des Hrvatski bal. Die kroatische Sprache bekommt hier eine größere Bühne und mehr öffentliche Aufmerksamkeit als während der verbleibenden elf Monate des Jahres. Ankündigungen, offizieller Auftritt im Internet, alle Kanäle auf sozialen Medien (Facebook, Instagram, YouTube), Drucksorten und die Moderation am Ballabend sind zweisprachig Kroatisch-Deutsch mit leichtem Überhang zur kroatischen Sprache. Größtenteils wird die burgenländisch-kroatische Varietät gegenüber der modernen Schriftsprache vorgezogen bzw. ist die Wahl abhängig von der*dem jeweiligen Sprecher*in. Der Wiener Kroatenball ist eine Konstante in der Wiener Balllandschaft, er wird in Ballkalendern und Ballguides angeführt, und seit 2013 ist auch die öffentliche Wahrnehmung innerhalb der (Mehrheits-)Medien gestiegen. Herausstechend sind dabei ein Beitrag in der vorabendlichen Society-Sendung Seitenblicke – täglich ausgestrahlt im Hauptabend auf ORF2 – im Jahr 2013 und auch die Ankündigung des Balles in der Sendung Wien heute – täglich ausgestrahlt im Vorabend auf ORF bzw. auf der Wiener Regionalwelle. Diese beiden Beispiele sind allerdings mehr Ausnahme als Regel, da Volksgruppeninhalte fast nie im Mainstream oder im Mehrheitsprogramm außer in der vorher genannten stereotypen Darstellung Platz finden und immer auf das abgesonderte Volksgruppenprogramm innerhalb des ORF verwiesen wird. Gerade die Ankündigung des Balles in Wien heute ist daher ein großer Schritt für die Wahrnehmung und Sichtbarkeit der Volksgruppe, vor allem in der Wiener Öffentlichkeit. 12 Vgl. Schedl, 2004. 37–50.

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BEGEGNUNGEN – DER WIENER KROATENBALL ALS MULTIFUNKTIONALE BRÜCKE

Der eingangs erwähnte Brückenschlag zur deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung und auch zu anderen Minderheiten gehört neben der repräsentativen Funktion des Balles zu den Hauptaufgaben, die der Hrvatski bal für sich selbst definiert hat. Er versteht sich als Brückenbauer in multifunktionaler Rolle: das dafürstehende Motto ab 2013 Hrvati meet Schönbrunn wird in der Begleitpublikation ab 2016 auch klar erläutert und interpretiert: Das Motto des Balles Hrvati meet Schönbrunn zeigt die besondere historische Verbundenheit zweier Länder im Allgemeinen und der Kroaten mit Wien im Besonderen. Dieses Motto soll auch die freundschaftlichen Bande zweier „benachbarter“ Länder unterstreichen. Dabei spielten und spielen die Burgenländischen Kroaten eine wichtige verbindende Rolle. Schönbrunn steht als Synonym für Wien und den Glanz und die Glorie als Hauptstadt der Monarchie, in der alle Kroaten unter einem „Dach“ waren und wo sie einander wieder treffen. Das englische meet betont die Begegnung der Kroaten untereinander, egal woher sie kommen und seit wann sie hier leben bzw. in welchen Ländern sie heute leben. Vor allem geht es aber auch heute und morgen um die Begegnung verschiedener Kulturen und Sprachen bei diesem Ball in Wien. Dazu haben die Burgenländischen Kroaten einen bedeutenden Teil beigetragen und wollen das auch weiterhin tun.13

In sowohl reflektierender als auch zukunftsorientierter Manier wird hier die Position definiert, die der Wiener Kroatenball eingenommen hat. Dabei wird auch ein verklärtes Bild der harmonieerfüllten und schönen Donaumonarchie übernommen, wie es bereits seit Jahrzehnten in der Vermarktung Wiens im Tourismus verwendet wird. Diese Intention ist ebenso in der schon erläuterten Auswahl der auftretenden Künstler*innen erkennbar: Auf den Bühnen haben Gruppen aus allen Siedlungsgebieten der kroatischen Volksgruppe Platz (Burgenland, Wien, Ungarn, Slowakei), aus Kroatien, aus der Vojvodina – die ebenfalls eine mehrsprachige Region mit einigen anerkannten Minderheiten ist –, und auch klassische Ballorchester aus Wien. Begegnung und Vernetzung innerhalb der Volksgruppe, die in den ersten Jahrzehnten des Kroatenballes 13 Ballbroschüre 2018, 17.

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Abb. 2: Großer Ballsaal im Parkhotel Schönbrunn 2020.

im Fokus standen, sind mit den technischen Errungenschaften des 21.  Jahrhunderts und der damit verbundenen und dem Zeitgeist entsprechend dauerhaften „Vernetzung“ erweitert worden. Der Ball ist zu einem Event der Zusammenkünfte und einem Ort der Begegnung der Volksgruppen, Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung geworden. Der Brückenschlag zwischen der kroatischen Volksgruppe und Kroat*innen neuerer Migrationsbewegungen, anderer Volksgruppen und zur deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung ist in den Besucherstatistiken zwischen 2013 und 2020 klar erkennbar. Im Durchschnitt war die Aufteilung der Gäste vor allem in drei Bereichen recht ausgeglichen: Angehörige der kroatischen Volksgruppe in Wien (24,5 Prozent) und im Burgenland (24 Prozent) und Gäste aus Wien bzw. Restösterreich (23 Prozent) waren in fast gleicher Höhe vertreten. Dazu kommen auch noch 7  Prozent Burgenländische Kroat*innen aus den Nachbarstaaten Österreichs. Wiener Kroat*innen aus neueren Migrationsbewegungen waren mit durchschnittlich 17  Prozent vertreten, Gäste aus der Republik Kroatien hingegen mit 5  Prozent.14 Die kroatische Volksgruppe diesseits und jenseits der Stadt- und auch Staatsgrenze ist somit nach wie vor die Kerngruppe des Publikums beim Kroatenball. Dass durchschnittlich aber fast ein Viertel des Publikums nicht der Volksgruppe zugehörig ist oder zur Mehrheitsbevölkerung gehört, bestätigt die Intention und das Ziel der Organisator*innen, ein Treffpunkt verschiede14 Die Besucher*innenstatistik wurde auf Basis der Kartenbestellungen und Herkunftsländern der Akteur*innen erstellt.

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ner Kulturen und auch Sprachen zu sein. Der Ball als Treffpunkt der Kulturen wurde in den Jahren 2018 und 2019 noch um eine zusätzliche Ebene erweitert. Aus Hrvati meet Schönbrunn wurde 2018 Hrvati & Slovenci meet Schönbrunn, „die Kärntner Slowen*innen zu Gast bei den Kroaten in Schönbrunn“. Mit diesem Zusammenschluss bzw. dieser minoritären Allianz sollte – neben aller Musik und Unterhaltung beim Ball – auch auf die Zusammenarbeit und volkgruppenübergreifenden Forderungen und Ziele hingewiesen werden: Mit seinem diesjährigen Motto will dieser Ball die Zusammenarbeit mit verschiedenen slowenischen Organisationen in Wien, Kärnten und der Steiermark in den Vordergrund stellen, gerade auch hinsichtlich weiterer Aktivitäten für ein neues Volksgruppengesetz, für ein dringend notwendiges Gesetz zur Erhaltung der Volksgruppenmedien sowie für eine Lösung der Schulfrage für Wien und die Steiermark, und auch für eine stärkere finanzielle Unterstützung durch die Republik Österreich.15

Neben den Aufritten slowenischer Musikgruppen und erstmals dreisprachiger Moderation wurde hier auch die minderheitenpolitische Komponente eines solchen Zusammenschlusses betont. Im Jahr 2019 war „Das multiethnische Slawonien zu Gast im mehrsprachigen Wien“. Hier wurde einerseits wieder die sprachliche Diversität Wiens und damit auch die Zugehörigkeit zur Stadt betont, andererseits ging es in diesem Jahr auch um grenzüberschreitende Allianzen und Vernetzungen innerhalb der Volksgruppen Europas, mit gleichzeitigem Bezug zur heutigen Republik Kroatien: Die Verbundenheit und grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht nur innerhalb der Volksgruppe, sondern auch mit den Volksgruppen und Minderheiten in Österreich und in den letzten Jahren verstärkt auch auf europäischer Ebene – insbesondere im Rahmen der FUEN16 – soll hier zum Ausdruck kommen. In Kroatien leben 22 anerkannte ethnische Minderheiten und Volkgruppen, und Großteil davon in der Region Slawonien [...].

15 Ballbroschüre 2018, 9. 16 FUEN – Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, der größte Dachverband autochthoner Minderheiten, Nationalitäten und Sprachgemeinschaften Europas.

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Die hier betonte Gemeinsamkeit liegt demnach in der Vielfalt und Diversität. Minderheitenpolitik und damit verbundene Themen werden vor allem durch dieses gemeinsame Auftreten der Minderheiten und einer Demonstration dessen, wie aktiv gebrauchte Mehrsprachigkeit – und nicht nur Zweisprachigkeit – im öffentlichen Raum aussieht bzw. aussehen könnte, hervorgehoben. In Zusammenhang mit diesem durchaus politischen Ansinnen des Wiener Kroatenballs ist anzumerken, dass Parteipolitik am Wiener Kroatenball nicht vertreten ist, da im Gegensatz zu anderen Bällen Politiker*innen keine Reden halten oder sich inszenieren dürfen.

„NACHHALTIGE SICHTBARKEIT“ – DER WIENER KROATENBALL ALS KREATIVER MOTOR

Neben der Sichtbarkeit als Volksgruppe und auch Sprachgruppe im urbanen Kontext der Millionenstadt Wien, der Verbindungsaufnahme zu anderen Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung bietet der Wiener Kroatenball auch Raum und Bühne für künstlerische und vor allem musikalische Kreativität und erweist sich in dieser Form immer wieder als fruchtbarer Boden für neue Projekte und Ausdrucksformen kultureller Inhalte. Projekte und Formationen, die anlässlich des Balles konzipiert oder gegründet wurden, bleiben in einigen Fällen auch lang nach ihren Auftritten am Wiener Kroatenball bestehen und leisten somit auch abseits lang vergangener Ballnächte noch ihren Beitrag zur Sichtbarkeit der kroatischen Volksgruppe. Das schon erwähnte Folkloreensemble der burgenländischen Kroat*innen Kolo Slavuj tanzt auch 50 Jahre nach dem Ball 1971 noch über die Bühnen. Herausstechend unter allen diesen Projekten sind die Basbaritenori mit Willi Resetarits, dem Musiker mit Wurzeln im südburgenländischen Stinatz (Stinjaki) und damit dem wohl bekanntesten Vertreter der kroatischen Volksgruppe in Österreich. Nach Gründung und erstem Auftritt beim Kroatenball im Jahr 2007 ist dieses Vokalensemble mittlerweile in ganz Österreich (und darüber hinaus) bekannt und tritt mit neu arrangierten (Volks-)Liedern meist außerhalb des kroatischen „Mikrokosmos“ auf. Mit gefüllten Konzertsälen gehört das A-Capella-Ensemble mittlerweile zu den bekanntesten „Visitenkarten“ der kroatischen Volksgruppe, und trägt somit sehr viel zur Sichtbarkeit und Wahrnehmung der burgenländischen Kroat*innen in der Öffentlichkeit bei. Einer der Ansprüche des Balles, immer etwas Neues zu bieten und auch Nachhaltiges zu schaffen, erweist sich demnach als kreativer Motor, vor allem

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im musikalischen Bereich. Selbst Corona war kein Hindernis für den Wiener Kroatenball als kreativem Nährboden. Aufgrund der pandemiebedingten Absage der gesamten Ballsaison 2020/2021 wurde der Wiener Kroatenball am 23.01.2021, eine Woche nach dem ursprünglich geplanten Austragungsdatum, in den digitalen Raum verlegt. Die erste Online-Ausgabe des Balles fand nicht in gewohnter Form und mit gewohntem Ablauf statt; geboten wurde ein speziell konzipiertes musikalisch-textliches Programm mit dem Titel „Kroaten und andere Wiener in Text und Lied“.17 Da dies unter der Schirmherrschaft und unter der Marke Wiener Kroatenball gestaltet und aufbereitet wurde, ist diese Online-Event gerade im Kontext der Sichtbarkeit der Volksgruppe im urbanen Raum und gerade in Verbindung mit Wien von höchster Relevanz. Die Ausgangsidee war, eine Wiener Tradition, nämlich den Ball, durch eine andere Wiener Tradition, das Wienerlied, zu ersetzen bzw. Letzteres in Vertretung erscheinen zu lassen. In einem knapp einstündigen Programm wurden im leeren Ballsaal des Parkhotels Schönbrunn Wienerlieder dargeboten, in denen die stereotype Figur des „Kroaten“ auftritt: meist von verminderter Intelligenz, nach Zwiebel und Knoblauch stinkend und oft konnotiert mit Essen. „Der Mensch ist kein Krawat, er lebt nicht nur allani vom Salat“,18 heißt es zum Beispiel in einem Lied aus dem Jahr 1875 und drückt hier die überspitze Dichotomie von (kultiviertem) Mensch und Kroaten eindrücklich aus. In der Onlineversion des Balles kam demnach die Wiener Komponente noch einmal verstärkt zum Ausdruck. Die gelesenen Texte zwischen diesen weitgehend eher wenig bekannten Wienerliedern richteten wiederum den Fokus auf den Kontext des Kroatenballes und seine Geschichte. Neben dem erhofften Unterhaltungswert für das Publikum während eines Lockdowns gab es hier auch die klare Intention, auf die lange Geschichte der kroatischen Volksgruppe in Wien hinzuweisen, die noch viel älter ist als das Burgenland, wo man diese Volksgruppe gerne einzig verortet. Vor allem Sichtbarkeit und Reichweite betreffend ist das pandemiebedingte Alternativprogramm im digitalen Raum hervorzuheben: Am Abend der Ausstrahlung selbst betrug die Anzahl der Views um die 1100, mit Ende 2021 wurde das Programm ca. 3000 Mal abgerufen. Während des „Ballabends“ wurde das Publikum dazu motiviert, Fotos von sich am digitalen Ballabend 17 Vgl. https://youtu.be/32m9XUXBBO8, letzter Zugriff: 29.03.2022. 18 Das Lied Der Mensch ist kein Krawat! (Liedtext v. G. Schöpl, Musik v. C. Schufinsky) ist in der Datenbank des Wiener Volksliedwerkes auffindbar. Vgl. https:// www.wienervolksliedwerk.at/archiv.php?sid=15, letzter Zugriff: 29.03.2022.

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zu schicken oder auf sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Besonders durch diese interaktive Komponente wurde versucht, die Verbindung und Verbundenheit des Kroatenballes zu seinem Publikum aufrechtzuerhalten bzw. auch in herausfordernden Zeiten weiter zu pflegen. Es gilt hinzuzufügen, dass durch dieses Format auch Publikum erreicht wurde, das bis dahin noch nie einen Ball besucht hatte, entweder aus geographischen Gründen oder aus einer prinzipiellen Abneigung gegenüber Tanzveranstaltungen in Abendgarderobe. Neben der Sichtbarkeit im virtuellen Raum fand bei dieser Corona-Edition die Marke Hrvatski bal – Wiener Kroatenball nicht nur über die Bildschirme den Weg zum Publikum nach Hause, sondern auch mit einem Ballpaket, das in der Woche vor der Ausstrahlung des Online-Balles erworben werden konnte. Das schon bekannte Logo des Balles war somit beim Publikum in mehreren Formen omnipräsent: auf dem Ballwein, Masken, und auf einer Tafel Schokolade. Trotz Pandemie und Lockdown sollte der Wiener Kroatenball sichtbar sein und damit auch die Verbundenheit zum Publikum präsent bleiben. Auch 2022 wurde der Hrvatski Bal pandemiebedingt in den virtuellen Raum verlegt.19 Der 75.  Wiener Kroatenball en suite wurde zum „Kronjuwelenball“ erklärt – anlehnend an die Kronjuwelenhochzeit, die nach 75 gemeinsamen Ehejahren gefeiert wird. Anders als im Jahr zuvor wurde in diesem Jahr das Programm an die Bälle aus analogen Zeiten angelehnt: „Heuer erwartet Sie viel Tanzmusik und Auftritte von Ensembles und Gruppen, die den Wiener Kroatenball schon viele Jahre und sogar Jahrzehnte prägen“,20 wurde in der Ballbroschüre angekündigt. Innerhalb von 2 Stunden und 40 Minuten wird in diesem Onlineprogramm ein Hrvatski bal in altbekannter, aber komprimierter Form geboten, inklusive Eröffnung, drei verschiedenen Tanzmusiken, einer Kvadrilja und einer „Mitternachtseinlage“ am Ende des Programmes. Mit diesem 75. Hrvatski Bal online wurde nicht nur die Kontinuität dieser Institution bewahrt, sondern auch eine Art Visitenkarte des Balles in Videoform geschaffen, die auch außerhalb der Mauern des Parkhotels Schönbrunn und weit über den ersten Ausstrahlungstermin verfügbar ist. Beide OnlineAusgaben des Balles wurden tausendfach angeklickt und auch über die österreichischen und europäischen Grenzen hinaus rezipiert.

19 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=8vpgHBJSngs, letzter Zugriff: 29.03.2022. 20 Ballbroschüre 2022, 8.

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ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNGEN

Zurückblickend auf die Bälle seit dem re-branding von 2013 ist die Signifikanz dieses Neustarts für die Bedeutung dieser Institution sehr gut belegbar. Neben dem neuen Logo bzw. der visuellen Marke Wiener Kroatenball und dem damit verbundenen Erkennungswert geht aus den Darstellungen klar hervor, dass mit dem Shift im Fokus des Balles auf seine Besonderheiten eine besondere Melange der Wiener Ballkultur geschaffen wurde: Beide Faktoren, sowohl der kroatische als auch der Wiener Faktor, die für die meisten Beteiligten zu Selbstverständlichkeiten gehören, werden nicht mehr als selbstverständlich verstanden, sondern gezielt hervorgehoben. Mit dieser Mischung und der bewussten Erweiterung des Zielpublikums werden mehrere Perspektiven bedient: Für die Wiener Bevölkerung ist die kroatische Komponente die Besonderheit des Balles, für das kroatische Publikum ist die Wiener Komponente die Besonderheit des Balles. „Der Ball ist damit zum Einen das gesellschaftliche Ereignis der Kroat*innen in Wien und Ausdruck der Gemeinsamkeit der kroatischen Kultur und Sprache in der Großstadt, zum Anderen ist der Ball auch Ausdruck der Anerkennung, ein Zeichen des Selbstwertgefühls, sich in der Öffentlichkeit als Volksgruppe zu präsentieren.“21 Die klare Verortung im urbanen Raum und in der Großstadt Wien funktioniert aus beiden Perspektiven und lässt sich nicht nur anekdotisch, sondern auch anhand von Zahlen untermauern. Der Wiener Kroatenball trägt somit einen großen Teil zur Sichtbarkeit der kroatischen Volksgruppe im urbanen Raum bei, von der auch jene im primären Siedlungsgebiet der burgenländischen Kroat*innen diesseits und jenseits der Staatsgrenzen profitieren. Dabei ist auch die am Ball gegebene Sichtbarkeit innerhalb der Volksgruppe nicht zu unterschätzen: Vernetzung zu anderen Gruppen und auch innerhalb der Volksgruppe im Laufe dieses einen Abends im Jänner wirkt oft in den restlichen 364 Tagen des Jahres nach. Das Sprichwort „Beim Reden kommen die Leut’ z’samm“ führt der Wiener Kroatenball gekonnt zu einer weiteren Stufe fort: „Beim Tanzen kommen die Leut’ z’samm“, in alter Wiener Tradition und in kroatischer Interpretation. Literaturverzeichnis

Fercak, Michaela: Urbanisierung einer Volksgruppe. Die Arbeitsmigration Burgenländischer Kroaten nach Wien 1870–1945, Dipl.-Arb., Wien 2010. 21 Ballbroschüre 2013, 10.

Die Rolle des Wiener Kroatenballs

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Hrvatske Novine, 15.2.1922, broj 7. Hrvatske Novine, 23.1.1937, broj 4. Hrvatski Bal – Wiener Kroatenball. Ballbroschüre 2013. Hrvatski Bal – Wiener Kroatenball. Ballbroschüre 2018. Karas, Christa: Zu Gast beim Kaiser, in: Wiener Journal 07, 2008. Klagenfurter Zeitung, 28.08.1863, Nr. 195. Schedl, Christine: Phänomen Tamburizza. Zur Genese eines burgenlandkroatischen Identitätssymbols, in: Hemetek, Ursula (Hg.): Musik der Kroaten im Burgenland (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland – Bd. 110), Eisenstadt 2004, S. 37– 50. Tyran, Katharina Klara: Identitäre Verortungen entlang der Grenze. Verhandlungen von Sprache und Zugehörigkeit bei den Burgenländischen Kroaten, München-Berlin-Leipzig-Washington/D.C. 2015. Tyran, Katharina Klara: Zwischen autochthon, Region und Nation: Konzeptualisierungen österreichischer Volksgruppen, in: Hitzke, Diana (Hg.): Dominanz und Innovation: Epistemologische und künstlerische Konzepte kleiner europäischer und nichtwestlicher Kulturen. Bielefeld 2021, S. 95–117. Walterskirchen, Gundula/Baumgartner, Bernhard: Der Wiener Fasching: Die Zeit der Bälle und Walzer. Wien 2001. Wiener Volksliedwerk – Datenbank, https://www.wienervolksliedwerk.at/archiv. php?sid=15, letzter Zugriff: 29.03.2022. 74.  Hrvatski Bal – Wiener Kroatenball, https://youtu.be/32m9XUXBBO8, letzter Zugriff: 29.03.2022. 75.  Hrvatski Bal – Wiener Kroatenball, https://www.youtube.com/watch?v=8vpgH BJSngs, letzter Zugriff: 29.03.2022. Abbildungsnachweis

Abb. 1: Bildrechte: Phillip Hauck-Tyran. Abb. 2: Bildrechte: Michael Hedl.

VON NORDMAZEDONIEN NACH WIEN: EINE STATISTISCHE UND ETHNOGRAPHISCHE UNTERSUCHUNG NORDMAZEDONISCHER GEMEINDEN UND KULTURVEREINE (2002–2021) 1 Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

„Anfang 2020 waren 30,8 % der Wiener*innen ausländische Staatsbürger*innen, 36,7 % waren im Ausland geboren, 41,3 % hatten eine ausländische Herkunft, und im Jahresdurchschnitt 2019 hatten rund 45,9 % Migrationshintergrund“.2 In den Jahren 2004–2013 betrug die Zuwanderung aus Südosteuropa rund 40 Prozent der Gesamtzuwanderung nach Österreich, im Jahr 2013 sogar 50,3 Prozent.3 Daran erkennt man, welche Bedeutung Südosteuropa als Herkunftsregion für Österreich und insbesondere Wien hat. Die Zuwanderung aus Nordmazedonien4 nach Österreich hat bisher wesentlich weniger Aufmerksamkeit und Forschungsinteresse hervorgerufen als die zahlenmäßig stärkere 1 Dieser Beitrag ist ein Ergebnis des Forschungsprojektes North Macedonians in Vienna: Associations, Agency and Transnational Networks am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Robert Pichler, Darko Leitner-Stojanov, Siegfried Gruber, 01.09.2020–31.08.2021), finanziert von der Magistratsabteilung 7 der Stadt Wien. Wir danken Robert Pichler für seine Unterstützung und wertvollen Kommentare zu diesem Beitrag. 2 Stadt Wien, 2020, 19. 3 Fassmann, 2017, 127. Er verstand unter Südosteuropa die folgenden Länder: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien, Slowenien und Ungarn. Kosovo wurde nicht extra ausgewiesen. 4 Makedonien wurde 1945 als eine Teilrepublik Jugoslawiens erstmals als eigenständige Gebietseinheit konstituiert. 1991 erklärte sich die Republik Mazedonien unabhängig, erlangte jedoch aufgrund eines Vetos Griechenlands wegen des Staatsnamens (der sich mit der gleichnamigen Region in Nordgriechenland deckt) keine vollständige internationale Anerkennung. 2019 konnte der Konflikt mit Griechenland beigelegt werden, man einigte sich auf den neuen Namen Nordmazedonien. 2020 trat Nordmazedonien der NATO bei. Die EU-Integration wird aber von Bulgarien blockiert, das sich weigert, die Eigenständigkeit der mazedonischen Sprache anzuerkennen.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

Zuwanderung aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien. Das trifft auch auf die internationale Forschung zu, so werden etwa in einer Enzyklopädie zur Migration in Europa verschiedene Migrantengruppen ausführlicher behandelt, die Zuwanderung aus Nordmazedonien kommt dabei aber nicht zur Sprache.5 Auch in Arbeiten zur Migrationsgeschichte Wiens wird Nordmazedonien nicht immer angeführt,6 während zu anderen Herkunftsländern einige Arbeiten vorhanden sind.7 Der Schwerpunkt dieser Veröffentlichungen liegt auf den wirtschaftlichen Aspekten der (Arbeits-)Migration.8 In gleicher Weise sind auch die Vereine der aus Nordmazedonien stammenden Wiener*innen9 bisher wissenschaftlich kaum erforscht worden.10 Wien ist seit den 1960er Jahren ein wichtiges Ziel nordmazedonischer Arbeitsmigrant*innen.11 Aufgrund bestehender transnationaler Netzwerke und der zu erwartenden stärkeren Anbindung an die EU ist in Zukunft mit einer zunehmenden Immigration aus Nordmazedonien nach Österreich und insbesondere nach Wien zu rechnen. Deshalb ist eine Untersuchung der Wiener Bevölkerung mit nordmazedonischer Herkunft und ihrer Organisationen von entsprechendem Interesse. Siegfried Gruber präsentiert zuerst statistische Aspekte der Zuwanderung aus Nordmazedonien nach Wien und dann einige Merkmale der Wiener*innen mit nordmazedonischer Herkunft und Darko Leitner-Stojanov zeigt auf, welche Vereine von Migrant*innen aus Nordmazedonien in Wien gegründet wurden, wie diese aufgebaut sind, welche Mitglieder sie haben und welche Profile diese Vereine aufweisen. Wir kombinieren hier Methoden aus demographischer und ethnographischer Forschung, um das Potenzial zweier sehr unterschiedlicher, aber letztlich komplementärer Ansätze zur Frage von Migration und Zeitgeschichte aufzuzeigen. 5 6 7 8

Bade, 2007. Z. B. John/Lichtblau, 1990. Baučić, 1977; Leitner, 1983; Lichtenberger, 1984. Brunnbauer, 2009; Ivanović, 2013; Kohlbacher/Reeger, 2013; Lorber, 2017; Gürses/ Kogoj/Mattl, 2004; Initiative Minderheiten 2010. 9 Wenn wir über eine bestimmte ethnische Gemeinschaft schreiben, verwenden wir das entsprechende Ethnonym, und wenn wir über Einwanderer*innen und Gemeinschaften in Wien schreiben, die aus Nordmazedonien kommen, verwenden wir allgemeine Verweise wie „Menschen aus Nordmazedonien“. Der multikulturelle Charakter Nordmazedoniens zeigt sich an seiner Zusammensetzung: Neben Mazedonier*innen und Albaner*innen leben Türk*innen, Roma/Romnji, Serb*innen, Vlach*innen und Bosniak*innen im Land. 10 Z. B. Vocelka, 2013. 11 Schmitt, 2014.

Von Nordmazedonien nach Wien

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1. FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSMETHODEN

Die Beantwortung des ersten Fragenkomplexes beruht auf den Daten der amtlichen Statistik. Seit 2002 wird die Zuwanderung aus Nordmazedonien von der österreichischen Statistik als eigenständige Kategorie geführt und deshalb können erst seit diesem Zeitpunkt genauere Aussagen über die Zuwanderung aus diesem Land getroffen werden. In den Statistiken wird allerdings nicht nach Sprache, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit unterschieden, sodass die beiden großen Gruppen der slawischen, mehrheitlich orthodoxen, und der albanischen, mehrheitlich muslimischen, Auswanderer*innen aus Nordmazedonien in statistischer Hinsicht nicht verglichen werden können. Wenn wir von Migrant*innen aus Nordmazedonien schreiben, meinen wir hier das Geburtsland Nordmazedonien, weil sich dieses Merkmal im Gegensatz zur Staatsbürgerschaft nicht verändern kann.12 Die Daten der Abgestimmten Erwerbsstatistik 2018 ermöglichen neben Auswertungen von Berufsgruppen auch die Analyse von Haushalten anhand der Merkmale der Referenzperson. Diese ist die älteste Person in Einfamilienhaushalten und Nichtfamilienhaushalten (Einpersonenhaushalte und Mehrpersonenhaushalte ohne Kernfamilie) bzw. die älteste Person der Kernfamilie der mittleren Generation in Haushalten mit zwei oder mehr Familien. Als Vergleich zur Einwanderung aus Nordmazedonien verwenden wir die Einwanderung aus den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens bzw. bei der Untersuchung der jeweiligen Einwandererbevölkerung die Gesamtbevölkerung Wiens oder die in Österreich geborenen Wiener*innen. Um das Wissen aus offiziellen Quellen zu ergänzen, hielten wir es für wichtig, einen vertieften Einblick in die Strukturen und Funktionsweisen von nordmazedonischen Vereinen in Wien geben. Dazu haben wir die Methode der oral history gewählt und mit Vertreter*innen von Vereinen Interviews durchgeführt. Die ethnographische Forschung kann unser Wissen über Diasporagemeinschaften erheblich bereichern. Wie C. Brettell schreibt, kann: „[...] a handful of personal narratives [...] teach us a good deal about pattern, structure, culture, and the role of the individual in the migration process“.13 Zu diesem Zweck stellen wir in diesem Abschnitt einige Ergebnisse einer Feldforschung vor, die hauptsächlich auf halbstrukturierten Audiointerviews in mazedonischer Sprache (begleitet von 12 Mit der Ausnahme, dass sich das Geburtsland durch politische Ereignisse verändert, wie z.B. mit dem Ende Jugoslawiens. 13 Brettell, 2003, 24.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

Feldnotizen) im Zeitraum zwischen November 2020 und April 2021 basiert.14 Es handelt sich um einen ersten Schritt zur Erforschung der nordmazedonischen Vereine als Teil der Wiener Kulturlandschaft, in dem Einblicke in Strukturen, Vernetzungen und Aktivitäten gegeben werden. Bei der Feldforschung traten zwei Hauptschwierigkeiten auf: die gravierenden Einschränkungen des Lockdowns aufgrund der Pandemie und die Schwierigkeit, an die albanischstämmigen Vereine in Wien heranzukommen. Der Lockdown in Österreich überschnitt sich mit der Feldforschung, was zu Schwierigkeiten bei der persönlichen Terminabsprache, des Wiedersehens von Personen oder zum erneuten Besuch von Orten sowie zur Einschränkung der Beobachtung und Teilnahme an kulturellen Aktivitäten und Praktiken führte. Darüber hinaus wurden trotz anfänglicher freundschaftlicher Kommunikation einige der geplanten Interviews mit albanischstämmigen Befragten abgesagt. Trotz dieser Schwierigkeiten war es möglich, ein Dutzend Interviews zu führen und Feldforschungsnotizen zu erstellen, die einen wertvollen Einblick in die Mikrowelt dieser Verbände geben und die Tür für weitere und detailliertere Recherchen öffnen.

2. DIE ZUWANDERUNG AUS NORDMAZEDONIEN NACH WIEN

Historische Untersuchungen belegen, dass es bereits vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine Zuwanderung aus der Region Makedonien nach Wien gegeben hat.15 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Wien zu einem wichtigen Ziel von Diasporagruppierungen linker wie rechter Provenienz aus verschiedenen südosteuropäischen Staaten, darunter waren auch makedonische Revolutionäre, die für ein autonomes Makedonien kämpften.16 Ausgehend von Griechenland und Jugoslawien entwickelte sich Südosteuropa seit den 1950er Jahren zu einer ausgeprägten Auswandererregion, bis 2010 belief sich die Nettoauswanderung auf rund 5 Millionen Menschen, oder etwa ein Zehntel der Bevölkerung.17 Der Anteil der Wiener*innen mit Herkunft aus dem (ex-)jugoslawischen Raum war in den letzten beiden Jahrzehnten mit etwas unter einem Zehntel konstant und wurde erst im letzten Jahr14 Die Interviews wurden für die Analyse transkribiert und werden in diesem Beitrag in deutscher Übersetzung verwendet. 15 Zdraveva, 2002. 16 Kolarova, 2015. 17 Fassmann, 2017, 125 f.

Von Nordmazedonien nach Wien

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zehnt als wichtigste Herkunftsregion von den neuen EU-Mitgliedsstaaten ab 2004 abgelöst.18 Die Zuwanderung aus Jugoslawien seit 1961 nach Wien war keine gleichmäßige, sondern erfolgte in unterschiedlichen Phasen. Von 1961 bis 1973 war die Zeit der „Gastarbeitermigration“ aufgrund von Anwerbeabkommen mit Jugoslawien und der Türkei.19 Die Bedeutung Jugoslawiens als Zuwanderungsland erkennt man daran, dass 78,5 Prozent der ausländischen Arbeitskräfte im Jahr 1973 von dort stammten.20 Aufgrund der Ölkrise des Jahres 1973 wurden diese Abkommen nicht mehr erneuert und es folgte eine Phase mit nur geringer Zuwanderung. In den Jahren um 1990 kam es wieder zu einer starken Zuwanderung aufgrund des Zerfalls Jugoslawiens und der kriegerischen Auseinandersetzungen, die damit einhergingen.21 Die Zuwanderung aus (Nord-)Mazedonien setzte im Vergleich zu den nördlichen jugoslawischen Republiken etwas verzögert ein und intensivierte sich dann Anfang der 1970er Jahre. 2001, als der albanisch-mazedonische Konflikt eskalierte, kam es vorübergehend zu einer verstärkten Fluchtmigration nach Österreich. Aufgrund fortdauernder staatlicher Beschränkungen verläuft die Zuwanderung seit Jahren vorwiegend über Heiratsmigration und Familienzusammenführungen: Im Zeitraum von 2002 bis 2019 kamen rund 7000 Männer aus Nordmazedonien nach Wien, während im selben Zeitraum rund 4000 Männer Wien wieder verließen, sodass es eine Nettozuwanderung von rund 3000 Männern gab. Die Zuwanderung von Frauen aus Nordmazedonien war mit rund 5000 Personen niedriger, die Abwanderung mit 1700 Frauen ebenfalls, sodass die Nettozuwanderung mit 3300 Frauen ungefähr jener der Männer aus Nordmazedonien entsprach.22 2019 lag Nordmazedonien an 17.  Stelle der Länder mit der stärksten Zuwanderung nach Österreich,23 wobei Wien mit fast der Hälfte aller Z ­ uwander*innen mit Abstand die wichtigste Destination ist.24 Im Zeitraum von 2009 bis 2018 wurde 926 Nordmazedonier*innen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Die Einbürgerungen nahmen in letzter Zeit zu, im Jahr 2018 machten sie bereits mehr als die Hälfte des Migrationssaldos aus.25 Im Jahr 2020 stand Nordmazedonien bei den Herkunftsländern der 18 Stadt Wien, 2019, 9. 19 Bakondy, 2017; Stadt Wien, 2019, 4 f. 20 Fassmann/Reeger, 2008, 10. 21 Stadt Wien, 2019, 4 f. 22 STATcube. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Statistik Austria, 2021, 82 f.; Stadt Wien, MA 23.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

Karte 1: Anteil der in Nordmazedonien geborenen Wiener*innen nach Bezirken. Quelle: STATcube.

­ inbürgerungen in Österreich an neunter Stelle, während sich drei NachfolgeE staaten Jugoslawiens unter den ersten vier befanden: Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kosovo.26 Die Zuwander*innen aus Nordmazedonien von 2002 bis 2019 waren zum Großteil junge Menschen: die Altersgruppe 15 bis 29 Jahre umfasste rund die Hälfte von ihnen, die nächstgrößere Gruppe umfasste die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen, woraus sich schließen lässt, dass es sich vornehmlich um eine Arbeitsmigration handelt. Bildungsmigration spielte eine geringere Rolle, wie aus dem Bildungsstand der Zuwander*innen ersichtlich ist (siehe unten). In der Altersgruppe der 60- bis 74-jährigen Männer aus Nordmazedonien war die Migrationsbilanz sogar negativ, das heißt, dass es auch Rückwanderung von Pensionisten nach Nordmazedonien gab.27 Die Zuwanderer aus den postjugoslawischen Ländern verteilen sich nicht gleichmäßig innerhalb Wiens. Die größte Anzahl von ihnen lebt in Favoriten, dem einwohnerstärksten Bezirk Wiens. Die in Ex-Jugoslawien gebürtigen Wiener*innen machen 9,3 Prozent der Wiener Bevölkerung aus und in einigen Bezirken steigt der Anteil auf 13 bis 15 Prozent (Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Favoriten). In diesen drei Bezirken ist auch der Anteil der in Nord26 Statistik Austria, 2021, 91. 27 STATcube.

Von Nordmazedonien nach Wien

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mazedonien geborenen Wiener*innen mit über einem Prozent am höchsten, während er in den innerstädtischen bürgerlichen Bezirken28 bei einem Drittel davon liegt [Karte 1]. Die in Nordmazedonien geborenen Wiener*innen machen in den Arbeiter*innenbezirken29 0,9  Prozent der Bevölkerung aus, während es in den Außenbezirken30 nur 0,5  Prozent und in den bürgerlichen Bezirken noch weniger mit nur 0,3 Prozent sind (Stand 01.01.2021). Wenn man alle in den ex-jugoslawischen Ländern Geborenen zusammennimmt, so machen diese in den Arbeiter*innenbezirken 12,4 Prozent der Bevölkerung aus, während es in den anderen beiden Bezirksgruppen nur rund die Hälfte ist: 7,0 bzw. 6,1 Prozent.31 Eine Untersuchung der ethnischen Segregation von 1981 bis 2005 in Wien ergab, dass Leute aus Ex-Jugoslawien und der Türkei stark von Österreicher*innen, Deutschen und Pol*innen getrennt lebten, diese beiden Herkunftsgruppen aber nicht so stark voneinander getrennt waren. Von 1991 bis 2001 verringerte sich die räumliche Segregation allerdings. „Aus räumlicher Perspektive wesentlich ist, dass ethnische Segregation in Wien nicht so sehr viertelsweise, sondern eher block- und hausweise („Ausländerhäuser“) in Erscheinung tritt“.32 Merkmale der Zuwander*innen aus Nordmazedonien in Wien

Am 1. Jänner 2021 lebten 1.920.949 Menschen in Wien und fast ein Zehntel von ihnen wurde in Jugoslawien bzw. einem seiner Nachfolgestaaten geboren. Sie verteilen sich allerdings nicht gleichmäßig auf diese Staaten: ungefähr die Hälfte von ihnen stammt aus Serbien, ein Viertel aus Bosnien-Herzegowina und die übrigen fünf Länder machen das restliche Viertel aus. Rund sieben Prozent der in Ex-Jugoslawien geborenen Wiener*innen sind in Nordmazedonien geboren, das sind 0,66  Prozent der Wiener Bevölkerung. Serbien ist auch das wichtigste Ursprungsland der Wiener Bevölkerung mit ausländischer Herkunft, sowohl nach Herkunft wie auch nach Staatsbürgerschaft. Bosnien-

28 Innere Stadt, Landstraße, Wieden, Mariahilf, Neubau, Josefstadt, Alsergrund, Hietzing, Währing und Döbling. 29 Leopoldstadt, Margareten, Favoriten, Simmering, Meidling, Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring, Hernals und Brigittenau. 30 Penzing, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing. 31 STATcube. 32 Kohlbacher/Reeger, 2006, 51 f.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

Herzegowina und Kroatien zählen ebenfalls noch zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern der Wiener Bevölkerung.33 Tabelle 1: Einwohner*innen von Wien, geboren im (post)jugoslawischen Raum, am 01.01.2021. Anzahl

Prozentanteil

Serbien

89.802

50,5

Bosnien-Herzegowina

46.412

26,1

Kroatien

15.191

8,5

Nordmazedonien

12.751

7,2

Kosovo

9189

5,2

Slowenien

3646

2,0

986

0,6

177.977

100,0

Montenegro Insgesamt Quelle: STATcube.

In den Haushalten mit einer Referenzperson aus dem postjugoslawischen Raum leben allerdings mehr Menschen, als in diesem Raum geboren worden sind. Das ist vor allem auf die bereits in Österreich bzw. Wien geborenen Kinder zurückzuführen und zu einem geringeren Ausmaß auf Partner*innen aus einem anderen Geburtsland. In diesen Haushalten lebten rund ein Drittel mehr Menschen, als im postjugoslawischen Raum geboren wurden, bei den Haushalten mit einer Referenzperson (entspricht ungefähr einem Haushaltsvorstand in früheren Statistiken) aus dem Kosovo oder Nordmazedonien ist der Anteil allerdings höher. Das rührt vor allem von der jüngeren Altersstruktur dieser Zuwanderergruppen her, wodurch deren Kinder noch zu einem höheren Ausmaß in den Haushalten ihrer Eltern leben als bei älteren Zuwanderergruppen, wo diese bereits eigene Haushalte bilden.34 Haushalte in Wien sind durchschnittlich sehr klein: 2018 lebte die Hälfte der in Österreich geborenen Wiener*innen als Einzelpersonen, unter in Nordmazedonien geborenen Wiener*innen war dieser Anteil weniger als ein Fünftel. Im Gegensatz dazu ist der häufigste Haushaltstyp bei dieser Gruppe „Paar mit Kind(ern)“ (über 40  Prozent) und über sieben Prozent ihrer Haushalte bestehen aus mehr als einer Familie. Die durchschnittliche Größe der Haushalte von in Österreich geborenen Wiener*innen beträgt nur 1,8 Personen, im 33 Stadt Wien, 2020, 35. 34 STATcube.

Von Nordmazedonien nach Wien

127

Gegensatz dazu beträgt dieser Wert bei in Nordmazedonien geborenen Wiener*innen 3,2 Personen.35 Ein Vergleich des Bildungsniveaus von Männern der Altersgruppe 25 bis 64 Jahre im Jahr 2018 zeigt, dass fast die Hälfte der in Nordmazedonien, Kosovo, und Serbien geborenen Wiener nur einen Pflichtschulabschluss und ein weiteres Drittel einen Lehrabschluss hat, während es bei den in Österreich geborenen Wienern ein Zehntel nur mit einem Pflichtschulabschluss und ein Drittel mit Lehrabschluss sind. Bei in diesen drei Ländern geborenen Wienerinnen hat sogar mehr als die Hälfte nur einen Pflichtschulabschluss und weniger als ein Fünftel einen Lehrabschluss, während es bei den in Österreich geborenen Wienerinnen nur ein Neuntel mit einem Pflichtschulabschluss und ein Fünftel mit einem Lehrabschluss sind. Man kann allerdings eine Zunahme des Bildungsniveaus von jüngeren Zuwander*innen im Vergleich zu älteren beobachten, wobei diese Zunahme bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern.36 Im Vergleich der Zuwanderergruppen zeichnen sich die Erwerbstätigen aus dem ehemaligen Jugoslawien (außerhalb der EU sowie Kroatien) durch einen hohen Anteil an Fachkräften mit mittlerer Qualifikation aus.37 Rund ein Viertel der in Österreich geborenen Wiener sind Arbeiter, mehr als die Hälfte Angestellte, ein Zehntel Selbständige bzw. Arbeitgeber und ein weiteres Zehntel sonstige Beschäftigte, vor allem öffentlich Bedienstete. Die Zuwanderer aus Nordmazedonien und Serbien sind zu drei Vierteln Arbeiter und weniger als ein Fünftel sind Angestellte. Selbständige und Arbeitgeber sind unter den Immigranten aus Ex-Jugoslawien ebenfalls schwächer vertreten als bei den in Österreich geborenen Wienern. Diesen niedrigeren beruflichen Status der aus Nordmazedonien stammenden Wiener kann man mit dem ebenfalls niedrigeren Bildungsstand in Beziehung setzen. Der Anteil an Arbeitern verringert sich in der zweiten Generation stark und dafür nehmen die Angestellten unter ihnen stark zu. Der Selbstständigenanteil unter Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (außerhalb der EU) und der Türkei ist der geringste unter allen Herkunftsgruppen.38

35 Ebd.; Stadt Wien, MA 23. 36 Ebd. 37 Statistik Austria, 2021, 10. 38 Ebd.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0

SE+MN

BH

NMK Arbeiter

KRO Angestellte

KOS

Ö

AUSL

Selbständige

Grafik 1: Stellung im Beruf 2018 in Wien nach Geburtsland, Männer 15–64 Jahre alt, in Prozenten. Quelle: STATcube/Stadt Wien, MA 23. Anmerkung: fehlende Prozente beziehen sich auf sonstige Beschäftigte, vor allem öffentlich Bedienstete.

In Österreich geborenen Wienerinnen sind nur sehr selten Arbeiterinnen (ein Achtel), zu drei Vierteln sind sie Angestellte. In Nordmazedonien geborene Wienerinnen sind zu mehr als der Hälfte Arbeiterinnen, nur die Zuwanderinnen aus Serbien haben einen noch höheren Anteil mit über 60 Prozent [Grafik 2]. In einem nächsten Schritt werfen wir einen Blick auf die Wirtschaftssektoren in Wien. Die Verteilung auf die Wirtschaftssektoren hängt nicht nur von den Vorlieben und Ausbildungen der zugewanderten Arbeitskräfte ab, sondern auch davon, welche Wirtschaftssektoren für sie geöffnet sind und welche ihnen verschlossen bleiben.39 Der sekundäre Sektor besteht vor allem aus Beschäftigten in Produktionsbetrieben und dem Bauwesen und beschäftigt rund jeden sechsten Wiener. Unter den Zuwanderern aus dem postjugoslawischen Raum beträgt der Anteil allerdings zwischen einem Viertel (Serbien) und rund 40 Prozent (Kosovo, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina). Die in Nordmazedonien geborenen Wiener haben den höchsten Anteil an Bauarbeitern unter allen ex-jugoslawischen Zuwanderern. Handel und Verkehr beschäftigen rund ein Fünftel der Wiener, das entspricht ungefähr dem Anteil 39 Siehe z.B. Fassmann, 1997.

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1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0

SE+MN

BH

NMK

KRO

Arbeiterinnen

KOS

Angestellte

Ö

AUSL

Selbständige

Grafik 2: Stellung im Beruf 2018 in Wien nach Geburtsland, Frauen 15–64 Jahre alt, in Prozenten. Quelle: STATcube/Stadt Wien, MA 23. Anmerkung: fehlende Prozente beziehen sich auf sonstige Beschäftigte, vor allem öffentlich Bedienstete.

100% 90%

80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

SE+MN

BH

NMK

Produktion + Bauwesen

KRO Handel + Verkehr

KOS

Wien

Dienstleistungen

Grafik 3: Wirtschaftssektoren 2018 in Wien nach Geburtsland bzw. ganz Wien, Männer 15–64 Jahre alt, in Prozenten. Quelle: STATcube/Stadt Wien, MA 23.

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100% 90%

80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

SE+MN

BH

NMK

Produktion + Bauwesen

KRO Handel + Verkehr

KOS

Wien

Dienstleistungen

Grafik 4: Wirtschaftssektoren 2018 in Wien nach Geburtsland bzw. ganz Wien, Frauen 15–64 Jahre alt, in Prozenten. Quelle: STATcube/Stadt Wien, MA 23.

bei den Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien. Der Dienstleistungssektor ist inzwischen bereits der wichtigste Wirtschaftssektor in Wien, die sonstigen Dienstleistungen beschäftigen bereits mehr als 60 Prozent der Wiener. Dieser Anteil ist mit 40 bis 50 Prozent etwas geringer unter den Zuwanderern aus dem postjugoslawischen Raum [Grafik 3]. Der sekundäre Sektor beschäftigt in Wien nur rund 5  Prozent der Wienerinnen und auch unter den Zuwanderinnen aus dem postjugoslawischen Raum sind es nicht viel mehr. Handel und Verkehr beschäftigen ebenfalls fast ein Fünftel der Wienerinnen; die in Nordmazedonien und Kosovo geborenen Wienerinnen sind zu einem Viertel in diesem Bereich tätig. Die sonstigen Dienstleistungen beschäftigen bereits drei Viertel der Wienerinnen, bei den Immigrantinnen aus den postjugoslawischen Ländern fast ebenfalls so viele. Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen (Reinigungsdienst usw.) und Handel sind die beiden wichtigsten Beschäftigungszweige der in Nordmazedonien geborenen Wienerinnen [Grafik 4].

Von Nordmazedonien nach Wien

131

3. NORDMAZEDONISCHE VEREINE IN WIEN

Seit dem Beginn der Arbeitsmigration aus Jugoslawien in den 1960er Jahren ist es zu zahlreichen Vereinsgründungen in Wien gekommen. Schwierig ist es jedoch, diese exakt mit Nordmazedonien in Beziehung zu bringen. In jugoslawischer Zeit waren Vereine zumeist auch als „jugoslawisch“ ausgewiesen, das heißt, man differenzierte nicht zwischen den Republiken oder ethnischen Gemeinschaften. Nach 1991 kam es zwar vielfach zu einer Neuausrichtung des Vereinswesens, bestehende Vereine wurden aber nicht umgehend nach nationalen Gesichtspunkten aufgesplittet oder durch neue Vereine ersetzt. Während bei Vereinen, die von ethnischen Mazedonier*innen gegründet wurden, häufig ein Bezug auf ihre ethnonationale Zugehörigkeit im Vereinsnamen anzutreffen ist, ist das bei albanischen Vereinen selten der Fall. Das liegt daran, dass sich die ethnischen Mazedonier*innen als staatsbildende Gemeinschaft begreifen, was sich auch im Staatsnamen abbildet. Die Minderheiten, wie die Albaner*innen (mit 25,17 Prozent im Jahr 2002 mit Abstand die größte Gruppe), die Türk*innen (3,85 Prozent), Roma/Romnji (2,66 Prozent), Serb*innen (1,78 Prozent), Bosniak*innen (0,84  Prozent) und Walach*innen (0,48  Prozent),40 verfügen entweder über einen eigenen Staat, oder sie existieren – wie die Roma/Romnji und Walach*innen – als Minderheiten und orientieren sich an kulturell (sprachlich, religiös) verwandten Gruppen. Abgesehen von ethnonationalen Zuordnungen tragen Vereine aus Nordmazedonien häufig auch den Namen der Stadt oder des Dorfes, aus dem die Menschen stammen. Andere Vereine wiederum tragen ihre religiös oder sportlich konnotierte Ausrichtung in ihren Namen. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich um ein Mosaik diverser Gruppen handelt, die unterschiedlich organisiert sind. Viele sind nach verschiedenen Interessen (ethnisch, religiös, sportlich oder kulturell) oder Herkunftsregionen/-orten organisiert (Mazedonier*innen/Albaner*innen, orthodoxe Christ*innen/Muslim*innen, Prilep/Kičevo), wobei es auch zu Überschneidungen kommt. Manche dieser Vereine zählen zu ihren Mitgliedern auch Zuwander*innen aus anderen Ländern, wie Kosovo und Albanien.

40 Census, 2002, 34. Die Daten der letzten Volkszählung von 2021 sind noch in Bearbeitung.

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Siegfried Gruber/Darko Leitner-Stojanov

Die Vereinslandschaft

Im Winter 2020/2021 tauchte für mich (D.L.-S.), einen mazedonischen Forscher und relativen Neuling in Österreich mit nur wenigen bekannten Landsleuten in Wien, das Netzwerk der mazedonischen Vereine langsam aus einem Nebel auf. Warum musste es aus dem Nebel auftauchen? Kurz gesagt – nicht alle Vereine sind online ausreichend vertreten, die statistischen Daten sowohl in Österreich als auch in Nordmazedonien sind nicht immer aktuell und schließlich sind die aus Nordmazedonien stammenden Gemeinden und Vereine in der wissenschaftlichen Literatur (quasi) abwesend. Eine Suche im Zentralen Vereinsregister ergibt nur eine geringe Anzahl an Vereinen von Zuwander*innen aus Nordmazedonien. Unsere Online-Recherche ergab jedoch die Zahl von 19 Vereinen, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Wien aktiv waren oder noch immer sind. Schließlich weisen die Erkenntnisse aus Interviews und anderen Kontakten während der Recherche auf weitere Organisationen hin. Es gibt offensichtlich eine Lücke zwischen registrierten und existierenden Vereinen, die sich nicht genau eruieren lässt. Abgesehen von den quantitativen gibt es jedoch auch qualitative Dilemmata. Die Feldforschung hat gezeigt, dass Struktur und Mitgliedschaft der Vereine viele Variablen enthalten können und dass die Identifikation nicht immer eindeutig ist und von vielen Faktoren abhängen kann. Darüber hinaus decken die Vereine ein breites Spektrum von Zugehörigkeit ab – von einer eindeutigen ethnischen und/oder religiösen Selbstbezeichnung bis zu Bezeichnungen, die kaum oder gar keinen Hinweis auf eine nordmazedonische Zugehörigkeit zulassen, von einer ethnisch homogenen Mitgliedschaft bis hin zu einer heterogenen Mitgliedschaft, wo Bürger*innen aus Nordmazedonien und Personen aus anderen Ländern registriert sind (Mazedonier*innen/Albaner*innen/Roma und Romnija).41 Hervorzuheben ist, dass sich in den letzten zehn Jahren mit dem Wandel einiger Bedürfnisse, Gewohnheiten und Technologien auch die Formen organisierter Aktivität verändert haben, die sich auf mehreren Online-Plattformen (insbesondere auf Facebook) zeigen, auf denen sich Menschen aus Nordmazedonien in einer Anzahl von mehreren Hundert bis 3000 Mitgliedern zusammen finden und einige der Aktivitäten durchführen, die auch von offiziell 41 Es gibt mehrere Vereine, deren Mitglieder sich aus Albaner*innen aus Nordmazedonien, Kosovo und Albanien zusammensetzen, was eine eindeutige Abgrenzung nach Herkunftsländern erschwert. Einige von ihnen gelten als „mazedonisch“ oder zumindest verwandt oder relevant für Nordmazedonien.

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eingetragenen Vereinen organisiert werden, sich aber in anderen Aspekten unterscheiden. Somit kann gesagt werden, dass ein differenziertes Verständnis der offiziellen und inoffiziellen Organisationslandschaft von Menschen aus Nordmazedonien in Wien das aus offiziellen Quellen gewonnene Wissen vertieft. In dieser Studie bleiben die Online-Aktivitäten aber ausgeblendet. In den frühen 70er Jahren kam es zu den ersten Vereinsgründungen mit jugoslawischen/makedonischen Gastarbeiter*innen. Mit dem Ende Jugoslawiens beginnt sich auch die Vereinsbildung zu nationalisieren oder zu ethnisieren. Kontinuitäten, die es in manchen Vereinen zur jugoslawischen Zeit zweifellos gibt, werden in dieser Studie zwar erwähnt, aber nicht tiefergehend analysiert. Der Fokus hier liegt auf der Zeit nach der Jahrtausendwende. Die bestehenden Vereine decken mehrere Tätigkeitsbereiche ab: Sie befassen sich mit religiösen Angelegenheiten, Kultur, Folklore, Sport, Kunst, Pädagogik und humanitären Aktivitäten. In Floridsdorf, dem 21. Wiener Gemeindebezirk, im Nordosten Wiens gelegen, befindet sich eine mazedonisch-orthodoxe Kirche, die ein wichtiges Zentrum der orthodoxen mazedonischen Gemeinde in Wien darstellt. Das Gebäude, die ehemalige katholische Kirche St.  Rafael wurde zu einer orthodoxen Kirche umgewidmet und dient dem Kulturverein Hl. Naum v. Ohrid als Versammlungs- und Gebetszentrum. Der mazedonische Verein kaufte das Gebäude 2009 und passte es den religiösen und kulturellen Bedürfnissen orthodoxer Mazedonier*innen in Wien an. Die zahlreichen Ikonen, Fresken und Kerzen versuchen das Ambiente einer orthodoxen Kirche zu erzeugen.42 Dieser Verein agiert auch als mazedonisch-orthodoxe Kirchengemeinde und steht in enger Beziehung zur mazedonisch-orthodoxen Kirche mit Sitz in Skopje. Neben regelmäßigen kirchlichen Aktivitäten hat der Verein auch einen großen Fokus auf kulturelle Veranstaltungen, gesellige Zusammenkünfte und gelegentliche humanitäre Hilfe. Der Verein hat zusätzlich eine Senioren- und eine Frauensektion. Deklariertes Ziel des Vereins ist es, eine repräsentative orthodoxe Kirche für die mazedonischen Gläubigen in Wien zu errichten. Der mazedonische Folkloreverein Makedonka und die Sportfangemeinde Makedonska Falanga Wien befinden sich an derselben Adresse und teilen sich teilweise die Mitgliedschaft und die Geschäftsführung in dem Sinne, dass viele Mitglieder gleichzeitig in allen drei Vereinen engagiert sind. Der Folkloreverein Makedonka mit seinen ca. 40 Mitgliedern bietet ein reichhaltiges Kulturprogramm mit Schwerpunkt auf mazedonischen Volkstänzen, Musik, Trachten 42 Ich besuchte den mazedonischen Kulturverein Hl. Naum v. Ohrid zweimal im Jänner und Feber 2021.

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und ­Speisen. Sie haben Beziehungen zu verschiedenen Vereinen und Institutionen in Wien, Österreich und Nordmazedonien aufgebaut und an Festivals und Veranstaltungen in Wien sowie in ganz Europa teilgenommen. Die SportFangemeinde Makedonska Falanga Wien hat rund 300 Mitglieder und ihre Haupttätigkeit ist die moralische Unterstützung mazedonischer Sportklubs und der Nationalmannschaften bei internationalen Spielen und Turnieren in ganz Europa, insbesondere im Fußball, Handball und Basketball. In zweiter Linie organisieren sie auch kulturelle Veranstaltungen für ihre Mitglieder und Freund*innen in Wien, laden meist mazedonische Musikbands ein oder unternehmen Kulturreisen quer durch Österreich. Im 5. Wiener Gemeindebezirk befindet sich der Kulturverein Ebu Hanife/ Orta – Verein für Muslime, auch bekannt als Orta-Moschee.43 In Bezug auf die Bezeichnung war interessant zu hören, dass diese multikulturelle Moschee von einigen Mitgliedern auch „mazedonische“ Moschee genannt wird. Die meisten Mitglieder dieser Moschee/des Vereins sind Roma und Romnji aus der Region Prilep im zentralen Teil Nordmazedoniens; darüber hinaus gibt es aber auch Mitglieder anderer ethnischer Gruppen, wie Türken*innen und Bosniaken*innen. Die Gesprächspartner44 erwähnten die Existenz von Moscheen, in die Roma/Romnji oder Muslime/Muslimas aus anderen Regionen gehen, wie Štipska džamija oder Kumanovska džamija. Der Fußballverein Vardar – Wien befindet sich im 4. Bezirk.45 Dieser Sportverein stellt aufgrund seiner stark ausgeprägten nationalen und internationalen Attribute, seiner Fähigkeit zur mehrstufigen Vernetzung und Integration in die österreichische Sportszene eine interessante Fallstudie dar. Die Informationen des Interviewpartners, unterstützt durch die Fotographien und Gegenstände vor Ort, geben einen Einblick in die Rolle des Sports in der mazedonischen und anderen postjugoslawischen Gemeinschaften in Österreich, in die Bedeutung der Vernetzung sowie in Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen 43 Ich habe die Moschee Ende Februar 2021 besucht. Der Imam begrüßte mich freundlich und stellte mich dem Präsidenten des Vereins und den Mitgliedern vor. Ein direktes Interview mit einem Mitglied der Vereinsführung fand zwar nicht statt, dennoch war aus einer Art Frage-und-Antwort-Gruppensitzung und zusätzlichen Einzelgesprächen viel über die Tätigkeit des Vereins/der Moschee zu erfahren. 44 Die Benützung der männlichen Form im Text bedeutet, dass die Gesprächspartner männlich waren. 45 Besucht im Dezember 2020. Ich wurde sehr herzlich empfangen und hatte die Möglichkeit, ein Audiointerview mit einem Mitglied der Vereinsleitung zu führen.

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der jugoslawischen und nachjugoslawischen Ära und ihre Reflexion über Kultur- und Sportvereine in Wien. Das Radio Mazedonien-Roma ist kein Kulturverein, aber sein kulturelles und soziales Angebot ist sehr umfangreich und erfordert eine gebührende Aufmerksamkeit. Sein Moderator, ein charismatischer Radio- und TV-Journalist, der über eine große multikulturelle Anhängerschaft in Wien und Österreich, aber auch im Ausland, verfügt, gab mir einen Überblick über seine Arbeitsumgebung und das Programm. Das Programm dieser Radio- und Fernsehsendung besteht aus Musik, Reportagen, Lehrmaterial und Nachrichten. Gleichzeitig stellen seine kulturellen Initiativen wie Konzerte und andere Veranstaltungen einen seltenen Fall transnationaler Zusammenarbeit in Wien zwischen Roma/ Romnji, Mazedonier*innen, Bosniak*innen, Türk*innen, Serb*innen und so weiter dar. Der Verein für Kultur und Sport Café Club – Horizont zählt zu jenen Vereinen, die sich weder kulturell noch ethnisch verorten lassen. Er befindet sich im 16. Bezirk und bildet eine interessante Ausnahme, da er symbolisch am äußersten Rand der mazedonischen Vereinslandschaft in Wien liegt. Er ist nicht ethnisch gegliedert, sondern eher als Teil der Kulturszene am Yppenplatz46 erkennbar und als solcher in einer das Thema behandelnden Monographie vertreten.47 Horizont ist im Vergleich zu den zuvor genannten ein anderer Vereinstyp, denn er ist gleichzeitig Kaffeehaus und in Familienbesitz. Das Konzept ist so gestaltet, dass der Verein Künstler*innen Raum für ihre Ausstellungen, Installationen, Lesungen oder andere Veranstaltungen bietet. Die bei diesen Besuchen, aber auch bei Hausbesuchen und in seltenen Telefon- oder SkypeInterviews gesammelten Informationen eröffnen viele neue Fragen und zeigen mögliche Wege für zukünftige Forschung, wie etwa über die Binnenstruktur von Vereinen und ihre transnationale Vernetzung auf. Sie unterstreichen die Notwendigkeit sowohl detaillierterer Mikrostudien der aus Nordmazedonien stammenden Gemeinschaften als auch die Notwendigkeit vergleichender 46 Der Yppenplatz ist ein Platz am Rande des Brunnenmarktes im 16.  Bezirk mit zahlreichen Galerien, Cafés und Restaurants in einem multikulturellen Umfeld. Der Standort wird manchmal als „trend-setting“ bezeichnet (https://wien.orf.at/ stories/3013760/, letzter Zugriff: 22.10.2021). Der multikulturelle Brunnenmarkt ist der längste Straßenmarkt Wiens, der eine Mischung aus lokalen Produkten und internationaler Küche bietet. 47 Chobot/Rainer, 2012, 53–55. Mein Interviewpartner, der seit drei Jahrzehnten in Wien lebt und immer im gleichen Arbeitsfeld am Yppenplatz tätig war, hat einen engen Bezug zu den Kund*innen und Menschen der Gegend.

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S­ tudien, in denen spezielle Themen vor unterschiedlichen kulturellen Hintergründen analysiert werden können. Im folgenden Teil werden wir kurz auf einige davon eingehen, wie zum Beispiel die Bedeutung der Familie beim Aufbau neuer Initiativen, die Rolle des Sports (insbesondere des Fußballs) bei der Vernetzung sowie den spezifischen Charakter der Eigen- und Fremdgruppe (oder eher zwischenmenschlicher und interorganisationaler Vernetzung). Bedeutung der Familie

Ein konstantes Element, das in den Interviews, in den Leitungsstrukturen der Vereine und im lockeren Sprachgebrauch in informellen Gesprächen mit vielen Gesprächspartner*innen zum Ausdruck kommt, ist das Wort „Familie“. Sie scheint entscheidend für das Verständnis der Bemühungen um Gründung und Aufbau von Vereinen in Wien, einer Tradition, die bis in die frühen 1970er Jahre und die erste Generation von Gastarbeiter*innen zurückreicht. Nicht selten bekleiden Familienmitglieder verschiedene Positionen in einem oder mehreren Vereinen (Obmann, Obfrau, Schriftführer*in, Kassier*in). Enge Familienmitglieder sind jedoch nicht nur vertrauenswürdiges und leicht verfügbares Personal, das für die Gründung und Führung einer Organisation benötigt wird, sondern oft auch eine kreative und motivierende Kraft: Ideenentwicklung wurde regelmäßig zu Hause besprochen. Die Entscheidung habe auch viel mit der Sorge um die „richtige Entwicklung“ ihrer Kinder zu tun: „Wie gesagt, warum habe ich den Verein gegründet? Wegen meiner Kinder, damit ich sie nachts beim Ausgehen und auch tagsüber im Griff habe, damit mein Kind keine falschen Wege einschlägt“, sagt ein Obmann. Darüber hinaus findet ein beträchtlicher Teil der kulturellen Aktivitäten und der Geselligkeit im Allgemeinen auf der Ebene der Familien statt. Wie einer der Befragten betont: „Hier knüpfen wir hauptsächlich über unsere Familien Kontakte.“ Auch bei ihnen kämen die Leute oft mit ihren Familien zu den Veranstaltungen, ergänzt der Obmann vom Sportfanverein. Für seine Erfahrungen aus den 1990er Jahren und seine eigenen Ideen in den folgenden zehn Jahren nennt ein anderer Interviewpartner ein ähnliches Motiv: Ich wünschte, dass wir etwas schaffen, wo wir unsere Kinder und unsere Leute hier [in Wien] zusammenbringen können, also dass es einen Ort gibt, den sie sonntags mit ihren Familien besuchen könnten. Zu Zeiten der Freizeit-Fußball-Liga auf der Marswiese, samstags oder sonntags, war das schön anzusehen. Es war wie ein Pick-

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nick … ich meine, eine riesige Anzahl von Leuten … vielleicht mehr als 1000–1500 sozusagen.

Die großen Familientreffen unter den Mazedonier*innen sind ein Vermächtnis der ersten Generation von Gastarbeiter*innen, von denen viele trotz ihres hohen Alters noch Mitglieder der mazedonischen Kirchengemeinde sind. Wie ein anderer Interviewpartner sie beschreibt: „ich meine, sie sind unsere Eltern.“ Die Rolle des Sports

Das Fußballengagement der Kultur- und Sportvereine lässt sich auch auf die frühen Phasen des organisierten Lebens jugoslawischer Gastarbeiter*innen zurückführen. Seit den 70ern und bis weit in die 90er Jahre hinein existierte die sogenannte „Jugo-Liga“ in Österreich,48 und meine sporterfahrenen Interviewpartner sprachen sehr gerne über ihre Erinnerungen an diese Liga. Damals hatten viele jugoslawische Kulturvereine in Wien mit Menschen aus allen jugoslawischen Republiken ihre Sport- und vor allem Fußballvereine.49 Ein Interviewpartner vom Sportverein Vardar-Viena erinnert sich: „Früher gab es am Anfang eine jugoslawische Liga. Und als Jugoslawien zusammenbrach, funktionierte diese jugoslawische Liga hier noch einige Zeit, einige weitere Jahre. Also habe ich dort gespielt, in einem von denen … früher gab es einen alten Klub Ilinden“. Später entstanden neue mazedonische Fußballvereine wie Makedonija, (zweiter) Ilinden, Pelister, Bačišta, Vardar-Viena und andere. Beim Zeigen von Gegenständen mit Aufschriften wie „Dritte mazedonische Meisterschaft im Kleinfußball – Wien 1995“ führt der Interviewpartner aus: „Früher gab es eine mazedonische Liga im kleinen [das heißt Freizeit-]Fußball hier. Es gab ein Trainingsboot auf der Donau, mit einer Sporthalle darin, und dort wurde gespielt … ich meine, dort fand diese Liga statt.“ Obwohl Fußball in zahlreichen Vereinen anscheinend größtenteils als Mittel zur Entspannung, Sozialisierung und Vernetzung praktiziert wurde, entwickelten einige Vereine

48 Bratić, 2016; Hainzl/Özbaş/Özbaş, 2016. 49 „Fußball war eindeutig die beliebteste Sportart. 1972 spielten sechs Mannschaften im Umfeld vom Klub Jedinstvo eine eigene Meisterschaft, und schon im Herbst 1973 wurde eine eigene „Jugo-Liga“ unter der Leitung von Blaško Papić gegründet, die rasch wuchs. Ein Motiv dafür war die damalige Ausländerbeschränkung im österreichischen Amateur-Fußball“ (ebd., 181).

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den Ehrgeiz, in die österreichischen Fußballligen aufzusteigen (z.B. VardarViena). Vernetzung innerhalb der eigenen Gemeinschaft und außerhalb davon

Die meisten mazedonischen Kulturvereine in Wien scheinen auf ihre eigene Gemeinschaft ausgerichtet zu sein, das heißt die kulturellen, spirituellen, praktischen und sonstigen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen. In diesem Sinne antworteten die meisten Befragten, dass sich ihre Vereine kaum mit ähnlichen Organisationen oder Institutionen in Österreich vernetzen; es gibt jedoch bedeutende Ausnahmen. Die gruppeninterne Vernetzung ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Die Verbindung innerhalb der Gemeinschaft kann in vielen Lebensbereichen in Wien bedeutend sein, insbesondere bei der Gründung neuer Initiativen. Der Leiter eines Sportvereins betonte dies: „[…] nicht nur, dass ich sie [die Leute aus der Gemeinde] kannte, sondern sie kannten mich auch. Als ich zum Beispiel den Verein gründete, hatte ich kein Problem damit, Kinder zum Fußballspielen zu finden.“ In der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen sowie Institutionen in Wien ist der Kultur- und Künstlerverein Makedonka sehr aktiv. Einer ihrer Vertreter erläutert die bewährte Zusammenarbeit: […] als Volkstanzverein haben wir auch viele Einladungen von Vereinen bekommen, die wir angenommen haben. Wir haben an Festivals teilgenommen, wir waren auch auf […] Festivals, die von einigen Organisationen hier in Österreich organisiert wurden. Daher waren auch sie sehr daran interessiert, mit uns zusammenzuarbeiten. Natürlich haben wir das initiiert, und jetzt haben wir zum Beispiel eine langjährige Beziehung zu einer Organisation, die immer das Festival der Nationen organisiert.

Der Verein war in den letzten zehn Jahren an zahlreichen Aktivitäten beteiligt, einschließlich der Zusammenarbeit mit ähnlichen Vereinen im In- und Ausland (Schweiz, Slowenien, Türkei usw.). Obwohl die Vereinslandschaft der aus Nordmazedonien nach Wien kommenden Menschen sehr vielfältig und dezentralisiert ist, gibt es doch zumindest einen bedeutenden Vereinscluster rund um die mazedonisch-orthodoxe Kirche in Floridsdorf, nämlich den Kulturverein Hl. Naum v. Ohrid, den Nachfolger des ersten mazedonischen Kulturvereins in Wien – Ilinden (gegr. 1971). Für einen Interviewpartner vom Verband der Sportfans ist klar: „Für jeden Mazedonier, der nach Wien kommt, ist die Adresse, an der man sich trifft, die

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Siemensstraße 26“. Ein anderer Befragter teilt diese Meinung: „[…] während die Serben, Kroaten und Bosnier viele eigene Orte haben und so weiter … unser einziger Treffpunkt ist die Kirche, die Kirchengemeinde, der Kulturverein“. Dieser kulturelle Nukleus wird dann von Institutionen sowohl in Österreich als auch in Nordmazedonien oft als Mittelpunkt in Bezug auf die mazedonische Diaspora in Wien anerkannt. Eine Gesprächspartnerin bei der Auswanderungsbehörde in Skopje50 erwähnt, dass trotz der Tatsache, dass ihr Kulturprogramm für die Diaspora für alle offen ist, Menschen mit Bezug zu Hl. Naum v. Ohrid am meisten daran interessiert sind, an diesem Programm teilzunehmen. Was die Wiener Öffentlichkeit angeht, so glauben die meisten Befragten, dass die Elemente der traditionellen Kultur (wie Volkstänze und Trachten, traditionelles Essen), die Teil ihrer Veranstaltungen sind, ihre Vereine für andere Bürger*innen sichtbar und erkennbar machen. In diesem Zusammenhang haben unsere Befragten aus dem Cluster in Floridsdorf eine besondere Erwartung – dass die Existenz einer mazedonisch-orthodoxen Kirche vom österreichischen Staat offiziell anerkannt wird. In den Worten eines Interviewpartners: „Für mich ist wichtig, dass die Österreicher sie anerkennen [= die Merkmale der mazedonischen Identität und Kultur] [...] Es ist mir so wichtig, dass die Österreicher uns sehen.“

4. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Unsere Analysen sind ein erster Versuch, ein besseres Verständnis der nordmazedonischen Gemeinden und ihr in Vereinen organisiertes Leben in Wien in den letzten beiden Jahrzehnten zu ermöglichen. Zusätzlich zu den erstmals erhobenen demographischen Daten liefern die Ergebnisse der ethnographischen Forschung wichtige Einblicke in Strukturen, Ziele und Arbeitsweisen nordmazedonischer Vereine in Wien. In ihren Charakteristika ähneln die Immigrant*innen aus Nordmazedonien den Immigrant*innen aus den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die größte Ähnlichkeit besteht mit den ihnen geographisch am nächsten liegenden Ländern: Kosovo und Serbien. Das sieht man auch an der Beliebtheit von E ­ hepartner*innen aus diesen beiden Ländern, die gleich nach den 50 Die Auswanderungsbehörde ist eine staatliche Einrichtung, die für die Kontaktpflege und Zusammenarbeit mit Bürger*innen Nordmazedoniens im Ausland, insbesondere mit ihren Kulturvereinen, zuständig ist. Ihre Mission konzentriert sich auf Networking, Sprachkurse und die Unterstützung kultureller Initiativen.

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in Nord­mazedonien geborenen an zweiter und dritter Stelle kommen. Die Zuwander*innen aus Nordmazedonien waren ursprünglich Mitglieder jugoslawischer Vereine, bis mit der Eigenstaatlichkeit sich auch das Vereinsleben in Wien auf die neuen Heimatländer konzentrierte. Bei den albanischen Vereinen ist die Beschränkung auf das Herkunftsland Nordmazedonien allerdings schwächer ausgeprägt. Die Zuwanderung aus Nordmazedonien begann als Teil der jugoslawischen Gastarbeitermigration und bis heute ist sie vor allem eine Zuwanderung von Arbeitskräften. Diese sind noch immer vor allem Arbeiter*innen mit Pflichtschul- und Lehrabschluss und wohnen vor allem in Arbeiter*innenbezirken. Allerdings steigt in der Generation ihrer Kinder das Bildungsniveau und der Anteil an Angestellten; parallel dazu steigt der Zuzug in die Außenbezirke. In Floridsdorf und nicht in einem der traditionellen Arbeiter*innenbezirke steht nun auch eine mazedonisch-orthodoxe Kirche, die ein wichtiges Zentrum der Wiener*innen aus Nordmazedonien darstellt. Dort sind mehrere Vereine angesiedelt, die verschiedene Aspekte des Vereinslebens abdecken. Wie bei diesen Vereinen sind für das Funktionieren der Kultur- und Sportvereine von Zuwanderer*innen aus Nordmazedonien in Wien trotz aller Unterschiede drei Bereiche fast allgegenwärtig und spielen dementsprechend die wichtigste Rolle: Familie, Sport und Religion. Seit der ersten Welle (jugoslawischer) mazedonischer Gastarbeiter*innen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war die Familie die personelle und logistische Basis für den Aufbau von Kulturvereinen. Eine Familie oder ein Zusammenschluss von Familien stellte den erforderlichen Raum, die Arbeitskräfte und die Mitglieder in den Leitungsgremien zur Verfügung. Ob mazedonisch oder albanisch, christlich oder muslimisch, offiziell oder inoffiziell, die allermeisten dieser Vereine organisieren Fußballturniere in Wien oder nehmen an solchen teil. Schließlich ist hervorzuheben, dass einige der Vereine auch als religiöse Zentren fungieren: neben der angesprochenen Kirche in Floridsdorf sind hier einige Moscheen zu erwähnen. Bei vielen Vereinen sieht man eine Tendenz, die ethisch-religiöse Trennung in orthodoxe Mazedonier*innen und muslimische Albaner*innen aufrechtzuerhalten, allerdings gibt es auch Gegenbeispiele, wie zum Beispiel in Sportvereinen. Literaturverzeichnis

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Daten

Stadt Wien, MA 23. STATcube – Statistische Datenbank von STATISTIK AUSTRIA.

DIE KNJIŽARA MI: EINE BUCHHANDLUNG, WIE ES SIE NUR IN WIEN GEBEN KANN Armina Galijaš

1. KNJIŽARA MI/BUCHHANDLUNG MI

In der Wiener Burggasse 84 im 7. Bezirk befindet sich die Knjižara Mi. Sie ist mehr als eine gewöhnliche Buchhandlung: ein Ort der Begegnung von Menschen aus verschiedenen Ländern, Klassen, Nationen und Religionen. Was sie verbindet, ist das Interesse an der Literatur, die aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro oder Serbien kommt oder dort in der jeweiligen Landessprache publiziert wird. Doch viele Besucher*innen kommen auch, um den Inhaber der Buchhandlung zu treffen. Seit 1995 verkauft der 75-jährige Miroslav Prstojević hier seine Bücher. Er ist selbst Autor1 und war Journalist. 25 Jahre lang lebte er in Sarajevo, bevor er 1993 die Stadt im Krieg verließ und nach Wien kam. Die Literatur und der Hausherr sind der Kristallisationspunkt einer Szene. Ein Großteil des südslawischen Raums wurde nach den Kriegen der 1990er Jahren politisch neu geordnet. Grenzen wurden verändert und es entstanden neue Staaten. Doch die in der Knjižara Mi angebotene Literatur entzieht sich dieser Ordnung. Nicht an Abgrenzung, sondern an thematischen, sprachlichen und inhaltlichen Überlappungen ist man hier interessiert, aber auch an neuen Zwischenräumen. Das Sortiment übertrifft alles, was Buchläden in Belgrad, Zagreb, Sarajevo oder Podgorica anzubieten haben, und Prstojevićs vielfältige Kundschaft weiß das zu schätzen. Aber nicht alles kommt Prstojević in die Bücherregale. Bücher, die er für chauvinistisch oder geschmacklos hält, bleiben draußen. Dieser Buchladen hält sich nicht einfach an das Gesetz von Nachfrage und Angebot. Mi zieht eine südslawische Kundschaft an, deren vielfältige Interessen der Besitzer zu vereinen weiß. Doch wer sind diese Menschen? Woher kommen sie, welche Sprachen sprechen sie? Und welche Bücher kaufen sie?

1

Prstojević, 2006; Prstojević, 1999; Prstojević, 1994; Prstojević, 1993.

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Armina Galijaš

2. EINGEBET TET INS SÜDSL AWISCHE WIEN

Wien ist eine Metropole, in der sich viele und bedeutende südslawische Spuren finden, auch in Gehweite zur Knjižara Mi. In der Gegend verkehrten Dichter*innen, Schriftsteller*innen und Sprachwissenschaftler*innen aus ganz Südosteuropa. Der serbische Dichter und Lyriker Branko Radičević ist einer von ihnen. Er hatte seine letzte Wohnadresse in unmittelbarer Nähe in der Schlösselgasse 12 (1080). Am 1. Juni 1853 starb er im Alten AKH (1090), wo sich heute der Universitätscampus und das Institut für Slawistik sowie jenes für Osteuropäische Geschichte befinden. Der slowenische Schriftsteller Ivan Cankar lebte in der Lindauergasse 26 (1160), der Schriftsteller und Regisseur Milan Begović in der Florianigasse 51 (1080). France Prešeren, der slowenische „Dichterfürst“ wohnte am Schlesingerplatz 3 (1080) und der große österreichische Slawist und Sprachwissenschaftler Franz Miklosich (Fran Miklošič) in der Josefstädter Straße 11 (1080).2 Auch Stjepan Mitrov Ljubiša (1824–1878), der Schriftsteller, Politiker und Reichsratsabgeordnete aus der Stadt Budva, die unter österreich-ungarischer Herrschaft stand, wohnte bis zu seinem Tod am Eingang der Burggasse (1070). Gleich ums Eck von der Buchhandlung, in der Mechitaristengasse 4 (1070), befindet sich schließlich die Mechitaristen-Buchdruckerei, wo 1847 der Gorski vijenac (Der Bergkranz) von Petar Petrović Njegoš gedruckt wurde. Hier erschienen auch die Gedichte von Radičević und die ersten Werke des Reformers der serbischen Sprache Vuk Stefanović Karadžić. So hatte die Druckerei des armenischen Klosters der Wiener Mechitaristencongregation neben jener des Universitätsdruckers Joseph Edler von Kurzböck eine besondere Bedeutung für das serbische Buchwesen.3 Solche Verbindungen und Spuren reichen bis in die jüngste Vergangenheit. Milo Dor (Milutin Doroslovac, 1923–2005), der österreichische Schriftsteller serbischer Herkunft, Übersetzer und Mittler zwischen den Literaturen, verbrachte seine langen Wiener Jahre in der Nachbarschaft und entwickelte eine innige Freundschaft mit dem Buchhändler. Milo Dor und Bogdan Bogdanović (1922–2010), der berühmte Belgrader Architekt, Intellektuelle und Dissident, der sich damals in Wiener Exil befand, gehörten zu den frühesten Wiener Freunden von Miroslav Prstojević. Die Burggasse war nicht der erste Standort der Buchhandlung. Eine frühere 2 3

Kunst und Kultur in Wien, http://www.viennatouristguide.at/Gedenktafeln/wien. htm, letzter Zugriff: 31.3.2022. Österreichische Nationalbibliothek Wien, 2002.

Die Knjižara Mi

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Abb. 1: Wien-Karte mit Teilen des 9., 8. und 7. Bezirks.

Niederlassung befand sich von 1995 bis 1996 in der Biberstraße in der Nähe des berühmten Café Prückel, vis-à-vis der bekannten Postsparkasse. Die Rede zur Eröffnung der Buchhandlung hielt auf Deutsch der Schauspieler Leon Askin, der in Wien im Jahr 1907 als Leo Aschkenasy auf die Welt kam und jahrelang in den USA gelebt hatte. Er war 1994 endgültig nach Wien zurückgekehrt. Als er von dem Konzept der Buchhandlung Prstojevićs hörte, begeisterte sie den jahrelang Heimatlosen. Die Rede drehte sich natürlich um das Verhältnis zwischen Sprache und Freiheit, Fremde und Heimat.4 Die Buchhandlung zog bald aus dem 1.  Bezirk an die heutige Adresse, weil Miroslav Prstojević glaubt, dass „unsere Leute“, wie er sagt, den 1.  Bezirk scheuen. Den 7.  Bezirk hielt er für attraktiver, weil sich hier einerseits die Künstler*innenszene versammelt, anderseits der Westbahnhof und der 15. und 16. Bezirk nahe sind, wo viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien leben und verkehren. Die Rechnung ging auf.

4

Interview der Autorin mit Miroslav Prstojević, Wien, 25.05.2021.

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Armina Galijaš

3. DIE BUCHHANDLUNG UND IHR INHABER

Wer heute, 25 Jahre nach dem Umzug in die Burggasse, die Buchhandlung betritt, steht unmittelbar zwischen hohen Bücherstapeln und vollen Bücherregalen. Wo dazwischen noch etwas Platz bleibt, hängen Bilder von Künstler*innen aus Bosnien, Serbien und Kroatien, die zum Teil in den Ländern, aber seit dem Zerfall Jugoslawiens auch im Ausland leben. Die Buchhandlung besteht aus zwei großen Räumen, die ein schwarzer Vorhang trennt. Im Eingangsbereich beeindrucken Menge und Vielfalt der Bücher. Hinter dem Vorhang wickelt Miroslav Prstojević seine Geschäfte ab und empfängt Gäste. Hier herrscht zwischen Teppichen, einem Ofen und den bunten Bücherrücken, die die Wände bedecken, eine gemütliche Atmosphäre. Miroslav Prstojević führt über 14.000 Titel in seinem Geschäft und etwa doppelt so viele Exemplare befinden sich im Lager nebenan. Es handelt sich vor allem um Bücher aus Bosnien, Kroatien, Serbien, seltener aus Montenegro. Dazu kommen Übersetzungen in die Sprache, die der Inhaber als „unsere Sprache“5 bezeichnet, und die heute unter dem Akronym BKS (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) bekannt ist. Die Knjižara Mi ist die einzige Buchhandlung in der EU mit bosnischer, kroatischer und serbischer Literatur. (Vergleichbare gäbe es nur noch in Kroatien.) Zwar gab es Versuche in München, Frankfurt und Paris, ähnliche Geschäfte aufzubauen, aber sie blieben erfolglos.6 Dass eine solche Buchhandlung in Wien möglich wurde, ist einer Art symbiotischer Beziehung zwischen Prstojević und der Stadt zu verdanken. Ein gewiefter Buchhändler, der seine Bücher und die Kundschaft liebt, und eine offene und vielfältige Stadt, die ihm den Lebensraum dazu bietet. Prstojević wickelt heute seine Geschäfte auch online ab und verschickt die Bücher aus seinem Laden in die ganze Welt.7 Doch der Anfang war nicht leicht und das Angebot bescheiden. Miroslav Prstojević erinnert sich, wie alles begann. Als er 1993 Sarajevo verließ, wo er als Journalist, Lektor, Autor und Chefredakteur des Verlagswesens Oslobođenje tätig war, wollte er auch in Wien weiterhin mit Büchern arbeiten.8 „Bei uns heißt es, als Säufer eröffnest du am besten eine Bar“, sagt Prstojević – als leidenschaftlicher Leser würde er dann

5 6 7 8

Die Bezeichnungen „unsere Sprache“ und „unsere Leute“ werden weiter im Text thematisiert. Susreti, 2021. Interview der Autorin, 2021; Susreti, 2021. Interview der Autorin, 2021.

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wohl am besten eine Buchhandlung aufmachen.9 Mithilfe von Freund*innen wurden zwei Koffer voller Bücher aus Zagreb und zwei weitere Koffer mit antiquarischen Büchern aus Belgrad im Auto aus Novi Sad herangeschafft. Der Buchhändler übernahm das Steuer in Budapest und brachte die Lieferung nach Wien. Am Anfang war das Auto das Haupttransportmittel für Prstojevićs Bücher. Manchmal auch Züge aus Belgrad. Ein Schaffner des Nachtzugs Belgrad–Wien beaufsichtigte den Transport und brachte mitunter auch Bilder. Gegenwärtig bezieht Prstojević die Lieferungen von den Buchmessen in Belgrad, Sarajevo und Zagreb oder direkt von den Verleger*innen. Das läuft am einfachsten im Falle Kroatiens, weil es Teil der EU ist, während die Bücher aus Bosnien und Herzegowina und Serbien dem Zoll unterliegen. Das bedeutet Zeitverzögerungen und Kosten. Allerdings ist die Auswahl in Serbien, woher die meisten Bücher kommen, sehr gut und preislich günstiger als in Bosnien oder Kroatien. Das zeigt, dass ein gemeinsamer Buchmarkt mit seinen Skalenerträgen wirtschaftlich durchaus interessant wäre. Er könnte die Umsätze der Buchhändler*innen in den jugoslawischen Nachfolgestaaten vergrößern, in denen eine ähnliche Sprache gesprochen wird. Das gilt vor allem für Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro. Die jetzige mit vielen Hürden verbundene Verkaufspolitik ist nachteilig für Verlage und Autor*innen.10 Wer allerdings in der Knjižara Mi Bücher aus dem ganzen Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zu finden hofft, liegt falsch. Das Verlagswesen in Montenegro ist so schwach, dass aus diesem Land kaum etwas kommt, „und Slowenien und Makedonien sind nicht interessant“ fürs Geschäft,11 so der Buchhändler. Das liegt an den kleinen Sprachgemeinschaften und der entsprechend überschaubaren Diaspora. Auch die nicht slawischen Sprachen des ehemaligen Staates (Albanisch, Ungarisch oder Italienisch) fehlen. Es gibt zwar auch Slowen*innen oder Makedonier*innen, manchmal auch Albaner*innen, die Bücher in bosnischer, kroatischer oder serbischer Sprache kaufen, aber das sind Einzelfälle. Diese Kund*innen kommen mit einem klaren Kaufwunsch, nicht um zu schmökern oder sich beraten zu lassen. Sie kommen nicht wegen der Sprache, sondern interessieren sich für ganz bestimmte Bücher und Autor*innen. Die Buchhandlung bietet auch Bücher südslawischer Autor*innen in deutscher Sprache an, die meist als Geschenke von Muttersprachler*innen für 9 Dabić, 2010. 10 Karabeg, 2009; Maksimović, 2018. 11 Interview der Autorin, 2021.

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deutschsprachige Freund*innen gekauft werden. Neben dem großen Bestand an Belletristik sind auch Sprach-, Kinder- und Geschichtsbücher, Esoterik, Lebensratgeber und antiquarische Bücher zu finden. Die Frage, ob die Konflikte auf dem Balkan Einfluss auf die Ordnung in den Regalen haben, verneint Prstojević mit einem Lächeln. Er sei eigentlich der Einzige, der die Logik ihrer Anordnung verstehe. Sie folgt weder dem Alphabet und meist auch nicht der Geographie. Einige Regale folgen einer national-regionalen Logik, in denen sich kroatische, bosnische und serbische Bücher bestimmter Verleger*innen nebeneinander befinden, aber der Rest entzieht sich dieser Logik. Beim Sortiment selbst spielen die Konflikte der Vergangenheit dann doch eine Rolle. Der Buchhändler räumt ein, dass er gewisse Bücher, die er in Wien wahrscheinlich gut verkaufen könnte, nicht im Laden haben will. Es sind Bücher von chauvinistischen und nationalistischen Autoren. Sie könnten von manchen Kund*innen als anstößig empfunden werden, meint Prstojević.12 Als Beispiel nennt er unkritische Biographien von Dragoljub Draža Mihailović, dem königlich-jugoslawischen General und Tschetnik-Führer während des Zweiten Weltkrieges, oder auch Bücher, welche die Tschetnik- oder die Ustaša-Bewegung verharmlosen oder glorifizieren. Auch wenn er mehrmals nach Büchern über Draža Mihailović gefragt worden sei, wolle er seinen Laden für solche Literatur nicht öffnen. Zwar führt er kritische Bücher zu Themen des Zweiten Weltkriegs, aber nur, wenn er sie selbst gelesen und für gut befunden hat. Mit nationalistischer Lektüre könnte er zwar neue Kundschaft gewinnen, aber dann würde er seine Stammkunden verlieren. Und schließlich, wie Prstojević sagt, will er ganz einfach solche Bücher nicht unter die Leute bringen. Wo er genau die Grenze ziehe, liege in seinem Ermessen und in seiner Verantwortung als Buchhändler. So entschied er sich nach einigem Zögern, Vuk Drašković ins Sortiment aufzunehmen, obwohl er seinen Roman Nož (Das Messer) für „grenzwertig“ hält. Drašković hat dennoch Platz gefunden, so Prstojević, weil er sich während des Krieges in Bosnien und Herzegowina 1992–1995 gegen die Teilung von Sarajevo aussprach.13 Kroatische oder bosnische Entsprechungen zu Drašković, wie etwa Ivan Aralica oder Džemaludin Latić, sind dagegen nicht in der Buchhandlung zu finden. Der Lebenslauf des Buchhändlers spiegelt sich in dem Laden ebenfalls wider. Bevor er nach Sarajevo kam, hatte er als Kind einer Offiziersfamilie (vojno lice) in Trebinje, Danilovgrad, Titograd (heute Podgorica), Osijek, Slavonska Požega, Belgrad und Novi Sad gelebt. Diese jugoslawische Odyssee korrespon12 Ebd. 13 Ebd.

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diert mit der beindruckenden Auswahl an Büchern aus allen Ecken des damaligen Landes, aber auch mit dem ideologischen Profil des Buchhändlers und seiner Stammkundschaft. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Ordnung der Regale sich nationaler oder regionaler Logik entzieht. Oder wie der Inhaber auf die kunterbunte Zusammenstellung angesprochen im Gespräch mit der Wiener Übersetzerin und Schriftstellerin Mascha Dabić sagt: „Bücher führen ja keine Kriege untereinander“.14 Als er die Buchhandlung eröffnete, verzichtete er auf Werbung, weil es damals, laut Prstojević, keine Medien gab, die von „unseren Leuten“ gleichermaßen konsumiert worden wären. Die Medien waren national getrennt und eine Werbung in der „falschen“ Zeitung konnte missverstanden werden. So verbreitete sich die Nachricht über diese spezielle Buchhandlung ausschließlich über Mundpropaganda.15 Diese Einstellung zeigt aber auch, was Prstojević mit „unsere Leute“ meint: Nicht die Bürger*innen des ganzen ex-jugoslawischen Raums, sondern jene aus Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Kroatien. Der eindeutige Bestseller unter den südslawischen Autor*innen ist Miljenko Jergović. „Er wird überall und von allen gelesen.“16 Jergović stammt aus Sarajevo, lebt heute in Zagreb und hält sich oft und gern in Belgrad auf. Einen Grund für seine Beliebtheit sieht Miroslav Prstojević auch in der Tatsache, dass sich dessen Sprache während und nach dem Krieg nicht veränderte. Es ist die Sprache, die man früher in Sarajevo sprach, meint der Buchhändler. Obwohl Jergović in Zagreb lebt, hat er seine Sprache nicht kroatisiert. Sie ist für „alle“ leicht verständlich geblieben.

4. VIELFÄLTIGE VS. STAMMKUNDSCHAFT

Aber wer sind diese „alle“, die Bücher in der Buchhandlung Mi kaufen? An einer Wand der Knjižara Mi hängt ein in Metall gegossenes Profil von Josip Broz Tito (1892–1980) und ihm gegenüber ein Straßenschild mit serbischer und ungarischer Beschriftung aus der Vojvodina. Der Partisanenführer aus dem Zweiten Weltkrieg und umstrittene lebenslange jugoslawische Präsident dient Miroslav Prstojević, wie er sagt, auch zum Testen seiner Kundschaft. Wenn sie positiv auf Titos „Anwesenheit“ reagieren, dann werden sie als Verbündete im Geist wahrgenommen. Dabei geht es nicht darum, was der Kunde oder die 14 Dabić, 2010. 15 Interview der Autorin, 2021; vgl. auch Dabić, 2010. 16 Interview der Autorin, 2021.

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Kundin von Tito und Jugoslawien weiß und denkt. Es handelt sich auch nicht um eine ideologische Prüfung. Titos Bild ist eher ein Symbol, in dem sich eine diffuse Community wiedererkennt, deren Projektionen auf die Vergangenheit eine Art Wir-Gefühl produzieren. Es ist eine idealisierende und sentimentale Jugonostalgie, wenn auch meist mit einem Augenzwinkern.17 Im Zentrum steht der verklärte Blick auf die verlorene „Brüderlichkeit und Einigkeit“ (bratstvo i jedinstvo), als die Völker Jugoslawiens angeblich friedlich zusammenlebten. Auch der Name des Buchladens Mi, deutsch: wir, signalisiert das. Prstojević erklärt den Namen etwas ausweichend so: „Wenn ich allein hier sitze, bin nur ich da. Sobald jemand zur Tür hereinkommt, sind es wir.“18 Man ist dann unter sich und spricht unsere Sprache, naš jezik.19 Als Besucherin der Buchhandlung beschleicht einen unwillkürlich ein Zeitgefühl, das weder der Gegenwart der jugoslawischen Nachfolgestaaten entspricht noch den Erinnerungen an die jugoslawische Vergangenheit. Es entspricht eher dem, wovon Homi K. Bhabha in den 1990er Jahren schrieb. Ein etwas düsteres Überlebensgefühl an den Grenzen der „Gegenwart“ für das es keinen anderen Eigennamen zu geben scheint als das Präfix post: Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus und so weiter.20 Was Postjugoslawismus sein könnte, das lässt sich beim Stöbern und Plaudern in dieser Buchhandlug gut nachvollziehen. Obwohl Jugoslawien bereits vor 30 Jahren zerfallen ist, wird der Begriff noch immer verwendet und es stellt sich die Frage, wie lange dieses post, also ein „Danach“, eigentlich dauert. Bhabha beschreibt es als einen Zustand, in dem weder ein neuer Horizont erscheint, noch die Vergangenheit ganz verschwunden ist. So entsteht dieses Gefühl von Orientierungslosigkeit, ein Hin und Her.21 Das Fehlen des neuen Horizontes und der Unwille, die Vergangenheit hinter sich zu lassen sind spürbar in der Buchhandlung. Aber man fragt sich, inwieweit Postjugoslawismus als Beschreibung angemessen ist. Denn die sogenannte postjugoslawische Kundschaft beschränkt sich auf Leser*innen serbischer und bosnischer 17 Velikonja, 2008; Kuljić, 2010; Kuljić, 2011; Vučetić, 2018; Bancroft, 2009; Palmberger, 2008; Andrić et al., 2004; Luthar/Pušnik, 2010. 18 Dabić, 2010 19 Diese Sprachbezeichnung wurde auch schon zu Zeiten der Habsburger und Osmanen verwendet, so z.B. von Drašković: „Ja odaberem za moj razgovor naški jezik, želeći dokazati da mi narodnog jezika imademo u kojemu sve izreći moguće jest što srce i pamet zagteva.“ (Drašković 1832). 20 Bhabha, 1994, 1. 21 Ebd.

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Herkunft. Sie verstehen sich als Antinationalist*innen, lehnen die Zustände in ihren Ländern ab und halten mangels neuer Ideen an einer stilisierten Vergangenheit fest. Es ist gewissermaßen ein „jugoslawischer Nationalismus“, der ihnen eine ideelle Heimat gibt – und die Buchhandlung Mi ist dafür ein realer Zufluchtsort. Dort hängt weiterhin Tito und Draža bleibt draußen. So wird die Vorstellung aufrechterhalten, dass früher alles besser war. Etwa in Mostar, das heute nicht mehr die geistreiche Stadt von einst ist, weil die „echten“, „die guten Mostarci“ nicht mehr dort leben. Man findet sie eher in Skandinavien – oder eben in der Buchhandlung Mi.22 Obwohl sich einige Autor*innen der Zugehörigkeit zu dieser Szene möglicherweise verweigern würden, werden sie hier als die unseren wahrgenommen. Dazu gehören neben Miljenko Jergović auch Aleksandar Hemon, Boris Dežulović, Faruk Šehić, Nenad Veličković, Viktor Ivančić, Ante Tomić, Svetislav Basara oder Vedrana Rudan. Sie werden in der Buchhandlung am meisten nachgefragt und gekauft. Prstojević selbst unterscheidet in einem Interview für den Standard mehrere Gruppen in seiner Kundschaft: Vereinzelt sind es „Gastarbeiter*innen“, die schon seit 30 oder 40 Jahren in Österreich leben. Viel größer ist die Kundschaft der ehemaligen Flüchtlinge aus den 1990er Jahren. Sie hatten schon wenige Jahre nach der Ankunft in Österreich das Bedürfnis, wieder Literatur in der Muttersprache zu lesen, nachdem sie Deutsch gelernt hatten. Eine weitere Gruppe stammt aus der sogenannten zweiten Generation. Sie möchte die Sprache ihrer Eltern lernen und wählt dafür den Weg des Lesens. Die letzte Gruppe ist die internationale Kundschaft.23 Neben Jergović und den oben erwähnten Autor*innen werden auch viele zeitgenössische, vor allem serbischen Autor*innen verkauft. Dazu zählen Vesna Dedić, Jelena Bačić Alimpić, Isidora Bjelica, Mirjana Bobić Mojsilović, Brankica Damjanović, oder Nura Bazdulj-Hubijar aus Bosnien, die oft zur sogenannten „Frauenliteratur“ gezählt werden. Außerdem werden die Klassiker von Milica Jakovljević, die unter ihrem Pseudonym Mir-jam viel bekannter ist, sehr gut verkauft. Ihre Bücher waren ein Hit, als die Buchhandlung im Jahr 1995 eröffnete, aber sie sind immer noch ein Kassenerfolg. Viele ihrer Romane wurden in den letzten Jahren verfilmt,24 was zur anhaltenden Popularität beitrug. Diese Bücher werden meistens von Frauen aus Serbien und Bosnien ge22 Susreti, 2021. 23 Dabić, 2010. 24 Wie Nepobedivo srce, Ranjeni orao, Greh njene majke, Kad ljubav zaksni usw. (vgl. https://www.imdb.com/name/nm0416001/, letzter Zugriff: 31.02.2022)

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kauft. Wie Prstojević lächelnd betont, lesen die Bosnierinnen alles: Literatur aus Serbien, Kroatien wie auch aus der Heimat.25 Die Kroatinnen dagegen interessieren sich kaum für diese Autor*innen. Wie bereits erwähnt ist die Kundschaft alters- und bildungsmäßig durchmischt: Studierende, Putzkräfte, alte Gastarbeiter*innen, gut ausgebildete Migrant*innen.26 Obwohl Prstojević an der Sprache oder dem Habitus den Büchergeschmack oft erahnt, gibt er zu, sich auch immer wieder gründlich zu irren. Seine Kundschaft lebt nicht nur in Wien. Öfters erhält er Anfragen zu kroatischer Literatur aus Serbien oder zu serbischen Büchern aus Kroatien, weil die entsprechenden Werke dort nicht erhältlich sind. So ist die Buchhandlung auch eine Brücke zwischen den Menschen, die früher Landsleute waren und heute in verschiedenen Staaten leben.27 „Aber ich schicke Bücher nicht nur nach Serbien und Kroatien, sondern auch nach Kanada und Australien“, sagt Prstojević.28 Internationale Kundschaft gibt es auch vor Ort. Der Buchhändler hat in Japan unter Fachleuten einen Namen und die Buchhandlung wurde in einem Buch über Jugonostalgie vorgestellt, das in Japan veröffentlicht wurde.29 In den letzten 10 Jahren haben einige Japaner*innen daher die Buchhandlung auch aufgesucht. „Der erste, der reinkam, sprach akzentfrei Serbisch“, erinnert sich der Buchhändler. Er hatte die Sprache an der Universität Tokio am Institut für Slawistik gelernt.30 Er bezeichnete Dušan Todorović (1875–1963), der als Professor für Russisch 1909 nach Japan gekommen war,31 als die maßgebliche Autorität für serbische Sprache und Kultur in seinem Land. Ein Jahr später kam ein anderer Japaner in die Buchhandlung. Er hatte Sarajevo besucht und dort das Buch Sarajevo, die verwundete Stadt von Prstojević gesehen. Als er erfuhr, dass Prstojević eine Buchhandlung in Wien hat, fuhr er hin, um das Buch direkt vom Autor zu erwerben. Nicht ohne Eitelkeit fragte er: „Sie haben sicher noch nie einen Japaner gesehen, der Bosnisch spricht.“ Prstojević antwortete lachend: „Das stimmt. Bosnisch nicht, aber ich kenne einen, der Serbisch 25 26 27 28 29 30

Interview der Autorin, 2021. Grahovac, s.a. Dabić, 2010. Interview der Autorin, 2021. Suzuki et al., 2014. Siehe http://www.l.u-tokyo.ac.jp/eng/graduate/overview.html und https://www.c.u -tokyo.ac.jp/eng_site/info/academics/fas/dhss/ask/russia/, letzter Zugriff: 31.02. 2022. 31 Shiba, 2018.

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spricht.“32 Der Mann war von der Universität Osaka und lernte die Sprache, um sich in die bosnische Geschichte vertiefen zu können. Der dritte Japaner schließlich wurde zu seinem Stammkunden. Shinichi Yamazaki unterrichtet an der Universität Tokio Südosteuropäische Zeitgeschichte. Auch einige seiner Studierenden kamen nach Wien, um neben Belletristik auch Geschichts- und Fachbücher zu erwerben. Sie erzählten dem Buchhändler, die Buchhandlung Mi gelte als Institution unter Studierenden der Balkangeschichte in Tokio.33 Auch ein Kunde aus dem Baskenland, der über die Musik die Sprache erlernte, kommt regelmäßig und wählt fachmännisch seine Lektüre aus. Ein Italiener, der während des Bosnien-Krieges als Soldat der United Nations Protection Force (UNPROFOR) im Einsatz war und so die Sprache lernte, lebt heute in Wien und kommt immer wieder in die Buchhandlung, um die neuste, und wie Prstojević betont, gute Literatur in bosnischer, kroatischer oder serbischer Sprache zu kaufen.34 Die österreichische Kundschaft dagegen kauft meist Sprachbücher. Anlass dafür sind oft eine Heirat oder bevorstehende Reisen. Diese Kundschaft weiß genau, ob sie Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch lernen will und verlangt nach entsprechender Lektüre. Am besten verkaufen sich die kroatischen Sprachbücher an Adriatourist*innen. Wenn sie die Sprache ein bisschen erlernt haben, steigen sie auf Krimis um. Prstojević hat einen Stammkunden, dessen Wunsch er seit Jahren nicht erfüllen kann: ein Wörterbuch Deutsch-Serbisch in kyrillischer Schrift.35 Der Buchhändler erinnert sich auch an einen Arzt, der vor Jahren, als es Google-Übersetzer noch nicht gab, ein großes Bosnisch-, Kroatisch- oder Serbisch-Deutsch-Wörterbuch suchte, um bei Verständigungsproblemen mit Patient*innen Abhilfe zu schaffen.36 Auf Deutsch verkaufen sich die Klassiker wie Ivo Andrić am besten, neben Zeitgenossen wie Jergović. Es wird auch immer wieder nach Meša Selimović gefragt, der aber leider auf Deutsch vergriffen ist.

32 33 34 35 36

Interview der Autorin, 2021. Interview der Autorin, 2021. Susreti, 2021. Interview der Autorin, 2021. Dabić, 2010.

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5. UNSERE SPRACHE/UNSERE LEUTE

„Wenn jemand fragt, welche Sprache ich spreche, dann sage ich unsere Sprache. Wie sie die Sprache nennen, ist ihre Sache“37, sagt Prstojević. Wenn jemand insistiert, erwidert er, dass er die Sprache der Sarajevoer Universität spricht, aus der Zeit, als er dort studierte. Der Artikel l4 des Universitätsgesetzes lautete: Die Sprache der Universität Sarajevo ist Serbokroatisch oder Kroatoserbisch in der freien Durchdringung beider Varianten, so Prstojević. Das beschreibe seine Sprache am besten.38 Da er als Heranwachsender in verschiedenen Dia­ lektgebieten in der Herzegowina, in Montenegro, Kroatien, Serbien, in der ­Vojvodina und schließlich in Bosnien lebte, beherrscht er auch deren Mundarten einwandfrei und passt sich den Sprechpartner*innen wie von selbst an.39 Daraus zieht er ein zusätzliches Argument die Sprache als naš jezik zu bezeichnen, da er mit allen Menschen, die aus diesen Gebieten kommen, tatsächlich deren Sprache spricht, egal wie sie heute heißt. Diese Haltung entspricht im Wesentlichen der 2016 veröffentlichten Dekalaracija o zajedničkom jeziku40 [Deklaration über die gemeinsame Sprache], die eine Gruppe Linguist*innen und Intellektueller aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien und Montenegro unterzeichnete. Sie vertreten die Ansicht, dass in ihren Ländern eine gemeinsame Sprache polyzentrischen Typs gesprochen werde – das heißt, eine Sprache, die in verschiedenen Regionen in erkennbaren Varietäten gesprochen wird – wie das auch für Deutsch, Englisch, Arabisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und viele andere Idiome gilt. Entsprechend bezeichnen die vier Namen der Standardvarietäten Bosnisch, Montenegrinisch, Kroatisch und Serbisch keine verschiedenen Sprachen.41 Wie Prstojević plädiert die Deklaration für die Freiheit der „Vermischung“, für die gegenseitigen Offenheit und Durchdringung verschiedener Ausdrucksformen einer gemeinsamen Sprache zum Wohle aller Sprecher*innen.42 Sie distanzieren sich von einem „politisierten Sprachgebrauch“. Allerdings ist, wie Boris Buden richtig feststellt, natürlich auch diese Erklärung ein politischer

37 Interview der Autorin, 2021; Susreti, 2021. 38 Ebd. 39 Interview der Autorin, 2021. 40 Jezici i nacionalizmi, https://jezicinacionalizmi.com, letzter Zugriff: 21.04.2022; mehr zum Thema siehe Kordić, 2010. 41 Jezici i nacionalizmi. 42 Ebd.

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Akt.43 Alleine schon der Anlass, die Deklaration zu verfassen, war politisch: Eine Gruppe Jugendlicher in Bosnien-Herzegowina störte sich an der praktizierten sprachlichen Segregation.44 Doch Prstojević wehrt sich, wie Snježana Kordić,45 vehement dagegen, mit dieser Haltung politische Absichten zu verfolgen. Politik wird von Aktivist*innen, die gegen das Trennende und für Versöhnung und Einheit kämpfen, oft als etwas Falsches und Verdorbenes wahrgenommen. Die Ablehnung des Politischen soll dann auch in diesem Fall die „Unschuld“ der Idee bewahren, die sich auf „wissenschaftliche“ Tatsachen beruft. Inwieweit die Sprachauswahl den Bücherkauf in der Buchhandlung beeinflusst, lässt sich anhand von folgenden beispielhaften Anekdoten zeigen: Eine aus Dalmatien stammende Kundin betritt den Laden und fragt nach Krimis. Sie kauft einige kroatischen Ausgaben, alles Übersetzungen. Dazu kommt auch eine serbische Ausgabe in lateinischer Schrift. Kyrillisch wäre schon schwieriger, meinte sie fast entschuldigend. Ihr Auswahlkriterium sind die Autor*innen, nicht die Sprache. Aber das ist nicht immer so. Serbischsprechende meiden öfters kroatische Ausgaben, nicht aus nationalistischen Gründen, erklärt Prstojević, sondern weil sie mit der Sprache immer mehr Mühe haben.46 Die Idiome entwickeln sich auseinander und für jüngere Leser*innen entstehen so allmählich Hürden. Eine klare Präferenz für eine der Sprachen findet man bei den Käufer*innen von Kinderliteratur und Sprachbüchern. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder entweder serbische, kroatische oder bosnische Ausgaben lesen.47

6. DIE SZENE UM DIE BUCHHANDLUNG

In der Buchhandlung sind auch Eintrittskarten, meistens für Konzerte serbischer, aber auch bosnischer oder kroatischer Künstler*innen, zu kaufen. Prstojević weiß genau, welche Karten er verkauft und welche Werbeposter in seinem Laden hängen dürfen. Dafür nimmt er keine Provision ein, sondern freut sich über Gegenwerbung.48 Er zieht die übrig gebliebenen Karten von 43 Buden, 2017. 44 Ebd. 45 Kordić, 2018. 46 Interview der Autorin, 2021. 47 Ebd. 48 Ebd.

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­ ubioza kolektiv49 aus der Schublade und signalisiert so eindeutig, welche D Künstler*innen und welche Musik er mag. Nie würde er Werbung für narodnjaci in seinem Laden erlauben. Das sind die oft kitschigen halb Folk-, halb Pop-Sänger*innen meist aus Serbien und Bosnien und Herzegowina, die oft in Wien auftreten und ein großes Publikum haben. Neben Konzerten wie von Dubioza kolektiv wird auch die Arbeit von Srpski kulturni forum50 und dessen Präsident Dragan Mišković gelobt und unterstützt. Prstojević betont, dass es hier um keinen nationalistischen Verein gehe, sondern dass sehr gute Veranstaltungen für „alle“ angeboten würden. Als Beispiel nennt er eine Podiumsdiskussion vom 21. März 2019, in der es um die „gemeinsame Sprache“ ging, und wo als Hauptrednerin erwähnte Initiatorin und Unterzeichnerin der Deklaration über die gemeinsame Sprache, Snježana Kordić, auftrat. Neben der Linguistin Kordić saßen der Journalist und Publizist Nikola Vučić und der Politikwissenschaftler Filip Balunović auf dem Podium. Sie sprachen auch über „Zwei Schulen unter einem Dach“ in Bosnien, wo Kinder verschiedener Nationalitäten unter dem Motto „Unterricht in ihrer eigenen Sprache“ physisch getrennt wurden.51 Die Redner*innen kritisierten diese Segregation, was die These von Boris Buden bestätigt, dass es hier nicht nur um Sprache, sondern auch um Politik geht. Es ist die Haltung der sogenannten naši, jener ethnisch gemischten Gruppe, die eine diffuse Jugonostalgie verbindet.

7. ZUSAMMENFASSUNG

Die Knjižara Mi in Wien ist seit vielen Jahren für Literaturliebhaber*innen bosnischer, kroatischer und serbischer Sprache zu einer wichtigen Institution geworden. Hier werden diese Sprachen gelesen, gesprochen und verbreitet – und schließlich auch Umsatz damit gemacht. Ob tatsächlich eine gemeinsame oder mehrere unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, darüber lässt sich endlos streiten. Die Zukunft wird zeigen, ob kommende Generationen in Serbien weiterhin Kroatisch verstehen wie ihre Eltern und Großeltern, und ob dort die kyrillische Schrift dominant wird, wie das der serbische Präsi49 Dubioza Kolektiv, offizielle Website unter https://dubioza.org, letzter Zugriff: 21.04.2022. 50 Mehr über die Arbeit des Srpski kulturi forum unter http://skforum.at/wp/ de/5927–2/, letzter Zugriff: 31.02.2022. 51 SKF, s.a.

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dent Vučić anstrebt.52 Dann würde Literatur aus serbischen Verlagen von den Nachbar*innen kaum mehr gelesen. Es steht fest, dass die Menschen, die in dieser/n Sprache/n verwurzelt sind, in der Buchhandlung immer jemanden finden, mit dem sie eine Verbindung aufbauen können. Sie finden sprachlich und kulturell einen gemeinsamen Nenner, der leicht variieren kann, aber fluid und anpassungsfähig ist. Den wollen sie nicht verlieren. Gleichzeitig sollte man in diese Gemeinsamkeit nicht allzu viele Bedeutungen und Ideologien hineinprojizieren. Obwohl die meisten Bücher und Kund*innen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina und Kroatien stammen, also nur aus einem bestimmten Teil ehemaligen Jugoslawiens, bewahrt Miroslav Prstojević ein Hauch seines „jugoslawischen Lebens“ darin auf. Seine Bücher repräsentieren eine Gemeinsamkeit, die den Sprachkundigen vorbehalten ist. Doch diese Kundschaft ist keine verschworene Gemeinschaft, sondern vielfältig – wenn man einmal von den treuen Stammkund*innen absieht. Hier wird die Literatur von Ivo Andrić, über Miljenko Jergović oder Boris Dežulović bis Jelena Bačić Alimpić, Brankica Damjanović und Mir-Jam verkauft und gelesen. Man sucht nach Sprach-, Kinder-, Sach- und Fachbücher. Manche Kund*innen bezeichne sich selbst als jugonostalgisch, manche dagegen sind stolze Staatsbürger*innen der neu entstandenen Staaten. Das Bild ist bunt und sollte nicht vereinfacht werden. Das zeigt, wie verschiedenartig Buchliebhaber*innen sein können, auch wenn sie aus einer relativ kleinen Sprachgemeinschaft in der Diaspora kommen. Miroslav Prstojević gibt allerdings Interviews, die sich nicht nur an die Diaspora in Österreich richten, wie zum Beispiel für den Standard,53 was zeigt, dass in Wien ein Interesse und eine Öffentlichkeit für das Südslawische besteht. Die Knjižara Mi erlangt langsam auch eine breitere Aufmerksamkeit in der Stadt. Im Januar 2020 wurde die Knjižara Mi in der Zeitschrift Falter unter den fünf besten Buchhandlungen für internationale Literatur in Wien aufgeführt.54 Literaturverzeichnis

Andrić, Iris et al.: Leksikon YU mitologije, Belgrad 2004. Bancroft, Claire: Yugonostalgia – The Pain of the Present, in: Independent Study Project (ISP) Collection 787, 2009. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London/New York 1994. 52 RSE, 2021. 53 Dabić, 2010. 54 Nausner, 2020.

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Drašković, Janko: Disertacija iliti Razgovor, darovan gospodi poklisarom zakonskim i budućim zakonotvorcem kraljevinah naših, za buduću dietu ungarsku odaslanem, držan po jednom starom domorodcu kraljevinah ovih, Karlovac 1832. Interview der Autorin mit Miroslav Prstojević, Wien 25.05.2021. Jovićević, Andrija: Riječka Nahija, Podgorica 1999. Kordić, Snježana: Jezik i nacionalizam, Zagreb 2010. Kuljić, Todor: Umkämpfte Vergangenheit – Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Berlin 2010. Kuljić; Todor: Sjećanje na Titoizma – Izmedju diktata i otpora, Beograd 2011. Luthar, Breda/Pušnik, Maruša (Hg.): Remembering Utopia –The Culture of Everyday Life in Socialist Yugoslavia, Washington, D.C. 2010. Österreichische Nationalbibliothek Wien: Das serbische Buch in Wien 1741–1900 – Katalog der Ausstellung 19.3.–27.4.2002, Beograd/Novi Sad/Wien 2002. Palmberger, Monika: Nostalgia matters: Nostalgia for Yugoslavija as potential vision for a better future./Važnost nostalgije: Nostalgija za Jugoslavijom kao moguća vizija bolje budućnosti, in: Sociologija, 50/4 (2008). Prstojević, Miroslav: Sarajevo: Survival Guide, Sarajevo 1993. Prstojević, Miroslav: Sarajevo, ranjeni grad, Ljubljana 1994. Prstojević, Miroslav: Zaboravljeno Sarajevo, Sarajevo 1999. Prstojević, Miroslav: (Ne)Zaboravljeni Mostar, Sarajevo 2006. Shiba, Nobuhiro: National Identity of a ‚Borderland Man‘ – the case of Dušan Todorović, Russian Language Professor in Tokyo – from early days until end of World War I, in: Electronic Journal of Central European Studies in Japan 4, (2018), S. 1–25. Suzuki, Kenta/Momose,Ryoji/Kameda, Masumi/Yamzaki, Shinich: Ai rabu yugo: Yugosuravia nosutaruji, 1, 2014. Velikonja, Mitja: Titostalgia – A Study of Nostalgia for Josip Broz, Ljubljana 2008. Vucetic, Radina: Coca-Cola socialism – Americanization of Yugoslav culture in the sixties, Budapest/New York 2018. Internetquellen

Buden, Boris: Padaj (jezična) silo i nepravdo!Produktivni paradoks Deklaracije o zajedničkom jeziku, in: Slobodni filozofski, 28.12.2017, http://slobodnifilozofski. com/2017/12/padaj-jezicna-silo-nepravdo-produktivni-paradoks-deklaracije-zajednickom-jeziku.html, letzter Zugriff:07.06.2021. Dabić, Mascha: Als Säufer eröffnest du am besten eine Bar, in: Der Standard, 15.02.2010, https://www.derstandard.at/story/1263706651074/lesen-als-saeufer-eroeffnest-duam-besten-eine-bar, letzter Zugriff: 06.06.2021. Grahovac, Radovan: Buchhandlung MI Wir Wien, https://www.youtube.com/ watch?v=_bY_Wo6hEaI, letzter Zugriff: 14.06.2021. Jezici i nacionalizmi, https://jezicinacionalizmi.com, letzter Zugriff: 07.06.2021. Karabeg, Omer: Pisci bez granica, in: Radio Slobodna Evropa, 22.11.2009,

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MEDIALE BILDER UND LITERARISCHE PERSPEKTIVEN: SCHREIBEN VON UND ÜBER SÜDSLAW*INNEN IN WIEN

MUSTERSCHÜLER DER INTEGRATION? DIE STELLUNG DER BOSNISCHEN DIASPORACOMMUNITY IN ÖSTERREICHISCHEN MEDIEN Nedad Memić

EINFÜHRUNG

Menschen mit bosnisch-herzegowinischer Staatsangehörigkeit1 sind mit 96.600 Personen die fünftgrößte Zuwanderercommunity in Österreich.2 Die Zahl der Personen mit bosnischem Migrationshintergrund hierzulande ist jedoch weitaus größer, wenn man bedenkt, dass rund 36  Prozent aller in Österreich lebenden Personen mit Migrationshintergrund bereits die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Darüber hinaus besitzen die meisten bosnischen Kroat*innen die Staatsbürgerschaft der Republik Kroatien. Laut manchen, jedoch statistisch ungeprüften Daten (z. B. Quellen der katholischen Kirche in Österreich) stammen 80 Prozent der in Österreich lebenden Kroat*innen aus Bosnien-Herzegowina. Auch viele Serb*innen, die in Bosnien-Herzegowina geboren sind, besitzen die serbische Staatsangehörigkeit und werden in der Statistik nicht als Personen mit bosnischem Migrationshintergrund erfasst. Daher kann die Gesamtzahl der aus Bosnien-Herzegowina stammenden Personen in Österreich nur schwer genau ermittelt werden. Man kann davon ausgehen, dass mehr als 200.000 Personen mit Wurzeln aus Bosnien-Herzegowina in Österreich leben.3 In Wien lebten 2021 laut aktuellen Zahlen der Stadt rund 40.000 Personen mit „bosnischer Herkunft“.4 1

Im weiteren Text wird das Adjektiv „bosnisch“ verwendet, das einerseits eine gängige Kurzform von „bosnisch-herzegowinisch“ bedeutet und andererseits sich als solche im Sprachgebrauch in Österreich weitgehend einbürgerte. Mit „bosnisch“ werden natürlich auch aus der Herzegowina stammende Personen mitberücksichtigt. 2 Statistisches Jahrbuch Migration & Integration. Statistik Austria, Wien 2020. 3 https://kurier.at/mehr-platz/bosnier-und-serben-sehen-in-schallenberg-einenfreund-des-balkans/401765724, letzter Zugriff: 14.11.2021. 4 https://www.wien.gv.at/menschen/integration/daten-fakten/bevoelkerung-migration.html, letzter Zugriff: 11.03.2022.

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Schon aus diesen einführenden Bemerkungen lässt sich schließen, dass die bosnische Community in Österreich und ihre Identität eine komplexe ist. Das ist in erster Linie dem vielschichtigen politischen und gesellschaftlichen System in Bosnien-Herzegowina geschuldet. Das multiethnische Land hat auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Beendigung der blutigen Zerfallskriege keine gemeinsame Staats- und Identitätspolitik gefunden. Im Land leben drei große ethnisch-konfessionelle Gruppen: muslimische Bosniak*innen, christlich-orthodoxe Serb*innen, römisch-katholische Kroat*innen sowie 17 anerkannte ethnische Minderheiten: Rom*nja, Jüd*innen, Albaner*innen, Montenegriner*innen, Mazedonier*innen, aber auch Pol*innen, Tschech*innen, Deutsche, Rumän*innen, Russ*innen, Slowak*innen, Slowen*innen, Italiener*innen, Russ*innen, Türk*innen, Ukrainer*innen und Ungar*innen.5 Darüber hinaus zählen zu den Bürger*innen des Landes auch jene Personen, die aus zahlreichen interethnischen Ehen stammen oder sich nicht einer der drei großen ethnischen Gruppen zuordnen wollen, sondern sich lediglich als „Bosnier*innen“ oder „Bosnier*innen und Herzegowiner*innen“ bzw. „Bürger*innen Bosnien-Herzegowinas“ deklarieren. Die ohnehin komplexe Frage der Selbst- und Fremdidentifizierung im Falle von bosnischstämmigen Personen in Österreich wird auch dadurch bedingt, dass sich ein Großteil der bosnischen Serb*innen und Kroat*innen nicht mit Bosnien-Herzegowina oder mit ihrer regionalen bzw. staatlichen bosnischen Zugehörigkeit identifiziert, sondern ausschließlich mit der gesamtserbischen bzw. -kroatischen Identität. Das ist am klarsten an den Aktivitäten der Kulturvereine sichtbar: Diese sind ausschließlich ethnisch organisiert, so versammeln die serbischen Vereine alle Serb*innen, egal ob sie aus Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Montenegro stammen. Das Gleiche gilt auch für Kroat*innen. Ähnlich sieht es auch im Falle der Religion aus: Die serbisch-orthodoxe Kirche in Wien versammelt alle orthodoxen Serb*innen, ungeachtet ihrer regionalen bzw. staatlichen Zugehörigkeit, die kroatischsprachigen römisch-katholischen Messen genauso. Auf der anderen Seite identifiziert sich der Großteil der in Österreich lebenden Bosniak*innen mit Bosnien-Herzegowina als Staat. Sie sind dann in bosnisch-herzegowinischen oder bosniakischen Vereinen tätig und identifizieren sich im Alltag am ehesten als Bosnier*innen, obwohl auch hier bosniakische Vereine durchaus die aus Serbien, Mazedonien oder dem Kosovo stammenden Bosniak*innen repräsentieren.

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https://www.osce.org/files/f/documents/2/c/110232.pdf, letzter Zugriff: 13.11.2021.

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Die Komplexität der Identitäten von bosnischstämmigen Zuwanderer*innen in Österreich ist geschichtlich bedingt, wird aber auch von den gegenwärtigen ethnonationalistischen Strömungen auf dem Balkan geprägt. Dabei spielt der unterschiedliche Umgang mit den Kriegen in den 1990er Jahren und ihrem Erbe bei den drei größten bosnischen ethnischen Gruppen eine wichtige Rolle. Diese Komplexität wird gleichzeitig von den österreichischen Akteur*innen in der sogenannten Aufnahmegesellschaft nur teilweise wahrgenommen. In seiner offiziellen Politik gegenüber den Balkanmigrant*innen wählt Österreich immer noch einen integrativen Zugang: Bosniak*innen, Serb*innen und Kroat*innen werden in vielen Aspekten als eine, jedoch heterogene und nicht einheitliche Zuwanderergruppe behandelt. Dafür spricht am ehesten die Behandlung der Sprache: In Österreich forciert man immer noch den zusammengesetzten Begriff Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, unter diesem Namen werden etwa offizielle Verlautbarungen der Stadt Wien publiziert, auch für die Corona-Informationen des ORF oder der Tageszeitung Kurier in den letzten zwei Jahren wurde dieser Sammelname verwendet. An den österreichischen Universitäten werden diese Sprachen auch gemeinsam unterrichtet bzw. erforscht, obwohl man sie auch separat als Fremdsprachen lernen kann. Medien für die bosnische, kroatische und serbische Community in Österreich wie zum Beispiel Kosmo oder Dunav bevorzugen ebenfalls diesen Sammelnamen, obwohl auch Medien für einzelne ethnische Gruppen (wie z. B. kroativ.at für Kroat*innen) existieren.

2. GESCHICHTE UND GEGENWART DER BOSNIER*INNEN IN ÖSTERREICH Österreich-Ungarn

Spätestens seit der Zeit der k.u.k. Monarchie und ihrer Verwaltung in Bosnien-Herzegowina (1878–1918) waren Bosnier*innen – damals immer noch „Bosniaken“ genannt – ein Bestandteil des Wiener Straßenbilds. In ihrem Wörterbuch des alten Wienerisch führen die Autoren Schuster und Schikola unter dem Lemma „Bosniak“ u. a. Folgendes an: „[...] eine der auffallendsten ehemaligen Wiener Straßentypen, nach dem ersten Weltkrieg aus dem Wiener Straßenbild verschwunden.“ Ein Bosniak war damals ein „hochgewachsener“ und „einem Urwaldriesen gleichender“ Verkäufer von Feuerzeugen, Pfeifenspitzen, Uhren, Uhrketten, Ringen, Halsbändern, türkischen Messern und Dolchen,

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die er „gewöhnlich in einem mit Riemen am Leib befestigten kistchenartigen, gefächerten Behälter unterhalb der Brust trug“. Dieser Bosniak stand „in malerischer Tracht, mit seinem dunkelroten, weithin bemerkbaren Türkenfez, mit blauer, oben weiter, unten enger Hose, mit buntem gesticktem Gürtel und braunroten Opanken“ an belebten Straßen der Wiener Innenstadt und an den Pratereingängen. Dort verkaufte er seine Ware, ohne diese anzupreisen. „[…] aber der Bosniak hatte nach der in seiner Heimat damals üblichen (morgenländischen) Sitte, die auf das „Handeln“ („Feilschen“) um den Preis eingestellt war, in der Regel das Drei- oder Vierfache des tatsächlich gewünschten Betrages verlangt.“ So ließ er mit sich „gemütlich ‚handeln‘“ und wenn er das Viertel der Summe bekam, nickte er und ging weiter.6 Bereits dieser kurze Lexikoneintrag strotzt vor romantisierten Vorurteilen einer unbekannten Volksgruppe gegenüber. Vieles in der Beschreibung und Wahrnehmung von Bosnien-Herzegowina und seinen Einwohner*innen während der österreichisch-ungarischen Zeit war von Exotischem, Romantisierendem und zutiefst Orientalisierendem geprägt – kein Wunder, denn ÖsterreichUngarn als tief katholisches Kaiserreich wurde am Berliner Kongress 1878 das Mandat gegeben, Bosnien-Herzegowina zu okkupieren, das davor rund 400 Jahre lang Teil des Osmanischen Reichs war. Das exotische Bild von BosnienHerzegowina passte damals außerdem in die politisch-gesellschaftliche koloniale Mission der Doppelmonarchie in Bosnien-Herzegowina.7 Diese bestand unter anderem darin, das Land geopolitisch vom osmanischen und später auch südslawischen Einfluss zu trennen und es dadurch zu „emanzipieren“. Menschen aus Bosnien-Herzegowina kamen während der k.u.k. Zeit nach Wien oder Graz – nicht nur als die bereits beschriebenen Verkäufer, sondern vor allem auch als Soldaten. Die bosnisch-herzegowinischen Regimenter waren ab 1891 Teil der Hofburgwache in Wien, die in Wien stationierten bosnischen Soldaten nahmen sogar am Einsatz gegen die Teuerungsunruhen in Wien im September 1911 teil.8 In der österreichischen Militärtradition genossen die bosnisch-herzegowinischen Regimenter im Ersten Weltkrieg einen guten Ruf. An die bosnische Präsenz in Österreich während der k.u.k. Zeit erinnern unter anderem noch die Zweierbosniakengasse in Graz (benannt nach dem 2. bosnisch-herzegowinischen Regiment, das teilweise in Graz stationiert war) oder das Bosniak(erl), 6 Schuster/Schikola, 1996, 26 f. 7 Vgl. Ruthner, 2018, 18. 8 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/geschichte/666823_Bewachtvon-Bosniaken.amp.html?em_cnt_page=1, letzter Zugriff: 15.11.2021.

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ein Kümmelweckerl, das man immer noch in manch einer Bäckerei in Österreich kaufen kann. Zweite Republik

Es mussten nach der Monarchiezeit etwas mehr als 40 Jahre vergehen – dann kamen wieder Menschen aus Bosnien-Herzegowina und Ex-Jugoslawien vermehrt nach Österreich und Wien. Die Rahmenbedingungen waren jedoch im Vergleich zur Zeit der Donaumonarchie ganz anders. Die meisten Bosnier*innen und Jugoslaw*innen kamen als Folge des sogenannten Anwerbeabkommens für Gastarbeiter zwischen Österreich und Jugoslawien, das am 4. April 1966 in Kraft trat.9 In den vorangegangenen Jahren wurden auch ähnliche Abkommen mit Spanien und der Türkei unterschrieben. Bis 1974 wanderten auf diese Weise etwa 265.000 Menschen nach Österreich ein, 78 Prozent davon waren Gastarbeiter*innen aus Jugoslawien.10 Ein starker Anstieg an Zuwanderung aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich fand im Zuge des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995 statt. Laut offiziellen Schätzungen flüchteten zu dieser Zeit rund 90.000 Staatsbürger*innen Bosnien-Herzegowinas nach Österreich. Im Unterschied etwa zu Deutschland, wo die meisten bosnischen Flüchtlinge nach 1996 das Land verlassen mussten, entschied sich Österreich, den meisten ehemaligen Flüchtlingen ein Bleiben im Land zu ermöglichen. Man schätzt, dass von den 90.000 ehemaligen Flüchtlingen rund zwei Drittel dauerhaft in Österreich blieben.11 Die Zuwanderung aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich setzte sich auch im letzten Vierteljahrhundert nach der Beendigung des Bosnienkonflikts fort. Die Hauptauslöser waren die schwierige ökonomische und gesellschaftspolitische Lage im Land, Ausbildung sowie Familienzusammenführung. Die bosnische Community ist quer durch Österreich vertreten, mit einer besonderen Konzentration in den Ballungszentren Wien, Linz und Graz. Die bosnische Einwanderungsgruppe in Österreich zählt zu den größten bosnischen Diasporacommunitys weltweit. Wie auch in anderen Ländern, haben mehr als 90 Prozent der zugewanderten Bosnier*innen ihren Aufenthaltsstatus in Österreich gelöst.12 9 http//:www.archivdermigration.at, letzter Zugriff: 15.11.2021. 10 Memić; 2012, 107. 11 Ebd. 12 Valenta/Ramet, 2011, 11.

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3. BOSNIER*INNEN IN ÖSTERREICHS MEDIEN – ASPEKTE DER BERICHTERSTAT TUNG

Während die Migrant*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien von den späten 1960er Jahren bis in die 1990er hinein größtenteils als Arbeiter*innen beschäftigt waren, kamen im Zuge des Bosnienkrieges sowie danach Menschen mit unterschiedlichem sozialen Background nach Österreich: von Arbeiter*innen und Handwerker*innen bis zu Universitätsprofessor*innen. Dies beeinflusste auch die Heterogenität der bosnischen Zuwanderer*innencommunity in Österreich und wirkte sich auf deren Integrationsprozess in Österreich aus, insbesondere in Anbetracht höherer Erwerbsquoten der bosnischen Zuwanderer*innen im Vergleich zu anderen großen Communitys. Parallel dazu setzte auch ein Prozess der „Multiethnisierung“ der Aufnahmegesellschaft ein. Seit den 1960er Jahren, aber insbesondere seit den Jugoslawienkriegen und den EU-Erweiterungsrunden wurde die österreichische Gesellschaft durch Zuwanderer*innen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen geprägt. So ist alleine in Wien jede*r dritte Einwohner*in im Ausland geboren, jede*r zweite hat mittlerweile Migrationshintergrund.13 Dieses tatsächliche Gesellschaftsbild hinkt jedoch der offiziellen politischen Wahrnehmung der Migration deutlich hinterher. Wie Hepp et al. feststellen, treffen „Vorstellungen einer nationalkulturell homogenen Gesellschaft – dominiert durch einheitliche religiöse und ethnische Wertsetzungen –[…] immer weniger die Komplexität und Widersprüchlichkeit des aktuellen Lebens.“14 In diesem Spannungsfeld einer zunehmend multiethnischen Gesellschaft werden Zuwanderer*innengruppen auch unterschiedlich wahrgenommen. Diese Wahrnehmung orientiert sich im Großen und Ganzen an den Kriterien und Parametern, die der Staat Österreich für die Migrationspolitik bestimmt. So wird die Integration von Migrant*innen im öffentlichen Diskurs recht unterschiedlich, teils auch widersprüchlich verstanden, wobei die Erwerbstätigkeit sowie die Lebenseinstellungen von Migrant*innen als wichtigste Kriterien der Fremd-, aber auch der Eigenwahrnehmung und Identitätsbildung dieser Gruppen fungieren. Gleichzeitig stellen Hepp et al. fest, dass „in der aktuellen Migrationsforschung […] sich zunehmend die Position etabliert [hat], Migrantinnen und Migranten im Hinblick auf deren ethnische Vergemeinschaftung nicht einfach 13 https://www.wien.gv.at/menschen/integration/daten-fakten/bevoelkerung-migration.html, letzter Zugriff: 24.11.2021. 14 Hepp/Bozdag/Suna, 2011, 8.

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als einen im Ausland lebenden Teil einer Nation zu begreifen, sondern das Spezifische dieser kulturellen Form von Vergemeinschaftung zu betonen.“15 Deshalb ist es auch im Falle von bosnischen Migrant*innen gerechtfertigt, von einer bosnischen Diaspora in Österreich zu sprechen. Im Falle der Fremd- und Eigenwahrnehmung sowie Identitätsbildung der Diaspora spielt die Frage der Diskriminierung eine zentrale Rolle. Wie etliche Studien belegen, sind bosnische Migrant*innen in Europa, und damit auch in Österreich, wesentlich weniger der Diskriminierung ausgesetzt als z. B. nicht europäische Zuwanderer*innengruppen.16 In diesen Studien, die seit den späten 1990er Jahren über die bosnischen Migrant*innen verfasst wurden, geht man davon aus, dass das Humankapital der Bosnier*innen in Verbindung mit ihrem europäischen Background und ihrem „europäischen Aussehen“ die Integration wesentlich erleichterte.17 Gerade diese Identitätsbildung der Diaspora wird auch durch die mediale Berichterstattung bestimmt. Das Leben von Personen mit Migrationshintergrund ist nämlich „durch eine umfassende Durchdringung der Alltagswelten mit Medien“ geprägt.18 Tatsächlich werden Medienberichte über die bosnische Diaspora in österreichischen Mainstream-Medien in der Regel in den Kontext ihrer Integration in der österreichischen Gesellschaft gesetzt. Diese Kontextualisierung verläuft oft entlang der Bewertungsskala von „gut“ bis „schlecht“ integriert, wobei wieder die Kriterien der Aufnahmegesellschaft bzw. der offiziellen Migrationspolitik bestimmend sind. Das überschneidet sich größtenteils mit einem allgemeinen Trend, nach dem die Position (einer Diasporacommunity) in der Gesellschaft nicht nur durch die Bildung bzw. das Einkommen, sondern auch durch die ethnische Zugehörigkeit definiert wird.19 Konkret bedeutet dies, dass soziale Herausforderungen in der zunehmend heterogenen Aufnahmegesellschaft vermehrt ethnisiert bzw. kulturalisiert werden. Nach diesem Schema sind bestimmte ethnisch definierte Zuwanderer*innengruppen „gut“, andere wiederum „schlecht“ integriert. Im Bestreben, das Integrationsparadigma einer ethnischen Diasporacommunity zu definieren, versuchen österreichische Medien, diese in ein vergleichendes Verhältnis zu den anderen Communitys zu setzen, um hier bestimmte Integrationsmuster und -spielregeln – wie sie meist von der offiziellen öster15 Ebd, 30. 16 Vgl. Valenta/Ramet, 2011, 10. 17 Ebd. 18 Hepp/Bozdag/Suna, 2011, 9. 19 Heckmann, 1992, 91.

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reichischen Politik proklamiert werden – zu hinterfragen. Konkret geht es um folgende Faktoren der Berichterstattung: 1. ökonomisch, nach dem Grad der Integration am Arbeitsmarkt, 2. kulturell, nach der religiös-kulturellen bzw. sozialen Nähe zur Aufnahmegesellschaft, 3. situativ, nach dem allgemeinen gesellschaftlichen Klima in der Aufnahmegesellschaft während der Migration bzw. im Zuge des Integrationsprozesses. Diese Faktoren werden nun in drei Artikeln über die bosnische Community und ihre Integration in Österreich untersucht, die seit 2015 in drei auflagenstarken Publikumsmedien des Landes veröffentlicht wurden. Konkret geht es um die Tageszeitungen (bzw. deren Online-Newsportale) Der Standard, Die Presse sowie die Oberösterreichischen Nachrichten, die zu den führenden Informationsquellen des Landes gehören.20 „Warum die Integration der Bosnien-Flüchtlinge klappte“ (DerStandard.at, 09.02.2016)

Bereits im Titel seines Artikels „Warum die Integration der Bosnien-Flüchtlinge klappte“ geht Der Standard von einer – offensichtlich medial weit akzeptierten – Tatsache aus, dass Bosnier*innen in Österreich bereits als „Musterschüler der Integration“ gelten, und stellt fest, wie bosnische Flüchtlinge aus den 1990er Jahren am österreichischen Arbeitsmarkt „gut“ untergekommen seien. Im Artikel sind hauptsächlich zwei Faktoren der Berichterstattung vertreten: der ökonomische und der situative. Situativ analysiert, erschien der Artikel im Februar 2016, auf dem Höhepunkt der innenpolitischen Diskussion um die syrischen Flüchtlinge, von denen im Spätsommer 2015 Zehntausende nach Österreich geflüchtet waren. In der Motivation steckt also bereits ein implizites Vergleichsverhältnis: Bosnier*innen in den 1990ern vs. Syrer*innen aktuell. Es war somit medial aktuell und relevant, mitten in einer hitzigen Debatte um die Integration der neuzugezogenen Flüchtlinge auf Role Models aus der nahen Vergangenheit hinzuweisen und somit auch das gesellschaftliche Potenzial von Österreich als Aufnahmegesellschaft zu hinterfragen. Um den ökonomischen Integrationserfolg der ehemaligen bosnischen Flüchtlinge in Österreich zu analysieren, bedient sich der Autor András Szigetvari dann auch mehrerer expliziter Vergleiche zu einigen anderen großen Migrant*innencommunitys des Landes. So hätten 70 Prozent der Bosnier*in20 Die aktuellen Zahlen zur Mediennutzung in Österreich: https://www.clip.at/ranking-der-oesterreichischen-online-zeitungen-oewa-2021-teil-2/, letzter Zugriff: 01.12.2021.

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nen in Österreich im arbeitsfähigen Alter einen Job, während diese Quote bei den Serb*innen 55 und bei den Türk*innen 65  Prozent beträgt.21 Der Journalist versucht, diesem Umstand auf die Spur zu kommen, und befragte dazu zwei Migrationsforscher, die den Integrationserfolg bosnischer Flüchtlinge u. a. auch durch soziale Aspekte zu erklären versuchten. Der Integrationserfolg bosnischer Flüchtlinge auf dem österreichischen Arbeitsmarkt fuße demnach auf mehreren Faktoren: dem höheren Bildungsgrad im Vergleich zu anderen Communitys (z. B. der türkischen), vielen arbeitstätigen Frauen, einer Verschiebung der Geschlechterrollen während bzw. nach der Flucht sowie einer allgemein besseren Stimmung im Land und der Hilfsbereitschaft der Österreicher*innen gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina. „Arbeitsmarkt: Bosnier fassen besser Fuß als Serben“ (DiePresse.com, 30.11.2015)

Ein anderer Artikel aus der Tageszeitung Die Presse,22 der situativ in der gleichen innenpolitischen Lage in Österreich zu verorten ist, behandelt auch noch die zwei anderen Faktoren der Berichterstattung: den ökonomischen und den kulturellen, indem er etwa noch expliziter auf die Ethnisierung des Integrationsparadigmas eingeht. Der Titel selbst stellt direkt einen Vergleich zwischen zwei Diasporacommunitys an, die in Österreich meistens unter einer großen Gruppe der „Ex-Jugoslaw*innen“ subsummiert werden. Im Vorspann wird klar, warum gerade dieser Vergleich gezogen wird: „Überraschende neue Daten: Serben sind auf dem Arbeitsmarkt fast so schlecht integriert wie Türken, Bosnier – oft muslimische Flüchtlinge – ähnlich gut wie Österreicher.“ Diese Formulierung ist aus mehreren Gründen interessant. Die vergleichsweise schlechtere Integration der serbischen Diaspora wird als „Überraschung“ dargestellt. Das stellt tatsächlich einen Newswert für das österreichische Publikum dar, da in der Fremdwahrnehmung der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zwischen dem Integrationsgrad unterschiedlicher ethnischer Gruppen aus Ex-Jugoslawien oft nicht unterschieden wird. Der zweite Teil ist jedoch noch interessanter: Bei der bosnischen Diaspora wird zusätzlich die religiöse Komponente als Argument herangezogen – sie sind „oft muslimisch“. Das trägt dazu bei, die weit akzeptierte und teils von der regierenden Politik oft transportierte Meinung ­darüber, 21 https://www.derstandard.at/story/2000030611094/warum-die-integration-derbosnien-fluechtlinge-klappte-und-es-heute, letzter Zugriff: 15.11.2021. 22 Vgl. https://www.diepresse.com/4877903/arbeitsmarkt-bosnier-fassen-besserfuss-als-serben, letzter Zugriff: 12.12.2021.

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Muslim*innen seien ja schwer oder fast überhaupt nicht integrierbar, zu entkräften. Bosnier*innen seien also eine gut integrierte Diasporacommunity, auch wenn sie zu einem beträchtlichen Teil Muslim*innen sind. Im Artikel selbst wird auf die Religionsfrage nicht näher eingegangen. Lediglich an einer Stelle wird festgestellt, dass in den 1990er Jahren vor allem Muslim*innen im Zuge des Bosnien-Konflikts geflohen seien, was „einen Hoffnungsschimmer“ für die Bewältigung der damals aktuellen Flüchtlingskrise mit Syrer*innen, Iraker*innen und Afghan*innen „zulässt“. Der Autor Karl Gaulhofer versucht hier offensichtlich, am Fall der bosnischen Muslim*innen zu zeigen, dass die gute Integration von muslimischen Zuwanderer*innen in Österreich trotz weit verbreiteter gesellschaftlicher Skepsis möglich ist. Der Artikel lässt gleichzeitig weitere wichtige Integrationsfaktoren der bosnischen Diasporacommunity außer Acht wie den Bildungsgrad, die Lebenserfahrung und den historisch-kulturellen Background, der insbesondere im Fall der bosnischen Muslim*innen (Bosniak*innen) durch das ganze 20. Jahrhundert vorwiegend europäisch geprägt wurde. Die damals stark auf die Religionszugehörigkeit von Migrant*innen fokussierte Migrationsdebatte spiegelte sich somit auch zwangsläufig in der Medienberichterstattung wider und hatte zur Folge, dass gesamte Lebensrealitäten der Migrant*innen ignoriert und ihr oft vielschichtiges Dasein in der Aufnahmegesellschaft auf das bloße Religionsbekenntnis reduziert wurde. „Studie über Moslems: Bosnier und Iraner am liberalsten“ (nachrichten.at, 11.8.2017)

Dass die bosnische Community auch wegen ihrer Zugehörigkeit zum Islam für die Medienberichterstattung attraktiv ist, zeigt dieser Artikel der Oberösterreichischen Nachrichten.23 Das Motiv bzw. der Faktor der Berichterstattung ist hier klar ein kultureller bzw. religiöser. Konkret wird darin über eine Studie der Donau-Universität Krems berichtet, die an 1129 Befragten die Einstellungen von Muslim*innen in Österreich zu Gesellschaft, Familie oder Religionsverständnis analysierte. Im Artikel werden die Schlüsselergebnisse der Studie veröffentlicht, die Ergebnisse zu den bosnischen Zuwanderer*innen finden sich im Fokus des Artikels: So denken gut 60 Prozent der Befragten bosnischer Herkunft, dass sich der Islam an die Traditionen und die Kultur in Europa anzupassen habe. Drei Viertel der befragten Bosnier*innen halten die öster23 Vgl. https://www.nachrichten.at/politik/innenpolitik/Studie-ueber-Moslems-Bosnier-und-Iraner-am-liberalsten;art385,2647446, letzter Zugriff: 12.12.2021.

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reichischen Gesetze für gläubige Muslim*innen für „angemessen“ und messen dem Thema der Ehre in der Familie „am wenigsten Bedeutung“ zu. Die Umfrage ging also gezielt auf die Fragen ein, die zur damaligen Zeit im Fokus der hitzigen politischen Integrationsdebatten standen: (kulturelle) Werte, die Frage der Familienehre und (muslimische) Parallelgesellschaften. Interessant wird vor allem die Interpretation dieser Ergebnisse. So wird am Ende des Artikels Oberösterreichs FPÖ-Chef Manfred Haimbuchner zitiert, der von einer gescheiterten Integration spricht, aber gleichzeitig feststellt: „[…] lediglich bei bosnischen Muslimen ist zu erkennen, dass ‚sie in keiner Parallelgesellschaft leben‘“. Demnach dient also die bosnische Diasporacommunity auch der österreichischen Politik in ihrem oft widersprüchlichen Verhältnis zu den muslimischen Zuwanderer*innen als gern herangezogenes Role Model. So werden bosnische Muslim*innen aus der Diskussion um den politischen Islam bzw. radikale Tendenzen unter Österreichs Muslim*innen oft ausgeklammert. Die Bosnier*innen (interessanterweise wird in der österreichischen Terminologie, selbst wenn es um die Frage der Religion geht, nicht zwischen Bosniak*innen und Bosnier*innen unterschieden, diesen Unterschied findet man erst, wenn über die Situation in Bosnien-Herzegowina berichtet wird) bleiben für die österreichische Politik und Medien das beliebte Best-Practice-Beispiel einer gelungenen Integration. Ihre Religionszugehörigkeit wird in diesem Zusammenhang sogar als zusätzliches Argument herangezogen, dass das einschlägige Religionsbekenntnis kein Hindernis zur Integration bedeuten muss. So sagte Integrationsministerin Susanne Raab im September 2020 bei der Vorstellung des jährlichen Integrationsberichts: „Jeder Vierte mit türkischem Migrationshintergrund identifiziert sich eher mit der Türkei, jeder zweite mit tschetschenischem Hintergrund eher mit Tschetschenien, während sich 84 Prozent aller Bosnier Österreich zugehörig fühlen“.24 Die Auswahl fiel in diesem Fall keinesfalls zufällig auf die bosnische Diasporacommunity. Dieses systemische politische und mediale Vergleichsverhältnis kann für die bosnische Diasporacommunity in Österreich in ihrem Lebensalltag zwar vorteilhaft sein, es stellt sich jedoch gleichzeitig die Frage, wie diese Integrationsmuster und Interpretation die bestehenden Vorurteile zu bestimmten Migrant*innengruppen einzementieren bzw. dem gegenseitigen Vertrauen unter verschiedenen sozialen Gruppen in einer multiethnischen Gesellschaft wie Österreich schaden. 24 https://www.kosmo.at/84-prozent-der-bosnier-fuehlen-sich-oesterreich-zugehoerig/, letzter Zugriff: 13.12.2021.

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4. SCHLUSSFOLGERUNG

Die Stellung und die Identitätsbildung der bosnischen Diaspora ist auch stark medial geprägt. Im Spannungsfeld einer restriktiven Migrationspolitik sowie zahlreichen Herausforderungen im Alltag einer zunehmend multiethnischen Gesellschaft wie Österreich wird die Identität der hier lebenden Personen mit bosnischem Migrationshintergrund medial unter anderem durch ein vergleichendes Verhältnis zu den anderen großen Diasporacommunitys des Landes konstruiert. In diesem Verhältnis spielt die Skalierung einer gelungenen Integration die zentrale Rolle. Dabei wird der Beitrag der bosnischen Diasporacommunity zur Aufnahmegesellschaft durch eine Reihe von Faktoren in der Berichterstattung analysiert, die man in drei Gruppen einteilen kann: ökonomische, kulturelle und situative. Anhand der drei analysierten Zeitungsartikel lässt sich schließen, dass die Aufnahme und die Integration der großen bosnischen Community in den 1990er Jahren medial als Erfolgsgeschichte wahrgenommen wird und gerne als Vorbild für die Integration von Migrant*innengruppen herangezogen wird, die später nach Österreich geflüchtet bzw. eingewandert sind. Diese Art medialer Berichterstattung eröffnet jedoch eine Reihe von weiteren Fragen bzw. Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf die Festigung bestehender Vorurteile bzw. den Aufbau gegenseitigen Vertrauens zwischen unterschiedlichen Diasporacommunitys im Land. Literaturverzeichnis

Primärquellen

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Internetquellen

http//:www.archivdermigration.at, letzter Zugriff: 15.11.2021. https://www.clip.at/ranking-der-oesterreichischen-online-zeitungen-oewa-2021-teil2/, letzter Zugriff: 1.12.2021. https://www.kosmo.at/84-prozent-der-bosnier-fuehlen-sich-oesterreich-zugehoerig/, letzter Zugriff: 13.12.2021. https://kurier.at/mehr-platz/bosnier-und-serben-sehen-in-schallenberg-einen-freunddes-balkans/401765724, letzter Zugriff: 14.11.2021. https://www.osce.org/files/f/documents/2/c/110232.pdf, letzter Zugriff: 13.11.2021. https://www.wien.gv.at/menschen/integration/daten-fakten/bevoelkerung-migration. html, letzter Zugriff: 24.11.2021 und 11.03.2022. https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/geschichte/666823_Bewacht-vonBosniaken.amp.html?em_cnt_page=1, letzter Zugriff: 15.11.2021.

EIN HAUCH VON BEČ: SÜDSLAWISCHE SCHRIFTSTELLER*INNEN IN WIEN Mascha Dabić

Im vorliegenden Text möchte ich einen Überblick über Autorinnen und Autoren mit jugoslawischem (oder südslawischem) Bezug geben, die – zumindest in meiner Wahrnehmung als Übersetzerin und Leserin – in den letzten 15 Jahren literarische Spuren in Wien hinterlassen haben, sei es durch ihre Texte oder durch ihre Auftritte bei diversen Lesungen oder bei Buchmessen. Dieser Überblick erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll lediglich als ein Versuch verstanden werden, die „jugoslawische“ Prägung Wiens auch in ihrer literarischen Dimension zu erfassen. Es muss etwa im Jahr 2006 gewesen sein, als Barbi Marković und ich uns über den Weg liefen, hinter der roten Tür des Klubs slowenischer Studentinnen und Studenten im 7. Wiener Gemeindebezirk, in einer charmanten kleinen Straße, die einen Bogen macht und auf den schönen Namen „Mondscheingasse“ hört. Beide waren wir weder slowenisch noch aktive Studentinnen – ich hatte vor kurzem mein Studium der Translationswissenschaft in Innsbruck abgeschlossen, ein Doktoratsstudium in Wien inskribiert, und dolmetschte psychotherapeutische Gespräche mit russischsprachigen Klienten. Barbi hatte in Belgrad Germanistik studiert, setzte in Wien ihr Studium fort und jobbte nebenbei als Flyer-Verteilerin auf der Mariahilfer Straße, Kellnerin im Café Transporter und einiges mehr – aber Barbi hatte an jenem Abend eine Lesung im besagten Klub, und mich hatte es auch irgendwie dorthin verschlagen. Ohne Kommentar las also diese coole, hochgewachsene, blonde und auf eine subtile Art umwerfende junge Autorin aus Belgrad einen Text auf Serbisch, der auf mich großen Eindruck machte. Beim Zuhören merkte ich, wie jedes Mal, wenn im vorgelesenen Text prirodno zu hören war, bei mir automatisch die Assoziation naturgemäß auftauchte. Der Text klang nach Thomas Bernhard, aber in serbischer Sprache und in die 90er Jahre nach Belgrad verfrachtet – wie war eine solche sprachliche Zeit- und Raumreise nur möglich? Nach der Lesung fasste ich mir ein Herz und fragte die Autorin, ob sie sich denn beim Schreiben an Thomas Bernhard orientiert hätte. Bald war klar, es handelte sich um einen literarischen Remix von Bernhards Novelle Gehen. Einige Tage nach dieser Begegnung saß ich im Nachtbus nach Belgrad, mit Barbis im Belgrader Rende-Verlag erschienenen

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Taschenbuch Izlaženje in den Händen, den schmalen Band mit dem knallbunten Cover ans Fenster gepresst, und las mithilfe des schwachen Lichts vom Display meines alten Nokia-Handy immer weiter, weil ich nun mal nicht aufhören konnte zu lesen. Der ungewöhnliche, aber charakteristische Sprachduktus und die aberwitzige Story rund um drei junge Belgraderinnen ließen mich nicht los. Schnell war klar, jemand musste diesen Text unbedingt ins Deutsche holen, in die Sprache und in das Idiom Thomas Bernhards. Warum sollte dieser jemand nicht ich selbst sein? Einen Versuch war es wert, also machte ich mich an die Arbeit. Drei Jahre später erschien meine Übersetzung bei Suhrkamp (wie es dazu kam ist eine andere Geschichte – die Schlüsselrolle darin spielt der damalige FM4-Moderator und nunmehrige Direktor der Schule für Dichtung in Wien Fritz Ostermayer) und las sich in etwa so: Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus. Weil Bojana am Sonntag mit mir ausgegangen ist, gehst du jetzt, nachdem Bojana am Sonntag nicht mehr mit mir ausgeht, auch am Sonntag mit mir aus, sagte Milica, nachdem Bojana jetzt genug hat und vor der Glotze klebt.1

Und so avancierte Barbi zu einer im deutschsprachigen Raum rezipierten Autorin – einer Wiener Autorin, wenn man so will (einmal abgesehen davon, dass jede örtliche Zuschreibung zu einer Autorin oder einem Autor tendenziell irreführend ist), und ich hatte das Glück, nach Erscheinen von Ausgehen von diversen deutschen und österreichischen Verlagen weitere Übersetzungsaufträge zu erhalten. Es gibt einige Autor*innen, deren Schreiben einen direkten Bezug zu Wien aufweist. Einer davon ist Srdjan Knežević, dessen Buch Das weiße Zimmer 2019 im Achse Verlag in Wien in meiner Übersetzung erschienen ist. Srdjan (von seinen Freunden, und Barbi zählt maßgeblich dazu, Srki genannt) hat in seinem Buch das Thema der kriegsbedingten Migration mit dem Thema Homosexualität gekreuzt und die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der versucht, sich in Wien ein Leben aufzubauen. Dabei oszilliert er zwischen dem Rückzug in die Isolation in seinem weißen Zimmer („Tür zu“) und dem Versuch, sich der Außenwelt zu öffnen („Tür auf “) – er begegnet anderen Menschen, die durchwegs Farbennamen tragen (Schmutzig-Weiß, Hell-Blau, Hell-Rosa, Leuchtend-Gelb, Zitronengelb, Ultramarin etc.), die sein eigenes Spektrum er1

Marković, 2009, 7.

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weitern und ihn dazu bringen, sich weiterzuentwickeln, sein eigenes Schicksal zu akzeptieren und es auch in die Hand zu nehmen. Dem Buch liegt auch ein visuelles Konzept zugrunde, gestaltet vom serbischen Maler Petar Mirković. Unter anderem ist darin ein Foto zu finden, das die Freund*innen des Autors beim Sonnenbaden auf der Donauinsel zeigt. Der Text dazu: Wir feiern den menschlichen Körper. In einer Großstadt gibt es nichts Natürlicheres als den entblößten menschlichen Körper. Wir sehnen uns nach Aufrichtigkeit und Wahrheit. Endlich können wir unter der Sonne die echte Farbe unserer Haut sehen, wie sie sich spontan an die Natur um uns herum anpasst. Wir fühlen uns entlastet, demütig gegenüber der Natur, bescheiden angesichts der Welt, wir haben das Gefühl dazuzugehören, zu allem, das uns umgibt.2

Dieses Gefühl der Zugehörigkeit will sich jedoch nur punktuell einstellen, unter vertrauten Freunden und in der Intimität mit Liebhabern, denn der Alltag ist überwiegend geprägt durch das Gefühl der Fremdheit und einer existenziellen Überforderung. Der Ich-Erzähler schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, unter anderem betreut er ein autistisches Mädchen, mit dem sich eine ungewöhnliche und tragfähige Beziehung entwickelt. Genuss findet der IchErzähler gelegentlich in Klubs und auf Partys, im Exzess des Tanzens und Feierns, wo unmittelbare Begegnungen jenseits gesellschaftlicher Konventionen möglich sind. Eine Fixgröße in der Wiener Literaturszene der jungen Generation ist Olja Alvir. Die 1989 in Jugoslawien geborene Autorin und Essayistin, die auch im Journalismus Erfahrung gesammelt hat (unter anderem bei der Subredaktion der österreichischen Tageszeitung Der Standard, die aus Journalist*innen mit Migrationshintergrund bestand, daStandard.at, und bei der Wiener Zeitschrift Biber, die von und für Menschen mit Migrationshintergrund konzipiert ist), lebt seit 1992 in Österreich. Unter dem Motto „Ich komme in dein Land und störe deinen Lesefluss“ beschäftigt sie sich in Essays, Prosa und Lyrik mit Themen rund um Migration, Kultur, Feminismus und Bildung. Unter anderem befasst sie sich kritisch mit Narrativen des sogenannten „sozialen Aufstiegs“ von Migrant*innen. Im Jahr 2016 legte sie ihren Debütroman Kein Meer vor, der im Wiener Verlag Zaglossus erschien. Darin thematisiert sie den Krieg der 1990er Jahre ebenso wie die langfristigen Folgen dieses Krieges für eine junge in Wien le2

Knežević, 2019, 142.

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bende Frau und ihre Familienmitglieder in Österreich und in Bosnien. Sie lässt ihre Ich-Erzählerin zu Beginn des Romans in wenigen, prägnanten Worten festhalten, was es bedeutet, in einer jugoslawischen Familie in Wien aufzuwachsen und sich somit ständig mit der Ambivalenz konfrontiert zu sehen, einerseits als gut integriert zu gelten, andererseits dennoch nie so ganz dazugehören zu können: Ich bin eine von den Dafür-sprichst-du-ja-super-Deutsch-, Das-sieht-man-dir-abergar-nicht-an und Wahrscheinlich-bist-du-schon-ziemlich-lange-hier-oder-Ausländer_innen. Oder Migrant_innen, wie man heute sagt, obwohl das ja nur Augenauswischerei ist, einmal Ausländerin, immer Ausländerin. Ich bin zu jung, um das Recht zu haben, vom Krieg traumatisiert zu sein. Und ich bin zu alt, um nichts mehr davon wissen, nichts mehr damit zu tun haben zu wollen. Ich bin nicht bereit, in die Zukunft zu sehen, weiterzumachen, to move on, um die Migrationsmetaphorik zu bemühen. Ich habe nicht genug vom Krieg, ich kann gar nicht genug bekommen vom Krieg. Dieser Beauty-Blog ist einer für Frauen wie mich. Frauen mit Damenbärten. Frauen mit Narben. Frauen mit Kriegen. Frauen mit schrecklichen Schönheiten, entsetzlich schöne Frauen. Wer weniger sucht, ist hier falsch.3

Alvir setzt sich in unterschiedlichen Textformaten und Medien und stets mit einem ausgeprägt feministischen Anspruch mit dem Leben als „Ausländerin“ in Österreich auseinander. Dabei legt sie den Fokus auf die Anpassungsleistung von Migrant*innen, die schier unerfüllbaren Forderungen der Mehrheitsgesellschaft sowie auf die langfristigen psychischen Folgeerscheinungen von Krieg, Flucht und Migration. Ein weiterer in Wien lebender Autor der jüngeren Generation, der aus Jugoslawien stammt und auf Deutsch schreibt, ist Marko Dinić. Der 1988 geborene Dinić wuchs in Belgrad auf, zog 2008 nach Österreich und studierte in Salzburg Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte. Seit 2012 veröffentlicht er Prosatexte und Gedichte in diversen Anthologien und Zeitschriften. Im Jahr 2016 las er beim Ingeborg-Bachmann-Preis den Romanauszug Als nach Milošević das Wasser kam. In seinem 2019 im Paul Zsolnay Verlag erschienenen Roman Die guten Tage lässt er seinen Ich-Erzähler in einem typischen Gastarbeiterbus von Wien nach Belgrad durch die ungarische Einöde fahren. Der Bus fährt durch Wels, Linz, 3

Alvir, 2016, 8.

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Wien, Budapest, Subotica, Novi Sad und Belgrad, die Endstation ist Kragujevac. Es ist einer dieser Busse, die täglich hin- und herfahren, und die jene Menschen, die in Österreich nicht wirklich zu Hause sind und in Serbien nicht mehr zu Hause sind, in einer temporären, mobilen Behausung zu einer unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt. Ein Ort, an dem man mehr schlechte Musik und tragische Lebensgeschichten hört, als einem lieb ist. Nicht umsonst gibt es in Wien die Redewendung, „Der Balkan fängt in Erdberg an“, als Abwandlung zu der fälschlicherweise dem Staatskanzler Metternich zugeschriebenen Aussage: „Der Balkan beginnt am Rennweg.“4 Erdberg ist der auffällig unansehnliche Busbahnhof, von dem aus vollbepackte Reisende billig und unkompliziert in ihre alte Heimat reisen können.5 Dinić setzt sich kritisch mit dem eigenen Vater auseinander bzw. mit der Vätergeneration, deren Opportunismus und ideologische Verblendung der großen Katastrophe den Weg geebnet hatten. Der Autor setzt dem Gastarbeiterbus, den wohl jeder in Wien lebende „Jugo“ nur zu gut kennt, geradezu ein literarisches Denkmal: Diese Männer schickten sich nun an, den Bus während der fast fünfzehnstündigen Fahrt in ein Biotop aus Kuriositäten und Schweinereien zu verwandeln, die hier jedoch selbstverständlich waren. Sie nuckelten unentwegt an ihren mitgebrachten Schnapsflaschen oder tranken die Biere, die die Fahrer unter der Hand für einen Euro dreißig weitergaben. Stunden voll quälenden Turbofolk-Geplärres ergänzten den Saufbetrieb in den ersten Reihen. Hie und da – wenn es einem der Fahrer mal selbst zu viel wurde – spielten sie einige Lieder von Bijelo Dugme, bei denen die wallenden Gemüter verdächtig still wurden und eine nahezu nostalgische Andacht herrschte. Meist lief der Fernseher mit. Alte Diaspora-Filme über Žika, den alle nur Herr Žika nennen, der sich in den siebziger Jahren in Frankfurt als Klempner eine Wohnung in Belgrad erarbeitet hatte und nun in neun Filmen seiner ganz persönlichen goldenen Zeit nachtrauerte. Ich war froh, dass ich in Belgrad aussteigen musste.6

Dass der goldenen Zeit individuell wie kollektiv nachgetrauert wird, ist wohl der Grund dafür, dass im Gastarbeiterbus stets auch eine Melancholie mit4

5 6

Vgl. hierzu auch Mascha Dabić: Beč – Das Herz des Balkans im Standard, https:// www.derstandard.at/story/2000046043981/bec-das-herz-des-balkans, letzter Zugriff: 23.02.2022. Siehe dazu auch den Beitrag von Katharina Tyran zu Linguistic Landscapes und zur „Beschriftung“ des Busbahnhofs. Dinić, 2019, 10 f.

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schwingt, eine Erfahrung von Verlust und Trauer, die, wenn sie einmal gemacht ist, sich durch keine noch so gelungene Integrationsleistung aus der Welt schaffen lässt. Von Melancholie geplagt sind auch die Figuren in Dragan Velikićs Roman Bonavia, der 2014 in der Übersetzung von Brigitte Döbert bei Hanser Berlin erschienen ist. Der 1953 in Belgrad geborene Schriftsteller Dragan Velikić emigrierte 1999 vorübergehend nach Wien und Budapest. Von 2005 bis 2009 war er als serbischer Botschafter in Wien tätig. Er lebt in Belgrad und publiziert regelmäßig in Zeitungen und Anthologien zum Balkan. In Wien und generell im deutschsprachigen Raum ist er ein gern gesehener Gast bei Diskussionsveranstaltungen rund um die Themen Balkan und Mitteleuropa. Vor dem Hintergrund der gebeutelten Metropole Belgrad um die Jahrtausendwende, wo der Krieg noch nachwirkt und sich viele Menschen mit der Frage befassen, ob sie bleiben oder weggehen sollen, lässt Velikić drei Figuren in Wien stranden. Da sind etwa Marko Kapetanović, ein verhinderter Literat und Autor von Reiseführern über Osteuropa; seine Frau Marija, die Journalistin ist, und die er in der Visa-Abteilung der ungarischen Botschaft in Belgrad kennenlernt und später in Budapest erneut trifft, wo sie ihre Freundin Kristina begleitet, die die Alte Welt ganz hinter sich lassen will und nach Amerika emigriert. Als Kontrapunkt zu den drei Figuren fungiert Raša Borozan, ein Jugendfreund Kristinas, dessen Lebensmotto lautet „Die Welt ist da, wo du bist“, und der, allen Schwierigkeiten zum Trotz, in seiner Heimatstadt Zemun bleibt, da er der Meinung ist, ein Schriftsteller habe außerhalb des eigenen Sprachraums nichts zu suchen. In Wien werden Marko, Marija und Kristina mit existenziellen Fragen konfrontiert: Wie und wo soll man nach einem Krieg leben? Wie den Krieg hinter sich lassen? Wie den Banden der Familie entkommen? Sehr begehrt und stets gut besucht sind auch die Lesungen des aus Sarajevo stammenden und seit Mai 1993 in Zagreb lebenden Miljenko Jergović. Wann immer Jergović nach Wien kommt, strömt die gesamte „Diaspora“ herbei, sodass die Veranstaltungsräume – Alte Schmiede, Städtische Hauptbücherei oder Literaturhaus – geradezu aus allen Nähten platzen. So geschehen unter anderem unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie bzw. vor der Verhängung des ersten Lockdowns in Wien im März 2020 in der Städtischen Hauptbücherei, als der kroatische Starautor seinen Roman Der rote Jaguar in der Übersetzung von Brigitte Döbert präsentierte. Im Anschluss an seine Lesungen ergeben sich immer intensive Diskussionen, die sich später in einem Gasthaus fortsetzen. Die Lesungen von Jergović scheinen auch eine soziale Funktion zu erfüllen, nämlich Menschen mit Jugoslawien-Bezug in schöner Regelmäßigkeit zusammen-

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zubringen und in einem literarischen Rahmen gemeinsam über Jugoslawien, Politik, Fußball und vieles mehr nachdenken zu lassen. Jergović-Lesungen in Wien sind besondere Events, die über das Literarische hinausgehen. An dieser Stelle erlaube ich mir, eine Anekdote einzuflechten, die exemplarisch für das diffuse Ideal der vielbeschworenen gesellschaftlichen Verantwortung des Schriftstellers stehen mag: Nach einer Lesung von Miljenko Jergović in der Städtischen Hauptbücherei am Gürtel, bei der ich moderiert und gedolmetscht hatte, saßen wir noch stundenlang mit einem harten Kern aus dem Publikum im Gasthaus Schilling zusammen und diskutierten lang und breit über Jugoslawien („what else?“, oder „no na net“, wie man in Wien sagen würde). Danach fragte ich Miljenko: „Sag, wie kann es sein, dass du so viel Geduld hast? Nach einem anstrengenden Auftritt noch so lange mit völlig unbekannten Leuten diskutieren und sprechen?“ Miljenko antwortete sinngemäß: „Das fällt mir überhaupt nicht schwer, denn das bin ich den Menschen schuldig. Ein Buch liest sich nicht so schnell, wie man ein Bild anschaut. Jemand, der ein Buch von mir gelesen hat, hat einige Stunden in die Lektüre investiert. Stunden sind Lebenszeit, und Lebenszeit ist alles, was wir haben. Ich bin es einem Leser schuldig, ihm ebenfalls etwas von meiner Zeit zurückzugeben.“ Eine ganz besondere Poesielesung fand kürzlich in Wien statt. Die junge und sehr angesagte Dichterin Radmila Petrović, Jahrgang 1996 und Stipendiatin im Museumsquartier in den Monaten Januar und Februar 2022, hatte sich für die Vorstellung ihres Gedichtbands Moja mama zna šta se dešava u gradovima („Meine Mama weiß, was in den Städten los ist“) am 11. Februar 2022 einen ganz besonderen Ort ausgesucht: Das legendäre Jugo-Café Lepa Brena am Gürtel, in der Nähe des Westbahnhofs. Radmila setzt sich in ihren Gedichten mit ihrem Aufwachsen in einem kleinen serbischen Dorf auseinander, mit den dort vorherrschenden patriarchalen familiären Traditionen sowie mit Homosexualität im ländlichen Kontext. Es hat wenig Sinn, die intensive Atmosphäre ihres zweisprachigen Poesieabends, der mit kafanska muzika bis spät in die Nacht fortgeführt wurde, sprachlich wiedergeben zu wollen – man muss dabei gewesen sein. Dieser Abend brachte Menschen zusammen, die in Wien wohl die meiste Zeit über parallel nebeneinander existieren: die Stammkundschaft des Gürtellokals Lepa Brena und künstlerisch und intellektuell aktive junge Wahlwiener*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Lesungen sowie die Veranstaltungen der Buchmesse Wien (Buch Wien) bieten die Möglichkeit, das literarische Schaffen von Autorinnen und Autoren kennenzulernen, die im Museumsquartier als Artists in Residence jeweils einige Monate verbringen und an ihren Texten arbeiten. Mitunter entstehen

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dabei auch Texte, die direkt von Wien handeln. Auf jeden Fall lassen sich die Autor*innen bei ihren Aufenthalten von der Atmosphäre in Wien inspirieren – das ist es, was sie bei ihren Lesungen stets betonen. Im Jahr 2021 erschien auf Initiative von Karin Cervenka, Leiterin des Literaturreferats im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich (BMEIA), im Residenz-Verlag ein Band, in dem Texte von 46 Autorinnen und Autoren aus dem Schwarzmeerraum, Südost- und Mitteleuropa versammelt sind. Allen Autorinnen und Autoren ist gemeinsam, dass sie im Zeitraum 2010–2020 zu einem Residenzaufenthalt nach Wien kamen. Somit bietet der Band einen Überblick über literarische Stimmen benachbarter Regionen, oder, wie es im Klappentext zu dem 400 Seiten starken Band heißt: „Das Ergebnis ist ein aufregender, vielseitiger Reader, der die relevantesten Stimmen der letzten Jahrzehnte zusammenbringt und uns einlädt auf eine literarische Entdeckungsreise von Skopje nach Sarajevo, von Tirana nach Perm, von Minsk nach Tiflis, von Istanbul nach Chisinau.“ Die Autorinnen und Autoren, die auf Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch schreiben, sind folgende: Zlatko Paković, Ognjen Spahić, Tanja Šljivar, Lejla Kalamujić, Jasna Dimitrijević, Adisa Bašić, Nihad Hasanović, Senka Marić, Tanja Stupar-Trifunović, Goran Ferčec, Antonela Marušić, Petar Matović, Robert Perišić, Ivana Sajko, Saša Ilić, Ljiljana Maletin Vojvodić, Muharem Bazdulj und Andrej Nikolaidis. Die Übersetzungen der Texte aus dem Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen wurden vom Übersetzungsnetzwerk Traduki unterstützt und von Alida Bremer, Jelena Dabić und mir, Mascha Dabić, angefertigt. Wien stellt bei den genannten Autor*innen einen Bezugspunkt dar, was sich direkt und indirekt in ihrem Schreiben widerspiegelt. Die Themenwahl der Autor*innen kreist rund um die Katastrophe des Kriegs in Jugoslawien, wobei jede Autorin und jeder Autor wiederum einen ganz eigenen Zugang findet und seine speziellen Nuancen ausarbeitet. So beschäftigen sich Goran Ferčec und Lejla Kalamujić mit Homosexualität, Tanja Stupar setzt sich intensiv mit der Rolle der Frau auseinander, ebenso wie Tanja Šljivar, die sich auf pubertierende Mädchen konzentriert. Saša Ilić befasst sich mit der dunklen Seite der Psychiatrie, Zlatko Paković arbeitet mit Vorlagen aus dem Bereich der Philosophie, während Ognjen Spahić sich dem Schicksal von Kriegsveteranen widmet. Was alle eint, ist der Schreibaufenthalt in Wien. Einen wichtigen Platz in der Wiener (südslawischen) Literaturlandschaft nimmt das Textfeld Südost ein, eine Plattform für Literaturkritik und Kulturwissenschaft zu und aus Mittel- und Südosteuropa. Laut Eigenbeschreibung handelt es sich dabei um einen

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Dokumentationsort, digitale Projektpartnerschaft, Plattform für Literaturkritik und Kulturwissenschaft zu und aus dem mittel- und südosteuropäischen Raum, Präsentationsfeld von Wissensbeständen, elektronischer Raum für Bilder- und Textreisen, ein Werbesitz für die Wiener Soundspaziergänge und Infopool für und von junge/n Wienverbundene/n Kulturschaffende/n mit ähnlichen Interessen zugleich.7

Die Chefredakteurin der Plattform ist Elena Messner, die als Autorin, Komparatistin und Kulturwissenschaftlerin mit Kärntner-slowenischen Wurzeln und langjähriger Forschungs- und Studienerfahrung in Belgrad, Sarajevo und Zagreb wohl zu den wichtigsten Kennerinnen der zeitgenössischen südslawischen Literaturen zählt. Kehren wir wieder zurück zum Anfang: Die eingangs erwähnte Barbi Marković ließ mehrere Jahre nach ihrem Debüt Ausgehen verstreichen, bevor sie 2016 mit einem zweiten Roman aufhorchen ließ: Die Superheldinnen. Darin lässt sie drei junge Migrantinnen in Wien – die namenlose Ich-Erzählerin, Mascha und Direktorka – Superkräfte entwickeln, um sich und ihre Leidensgenoss*innen aus ihrer sozialen, durch und durch migrantischen Misere zu befreien und endlich in die Mittelschicht zu bringen. Die drei vom Leben gebeutelten Superheldinnen treffen sich regelmäßig im Café Sette Fontane am Siebenbrunnenplatz, wo sie gemeinsam ihre Pläne aushecken: Wir waren mit wertlosen Fähigkeiten ausgestattet, und deshalb brachte uns nichts, was wir tun wollten und konnten, genug Geld ein. Auf der Rangliste der Menschen standen wir nicht besonders weit oben. Wir machten wirklich widerliche Dinge, um zu überleben. Man konnte uns alles Mögliche nachsagen, nicht jedoch, dass wir das Leben nicht kannten. Das Leben kannten wir in schlechtem Licht, wie den Körper eines kranken Klienten, den wir schon oft gebadet und an- und ausgezogen hatte. Wir hatten Erfahrung und wir hatten die Nase voll.8

Und weiter: Das heimische Proletariat hatte naturgemäß nur Verachtung für uns übrig. Es war klar, dass diejenigen, die wenig hatten, Angst vor jenen hatten, die wenig zu verlieren hatten.9

7 8 9

Vgl. https://www.textfeldsuedost.com/, letzter Zugriff: 23.02.2022. Marković, 2016, 17. Marković, 2016, 35.

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In diesem skurril-irrwitzigen Roman erleben die drei Freundinnen schließlich ihr „neoliberales Roboterselftrackerastronautenhappyend“10 und erobern sich mithilfe ihrer Superkräfte schließlich ihren Platz an der Sonne in Wien, der Stadt ihrer Wahl, und das sieht dann folgendermaßen aus: Wir zahlen wieder mit unseren Karten und haben keine Angst, es könnte zu wenig Geld auf dem Konto sein. „In letzter Zeit habe ich angenehme Träume“, sagte Direktorka, während wir über die Mariahilfer Straße gehen. Selbst diese Straße hat sich verändert und ist zahm geworden, auch sie hat sich an unser neues Leben angepasst. Ich sage: „Ich will nicht schon wieder über die Vergangenheit sprechen, aber wisst ihr noch, wie wir uns früher immer mit existenziellen Fragen herumschlagen mussten und keine Kraft hatten, uns für irgendetwas anders zu interessieren? „Diese Zeiten sind zum Glück vorbei“, sagt Mascha, „jetzt können wir anfangen.“ „Was sollen wir anfangen?“, fragt Direktorka, die schon in Richtung Eissalon weitergegangen ist. „Uns zu interessieren“, sage ich. „für das Weltall, für Politik oder für Gartenkunst.“

Selbstverständlich müssen wir stets Werk von Autor *in und Fiktion von Realität trennen, und dennoch sei es mir gestattet, abschließend darauf hinzuweisen, dass die Superheldin mit dem Spitznamen Direktorka im (sogenannten) wirklichen Leben als „Razredna“ („Frau Klassenvorstand“) bekannt ist, die literarische Figur namens Mascha eine literarische Karikatur meiner Person ist, und die sozialen und seelischen Nöte der Superheldinnen durchaus unseren Strapazen aus der Zeit, die zu Beginn dieses Textes erwähnt wurde, nachempfunden sind. Einzelne Situationen haben sich in Wirklichkeit krasser zugetragen, als im Buch zu lesen ist, aber im Unterschied zu den Superheldinnen lassen unsere Superkräfte zu wünschen übrig. Die Superkraft unserer Realität ist wohl die Literatur selbst. Literaturverzeichnis

Alvir, Olja: Kein Meer, Wien 2016. Gauß, Karl-Markus: Erklärung für alles (Vorwort), Wien 2021. Dinić, Marko: Die guten Tage, Wien 2019. Jergović, Miljenko: Der rote Jaguar, Frankfurt am Main 2019. (in der Übersetzung von Brigitte Döbert; Originaltitel: Herkul) Knežević, Srdjan: Das weiße Zimmer, Wien 2019. Marković, Barbi: Ausgehen, Frankfurt am Main 2009. 10 Marković, 2016, 8.

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Marković, Barbi: Superheldinnen, Wien 2016. Petrović, Radmila: Moja mama zna šta se dešava u gradovima, Beograd 2021. Velikić, Dragan: Bonavia, Berlin 2014. (In der Übersetzung von Brigitte Döbert) Velikić, Dragan: Montevideo: duodrama, Beograd 2015. Zadužbina Petar Kočić (Deutsche Übersetzung: Mascha Dabić)

Internetquellen

Biber, die Zeitschrift: https://www.dasbiber.at/. Website von Olja Alvir: https://olja.at/. Buch Wien (Buchmesse): https://www.buchwien.at/. Textfeld Südost: https://www.textfeldsuedost.com/. Theateraufführung „Superheldinnen“ von Barbi Marković im Volxtheater: https:// onlinemerker.com/wien-volkstheater-volx-superheldinnen/, letzter Zugriff am 10.03.2022. Traduki (Übersetzungsnetzwerk): https://traduki.eu/.

DIE BULGAR *INNEN IN WIEN: EXOTISMUS DES GEGENSEITIG UNBEKANNTEN Bisera Dakova

Dass die Gegenwart der Bulgar*innen in Wien spürbar und auch sichtbar ist, sieht man gewöhnlich Ende März an verschiedenen Orten der Stadt. Dann wird in Wien, an aufgeblühten Sträuchern und Bäumen, die „Martenitza“ aufgehängt, ein in seiner Form variierender rot-weißer Faden. Es ist wohl das eindeutigste bulgarische Zeichen mit dem Wert eines Amuletts – es verscheucht die bösen Kräfte und beschert Freude im Vorfrühling. Martenitza-geschmückte Blüten sind im Volksgarten, im Stadtpark, im Setagayapark im 19. Bezirk zu sehen, fast könnte man diese Erscheinung im Vorfrühling eine „Invasion der Bulgaren“ nennen, die mittlerweile schon zum gewohnten Wiener Stadtbild gehört.1 Doch das Zeichen bleibt nicht immer stumm und unbeweglich: Im März trifft man nicht selten auf den Wiener Straßen Leute, die demonstrativ eine Martenitza an Mantel oder Jacke spazieren tragen. Außerdem ist in jedem Viertel Wiens die bulgarische Sprache zu hören – nicht nur in der Wieden, wo dies besonders häufig der Fall ist, da sich hier die bulgarische Botschaft befindet. Im Covid-Jahr 2020 konnte man auf den Eingangsschildern der Wiener Parks das Verbot, sich in Gruppen zu versammeln, auch auf Bulgarisch lesen – ein sprachlicher Beleg für die signifikante Anwesenheit von Bulgar*innen in Wien. Will man diese bulgarische Präsenz in Wien etwas statistischer angehen, dann ließen sich aufzählen: eine Hand voll bulgarischer Lebensmittelgeschäfte, zwei, drei Weinkeller, drei Restaurants, ein bulgarisches Theater (nicht weit vom Schwedenplatz), eine digitale bulgarische Buchhandlung (in der physischen Zeit vor der Pandemie befand sie sich in einem Weinlokal in der Operngasse, das zugleich als Sammelpunkt für Kulturveranstaltungen diente) bis hin zu Orten betont geistiger Aktivitäten. So initiierte die Gemeinschaft Kyrill und Method einen bulgarischen Literaturzirkel, gibt eine luxuriöse Zeitung für Bulgar*innen heraus und organisiert die hier unbedingt zu erwähnende rituelle Feier am Tag der bulgarischen Helden am 2. Juni. An erster Stelle als bulgarischer Ort steht aber das Bulgarische Kulturinstitut Haus Wittgenstein als wich1

Rumän*innen könnten zu Recht einwenden, dass diese Spuren des Aufbruchs rumänisch und nicht exklusiv bulgarisch sind.

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tigste Stätte für vielfältige Kulturveranstaltungen wie Ausstellungen, Lesungen, Musik- und Theateraufführungen, wissenschaftliche Foren für Studierende, das Begehen nationaler Feiertage und einiges mehr. Ebenfalls nicht vergessen darf man in einer solchen Aufzählung die bulgarisch-österreichische Schule Sveti Kiril i Metodij [Die Heiligen Kyrill und Method] in Wien, die Generationen in Wien geborener und aufgewachsener Bulgar*innen ausgebildet hat, sowie das Institut für Slawistik an der Universität Wien, an dem nicht wenige Studierende bulgarische Herkunft haben. Sie absolvieren hier ein Slawistik-Studium mit bulgarischem Schwerpunkt, wobei die Studierenden unterschiedliche Lebensgeschichten mitbringen: Bulgar*innen, die in Bulgarien maturiert haben, dann eine wachsende Anzahl solcher, deren Familie aus Bulgarien stammt, die aber in Österreich aufgewachsen sind, sowie Kinder aus gemischten Ehen, in welchen oft das österreichische Element überwiegt. Dazu kommt die sichtbare Wirkung von bulgarischer Musik in der Stadt: Beliebt in Wien ist das Trio Vladigerovs (Enkelkinder des berühmten bulgarischen Komponisten Pancho Vladigerov), deren Auftritte in Wien ein großes Publikum nicht nur bulgarischer Herkunft anzieht und deren Ethnojazz gleichermaßen Kenner und ein breites Publikum begeistert. Ihre Kunst ist berühmt für den Bann, in den sie zieht, inspiriert mit ihrem Ausdruck von Lebensfreude und überzeugt durch ihr professionelles Niveau. Nicht zufällig begleitet dieses talentierte Trio verschiedene Kulturveranstaltungen von Bulgar*innen in Wien: Feierabende im Haus Wittgenstein, offizielle Empfänge und Eröffnungen von Ausstellungen (wie z. B. im Jahre 2017 Ada Tepe: Das erste Goldbergwerk Europas im Kunsthistorischen Museum Wien), die Lesungen des bekannten Schriftstellers Dimitré Dinev (ein österreichischer Autor, bei dem sich das Thema der Migration als eine Art Exotismus entfaltet). Vielleicht ist ja die Behauptung, dass man sich dabei auf unikale ethnographische Merkmale stützt, nicht ganz korrekt. Die Unzertrennlichkeit von Musik und Literatur bezweckt jedoch eine komplexe Wirkung auf die Zuhörer*innen, indem sie eine emblematische Synthese erreicht, die doch mehr oder weniger „exotisch“ herüberkommt. Durch die temperamentvolle Musik wird der Text für ein fremdes Publikum zugänglicher und transparenter, aber auch umgekehrt – durch die Literatur gewinnt die Musik an semantischer Tiefe, sogar an konkreter regionaler Räumlichkeit. Zumindest war es so im Jahre 2018, als im Konzerthaus Dimitré Dinevs literarische Sujets durch die Musik der Vladigerovs begleitet wurden. Auch Kurse für bulgarische Volkstänze erfreuen sich großer Popularität, nicht nur unter den Bulgar*innen in Wien. Die These, dass die Musik zum markantesten Emblem des Bulgarischen in Wien geworden ist, kann an dieser

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Stelle durchaus vertreten werden. Das Bulgarische wird von Musik „feurig“schwärmerisch umhaucht – so eine positiv-balkanistische Betrachtungsweise, die in den Hintergrund treten lässt, dass es in Wien auch eine Armutsmigration aus Bulgarien gibt. Nach diesem Versuch eines kleinen Überblicks über die Präsenz von Bulgar*innen und des Bulgarischen, so es etwas dergleichen gibt, in Wien, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll das Augenmerk nun den Literaten und der Literatur gelten: Wie haben ausgewiesene bulgarische Autor*innen Wien wahrgenommen, wie prägte der Ort sie, oder im Gegenteil, wie unberührt und distanziert von Wien blieben sie hier in der Stadt? Zusätzlich soll hier der Versuch unternommen werden, eine Behandlung „des Bulgarischen“ von Wiener Autor*innen selbst (wenngleich fragmentarisch) ausfindig zu machen und zu deuten. Dabei geht es vornehmlich um die Zeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, und es gelingt hoffentlich zumindest teilweise, die Wechselwirkung und rätselhafte Kombination von sichtbar werdender Exotik und in Anonymität verbleibender Unsichtbarkeit von Bulgar*innen in Wien herauszuarbeiten.

1. DIE DUNKLE EXOTIK

Die balkanistische Überzeichnung einer dunklen Exotik der Bulgar*innen ist weit verbreitet. Dokumentarfilme wie Brüder der Nacht (Reg. Patrick China, 2016, 3sat-Dokumentarfilmpreis bei der Duisburger Filmwoche) wirken mit ihrer Exotisierung von Bulgar*innen beinahe traumatisch. Darin werden junge Roma-Männer aus Bulgarien nach Wien verfrachtet, um durch Prostitution Geld zu verdienen. Die finstere Realität im Hintergrund des Dokumentarfilms – junge und nicht gebildete Menschen, deren Körperlichkeit und Sexualität zu ihrem einzigen Kapital geworden ist – wird als bulgarisches Problem dargestellt. In keinem Fall soll hier die Wahrheit hinter diesen makabren, ja geradezu traurigen Bildern geleugnet werden, doch sind es die Klischees dahinter, die mich hier vielmehr interessieren. Die Gleichsetzung der bulgarischen Roma mit den Bulgaren selbst tut hier in der Überzeichnung beiden diskursive Gewalt an.2 2

Die künstlerischen Ziele des Werkes sind ganz evident, und man könnte sie hoch einschätzen: der Verweis auf Fassbinders Querelle (1982), die Wahl sympathischer Personen aus dieser Gruppe, die ihre Scheherezade-Geschichten erzählen, weil sie zu dieser Arbeit verurteilt sind, aber sich immer noch nach einem anderen Leben

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Zu einem gewissen Grad hat die Literatur selbst dazu beigetragen, dass solche abwertenden Bilder des Bulgarischen populär geworden sind und, trotz freundlicherer Visionen, die man vom Bulgarischen zeichnen könnte, den Status des Unwiderlegbaren erreichen konnten. Man denke etwa an den berüchtigten Baj Ganju aus dem gleichnamigen Buch von Aleko Konstantinov (1895): Die Figur des Baj Ganju ist der triumphierende Typus des primitiven Halb-Orientalen, des Balkanesen (sein Namenszusatz ist entsprechend auch Balkanski, d.h., aus der Balkanregion stammend). Warum erfreut sich diese Gestalt auch heute noch so hoher Beliebtheit? Aufgrund der Authentizität, die sie suggeriert wird– man ist dazu geneigt, keine fiktionale Figur in ihm zu sehen, sondern jemanden, der außerhalb der Literatur steht –, so stark hat die nachfolgende Wirklichkeit die Literaturfiktion bestätigt. Die von Aleko Konstantinov erfundene Literaturgestalt repräsentiert die urwüchsige, grobe, ungezähmte Vitalität eines befreiten, jungen Volkes – und Baj Ganju (dessen Initialen BG heute die abgekürzte Bezeichnung für Bulgarien sind) reist geschäftlich durch Europa, um die emblematische bulgarische Ware, das Rosenöl (in der Tat orientalisch) als Marktprodukt durchzusetzen, Werbung dafür zu machen und nützliche Kontakte zu knüpfen. Der Ort, wo sich Aleko Konstantinovs Held am längsten aufhält, ist Wien, und die symbolträchtigsten Blamagen passieren in dieser Stadt (in der Konditorei, in der Oper, im Bad). Wie vielmals in der Kritik hervorgehoben worden ist, wirkt dieser Literaturheld vor allem physisch, er besitzt keine Psychologie, keine „Seele“. Obendrauf zeigt er die Neigung, sich in öffentlichen Räumen zu entblößen, seinen mächtigen, behaarten, schmutzigen, verschwitzten Körper sichtbar werden zu lassen, ihn zu demonstrieren, und zwar stur und stürmisch, beinahe skandalös, wenngleich auch amüsant. Die wortwörtliche Entblößung Baj Ganjus findet im Wiener Bad statt: Sein entschiedener Sprung in das Bassin, nachdem er sich bekreuzigt hat, seine unkonventionellen Schwimmstile, die er beherrscht, seine ohrbetäubenden Ausrufe „Bulgar! Bulgar!“ stigmatisieren Bulgaren zu einem unverkennbaren „ewigen“ balkanistischen Bild. Symbolisch und parodistisch verkörpert Baj Ganju den Mut des bulgarischen, balkanischen Kriegers, seine Primitivität und unermessliche Lebensfreude. Er demonstriert seine unraffinierten Fähigkeiten, aber vor allem seine auffallende Leiblichkeit – ungebändigt und ungepflegt, genussgierig und unerfahren, brutal und unschuldig. Es liegt eine gewisse Aggression gegenüber den Fremden in Aleko Konstantinovs sehnen, und sich letztendlich im unfreundlichen Wien einsam fühlen. Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass die Personen im Film sich selbst authentisch darstellen, aber trotzdem die ihnen auferlegten Rollen spielen.

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Held, die verschiedene Varianten aufweist – er ist nicht nur der „verrückte Mensch aus dem Orient“, für welchen er von den im Bad anwesenden „Deutschen“ gehalten wird. Er ist die buchstäbliche Verkörperung des Eindringlings, des skrupellosen Invasoren, der trotz seiner oberflächlich angeeigneten Manieren als eine ungestillte Naturgewalt in die Zivilisation hineinstürzt.3 Die unwahrscheinlichen Erzählungen über einen gegenwärtigen Bulgaren (so lautet der Untertitel des Werkes) sind durch die offensichtliche Distanz eines Landmannes entstanden. Der Autor selbst stellt sich als einen unter den mehreren Erzählern von amüsanten Geschichten im Text dar. Das heißt, er ist nicht nur eine übergeordnete Instanz, sondern auch eine nebengeordnete Erzählfigur. Jede neue Geschichte im Narrativ ist von einem Binnenerzähler aus- und aufgeführt, und es entsteht eine eigenartige Wette unter den Erzählern, wer von ihnen die spannendsten Erlebnisse mit Baj Ganju berichten kann. Der Erzähler jeder Geschichte vergnügt sich dabei, eine Story solcherart erfunden zu haben. Natürlich, unzählige Male ist das ambivalente Verhältnis des Autors zu seiner Schöpfung interpretiert worden – hier unterstreiche ich nur, dass der Schriftsteller diese Entfremdung gegenüber seiner eigenen Gestalt brauchte, um alle bloßstellenden, heiklen Situationen objektiv-kritisch übergeordnet schildern zu können. Das Werk von Aleko Konstantinov wurde bald nach seinem Tode 1908 von Gustav Weigand ins Deutsche übersetzt. Obwohl es die riesige, unüberwindbare Diskrepanz zwischen Europa und dem Balkan vorzeichnete und das Bulgarische als unzertrennlich verwachsen mit dem Orient und dem Balkan darstellte, wurde der Text in Kreisen deutscher Slawistik sehr populär. In der wertvollen zweisprachigen Ausgabe des großen Forschers der Balkansprachen Gustav Weigand ist auch eine als „Erläuterungen“ betitelte Abteilung im Anhang zu finden, in der die unverständlichen orientalischen Gebärden und Rituale Baj Ganjus mentalitätsgeschichtlich gedeutet werden. Baj Ganju steht jedenfalls für den negativen Blick auf sich selbst, durch den sich die Bulgar*innen bis zum heutigen Tage selbst kritisch beäugen und beschreiben. Dieser Negativismus hat sich im Laufe der Zeit in die österreichische Literatur übertragen, und zwar in Werke, die eng mit Wien verbunden sind. Im Weiteren wird verfolgt, inwieweit das Bulgarische auch ein Begriff für österreichische Autor*innen geworden ist und wie das Bulgarische in ihrer Literatur zum Vorschein kommt. Auf die Erwähnung des Bulgarischen in der Komödie Komtesse Mizzi oder 3

Hier sind die zahlreichen Deutungen Alekos Gestalt absichtlich vergröbert, fast sogar tendenziös, um die enorme Aufdringlichkeit Baj Ganjos hervorzuheben.

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Der Familientag von Arthur Schnitzler (1907) stößt man eher zufällig. Als die Hauptperson in diesem Stück die lange Liste der Geliebten des Prinzen Egon aufzählt, nennt sie konkrete Namen: „Von der Frau des bulgarischen Attachés 1887 bis zu Fräulein Theres Gredin, wenn sie wirklich so heißt ...“.4 Ob hier „bulgarisch“ einfach als ein exotisches Ethnonym gebraucht wird, damit die Liebesaffären des Prinzen suspekter wirken, oder die Konkretheit des Jahres 1887 eine Anspielung auf ein bekanntes historisches Ereignis aus dem erwähnten Jahr bezweckt, bleibt unklar. Eindeutig aber ist die Inkludierung des Bulgarischen in diesen skandalös-berüchtigten Kontext, als eine Bezeichnung über die leichte, unsittliche, unanständige Moral. Diese flüchtige, einmalige Erwähnung wird noch spannend, weil Jahrzehnte später, in einem kompliziert erschaffenen Sujet, das sich im Wien der 1920er Jahre entfaltet, das Bulgarische noch einmal bemerkenswert zur Erwähnung kommt, und zwar ganz am Anfang des berühmten Wien-Romans von Heimito von Doderer Die Strudlhofstiege (1951): Solche Rumänen oder Bulgaren hat es zu Wien immer gegeben, meist im Umkreise der Universität oder der Musikakademie. Man war sie gewohnt: ihre Art zu sprechen, die immer mehr dem Österreichischen sich durchsetzte, ihre dicken Haarwirbel über der Stirn, ihre Gewohnheit, stets in den besten Villenvierteln zu wohnen, denn alle diese jungen Herren aus Bukarest oder Sofia waren wohlhabend oder hatten wohlhabende Väter. Sie blieben durchaus Fremde (denen aus der Heimat andauernd ungeheure Pakete mit ihren nationalen Leckerbissen zugingen), nicht so konsolidiert fremd wie die Norddeutschen zwar, sondern mehr sozusagen, hiesige Einrichtung, dennoch eben „Balkaneser“, weil sich bei ihnen das Spezifische ihres Sprechtones nicht ganz verlor.5

Weiterhin wird umständlich eine Randfigur in den Roman eingeführt, die als Triebkraft der Romanhandlung in Erscheinung tritt und an der eigentlich alle Vorurteile des Autors gegenüber den „Balkanesen“ zum Vorschein kommen. Erwähnenswert ist die Verwachsenheit und gemeinsame Nennung des Rumänischen mit dem Bulgarischen, die am Anfang des Romans auftritt und die auch heute für viele Österreicher*innen ihre Gültigkeit nicht verloren hat. Bei Heimito von Doderer geht die Zusammengehörigkeit beider auf der einen Seite mit einer gewissen Entgrenzung auf der anderen einher: Die beiden Hauptstädte, Bukarest und Sofia, werden zwar pedantisch unterschieden, aber die 4 5

Schnitzler, 1907, 30. Doderer, 1979, 9.

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„Balkanesen“ aus den beiden Ländern ähneln sich in ihrer glücklichen Anpassung an die Wiener Bedingungen sehr. Sie sind wohlhabend, streben nach Bildung und öffentlicher Anerkennung und erweisen sich als willkommene Mieter in Wien. Das Wesentlichste aber am Held Doderers, der nicht zufällig mit Ares verglichen wird, ist sein vom Autor ironisierter „Interventionismus“, sein Eroberungsdrang in die Privatsphäre der Anderen, das ungebändigte Temperament, halbversteckt hinter erlernten Manieren. Das ist jemand, der imstande ist, alle Hindernisse auf seinem Wege zu beseitigen, er betrachtet sie eigentlich nicht als Bürden, sondern als „Sünde gegen das Leben“6. Die geschickte Profanierung der Lebensphilosophie Nietzsches durch die Roman-Gestalt von Dr. Negria ist hier von besonderer Bedeutung: Dr. Negria tritt offensiv auf, er wird mit dem Neologismus „Durchbrecher“ umschrieben, also als jemanden, für den keine Tabus bestehen, der aber auch die lokalen gesellschaftlichen Umgangsformen kennt und zum Beispiel regelmäßig in den Heurigen Nußdorfs einkehrt, wo man ihn kennt und respektiert. Sein Name selbst ist schon indikativ: Boris Nikolaus Negria, so sein voller Name, impliziert im Nachnamen balkanistische Stereotype des „Dunklen“ und greift gleichzeitig mit dem Vornamen Boris einen typischen bulgarischen Namen auf, der heutzutage weltweit, damals aber als Name des bulgarischen Königs Boris  III. bekannt war. Der zweite Vorname Nikolaus könnte als Anspielung auf den Prinzen mit dem gleichen Namen, der seit 1927 die Regentschaft des rumänischen Königtums übernommen hatte, gedeutet werden. Das könnte bedeuten, dass die Unzertrennlichkeit des Rumänischen und Bulgarischen eine bewusste Zusammenschau der beiden unterschiedlichen Völker für den Romancier war. Vielleicht hat es Doderer auch Vergnügen bereitet, die unterhaltsame Gestalt von Dr. Negria zu erschaffen – eine Literaturfigur, die die Vorstellungen von den „Balkanesen“ in Wien geprägt hat und in der man die Verwandtschaft mit dem Baj Ganju von Aleko Konstantinov erst nach genauerem Hinsehen erkennen kann.

2. WIEN – DER ORT DER ABNEIGUNG, DER VORURTEILE UND DER NOSTALGIE

Es entsteht eine verblüffende Ähnlichkeit, als ob aus dem Roman Doderers entnommen, wenn man die Beschreibung von Photographien des Dichters Teodor Trajanov in jungen Jahren des Literaturhistorikers L. Udolph liest. 6

Ebd., 14.

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Eine Beschreibung, die gewisse interpretative Elemente beinhaltet: „[...] einen schmächtigen jungen Mann im Anzug mit Halstuch oder Binder, reichem Haar, das in einer wallenden Locke über die Stirn nach rechts gekämmt ist, und einem Oberlippenbärtchen, das seinem Gesicht eher stutzerhaften Ausdruck verleiht, doch auch hier wie immer anziehend die dunklen nachdenklichen Augen“.7 Die detailreiche Beschreibung entspricht jener im Roman Die Strudl­ hofstiege: „[...] beachtlich hübscher und ein eleganter Bursche obendrein“,8 in der ein fast schon melancholischer Dr. Negria sich in Wien gemütlich (in den Cafés und bei den Kulturveranstaltungen) und nicht so wohl (als Haupt seiner neugegründeten Familie) fühlt. Trajanov und Negria ähneln sich also in der Beschreibung. Trotzdem aber war Wien für Trajanov anziehend, er war in dieser Stadt beheimatet, kannte sich hier aus, ging mit den damals aktuellen Kulturbegriffen um, hatte sie in seine Weltanschauung aufgenommen, ist ein „echter Wiener“ geworden, obwohl in seinen poetischen Werken Wien als direkt genannter Topos nie auftauchen wird. Man könnte lediglich bestimmte Bilder der Sezession in seiner Frühdichtung (die ewige Jugend, den sakralen Frühling) wiedererkennen, d. h., es gibt dort keine klaren WienReferenzen, sondern es ist nur eine angedeutete Atmosphäre darin zu verspüren. Wahrscheinlich fühlt er sich deshalb bei seinen Aufenthalten in Sofia als ein „magnetisches Literaturwesen“9 anderen Literaten gegenüber, wie man der Studie Млада Виена в млада България [Das junge Wien im jungen Bulgarien] von Mladen Vlashki entnehmen kann. Vom antimodernistisch gestimmten Klassiker Ivan Vazov wurde Trajanov als durchaus dekadent und entfremdet wahrgenommen, er glaubte „diese[n] Wolfsnebel in seinen Augen“ 10 zu sehen. Der „nebulose“ Blick, Trajanov zugeschrieben, war ein Ausdruck der Abneigung seitens Vasovs gegenüber den innovatorisch-unverständlichen, reißerisch-dekadenten Gedichten Trajanovs aus den Jahren 1905–1906, in deren hypnotisch-betäubenden Atmosphäre es Anklänge von Felix Dörmann, Arthur Schnitzler, Otto Weininger zu verspüren gab. Diese Texte haben die damaligen Leser in Bulgarien tief beeindruckt und nicht ­wenig schockiert. Folgt man der Literaturgeschichtsschreibung, be7 8 9 10

Udolph, 1993, 18. Doderer, 1979, 59. Vlashki, 2017, 173. Vlashki, 2017, 135. Der Monographie Млада Виена в млада България. Драматургията на „млада Виена“““ и литературните и театрални проекции в България (2017) von Mladen Vlashki (einem vertieften Forscher der Bulgaren in Wien) bin ich für meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen dankbar.

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nahm sich Trajanov nach seiner endgültigen Rückkehr nach Bulgarien wie ein „echter Wiener“, verbrachte die meiste Zeit in den Cafés, versuchte die Wiener Gepflogenheiten in Sofia „anzupflanzen“ und zu kultivieren. Dieses fremdartige Verhalten seit dem Anfang der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts ging mit der Etablierung des Dichters als Urheber des bulgarischen Symbolismus einher. Die unentwegte Apologetisierung Trajanovs als der einzig große bulgarische Symbolist wurde vom Literaturkreis Хиперион (Hyperion) konsequent durchgeführt, an der Spitze mit dem Ideologen des Symbolismus in Bulgarien – Ivan Radoslavov. Ganz anders verläuft die Wahrnehmung Wiens bei dem elitären Kritiker und Gründer der Zeitschrift Missal Dr. Krăstjo Krăstev im Jahre 1895. Vom Anfang an ist er voller Vorurteile gegenüber Wien und seine Bewohner*innen. Ähnlich wie der berüchtigte Baj Ganju von Aleko Konstantinov will er nichts von Wien erfahren und nichts besichtigen. Letztlich bleibt Dr. Krăstev, wie er selbst angibt, von Wien unberührt, wenngleich er in seinem Text allerhand kritische Anmerkungen vorzubringen und Bilder von „unflätigen Wiener Weibern“ festzuhalten weiß. Es handelt sich dabei um Tänzerinnen in „wollüstigen Verrenkungen“, um unsittliche Blumenverkäuferinnen und um bulgarische Staatsmänner (Bürgermeister, Exminister), die ihr Geld in den Bordellen Wiens vergeuden. Der Blick Dr. Krăstevs auf Wien enthält in seinem authentischen Negativismus auch einen positiven Eindruck, eine Vorstellung, die jene über das lasterhafte Wien ein wenig in den Hintergrund schieben kann: Es ist seine enorme Begeisterung für die Wiener Architektur, vor allem des Universitätsgebäudes und der Gemäldegalerie. Der Besucher der Galerie erlebe sogar das Paradoxon, kein einziges Kunstwerk wirklich zu genießen, weil man von der Architektur des Gebäudes völlig eingenommen ist. An dieser Stelle muss auch noch daran erinnert werden, dass es Dr. Krăstev war, der den fast erblindeten, an einem Suizidversuch gescheiterten bekannten bulgarischen Dichter Pejo K. Javorov im Jahre 1914 nach Wien gebracht hat, damit er bei einem Augenspezialisten Heilung findet. Javorovs tragische Lebenssituation begann mit dem Selbstmord seiner Gattin Lora Karawelova, dem sein misslungener Versuch, seinem eigenen Leben auch ein Ende zu setzen, folgte. Diese Begebenheit wurde damals in den Wiener Zeitungen kommentiert. Der berühmte Augenspezialist, zu dem der Erblindende gebracht wurde, erkannte daher den bulgarischen Dichter Javorov in seinem Patienten. Javorov konnte seinen Gesichtssinn nie wiedergewinnen und hat Wien daher zu dieser Zeit auch nicht gesehen. Zwar verweilte er zehn Jahre vorher, im Jahre 1904, in

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Wien, von diesem Aufenthalt sind aber nur ein paar spärliche und rätselhafte Zeilen geblieben, die das Hotel Hammerrand, die Peterskirche und den Prater nennen. Und so wissen wir wenig über Javorovs Wien, doch geht aus seinen Notizen hervor, dass Javorov die Wiener Sehenswürdigkeiten als übliche Wiener Orte wahrgenommen hat. Bei dem Zeitgenossen Javorovs – dem begabten, aber skandalösen Autor Kiril Christov – wirkt Wien am Beginn der 1920er Jahre noch gewöhnlicher, im verschärft negativen Sinn. In seinen Texten steht die Abneigung im Vordergrund, beinahe liest man daraus die Abscheu des Beschreibenden gegenüber einer allgemeinen Verdorbenheit Wiens. Der Autor befindet sich im ständigen Zustand der Empörung, wenn es um Wien geht: von den geldgierigen Kutschern bis zu den eigensüchtigen, reichen Bulgaren, die sich in Wien seit langem niedergelassen haben. Darüber hinaus wird ein äußerst stigmatisiertes Bild Wiens konzipiert, das er als einen Kreuzweg des Bösen, einen Grenzort also definiert und als „gegenwärtiges Sodom“ beschreibt.11 Man könnte sagen, dass bei Kiril Christov die Vorurteile gegenüber Wien und den Wiener*innen – die er als „leeren Menschen“ charakterisiert, die den ganzen Tag in den Lokalen hocken – ihren Höhepunkt erreicht haben, als das Bild eines ruinierten, verkommenen Wien im Roman Jazz (1925) von Felix Dörmann entworfen wurde. Freilich kommen bei Dörmann die „Eindringlinge“ aus dem Osten (die Hauptperson ist nämlich ein Krimineller aus Ungarn), die die aristokratische Hauptstadt profanieren und „besudeln“. Da ist die Rede davon, dass „Wien balkanisiert und verzigeunert [wird]“ und von „pechschwarze[n] Balkanfiguren – Slawinentypen“. „Wir leben ja in diesem armseligen Wien umsonst“ und „Die dunklen slawischen Augen glänzen wie im Wahnsinn“, so Dörmann.12 Das heißt, Leute wie Kiril Christov, die sich kurzweilig im Wien der 20er Jahre aufgehalten haben, könnte man als negativ markierte, physiognomisch konkretisierte Typen in Dörmanns Roman „erkennen“. Der Roman von Felix Dörmann spielt im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, als Wien auch zu einem Anziehungsort für Kriminelle verwandelt war. Jedenfalls entsteht hier eine ungewollte Übereinstimmung im Bild des untergehenden Wiens aus der Nachkriegszeit. Wien erweist sich auch als ein Ort der totalen Einsamkeit, des bedrückenden Hermetismus: wieder in dieser Periode wird ein anderer ausgewiesener bulgarischer Dichter – Nikolaj Liliev – sich hier niederlassen, er wird sogar im AKH operiert werden. Ein trübes Erlebnis für ihn, das er in seinem Poem 11 Christov, 1967, 10/553. 12 Dörmann, 2012, 55; 96; 257.

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Зад стената [Hinter der Mauer], 1923, wiedergeben wird. In diesem Text wird Wien nicht genannt, aber man vernimmt deutlich die Dynamik der Großstadt mit „Marmortoren“, das Donnern der Straßenbahnen („Замлъква сетен/ трясъкът зловещ/на тежките трамваи запъхтени“ [Es verstummt/das Krachen unheimlich/der schweren keuchenden Trams]),13 und dieses Detail färbt das ganze Bild, bestimmt die Wahrnehmung des lyrischen Ich, das über seine ‚Endlichkeit‘ im hermetischen Raum des Krankenzimmers reflektiert. Es handelt sich namentlich um die Wirklichkeit außerhalb der Innenwelt des Individuums – chaotisch, beweglich, beschleunigt. Mit diesem Werk, sowie auch mit den Frühtexten aus seiner Pariser Zeit, wo erneut verschiedene Elemente der Metropole zu beobachten sind, zeigt sich der „reine“ Symbolist Nikolaj Liliev als ein unverkennbarer Vorgänger seines unnachgiebigen Verkenners Atanas Daltschev. Die Opposition zwischen äußerer Dynamik und innerem Hermetismus erlangt ihren heftigsten Ausdruck im emblematischen Gedicht Daltschevs Дяволско [Teuflisch]. Im Schaffen Lilievs kommt aber Wien eher flüchtig vor oder bleibt unerwähnt. Die Stadt ist nicht prägend für sein lyrisches Denken, wird zu keinem Objekt der Begierde, in der Tat bleibt von Wien vor allem die Abneigung gegenüber dem Lärm und der Hastigkeit des Alltags. Dabei stammen seine Erlebnisse wohl aus demselben Teil der Stadt, die Heimito von Doderer im Roman Die Strudlhofstiege so erhaben-harmonisch darstellt. Die Idee der Marginalität wird für einen zeitgenössischen erfolgreichen Autor, dessen Werk zur österreichischen Literatur gehört, durchaus produktiv: Dimitré Dinev. Das gilt für seinen Erzählband Licht über dem Kopf (2005) und vor allem für den Roman Engelszungen (2003), der nicht selten als eine Art Reiseführer für Österreicher*innen durch das totalitäre Bulgarien аufgefasst wird. Die literarischen Figuren Dimitré Dinevs, die in den 1990er Jahren nach der Wende in Wien Fuß fassen, sind grob typisiert immer wieder als abenteuerlich, unternehmungslustig, risikofreudig und auffällig-exotisch dargestellt, im Prinzip sind sie ‚Außenseiter‘. Sie kommen nach Wien wie ins Gelobte Land, sie brauchen dringend eine neue, legitime Identität, deswegen wechseln oder verdrängen sie ihre bulgarische Herkunft mit erstaunlicher Leichtigkeit. Trotz ihrer starken Eigenschaften sind diese Figuren als Marionetten konzipiert: Sie werden vom Autor bewegt, um die Sehnsucht nach Erlösung, die mit Wien gleichgesetzt wird, personifizieren zu können. Eindeutig sind sie in das Milieu der Flüchtlinge und Migrant*innen, der sogenannten „Tschuschen“ (so bezeichnet in der gleichnamigen Erzählung Licht über dem Kopf) eingeschrieben, 13 Liliev, 1964, 139.

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und von dort erschließt sich auch das spezifische Bild Wiens. Wenn man die Werke Dinevs genauer studiert, wird man bemerken, dass in diesen Texten durchaus Schlüsselorte Wiens wie die Kärtner Straße, der Ring, der Zentralfriedhof auftauchen, die aber aus einem marginalen Blickpunkt beleuchtet sind. So wird zum Beispiel die Kärtner Straße durch die Wahrnehmung des Mannes geschildert, der dort selbst als ein wandelndes Werbeplakat arbeitet. Das Wien der 1990er Jahre, das stark an das Wien Felix Dörmanns erinnert, wird mit überzeugender Konkretheit auch von Bogomil Rajnov, dem etablierten Krimiautor, im Roman Ченге втора употреба [Ein Bulle secondhand], 2000, dargestellt. Wien wird als ein Handlungsort entworfen, an welchem der ehrgeizige Agent Emil Boev gegen wohlhabende Bulgaren in einer mafiös-kriminellen Umgebung ermittelt und diese entlarvt. Nicht zufällig verbringt der Hauptheld, seine Beute abwartend, die meiste Zeit in Wiener Konditoreien, die hinter der Mariahilfer Straße verborgen sind. Bogomil Rajnov, der ein sehr anschauliches Wiener Stadtbild im Roman erschafft, bleibt dabei sehr genau, was die Toponymie Wiens anbetrifft. Wien ist für diesen Autor kein dekoratives Emblem, kein repräsentativer Handlungsort, sondern ein realitätstreues Topoi-Netz für die ideologische Begegnung der Vertreter „zweier gegeneinander kämpfenden Welten“. Kehren wir zu dem bemerkenswerten Jahre 1914 zurück, zu einem Kulturereignis, einer betont bulgarischer Aufführung in der Volksoper – Der junge König, nach dem Märchen von Oscar Wilde (Libretto: Teodor Trajanov, Musik: Dimităr Karadzov, Regie: Reiner Simons). Mit dieser Vorstellung damals, heute in der Erinnerung Wiens verblichen, feierten die Bulgar*innen in Wien einen bedeutenden Kulturtriumph. Bedeutungsvoll sind in diesem Kunstwerk die Situierung der Handlung im ruhmreichen Bulgarien des Mittelalters und die Musik von Dimităr Karadzov, die eine gelungene Synthese folkloristischer Elemente mit Anklängen des Wagnerschen Lohengrin darstellt. Aus der Forschung von Mladen Vlashki, der das Libretto im Niederösterreichischen Landesarchiv (heute in St.  Pölten) entdeckte, es in seiner Monographie wiedergibt, und die authentische Atmosphäre aus Zeugnissen und Rezensionen von damals rekonstruiert, kann man ersehen, wie Trajanov das Original von Oscar Wilde „verbulgarisiert“, es in einen bulgarischen Kontext umsetzte.14 Der Librettist ändert die Zeit und den Ort der Handlung vollkommen ab – alles spielt im bulgarischen Reich des 13. Jahrhunderts – und fügt außerdem ausgeprägte Symbole der politischen Macht zum Text hinzu, wie zum Beispiel ein Schwert. 14 Vlashki, 2017, 328–331.

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Die Aufführung beeindruckte das Wiener Publikum nicht nur mit exotischen bulgarischen Zügen, sondern auch mit den angeeigneten Merkmalen des dominanten künstlerischen Stils jener Zeit: goldene Verzierungen im Geiste Gustav Klimts, moderne Lichteffekte und Massenszenen.15 Die Trajanov’schen Visionen wurden aus diesem Szenario in dessen Umbruchbuch Български балади [Bulgarische Balladen] 1921 übertragen. Sie erweisen sich sogar als eine Vorahnung für den aufschlussreichen Inhalt des Fluches und der Beschwörung in dieser höchst merkwürdigen Gedichtsammlung, emblematisch für die fundamentale Wende in der symbolistischen Poetik der neueren bulgarischen Literatur. Auch in diesem Buch ist die Verflechtung zwischen dem Heldenpathos und dem historischen Geheimnis vorhanden. Das Gedicht Заклинание на меча [Beschwörung des Schwertes] ist vielsagend in diesem Sinne. Darin findet sich die gleiche Faszination vor der Macht, hier indes dichterisch besungen und verewigt. Visionen aus dem Mittelalter, die Suche nach der Kontinuität in der bulgarischen Geschichte, die Reflexionen, resignativ-erbittert oder dreist-erheitert, über das bulgarische Schicksal sind überhaupt für den Inhalt des Buches kennzeichnend. Dieser Aufstieg, die triumphale Evidenz des Bulgarischen im Jahre 1914 (eigentlich ein Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg) muss ständig in der Erinnerung wachgehalten werden, damit man den standfesten Figuren der Demütigung und der Marginalisierung (grundsätzlich spektakulär für die Literaten) einigermaßen widerstehen kann.

3. EIN ESSAYISTISCHER EPILOG

Ich war mit einer bulgarischen Studentin im winzigen behaglichen Café Nest, das sich in einem entlegenen, unbekannten Stadtteil Wiens befindet – im 19.  Bezirk, in Sievering, unter üppigem Grün, prächtigen Blüten, gegenüber beeindruckenden sezessionistischen Villen, aber auch neben Gemeindewohnungen aus den 1950er Jahren, ornamentiert mit markanten Mosaiken, typisch für diese ganze bezaubernde Randgegend Wiens. Wir unterhielten uns über die vielen Bulgar*innen in der Stadt, und auch darüber, dass man sich manchmal peinlich berührt fühlt, wenn man um sich herum Bulgarisch hört und nicht immer adäquat darauf reagieren kann. Wir waren in unser Gespräch versunken, und uns sicher, dass unsere Worte für die anderen Besucher des Cafés 15 Ebd., 324–334.

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unverständlich bleiben, als ein Bauarbeiter, der sich gerade an der Bar etwas bestellt hatte, sich zu uns wandte und sagte: „Да, и аз така се чувствам“ [Ja, auch ich fühle mich so]. Literaturverzeichnis

Christov, Kiril: Vreme i săvremennici. Otkăsi ot dnevnik v 11 toma. Tom 10. Sofia 1967. Doderer, Heimito von: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, München 1979. Dörmann, Felix: Jazz. Wiener Roman. Mit einem Nachwort von Alexander Kluy, Wien 2012. Konstantinov, Aleko: Baj Ganju. Neverojatni razkazi za edin săvremenen bălgarin, Sofia 1895. Krăstev, Krăstjo: Po čuzhbina. V Vena (Edin otkăslek), in: Misăl V (1895), H. 5, S. 546. Liliev, Nikolaj: Săčinenija. Tom părvi, Sofia 1964. Schnitzler, Arthur: Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Komödie in einem Akt, in: Schnitzler, A.: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. Zweite Abteilung: Die Theaterstücke in vier Bänden. IV. Bd., Berlin 1918. Udolph, Ludger: Teodor Trajanov: Die Entwicklung seiner Lyrik 1904 bis 1941, Köln/ Weimar/Wien 1993. Vlashki, Mladen: Mlada Viena v mlada Bălgarija. Dramaturgijata na „mlada Viena“ i nejnite teatralni i literaturni proekcii v Bălgarija, Sofia 2017. Weigand, Gustav: Aleko Konstantinofs Baj Ganju, Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Prof. Dr. G. Weigand, Leipzig 1908.

SÜDSLAWISCHE MIGRATIONEN, ERINNERUNGEN, IDENTITÄTEN: ANKOMMEN IN WIEN

FLÜCHTEN, ANKOMMEN, ERINNERN: EINE AUSSTELLUNG ALS ERINNERUNGSORT EX-JUGOSLAWISCH-WIENER GEGENWART Vida Bakondy/Amila Širbegović

„Alle Dinge, die ich besaß, bedeuten allein mir etwas und niemanden sonst, denn diesem meinem Gepäck und Krimskrams verleihen allein mein Stempel und meine Existenz einen Sinn.“ Mile Stojić, Via Vienna.

Unter dem Titel Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien – Geschichten von Geflüchteten war von 15. September bis 14. November 2020 in der Hauptbücherei am Gürtel in Wien erstmals eine Ausstellung zu sehen, die sich den Geschichten von Menschen widmete, die im Zuge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre aus ihrem Land flüchten mussten und in Wien ein neues Zuhause gefunden haben.1 Im Mittelpunkt standen Erfahrungen und Erinnerungen ehemaliger Geflüchteter, die anhand persönlicher Erinnerungsstücke und Dokumente erzählt wurden. Die gesellschaftspolitische Relevanz und brennende Aktualität des Themas Flucht sowie die fehlende zeithistorische Aufarbeitung dieser spezifischen Fluchtgeschichte(n) als integraler Teil österreichischer und Wiener Zeitgeschichte gaben den Impuls für diese Ausstellung. Zudem jährte sich 2020 das Ende des Krieges in Bosnien, der die größte Fluchtbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich zur Folge hatte, zum 25. Mal. Als Kuratorinnen der Ausstellung waren wir (Amila Širbegović und Vida Bakondy) jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen kommend in das Thema involviert: Amila flüchtete im April 1992 als 14-jährige Teenagerin mit ihrer Familie aus der bosnischen Stadt Brčko nach Wien und brachte neben ihrer Arbeit als Architektin, Migrations- und Stadtforscherin einen persönlich-biographischen Zugang mit ein. 1

Die Ausstellung wurde aus Mitteln der Stadt Wien – Integration und Diversität (MA 17) finanziert. Trägerorganisation des Projektes war die Initiative Minderheiten Wien, die bis heute bezüglich der Musealisierung von Geschichten marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen in Österreich wichtige Pionierarbeit leistet.

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Vida hatte sich davor als Historikerin und Kuratorin in verschiedenen Projekten mit der Historisierung und Musealisierung österreichischer Migrationsgeschichte auseinandergesetzt. Eine Vertiefung in das Thema fand im Rahmen des Projekts Fluchtpunkt Wien statt.2 Aus diesen genannten Voraussetzungen und Zugängen entwickelte sich der gemeinsame Wunsch, eine differenzierte Betrachtungsweise auf diese Thematik zu ermöglichen und sie einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Folgenden möchten wir über die Ausstellung Nach der Flucht als Erinnerungsort und Schauplatz einer geteilten, ex-jugoslawisch-Wiener Vergangenheit und Gegenwart reflektieren. Die konkrete Vergegenwärtigung vollzieht sich durch den Fokus auf bisher in der Stadtgeschichte marginalisierte Fluchtgeschichten und Erinnerungen. Diese verbinden die Biographien von nunmehrigen Wiener*innen mit spezifischen Orten und Ereignissen im ex-jugoslawischen Raum sowie Erinnerungen an diesen. Welche Bedeutung kommt dabei persönlichen Dingen zu – als Erzählgeneratoren für Erinnerungen, aber auch als Vermittler von Fluchterfahrungen? Welche neuen Sichtweisen eröffnet dieser methodische Zugang auf die Beziehung von Menschen zu Dingen im Kontext von Flucht? Mit dieser aus der Praxis kommenden Fragestellung knüpfen wir an anthropologische Forschungsarbeiten an, die sich mit mitgenommenen, verlorenen und erworbenen Objekten im Kontext von Migration, Flucht und Exil auseinandersetzen.3

1. AM KNOTENPUNKT URBANER VIELFALT IN WIEN

Die städtische Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz wurde bewusst als Ort für die Ausstellung gewählt. Der Wiener Gürtel, wo sich das Gebäude befindet, liegt zwischen den bürgerlichen inneren Bezirken und den traditionellen Ar2

3

Fluchtpunkt Wien wurde von Vida Bakondy in den Jahren 2016 und 2017 durchgeführt. Die Aufgabe bestand im Sammeln von Zeugnissen der materiellen Kultur für das Wien Museum, die die Geschichten jener Menschen erzählen sollten, für die Wien im Zuge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens zu einem neuen Zuhause wurde. Bakondy, 2018, 185–191. Parkin, 1999, 303–320; Turan, 2010, 43–56; Ryan-Saha, 2015, 96–112; Üllen, 2017; Höpfner, 2018. Siehe auch aktuell laufenden Forschungsprojekte an der Fachhochschule St.  Pölten und am Institut für Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen: https://research.fhstp.ac.at/projekte/nicht-im-gepaeck-ueber-mitgebrachte-zurueckgelassene-und-neu-erworbene-dinge-im-kontext-von-fluchtund-vertreibung; https://materialitaet-migration.de/, letzter Zugriff: 27.07.2021.

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beiter*innenbezirken in den ehemaligen Vororten im Westen. Die außerhalb des Gürtels gelegenen Bezirke Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals sind seit den 1960er Jahren traditionelle Ankunftsorte von Menschen aus (Ex-) Jugoslawien, der Türkei und anderen Ländern.4 Unweit vom Urban-Loritz-Platz befindet sich die Märzstraße mit zahlreichen Restaurants und Cafés – wichtige Orte der Zusammenkunft der ex-jugoslawischen Community. Ein anderer Community-Treffpunkt ist die Buchhandlung Mi von Miroslav Prstojević in der Burggasse auf der innerstädtischen Seite des Gürtels, welche auch Teil der Ausstellung war.5 Miroslav Prstojević flüchtete 1992 aus Sarajevo nach Wien und eröffnete 1995 seine erste Buchhandlung, Mi, mit Schwerpunkt auf Literatur aus dem ex-jugoslawischen Raum. Mi repräsentiert in Wien nicht nur einen zeitgenössischen Ort der Literatur und Kunst, sondern auch einen Ort des Erinnerns an die interkulturelle Vielfalt und das selbstverständliche Miteinander auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien vor dem Krieg.6 So findet sich in der Buchhandlung an unterschiedlichen Ecken und auf den ersten Blick nicht sichtbar eine Auswahl von Miroslav Prstojevićs persönlichen Erinnerungsstücken an den Krieg: Granatsplitter, Lebensmittelkonserven der internationalen Hilfe sowie Trümmer der Nationalbibliothek Vijećnica und der Hauptpost in Sarajevo. Weitere Brocken stammen von der Šišman Ibrahim-Paša Moschee in Počitelj, einer der ältesten Moscheen in Bosnien. Einen Teil der Relikte brachten ausländische Journalist*innen zwischen 1993 und 1995 auf Bitte von Prstojević aus Sarajevo nach Wien, einen weiteren holte er nach dem Krieg selbst. Wir fotografierten die Buchhandlung und ausgewählte Erinnerungsstücke, um deren Bedeutung für Prstojević in der Ausstellung zu verankern. So wie die Hauptbücherei am Wiener Gürtel unterschiedliche Bezirke miteinander verbindet, so funktioniert sie auch als ein Ort der Begegnung für viele Stadtbewohner*innen verschiedenster Herkunft, sozialer Schicht und Erstsprache. Das Gebäude wurde 2002 nach einem internationalen Wettbewerb vom Wiener Architekten Ernst Mayr geplant und fertiggestellt. Die Absicht, den Gürtel nicht mehr als Schnitt-, sondern als Nahtstelle zwischen den unterschiedlichen Bezirken zu verstehen und dies mit dem öffentlichen Gebäude der Hauptbücherei zu betonen, ist in der Tat aufgegangen.7 Durch ihre nicht 4 5 6 7

Payer, 2004, 1–19; hier 4. Širbegović, 2013, 117. Zunächst im ersten Bezirk, danach wechselte die Buchhandlung in den 7. Bezirk in die Burggasse, wo sie sich heute noch befindet. Siehe Beitrag zur Buchhandlung Mi in diesem Band von Armina Galijaš. Kaden/Schulz: Die Jubelhochstiege – Ernst Mayrs Hauptbücherei in Wien und ihre

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kommerzielle Nutzung steht die Bücherei allen Wiener*innen zur Verfügung, manche kommen, um Bücher auszuborgen, viele andere, um Tageszeitungen zu lesen, zu lernen oder Menschen zu treffen. Anders als in repräsentativen Museen der Stadt war in der Hauptbücherei keine Schwellenangst für Besucher*innen zu befürchten – nicht zuletzt auch dank ihres architektonischen Charakters mit dem fließenden Übergang zum öffentlichen Raum.

2. PRÄSENZ UND (UN-)SICHTBARKEIT DER EXJUGOSL AWISCHEN COMMUNIT Y IN WIEN – HISTORISCHER KONTEXT

Migrant*innen und ihre Nachkommen aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zählen nach wie vor zu einer der größten Zuwanderungsgruppen Wiens und Österreichs. Mehr als 500.000 Menschen, deren beide Elternteile im ehemaligen Jugoslawien geboren wurden, leben in Österreich. In dieser Zahl sind Angehörige der sogenannten zweiten und dritten Generation nicht inkludiert.8 Die Zuwanderung aus dieser Region im historischen Kontext der Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren ist mittlerweile gut dokumentiert, historisch aufgearbeitet und sie war auch Gegenstand einiger Ausstellungsprojekte.9 Demgegenüber sind die Fluchtbewegungen nach Österreich als Folge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre und die Geschichten jener Geflüchteten, die dauerhaft Aufnahme fanden, nur in Ansätzen erforscht.10 In der österreichischen Zeitgeschichte bildet dieses Thema eine markante Leerstelle. Lediglich vereinzelt erfolgt zudem eine Thematisierung der gesellschaftlichen Folgewirkungen für das Aufnahmeland, zum Beispiel auf die Zusammensetzung der bereits ansässigen Bevölkerung aus dem ex-jugoslawischen Raum, auf den gesellschaftlichen Diskurs und die Gesetzgebung zu Migration und Flucht, auf nicht-staatliche Unterstützungsstrukturen in der stadträumliche Wirkung. LIBREAS. Library Ideas, 8/9 (2007), https://libreas.eu/ ausgabe8/002kadschu.htm, letzter Zugriff: 30.01.2021. 8 Mijić, 2020, 1072. 9 Gürses et al. (Hg.), 2004; Payer, 2012; Özbaş et al. (Hg.), 2016; Gächter, 2016, 40–56. 10 Der Fokus der Forschung richtet sich auf Geflüchtete aus dem Bosnienkrieg. Schuster, 1994, 27–43; Hadolt/Herzog-Punzenberger/Sitz, 1999; Franz, , 2003, 5–25; Franz, 2003, 135–157; Franz, 2005; Halilovich, 2013, 524–540; Halilovich, , 2013; Hufnagl, 2020.

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Flüchtlingsbetreuung, auf die Entstehung neuer migrationsgeprägter Stadtteile, auf das Kunst- und Kulturleben etc. Schätzungen gehen von mehr als 100.000 Flüchtlingen aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo aus, die im Verlauf der 1990er Jahre nach Österreich flüchteten, wobei die größte Gruppe, nämlich 90.000, aus Bosnien und Herzegowina stammte.11 Rund 60.000 der aus Bosnien Geflüchteten blieben dauerhaft in Österreich. Als unmittelbares Nachbarland und aufgrund der vielschichtigen historischen Verbindungen zur Region sowie bestehender transnationaler Netzwerke von Migrant*innen und Geflüchteten bildete Österreich ein zentrales Fluchtziel innerhalb Westeuropas.12 Die österreichische Bundeshauptstadt Wien nahm sowohl als Zwischenstation und Endpunkt der Flucht als auch als dauerhaftes Exil eine wichtige Rolle ein – nicht zuletzt aufgrund persönlicher Verbindungen der Geflüchteten.13 Familienangehörige, Verwandte und Freund*innen, die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten in Österreich lebten, leisteten den Hauptanteil bei der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten, gefolgt von Pfarren und österreichischen Familien und Einzelpersonen. Von der österreichischen Bundesregierung wurde im Frühjahr 1992 die sogenannte „Bund-Länder-Aktion für bosnische Kriegsvertriebene“ ins Leben gerufen, um die Registrierung, Verteilung und Unterbringung der Flüchtlinge und die Sicherstellung ihrer materiellen Grundversorgung zu gewährleisten.14 Darüber hinaus wurde ein eigener, vorübergehender Aufenthaltsstatus für Kriegsvertriebene aus dem ehemaligen Jugoslawien implementiert, der zunächst halbjährlich, später jährlich verlängert werden musste. Die Strategie der österreichischen Regierung war es von Anbeginn, bosnischen Flüchtlinge nicht unter dem Regime des nationalen Asylrechts oder der Genfer 11 https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/09/AT_Resettlement_Konzept_update_2017.pdf, letzter Zugriff: 24.07.2021. 12 Als Folge der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien nahm Österreich nach Deutschland die größte Zahl an Geflüchteten innerhalb Europas auf. Hageboutros, 2016, 50. 13 Hadolt, Herzog-Punzenberger, Sitz: De-facto-Aktion, 27. Laut dieser Studie kamen zwei Drittel der Geflüchteten privat unter, ein Drittel in Flüchtlingslagern. Ebd., 26. Bereits im Jahr zuvor wurde eine ähnliche Aktion für Geflüchtete aus Kroatien ins Leben gerufen. 14 Im Zuge der Neuregelung des Aufenthaltsgesetzes 1993 erhielt das Konzept des vorübergehenden Schutzes mit dem Paragraf 12 des Aufenthaltsgesetzes 1993 eine rechtliche Basis. Grbic/Glanzer/Edith/Gulis, 1998, 19–22; hier 19; Hadolt/HerzogPunzenberger/Sitz, 1999, 19 f.

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Flüchtlingskonvention Aufenthalt zu gewähren.15 Bosnische Kriegsvertriebene galten in Österreich vielmehr als „De-facto-Flüchtlinge“, denen vorübergehender Schutz zugebilligt werden sollte. Den meisten gelang es in den Folgejahren, den Aufenthalt für sich und die Familie über eine Beschäftigungsbewilligung zu verstetigen.16 Auch wenn dies bedeutete, dass sie trotz oft höherer Qualifikationen meist in niedrig bezahlten Arbeitssektoren Arbeit fanden.17 Während Flucht, Vertreibung und Neuanfang in den Erinnerungen von einst Geflüchteten gegenwärtig bleibt, rückt die größte Fluchtbewegung in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges18 in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft lediglich punktuell ins öffentliche Bewusstsein: Anlässlich von Jubiläen bzw. Jahrestagen wie im Jahr 2021 (Stichwort: 30 Jahre Kriegsbeginn) wird dieser Geschichte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Die unmittelbar Betroffenen dieser Geschichte verbleiben in medialen Bildern und öffentlichen Diskursen meist als Objekte der Repräsentation und als Subjekte nach wie vor – mit einigen wenigen Ausnahmen – weitgehend unsichtbar. Zu den prominenten Ausnahmen zählen etwa die aktuell amtierende Justizministerin Alma Zadić, die Journalistin Melisa Erkurt, die Filmemacherin Nina Kusturica oder der Rapper Petar Rosandić aka Kid Pex, die als Kinder und Jugendliche in den 1990er Jahren nach Österreich geflüchtet waren und ihre Fluchtgeschichten auch öffentlich thematisieren. Aber auch größere Fluchtbewegungen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit nach Österreich wie im Sommer und Herbst 2015, in denen Österreich nicht nur ein zentrales 15 Hadolt et al, 1999, 33. Von den insgesamt ca. 5500 Asylanträgen bosnischer Flüchtlinge werden rund 1400 positiv entschieden. 16 Grbic et al., 1998, 19. 17 Hadolt et al., 1999, 38. Barbara Franz verweist in ihren Untersuchungen auf die Rolle von jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen, die geflüchtete Frauen aus Bosnien bei der Arbeitssuche unterstützten und oft informelle Jobs (v.a. im Dienstleistungsbereich, z.B. Reinigungsservice) vermittelten. Franz, 2005, 141 und 145. Siehe ausführlicher auch Franz, 2003. 18 Laut Schätzungen des UNHCR führten die Kriege in Kroatien (1991–1995), Bosnien und Herzegowina (1992–1995) und dem Kosovo (1998–1999) zu mehr als 2,4 Millionen Flüchtlingen außerhalb des Landes und weiteren zwei Millionen intern Vertriebenen; https://en.wikipedia.org/wiki/Yugoslav_Wars, letzter Zugriff: 27.07.2021. Neben umfassenden Menschenrechtsverletzungen und zahlreichen Toten hatte allein der Krieg in Bosnien in den Jahren 1992–1995 eine massive Vertreibung von fast einer Million Bosnier*innen innerhalb des Landes zur Folge, weitere 1,3 Millionen flüchteten nach Europa, in die USA und nach Australien (Halilovich, 2013, 528).

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­ ransitland für Geflüchtete war, sondern für rund 90.000 Menschen vor allem T aus Syrien, Afghanistan und dem Irak zum Aufnahmeland wurde,19 führten vereinzelt zu medialen Rückblicken und politischen Vergleichen mit den 1990er Jahren. In diesem Narrativ dominieren bestimmte Topoi, die das Bild einer „Erfolgsgeschichte“ vermitteln: die große Aufnahmebereitschaft Österreichs, die Hilfsbereitschaft der österreichischen Zivilbevölkerung sowie die erfolgreiche „Integration“ der sogenannten Bosnienflüchtlinge in die Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der sich immer restriktiver gestaltenden Asyl- und Migrationspolitik Österreichs, aber auch innerhalb der Europäischen Union seit den 1990er Jahren bildet diese Geschichte jedoch auch einen wichtigen, positiven Referenzpunkt für Befürworter*innen einer humanitären, dem Recht auf Asyl verpflichteten Flüchtlingspolitik. In der Metaerzählung der Erfolgsgeschichte meist unerwähnt bleibt, was es für die Betroffenen bedeutet hat, von einem Tag auf den anderen flüchten zu müssen, „alles zu verlieren“ und in Österreich bei null anzufangen, geschweige denn die von erfahrenen Diskriminierungen im Alltag, in der Schule, am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche.

3. ZUR AUSSTELLUNG: GRUNDSÄTZE UND THEMEN

Die vom offiziellen Österreich erzählte, vermeintliche Erfolgsgeschichte differenzierter zu betrachten, bedeutete für uns, diese vom Standpunkt jener Menschen aus zu erzählen, die damals geflüchtet waren. Die Ausstellung hatte nicht den Anspruch, eine umfassende historische Aufarbeitung des Themas in all seinen Facetten zu leisten, vor allem nicht den Krieg oder die Rolle und Perspektive des österreichischen Staates zu erklären. Vielmehr war das Ziel, Geschichten zu präsentieren, die auf vielschichtige und jeweils individuell unterschiedliche Erfahrungen und Bedingungen der Flucht und des Ankommens verweisen. Sie sollten deutlich machen, dass es nicht die Perspektive der Geflüchteten gibt, sondern ihre Erfahrungen auf der Flucht und nach dem Ankommen in Wien von verschiedenen Faktoren beeinflusst wurden: dem Zeitpunkt der Flucht, dem soziökonomischen Hintergrund und Bildungsgrad, vorhandenen Netzwerken, der Unterbringung (privat oder in Flüchtlingslagern), dem Alter zum Zeitpunkt der Flucht, und vielem mehr. Ein Kernelement der Recherchen basierte auf biographisch orientierten Interviews und Gesprächen mit Zeitzeug*innen, mehrheitlich aus Bosnien 19 Gastenauer/Kuzmany, 2017, 8.

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und Herzegowina Geflohenen. Darunter waren auch solche, die niemals zuvor öffentlich über die eigene Geschichte gesprochen hatten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht findet nicht nur in der Öffentlichkeit kaum statt, sondern teilweise auch innerhalb von Familien mit Fluchterfahrungen.20 Es handelt sich um eine Zeit des Verlustes, die mit belastenden Erinnerungen verknüpft ist. Über diesen Bruch in der eigenen Biographie wird aus unterschiedlichen Gründen wenig oder kaum gesprochen – sei es, um keine schmerzhaften Erinnerungen aufkommen zu lassen,21 sei es aus Scham gegenüber anderen Mitbürger*innen, denen schlimmere Schicksale widerfahren sind und/oder die nicht das Glück hatten, vor dem Krieg flüchten zu können.22 In der Ausstellung wurden die Geschichten von 14 Zeitzeug*innen präsentiert, die bereit waren, über ihre Flucht und das Ankommen öffentlich zu erzählen. Bei der Auswahl der Personen wurde darauf geachtet, dass sowohl jene Gruppe repräsentiert ist, die als Kinder oder Jugendliche nach Österreich geflüchtet war, als auch die Gruppe jener, die als Erwachsene unterschiedlichen Alters flüchten musste. Ferner war es uns ein Anliegen, sowohl Geschichten von Menschen zu erzählen, die auf ein bestehendes Netzwerk in Österreich zurückgreifen konnten und gleich zu Beginn privat versorgt wurden, als auch von jenen, die durch den Mangel persönlicher Kontakte zunächst in Massenquartieren bzw. Flüchtlingslagern untergekommen sind. Die Mehrzahl der 20 Vgl. Hufnagl, 2020, 41. Zur transgenerationalen Weitergabe von Flucht- und Kriegserfahrungen der aus Bosnien Vertriebenen in Österreich gibt es bisher noch keine umfassenden Forschungsarbeiten. Eine Ausnahme bildet die Masterarbeit von Almut Hufnagl zu Erinnerungsaushandlungen der aus Bosnien geflüchteten Kindergeneration. Hufnagl interviewte hierfür acht Personen, die als Kinder nach Österreich geflüchtet waren. Sie erwähnt in ihrer Arbeit einen von acht Fällen, in denen die Umstände und Ursachen der Flucht von den Eltern an ihre Kinder bewusst weitergegeben wurde. Anders verhält es sich mit Erinnerungen an das Leben vor dem Krieg und die eigene Kindheit im sozialistischen Jugoslawien, die die Eltern mit ihren Kindern teilen würden (Hufnagl, 2020, 42 und 44). 21 Die Sozialanthropologin Sanda Üllen verweist in ihrer Forschung zu transnationalen Familien aus Bosnien in Schweden und Dänemark darauf, dass viele Kinder ihre Eltern nicht nach genaueren Informationen zur Flucht befragen, weil sie sie vor traumatischen Erinnerungen schützen wollen; die Eltern wiederum wollen ihre Kinder nicht mit traumatischen Erinnerungen belasten (Üllen, 2017, 221). 22 Die Wiener Filmemacherin Nina Kusturica, die 1992 aus Sarajevo nach Wien geflüchtet war, spricht im Interview mit der Stadtzeitung Falter im Herbst 2020 die Gefühle von Schuld und Scham an, die sie jahrelang empfunden habe, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen aus der Stadt flüchten konnte. Kusturica 2020, 31.

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Zeitzeug*innen musste aus Bosnien und Herzegowina flüchten. Ein Zeitzeuge flüchtete mit seinen Eltern kurz vor Ausbruch des Krieges in Kroatien 1991 nach Wien und ein weiterer 1991 aus Belgrad – aus Weigerung, als Soldat am Krieg teilzunehmen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Gespräche bildeten individuelle Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen an den Krieg, die Flucht (Stationen und Routen) sowie an das Ankommen und den Neuanfang in Wien. Hierbei interessierten uns Unterstützungsstrukturen oder deren Fehlen in der vorerst neuen, fremden Umgebung, die Unterbringung und Verpflegung in der Anfangszeit, Erfahrungen in der Schule, bei Behörden und am Arbeitsmarkt. Manche der Zeitzeug*innen wollten darüber hinaus über das Hier und Jetzt sprechen, über die aktuelle politische Diskussion rund um Flucht und über ihre persönlichen Erfolge im Leben.23 Darin äußerte sich in gewisser Hinsicht auch der Wunsch, nicht schon wieder auf den Flüchtlingsstatus reduziert und der Individualität beraubt zu werden – „Wenn man [...] einfach ein Nichts ist, eine Nummer“, wie eine der interviewten Zeitzeug*innen, Selma Nišić, es formulierte.24 Ein weiteres Kernelement der Gespräche bildete die Frage nach „Dingen“, die an die persönliche Fluchtgeschichte erinnern bzw. den Interviewten helfen sollten, ihre Geschichte zu erzählen.25 Unser Anliegen war, das Phänomen der Flucht und die damit verbundenen Erfahrungen anhand von Erinnerungsstücken zu veranschaulichen, um die Bedeutung der Dinge fürs „Erinnern“ und die Möglichkeit, überhaupt erinnern zu können, herauszuarbeiten. Im Spannungsfeld von Mitnehmen, Mitnehmen-Können, Zurücklassen und unwiederbringlich Verlieren erlaubt der Bezug zu Dingen Einblicke in die Komplexität der Fluchterfahrung und in Erinnerungsprozesse, wie sie auch in verschiedenen literarischen Texten, etwa der kroatischen Schriftstellerin Dubravka Ugrešić oder des bosnischen Schriftstellers Mile Stojić, der selbst einige Jahre im Wiener Exil lebte, verarbeitet wurden. Ausgehend davon lassen sich verschiedene Facetten des Verlusts darstellen, die mit dem Flüchtlingsdasein einhergehen und die in den Gesprächen mit Zeitzeug*innen ein zentrales 23 Dieses Anliegen, über das Hier und Jetzt zu sprechen, haben wir in der Ausstellung in zwei Formaten übernommen: einerseits in der Darstellung der Fluchtbiographien, andererseits durch Ausstellungsrundgänge mit Zeitzeug*innen im Begleitprogramm zur Ausstellung. 24 Interview der Verf. mit Selma Nišić, Wien im November 2019. 25 Die Geschichte anhand persönlicher Erinnerungsstücke zu erzählen, resultierte aus früheren Projekten, die das erprobt haben. Vgl. Akkılıç/Bakondy/Bratić/Wonisch (Hg.), 2016; Bakondy, 2018.

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Vida Bakondy/Amila Širbegović Abb. 1: Plakat zur Ausstellung Nach der Flucht. Das darauf abgebildete Foto zeigt die letzte gemeinsame Silvesterfeier von Amila Širbegović mit Freund*innen in Brčko 1991/92.

­ rinnerungsmotiv bildeten: Verlust von geliebten Menschen, von Zuhause, E von Zugehörigkeit und Erinnerung, von persönlichem Besitz, sozialem Status und staatsbürgerlichen Rechten. Die Sozialanthropologin Sanda Üllen hat in ihrer Dissertation Zuhause erinnern? zu transnationalen Familien aus Bosnien in Schweden und Dänemark gezeigt, dass Geflüchtete in den wenigsten Fällen bewusst Erinnerungsobjekte auf die Flucht mitgenommen haben, sondern zum Großteil funktionale und praktische Dinge ausgesucht haben.26 Eine Ausnahme bilden zum Beispiel Fotos, vor allem Familienfotografien, denen nicht nur in der Zukunft, sondern bereits vor der Flucht eine integrale Erinnerungsfunktion im Familiengedächtnis zugekommen ist. Der Besitz von privaten Erinnerungsgegenständen, die an ein Leben davor erinnern, stellt für ehemalige Geflüchtete in der Regel keine Selbstverständlichkeit dar. Das hängt untrennbar mit dem Phänomen 26 Üllen, 2017, 139.

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der Flucht und mit der Gewalt des Krieges und der Vertreibung zusammen. Darauf verweist auch der mittlerweile vielzitierte Satz Dubravka Ugrešićs, wonach es „zwei Sorten Flüchtlinge [gibt]: solche mit und solche ohne Fotos“.27 Der Besitz oder Nicht-Besitz von Fotografien entscheide, so Ugrešić, über das Recht auf und die Möglichkeit der Erinnerung. Zur Veranschaulichung ihres Arguments gibt die Autorin eine Anekdote wieder, die über den ehemaligen serbisch-bosnischen General und Kriegsverbrecher Ratko Mladić kursierte. Mladić soll einen Bekannten in Sarajevo vor dem Angriff auf sein Haus mit dem folgenden Inhalt gewarnt haben: Der General [teilte] dem Bekannten telefonisch mit […], er gebe ihm fünf Minuten Zeit, um die Alben einzupacken, denn er werde sein Haus in die Luft jagen. Der Mörder dachte dabei an die Alben mit den Familienfotos. Der General, der systematisch an der Zerstörung der Stadt arbeitete, wußte genau, daß er die ERINNERUNG zerstören wollte. Seinem Bekannten schenkte er ‚großzügig‘ das Leben mit dem Recht auf Erinnerung. Das nackte Leben und ein paar Familienfotos.28

Ugrešićs Zitat verdeutlicht, wie die Auslöschung der Erinnerung – der individuellen als auch der kollektiven – im vier Jahre andauernden Bosnienkrieg als bewusste Kriegsstrategie eingesetzt wurde. Sie war Teil der Politik der sogenannten ethnischen Säuberungen, die nicht nur die systematische Ermordung und Vertreibung unerwünschter – als ethnisch anders definierter – Bevölkerungsgruppen zur Folge hatte, sondern sich auch gegen kollektive Erinnerungen, Identitäten und Lebenswelten richtete.29 Davon zeugt das große Ausmaß an zerstörtem Kulturgut (sakralen Bauten, Archiven, Bibliotheken, Museen und Denkmälern), das einst das jahrhundertealte multiethnische Erbe Bosnien-Herzegowinas dokumentierte.30 Davon zeugen aber auch die Erzählungen von Geflüchteten. Abhängig von den jeweiligen Umständen und vom Zeitpunkt der Flucht, konnten manche Bruchstücke ihres Lebens mitnehmen. Sanda Schmidjell, die im Dezember 1993 mit einem organisierten Transport des Roten Kreuzes aus Banja Luka flüchten konnte (nachdem sie Monate davor aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds gekündigt worden war und man ihr bereits mehrfach die Wegnahme der Wohnung angedroht hatte), er27 28 29 30

Ugrešić, 2000, 14. Ebd., 13 f. [Hervorh. im Orig.]. Calic, 2018, 311–313; Sundhaussen, 2012, 335f. Für einen Überblick siehe etwa: Riedlmayer, 2014, 231–247; Sundhaussen, 2012, 409 f.

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Abb. 2: Selma Nišićs erster eigener Haustorschlüssel zu ihrem ehemaligen Zuhause in Bijeljina.

innert sich, dass lediglich „zwei Stück Gepäck“ erlaubt waren, „keine Wertgegenstände, kein Geld, keine Fotos“.31 Die Angst vor der Abnahme persönlicher Wertgegenstände an Kontrollpunkten bildete ein wiederkehrendes Motiv in den Erinnerungen von Zeitzeug*innen; ebenso der Glaube an die baldige Rückkehr, der viele davon abhielt, mehr als das Nötigste mitzunehmen.32 Wenn es ihnen gelang, private Erinnerungsstücke mitzunehmen, versteckten sie diese sorgfältig, damit sie auf der Flucht nicht abgenommen wurden. Manche hatten das Glück, dass Nachbar*innen oder Freund*innen und in einigen Fällen auch Unbekannte, die in ihre Wohnung eingezogen waren, ihre persönlichen Erinnerungsstücke aufbewahrten.33 In den Gesprächen entpuppten sich bestimmte profane Alltagsgegenstände, die durch die biographische Brucherfahrung einem Bedeutungswandel unterlagen, als Erzählgeneratoren und emotionale Ankerpunkte für die Erinnerung. Für Selma Nišić, die als 14-jährige Teenagerin aus der bosnischen Stadt Bijeljina flüchtete, ist es ein Haustorschlüssel, den sie damals mit auf die Flucht nahm. Sie erinnert sich an die Mitnahme nicht als bewussten, sondern eher 31 Interview der Verf. mit Sanda Schmidjell, Wien 28.10.2019. 32 Interview der Verf. mit Nermin Nero Beharić, Wien 25.11.2019. 33 Vgl. Bakondy, 2017, 30–31.

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beiläufigen Akt. Seine spezifische Materialität, ein pinker Schlüssel mit einem Herz-Anhänger mit zwei Buchstaben YU (Länderkürzel der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawiens), evozierte bestimmte Erinnerungen an den Erwerb: Ich habe ein paar Sachen mitgenommen, auch ein Tagebuch glaube ich. Dieser Schlüssel, den ich mitgenommen habe, das ist mir nicht bewusst, dass ich jetzt gesagt habe, ich verlasse jetzt mein Haus und ich will als Erinnerung meinen Schlüssel mitnehmen. Vielleicht habe ich ihn einfach mitgenommen, weil ich dachte bzw. geglaubt habe, ich komme zurück. Oder er war einfach in meiner Tasche. Nichtsdestotrotz ist er ein super Symbol, das ich heute noch aufbewahre. Es ist auch so eine kleine Mädchen-Empowerment-Geschichte, die ich super finde: Weil er mein erster Schlüssel ist. Ich kann mich ganz gut daran erinnern, als meine Mutter mit mir gemeinsam in ein Geschäft ins Zentrum ging, um den Schlüssel zu machen. Jetzt bin ich quasi groß und ich kann alleine nach Hause und ich brauche den Schlüssel. Und dann habe ich den Schlüssel ausgesucht, in einer pinken Farbe und er ist aus Aluminium gewesen, ganz leicht. Und meine Mutter hat gesagt: „Nein, warum nimmst du das? Er ist so leicht, kann brechen.“ Ich habe gesagt: „Nein, ich will ihn in Pink, das schaut super aus!“ Und witziger- oder ironischerweise war der Anhänger eine kleine Kette mit einem Herz, das die Buchstaben YU enthielt. Also wie YU, Jugoslawien.34

In Selma Nišićs Erzählung symbolisiert der Schlüssel nicht nur einen biographischen Wendepunkt im Leben einer Teenagerin, die ersten Schritte in die Unabhängigkeit, sondern unterliegt durch die Erfahrung der Flucht einem Bedeutungswandel: Er wird zum Symbol für den Verlust des elterlichen Zuhauses, aber auch Jugoslawiens, in dem sie ihre Kindheit verbrachte. Insofern ist er Träger der Konflikt- und Gewaltgeschichte, der seine Besitzerin ausgesetzt war, aber auch Träger von Erinnerungen an eine Zeit, an ein Leben vor der Flucht. Ihre Erzählung veranschaulicht die Fluchtgeschichte als ein Zusammenspiel von „Dingen und Menschen, die mit- und ineinander verstrickt sind“.35 Das betrifft nicht nur jene Erinnerungsgegenstände, die mitgebracht wurden, sondern ebenso jene im Ankunftsland erworbenen, wie das Beispiel von Časlav Brukners Koffer zeigt. Er war einer der ersten Gegenstände, den der damalige Student der Physik in Wien aus den Mitteln seiner informellen Gelegenheitsjobs erwarb – nachdem er im Dezember 1991 Belgrad aus Angst, als Soldat 34 Interview der Verf. mit Selma Nišić, Wien im November 2019. Zur besseren Lesbarkeit wurde der zitierte Ausschnitt aus dem Gespräch etwas redigiert. 35 Höpfner, 2018, S.13.

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in den Krieg eingezogen zu werden, Richtung Wien verlassen hatte. Während der Koffer in den ersten Jahren als Reisemittel Verwendung fand, hat er heute einen festen Platz im Wohnzimmer Brukners und ist Hüter seiner Erinnerungen an seine individuelle Geschichte von Flucht und Wiener Exil, sowie eine vielschichtige, weiter zurückliegende Familiengeschichte.36 Doch Erinnerungen manifestieren sich ebenfalls in nicht materieller Form, wie etwa in Träumen und Erinnerungsbildern, in Liedern, Anekdoten oder Orten. So beschreibt Mile Stojić in seinem Buch Via Vienna samstägliche Streifzüge am Flohmarkt des Wiener Naschmarkts zur Zeit seines Wiener Exils. Die zum Verkauf angebotenen Dinge und Trödel riefen in ihm „Fluten zugeschütteter Erinnerungen“ an seine persönlichen Gegenstände hervor, die „irgendwo im Schlund des Krieges und im Wirbel der Zerstörung geblieben“ waren.37 Nicht alle Zeitzeug*innen hatten sofort ein Objekt der Erinnerung an die Zeit der Flucht, des Lebens davor oder nach der Ankunft in Wien vor Augen. Mit einigen haben wir daher basierend auf ihren Erinnerungen und Erzählungen gemeinsam erarbeitet, was sie zeigen möchten oder können. Im Fall von Nermin Nero Beharić, der als Jugendlicher mit seiner Familie aus dem bosnischen Zvornik nach Wien geflüchtet war, wurde ein Identitätsausweis aus dem Flüchtlingslager in Traiskirchen, das eine wichtige Zwischenstation für Kriegsvertriebene darstellte, ausgestellt sowie ein Foto aus seinem ersten Deutschkurs, aufgenommen im Frühjahr 1993. Kurz danach begann Beharić eine Friseurlehre – ein zentraler Wendepunkt in seinem neuen Leben in Österreich:

36 Im Koffer bewahrt Časlav Brukner nicht nur Videoaufnahmen von Demonstrationen in Belgrad Mitte der 1990er Jahre gegen das Milosević-Regime auf, an denen er regelmäßig teilnahm. Daneben finden sich transgenerationale Erinnerungsobjekte der Familie: etwa ein Bild seines Großvaters Ivan Brukner, das im Jahr 1944 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in Osnabrück von einem anderen Häftling gemalt wurde. Ivan Brukner war in Osnabrück als Offizier der jugoslawischen Armee inhaftiert gewesen, was ihm vermutlich das Leben rettete. Ein Großteil seiner Familie (darunter die Mutter und alle drei Geschwister) überlebten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft das nationalsozialistische Terrorregime nicht. Insofern konterkariert die Geschichte rund um Časlav Brukners Koffer auch eine weit verbreitete Praxis in Migrationsausstellungen, in denen der Koffer immer wieder zu sehen ist und darin als Zeichen des Schwebezustandes und Nichtankommens von Migrant*innen in der Aufnahmegesellschaft fungiert. Vgl. hierzu kritisch Bayer, 2012, 207–224. 37 Stojić, 2013, 56.

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Ich glaube, nachdem ich mit der Lehre angefangen habe und meinen Alltag gehabt habe, da habe ich mich schon als Teil der Gesellschaft, die hier lebt, auch sehr stark gefühlt. Vorher war ich schon ein bisschen ein Außenseiter. Es ist immer schwierig, das den Leuten zu erklären. Wenn man dann arbeitslos ist, wenn man Zuhause hockt, wenn man sich nicht auskennt, dann hat man auch nicht dieses Selbstbewusstsein. Dieses Selbstwertgefühl ist nicht vorhanden. Und als ich dann aber mit der Lehre angefangen habe und ich wieder meinen Alltag gehabt habe wie jeder andere auch, da habe ich mich dann auch als Teil der Gesellschaft gefühlt, dann bin ich schon angekommen.38

Mit Edita Tolo wiederum wählten wir ihr Zugticket nach Wien aus, mit dem ihr die Flucht gelang, sowie Dokumente, die sie nach der Ankunft erhielt, darunter die „rosa Karte“, die von vielen ehemals Geflüchteten bis heute aufbewahrt wird. Diese Karte war eine Bestätigung, dass die betroffene Person offiziell in die Flüchtlingsbetreuung aufgenommen worden war, und garantierte eine materielle Grundversorgung. Flüchtlinge mussten sich bei Ämtern und Behörden mit der „rosa Karte“ ausweisen, um die entsprechende Unterstützung zu bekommen. Fluchtbedingte Instabilitäten in der Biographie äußern sich in der Materialität der Lebensdokumentation:39 Aufbewahrt werden etwa vom Aufnahmeland ausgestellte Dokumente, die den rechtlichen Status definieren, oder Erinnerungsstücke, die den neuen Lebensabschnitt dokumentieren. Dazu kommen jene Dinge, die entweder auf die Flucht mitgenommen werden konnten oder unwiederbringlich verloren gingen, weil sie im Herkunftsland zurückgelassen werden mussten. 3.1 Zum Ausstellungsdisplay und inhaltlichen Formaten

Das zentrale gestalterische Element der Ausstellung waren vier schräge Bücherregale.40 Als „Regale der Ankunft“ in der Wiener Wohnung gedacht, sollten sie durch ihre schiefe Lage den kriegs- und fluchtbedingten zentralen Bruch in der Biographie symbolisieren: wenn das eigene Leben und das Zuhause sprichwörtlich ins Wanken gerät. Gleichzeitig referierten die Regale aber auch auf den Ausstellungsort, eine öffentliche Bücherei. 38 Interview mit Nermin Nero Beharić, Wien 25.11.2019. Zur besseren Lesbarkeit wurde der zitierte Ausschnitt aus dem Gespräch etwas redigiert. 39 Vgl. Bakondy, 2018, 193. 40 Für das Display der Ausstellung zeichnete das Wiener Gestaltungsteam Toledo i Dertschei (TiD) verantwortlich.

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Abb. 3: Ausstellungsansicht.

Eine Karte, auf der die vielfältigen Fluchtrouten der 14 Personen abgebildet waren, sollte als weiteres Gestaltungselement die Fluchtgeschichten visualisieren. Sie sollte verdeutlichen, dass die Flucht in den wenigsten Fällen einem linearen Verlauf von A (Herkunftsort) nach B (Zielort) gefolgt ist. Wie aus den Geschichten zu entnehmen ist, suchten viele zunächst in den Nachbarländern Serbien oder Kroatien Zuflucht, wo sie meist bei Freund*innen oder Verwandten unterkommen konnten – begleitet von der Hoffnung, bald zurückzukehren. Der Aufenthalt in diesen Transitländern wurde auch dazu genutzt, gültige Ausweise und Ausreisepapiere zu beantragen. Wer direkt nach Wien flüchten konnte, hatte hier in den meisten Fällen ein persönliches Netzwerk: Familie, Verwandte oder Bekannte hatten sich verpflichtet, die Schutzsuchenden aufzunehmen und erleichterten auch das Ankommen. Die einzelnen Fluchtbiographien wurden drei miteinander verschränkten Themenbereichen zugeordnet: Flüchten, Ankommen und Erinnern. Die Perspektive des Erinnerns fungierte als inhaltliche Klammer: für das Leben davor, für den Krieg, die Flucht, das Ankommen und heute. Fünf Audiostationen, in denen fünf der Zeitzeug*innen über ihre Erfahrungen berichteten, ermöglichten vertiefende Einblicke zum jeweiligen Themenbereich. Die Bedeutung des Erinnerns veranschaulichten auch ausgewählte Zitate aus literarischen Texten,

Flüchten, Ankommen, Erinnern

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die an unterschiedlichen Orten im Eingangsbereich der Bücherei und jenem der Ausstellung affichiert waren. Ferner enthielt die Ausstellung zwei zusätzliche Erzählelemente, die das biographisch angelegte Narrativ durch eine gesamtgesellschaftliche und strukturelle Perspektive ergänzen sollte: eine Timeline und ein Medienspiegel. Die Timeline enthielt grundlegende Informationen zum Ausbruch der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, veranschaulichte die Zahl der Geflüchteten aufgeschlüsselt nach den Herkunftsregionen und informierte über die gesetzlichen und administrativen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen in Österreich. Der Medienspiegel umfasste ausgewählte thematisch relevante Artikel aus österreichischen Tageszeitungen und Zeitschriften aus den 1990er Jahren. Er gewährte einen Einblick in den öffentlichen politisch-medialen Diskurs und in wechselvolle Stimmungsbilder – angefangen von der großen Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung über wachsende Ressentiments bis hin zu zunehmenden Klagen der Überforderung von Seiten politischer Entscheidungsträger*innen. Die Gegenüberstellung von medialen Berichten und persönlichen Geschichten schuf so eine inhaltliche Verdichtung, die die Bedeutung der persönlich-individuellen Sichtweise auf die Geschichte zusätzlich akzentuierte. Das Begleitprogramm zur Ausstellung enthielt neben der Eröffnungsveranstaltung eine Diskussion mit ehemaligen Geflüchteten und staatlichen sowie zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus den 1990er Jahren zu Flucht und Politik damals und heute.41 Außerdem boten wir Kurator*innen-Führungen und Gespräche mit Zeitzeug*innen an. Damit eröffneten wir weitere Räume für Austausch und Diskussion.

4. REZEPTION UND AUSBLICK In der Schule habe ich eigentlich nie vom Krieg und dieser Fluchtgeschichte gelernt. Das war mir damals auch nicht bewusst, weil in Familienkreisen auch nicht darüber gesprochen wurde. Und es ist an sich schon faszinierend, dass dieser Teil nicht mit41 Mit Alma Zadić (Bundesministerin für Justiz), Helmut Schüller (ehem. Präsident der Caritas Österreich), Heide-Marie Fenzl (ehem. Leiterin der Bosnier-Aktion im Bundesministerium für Inneres), Marion Kremla (Mitarbeiterin bei der asylkoordination österreich) und Melisa Erkurt (Journalistin), https://initiative.minderheiten. at/wordpress/index.php/2020/07/nach-der-flucht-aus-ex-jugoslawien-nach-wiengeschichten-von-gefluechteten-in-den-1990er-jahren/, letzter Zugriff: 27.07.2021.

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gegeben wird. Weil man vielleicht protektionistische Gedanken hat und diese hässliche Seite oder traumatische Seite einem Kind einfach nicht näherbringen will. Aber ich bin mir immer noch im Unklaren, wieso wir in unserer Familie zum Beispiel nicht darüber reden. Aber die Ausstellung hat mir geholfen zu verstehen, wie die Situation damals war. Ich war wirklich emotional berührt von den Gegenständen. Ich habe die Situation im Jahr 2015 natürlich mitbekommen und es war schockierend. Das war das erste Mal, dass ich quasi den Spiegel vorgesetzt bekommen habe: Aber warte, ich bin ja das Kind der aktuellen Flüchtlinge. Ich bin das Flüchtlingskind, das jetzt in die Schule geschickt wird, nicht Deutsch sprechen kann. Ich habe auch erst im Kindergarten angefangen Deutsch zu sprechen. Das hat damals eine Neugier und ein Interesse in mir geweckt, die ich davor nicht hatte.42

Die meisten Rückmeldungen kamen von jungen Ausstellungsbesucher*innen wie Sarah Mišković, die als Kleinkinder mit ihrer Familie nach Österreich geflüchtet waren und selbst wenig oder keine Erinnerungen an diese Zeit haben. Für diese Gruppe bedeutete die Ausstellung eine Art Empowerment durch die Einsicht, dass ihre Erfahrungen von öffentlichem Interesse sind. Sarah Miškovićs Erzählung verweist darauf, dass innerhalb von Familien mit Fluchterfahrung in der Regel kaum über die unmittelbare Vergangenheit gesprochen wird. Die Rückmeldung von Mišković unterstreicht bestehende Lücken in österreichischen Bildungseinrichtungen wie Schulen und Museen zum Thema, aber auch den Wunsch nach mehr Sichtbarkeit bzw. Auseinandersetzung. Die Ausstellung bot ihr eine Möglichkeit, sich mit dieser Geschichte zum ersten Mal intensiv auseinanderzusetzen. Gleichzeitig stellten die Fluchtbewegungen nach Österreich 2015 bereits einen entscheidenden Wendepunkt dar, insofern sie das erste Mal bewusst realisierte, selbst einmal Flüchtling gewesen zu sein.43 Für die 14 Zeitzeug*innen bedeutete die Ausstellung die Anerkennung ihrer Erfahrungen als Teil der Geschichte Wiens und Österreichs. Die Schau Nach der Flucht trug möglicherweise dazu bei, ein biographisches Bewusstsein von 42 Sarah Mišković, Studentin der Sozial- und Kulturanthropologie, zitiert aus der Transkription eines Interviews mit den Autor*innen, Interviewerinnen: Nora ElHalawany und Sarah Mišković, online via zoom, am 15.01.2021. Zur besseren Lesbarkeit wurde der zitierte Ausschnitt aus dem Gespräch etwas redigiert. 43 Von anderen wiederum wissen wir, dass sie selbst aktiv wurden, um zu helfen und die neu angekommenen Menschen zu unterstützen; bei manchen ließen die Ereignisse um 2015 verschüttete, verdrängte und zum Teil traumatische Erfahrungen zum Vorschein kommen.

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der eigenen Fluchtgeschichte zu stärken, weil sie diese nicht nur als individuelle Erfahrung oder Erfahrung einer spezifischen sozialen Gruppe repräsentierte, sondern als Teil einer kollektiven Geschichte. Die positive Resonanz auf die Ausstellung und das mediale Interesse haben uns in unserer Annahme bestätigt, dass ein Bedarf besteht, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen – sowohl bei Menschen mit Fluchterfahrung als auch ohne. Auch die Entscheidung, diese Geschichte anhand von Erinnerungsstücken zu erzählen, erhielt positive Resonanz. Ein Grund mag in der Tatsache begründet sein, dass die Mehrzahl der ausgestellten Objekte Dinge des Alltags repräsentieren und gerade deshalb berührten, weil sich Ausstellungsbesucher*innen damit leicht identifizieren konnten. Sie stellten einen Gegenpol zu medial vermittelten Bildern von Flucht und Flüchtlingen dar, die auf Bilder anonymisierter Massen bauen und das Phänomen Flucht in abstrakten Zahlen repräsentieren. Demgegenüber vermochten die ausgestellten persönlichen Dinge auf vielschichtige Facetten der Fluchterfahrung verweisen, die in der Regel unterbelichtet bleiben. Für ehemalige Geflüchtete sind sie deshalb so bedeutsam, weil sie eine Brücke zwischen dem Leben vor Krieg und Flucht schaffen, und jenem danach. Nina Kusturica bezeichnete die eigene Fluchterfahrung als jene eines ungebetenen Gastes, der jetzt, 28 Jahre später, herzlich willkommen sei.44 Auf diese besondere Verbundenheit verweisen auch die ausgestellten Objekte und Geschichten in Nach der Flucht: Sie erzählen von der Flüchtigkeit des Lebens, dem Loslassen und der Beschränkung auf das Wesentliche – das eigene Überleben. Und sie erzählen vom Weiterleben und dem Recht auf Erinnerung. Literaturverzeichnis

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Abb. 1: Privatbesitz: Amila Širbegović. Copyright Plakat: Initiative Minderheiten. Abb. 2: Privatbesitz: Selma Nišić. Foto: © Carolina Frank. Abb. 3: Foto: © Toledo I Dertschei.

„WIEN ALS JUGO-HAUPTSTADT“: ZU ANTINATIONALISTISCHEN IDENTITÄTSSTRATEGIEN IN DER POSTJUGOSLAWISCHEN DIASPORA Rada Živadinović

Seit wenigen Jahrzehnten existiert Jugoslawien als Land offiziell nicht mehr. Die Jugoslawiengeschichte als eine über die ethnonationalen Grenzen hinweg greifende gemeinsame Vergangenheit wird in den postjugoslawischen nationalisierten Erinnerungspolitiken und Geschichtsschreibungen verdrängt.1 Läuft man jedoch durch die Wiener Straßen, findet man nicht selten Anspielungen auf diese jugoslawische Vergangenheit, angefangen bei Lokalen und Cafés, die Jugoslawien in ihren Namen tragen, Pensionist*innenvereinigungen, Bestattungsinstituten, bis hin zu dem in der Musik- und Popkultur immer wieder verwendeten Wort Jugo. In der postjugoslawischen Diaspora bleibt (das ehemalige) Jugoslawien oft ein wichtiger Bezugspunkt, was sich auch im diasporischen Selbstverständnis und den kollektiven Identitätsentwürfen einiger Gruppen äußert. Im alltäglichen Handeln und ihren gelebten Erfahrungen überschreiten manche diasporischen Subjekte in Wien die postjugoslawischen ethnonationalen Grenzen und erzeugen dadurch ein Gegennarrativ zu hegemonialen, nationalisierten und ethnisierten Narrativen der postjugoslawischen Staaten. Als zahlenmäßig größte Migrationsgruppe macht die postjugoslawische Diaspora über 10 Prozent der Wiener Bevölkerung aus.2 Während Migration ein Bestandteil der sozialen, ökonomischen, urbanen, politischen und historischen Entwicklungen in Österreich und die Stadt Wien ohne Migration nicht denkbar ist, sind dennoch rassistische Diskriminierung und Ausschlüsse strukturell, rechtlich und gesellschaftlich verankert. Migrant*innen finden dabei oft kreative und subversive Strategien, um mit hegemonialen Machtverhältnissen umzugehen. Mit den Worten „Wien als Jugo-Hauptstadt“ beschrieb eine meiner Interviewpartner*innen die Stadt, in die sie aus einem der postjugoslawischen Staaten migriert ist. Jugo ist ein im deutschsprachigen Kontext verwendeter Begriff für Migrant*innen mit Herkunft aus (dem ehemaligen) Jugoslawien. 1 2

Kuljić, 2010, 39 f., 71 f.; Srebotnjak, 2016, 65. MA 23, 2020, 71.

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Rada Živadinović

Seit der Zeit des Ankommens der jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen der 1960er und 1970er Jahren wurde der Begriff von der österreichischen Mehrheitsgesellschaft als beleidigende, rassistisch aufgeladene Fremdbezeichnung genutzt. Jugo als migrantische Selbstbezeichnung ist eine Referenz auf Jugoslawien, gleichzeitig fungiert die Wiederaneignung eines Schimpfworts als Provokation für die österreichische Mehrheit. Im folgenden Beitrag werden die Ergebnisse meiner empirischen Forschung zu antinationalistischen Identifizierungen in der postjugoslawischen Diaspora in Wien präsentiert, die im Rahmen meiner Abschlussarbeit für den Master Gender Studies an der Universität Wien durchgeführt wurde. Ausgangspunkt der Forschung stellen Frauen*narrative (post)jugoslawischer Migrant*innen dar, die aus der Analyse von durchgeführten Interviews abgleitet wurden. Durch diese Analyse von Narrativen von Frauen* in der postjugoslawischen Diaspora, die eine nationale Identifizierung ablehnen,3 konnten verschiedene, alltägliche Strategien gegen die Ethnisierung der postjugoslawischen Diaspora aufgezeigt werden. Auf der Suche nach Identifizierungen abseits der postjugoslawischen nationalstaatlichen Rahmen finden Identifizierungen mit Stadt, Region, dem Balkan oder eben mit Jugoslawien statt. Diese Selbstverortungsversuche funktionieren dabei, wie ich behaupte, als Des-/Identifizierungsstrategien. Eine jugoslawische Identifizierung ermöglicht eine Abgrenzung zu postjugoslawischen nationalistischen Politiken, eine Ablehnung der Militarisierung und des Krieges, eine Verweigerung der nationalen und ethnischen Grenzziehungen sowie eine Kritik an den durch Transition, Privatisierung und Verarmung gekennzeichneten postjugoslawischen Nachkriegsgesellschaften. Darüber hinaus wird auch eine Positionierung in Bezug auf die österreichische Gesellschaft eingenommen. Somit wird die jugoslawische bzw. Jugo-Identifizierung zu einer strategischen, antinationalistischen, diasporischen Positionierung mit doppelter Referenz bzw. Desidentifizierung: einerseits zu dem postjugoslawischen hegemonialen Zustand, andererseits auch zu den Machtverhältnissen in Österreich. Solche diasporischen Identifizierungen zeigen dadurch oft 3

Abseits der nicht nationalistischen Verortung und einem Lebensmittelpunkt in Wien war die von mir interviewte Gruppe ziemlich heterogen. Die von mir interviewten Frauen* kommen aus verschiedenen Teilen des ehemaligen Jugoslawien, haben unterschiedliche ethnonationale und Bildungshintergründe, gehören unterschiedlichen Generationen an, haben verschiedene sexuelle Orientierungen und unterschiedliche Migrationsgeschichten. Die hier im Text verwendeten Zitate wurden von Rada Živadinović ins Deutsche übersetzt.

„Wien als Jugo-Hauptstadt“

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Brüche und Diskontinuitäten in den postjugoslawischen n ­ ationalen Identitäts­ konstruktionen und den nationalistischen Narrativen auf und können gleichzeitig als gegenhegemoniale migrantische Strategien aufgefasst werden.

„OD VARDARA PA DO … BEČA.“4 DIE UNMÖGLICHKEIT EINER POSTJUGOSL AWISCHEN DIASPORA

Um postjugoslawische nationale Identitäten zu konstruieren, wurde in den jeweiligen neu formierten Nationalstaaten die Geschichte umgeschrieben, die Erinnerungspolitik nationalisiert, es wurden neue Traditionen erfunden, die Sprache wurde verändert und nationalisiert und ein antijugoslawischer Diskurs forciert.5 Der postjugoslawische hegemoniale Zustand erlaubt keine Identifizierung außerhalb ethnonationaler Rahmen, während die ethnonationale Identifizierung als selbstverständliche, naturalisierte und unvermeidbare Identifizierungsform etabliert wurde. Durch den Zerfall Jugoslawiens wurde auch die Diaspora entlang ethnonationaler Grenzen aufgeteilt.6 Dementsprechend sollte der zugrunde liegenden postjugoslawischen hegemonialen Logik folgend eine nicht ethnonational bestimmte postjugoslawische Diaspora gar nicht existieren.7 Mit postjugoslawischer Diaspora werden hier alle Menschen erfasst, die einen (post)jugoslawischen Hintergrund haben und außerhalb der postjugoslawischen Grenzen leben. Konkret sind das in Österreich die Arbeitsmigrant*innen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre und ihre Nachkommen, außerdem die in den 1990er Jahren während des Jugoslawienzerfallskriegs geflüchteten Men4

5 6 7

„Von Vardar bis zum ... Wien“ ist eine Anspielung auf die in Jugoslawien genutzte Phrase „Od Vardara pa do Triglava“, „Von Vardar bis zum Triglav“, mit der das Territorium der SFRJ beschreiben wurde. Ein bekanntes Lied unter diesem Titel feiert das Land Jugoslawien. Kuljić, 2010; Sundhaussen, 2004; Pavasović Trošt, 2018; Bugarski, 2012. Bratić, 2016, 64. Der Begriff hegemonial wird eher mit staatlicher Macht in Verbindung gebracht. Die postjugoslawischen nationalen Narrative weisen in ihren Rhetoriken und Logiken, Strukturen und Strategien eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zueinander auf, auch wenn es keinen gemeinsamen Staat mehr gibt. Um die ideologische Ähnlichkeit nationaler Narrative im postjugoslawischen Raum hervorzuheben, spreche ich an dieser Stelle von postjugoslawischen hegemonialen Machtverhältnissen, was aber tatsächliche ökonomische und politische Unterschiede, die zwischen den postjugoslawischen Staaten existieren, nicht auflöst.

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schen und ihre Nachkommen sowie die in jüngeren Jahren aus unterschiedlichen, vor allem ökonomischen, aber auch bildungsbezogenen Gründen aus postjugoslawischen Staaten nach Österreich migrierten Personen. Diese Diaspora ist daher grundsätzlich nicht ethnisch oder national eingeschränkt, während die ihr angehörenden Menschen unterschiedliche politische Positionen vertreten. Nationalistische Positionierungen nehmen dabei in den öffentlichen Diskursen und insbesondere in medialen Darstellungen sowohl in postjugoslawischen als auch österreichischen Kontexten mehr Raum ein. Die hegemonialen, nationalisierten und ethnisierten Narrative der postjugoslawischen Staaten verunmöglichen Zusammengehörigkeitsgefühle über die ethnonationalen Grenzen hinweg und scheitern daran, die gelebte Realität der diasporischen Subjekte zu beschreiben. Im Kontext der postjugoslawischen Nations- und Identitätsbildungsprozesse, die sich durch eine nationalistische, geschichtsrevisionistische und immer noch militaristische sowie hypermaskulinistische Politik äußern, finden Perspektiven, die den postjugoslawischen nationalstaatlichen Zustand und die klare ethnonationale Grenzziehung nicht akzeptieren, keinen Platz. Frauen*narrative werden dabei doppelt unsichtbar gemacht, einerseits im postjugoslawischen Kontext, der weiterhin von Nationalismus und Nachkriegszustand geprägt ist, und andererseits in österreichischen hegemonialen Diskursen, die Migrant*innen viktimisieren und zum Schweigen bringen. Das Konstrukt Nation ist stark vergeschlechtlicht und im Kontext der postjugoslawischen Nationskonstitutionsprozesse wurden nationale Identitäten anhand von Ethnisierung der Kategorie Geschlecht konstruiert. Frauen* wurden symbolisch und diskursiv für nationalistische Zwecke instrumentalisiert und in Opfernarrative eingebunden, der Frauenkörper symbolisierte die Nation und markierte die ethnonationalen Grenzen, während Frauen* auch massiv von sexueller Gewalt im Krieg betroffen waren.8 Gleichzeitig waren Frauen* die Hauptakteur*innen und die treibende Kraft des antimilitaristischen Widerstands und Aktivismus während des Jugoslawienzerfallskriegs.9

8 9

Duhaček, 2002; Kesić, 2002; Morokvašić, 1998; Mostov, 2000; Papić, 1999; Zajović, 1995a; Žarkov, 1995. Bilić, 2012; Batinić, 2001; Perković, 2012.

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„HIER LEBEN DIE MENSCHEN ANDERS, MIT WENIGER HASS.“ DIASPORAERFAHRUNGEN UND KOLLEKTIVES ZUGEHÖRIGKEITSGEFÜHL

Identifizierungen in der Diaspora verstehe ich in Anlehnung an Stuart Hall als heterogene, widersprüchliche, fragmentarische, situative, prozesshafte und strategische Positionierungen innerhalb der Machtverhältnisse, die in Bezug auf verschiedene historische Narrative und Gegennarrative konstituiert werden.10 Wenn Identität als eine Beziehung des Individuums zu sich selbst vor dem Hintergrund seiner Position im sozialen Machtgefüge verstanden wird, müssen postjugoslawische diasporische Identifizierungen als Positionierungen innerhalb einerseits der österreichischen und andererseits der hegemonialen postjugoslawischen Machverhältnisse analysiert werden. Ebenso muss die postjugoslawische Identitätskonstruktion in den globaleren Machtverhältnissen zwischen West und Ost, Europa und Balkan sowie balkanistischen und orientalistischen Narrativen, die sich stark in den Diskursen um den EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten äußern, verortet werden.11 Postjugoslawische diasporische Identifizierungen stellen somit relationale, multiple und oft strategische Positionierungen innerhalb von Machtverhältnissen dar, die mit komplexen und ambivalenten Prozessen der Identifizierung, Desidentifizierung sowie mit Zugehörigkeiten und Ausschlüssen zusammenhängen. Diasporische Subjekte bezeugen oft mit ihren Erfahrungen, ihrem alltäglichen Handeln und ihren Beziehungen eine gelebte Realität, die von täglichem Überschreiten der ethnonationalen Grenzen geprägt ist. In dem Versuch, die postjugoslawische Diaspora nicht mit ethnischen oder nationalen Begriffen zu definieren, wird zum Beispiel der sehr gängige Begriff naši verwendet, was so viel wie „die Unseren“ heißt und auf „unsere Leute“ referiert.12 Damit wird ein kollektives postjugoslawisches Selbstverständnis ausgedrückt und eine Selbstverortung über die ethnonationalen Grenzen hinweg ermöglicht. Der Begriff naši trägt, wie jede andere „wir“-Konstruktion, einen relationalen, situativen, fluiden Charakter und kann je nach Kontext und Situation eine unterschiedliche Gruppierung bezeichnen: Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Menschen vom Balkan oder sogar, nach Auffassung einer Interviewpartnerin, nicht westeuropäische Migrant*innen in Österreich. 10 Hall, 2012, 29 f. 11 Petrović, 2015; Buden, 2010; Bojadžijev, 2007. 12 Zu „naši“ und „naš jezik“ siehe auch den Beitrag von Armina Galijaš in diesem Band.

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Ebenfalls indikativ ist die Sprachbezeichnung naš oder naš jezik, „unsere Sprache“, ein Begriff, der unterschiedliche Dialekte und nachjugoslawische offizielle Nationalsprachen bezeichnen soll und der in der Diaspora eine nicht nationale Benennung der Sprache ermöglicht. Der postjugoslawische Raum wird auf ähnliche Weise als „unten“, „bei uns“, „der Balkan“ oder als „ehemaliges Jugoslawien“ bezeichnet. Sprache macht einen wichtigen Teil der migrantischen, diasporischen Identitätsbildungsprozesse aus. Durch das Sprechen der eigenen Sprache, was, wie in den Interviews berichtet, Migrant*innen manchmal auch verboten wird, wird ein Nähegefühl hergestellt. Die Sprache bzw. das Fehlen der deutschen Sprache wurden als verbindende Elemente in der Diaspora benannt. Ebenso fungieren die gemeinsame Kultur, eine gemeinsame (jugoslawische) Geschichte, geteilte Erfahrungen, unter anderem auch Kriegserfahrung, als Verbindungselemente, genauso aber auch die geteilten migrantischen Erfahrungen und die erlebten Ausschlüsse in Wien und Österreich. „Nepripadanje nas spaja“, „die Nicht-Zugehörigkeit verbindet uns“, wurde treffend von einer Interviewpartnerin behauptet. Menschen werden einander durch geteilte Probleme und Diskriminierungserfahrungen in der Mehrheitsgesellschaft näher gebracht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zum Zweck des Informationsaustausches und zur gegenseitigen Unterstützung. Das Bedürfnis einer kollektiven diasporischen Gruppenzugehörigkeit ergibt sich daher zusammenfassend aus den asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen der österreichischen Mehrheitsgesellschaft und deprivilegierten migrantischen Subjekten. Die geteilten Probleme der postjugoslawischen Migrant*innen in Österreich, die vom rechtlichen Status, dem Ansuchen der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, über den Zugang zu öffentlichen Ressourcen, Benachteiligung am Arbeitsmarkt, struktureller Benachteiligung bis hin zu unterschiedlichen Arten von Unterdrückung und Diskriminierung reichen, bringen also die Menschen in der Diaspora zusammen. Als trennende Elemente in der Diaspora wurden Nationalismus, Religiosität, Klassenzugehörigkeit und Homophobie erwähnt. An dieser Stelle ist das kritische Potenzial der queeren Diaspora zu erwähnen und deren Bedeutung für die antinationalistische Positionierung. Heterosexualität stellt laut Gopinath den strukturierenden Mechanismus sowohl des nationalstaatlichen als auch des diasporischen Nationalismus dar, während queere diasporische Sexualitäten patriarchale nationalistische Normen hinterfragen und gleichzeitig Kritik an der Heterosexualität und am Konzept Nation

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ausüben.13 Die Existenz queerer weiblicher Subjektpositionen ist innerhalb der Vorstellungen von Nation und Diaspora undenkbar, und gerade diese „Unmöglichkeit“ trägt zum subversiven Potenzial bei.14 Queere Positionierung und Erfahrung ermöglichen eine Verbindung über die aufgesetzten ethnonationalen Grenzen hinweg. So wurde zum Beispiel in einem Interview berichtet: „Moja seksualna orijentacija me je spasila tog nacionalističkog i homofobičnog društva.“ [Meine sexuelle Orientierung hat mich vor der nationalistischen und homophoben Gesellschaft gerettet.] Queere diasporische Positionalitäten haben das Potenzial, gängige Vorstellungen von Nation und Diaspora zu dekonstruieren, indem auf der Basis queerer Verbindungen ethnonationale Grenzen gesprengt werden und gegenhegemoniale Erinnerungen, clandestine countermemories,15 jenseits nationalistischer Erinnerungspolitik aufrechterhalten werden. Neben der Abgrenzung von der nationalistischen Diaspora fand in den von mir geführten Interviews teilweise auch eine Abgrenzung zu den Gastarbeiter*innen statt. Die Arbeitsmigration aus Jugoslawien Ende der 1960er und im Laufe der 1970er Jahre bleibt ein wichtiger Referenzpunkt in der postjugoslawischen Diaspora. Die Erfahrungen der damaligen Arbeitsmigrant*innen und der rechtliche, politische und gesellschaftliche Umgang mit ihnen setzte die Grundlage für den allgemeinen Umgang mit Migrant*innen in Österreich. Der in dieser Zeit entwickelte Verwaltungsapparat zur Regulierung der Migration und der damals geschaffene rechtliche Rahmen haben das Migrationsrecht und die Migrationspolitik Österreichs maßgeblich geprägt.16 Das Bild von postjugoslawischen Migrant*innen ist deutlich von dem Bild der jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen von damals geprägt, daher werden die postjugoslawischen diasporischen Subjekte oft als ungebildete Arbeiter*innen homogenisiert. Die Prozesse der Identifizierung und der Abgrenzung, der Solidarisierung und Hierarchisierung nach innen (innerhalb der postjugoslawischen Diaspora) als auch nach außen (in Bezug auf andere Migrant*innen und Migrationsgruppen und auf die österreichische Gesellschaft) sind komplexe, relationale bzw. kontextabhängige, simultan stattfindende Prozesse, die oft von Widersprüchen geprägt sind (z.B. Solidarisierung mit „Gastarbeiter*innen“ bei erlebter Diskriminierung und gleichzeitige Abgrenzung von ihnen). Abgrenzung in der Diaspora findet entlang verschiedener Differenzachsen statt, etwa jener der politischen Positionierung, Klasse und sexuellen Orientierung. 13 14 15 16

Gopinath, 2005, 9 f. Ebd., 15. Ebd., 5. Bakondy, 2010a, 68.

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„HIER SIND DIE SPIELREGELN SCHON GESETZT.“ DIASPORISCHE IDENTITÄTSKONSTRUKTION VOR DEM HINTERGRUND ÖSTERREICHISCHER MACHT VERHÄLTNISSE

Österreichische Migrationspolitik zeichnet sich unter anderem auch durch Repression, Reglementierungs- und Regulierungsmaßnahmen aus. Die österreichische Gesetzgebung und das politische System sind strukturell rassistisch, Migrant*innen werden in vielen gesellschaftlichen Bereichen systematisch ausgeschlossen und benachteiligt.17 Obwohl Migration einen essenziellen Teil österreichischer Geschichte ausmacht, bleibt die hegemoniale Geschichte geprägt von epistemischer Gewalt18 und setzt einen Ausschluss migrantischer Erfahrungen, Erinnerungen und Wissens voraus.19 Außerdem werden migrantische weibliche Subjekte in den medialen und politischen Diskursen objektivisiert und als passiv imaginiert, was sich auch in wissenschaftlichen und sogar feministischen Diskursen widerspiegelt.20 Die sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnisse der österreichischen Gesellschaft, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sowie staatliche regulative und repressive Migrationspolitik, die das Leben migrantischer Subjekte täglich prägen, stellen einen wichtigen Bezugsrahmen für die Konstruktion diasporischer Identitäten dar. Diskriminierungserfahrungen wurden in allen von mir durchgeführten Interviews berichtet, wobei es sich hauptsächlich um Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, Ausbeutung, rechtliche Diskriminierung, strukturelle Diskriminierung, aber auch teilweise um rassistische Übergriffe handelte. Migrant*innen sind laut Morokvašić, die eine der ersten Studien zu jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen durchgeführt hat, mit Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, mit rassistischer Diskriminierung als migrantische Subjekte und mit einer Klassenausbeutung als Arbeiter*innen konfrontiert, obwohl sie sehr unterschiedliche Lebensrealitäten haben.21 Die verschiedenen Diskriminierungsachsen sind dabei intersektional ineinander verschränkt, während sich die Differenzkategorien gegenseitig reproduzieren.22 Diasporische Subjekte werden oft mit stereotypisierenden Bildern konfrontiert, die postjugoslawische Migrant*innen im niedrigsten Ar17 18 19 20 21 22

Bratić, 2016, 64; Gächter, 2016, 43. Spivak, 1990, 126 f. Rupnow, 2013, 5; Steyerl/Gutiérrez Rodríguez, 2003, 7. Morokvašić, 1987, 17; Castro Varela, 2003, 17; Lorber, 2017, 166 f. Morokvašić, 1987, 25. Ebd., 99; Castro Varela, 2003, 20; Castro Varela/Dhawan, 2003, 278 f.

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beitsmarktsektor verorten. Besonders stark verankert, wie in den Interviews betont, ist das Bild der Frau* aus dem ehemaligen Jugoslawien als Putz- und Dienstpersonal. Die von mir interviewten Frauen* berichteten ebenfalls, dass ihnen ihre in den Herkunftsländern erworbenen Qualifizierungen teilweise nicht anerkannt wurden. De-Qualifizierung der Migrant*innen ist ein Teil rassistischer, diskriminierender Strukturen und hat eine lange Geschichte.23 Die stattfindende systematische und bewusste De-Qualifizierung von Migrant*innen bedeutet auch, wie Castro Varela betont, eine Deklassierung.24 In den Interviews war auch eine Normalisierung der diskriminierenden Verhältnisse bemerkbar. Es wurde gewissermaßen erwartet und als selbstverständlich angenommen, dass man als „Migrant*in“ und „Ausländer*in“ schlechte Arbeitsstellen bekommt und ausgebeutet wird, weswegen die eigene Position nicht so negativ bewertet wird, obwohl man Diskriminierung erfahren hat. Eigene Erfahrungen wurden oft mit denen der anderen Migrant*innen, die „viel Schlimmeres“ erlebt haben, in Vergleich gesetzt. Die „typische Migrationserfahrung“ wird in den Interviews als Erfahrung der damaligen Arbeitsmigrant*innen verstanden. Die Geschichten von „Gastarbeiter*innen“, ihre schweren Lebensrealitäten und die vielfach erlebte Diskriminierung sind allgemein bekannt und im Erinnerungskodex der Menschen eingeschrieben. Wenn diese meist oral tradierten Erfahrungen mit den eigenen Erfahrungen in Vergleich gesetzt werden, werden die eigenen migrantischen Erfahrungen als „nicht so schlimm“ bewertet. Die in Österreich existierenden Machverhältnisse wurden in allen Interviews auf verschiedene Art und Weise angesprochen. So wurde berichtet, dass man als Migrant*in in Österreich „als Bürger zweiten Ranges“ betrachtet wird, dass sich Österreicher*innen selbstverständlich „über die Anderen stellen“, dass die österreichische Gesellschaft „gar nicht freundlich gegenüber den Fremden“ sei und dass „du nicht auf Augenhöhe betrachtet wirst“. Es wurde berichtet, dass „die Spielregeln hier schon gesetzt sind“ und dass „es klar ist, wer die Österreicher und wer Nicht-Österreicher sind, wer wie lebt und wer welche Möglichkeiten hat und wer welche Behandlung bekommt“. Eine Interviewpartnerin meint: Mir ist irgendwie … von früh bis spät jeden Tag klar, dass ich Ausländerin bin. Ich meine, ich kann das irgendwie schwer vergessen, weil das Leben so ist. (Drinka 2019) 23 Castro Varela, 2003, 13 f.; Bakondy, 2010b, 388 f. 24 Castro Varela, 2003, 20.

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Meni je nekako ... od ujutru do uveče svaki dan jasno da sam ja auslenderka, mislim ja to nekako teško mogu da zaboravim bilo kad, zato što je takav život.

Österreichische Repräsentationsstrategien der postjugoslawischen Diaspora sind auch von orientalistischen und balkanistischen Diskursen geprägt. Balkanistische und orientalistische Narrative erreichten während des Jugoslawienzerfallskriegs ihren Höhepunkt, während sie nicht nur in westlichen, vor allem medialen Diskursen, sondern auch innerhalb Jugoslawiens gängig waren, indem die konstruierten „Anderen“ balkanisiert und orientalisiert wurden. Das Othering des Balkans geht mit den ethnisierten Vorstellungen über Geschlecht einher, indem die als „orientalisch“ und „balkanisch“ konstruierten Frauen* zum Zweck der Aufwertung des westlichen weiblichen, oft auch feministischen Selbst instrumentalisiert werden.25 Aus den berichteten Erfahrungen konnte ich solche balkanistischen und orientalistischen Diskurse herausarbeiten, mit denen postjugoslawische Migrant*innen konfrontiert werden. So erzählte eine Interviewpartnerin, Unsicherheiten im Kontakt mit Österreicher*innen zu verspüren, da sie Angst habe als „zu viel, zu laut, zu direkt, zu verrückt“ empfunden zu werden. Sie meint das Gefühl zu haben, sich selbst ständig „kontrollieren zu müssen“, „weil man hier die Sachen nicht so macht“. Zu betonen ist auch der erlebte antimuslimische Rassismus in seiner vergeschlechtlichten Form, der sich in orientalistischen Vorstellungen über die muslimische Frau* äußert. In diesem Kontext berichtete eine Interviewpartnerin, die als Juristin tätig war, wie ihre Kollegin überrascht gewesen wäre, dass sie „nicht verschleiert ist“ und „so spontan die europäische Kleidung trägt“. Migrantische Frauen* leisten alltäglichen Widerstand gegen diese hegemonialen Bilder und wenden unterschiedliche Strategien an, mit erlebter Diskriminierung und Ausschlüssen umzugehen. Die österreichische Migrationspolitik und Diskurse über die Migration müssen, wie manche Forscher*innen betonen, im Kontext der postnationalsozialistischen österreichischen Gesellschaft betrachtet werden. Die Kontinuitäten von Faschismus und seinen strukturellen Fortwirkungen sind unter anderem in der österreichischen Arbeitsmigrationsgeschichte, in den gesetzlichen Bestimmungen und benutzten Terminologien vorzufinden.26 Der Raum Österreichs und der Raum des ehemaligen Jugoslawien sind auf vielfache Art und Weise historisch verbunden. Die Beziehung von postjugoslawischen Migrant*innen zu Österreich ist von diesen Verknüpfungen geprägt, während his25 Matešić, 2015; Batinić, 2001. 26 Bakondy/Winter, 2013; Rupnow, 2013.

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torische Verbindungen, wie zum Beispiel die des Zweiten Weltkriegs, auch als Teil der Migrationsgeschichte betrachtet werden müssen.27 Diese historischen Kontinuitäten prägen die Lebensrealität, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Identifizierung und Positionierung der postjugoslawischen migrantischen Subjekte, die oft durch ihre Familiengeschichten und die eigene Migrationserfahrung diese historischen Zusammenhänge herstellen. Auf bemerkenswerte Weise werden diese historischen (Macht)Beziehungen von einer Interviewpartnerin angesprochen, während sie erklärt, was der oft diffamierend benutzte Begriff švabo für sie bedeutet: Also švabo war für mich lange … als Kind war švabo für mich zuerst Nazi, das war das erste. Und ich konnte lange Deutsch gar nicht akzeptieren, ich denke, das ist, weil ich als Kind viele Partisanenfilme geschaut habe, und immer, wenn ich Deutsch höre, waren das für mich also, Nazis. […] Und ich weiß nicht, und mein Opa, der im Konzentrationslager war, und all das war für mich irgendwie, so … Aber, danach war das vorbei, danach waren für mich švabos irgendwie … Dann sind für mich švabos die Chefs geworden. Also, ich habe dann auch diese Gastarbeitergeschichten gehört, und der Chef war immer irgendein švabo. Also jemand, der dich schikaniert, meine ich. Und ich meine, verdammt, so ist das bis heute geblieben. (Drinka 2019) Pa švabo je meni dugo ... k’o detetu švabo mi je bio prvo nacoš, to mi je bilo prvo. I ja dugo nisam mogla nemački nikako da prihvatim, mislim to je zato što sam k’o dete mnogo gledala partizanske filmove i ja kad čujem nemački meni su to, ono, nacoši. […] I ne znam, i taj moj deda koji je bio u logoru i mislim sve mi je to nekako, tako ... Ali ovaj, posle je to prošlo, onda su mi švabe bili nekako, onda su mi švabe postali šefovi, kao. Zato što sam slušala isto te gastarbajterske priče, pa ti šef uvek bude neki švabo, kao neko, i onda je to neko ko te drnda mislim. I, mislim, jebiga, to je tako i ostalo sad.

Die heutige postjugoslawische Diaspora in Österreich trägt kollektive Erinnerungen, die auf die historischen Momente Bezug nehmen. Viele Vorfahr*innen der postjugoslawischen Migrant*innen haben selbst im antifaschistischen Widerstand gegen Nazis gekämpft, viele sind umgebracht worden und viele waren in Konzentrationslagern, während andere als Nazi-Kollaborateure oder Faschisten in jugoslawischen Regionen aktiv waren. Wenige Jahrzehnte später sind die Eltern der heutigen postjugoslawischen Migrant*innen nach Öster27 Bratić, 2016, 62.

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reich oder Deutschland gekommen, um unter schlechten Arbeitsbedingungen in den niedrigsten Arbeitsmarktsektoren zu arbeiten. Die Menschen der postjugoslawischen Diaspora, deren Bleiberecht teilweise immer noch durch regulatorische Migrationspolitiken in Frage gestellt wird und deren Leben nach wie vor von Diskriminierung und gesellschaftlichen Ausschlüssen geprägt ist, tragen diese geschichtlichen Kontinuitäten in sich und das beeinflusst auch ihr Selbstverständnis und ihre Identifizierung in der Diaspora. Interessant ist auch, dass in den Interviews die postjugoslawische Diaspora im Vergleich mit anderen Migrationsgruppen in Österreich gesetzt wurde. Dabei wurde behauptet, dass Menschen mit (post)jugoslawischem Hintergrund in Österreich eine bessere, etabliertere gesellschaftliche Position und mehr Privilegien im Vergleich zu anderen Migrationsgruppen hätten, zum Beispiel Geflüchteten, die erst unlängst nach Österreich gekommen sind. Die Erfahrungen der jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen und die Erfahrungen der Geflüchteten der 1990er Jahren wurden mit den Erfahrungen der kürzlich angekommenen Migrant*innen und Geflüchteten in Relation gesetzt, wobei die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die schon lange in Österreich sind, als Beispiel für „gut integrierte Migrant*innen“ dienen. „Jugosi su na vrhu hierarhijske lestvice migranata“, „Jugos sind an der Spitze der migrantischen Hierarchie“, sagte in diesem Kontext eine Interviewpartnerin zu mir.28

„ICH FÜHLE MICH NICHT ALS KROATIN, ICH FÜHLE MICH ALS DALMATINERIN.“ ANTINATIONALISTISCHE IDENTIFIZIERUNGSSTRATEGIEN IN DER POSTJUGOSL AWISCHEN DIASPORA UND DIE BEDEUTUNG DER JUGONOSTALGIE

Postjugoslawische diasporische Subjekte finden verschiedene Strategien der Identifizierung abseits der ethnonationalen Identitäten. Eine Strategie ist die Selbstverortung in der Stadt oder der Region, in der man geboren wurde oder längere Zeit gelebt hat. Die Selbstverortung hängt davon ab, wer, wo und in welchem Kontext das Gegenüber ist. Je nach Situation kann eine Selbstverortung zum Beispiel mit Sarajevo, Zagreb, Split oder Niš, mit Dalmatien oder Südserbien, mit dem Balkan oder mit Jugoslawien stattfinden. Solche Identitätspositionierungen zeigen Brüche und Diskontinuitäten in den postjugo28 Vergleiche zu Fragen der Integration auch den Beitrag von Nedad Memić in diesem Band.

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slawischen nationalen Identitätskonstruktionen und den nationalistischen Narrativen auf, während dadurch gleichzeitig oft Kontinuitäten mit dem im postjugoslawischen hegemonialen Diskurs tabuisierten und gelöschten jugoslawischen Narrativ erkennbar werden. Eine Ausnahme stellt die Selbstverortung als Bosnier*in dar, weil dadurch eine Möglichkeit eröffnet wird, sich weder als Serb*in, Kroat*in oder Muslim*in bzw. Bosniak*in zu erklären und sich somit einer nationalen Einordnung zu entziehen. Die oben genannten Selbstverortungsversuche sollten als Suche nach den Möglichkeiten, eine nationale Identifizierung zu umgehen, gedeutet werden. Wie eine Interviewpartnerin beschreibt: „Ich fühle mich nicht als Kroatin, ich fühle mich als Dalmatinerin.“ Somit fungieren diese Identitätspositionen vielmehr als Desidentifizierungen mit postjugoslawischen Nationalstaaten, deren Existenz mit Krieg, Militarisierung und Nationalismus in Verbindung gebracht wird. Im Kontext postjugoslawischer nationalisierter Erinnerungspolitiken und revisionistischer Geschichtsschreibungen repräsentiert allein die Benennung und die Erinnerungen an Jugoslawien ein Gegennarrativ und eine Gegenerinnerung.29 Parallel dazu existiert auch ein von einer Minderheit vertretener Diskurs, der sich vor allem in nostalgischen Erinnerungen der Menschen an Jugoslawien und die jugoslawische Vergangenheit äußert, die sogenannte Jugonostalgie.30 Jugoslawienbezug und Jugoslawienidentifizierung sind sehr komplex. In Anlehnung an die Unterteilung von Zajović konnte ich verschiedene individuelle, emotionale und psychologische, kultur-soziale und politische Aspekte der Jugonostalgie ausarbeiten.31 In diesem Sinne kann Jugoslawien die nostalgische Erinnerung an die guten, vergangenen Zeiten bedeuten, Erinnerungen an die Kindheit oder Jugendzeit, Erinnerung an die Eltern und Großeltern. Meistens steht „Jugoslawien“ symbolisch für Frieden, für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Nationen, Nationalitäten und Ethnien, ist ein Symbol für 29 Der ehemals jugoslawische Raum wird in den öffentlichen, medialen und politischen Diskursen als „Region“ – „Regija“ – bezeichnet. Dies ist ein schwammiger und ungenauer Begriff, der dem unbenennbaren postjugoslawischen Raum einen Namen geben soll und das Wort Jugoslawien aus dem öffentlichen Diskurs verdrängen soll. 30 Velikonja, 2013; Srebotjak, 2016; Pavlović, 2002; Volčič, 2007. Die postkommunistische Nostalgie ist ein in allen ehemals sozialistischen Ländern anzutreffendes Phänomen, das in öffentlichen Diskursen dieser Länder abgewertet und verworfen wird (Todorova, 2015, 135 f.). Ebenso wird die kommunistische Vergangenheit in westlichen Diskursen abgewertet und dies als Machtinstrument genutzt, um die liberale Demokratie als einzig richtigen und möglichen Weg zu präsentieren (Buden, 2010, 18). 31 Zajović, 1995b, 259 f.

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­ oleranz und das Feiern der Vielfalt. Ebenso handelt es sich bei Jugonostalgie T oder Aneignung der jugoslawischen Identität um eine Sehnsucht nach jugoslawischem sozialen und Kunst- und Kulturleben. Weiters kann „Jugoslawien“ die Identifizierung mit bestimmten Werten oder Wertesystemen bedeuten, zum Beispiel mit Solidarität, Zusammenhalt, Antifaschismus, oder kann ein politisches bzw. historisches Erbe verkörpern. „Jugoslawien“ kann ebenfalls eine politische Positionierung bedeuten, die mit Antifaschismus, proletarischem Erbe, Antikapitalismus, Kommunismus, Antinationalismus in Verbindung steht. Jugoslawien wird ebenfalls als ein System der sozialen, ökonomischen und rechtlichen Sicherheit beschrieben und mit Frauenemanzipation in Zusammenhang gebracht. Jugonostalgie hat sich nicht als eine Generationsfrage herausgestellt, sondern als ein Phänomen, das auch in den jüngeren Generationen anzutreffen ist. Wie eine Interviewpartnerin erklärt: Ein Mensch kann Nostalgie gegenüber etwas verspüren, was man nie erlebt hat. Genauso spüre ich eine Nostalgie nach gewissen vergangenen Zeiten, in denen ich nicht gelebt habe . (Drinka 2019) Čovek može da oseća nostalgiju za nečim što nikad nije proživeo. E tako ja osećam nostalgiju za nekim prošlim vremenima u kojima nisam živela .

Die Nostalgie nach Jugoslawien hat darüber hinaus nicht so viel mit Vergangenheit zu tun, sondern vielmehr mit der postjugoslawischen Gegenwart, die als sehr negativ bewertet wird. Weiters kann Jugonostalgie auch als Streben nach einer besseren Zukunft interpretiert werden. Jugoslawien ist heute kein bestimmter Ort, sondern eine imagined community. Jugoslawien ist gleichzeitig ein historisches Faktum, aber auch ein fiktiver, imaginärer Raum, eine vorgestellte Gemeinschaft, die sowohl im postjugoslawischen Raum als auch in der Diaspora existieren kann. Indem man sich selbst in diesem imaginierten Raum verortet, eröffnet sich ein Negativ-Ort als ein Ort der Verweigerung der heute real existierenden nationalstaatlichen Räume. „Jugoslavija su ljudi, nije mjesto“, „Jugoslawien sind die Menschen, nicht der Ort“, so eine Interviewpartnerin. Jugoslawien existiert als Staat und als Raum nicht mehr, die Menschen, die sich mit Jugoslawien identifizieren, existieren aber heute noch. Jugoslawentum heute stellt eine identitäre Ver-Ortung dar, die keinen offiziellen nationalstaatlichen Rahmen findet, wodurch sich ein antinationalistisches Potenzial eröffnet. Wie eine Interviewpartnerin das treffend sagt:

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Jugoslawien existiert seit fast 20 Jahren nicht mehr, aber die Jugos existieren. Und das ist etwas was … Was nicht, was sich nicht ändert. (Drinka 2019) Jugoslavija ne postoji već skoro 20 godina, ali Jugosi postoje. I mislim to je nešto što ... Što se nije, što se ne menja.

Bei Jugonostalgie geht es meistens nicht um einen Wunsch nach Rekonstruktion des jugoslawischen Staates. Die Identifizierung mit Jugoslawien und Jugonostalgie bedeutet in den meisten Fällen nicht eine positive Konnotation von Jugoslawien als Staat oder von Josip Broz Tito als Staatschef. Es handelt sich vielmehr um komplexe Positionierungen, die mit großen Verlusten, mit Nationalismus und Krieg, mit deprimierenden Zuständen postjugoslawischer „transitorischer“ Gesellschaften und nicht zuletzt mit bestehenden Machtverhältnissen in der Diaspora zusammenhängen. Identifizierung mit oder Nostalgie in Bezug auf Jugoslawien funktioniert sowohl als Abgrenzung zu postjugoslawischen Nationalitäten als auch von westlichen, kapitalistischen, neoliberalen Werten und den damit zusammenhängenden Machtverhältnissen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Migrant*innen. Während Jugonostalgie ein auch in der postjugoslawischen Gegend anzutreffendes Phänomen ist, ergibt sich hier ein neuer Aspekt der jugoslawischen Identifizierung als eine spezifische Positionalität in der Diaspora, wobei es sich um eine diasporische Identitätspositionierung im Kontext von österreichischen Machtverhältnissen handelt. Der Raum Jugoslawien gewinnt in der Diaspora eine weitere Bedeutungskomplexität und bietet sich – oft im Zusammenhang mit der Wiederaneignung des Begriffs Jugo als Selbstbezeichnung – als eine migrantische Position und eine diasporische antinationalistische Identitätsstrategie an.

„HIER LIEGT DIESES JUGOSLAWIEN IN DER LUFT.“ JUGOSL AWIEN ALS IDENTITÄTSPOSITION IN DER DIASPORA

Die diasporische Identitätsbildung hängt sowohl vom Bezug zur Herkunftsregion als auch vom Bezug zur Mehrheitsgesellschaft ab. Gerade in Österreich muss sie daher auch in dem Kontext der oben ausführlicher beschriebenen österreichischen Machtverhältnisse betrachtet werden. Während die ethnonationalen Grenzen im postjugoslawischen Raum stark wirken, können diese Grenzen in der Diaspora weniger spürbar sein. Jugosla-

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wien stellt dabei oft das Verbindungselement zwischen Menschen in der Diaspora dar. Selbst der Begriff „Jugoslawien“ bekommt in Österreich eine weitere Bedeutung und wird gewissermaßen enttabuisiert. Eine Interviewpartnerin erzählte: Dieses Jugoslawien ist eigentlich die Verbindung zwischen den Menschen. […] Also, ich denke, dass hier dieser Begriff Jugoslawien nicht in solchem Ausmaß so ein Schreckgespenst ist, wie unten. […] Unten darf das gar nicht erwähnt werden, ich meine, Jugoslawien, du wirst dann sofort gebrandmarkt. Ich denke, dass es milder ist. (Vahida 2019) Ta je Jugoslavija ustvari veza između ljudi. […] Tako da mislim da ovdje, taj pojam Jugoslavija nije u toj mjeri bauk kakav je dole. […]Dole se to ne smije ni spomenuti, ja, mislim, Jugoslavija, odmah ti pečat stavljaju. Mislim da, da je blaže.

Eine jugoslawische Identifizierung trägt in Österreich immer einen Wiederaneignungscharakter. Jugoslawisch sein wird zu einer diasporischen Identifizierung, die eine bestimmte, oft strategisch eingesetzte Positionalität im gegebenen Machtgefälle markiert. Eine Interviewpartnerin erzählte, wie es für sie gerade in der Diaspora wichtig ist, zu betonen, dass sie aus Jugoslawien kommt, um ihre antinationalistische Einstellung hervorzuheben: Ich möchte mich nicht mit serbischen nationalistischen Politiken identifizieren und dann ist mir … gerade hier, wo es viele von uns aus dem ehemaligen Jugoslawien gibt, mir ist irgendwie wichtig, dass ich mich damit identifiziere, dass ich auch aus diesem Jugoslawien bin und dass mir diese Werte näher sind, als die Werte, die jetzt in Serbien existieren. […] Mir ist irgendwie wichtig es hervorzuheben, damit gehört wird, dass es existiert, dass Menschen existieren, die aus dem ehemaligen Jugoslawien sind, und die nicht nationalistisch eingestellt sind. (Drinka 2019) Ja se ne bi identifikovala sa srpskim politikama nacionalističkim i onda je meni to ... pogotovu ovde gde ima puno nas koji smo iz bivše Jugoslavije, meni je nekako važno da se identifikujem s tim da sam ja isto iz te Jugoslavije i da su meni te vrednosti bliže nego vrednosti koje sad u Srbiji postoje. […] I mislim meni je važno da nekako to istaknem i da se čuje da postoji, da postoje ljudi koji nisu, koji su iz bivše Jugoslavije, koji nisu nacionalistički nastrojeni.

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Die Jugoslawienidentifizierung als antinationalistische Positionierung weist im österreichischen Kontext einen besonderen Aspekt auf. Die westeuropäische Repräsentation des postjugoslawischen Raums ist in der Tradition balkanistischer Diskurse von einer Betonung der nationalen Konflikte, Gewalt und Krieg geprägt. In Österreich werden in medialen Repräsentationen der postjugoslawischen und besonders der serbischen Diaspora meistens nationalistische Auseinandersetzungen sowie hypermaskulinisierte, aggressive Männlichkeitsbilder hervorgehoben. Die geteilten sozialen Räume, kollektiven Identifizierungen, antinationalistischen Praxen und das jugoslawische Erbe finden keinen Platz in diesen hegemonialen Darstellungen. Die Identifizierung mit Jugoslawien ist hier ebenfalls eine Reaktion auf die österreichische Homogenisierung der Diaspora und auf die in balkanistischen und orientalistischen Diskursen verfangene Festschreibung von Primitivismus und der damit zusammenhängenden regressiven, nationalistischen Politik. Die Bezeichnung Jugo, die als eine rassistisch geladene Beschimpfung neben dem auch für andere Migrationsgruppen benutzten Wort „Tschusch“ etabliert wurde, wird von den (post)jugoslawischen Migrant*innen teilweise wiederangeeignet und als Selbstbezeichnung benutzt. Diese Wiederaneignungsstrategie ist gerade bei den jüngeren Generationen zu beobachten und ist vermehrt auch in der Popkultur vertreten. Obwohl mit dem Begriff Jugo eindeutig auf Jugoslawien referiert wird, ist diese Identitätspositionierung vom Staat SFRJ entkoppelt und wird vielmehr mit migrantischer Erfahrung zusammengebracht. Jugo als migrantische Selbstverortung drückt ein Zugehörigkeitsgefühl in der Diaspora aus und ermöglicht eine Benennung und Verbindung aller Menschen postjugoslawischer Herkunft. Darüber hinaus wird durch die Wiederaneignung des in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft abwertend benutzten Begriffes provokativ auch Position in Bezug auf die österreichischen, rassistischen Umstände genommen. Der ursprünglich als Schimpfwort genutzte Begriff wird so zu einer selbstermächtigenden und selbstbewusst eingesetzten Selbstbezeichnung, die dadurch die Machtverhältnisse, in denen er entstanden ist, aufrüttelt.

CONCLUSIO

In diesem Artikel wurden die Ergebnisse einer empirischen Studie zu antinationalistischen Identitätsstrategien in der postjugoslawischen Diaspora in

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Wien präsentiert, welche durch die Analyse von Frauen*narrativen untersucht wurden. Dadurch wurden migrantische Stimmen, weibliche Perspektiven und antihegemoniale Positionierungen sichtbar gemacht, die weder in postjugoslawischen noch in österreichischen hegemonialen Kontexten einen Platz bekommen. Durch die Analyse von Narrativen von Frauen*, die eine postjugoslawische nationale Identifizierung ablehnen, wurden alltägliche Strategien gegen die Ethnisierung der postjugoslawischen Diaspora aufgezeigt. In einem Versuch, die Diaspora nicht mit ethnischen oder nationalen Begriffen zu definieren, wird zum Beispiel der Begriff naši [unsere Leute] verwendet, um ein kollektives Selbstverständnis und eine Selbstverortung über die ethnonationalen Grenzen hinweg zu ermöglichen. Der postjugoslawische Raum wird auf ähnliche Weise als „unten“, „bei uns“, „der Balkan“ oder als „ehemaliges Jugoslawien“ bezeichnet, während die Sprache als naš jezik [unsere Sprache] bezeichnet wird. Diasporische Subjekte wenden unterschiedliche Identitätsstrategien an, um sich in Bezug auf den postjugoslawischen Zustand zu verorten, wie zum Beispiel die Selbstverortung zu einer Stadt oder Region, eine Verortung zum Balkan oder eine Identifizierung mit Jugoslawien. Solche Identitätspositionierungen zeigen Brüche und Diskontinuitäten in den nationalen Identitätskonstruktionen und den nationalistischen Narrativen auf. Gleichzeitig werden dadurch oft andere Kontinuitäten mit dem jugoslawischen Narrativ erkennbar. Einer der wichtigsten Aspekte bei der Identifizierung mit Jugoslawien ist die Desidentifikation mit dem postjugoslawischen hegemonialen Zustand. Jugoslawische Identität bedeutet eine Abgrenzung zu dem postjugoslawischen Zustand und eine Ablehnung der Militarisierung, des Krieges, eine Verweigerung des Nationalismus und des Hasses, der nationalen und ethnischen Grenzziehungen sowie eine Kritik an den durch Transition, Privatisierung und Verarmung gekennzeichneten postjugoslawischen Nachkriegsgesellschaften. Die jugoslawische Identifizierung heute wird somit zu einem Akt des Widerstands im Alltag, zu einer Gegenerzählung, einem Gegennarrativ zu den hegemonialen nationalen postjugoslawischen Narrativen und zu einer antinationalistischen Positionierung. Ebenfalls bedeutet jugoslawische Identifizierung eine Abgrenzung zum Westen sowie zu neoliberal-kapitalistischen Werten und drückt eine kritische Einstellung zu westlichen und globalen Machtverhältnissen aus, die den Kommunismus mit Faschismus gleichsetzen und postkommunistische Länder als regressiv, unentwickelt, infantil oder gar primitiv und gewalttätig darstellen. Letztlich kann Jugoslawien einen gemeinsamen Nenner für die Diaspora

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darstellen, der eine Verbindung zwischen Menschen mit postjugoslawischem Hintergrund sowie zwischen unterschiedlichen migrantischen Gruppen herstellen kann. Jugoslawische Identifizierung in der Diaspora – oft mit der offensiven Wiederaneignung des diskriminierenden Begriffs Jugo ausgedrückt – soll als eine provokative migrantische Selbstbezeichnung, als eine diasporische Identitätspositionierung innerhalb der gegebenen österreichischen Machtverhältnisse und als eine Reaktion auf die erlebte Diskriminierung und Unterdrückung in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Jugoslawische oder Jugo-Identifizierung in der Diaspora schafft also eine doppelte Abgrenzung: einerseits zu den postjugoslawischen Nationalstaaten und ihren Politiken, andererseits auch zu den durch Machtverhältnisse normalisierten rassistischen Strukturen in Österreich. Somit fungiert sie als antinationalistische, migrantische, subversive, strategische Identitätspositionierung. Literaturverzeichnis

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DIE TOPOGRAPHIE DER MIGRATION: ZUR (UN-)SICHTBARKEIT ZUGEWANDERTER ROM*NJA IN WIEN Sanda Üllen/Sabrina Steindl-Kopf

Der öffentliche Raum, Gebäude und Straßennamen erzählen viel. Sie spiegeln gleichsam die Vergangenheit einer Stadt wider. Wien legt daher auf vielfältige Art besonderen Wert auf den Umgang mit dem öffentlichen Raum: Zusatztafeln bei Straßenschildern oder an Häusern, Kunst im öffentlichen Raum, Installationen und mehrsprachige Beschriftungssysteme fördern das reflektierte Erinnern. Denn Straßennamen dienen nicht nur der Orientierung im Straßennetz. Wer sie erschließt, dem sind sie auch ein Wegweiser durch die Geschichte.1

Geprägt durch zahlreiche Migrationsbewegungen positioniert sich die Stadt Wien als „eine europäische Einwanderungsstadt“,2 gekennzeichnet durch kulturelle Diversität und Mehrsprachigkeit. Trotz dieses klaren Bekenntnisses zu Diversität und einer historischen Kontinuität der Migration zeichnen viele Monographien über Wien weiterhin das Bilder einer kulturell und sprachlich überwiegend homogenen Stadt.3 Stadtgeschichten sind jedoch „immer auch Migrationsgeschichten“,4 wobei besonders der öffentliche Raum das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarmachung minorisierter Gruppen und den Manifestationen hegemonialer Geschichtsdiskurse abbildet.5 Wien gilt aufgrund der Größe und der geographischen Nähe sowie der historischen Verbundenheit zum ex-jugoslawischen Raum als eine attraktive Metropole für Migrant*innen. Schätzungen zufolge leben etwa 35.000 Rom*nja6 in ­Österreich; 1 2 3 4 5 6

Broschüre der Stadt Wien, 2012. Integrationsmonitor, 2020. Csáky, 2010. Yıldız, 2013, 9. Palmberger, 2016. Die Selbstbezeichnung Roma (Rom: Mann, Mensch) bzw. Romnja (Bezeichnung für die weiblichen Mitglieder der Minderheit) wird im aktuellen politischen und akademischen Diskurs als Überbegriff für eine Vielzahl von Gruppen verwendet, deren Eigennamen sich auf unterschiedliche Zuordnungen beziehen: traditionelle Berufe (Lovara, Kalderash etc.), physisches Erscheinungsbild (Kále), Kultur (Romungre), Sprache (Beash), Lebensstil (Fahrende), vermutete Herkunft (Gypsies)

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der größte Anteil davon entfällt auf zugewanderte Rom*nja und lebt in Wien.7 Die Migration von Rom*nja nach Wien nahm in den 1960er Jahren im Zuge der Arbeitsmigrationsabkommen ihren Anfang und hat sich seit den 1990er Jahren weiter diversifiziert, als Rom*nja aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien nach Wien migrierten. Während autochthone Rom*nja in Wien als österreichische Staatsbürger*innen sowie als anerkannte Volksgruppe über Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe verfügen, sind Rom*nja-Migrant*innen in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. Sie haben mit spezifischen Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung zu kämpfen, die sowohl antiziganistisch8 als auch gegen Migrant*innen gerichtet sind. Zugewanderte Rom*nja stellen nach Ram eine „schwache Gruppe“9 dar, die im Vergleich zur Mehrheitsgesell-

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8

9

u.Ä., auch im Rahmen dieses Kapitels findet der Überbegriff „Rom*nja“ Verwendung, wenngleich damit immer die sprachliche, kulturelle, politische und soziale Vielfalt jener Gruppen mitgedacht ist, die im Zuge verschiedener Migrationsbewegungen ihre Ursprungsländer verlassen und sich in Wien niedergelassen haben. Statistisch gesehen sind Zuwander*innen aus der Türkei, den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (v.a. aus Serbien und Bosnien-Herzegowina) sowie aus Deutschland in Wien am stärksten vertreten (https://www.wien.gv.at/menschen/integration/daten-fakten/bevoelkerung-migration.html, letzter Zugriff: 02.02.2018.). Aufgrund fehlender statistischer Erhebungen der ethnischen Zugehörigkeiten von Migrant*innen basieren die hier angeführten Zahlen auf Schätzungen von NGOMitarbeiter*innen, deren Zielgruppen Rom*nja sind (Roma-Initiative Thara) bzw. dem in der Fachliteratur üblichen Vorgehen, die Anzahl zugewanderter Rom*nja ausgehend von ihrem Anteil in der jeweiligen Herkunftsgesellschaft zu schätzen (Magazzini und Piemontese, 2016). Schätzungen zufolge leben in der EU 6 Millionen Rom*nja, während es in ganz Europa ca. 10 bis 12 Millionen sind, was Rom*nja zur größten transnationalen Minderheit Europas macht. „Antiziganismus ist eine spezielle Form des Rassismus, die sich gegen Rom*nja, Sint*izze, Fahrende, Jenische und andere Personen richtet, die zur Zeit des Nationalsozialismus und noch heute als ‚Zigeuner*innen‘ wahrgenommen, stigmatisiert oder verfolgt wurden bzw. werden. Antiziganismus ist ein facettenreiches Phänomen, das auf breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz stößt. Er manifestiert sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken der Marginalisierung, Ausgrenzung, physischen Gewalt und Herabwürdigung von Kulturen und Lebensweisen von Rom*nja und Sint*izze. Antiziganismus trägt dazu bei, dass es für Rom*nja und Sint*izze keine Rechts- und Chancengleichheit gibt und dass sie nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben sowie am Arbeitsmarkt teilhaben können“ (Arbeitsdefinition Antiziganismus der IHRA – International Holocaust Remembrance Alliance). Ram, 2014, 205.

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schaft über geringeres soziökonomisches Kapital und Bildungsniveau verfügt. Sie gelten im politischen und wissenschaftlichen Diskurs als „neue Minderheiten“,10 die sich immer wieder mit negativen Zuschreibungen konfrontiert sehen – sowohl in der Politik als auch in der öffentlichen Meinung. Die historische Kontinuität der Migration von Rom*nja, insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien, sowie der Umgang mit der rezenten Geschichte und der Sichtbarkeit von Migration im öffentlichen Raum bilden den Kern des Beitrags: Inwiefern sind Rom*nja im Stadtbild sichtbar, wo bleiben sie unsichtbar? Es zeigt sich, dass der öffentliche Raum in Bezug auf Migration überwiegend eine „Leerstelle“ bleibt, die im Unterschied zu anderen Erinnerungsräumen, wie dem Museum oder dem Schulbuch,11 durch „Nicht-Repräsentation“ bzw. „selektive Repräsentation“ von Migrant*innen12 gekennzeichnet ist. Dies gilt besonders für Rom*nja-Gemeinschaften, die in Europa über Jahrhunderte hinweg ausgegrenzt, diskriminiert und in die Unsichtbarkeit gedrängt wurden. Sichtbarkeit hat jedoch als politische Kategorie in den letzten Jahrzehnten viel an Bedeutung gewonnen, wobei sich die Forderungen nach Sichtbarkeit zwischen einem Anspruch nach Anerkennung, politischen Rechten, aber auch dem Wunsch nach Visualität im Sinne von „Sehen“ und „Gesehen-Werden“ bewegen.13 Die Sichtbarmachung von Rom*nja – ihrer Situation, ihrer Bedürfnisse und Herausforderungen – ist ein zentrales Anliegen von Rom*nja-Vereinen und Aktivist*innen [Abb. 1]. Die Sichtbarkeit von Rom*nja ist damit ein politisches Projekt, das einerseits zu einem Empowerment der eigenen Communitys führen soll und andererseits die Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft für Rassismus und Antiziganismus zum Ziel hat. In diesem Zusammenhang machen sich Aktivist*innen und Vereine besonders für die Sichtbarmachung von Rom*nja im Stadtbild stark, da eine solche ein Zeichen sowohl an die eigenen Communitys als auch an die Mehrheitsgesellschaft wäre. Aus diesem Grund wird im Beitrag auch die Rolle von Aktivist*innen und Rom*nja-Vereinen diskutiert, da sie die treibende Kraft für die Sichtbarkeit von Rom*nja im Stadtbild Wiens sind. Welcher Art ist die Sichtbarmachung von Rom*nja im öffentlichen Raum und welche Bedeutung haben die aktivistischen Bemühungen in den betroffenen Communitys?

10 11 12 13

Weiss, 2000. Hintermann et al., 2010; Motte/Ohliger 2004, 18; Üllen/Markom, 2014. Hintermann, 2013. Schaffer, 2008.

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Abb. 1: Der Ilija-Jovanović-Park wurde auf Initiative von Rom*nja-Aktivist*innen nach einem zugewanderten Rom und Mitbegründer des Vereins Romano Centro benannt.

ORTE DER ROM*NJA IN WIEN – AUSVERHANDLUNGEN VON (UN)SICHTBARKEIT

Wie das Zitat der Broschüre der Stadt Wien verdeutlicht, sind Orte und Räume einer Stadt keine „neutrale Voraussetzung“.14 Vielmehr sind sie Teil sozialer, politischer, historischer und kultureller Prozesse. Städte gelten als Kommunikations-, Erinnerungs- und Repräsentationsräume, die den Alltag ihrer Be14 Lefebvre, 1991, 410.

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wohner*innen prägen. Gebäude, Plätze, Straßen, Parks erzählen und spiegeln historische Begebenheiten wider, die in das kollektive Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner*innen eingeschrieben sind. Öffentliche Orte können somit als Erinnerungsorte einer Stadt gelesen werden, die Auskunft über herrschende Machtverhältnisse und hegemoniale Strukturen geben. Jedoch hat besonders die homogenisierende Sicht auf Kultur und Nation dazu beitragen, „den Raum zum Schweigen zu bringen“.15 Städte verändern sich, sie wachsen, neue Viertel entstehen – dies spiegelt sich sowohl in der Architektur als auch in der Wahrnehmung des öffentlichen Raumes wider. Auch Migrant*innen regen durch ihre sozio-kulturellen, ökonomischen und politischen Aktivitäten Transformationsbewegungen in der Stadt an.16 Dabei bietet der öffentliche Raum vermehrt Ausverhandlungsmöglichkeiten für Repräsentations- und Deutungsperspektiven, die sich jenseits von nationalstaatlichen Diskursen bewegen17 und marginalisierte Gruppen im städtischen Raum „sichtbar“ machen. In Wien zeigt sich seit den 1980er Jahren ein Wandel hinsichtlich der Benennung öffentlicher Räume,18 da vermehrt Frauen und Migrant*innen inkludiert werden. Bei der Benennung von Straßen und Plätzen folgt die Stadt Wien dem sogenannten „Grätzelsystem“, wodurch den Bezirken als Einheiten mit „Lokal-Gedächtnissen“ viel Selbständigkeit bei der Namensgebung zugesprochen wird.19 Betrachtet man die Orte in Wien, die nach Rom*nja benannt wurden, so spiegelt sich die Heterogenität der Rom*nja-Gemeinschaften in der Namensgebung wider. Die Auswahl der betreffenden Orte und Plätze zeichnet sich einerseits durch eine breite geographische Streuung in Wien aus. Diese reicht etwa vom 3. bis in den 21. Wiener Bezirk. Darunter finden sich allgemeine Bezeichnungen wie Romaplatz und der angrenzende Sinti- und Lovaraweg im 21. Bezirk – einem Bezirk, der als Siedlungsplatz der Romn*nja vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung hatte. Anderseits werden Orte nach konkreten Personen benannt. Im 10. Bezirk befindet sich der Barankapark, der Helene Huber, genannt Baranka, der Großmutter von Johann, Karl und Ceija Stojka20 gewidmet ist. Zudem erin15 16 17 18 19 20

Schlögel, 2003, 64. Yıldız, 2013. Lahiri, 2011. Autengruber et al., 2013. Nemec, 2013, 31. Johann, Karl und Ceija Stojka stammen aus einer der bekanntesten Lovara-Familien Österreichs, aus der zahlreiche Künstler*innen hervorgegangen sind. Die Geschichte der Familie Stojka erzählt jedoch auch vom Leid, das Rom*nja im

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nert der Park an den ehemaligen Rastplatz der Lovara auf der Hellerwiese und gleichzeitig an jenen Ort, von dem viele Rom*nja während des Nationalsozialismus deportiert wurden. Als solcher spielt er auch eine zentrale Rolle für das kollektive Gedenken der in Wien lebenden Rom*nja-Gemeinschaften. Der Barankapark wird aus diesem Grund performativ zur Erinnerungsarbeit genutzt: Jedes Jahr im Mai veranstaltet der Verein Voice of Diversity eine Gedenkveranstaltung, in der an ermordete und deportierte Rom*nja mit Lesungen und Musik gedacht wird. Ein weiterer bedeutsamer Ort der Rom*nja befindet sich im 7. Wiener Bezirk. 2014 wurde der Platz vor der Altlerchenfelder Kirche nach der Zeitzeugin und Künstlerin Ceija Stojka benannt. Ähnlich wie im Barankapark findet auch am Ceija-Stojka-Platz jährlich eine Gedenkveranstaltung am Internationalen Tag des Gedenkens an den Genozid an Sinti und Roma21 statt. Ein weiterer Ort, der an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert, ist der Diana-Budisavljević-Park. Dieser befindet sich seit 2014 im 9. Wiener Bezirk und ist Diana Budisavljević gewidmet, die – laut der Inschrift auf der Tafel – während des Zweiten Weltkrieges „tausende serbische, jüdische und Roma-Kinder aus den Konzentrationslagern des faschistischen unabhängigen Staates Kroatien“ rettete. An das Wirken einer anderen, für die gesellschaftliche Anerkennung österreichischer Rom*nja zentralen Person erinnert der Rudolf-Sarközi-Hof im 19. Bezirk. Im Konzentrationslager Lackenbach zur Welt gekommen, gründete Rudolf Sarközi 1991 den Kulturverein österreichischer Roma und setzte sich federführend für die Anerkennung der Rom*nja und Sint*izze als österreichische Volksgruppe ein. Diesen Orten und Plätzen ist gemein, dass sie sich mehrheitlich an der Peripherie der Stadt befinden und ihre (Um-)Benennungen großteils von Vereinen und Einzelpersonen initiiert22 wurden. Wenngleich einige der bestehen­ ationalsozialismus erfuhren. 1941 wurden Johann, Karl und Ceija Stojka geN meinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern deportiert und überlebten die Konzentrationslager. Die drei Geschwister waren als Zeitzeug*innen tätig und schilderten ihre Erlebnisse in zahlreichen Veröffentlichungen, mit denen sie gegen das Vergessen anschrieben und die gesellschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus einmahnten. 21 Das Europäische Parlament hat 2015 den 2. August zum Gedenktag an den Porajmos, den Genozid an Rom*nja und Sint*izze im Nationalsozialismus, erklärt. Seit 2016 fordern die OSZE und IHRA die Mitgliedsstaaten daher auf, für entscheidende Maßnahmen zum „Erhalt von Porajmos-Gedenkstätten“ einzutreten, vgl. https://www.erinnern.at/gedenktage/internationaler-tag-des-gedenkens-an-dengenozid-an-sinti-und-roma, letzter Zugriff: 10.12.2021. 22 Jede Person kann in Wien einen Antrag auf Straßen-, bzw. Platzumbenennung an

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den Orte einen historischen Bezug zu autochthonen Rom*nja haben, so wäre es zu kurz gegriffen, diese nur als Orte autochthoner Rom*nja zu verstehen. Vielmehr sind es Orte integrativer Bedeutung, wie sich anhand ihrer Nutzung zeigt. Die regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen an diesen Orten – seien es Spaziergänge23 oder Veranstaltungen mit musikalischem, historischem bzw. kulturellem Schwerpunkt – sind oftmals in Kooperationen zwischen Vereinen autochthoner und zugewanderter Rom*nja organisiert und richten sich sowohl an sämtliche Rom*nja-Communitys als auch an die Mehrheitsgesellschaft in Wien. Die Sichtbarkeit von Rom*nja wird nicht nur in Form von Straßen- bzw. Platzbenennungen eingefordert. Die Errichtung eines zentralen Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze ist eine der Hauptforderungen, die seit Jahren von Rom*nja-Vereinen und Aktivist*innen vorgebracht wird. Das kollektive Erinnern an den Nationalsozialismus wird dabei nicht nur von autochthonen Rom*nja eingemahnt, sondern auch von jenen mit Migrationserfahrung. Die Sichtbarmachung von Rom*nja stellt somit ein komplexes Phänomen dar, das von verschiedenen Akteur*innen diskursiv ausverhandelt wird und verschiedene, teils ambivalente Qualitäten vereint, wie im folgenden Kapitel eingehender diskutiert wird.

DIE AMBIVALENZ VON SICHTBARKEIT – SICHTBARKEIT ALS ELITENPROJEKT

Die (Un-)Sichtbarkeit von Rom*nja und die Sichtbarmachung der Minderheit als Imperativ aktivistischer Bemühungen beziehen sich auf das Verständnis von Sichtbarkeit als politische Kategorie. In seiner grundlegenden Bedeutung steht der Begriff jedoch für die visuelle Wahrnehmung: Wer wird in welchem Kontext wie gesehen?24 Gemäß Schaffer werden die Bedingungen von Sichtbarkeit von einem komplexen Zusammenhang zwischen dem „Zu-Sehen-Geben“, dem „Sehen“ und dem „Gesehen-Werden“ geprägt. Im Falle der Sichtbardie MA7 richten. Die Kriterien für die Ernennung richten sich einerseits nach der Bedeutung der Person, aber auch nach dem Bezug zum Bezirk. 23 Im Zuge von geführten Spaziergängen, die die Teilnehmer*innen an verschiedene Orte der Rom*nja in Wien führen, wird ein Einblick in die Geschichte der Rom*nja gegeben und soll eine Auseinandersetzung mit der Situation der Minderheit angeregt werden. 24 Schaffer, 2008.

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keit minorisierter Gruppen bedeutet dies nicht nur zu beleuchten, ob etwas bzw. jemand gesehen wird, sondern auch die Form des „Zu-Sehen-Gebens“ kritisch zu hinterfragen. Häufig wird Sichtbarkeit auf eine ästhetische Form reduziert, die die hegemoniale Ordnung reproduziert25 und die – ausgehend von der Prämisse, dass mehr Sichtbarkeit mehr politische Partizipation bedeute – per se als positiv gilt. Gleichzeitig bedeutet Sichtbarmachung das Ansprechen bestimmter Gruppen: Etwas „zu Sehen geben“ und „gesehen zu werden“ inkludiert die Rezipient*innen. Hieran knüpft sich jedoch die Frage, welche Art der Sichtbarkeit von wem in welcher Form für wen wie gewollt ist? Für die Sichtbarmachung von Rom*nja in Wien bedeutet dies konkret: Was wird gesehen (eine Parkanlage, ein Denkmal, eine Zusatztafel)? Wer richtet den Blick darauf (die Mehrheitsgesellschaft, Rom*nja)? Wie wird etwas gesehen (anerkennend oder ablehnend)? Sichtbarkeit im städtischen Raum ist zudem eng gebunden an Deutungsmacht, denn nicht jede*r vermag den Diskurs um Sichtbarkeit gleichermaßen mitzugestalten und in Folge Teil des Stadtbildes zu werden. Vor allem für marginalisierte Gruppen ist die Frage, wer für wen zu welchem Zweck spricht, eine zentrale. Wie McGarry26 betont, übernimmt bei der Repräsentation der Rom*nja oftmals, neben der Mehrheitsgesellschaft, eine „RomaElite“ die Deutungsmacht und bestimmt die Darstellungen von Rom*nja nach außen. Dabei wird vielfach ein homogenes Bild von Rom*nja vermittelt, das die Heterogenität der Gemeinschaften und deren unterschiedliche Erfahrungen vernachlässigt. Dies führt dazu, dass „an authentic ‚Romani voice‘ is not possible due to the hybridity of Roma identities“.27 Auch im vorliegenden Fall ist es eine lokale Elite, die den Diskurs um die Sichtbarmachung von Rom*nja in Wien bestimmt. Diese lokale Rom*nja-Elite besteht aus Personen, die in Vereinen oder in anderen Zusammenschlüssen von Aktivist*innen organisiert sind. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich in Wien eine junge Rom*njaAktivist*innenszene gebildet, deren Mitglieder häufig Migrationsbiographien aufweisen und sich in ihren Ansprüchen und Zugängen von den älteren Aktivist*innen unterscheiden. Denn während der Fokus von Aktivist*innen der ersten Generation28 hauptsächlich darin liegt, Rom*nja im Bereich Arbeit 25 Ebd. 26 McGarry, 2014. 27 Ebd., 770. 28 Als Aktivist*innen der ersten Generation verstehen die Autorinnen jene Personen, die für die Anerkennung der Rom*nja als Volksgruppe eintraten und Unterstützungsstrukturen für die Communitys aufgebaut haben, etwa durch die Gründung der ersten Vereine Anfang der 1990er Jahre.

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(­ Zugang zum Arbeitsmarkt), Bildung, Gesundheit und Wohnen zu unterstützen, widmet sich die jüngere Generation der Aktivist*innen mit Migrationsbiographien vor allem dem Empowerment von Rom*nja, dem Kampf gegen Antiziganismus oder der Erinnerungsarbeit. Trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung in ihrem alltäglichen Engagement eint die Aktivist*innen beider Generationen das Bemühen, Rom*nja sichtbar zu machen – sei es durch Sensibilisierungsprojekte für die Mehrheitsgesellschaft, Medienarbeit oder die Errichtung eines offiziellen Denkmals. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass es sich dabei um Personen handelt, die einen hohen Bildungsgrad aufweisen und über ein gewisses sozioökonomisches Kapitel verfügen, das sie in die Lage versetzt, sich aktivistisch zu engagieren. Denn nach wie vor besteht ein Mangel an geeigneten Förderprogrammen, um Projekte oder Maßnahmen für Rom*nja in Österreich zu finanzieren. Folglich baut das Engagement für Rom*nja auf dem persönlichen Einsatz der Aktivist*innen auf und ist oftmals mit einem großen zeitlichen, finanziellen sowie emotionalen Aufwand verbunden. Da nicht jede*r über die notwendigen Mittel verfügt, um sich engagieren zu können, ist es ein Privileg, Aktivist*in zu sein, wie es ein Rom*nja-Aktivist ausdrückte.29 Ergänzt wird diese Perspektive durch die selbstkritische Feststellung einer Rom*nja-Aktivistin, dass die lokale Aktivist*innenszene folglich aus einem kleinen Kreis der immer gleichen Leute bestehen würde. Aus aktivistischer Perspektive wird Sichtbarkeit somit als Selbstermächtigung und Stärkung der eigenen Position gesehen, wie eine Romn*nja-Aktivistin ausführt: Sichtbarkeit der Roma, wie z.B. der Ceija-Stojka-Platz, stärkt ja auch die eigene Persönlichkeit. Je öfters das vorkommt, desto leichter kann man über die eigene Herkunft sprechen, weil man darauf verweisen kann. Das kann die Community tatsächlich empowern, damit man auch innerhalb der Gruppe weiß, es wird über uns gesprochen, aber man spricht auch mit uns. Das ist wichtig, weil es wird hauptsächlich über uns gesprochen, deshalb finde ich es wichtig, dass ich etwas darüber sage. 29 Die im Artikel verwendeten Daten stammen aus Interviews mit Rom*nja-Aktivist*innen sowie teilnehmender Beobachtung an Orten aktivistischen Engagements und wurden im Zuge des Forschungsprojektes „Partizipationsräume und Migrationsbiographien zugewanderter Roma/Romnja in Wien“ im Zeitraum von Jänner 2019 bis August 2020 erhoben. Die Forschungsteilnehmer*innen waren Migrant*innen der ersten und zweiten Generation und hatten größtenteils Bezug zum ex-jugoslawischen Raum.

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Das Zitat verdeutlicht die Komplexität und Ambivalenz des Begriffs Sichtbarkeit: Für die Aktivistin braucht es Orte, die nach Rom*nja benannt sind, um die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. In diesem Sinne wird Sichtbarkeit primär als positives Zeichen wahrgenommen, welches zu Empowerment und Anerkennung beizutragen vermag. Das Bemühen um Sichtbarkeit richtet sich dabei zunächst an die Mehrheitsgesellschaft und hat das Ziel, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Rom*nja ein Teil der Gesellschaft sind. Ein solches Bewusstsein würde die Voraussetzung für Rom*nja bilden, um die eigene Identität sichtbar zu machen, ohne Angst vor Diskriminierung zu haben. Oder „über die eigene Herkunft [zu] sprechen“, wie die Aktivistin es ausdrückt. Im Sinne von Sichtbarkeit als gesellschaftlicher Teilhabe betont das Zitat außerdem die Bedeutung der aktiven Einbindung und gleichberechtigten Teilhabe von Mitgliedern der betroffenen Communitys bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes, um nicht nur „über“ sie zu sprechen, sondern ihnen eine aktive Stimme zu geben. Im Gegensatz dazu rekurriert das Verständnis von Rom*nja als unsichtbar bzw. sprachlos auf die historische Erfahrung antiziganistischer Diskriminierung und Verfolgung und reproduziert gleichzeitig auch das Narrativ von Rom*nja als absolut machtloser Gruppe. Wenngleich die Erfahrung von Antiziganismus zu einem wesentlichen Element der Identität von Rom*nja wurde, gibt es zahlreiche Beispiele für die Handlungsmacht von Rom*nja.30 So ist die Unsichtbarkeit von Rom*nja in der Mehrheitsgesellschaft nicht nur eine direkte Folge von Antiziganismus, sondern sie stellt auch eine selbstbestimmte Strategie dar, sich in der Gesellschaft zu positionieren. Rom*nja entscheiden selbst, inwiefern sie die eigene Identität außerhalb der eigenen Community sichtbar machen und leben wollen. Als solches hat die Wahl bzw. der Grad der Unsichtbarkeit auch unterschiedliche Gründe. Wie Podolinská31 am Beispiel slowakischer Rom*nja herausgearbeitet hat, kann der Rückzug in die eigene ethnische Community etwa das Gefühl von individueller Sicherheit für Betroffene erhöhen. Im Falle zugewanderter Rom*nja in Wien scheint uns der Fokus auf Sicherheit als Grund für eine bewusste Unsichtbarkeit jedoch etwas zu kurz gegriffen. Wenngleich zugewanderte Rom*nja in Wien durch die selbstbestimmte Unsichtbarkeit eine Möglichkeit sehen, 30 Rom*nja haben verschiedene Fähigkeiten und Strategien entwickelt, um der antiziganistischen Ausgrenzung zu entgehen. So haben Rom*nja oft Nischenberufe im Handel oder dem Recycling von Gegenständen geschaffen, um ihr ökonomisches Überleben zu sichern. 31 Podolinská, 2017.

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um gesellschaftlichen Vorurteilen zu entgehen, so bietet ihnen diese auch die Chance, andere Zugehörigkeiten (etwa als Wiener*in, Österreicher*in, Serb*in, Europäer*in) zu leben, die individuell als ebenso bedeutsam empfunden werden. Ein Aktivist, der sich in mehreren Vereinen engagiert, betont, dass er seine ethnische Zugehörigkeit als Rom nie verschwiegen hat, es aber auch nicht als notwendig empfand, diese „extra herauszustreichen“. Den Grund dafür sieht er in seiner Abneigung gegenüber der Festschreibung von Individuen, die mit nationalen und ethnischen Identitäten verbunden ist. Seine eigene Identität sieht der Aktivist im Gegensatz dazu viel multipler; er ist Wiener und Europäer zugleich. Besonders deutlich zeigt sich die Ambivalenz von Sichtbarkeit am Beispiel des Ilija-Jovanović-Parks. 2016 wurde am Wildgansplatz im 3. Bezirk ein Park nach dem Lyriker Ilija Jovanović benannt. Jovanović kam 1970 aus Serbien nach Österreich und engagierte sich bald in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen. 1991 war er einer der Mitbegründer des Vereins Romano Centro und jahrelang als dessen Obmann tätig. Der Park befindet sich in direkter Nähe des Vereins, jedoch wird er von unterschiedlichen Akteur*innen durchaus anders wahrgenommen. Während er für die Besucher*innen des Romano Centros unsichtbar bleibt, hat er für Aktivist*innen eine besondere gesellschaftlich-politische Relevanz, wie es eine Mitarbeiterin des Romano Centro ausführt: Das ist jetzt kein großes Thema, das ist nur für Aktivist*innen ein Thema. Kein Klient hat mich jemals angesprochen wegen dem Ilija-Jovanović-Park, denen ist das gar nicht bewusst. Ich glaube schon, dass es für die Menschen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, wichtig ist, weil man weiß, wie viel man kämpfen muss, bis man so etwas hat.

Obwohl es einen offiziellen Platz gibt, der das Ergebnis der Partizipation von zugewanderten Rom*nja ist und der an einen zugewanderten Rom erinnert, bleibt dieser Ort für die Mehrheit der Rom*nja sowie den Großteil der Mehrheitsgesellschaft unsichtbar. Somit widerspricht die Rezeption des Ortes dem Wunsch der Aktivistin, mehr Sichtbarkeit würde mehr Bewusstsein, Empowerment und Anerkennung bedeuten. Eine zugewanderte Aktivistin kritisiert in diesem Fall den symbolischen Charakter solcher Umbenennungen: Eben, es wird immer wieder etwas gemacht, wovon wir keinen Gebrauch haben. Es wird eine Straße nach einer Romni benannt, ok, super. Aber diese Sachen sind

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wichtig: Wie soll ich überleben, was soll mit den kleinen Kindern sein, wenn ich aus der Wohnung rausgeschmissen werde, weil ich es nicht bezahlt habe, ich kann die Sprache nicht. Das sind die Sachen, die eigentlich wichtig sind.

Sichtbarkeit wird zwar als anerkennend empfunden, gleichzeitig wird ihre Bedeutung einer rein symbolischen Ebene zugeschrieben. Darüber hinaus stellt die Aktivistin eine Verbindung zur Situation zugewanderter Rom*nja her. In ihren Augen wird diese Art der Sichtbarkeit zu einem doppelt exklusivistischen Raum; als Romni und als Migrantin fühlt sie sich weniger angesprochen, weil Ortsumbenennungen ihre persönliche Lebensrealität und die ihrer Klient*innen nicht unmittelbar verbessern. Dies verdeutlicht die Unzulänglichkeit von Sichtbarkeit als Prämisse für Anerkennung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe: Auch wenn die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum steigt, bedeutet dies nicht notwendigerweise eine Verbesserung der Lebenssituation von Rom*nja in Wien. Die Orte bleiben für viele Rom*nja weithingehend unbedeutend und unsichtbar. Nichtsdestotrotz wird den Orten mehr Potenzial zugesprochen, die Sichtbarkeit der Rom*nja zu erhöhen. „Der Ort bleibt ja Gott sei Dank. Ich finde das auch viel nachhaltiger. […] Die Orte finde ich total wichtig, es müsste mehr Orte geben“, betont eine andere Aktivistin. Orte bleiben im Gegensatz zu Veranstaltungen längerfristig wahrnehmbar und haben durch Zusatztafeln und Gedenkveranstaltungen einen aufklärerischen Charakter. Darüber hinaus vermitteln sie die Botschaft, dass die betreffende Gruppe zum Teil des Stadtbildes gehört. Das zentrale Potenzial von Sichtbarkeit als Empowerment liegt für die Aktivist*innen somit darin, dass Orte der Rom*nja einen Dialog zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der minorisierten Gruppe eröffnen. Dies setzt voraus, dass Rom*nja-Orte von allen gleichermaßen gesehen werden; ein Umstand, der die Komplexität des Sichtbarmachens völlig außer Acht lässt, denn etwas zu sehen zu geben bedeutet nicht gleichzeitig zu sehen und gesehen zu werden. Wie die Beispiele zeigen, wird die Sichtbarmachung von Rom*nja in Wien sehr unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt. Es handelt sich oftmals um „Elitenprojekte“, da sich die Orte und Ereignisse eher nur an jene Rom*nja richten, die sich engagieren – also eine bestimmte Gruppe und nicht die breite Masse. Während die Benennung von Orten eine durchaus umstrittene Form der Sichtbarmachung von Rom*nja darstellt, liegt dies im Falle der von Aktivist*innen forcierten Erinnerungsarbeit anders. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, stellt die Forderung nach einem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze nicht nur ein weiteres

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Beispiel im Bemühen um Sichtbarmachung dar, sondern spielt auch eine wesentliche Rolle in der Konstruktion kollektiver Identitäten.

ZUR VERSCHRÄNKUNG VON SICHTBARKEIT UND GEDENKEN ALS IDENTITÄTSPROJEKT

„Dikh he na bister! Schau und vergiss nicht!“ Die Forderung nach einem offiziellen Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze wurde 2019 in Wien erstmals auf künstlerische Weise in die Öffentlichkeit getragen. Hatten Rom*nja-Aktivist*innen durch politische Lobbyarbeit bislang erfolglos versucht, die Errichtung eines solchen zu bewirken, beschritt eine Gruppe junger Rom*nja-Aktivist*innen neue Wege. Im Zuge der Wienwoche wurde ein temporäres Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze errichtet. Das Design des temporären Denkmals sollte die Rezipient*innen bewusst an eine Baustelle erinnern und ein deutlicher Verweis auf das noch nicht gebaute Denkmal sein. Darüber hinaus sollte das von der Künstlerin Natali Tomenko gestaltete Denkmal eine explizite „Intervention im öffentlichen Raum darstellen“32. Auf diese Weise wurde das Denkmal nicht nur als künstlerisches Objekt gedacht, sondern auch mit der langjährigen politischen Forderung von Rom*nja-Aktivist*innen verbunden, die Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Rom*nja und Sint*izze während des Nationalsozialismus sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang spielte die Positionierung des temporären Denkmals neben dem Parlament eine zentrale Rolle, denn das kollektive Erinnern an den Porajmos33 sollte endlich seinen offiziellen Ort im Herzen der Hauptstadt finden [Abb. 2]. Besonders nach der in den 1980er Jahren einsetzenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Österreich sollte das Gedenken die selbstkritische Reflexion einer Gesellschaft über die eigene Vergangenheit anregen.34 Tatsächlich gibt es bereits Denkmäler an einigen Orten Österreichs, die von Rom*nja-Aktivist*innen und Vereinen initiiert wurden und an die Internierung, Deportation und Ermordung von Rom*nja und Sint*izze während 32 http://www.wienwoche.org/de/1048/dikh_he_na_bister!, letzter Zugriff: 13.12.2021. 33 Das Wort Porajmos bedeutet auf Romanes „Verschlingen“ und bezeichnet den Genozid an Rom*nja und Sint*izze im Nationalsozialismus. 34 Uhl, 2010.

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Abb. 2: Temporäres Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze.

des Nationalsozialismus erinnern.35 Wenngleich die bestehenden Denkmäler durchaus bedeutsame Orte des Erinnerns für Rom*nja-Gemeinschaften darstellen, so ist ihre Entstehung eng an den lokalen Kontext geknüpft. So erinnert etwa das Mahnmal in Lackenbach, einer kleinen burgenländischen Gemeinde, an die Opfer des „Zigeuner-Anhaltelagers“, das 1940 an diesem Ort errichtet wurde. Jedoch stellen diese Mahnmale sowie die zuvor erwähnten Wiener Orte der Rom*nja in den Augen der Aktivist*innen keinen hinreichenden Ersatz für das Fehlen eines offiziellen Denkmals dar. Während die Forderung nach einem Denkmal für Rom*nja und Sint*izze seit geraumer Zeit besteht, wurde ihr in den letzten Jahren durch die Bemühungen einer jungen Generation von Aktivist*innen mehr Nachdruck verliehen, die sich in ihrem Engagement besonders auf Erinnerungsarbeit fokussieren. Dabei bauen sie auf bereits etablierten Netzwerken sowie der Antidiskriminierungsarbeit älterer Aktivist*innen auf. Durch die Errichtung einer neuen Shoah-Ge35 Zu diesen zählen etwa die Sinti- und Roma-Gedenkstätte in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, die Mahnmale in Lackenbach, Maxglan und Weyer.

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denkstätte vor dem Gebäude der Nationalbank im November 2021 erhielt die Forderung von Rom*nja-Aktivist*innen nach einem eigenen Denkmal eine neue Dynamik.36 In den Augen der Aktivist*innen ist es längst an der Zeit, dass Rom*nja und Sint*izze öffentlich und sichtbar in Wien als „Opfergruppe“ gewürdigt würden – ein Umstand, der in anderen europäischen Städten bereits umgesetzt wurde.37 Ein Denkmal, das den im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Rom*nja und Sint*izze gewidmet wäre, würde bedeuten, dass Rom*nja-Gemeinschaften endlich einen zentralen Ort des Gedenkens hätten. Dies wäre weiters ein deutliches Zeichen an die Mehrheitsgesellschaft, dass Rom*nja ein Platz im kollektiven Stadtgedächtnis zuteilwürde. Eines der Argumente, welches den Aktivist*innen immer entgegengebracht wird, sei, wie eine Aktivistin des Vereins Romano Centro berichtet: „Es gibt ja schon ein Mahnmal in Lackenbach.“ Widerstände gegenüber der Errichtung eines zentralen Denkmals knüpfen besonders an der mangelhaften Aufarbeitung der im Nationalsozialismus an Rom*nja und Sint*izze verübten Verbrechen an. Die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager und „Zigeunerlager“ hatten in der Nachkriegszeit aufgrund antiziganistisch motivierter Diskriminierung kaum Möglichkeit auf Wiedergutmachung. Die Inhaftierung in „Zigeunerlagern“ wird bis heute nicht als KZ-Haft anerkannt und der Erhalt einer Opferfürsorgerente für die Überlebenden dieser Lager ist an restriktive Voraussetzungen geknüpft,38 die von Betroffenen nur schwer zu erfüllen sind.39 Die Forderung nach einer räumlichen Verortung des Denkmals im Zentrum von Wien ist für die Aktivist*innen von immenser Bedeutung, denn sie 36 Im Zuge der Eröffnung der Shoah-Gedenkstätte formulierte etwa die Präsidentin der Hochschüler*innenschaft österreichischer Roma und Romnja (HÖR) in einem Zeitungsartikel Kritik an den Versäumnissen der Republik Österreich, „ihren Opfergruppen und deren Nachfahren würdige Gedenkorte bereitzustellen“ (https:// www.derstandard.at/story/2000131163685/sie-haben-uns-kein-denkmal-gebaut, letzter Zugriff: 12.12.2021). 37 Wie das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze in Berlin verdeutlicht, erstreckt sich die Errichtung von Denkmälern oft über Jahre hinweg. 1992 beschlossen, gab es viel Widerspruch gegen das Denkmal. Es dauerte 20 Jahre, bis es im Oktober 2012 endlich eröffnet wurde. 38 Voraussetzung für eine Opferfürsorgerente ist, dass Bezieher*innen bedürftig, nicht vorbestraft und in der Erwerbsfähigkeit gemindert sind. Rom*nja und Sint*izze waren aufgrund diskriminierender Gesetze, die spezifisch gegen sie gerichtet waren, oftmals vorbestraft oder wurden als sogenannte „Asoziale“ in Konzentrationslager deportiert. 39 Baumgartner, 2015, 92.

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spiegelt die Auffassung von Raum als von Mitte und Rand geprägt wider: dem Zentrum, im weiteren Sinne somit auch der Hauptstadt wird mehr Sichtbarkeit zugesprochen als dem Rand, der Peripherie.40 Darüber hinaus verbindet ein „zentraler Ort“ das sichtbare Erinnern in Form eines Denkmals mit der Forderung nach adäquater Repräsentation und Anerkennung.41 Der Wunsch nach einem gemeinsamen Denkmal offenbart auch die Verschränkung zwischen dem Erinnern, der Repräsentation und Identität: ausgehend von der kollektiven Erinnerung an den Holocaust würde das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze die Bildung einer Gruppenidentität einer sonst sehr heterogenen Gruppe in den Vordergrund stellen. Das identitätsstiftende, keineswegs aber unveränderliche „Wir“ bezöge nicht nur autochthone sowie zugewanderte Rom*nja ein, sondern wäre – nach den Forderungen der Aktivist*innen – ein inklusiver Ort für alle Opfer des Nationalsozialismus. Somit stellen sich die Aktivist*innen explizit gegen etwaige Hierarchisierungen von Erinnerungen. Der aktivistische Kampf um Sichtbarkeit in Form eines Denkmals hält somit die Agenda im öffentlichen Diskurs. Die Frage, die sich jedoch bei jeder Form kollektiver Repräsentation stellt, ist, wer für wen sprechen kann und wie die Form der Repräsentation gestaltet ist. Wie am Beispiel des temporären Denkmals erläutert wurde, fordern die Aktivist*innen verstärkt das ästhetischklassische Bild des Denkmals als ein erinnerungskulturelles Medium heraus. 40 Girßmann, 2020. 41 Zu bedenken gilt jedoch, dass ein zentraler Ort nicht unmittelbar mehr Sichtbarkeit und Bewusstsein für die Botschaft des Denkmals bedeutet. Ein Beispiel dafür bietet der Omofuma-Stein. Ursprünglich vor der Wiener Staatsoper aufgestellt, befindet sich das Mahnmal heute am Platz der Menschenrechte, am Beginn der Mariahilfer Straße, einer der meistfrequentierten Einkaufsstraßen Wiens. Die Bedeutung des Steines, als Erinnerung an den gewaltsamen Tod von Marcus Omofuma und als Mahnmal gegen Rassismus, ist jedoch den wenigsten Passant*innen bekannt: Wie eine Untersuchung zeigt, wussten nur sechs von 115 befragten Passant*innen, worum es sich beim Mahnmal handelt (http://www.spuren-der-migration. at/wordpress/?page_id=99, letzter Zugriff: 13.12.2021). Das explizite Anliegen der Künstlerin Ulrike Kruger war es, das Mahnmal gegen Rassismus bewusst im Zentrum der Stadt aufzustellen – denn Rassismus befindet sich auch in der Mitte der Gesellschaft. Das Mahnmal hat durchwegs gesellschaftspolitische Kontroversen ausgelöst: Die FPÖ stellte sich aktiv gegen die Errichtung des Mahnmals. Immer wieder fällt das Mahnmal Vandalismus zum Opfer, jedoch finden auch antirassistische Demonstrationen ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt beim Omofuma-Stein.

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Darüber hinaus regen sie an, die Funktion des Denkmals generell neu zu denken, wie es ein Künstler ausdrückt: Ich bin dafür und ich möchte, dass dieses Denkmal nicht nur in die Vergangenheit schaut und mit diesem Thema umgeht, sondern in die Zukunft. Und dass jeder, der dazu kommt, sieht, dass wir Perspektive haben und Zukunftsstrategien. Es ist leider so, dass fast alle Denkmäler immer Nicht-Roma gemacht haben.

In diesem Zitat spricht der Künstler dem Denkmal eine doppelte Funktion zu: Das Denkmal hat einerseits die Funktion, eine Repräsentation von Vergangenheit zu zeigen, während es andererseits gleichzeitig den Raum für neue Debatten und Interpretationen eröffnen soll. Eine zukunftsorientierte Ausgestaltung würde das Denkmal nicht auf eine einzige Form von Vergangenheit reduzieren, sondern multiperspektivische Ausverhandlungsprozesse ermöglichen. In einem weiteren Sinne zeigt das Zitat auch auf, wie Rom*nja von der Gesellschaft gesehen werden wollen: nicht vereinnahmt als kollektive „Opfergruppe“,42 die in der Vergangenheit verortet wird, sondern als ein handlungsmächtiges „Wir“ voller Perspektiven für die Zukunft. Das Denkmal in Form materialisierter Erinnerung kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben. Nachdem seine Bedeutung nicht statisch, sondern immer wieder neu konstruiert und rekonstruiert wird, fordert der Künstler, das Denkmal zu einem interaktiven Ort zu machen: „Also, immer diesen Zugang zu uns schaffen – also ein interaktiver Ausverhandlungsort, wo wir handeln können. Wer sind wir? Was wollen wir? Stellt uns Fragen.“ Gerade performative Veranstaltungen machen das Denkmal einem breiteren Publikum zugänglich und bewusst. Die Errichtung von Denkmälern als Interaktions- und Kommunikationsräumen soll nicht nur einen Austausch über die Vergangenheit anregen, sondern vielmehr Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung setzen, wodurch auch das Erinnern als gegenwartsbezogene kommunikative Praxis verdeutlicht wird. Auf diesem Wege soll ein Verständnis für die Kontinuität antiziganistischer Diskriminierung geschaffen werden, die das Leben von Rom*nja damals wie heute prägt, und mit der politischen Forderung von Rom*nja verbunden werden, Antiziganismus in der Mehrheitsgesellschaft zukünftig zu bekämpfen. Dies würde das Denkmal zu einem sichtbaren Ort im Sinne von „Sehen“ und „Gesehen-Werden“ machen und eine Form der „committal memory“43 darstellen. In der Vergangenheit wurden Denkmäler, die an 42 Girßmann, 2020. 43 In seiner Analyse österreichischer Erinnerungsdiskurse zu Rom*nja als den O ­ pfern

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die Ermordung von Rom*nja und Sinti*zze während des Nationalsozialismus erinnern, großteils ohne die Einbindung von Rom*nja konzipiert und geplant. Deren Partizipation beschränkte sich bislang auf die Teilnahme an Eröffnungsfeiern, nachdem von Rom*nja initiierte Vorschläge auf Errichtung von Denkmälern auf Widerstand stießen. Das Fehlen einer gleichberechtigten Teilhabe von Rom*nja beim Konzipieren und Planen von Denkmälern reduziert diese daher weiterhin zu Objekten der Erinnerung. Die Ausgestaltung eines Denkmals als einen interaktiven Dialograum würde dessen integrative Eigenschaft betonen und eine einseitige Erinnerungskultur durchbrechen. Somit könnten Denkmäler zu Orten von shared memories in einem breiteren Sinne werden und zu Aufklärung, Anerkennung und Inklusion beitragen.

CONCLUSIO

Die Identifizierung von Rom*nja als die „Anderen“ innerhalb Europas galt lange Zeit als Legitimation für ihre Ausgrenzung und Abdrängung in die Unsichtbarkeit. Es ist daher wenig überraschend, dass das hegemoniale Narrativ wenig Raum für die Sichtbarkeit von Rom*nja bot, was sich auch im städtischen Bild Wiens lange Zeit widerspiegelte. Im Rahmen des Beitrags wurde daher der Frage nachgegangen, inwiefern die Migration von Rom*nja nach Wien als Teil des kollektiven Stadtgedächtnisses sichtbar ist. Wie die besprochenen Beispiele zeigen, hat die Sichtbarmachung von zugewanderten und autochthonen Rom*nja im Stadtbild Wiens durch die Benennung öffentlicher Straßen, Plätze und Parks in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen. Nachdem der Prozess der Sichtbarmachung durch ein komplexes Zusammenspiel zwischen dem „Zu-Sehen-Geben“, dem „Sehen“ und dem „Gesehen-Werden“44 geprägt ist, verdeutlichen die diskutierten Beispiele jedoch, dass die Sichtbarkeit von migrierten Rom*nja von diversen Ambivalenzen durchzogen ist. Die Sichtbarmachung von Rom*nja bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur die visuelle Wahrnehmung der Minderheit, sondern sie ist auch an die politische Forim Nationalsozialismus hat Stefan Benedik (2020) den Begriff „non-committal memory“ geprägt und aufgezeigt, dass diese in der Regel losgelöst sind von der Diskriminierung von (insbesondere zugewanderten) Rom*nja in der Gegenwart. Als solche haben Erinnerungsdiskurse keine tatsächlichen Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Rom*nja und bieten folglich keine Chance, die Lebensrealitäten von Rom*nja zu verbessern. 44 Schaffer, 2008.

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derung nach Anerkennung geknüpft. Besonders das Umbenennen von Straßen und Plätzen sowie das Errichten öffentlicher Denkmäler gelten als Beispiele der anerkennenden Repräsentation gesellschaftlich marginalisierter Gruppen, die ein Mehr an gleichberechtigter Partizipation ermöglichen. Sie sollen die Sichtbarkeit von Migration sowie Migrant*innen als Teil eines kollektiven Stadtgedächtnisses erhöhen. Der Beitrag verdeutlicht, dass die Sichtbarmachung von Rom*nja ein Elitenprojekt darstellt, das von einer kleinen Gruppe lokaler Aktivist*innen und Vereine bestimmt wird. Diese führen den Diskurs darüber, welche Art von Sichtbarkeit angestrebt bzw. umgesetzt werden soll. Folglich ist die Sichtbarmachung von Rom*nja in Wien nicht unumstritten. Nicht alle werten die Umbenennung von Orten als eine positive und erwünschte Sichtbarkeit, da sie sich vorrangig an eine kleine Gruppe privilegierter Rom*nja richtet und jene sozial und ökonomisch marginalisierten Rom*nja ausschließt, die in der Mehrheitsgesellschaft besonders unsichtbar sind. Aus Sicht mancher Aktivist*innen haben derartige Ereignisse keine tatsächlichen langfristigen Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Rom*nja und bieten folglich keine Chance, die Lebensrealitäten von Rom*nja zu verbessern. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Sichtbarkeit und symbolische Anerkennung in Form von Straßen- und Ortsnamen nicht gleichzeitig Inklusion und Teilhabe bedeuten. Die Forderungen von Aktivist*innen nach einem offiziellen Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sint*izze – ein zentrales Anliegen, das in letzter Zeit intensiv über Medien sowie eine temporäre Installation im Rahmen der Wienwoche 2019 artikuliert wurde – hat zudem aufgezeigt, dass zugewanderte Rom*nja nicht als eine spezifische Gruppe sichtbar gemacht werden. Stattdessen soll die Sichtbarmachung von Rom*nja durch das kollektive Erinnern an den Holocaust erfolgen. Diese Art der Sichtbarmachung basiert auf der Verschränkung von Erinnern, Repräsentation und Identität. Die im Nationalsozialismus erfahrenen Leiden werden zum zentralen Element einer gemeinsamen Identität, die die Heterogenität der Rom*nja-Gemeinschaften und folglich auch die Diversität von Erfahrungen in den Hintergrund rücken lässt. Dieser Zugang spiegelt sich auch in der Idee des Denkmals als einem inklusiven Ort des Gedenkens für alle Opfer des Nationalsozialismus wider, der über diese Funktion hinaus auch als Interaktionsraum dienen soll, um den gemeinsamen Kampf gegen Antiziganismus und die gesellschaftliche Anerkennung von Rom*nja voranzutreiben. Der Kampf für das Empowerment von Rom*nja wird dabei als Anliegen kommuniziert, das von allen gleichermaßen erlebt und angestrebt wird. Auch wenn die Durchsetzungskraft politischer

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Forderungen dadurch erhöht werden soll, dass Rom*nja vermeintlich mit „einer Stimme sprechen“, so werden auf diese Weise spezifische Diskriminierungserfahrungen negiert, die sich durch die Verschränkung von Ethnizität, Gender und nationaler Herkunft ergeben. Wenngleich die spezifischen Erfahrungen von zugewanderten Rom*nja im aktivistischen Bemühen um Sichtbarkeit bislang nicht ausreichend thematisiert worden sind, so gibt es in Wien eine Fülle an Orten, die an die Migration von Rom*nja aus dem ex-jugoslawischen Raum erinnern und für diese stehen.45 Zwar ist die Sichtbarkeit von migrierten Rom*nja im öffentlichen Raum durch die (Um-)Benennung von Orten oder die Errichtung von Denkmälern in den letzten Jahren gestiegen, allerdings werden diese Ereignisse wie ausgeführt durchaus ambivalent wahrgenommen. Als Kontrastpunkt zu den öffentlichen Orten können private Orte, wie beispielsweise der Mexikoplatz oder der Südbahnhof, gesehen werden. An diesen Orten wird die Migration von Rom*nja weder von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen noch von der Aktivist*innencommunity thematisiert.46 Gleichzeitig sind diese als Orte kollektiver, aber auch persönlicher Migrationsgeschichten von zentraler Bedeutung sowohl für zugewanderte Rom*nja als auch für die Stadt Wien, da sie die historische Kontinuität der Migration nach Wien aufzeigen. Neben diesen konkreten Orten sind es auch immaterielle Erinnerungsorte, wie die Sprache bzw. die Familie und Freunde, die Anerkennung und Zugehörigkeit für zugewanderte Rom*nja bedeuten. Dieses Erinnern kann als Bottom-up-Erinnern charakterisiert werden, das eher unsichtbar bleibt, wohingegen die (Um-)Benennung von Orten und das Denkmal Beispiele für Top-down-Zugänge sind, die das Erinnern zwar öffentlich und sichtbar, aber dennoch nicht für alle zugänglich machen. Die relative Unsichtbarkeit dieser intimen Orte spiegelt sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung wider: Dem Blick der Mehrheitsgesellschaft entzogen, ist ihre zentrale Bedeutung für die Migrationsgeschichte der Stadt bislang weitgehend unerkannt geblieben. In diesem Sinne macht die 45 Zu diesen gehören etwa kirchliche Einrichtungen oder der Mexikoplatz als Handelsplatz für Waren aller Art, der in den 1980er bis 1990er Jahren seine Hochblüte erlebte. Der ehemalige Südbahnhof war nicht nur Ort der Ankunft für viele Migrant*innen in Wien, sondern auch ein beliebter Treffpunkt. Viele zugewanderte Rom*nja sind zudem als Reinigungskräfte in Spitälern tätig, wie etwa im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien (AKH). 46 Die Unsichtbarkeit dieser Orte steht in Widerspruch zu einem in Medien und Politik dominanten Diskurs, der zugewanderte Rom*nja als Bettler*innen und Kriminelle problematisiert.

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Sichtbarmachung von zugewanderten Rom*nja aus dem ex-jugoslawischen Raum im Wiener Stadtbild auch Mechanismen von Inklusion und Exklusion deutlich: Wie die diskutierten Beispiele zeigen, stellt der öffentliche Raum einen Bereich komplexer Ausverhandlungsmöglichkeiten dar, der viel über die gesellschaftliche Position von marginalisierten Gruppen zu erzählen vermag und darüber hinaus deutlich macht, dass Sichtbarkeit im Stadtgedächtnis sowohl im visuellen als auch im politischen Sinne nicht automatisch ein Mehr an Gleichberechtigung und Anerkennung bedeutet. Literaturverzeichnis

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Abb. 1: Bildrechte: Sanda Üllen. Abb. 2: Bildrechte: Sanda Üllen.

SPRACHLICHE PRÄSENZ DES SÜDSLAWISCHEN: WIEN, OIDA! BEČ, OIDA!

SLOWENISCH/SLOWEN*INNEN IN WIEN: VON STEREOTYPEN, KOOKKURRENZEN UND HUNGRIGEN BÄUCHEN Emmerich Kelih

1. EINLEITUNG

Der vorliegende Beitrag versucht sich dem Thema Slowenisch/Slowen*innen in Wien aus einer sprachlich-linguistischen Sicht zu nähern. Insbesondere wird es um die Frage gehen, welches sprachliche Bild sich auf der Basis von bestehenden slowenischen Textkorpora ergibt. Des Weiteren wird untersucht, inwiefern bekannte und tradierte Vorstellungen zum sogenannten slowenischen Leben in Wien tatsächlich mit in sprachlichen Texten gespeicherten Assoziationen übereinstimmen bzw. ob sie eventuell divergieren. Methodologisch wird als ein adäquates Instrumentarium dafür eine Kontextanalyse gesehen, welche insbesondere das Umfeld, das heißt den Kontext einzelner Schlüsselwörter (slowen*, Wien/Dunaj), in den Fokus stellt. Damit soll versucht werden, einen Einblick in die Eigen- und Fremdwahrnehmung von Slowenisch/Slowen*innen in Wien zu erhalten. Vor der eigentlichen empirischen Bearbeitung werden einige grundlegende aktuelle und historische Informationen zu diesem Themenfeld diskutiert.

2. SLOWEN*INNEN IN WIEN – EINIGE ECKPUNKTE: IST-ZUSTAND

Spricht man von Slowen*innen in Wien, so scheint es angebracht, mit dem IstZustand aus einer soziologisch-demographischen Perspektive zu beginnen. Fragt man sich, wie viele Slowen*innen oder slowenischsprachige Menschen in Wien leben und wirken, so lassen sich nur wenige harte, empirisch fundierte Fakten nennen. Nach den Angaben der Statistik Austria1 wurde für das Jahr 2018 1 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/volkszaehlungen_registerzaehlungen_abgestimmte_erwerbsstatistik/ bevoelkerung_nach_demographischen_merkmalen/index.html, letzter Zugriff: 07.03.2022).

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f­estgestellt, dass im Bundesland Wien 3530 Bürger*innen mit dem Geburtsland Slowenien leben. Davon interessanterweise nur 1536 Männer, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Anteil von aus Slowenien stammenden Frauen etwas höher ist. Zusätzlich zu dieser Angabe sind auch Mitglieder der slowenischen Volksgruppe aus Kärnten, die aus unterschiedlichen Gründen als Lebensmittelpunkt Wien gewählt haben, zu zählen. Eine statistische Einschätzung darüber ist aber relativ schwierig, zumal für den aktuellen Stand keine verlässlichen Zahlen vorliegen. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2001, wo (noch) nach der Umgangssprache gefragt wurde, gaben genau 646 Personen in Wien an, Slowenisch zu sprechen. Eine realistische Einschätzung dürfte sein, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt von insgesamt ca. 5000 Slowen*innen in Wien auszugehen ist. Nähere soziologische Daten lassen sich leider nicht eruieren, aber ein nicht unerheblicher Teil dieser Gruppe dürften Personen sein, die sich in Wien (in vielen Fällen allerdings wirklich nur temporär) zu Ausbildungszwecken aufhalten bzw. beruflich tätig sind. Eine „klassische“ Gastarbeiter*innenschicht dürfte in Bezug auf Slowen*innen in Wien keine quantitative Rolle spielen. Auf der Basis von eigenen Beobachtungen lässt sich hinzufügen, dass insbesondere seit der Wirtschaftskrise 2008 ein Braindrain aus Slowenien eingesetzt hat, der zum Teil zu einer Zunahme der akademischen Migration nach Wien bzw. generell Österreich geführt hat. Die genannte Gruppengröße von ca. 5000 Personen lässt nicht die Schlussfolgerung zu, dass es sich hierbei um eine Gemeinschaft handelt, die im öffentlichen Wiener Raum „sprachlich“ bemerkbar wäre (wie im Vergleich zu Bosnisch/ Kroatisch/Serbisch bzw. Türkisch, welche in vielen Teilen Wiens durchaus wahrnehmbare Umgangssprachen sind). Die Gruppengröße ist nicht dahingehend zu verstehen, dass Wien für Slowen*innen nicht relevant wäre bzw. dass es so etwas wie ein „slowenisches Wien“ nicht gäbe. Im Gegenteil, es lassen sich einige Orte und Institutionen identifizieren, die gleichsam ein Spiegelbild des slowenischen Lebens in Wien sind. Zu beginnen ist mit etablierten Institutionen, die in einem engeren Sinne mit einem slowenischen Wien in Verbindung zu bringen sind. Betrachtet man diese aus einer historischen bzw. chronologischen Perspektive, so muss wohl mit der Lukas Knaffelsche Privatstiftung (slowen. Knafljeva ustanova) begonnen werden. Diese Stiftung, deren offizieller Beginn auf das Jahr 1676 zurückgeht und von Lukas Knaffel (Luka Knafelj), einem Priester, eingerichtet wurde, war seit dem 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1918 vor allem aufgrund der Vergabe von Stipendien für Studierende „aus der Krain“ (slowenisch Kranjska, umfasst die Ober- und Unterkrain, inkl. Ljubljana/Laibach und war bis 1918 österreichisches Kronland) von sehr großer Bedeutung für die Herausbildung einer eigenständigen slowenischen Intelligenz. Die Liste von Stipendiaten die-

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ser Institution liest sich in der Tat wie ein Who’s Who der slowenischen Kulturund Geistesgeschichte, unter anderem waren France Prešeren, Jernej Kopitar, Oton Župančič und viele andere Stipendiaten dieser Stiftung. Der wertvollste Stiftungsbesitz2 ist eine stattliche Immobilie im ersten Wiener Gemeindebezirk (Seilerstätte 2, 1010 Wien). Die Privatstiftung vergibt zwar immer noch Stipendien an slowenische Studierende (bzw. eine Unterkunft), aber deren heutige Bedeutung ist bei weitem geringer als noch am Anfang des 20. Jahrhunderts.3 Es ist kein Zufall, dass auch die zweite Vereinigung bzw. Institution mit einem relativ hohen Grad an Kontinuität, die im Zusammenhang mit einem „slowenischen Leben“ in Wien zu nennen ist, ebenfalls direkt mit Studierenden zu hat: Der Klub slovenskih študentk in študentov na Dunaju [Klub slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien], beheimatet im 7.  Wiener Gemeindebezirk, Mondscheinngasse  11, ist auch heute noch ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die slowenische studentische Jugend in Wien. Dieser Klub geht zurück auf einen bereits im Jahr 1923 gegründeten Klub slovenskih koroških akademikov na Dunaju [Klub slowenischer kärntnerischer Akademiker in Wien], dessen Name auf die auch heute durchaus bestehende Nähe zu den Kärntner Slowen*innen hinweist. Der heutige Studierendenklub ist in unterschiedlichen Bereichen tätig, zeichnet sich durch regelmäßige Kulturveranstaltungen, politische Arbeit, eine eigene Bibliothek und einen Chor aus. Darüber hinaus sind – zumindest in der Vergangenheit – regelmäßig Zeitschriften bzw. Bulletins (Punt, Kladivo) herausgegeben worden. 2

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Die Geschichte dieser Stiftung ist auf das engste mit der Universität Wien verbunden, die das Stiftungsvermögen de facto bis 1961 verwaltete (lt. Bruckmüller, 2007, war die Knaffel’sche Stiftung die drittertragreichste Stiftung der Universität Wien). Zwar wurde bereits im Friedensvertrag von St. Germain 1919 vereinbart, dass die Stiftung als jugoslawischer Besitz abgetreten werden muss, aber in der Zwischenkriegszeit konnte keine entsprechende Einigung erzielt werden, sodass erst 1961 die Universität Ljubljana offiziell diese Stiftung übernehmen konnte. In den 1990er Jahren kam es zu einem neuerlichen Besitzerwechsel, wobei die genauen Umstände und Konsequenzen dieser Umstrukturierung zu längerfristigen Disputationen und Irritationen geführt haben. Dokumentiert ist die Tätigkeit der Stiftung im Sammelband Rajšp, 2007, wo sehr viel spannende Hintergrundinformationen angeführt werden. Kontler Salamon, 2014, hat dazu in der slowenischen Zeitung Delo (28.11.2014) die entsprechenden Hintergründe der Privatisierung dieser Stiftung journalistisch aufgearbeitet. Letztlich war die Privatisierung eine vergeudete Chance der Universität Ljubljana, die daraus durchaus ein repräsentatives slowenisches Wissenschaftszentrum hätte etablieren können. Vgl. dazu näher Vodopivec, 2007.

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Ein weiterer slowenischer Ort, dessen „Slowenizität“ aber den nicht informierten Besucher*innen nicht unbedingt gleich auffallen wird, ist das Hotel Korotan (zum Teil fungiert es auch als Studierendenheim), lokalisiert in der Albertgasse 48 im 8. Wiener Gemeindebezirk. Der Name ist eine Hommage an das (sagenumwobene) frühe slawische Fürstentum Karantanien, welches aus einer engen nationalen Perspektive gerne als Vorläufer einer eigenständigen slowenischen Staatlichkeit interpretiert wird.4 Ursprünglich wurde das Korotan als Studierendenwohnheim durch Pater Ivan Tomažič5 gegründet, erbaut und 1966 feierlich eröffnet. Formal war es einige Zeit im Besitz der Klagenfurter Mohorjeva [Hermagorasbruderschaft], allerdings wurde das Korotan im Jahr 1994 an die Republik Slowenien verkauft.6 Das Hotel beherbergt auch das Slovenski kulturni center Korotan, welches regelmäßig Ausstellungen, Lesungen und so weiter veranstaltet und dabei versucht in Wien slowenische Kultur zu promovieren. Eine ähnliche Funktion hat auch das SKICA – Slowenisches Kulturinformationszentrum7 in Wien, welches dem Kulturinstitut der Slowenischen Botschaft zugeordnet ist und sich ebenfalls um die Promotion der slowenischen Kultur in Wien und Österreich kümmert. Abschließend zu diesem kurzen Überblick über die wichtigsten slowenischen Institutionen und Vereine in Wien ist das Slovenski inštitut na Dunaju8 [Slowenisches Institut in Wien] zu nennen. Es ist dies die Nachfolgeorganisation des ehemaligen Slovenski znanstveni inštitut [Slowenisches Wissenschaftsinstitut] in Wien, welches nach mehr als zwölfjähriger Tätigkeit im Jahr 2014 seine Tätigkeit einstellen9 musste. Das jetzige Slovenski inštitut na Dunaju bietet ein äußerst ambitioniertes Programm, welches wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen, Podiumsdiskussionen bis hin zu Fachexkursionen anbietet, die dabei größtenteils einen Bezug zu Slowenien bzw. den slowenischen 4

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Wie z.B, in einem recht verstörenden Ton, der ehemalige österreichische Parlamentsabgeordnete Karl Smolle von einem historisch slowenischen Gebiet von „[…] Gloggnitz bis ins Lesachtal, vom Lungau bis zum Plattensee“ (Smolle, 2014, 161) spricht. Abgesehen von seinen zweifellosen Verdiensten um die Gründung des Korotan ist Ivan Tomažič gleichzeitig auch als einer der Proponenten der pseudowissenschaftlichen „Veneter-Theorie“ über die vermeintliche slawische Herkunft der Veneter bekannt. Siehe dazu eine Skizze seiner Autobiographie in Tomažič, 2013. Dort findet sich auch die spannende Entstehungsgeschichte des Hotel Korotan. Vgl. dazu Tomažič, 2013. http://www.skica.at/, letzter Zugriff: 07.03.2022. http://www.si-dunaj.at/, letzter Zugriff: 07.03.2022. Näheres dazu siehe Rajšp, 2013.

Slowenisch/Slowen*innen in Wien:

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Minderheiten haben. Das Programm kann durchaus als akademisch bzw. als Hochkultur bezeichnet werden und spricht eher ein älteres Publikum an. Eine relativ neue Erscheinung ist SID Slovenska iniciativa Dunaj [Slowenische Initiative Dunaj/Wien], ein Verein der 2015 gegründet wurde. Ein Großteil der Tätigkeit ist auf die Organisation von Veranstaltungen für Kinder10 zwischen drei und zwölf Jahren ausgerichtet. Es werden regelmäßig slowenischsprachige Theatervorführungen organisiert und es gibt auch eine eigene Theatergruppe für Kinder. Dem SID ist auch ein eigener Chor zuzurechnen, der in regelmäßigen Abständen auftritt. Abschließend ist das Slovenski pastoralni center [Slowenisches Pastoralzentrum] Wien zu erwähnen, welches seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die in Wien lebenden katholischen Slowen*innen betreut und mit der Herz-Jesu-Kirche in der Einsiedlergasse 9–11 im 5. Gemeindebezirk ein eigenes geistliches und kulturelles Zentrum hat.11 Die Anzahl von Slowen*innen bzw. Slowenischsprachigen in Wien scheint insgesamt in einer guten Relation zur vorhandenen Infrastruktur an slowenischen Vereinen und Institutionen zu sein. In diesem Sinne ist durchaus von einer Balance von Angebot und Nachfrage auszugehen. Als Zielgruppe dieser Initiativen und Institutionen sind vor allem slowenischsprachige Personen zu sehen. Dies gilt explizit für alle genannten, außer für das Projekt SKICA, welches bewusst auf die Verbreitung der slowenischen Kultur unter der Wiener Bevölkerung im Allgemeinen setzt. Allerdings wäre es naiv bzw. übertrieben, von einer stabilen oder gar homogen slowenischen Community in Wien auszugehen, zumal insbesondere durch den hohen Anteil an Studierenden eine konstante Dynamik zu beobachten ist. Weitere Informationen zur sozialen Struktur liegen zwar nicht vor, wenngleich – ob einer fehlenden historisch relevanten Migration – die slowenischsprachige Gemeinschaft in Wien mehr von Hetero- als Homogenität geprägt sein dürfte.

10 Generell wird versucht vor allem für Kinder ein entsprechendes sprachliches Angebot zu geben, wobei der von der Republik Slowenien organisierte SlowenischUnterricht zu erwähnen ist, der insbesondere auf Schulkinder abzielt. Es gibt in Wien sonst kein Schulangebot, welches sich an Slowenischsprachige richten würde (wie z.B. für Tschechisch). 11 Ferenčak, 2013, gibt einen kurzen historischen Überblick zum slowenisch-katholischen Leben in Wien.

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3. SLOWEN*INNEN IN WIEN – EINIGE ECKPUNKTE: HISTORISCHES

Aus einer historischen Perspektive lassen sich in Hinblick auf die Frage von Slowen*innen bzw. Slowenisch in Wien durchaus – und dies ist angesichts der gemeinsamen österreichisch-slowenischen Geschichte nun an sich keine Überraschung – viele Anknüpfungspunkte finden. Die Frage dieser wechselseitigen Beziehungen ist in einer Reihe von Monographien, Sammelbänden und Artikel immer wieder aufgegriffen worden. Auf der Basis einer Selektion der wichtigsten Publikationen, nämlich Medved (1995) und seinem kommentierten Bildband Slowenisches Wien (einer Übersetzung von Slovenski Dunaj aus dem Slowenischen), einem älteren Stadtführer unter dem Titel Dunaj in njegovi Slovenci. Turistični priročnik 1978 [Wien und seine Slowenen. Touristisches Handbuch]12 und dem Buch Wiener Impressionen: Auf den Spuren slowenischer Geschichte in Wien. Dunajske impresije: Po sledovih slovenske zgodovine na Dunaju von Schellander/Obid (2010), welches sowohl auf Slowenisch als auch auf Deutsch verfasst ist, lassen sich einige weitere wichtige Eckpunkte eines slowenischen Wiens extrahieren. Dabei werden bestimmte Orte, Ereignisse, Institutionen, insbesondere aber Personen verhandelt, die in Summe eine Art kollektives Gedächtnis in Hinblick auf Slowen*innen und Slowenisch in Wien darstellen. Unbedingt anzumerken ist, dass dieses kollektive Gedächtnis bei genauerem Hinsehen ein slowenisches ist, da alle oben angeführten Werke von Slowen*innen selbst verfasst sind und somit aus dem dort Gesagten und Geschrieben eine Art von Eigenbild bzw. Eigenansicht abgeleitet werden kann. Zu beginnen ist mit einer qualitativen Einschätzung: Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass unisono in diesem Werk die Bedeutung Wiens für Slowen*innen – zumindest aus einer historischen Perspektive heraus – einer12 Dieses Handbuch wurde in Klagenfurt von Mladje, einer Gruppierung von kärntnerslowenischen Literaten, herausgegeben. Ein*e Autor*in im eigentlichen Sinne ist nicht angegeben, wenngleich in der Regel France Kattnig angeführt wird. In Medved, 1995, 13 findet sich der Hinweis, dass der Autor Pavel (Paul) Zdovc sei. Letzter war jahrzehntelang Lektor für Slowenisch am Institut für Slawistik der Universität Wien und ist für seine akribischen Untersuchungen zum Jauntaler Dialekt bzw. den slowenischen Ortsnamen in Kärnten bekannt. Pavel Zdovc führt mittlerweile ein sehr zurückgezogenes Leben und konnte dazu nicht persönlich befragt werden. Das Handbuch selbst ist mehr ein Kulturführer (wenngleich in schlechter Druckqualität und einer Fülle von Tippfehlern), aber es beinhaltet sehr viel fundierte Informationen zu Slowen*innen in Wien, insbesondere auch zur Rolle der Wiener Studierendenschaft bei den in den 70er Jahren äußerst hitzig geführten Debatten um die Rechte der slawischen Minderheiten in Österreich.

Slowenisch/Slowen*innen in Wien

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seits als sehr wichtig und andererseits zugleich als sehr positiv angesehen wird. Dabei erweist sich Wien als das gebende Subjekt, während auf die aktive und konstruktiv gebende Rolle von Slowen*innen13 für Wien in der Regel gesondert verwiesen wird. Nun ist ein Blick zurück geboten, wo es darum geht, Persönlichkeiten, die aus dem (heutigen) slowenischen Sprachraum stammen und in der Regel in Wien eine Paradekarriere hingelegt haben, näher vorzustellen. Ein Name, der immer genannt wird, ist Jurij Slatkonja (Georg von Slatkonia, 1456–1522), der als erster Bischof (1513) der Diözese Wien erwähnt wird. Im gegenwärtigen Kontext wird Slatkonja, der in Ljubljana geboren wurde, vor allem aufgrund seiner Rolle als Komponist bzw. in Bezug auf seine Verdienste um die Hofmusik tradiert. Im eigentlichen Sinne scheint Slatkonja auch touristisch durchaus gut verwertbar zu sein, zumal eine Grabinschrift inkl. Bildnis an sehr prominenter Stelle, nämlich im Wiener Stephansdom, zu besichtigen ist. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass der bedeutende slowenische Reformator Primož Trubar (1508–1586) ebenfalls in Wien verweilte, wenngleich nur kurz und die genaue Motivation für seinen Aufenthalt unklar bleibt. Unisono wird Wien aber vor allem in einem bestimmten Zusammenhang immer wieder als äußerst wichtig angesehen, nämlich als Studienort und akademische Ausbildungsstätte. Aus slowenischer Perspektive waren im Grunde genommen bis zur Eröffnung einer eigenen Universität in Ljubljana im Jahr 1919 tatsächlich die Wiener Hochschulen und Universitäten eine der zentralen Anlaufstellen. Zum einen betrifft dies die eigentliche universitäre Ausbildung der slowenischen Jugend, die die Hauptstadt der Habsburgermonarchie anzog. Insbesondere hervorzuheben ist die Universität Wien, die 1365 gegründet wurde und in der Tat ganze Generationen14 von slowenischen Intellektuellen hervorgebracht hat. Auschlaggebend dürfte interessanterweise nicht nur die zentrale Lage (Wien als Reichs- und Residenzstadt), sondern vor allem die im Vergleich mit anderen Universitäten relativ niedrigen Studienkosten gewesen sein, wenngleich das Studium trotzdem lange Zeit nur finanziell Bessergestellten vorbehalten war. Eine Rolle spielte die Vergabe von Stipendien der bereits 13 Es ist hier nicht der Ort, um der Frage nachzugehen, ab wann von einem „slowenischen Wien“ im eigentlichen Sinne auszugehen ist bzw. ab wann tatsächlich von Slowen*innen gesprochen werden kann. In einem modernen Sinn sollte man von Slowen*innen erst ab dem 19. Jahrhundert sprechen. Zu erinnern ist an die langsame und mühsame nationale Emanzipation, die in engem Zusammenhang mit der Politik des Wiener Hofs zu sehen ist. 14 Vgl. dazu Haselsteiner, 1983, 294.

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erwähnten Knaffel-Stiftung, die alle Fächer (beliebt waren vor allem die Juridische, Medizinische und später auch Philosophische Fakultät bzw. die Naturwissenschaften) außer der Theologie stipendierte. Ohne an dieser Stelle ein übermäßiges Namedropping betreiben zu wollen, sei zumindest auf einige slowenische Persönlichkeiten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwiesen, die in Wien studiert bzw. gewirkt haben: Simon Jenko, Josip Jurčič, Fran Levstik, Janez Trdina, Ivan Cankar und viele andere mehr.15 Im Übrigen wird darauf verwiesen, dass slowenische16 Studierende tatsächlich Wien dem zum Beispiel geographisch näherliegenden Graz vorgezogen haben, einer Stadt, die in der Zeit der sich verstärkenden Nationalitätenkonflikte für ihren rabiaten Deutschnationalismus bekannt war und daher offenbar nicht allzu gern angesteuert wurde. Wien war aber nicht nur als Ausbildungsstätte von Bedeutung, sondern bot auch für Slowen*innen entsprechende Karrieremöglichkeiten. Den höchsten Bekanntheitsgrad dürften, zumindest in philologischen Kreisen, zwei Männer haben, die auf das engste mit der Geschichte der österreichischen Slawistik verbunden sind. Zu einem ist das Bartholomäus (Jernej) Kopitar (1780–1844), der, aus der Krain stammend, eine steile Karriere am Wiener Hof gemacht hat. Er war unter anderem17 an der Wiener Hofbibliothek tätig und hat gleichzeitig die Grundlagen der Slawistik und Balkanologie gelegt. Eine durchaus vergleichbar erfolgreiche akademische Karriere hat Franz (Fran) Miklosich (1813–1891), ursprünglich aus der Untersteiermark stammend, als Slawist und Sprachwissenschaftler und erster Lehrstuhlinhaber18 für slawische Philologie an der Wiener Universität gemacht. Aus dem naturwissenschaftlichen Bereich gebührt es Josef (Jožef) Stefan (1835–1893) zu nennen, der als aus einem Vorort von Klagenfurt (Celovec) kommend nach seinem Studium der Physik in Wien ebendort ab 1863 eine Professur für Physik (damit der jüngste berufene Professor im damaligen Uni15 Medved, 1995, 77 ff, führt noch weitere bedeutende Namen an. 16 Laut Haselsteiner, 1983, 295, waren in den Matrikeln Slowen*innen als eigene Nation erst seit 1883/84 ausgewiesen, zuvor wurden sie als Südslawen kategorisiert bzw. (was durchaus verständlich erscheint) den einzelnen Kronländern zugeordnet. Das erschwert natürlich eine Rekonstruktion der slowenischen Studierendenschaft im engeren Sinne. 17 Das Wirken Kopitars, seine Idee des Austroslawismus und seine Rolle bei der Schaffung des Neuslowenischen sind u.a. von Hafner, 1983, Hösler, 2006, und Pogačnik, 1978, umfangreich aufgearbeitet worden. 18 Stellvertretend für eine Vielzahl von Literatur über Miklosich siehe die Monographie von Neweklowsky, 2015.

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versitätssystem) innehatte. Seine Bekanntheit19 ist dem sogenannten StefanBoltzmann-Gesetz geschuldet, welches ein bekanntes Strahlungsgesetz ist, und er gilt vor allem auch als akademischer Ziehvater von Ludwig Boltzmann. Zu seinen Ehren20 ist in Ljubljana das bekannte Institut Jožef Štefan benannt. In Österreich wurde zu seinem 150.  Geburtstag eine Briefmarke aufgelegt und Slowenien tat es gleich, allerdings zu seinem 100. Todestag. Wien hat für die slowenische Geschichte ohne Zweifel eine sehr große Bedeutung. Dies gilt vor allem in Hinblick auf die politische Entwicklung und Herausbildung Sloweniens bzw. seine nationale Genese. Diese ist wiederum auf das engste mit der Herausbildung und Normierung des Neuslowenischen als einer Standardsprache verbunden, die zwar auf zentralen slowenischen Dia­ lekten beruht, aber sich auch im steirischen, pannonischen, küstenländischen und kärnterischen Raum erfolgreich durchsetzen konnte. Die Standardisierung und Normierung21 des Slowenischen ist in Grundzügen zufriedenstellend beschrieben. Die politische Dimension, nämlich dass der gesamte slowenische Sprachraum zu einer einheitlichen politischen Entität wird, wird üblicherweise (und vor allem) mit dem Völkerfrühling von 1848 in Verbindung22 gebracht. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Idee, das politische Programm Zedinjena Slovenija [Vereintes Slowenien] welches unter anderem auch in Wien unter Federführung des bereits genannten Miklosich propagiert wurde und dabei auf eine Selbstständigkeit und Vereinigung der slowenischen Länder23 drängte und für das Slowenische eine gebührende Stellung im öffentlichen Leben und im Schulwesen forderte. Somit ist Wien – wie auch für viele andere slawische Nationen und Staaten – im 19.  Jahrhundert zum zentralen Schauplatz eines Wiedererwachens bzw. einer Wiedergeburt, wie die entsprechenden metaphorischen Umschreibungen dieser Prozesse lauten, geworden. Auf der politischen Ebene führten im 19.  Jahrhundert die slowenischen Wünsche in Hinblick auf mehr Autonomie und Berücksichtigung des Slowenischen zu anhaltenden Konflikten mit dem habsburgischen Herrscher*innenhaus. Darüber hinaus betrachteten sich Slowen*innen als zweitrangig und dis19 Vgl. dazu u.a. Ottowitz, 2010 bzw. Crepeau, 2007. 20 Crepeau, 2007, 802, geht näher auf die die Bedeutung von Stefan aus der Perspektive der heutigen Physik ein. 21 Stellvertretend für eine Vielzahl an Literatur seien u.a. Lencek, 1982, und Herrity, 2014, genannt. 22 Näheres dazu siehe Hösler, 2006, 59 ff. 23 Malle, 2016, gibt eine kurze Zusammenfassung dieses in der slowenischen Geschichtswissenschaft verständlicherweise intensiv bearbeiteten Themas.

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kriminiert. Dennoch blieb Wien – und dies muss hervorgehoben werden – im gesamten 19. Jahrhundert für viele slowenischen Literaten zentraler Schaffensund Wirkungsort. Stellvertretend für die Vielzahl von Literaten sei hier auf den bekannten slowenische Schriftsteller Ivan Cankar (1876–1918) verwiesen, der immerhin elf Jahre seines kurzen Lebens in Wien verbrachte.24 Darüber hinaus spielt Wien in der slowenischen Literatur als Handlungsort eine zentrale Rolle. Ausgehend von der Sekundärliteratur zu dieser Thematik25 lässt sich ein mehr oder weniger positives Bild ableiten, welches auf die freie städtische Luft einer Metropole, die hervorragende Architektur26 und Pracht der Wiener Parkanlagen, gleichzeitig aber auch das an der Jahrhundertwende in Wien herrschende soziale Elend und die nationalen Spannungen verweist. Damit soll dieser Versuch einer äußerst gerafften Darstellung der historischen Dimension eines „slowenischen Wiens“ enden, die einige der wichtigsten Eckpunkte beinhaltet und sich dabei vornehmlich an der vorhandenen Literatur orientiert. Im nächsten Kapitel wird ein eigener empirischer Beitrag zur der hier interessierenden Frage nach Slowenisch/Slowen*innen in Wien vorgestellt.

4. WÖRTERBÜCHER UND KOOKKURRENZEN ALS QUELLEN FÜR EIGEN- UND FREMDWAHRNEHMUNG

Die grundsätzliche Idee, die nun im Folgenden verfolgt wird, ist es, empirisch zu untersuchen, ob und in welcher Weise die uns hier interessierenden Ausdrücke „Slowenisch“, „Slowen*innen“ und „Wien“ im sprachlichen „Gedächtnis“ des Slowenischen verankert sind. Dazu werden ausgewählte slowenische Wörterbücher und slowenische Korpora herangezogen. Der Einfachheit halber erfolgt eine ausschließliche Analyse des Toponyms Dunaj (Wien). Ebenfalls aus Gründen der Einfachheit ist die Untersuchung auf slowenisches Material beschränkt. 24 Vgl. dazu Bernik, 1998. 25 Siehe dazu Smolej, 2008, Simonek, 2009, und Claricini, 1996. 26 Aus Platzgründen kann die Rolle von slowenischen bzw. slowenischstämmigen Architekt*innen, die in Wien gewirkt haben und somit die Stadt physisch geprägt haben, nicht näher eingegangen werden. Es sind vor allem drei Namen zu nennen, die das Wiener Stadtbild merkbar geprägt haben: Josef (Jože) Plečnik (1872–1957), Max (Maks) Fabiani (1865–1962) und der noch lebende, ebenfalls slowenischstämmige Boris Podrecca (1940). Vgl. dazu u.a. Stabenow, 1996; Prelovšek, 1992; Pozzetto, 1983; u.a.m. Insbesondere Plečnik, aber auch Fabiani haben einen nachhaltigen Einfluss auf die Architektur in Slowenien bzw. das Stadtbild von Ljubljana ausgeübt.

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Aus sprachwissenschaftlicher Sicht bietet es sich an, auf bewährte korpuslinguistische Methoden zurückzugreifen bzw. generell die vorhandene korpuslinguistische Infrastruktur des Slowenischen zu nützen. Als besonders relevant für die hier verfolgte Fragestellung erweist sich der jeweilige Kontext, das heißt die jeweilige Umgebung in der Form von Kookkurrenzen (typische Wortverbindungen, konzeptuelle Details dazu unten) des uns hier interessierenden Stichwortes, sprich Dunaj, der slowenischen Bezeichnung für die Stadt Wien. Zusätzlich soll auch auf das sprachliche Gedächtnis einer Sprache, entsprechend vorhandene einsprachige Wörterbücher eingegangen werden. Damit kann ein Einblick gegeben werden, auf welche Art und Weise lexikographisch Dunaj um- und beschrieben wird. Darüber hinaus ist darauf zu achten, in welchen Kontexten das untersuchte Stichwort genannt bzw. angeführt wird. Zu beginnen ist mit dem einsprachigen, erklärenden Wörterbuch der slowenischen Standardsprache, dem Slovar slovenskega knjižnega jezika (SSKJ²2014). Dieses Wörterbuch ist eines der wichtigsten einsprachigen Wörterbücher des Slowenischen und ist online27 verfügbar und mit entsprechenden Suchroutinen ausgestattet. Erwartungsgemäß kommt Dunaj als Toponym in diesem Typus von Wörterbuch nicht als eigenständiges Lemma vor, wird aber bei den Explikationen immer wieder erwähnt. Diese Erwähnungen sind per se von Interesse, wie nunmehr zu zeigen sein wird. Anzumerken ist, dass als eigenständige Derivate von Dunaj im SSKJ (²2014) dunajski [wienerisch] bzw. dunajščina [das Wienerische] zu finden sind. Damit kann auf das Vorkommen von Dunaj in den Explikationen des SSKJ eingegangen werden, wobei auf folgende Vorkommnisse die Aufmerksamkeit zu richten ist: star.  cesarsko mesto  Dunaj [veraltet, Kaiserstadt Wien] bzw. prestolni Dunaj [hauptstädtisches Wien], dunajski valček [Wiener Walzer], dunajski zajtrk [Wiener Frühstück], dunajski zrezek [Wiener Schnitzel], star. mnogi Slovenci so odhajali po učenost na Dunaj [veraltet, viele Slowenen gingen für vertiefende Studien nach Wien]. Gleich zwei Mal kommt folgender Phraseologismus im SSKJ (²2014) vor: kdor hoče iti na Dunaj, mora pustiti trebuh zunaj [wer nach Wien gehen will, muss den Bauch draußen lassen], welches im übertragenen Sinne bedeutet, dass das Leben in Wien sehr teuer sei. Diese kleine Sammlung von Belegen liefert bereits genügend Material für eine weitergehende Einschätzung der Rolle und Bedeutung bzw. für das sprachlich generierte Bild von Dunaj im SSKJ (²2014). Einerseits sind ganz klar allgemein mit Wien verbundene Phänomene bzw. 27 https://fran.si/, letzter Zugriff 07.03.2022.

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im Grunde genommen bekannte Vorstellungen (Stereotype) zu finden, wie etwa in Wiener Walzer, Wiener Schnitzel und Wiener Frühstück. Es fehlt eigentlich nur mehr der Wiener Prater, der Wiener Stephansdom, Schloss Schönbrunn und das Belvedere und die Ingredienzien für eine touristische Informationsbroschüre für Wien wären vorhanden. Interessanter erscheint vielmehr die Reminiszenz an das kaiserliche und hauptstädtische Wien, durchaus ein Anklang an die gemeinsame habsburgische Geschichte. Dies gilt auch für den Verweis auf Wien als Ausbildungsort und Universitätsstadt, das heißt das Hervorheben der Rolle, die Wien für Slowen*innen im 19. Jahrhundert und ohne Zweifel auch noch heute, wenngleich etwas eingeschränkter, innehat. In jedem Fall ist anzunehmen, dass die jeweiligen Nennungen und Auszeichnungen, die mit Dunaj zusammenhängen, durchdacht und sensibilisiert ausgewählt worden sind. Besonders hervorhebenswert ist der Phraseologismus (bzw. Spruch, Aphorismus)28 kdor hoče iti na Dunaj, mora pustiti trebuh zunaj, der keineswegs ein „lexikographisches Fossil“ darstellt, sondern im Slowenischen als sehr geläufig29 und verbreitet anzusehen ist. Die Bedeutung ist eindeutig und ausschließlich auf die Stadt Wien bezogen und spiegelt offenbar eine Art von historisch-kollektiver Erfahrung wider, wonach in Wien die Lebenserhaltungskosten30 aus einer slowenischen (vermutlich aber auch österreichischen) Perspektive sehr hoch sind. Der Spruch kdor hoče iti na Dunaj, mora pustiti trebuh zunaj gibt einen guten Grund, auf Fran Levstik (1831–1887), einen bekannten slowenischen Schriftsteller und Kulturschaffenden, zu verweisen, der 1858 die Erzählung Martin Krpan z Vrha/Martin Krpan und der Riese von Wien geschrieben hat. Dort geht es darum, dass der einfache slowenische Fuhrmann Martin Krpan aufgrund seiner übermenschlichen Kräfte vom Kaiser nach Wien gebeten wird, um die Stadt von dem Riesen Brdavs, der unter anderem des Kaisers Sohn getötet hat, 28 Als Sprichwort kann dies nach unserem Dafürhalten nicht bezeichnet werden, da die im Sprichwort modellierte Situation nur auf Wien und keine Übertragbarkeit auf eine ähnliche Situation zulässt. Interessanterweise ist dieser Spruch im Slovar slovenskih frazemov, 2011, nicht verzeichnet. 29 Vgl. dazu Meterc, 2017, 123, der diese Parömie unter den 300 geläufigsten des Slowenischen listet. 30 In diesem Zusammenhang ist auf die slowenischen Maronibrater (kostanjarji) zu verweisen, die bis in das 20. Jahrhundert hinein zum Wiener Straßenbild gehörten und als Wander- bzw. Saisonarbeiter (bzw. Hausierer) ihr wirtschaftliches Glück in Wien suchten (vgl. dazu Šega, 1997, die aus ethnologischer Perspektive diesem Phänomen auf den Grund geht und u.a. darauf verweist, dass die „slowenischen“ Maronibrater eigentlich eher als „allgemein südslawisch“ wahrgenommen wurden).

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zu befreien. Martin Krpan erledigt diesen Auftrag ordnungsgemäß und ohne Murren. Auch wenn er es sich dabei mit der Kaiserin verscherzt, da er eine Linde im kaiserlichen Hof fällt, um sich daraus eine entsprechende Waffe zu schnitzen, erhält er vom Kaiser als Lohn für seine Heldentat eine Lizenz für den Salzhandel. Die Erzählung (die im Übrigen in viele Sprachen übersetzt wurde), hat in der slowenischen Literaturgeschichte einen sehr prominenten Platz und lässt unterschiedliche Interpretationen zu. In Hinblick auf Wien wird in überzeichneter Weise die Bedeutung der Provinz für die kaiserlich-königliche Hauptstadt Wien31 dargestellt. Gleichzeitig versucht aber Krpan, durchaus schelmisch und bauernschlau, das Angebot des Kaisers nach Wien zu kommen, abzulehnen, indem er – in der Tat geschickt auf die Erfahrung der alten Leute verweisend – auf das teure Wien hinweist und in diesem Kontext das angesprochene kdor hoče iti na Dunaj, mora pustiti trebuh zunaj zur Anwendung bringt. Zu erwähnen ist, dass die Erfahrung des Schriftstellers eine durchaus ähnliche gewesen sein dürfte, da dessen Wienaufenthalt aufgrund finanzieller Not jäh unterbrochen wurde.32 Nach diesem Ausflug in die literarische Welt des 19.  Jahrhunderts ist zur ursprünglichen Frage nach den sprachlichen Repräsentationen eines „slowenischen“ Wiens zurückzukehren. In der lexikographischen Praxis stützt man sich im Idealfall auf ein Korpus von Texten, aus denen entsprechende Kontexte bzw. Beispielsätze extrahiert werden. Während in älteren Perioden (vor dem Einsatz von Computern) dies tatsächlich manuell durchgeführt wurde und angelegte Karteikarten und Texte durchforstet wurden, ist man heute in der Lage, automatisiert vorzugehen. Darüber hinaus sind auch die Methoden, die auf eine Kontextanalyse abzielen, mittlerweile statistisch verfeinert worden, sodass entsprechende Kollokationsmaße zur Verfügung stehen und somit Entscheidungshilfen über die Kontextstärke vorhanden sind. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein von entsprechenden Textsammlungen bzw. Korpora. 31 „Obwohl außer Zweifel steht, dass zwischen dem Hof und Krpan Gegensätze bestehen, die das Werk noch immer unter national-konstruktive, schwarz-weiß gezeichnete Texte einreihen (alles was Krpan tut, ist richtig, edel und gut, alles Wienerische ist fremd, falsch und unfunktionell), begnügt sich Levstik nicht mit dieser allzu vereinfachten Schematisierung des Weltbildes.“ (Mitrović, 2001, 220). Dieses Zitat gibt relativ gut wieder, dass diese Erzählung zumeist in schematischer Weise interpretiert wurde, wenngleich der Held Martin Krpan bei näherem Hinschauen trotz einer offen zur Schau gestellten Naivität die perfiden Mechanismen und Machtverhältnisse des Wiener Hofes sehr gut durchschaut. 32 Vgl. Medved, 1995, 79; Schellander/Obid, 2010, 19 bzw. Mitrović, 2001, 210 ff.

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Nun sollen abschließend, selektiv einige Kollokationen besprochen werden, die in Zusammenhang mit Dunaj von besonderem Interesse sind. Der Fokus liegt dabei auf charakteristischen, besonders häufig vorkommenden Wortverbindungen, die üblicherweise in der Korpuslinguistik als Kollokationen33 bezeichnet werden. Die grundlegende Idee ist es, semantische Relationen bzw. Assoziationen bis hin zu idiomatischen Verbindungen bzw. konzeptuelle Stereotypen zu identifizieren. Insofern ist diese kontextuelle Perspektive auf die Nachbarschaft tatsächlich eine Möglichkeit, die erweiterte Bedeutung bzw. Konzeptualisierung eines interessierenden Ausdrucks zu ergründen. In der allgemeinen Korpuslinguistik, die sich intensiv mit dieser Problematik (durchaus im Sinne einer Firthian tradition34) auseinandersetzt35, wurden eine Vielzahl von sogenannten Assoziationsmaßen diskutiert (MI – Mutual Information, unterschiedliche Log-Likelihood-Maße usw.36). Diese basieren zum Großteil auf beobachtbaren bzw. erwartbaren Häufigkeiten des gemeinsamen Auftretens von Lexemen, welche aber nicht aus der Vorkommenshäufigkeit des jeweils individuellen Lexems ableitbar sind. Insofern kann eine besonders spannende Kollokation gerade dann erwartet werden, wenn das Vorkommen einer Verbindung in diesem Sinne statistisch nicht vorhersehbar ist. Darüber hinaus ist auch die Spannweite, das heißt technisch gesprochen, wie viele Positionen links bzw. rechts eines Lexems in die Kollokationssuche einbezogen werden, von großer Bedeutung. Nach diesem kurzen Exkurs zu den methodologischen und konzeptuellen Eckpunkten ist nunmehr darzulegen, welche Resultate eine Analyse der Kollokationen von Dunaj [Wien] in einem modernen Korpus der slowenischen Sprache zu Tage bringt. Dieses Vorgehen erscheint als eine Möglichkeit abseits der lexikographischen Praxis (die wie bereits festgestellt in Bezug auf das untersuchte SSKJ [²2014] tatsächlich einem Blick in die Vergangenheit gleichzusetzen ist) den Ist-Zustand zu erfassen, mit welchen anderen Lexemen Dunaj 33 An dieser Stelle werden unter Kollokation alle Arten von mehr oder weniger stabilen Wortverbindungen verstanden, wenngleich üblicherweise durchaus gerechtfertigterweise Kookkurrenzen, feste Wortverbindungen bzw. unterschiedlich starke (stabile) idiomatische Wortverbindungen unterschieden werden. 34 John R. Firth war ein englischer Linguist, der sich besonders mit der distributionellen Semantik beschäftigte. Dem Kontext eines Wortes, in dem es vorkommt, wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet, was (späteren) korpus- und computerlinguistischen Ansätzen sehr entgegengekommen ist. 35 Vgl. dazu Evert, 2005, und Evert, 2008. 36 Vgl. dazu den Überblick in Kolesnikova, 2016, die auch näher auf die statistischen Methoden eingeht.

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im aktuellen Kontext im Slowenischen in Verbindung gebracht werden kann. Dass es tatsächlich ein Ist-Zustand ist, ist durch das von uns herangezogene Korpus, das Korpus Gigafida,37 gewährleistet. Dieses ist das aktuell umfangreichste, frei zugängliche Referenzkorpus38 des Slowenischen. Das Korpus, welches Texte der slowenischen schriftlichen Standardsprache beinhaltet, besteht aus über 1,2 Milliarden Wortformen. Der Erfassungszeitraum erstreckt sich auf den Zeitraum von 1990 bis 2011. Das Korpus besteht zu über 75 Prozent aus journalistischen Texten (der Rest verteilt sich auf unterschiedliche, unter anderem auch literarische Texte) und ist vollständig lemmatisiert, hinsichtlich der darin vorkommenden Wortarten annotiert und verfügt darüber hinaus über eine integrierte Möglichkeit einer Kollokationsanalyse. Der Fokus auf journalistische Sprache bzw. die Sprache der Medien erweist sich für die hier vorgenommene Analyse als Vorteil, da damit der aktuelle öffentliche Diskurs abgebildet wird. Kommen wir zu einigen Ergebnissen der extrahierten Kollokationen, die sich ausgehend von Dunaj ergeben. Dunaj selbst kommt im Korpus 63.213-mal vor – im Vergleich dazu, und um eine Relation herzustellen, kommt Rim [Rom] 62.129-, während Zagreb 81.009- und Budimpešta [Budapest] 18.435-mal vorkommen. Darin spiegelt sich – mit aller Vorsicht ausgedrückt – offenbar vor allem die mediale Präsenz, die die Hauptstädte der Nachbarstaaten Sloweniens bekommen, wider. De facto teilen sich Rom und Wien den zweiten Platz, während Zagreb doch merklich häufiger genannt wird. Da es uns bewusst um eine grobe lexikalische Analyse geht, wird die Spannweite +/- 5 gewählt, das heißt, es werden jeweils fünf Positionen sowohl links als auch rechts von Dunaj berücksichtigt. Als durchaus erwartbare Ergebnisse sind unter anderem folgende anzusehen: na Dunaj, v Dunaju, Dunaj in als Teil einer Aufzählung von weiteren Hauptstädten (Ljubljana, Dunaj, Gradec, …) und die Erwähnung des Wiener Börsenindex ATX (daran zeigt sich gut, dass das verwendete Korpus vor allem auf Tageszeitungen basiert). Abgesehen von diesen erwartbaren Fällen springen einige Kollokationen ins Auge, die eine interessantere Einschätzung des „Assoziationsfeldes“ von Dunaj zu Tage bringen. Um zwar sind das nach

37 http://www.gigafida.net/, letzter Zugriff: 07.03.2022. 38 Die Entstehungsgeschichte und die Zusammensetzung von Gigafida ist in Logar Berginc et al., 2012 ausführlich beschrieben.

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unserem Dafürhalten39 Fälle40 wie študirati [studieren], cesarski [kaiserlich], muzej [Museum], študij [Studium], dvoranski [höfisch], univerza [Universität], akademija [Akademie], Korotan [Korotan], središče [Mittelpunkt] und center [Zentrum], die hervorzuheben sind. Wien ist somit weiterhin – man erinnere sich an dessen Bedeutung als Hauptstadt des Habsburgerreiches – vor allem sprachlich verankert als Metropole, insbesondere in Hinblick als zentraler Ort einer universitär-akademischen Ausbildung, aber auch als kulturelles Zentrum. Dass es Korotan (es ist tatsächlich das Hotel bzw. Studierendenheim gemeint, wie eine stichprobenartige Überprüfung zeigte) in diese Liste geschafft hat, ist offenbar vor allem der Tatsache geschuldet, dass der in den 90er Jahre vollzogene Besitzwechsel bzw. damit aufgetretene juristische Probleme breit in den slowenischen Medien als Fall einer unglücklichen und ungewöhnlichen Verstaatlichung diskutiert wurde. Dies hat somit auch entsprechende Spuren im untersuchten Korpus hinterlassen. Davon abgesehen erschließt sich aus einem synchronen Korpus vor allem eine konzeptuelle Stereotypisierung von Dunaj als kaiserlich-höfische Hauptstadt, welche aus einer slowenischen Perspektive als historische Reminiszenz anzusehen ist. Natürlich kann sich dahinter aber auch ein gewolltes Bild verstecken, welches von Wien ausgehend, insbesondere im touristischen Kontext, bewusst lanciert wird. Freilich müssen diese Befunde in Zukunft noch im Detail geprüft und diskutiert werden, aber tatsächlich lassen sich bestimmte Verfestigungstendenzen feststellen, die letztlich wohl ein durchaus positiv-konstruktives Assoziationsfeld von Dunaj im heutigen Slowenischen erblicken lässt.

5. ZUSAMMENFASSUNG

Die Vielfältigkeit der Behandlungsmöglichkeiten von Slowenisch/Slowen*innen in Wien machte eine bestimmte Fokussierung nötig. Sowohl aus einer historischen als auch synchronen Perspektive spielt Wien für Slowen*innen eine wichtige historische, kulturelle, ökonomische und intellektuelle Rolle. Wie gezeigt werden konnte, kann in dieser Hinsicht eine durchaus bemerkenswerte 39 Der Nachvollziehbarkeit halber ist erwähnt, dass sich unsere Analyse auf die einhundert häufigsten Kollokationen bezieht, die sich aufgrund des LL-Wertes (loglikelihood), der bei Kollokationsanalysen im Gigafida angegeben wird, ergibt. 40 Angegeben werden im Folgenden die jeweiligen Lemmata. Dies wird im Gigafida bei den Kollokationsanalysen in dieser Form so zur Verfügung gestellt.

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Kontinuität festgestellt werden. Dabei stehen bekannte Darstellungen, die sich mit einem „slowenischen Wien“ beschäftigen, in kaum einem Widerspruch zu in sprachlichen Texten empirisch erfassbaren Assoziationsfeldern, die mit Dunaj im heutigen Slowenisch in Zusammenhang gebracht werden. Als Desiderat für die zukünftige Forschung wäre die Untersuchung der semantischen Assoziationsfelder Slowen*innen bzw. Slowenisch im heutigen österreichischen Deutsch zu nennen, deren Beantwortung erst ein vollständiges Bild der hier zugrunde gelegten Themenstellung liefern können wird. In jedem Fall erweisen sich Kollokationsanalysen als ein taugliches Instrumentarium, um in Sprachen kodierte „Beziehungsmuster“ aufzudecken und aufzuzeigen. Literaturverzeichnis

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Slowenisch/Slowen*innen in Wien

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DAS BILD DER SÜDSLAWISCHEN SPRACHEN UND IHRER SPRECHER*INNEN IN WÖRTERBÜCHERN DES WIENERISCHEN Agnes Kim1

Ein Zitat sagt oft mehr als tausend Worte – manchmal auch zu viele. Daher wird der folgende, 1902 publizierte Wörterbuchartikel aus dem Deutschen Wörterbuch nicht als Motto vorangestellt, sondern als direktes Zitat eingebettet. An ihm lässt sich gut zeigen, wie in der Folge in Wörterbüchern abgebildete Wissensbestände analysiert werden: SLAVE, m., s. sklave.2 Der Wörterbuchartikel besteht aus nur drei Angaben, der sogenannten Lemmazeichen(gestalt)angabe („SLAVE“), einer grammatischen Angabe zum Genus und damit auch zur Wortart („m.“), sowie einer Verweisangabe („s. sklave“), mit der auf einen anderen Wörterbuchartikel verwiesen wird, unter dem das gesuchte Lemma (mit-)behandelt wird. Gleichzeitig wird eine inhaltliche Äquivalenz zwischen diesen beiden Lemmata impliziert und damit im vorliegenden Fall ein Bild von Slav*innen als Leibeigenen oder zumindest soziodemographisch inferioren Personen (re-)produziert. Auch der Artikel zum Lemma Sklave verändert diesen Eindruck nicht: Eine im weiteren Sinn ethnische (Haupt-)Bedeutung von Slawe/Slave als „Angehöriger einer in Ost-, Südost- und Mitteleuropa verbreiteten Völkergruppe“3 wird nicht als solche verzeichnet, sondern nur im Kontext der etymologischen Angabe eingeflochten. 1

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderten Teilprojekts Deutsch und slawische Sprachen in Österreich: Aspekte des Sprachkontakts (F 6006-G23, PPL: Stefan Michael Newerkla) des SFB „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“ erarbeitet. Dank gilt Stefan Michael Newerkla, Manfred Glauninger und Wolfgang Koppensteiner, für verbleibende Unzulänglichkeiten ist allein die Autorin verantwortlich. 2 Deutsches Wörterbuch, s.v. slave (Bd. 16, Sp.  1334), www.woerterbuchnetz.de/ DWB/slave, letzter Zugriff: 10.12.2021. 3 Duden online, s.v. Slawe, https://www.duden.de/node/167526/revision/504446, letzter Zugriff: 09.12.2021, vgl. auch das elektronische Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, das die Zugehörigkeit „zur indoeuropäischen Sprachfamilie“

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Außerdem wird sie in den Bedeutungsparaphrasen wie folgt mit dem Merkmal sozialer Inferiorität verschnitten: „eigentlich leibeigener Slave, dann allgemein leibeigener knecht [sic!].“4 Das Deutsche Wörterbuch ist natürlich im historischen Kontext seiner Entstehungszeit zu lesen. Das Beispiel zeigt aber gut, in welcher Form Wörterbücher und Wörterbuchartikel Bilder und Geschichten nicht nur zu Wörtern (einem sprachlichen Zeichen aus Form und Bedeutung), sondern auch zu dem durch sie Bezeichneten (der außersprachlichen Referenz) evozieren, und dadurch Stereotype nicht nur (re-)produzieren. Ausgehend von diesem Umstand, der in Abschnitt 1 theoretisch unterfüttert wird, analysiert der vorliegende Beitrag das Bild der südslawischen Sprachen und ihrer Sprecher*innen in Wörterbüchern des Wienerischen, um die Frage zu klären, ob und wie über dieses Medium die südslawische Geschichte Wiens in die Gegenwart vermittelt wird. Dazu werden insgesamt 25 Wörterbücher des Wienerischen, die zwischen 1800 und 2018 erschienen sind (vgl. Abschnitt 2), nach Lemmata durchsucht, die entweder als Lehnwörter aus südslawischen Sprachen markiert sind oder südslawische Sprachen, Regionen/ Staaten oder ihre Sprecher*innen/Bewohner*innen bezeichnen. Die Summe dieser Lemmata wird in der Folge als das Südslawische im Wienerischen (Süd­ SliW) im weiteren Sinne bezeichnet.5 Dessen Analyse erfolgt in zwei Schritten – einem, der mittels explorativer und deskriptiver statistischer Methoden die Daten ordnet und beschreibt (vgl. Abschnitt 3), sowie einem zweiten, der anhand von Personenbezeichnungen (z.B. der Lemmata Kroate, Husar oder Tschusch) kulturelle Bilder des südslawischen Wiens sowie die zugehörigen Wissensbestände identifiziert und versucht, diese auf ihre Ursprünge zurückzuführen (vgl. Abschnitt 4). Im Kontext des Gesamtbandes ermöglicht der Beitrag das Verhältnis der über Wörterbücher vermittelten Bilder und Wissensbestände zum südslawischen Wien der Gegenwart zu hinterfragen.

4 5

hinzufügt: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, s.v. Slawe, https://www. dwds.de/wb/Slawe, letzter Zugriff: 09.12.2021. Deutsches Wörterbuch, s.v. sklave (Bd. 16, Sp.  1309), www.woerterbuchnetz.de/ DWB/sklave, letzter Zugriff: 10.12.2021. Das SüdSliW im engeren Sinne bestehend aus Lemmata, deren südslawische Etymologie als gesichert gelten kann oder deren Bedeutungen tatsächlich mit südslawischen Sprachen verknüpfte Entitäten oder Personen bezeichnen, kann nur als Ergebnis einer in Kim, 2022, zu unternehmenden Analyse ermittelt werden. Das SüdSliW im weiteren Sinne, wie der Begriff, wenn nicht anders spezifiziert, gebraucht wird, ist eine durch das Untersuchungskorpus determinierte Größe.

Das Bild der südslawischen Sprachen und ihrer Sprecher*innen

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1. VON METALEXIKOGRAPHIE ZU DISKURSANALYSE: GRUNDANNAHMEN DES BEITRAGS

Wörterbücher sind sowohl in Bezug auf ihre Produktion als auch ihre Konsultation in soziokulturell prädeterminierte Prozesse eingebunden. Dadurch handelt es sich bei ihnen um kulturelle Artefakte, die gleichzeitig auch andere kulturelle Entitäten reflektieren sowie kraft ihrer Autorität6 fortschreiben. Dies gilt in nicht nur für monolinguale, gesamtsprachliche Wörterbücher (wie etwa den Duden oder das Österreichische Wörterbuch), sondern auch für Dialektwörterbücher, die vermittels der Sammlung dialektaler Lexik einen lokalen bzw. regionalen Wortschatz im Sinne der „Namen aller distinktiven (konkreten wie abstrakten) Entitäten“ einer Kultur zugänglich machen, tradieren und gleichzeitig festschreiben.7 Aufgrund dieser Rückkopplung von Wörterbüchern und „Kultur“ sind aus analytischer Sicht zwei Richtungen möglich, die im vorliegenden Beitrag Berücksichtigung finden:8 • Einerseits muss der kulturelle Zusammenhang, in dem ein Wörterbuch entstanden ist, bekannt sein, um es adäquat verwenden und/oder hinsichtlich seines Zwecks, Wörterbuchgegenstands oder der konkreten Textgestaltung und Lemmaselektion analysieren zu können. Ein solcher Zugang fokussiert das Wörterbuch als Untersuchungsgegenstand und ist damit ein metalexikographischer. • Andererseits ist es umgekehrt möglich, basierend auf Wörterbüchern als Untersuchungskorpus Rückschlüsse auf kulturelle Entitäten, ihre Konzeptualisierung und (Be-)Wertung zu gewinnen. Diese Richtung steht der ethnographisch orientierten, kognitiven Linguistik nahe. Eine solche Subdisziplin hat sich im Anschluss an das Konzept des „sprachlichen Weltbilds“ entwickelt. Dieser Begriff meint die in eine Sprache eingeschriebene Interpretation der Wirklichkeit bzw. eine Zusammenfassung von Urteilen über die Welt, wie sie in grammatischen Formen, im Wortschatz und insbesondere der Phraseologie abgebildet ist,9 und steht damit Ideen nach 6

7 8 9

Dieser Autoritätscharakter wird insbesondere in US-amerikanischer, metalexikographischer Literatur hervorgehoben bzw. diskutiert, vgl. etwa Adams, 2015; aber auch im gegenwärtigen europäischen Kontext schreiben ca. 37 Prozent der von Kosem et al., 2018, 105, befragten Personen monolingualen, gesamtsprachlichen Wörterbüchern große, gesamtgesellschaftliche Reichweite und Autorität zu. Abgewandelt nach Considine 2008, 15. Vgl. Fishman, 1995, 29. Vgl. Vaňková et al., 2005, 51–52.

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Humboldt oder Sapir/Whorf (auch linguistischer Relativismus oder Determinismus) nahe, in denen Sprache als „Bedingung der Möglichkeit des Denkens und Erkennens, und damit […] auch des Wissens“ sowie als „Mittel der Sachverhaltskonstituierung“ verstanden wird.10 Der vorliegende Beitrag geht jedoch darüber hinaus, „kulturtypische Wirklichkeitszuschnitte zu verfolgen“. Stattdessen wählt er einen diskurslinguistischen Zugang, in dessen Fokus „auf dem Weg zum Verstehen des Wissens vielmehr die sprachlich Handelnden selbst als machtgebende Instanzen der Produktion sprachlicher Aussagen“ stehen.11 In der Diskursanalyse kommt also der Ebene der Akteur*innen neben der Analyse der intratextuellen und transtextuellen Ebene ein prominenter Platz zu: Sie sind es, die ihr (kulturelles) Wissen in den Texten abbilden und durch diese vermitteln. Allerdings treten sie gerade bei Wörterbüchern oft deutlich hinter ihr Werk zurück. Daher wird in metalexikographischen Untersuchungen auf intratextuelle Analysemethoden zurückgegriffen, um Rückschlüsse auf die den jeweiligen Produktionsprozessen zugrunde liegenden Überlegungen, Vorgaben und Entwicklungen zu gewinnen.12 Im vorliegenden Beitrag wird ein solches Verfahren auf die transtextuelle Analyseebene übertragen: Sämtliche Wörterbücher des Wienerischen werden als den lexikographischen Diskurs zu diesem Gegenstand konstituierend und diesen (re-)präsentierend verstanden.

2. DATENQUELLEN UND DATENAUFBEREITUNG

Die Daten für die vorliegende Analyse stammen aus einem Korpus, das Wörterbuchartikel zu nach der obigen Definition zum „Slawischen im Wienerischen“ zählenden Lemmata aus insgesamt 25 Wörterbüchern des Wienerischen umfasst.13 Die Selektion der Lemmata erfolgte ausgehend von vier ausgewählten Wörterbüchern,14 die nach (Teilen von) Glottonymen für slawische Sprachen (z.B. kroat für „kroatisch“) oder Toponymen für (auch) slawischsprachige Regionen (z.B. mähr für „Mähren“) durchsucht wurden. Basierend auf allen Wörterbuchartikeln, die ein solches enthielten, wurde durch Zusammenfassen von Derivaten und Komposita zu einer Grundform eine Lemmaliste von insgesamt 274 Lemmata erstellt. 10 11 12 13 14

Vgl. Spitzmüller/Warnke, 2011, 44. Vgl. ebd., 46. Vgl. z.B. Coleman/Ogilvie, 2009. Dieses Korpus wurde für die Dissertation der Verfasserin, Kim, 2022, erstellt. Jakob, 1929; Schuster/Schikola, 1996; Hornung/Grüner, 2002; Sedlaczek, 2011.

Das Bild der südslawischen Sprachen und ihrer Sprecher*innen

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Nach Wörterbuchartikeln zu diesen Lemmata sowie zu von ihnen abgeleiteten Lemmata (in der Folge Formen [eines Lemmas]) wurden sämtliche 25 Wörterbücher manuell durchsucht und die entsprechenden Resultate mittels des online Wörterbucheditors Lexonomy15 in ein XML-Format übertragen. Dieses ist hierarchisch nach Lemma (wie von der Bearbeiterin in der Lemmaliste angesetzt, z.B. Jause), Form (wie in den untersuchten Wörterbüchern als Lemmata angesetzt, z.B. Jausengegner) und ‚Bedeutung‘ (wie aus den Wörterbüchern erschließbar, z.B. ‚schwacher Gegner im Sport‘) ausgearbeitet. Für den vorliegenden Artikel wurden ausschließlich Lemmata ausgewählt, zu denen mindestens ein Wörterbuchartikel existiert, der auf ein Glotto- oder Toponym aus dem südslawischen Raum verweist, wobei Slowenisch, Bosnisch, Serbisch und Kroatisch für das Korpus von Relevanz sind. Das entsprechende Online-Wörterbuch zum SüdSliW, das sämtliche diesem Artikel zugrunde liegenden Daten umfasst, ist online auf Lexonomy zugänglich.16 Ausgangspunkt für die Analysen ist eine aus dem XML-Dokument gewonnene Matrix, die für jede Bedeutung mit 0 für „nicht vorhanden“ und 1 für „vorhanden“ markiert, in welchem Wörterbuch sie verzeichnet wird. Zweite (oder spätere) Auflagen von Wörterbüchern, die sich in Bezug auf die analysierte Datenbasis exakt mit den ersten Auflagen decken,17 wurden eliminiert, andere, die sich von der Erstauflage (minimal) unterscheiden, blieben im Datenset erhalten.18 Insgesamt handelt es sich um 182 Bedeutungen zu 100 Formen und 24 Lemmata.

3. STATISTISCHE EXPLORATION DER DATEN

Die Strukturierung des Materials erfolgte unter Zuhilfenahme einer hierarchischen Clusteranalyse19 zur Identifikation von Ähnlichkeitsstrukturen zwischen den Bedeutungen von Lemmata, die in den untersuchten Wörterbüchern das SüdSliW repräsentieren. Mithilfe dieses Verfahrens konnten vier Cluster iden-

15 16 17 18 19

Vgl. Měchura, 2017; https://www.lexonomy.eu/, letzter Zugriff: 09.12.2021. Vgl. https://www.lexonomy.eu/SuedSliW/, letzter Zugriff: 09.12.2021. Sonnleitner, 1824; Schuster, 1985; Teuschl, 2007; Wehle, 2012. Hauenstein, 1978; Hornung/Grüner, 2002. hclust, euklidisches Distanzmaß, Ward-Verfahren (ward.D2), durchgeführt in R (R Core Team, 2021) unter Verwendung von WeightedCluster (Studer, 2013) zur Evaluation der Clusterlösungen und ggplot2 (Wickham, 2016) für die Visualisierungen.

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Abb. 1: Charakterisierung der Cluster A–D.

tifiziert werden.20 Zur Evaluation des heuristischen Werts der Clusterlösung sowie zur Beschreibung der Cluster wurden mit dem ersten bzw. letzten Vorkommen in einem Wörterbuch des Korpus (in Jahren vor 2020), der Vorkommensdauer (in Jahren) sowie der Anzahl der Vorkommen (in Anzahl der Wörterbücher) vier potentielle Einflussvariablen identifiziert, über die die Cluster in der Folge beschrieben werden (vgl. Abb. 1 und Tab. 2 im Anhang). • Cluster A umfasst 58 von 182 Bedeutungen (32 Prozent) und ist damit das größte. Von den zugehörigen Bedeutungen werden die meisten nur von einem einzigen Wörterbuch verzeichnet und weisen dementsprechend auch die niedrigste Vorkommensdauer auf. Ihr erstes bzw. letztes Vorkommen verteilt sich jedoch über den gesamten Untersuchungszeitraum, wodurch es sich deutlich von den anderen drei Clustern unterscheidet, deren Bedeu20 Diese 4-Cluster-Lösung ist im Vergleich zu anderen Lösungen am besten in der Lage, die zugrunde liegende Distanzmatrix zu reproduzieren (Point Biserial Correlation [PBC] = 0,58; vgl. Studer, 2013, 13).

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tungen bis (fast) in die Gegenwart belegt sind. Es handelt sich damit um die Peripherie des SüdSliW, die in der Folge nicht näher beleuchtet wird. • Cluster B ist mit 25 Bedeutungen (14 Prozent aller Bedeutungen) deutlich kleiner. Es beinhaltet Bedeutungen, die vor rund 50 Jahren zum ersten Mal sowie vor rund zehn Jahren zum letzten Mal und in diesem Zeitraum von durchschnittlich 5,8 Wörterbüchern belegt werden. Damit ist dieses Cluster für die aktuelle (Re-)Präsentation des SüdSliW zentral, umfasst aber Bedeutungen, die sich wahrscheinlich um die Mitte des 20. Jahrhunderts konstituiert haben. • Cluster C ist das zweitgrößte und enthält im Gegensatz dazu 53 Bedeutungen (29 Prozent), die größtenteils erst vor 22 Jahren zum ersten Mal und danach nur noch von rund drei weiteren Wörterbüchern angegeben wurden. Es unterscheidet sich demnach von den anderen beiden bis in die Gegenwart belegte Bedeutungen umfassenden Clustern auch durch die kurze Vorkommensdauer, weshalb es wie Cluster A als peripher erachtet wird. • Cluster D wurden mit 20 (11  Prozent) die wenigsten, aber auch die am längsten (durchschnittlich 144 Jahre) und häufigsten (von ca. 9 Wörterbüchern) angeführten Bedeutungen zugeordnet. Diese können damit als zentral für das gegenwärtige, aber auch das historische Bild des SüdSliW charakterisiert werden. Die beiden für das SüdSliW und seine Repräsentation in Wörterbüchern zentralen Cluster B und D stellt Abbildung 2 in Bezug auf ihr Vorkommen in den Wörterbüchern gegenüber. Sie bestätigt, dass Cluster B für das gegenwärtige Bild des SüdSliW entscheidender, Cluster D jedoch sowohl für das gegenwärtige als auch das historische von zentraler Bedeutung ist. Darüber hinaus ermöglicht die Darstellung, Wörterbücher zu identifizieren, die für die entsprechenden Cluster konstitutiven Charakter haben. In Bezug auf Cluster B ist es das 1972 bzw. 1978 in zweiter Auflage erschienene Wörterbuch des Wienerlieddichters Hans Hauenstein (1912–1989),21 in denen die meisten Bedeutungen verzeichnet werden. Sämtliche Bedeutungen aus Cluster D sind hingegen spätestens im 1929 erschienenen Wörterbuch von Julius Jakob (1857–1941) enthalten, dessen Autor laut Angaben in der Todesanzeige Oberkorrektor der Neuen Volks-Zeitung sowie Mitarbeiter des Duden war.22 Zur Charakterisierung der beiden näher beleuchteten Cluster trägt ein Blick in die Vorwörter dieser beiden Wörterbücher im Hinblick auf die Explikation 21 Vgl. Wien Geschichte Wiki, 2021, s.v. Hauenstein. 22 Vgl. Kleine Volks-Zeitung, 04.10.1941, 7.

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Abb. 2: Gegenüberstellung der Cluster B und D (x-Achse: zugeordnete Bedeutungen [nicht beschriftet], y-Achse: Wörterbücher nach Erscheinungsdatum [v.l.n.r.], Farbcode: dunkelgrün … verzeichnet, hellgrün … nicht verzeichnet).

ihres Wörterbuchgegenstandes und ihrer angedachten Funktion bei. Letztere besteht bei Hauenstein insbesondere in der Dokumentation von „urwüchsigen Dialektwörtern“, die aus dem „Herzensbedürfnis“ des Autors motiviert wird.23 Die Rezipient*innen werden erst zum Schluss des Vorworts erwähnt – ihnen soll der Band primär „Freude“ bereiten.24 Jakob wendet sich hingegen gleich eingangs „an alle Wiener, welche ihre Mundart, die Volkssprache, nicht als etwas Verächtliches Gemeines, als eine bloße Verhunzung des guten Deutsch betrachten“.25 Damit schließt sich sein Wörterbuch an jene aus dem 19. Jahrhundert an, deren Funktion in der Repräsentation und Konstitution des Wienerischen als eigenständiger Varietät besteht. Jakob setzt es sich auch zum Ziel, „die Sprache des Mannes aus dem Volke festzuhalten und nicht die der letzten Schichten, die mehr für den Kriminalisten von Belang ist“, und erhebt damit den Anspruch, tatsächlich gesprochene Sprache einer abgrenzbaren sozialen 23 Hauenstein, 1978, 5. 24 Ebd., 8. 25 Jakob, 1929, 3.

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Schicht zu repräsentieren.26 Hauenstein hingegen möchte nicht nur die „Wienersprache, so wie sie im täglichen Umgang“ vorkommt, sondern auch jene aus „unzähligen Wienerliedern“, also einer sekundären, künstlerischen Repräsentation dokumentieren.27 Überdies bezieht er im Gegensatz zu Jakob auch Jargon bewusst mit der folgenden Begründung in seinen Dialektgegenstand mit ein: Würde man nur Dialektwörter des „Schönbrunner-Wienerisch“ (Nobel-Wienerisch) verwenden und auf das derbe, dafür aber manchmal sehr originelle „Weanarisch“ der Straße verzichten, so würde mancher Kraftausdruck verloren sein und eine Vollständigkeit wäre anzuzweifeln.28

Diese Gegenüberstellung stützt die Charakterisierung der beiden Bedeutungscluster, die den Kern des SüdSliW bilden. Clusters D besteht aus Wortbedeutungen mit historischer, bedingt bis in die Gegenwart reichender alltagssprachlicher Relevanz, die es bei Interesse an der Konstitution des Wienerischen als abgrenzbarer Varietät aufzuzeichnen gilt. Die Relevanz der in Cluster B befindlichen Bedeutungen reicht hingegen über die Alltagssprache hinaus in den Bereich der (Populär-)Kunst. In dieser erhalten bestimmte sprachliche Elemente im Laufe des 20. Jahrhunderts indexikalische Funktion – sie spielen also in der Konstruktion der sozialen Bedeutung des Wienerischen eine entscheidende Rolle.29

4. DIE REPRÄSENTATION DES SÜDSL AWISCHEN IN WÖRTERBÜCHERN DES WIENERISCHEN

Die 45 Bedeutungen der beiden näher untersuchten Cluster sind 19 der insgesamt 24 Lemmata des SüdSliW zuzurechnen (vgl. Tab. 1). Die beiden Cluster überschneiden sich hinsichtlich dieser Lemmata zu einem großen Teil. Gleichzeitig unterscheiden sie sich aber deutlich in Bezug auf das Verhältnis von Lemmata zu Formen und damit einhergehend auch von Lemmata zu Bedeutungen: Während in Cluster D auf ein Lemma durchschnittlich nur 1,29 For26 27 28 29

Ebd., 4. Hauenstein, 1978, 8. Ebd., 7. Vgl. z.B. Glauninger, 2012.

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men bzw. 1,43 Bedeutungen kommen, sind es in Cluster B 2,09 Formen bzw. 2,27 Bedeutungen pro Lemma. Cluster D

beide

Cluster B

Dostig

Jause

Baraber

Hadschiloja

Kraxe

Juri

Husar

Kroate

Keusche

Kritsch

Plätsche

Kukuruz

Pockerl

Pogatsche

Tschusch

Schwabe

Raz

Sliwowitz Stanitzel Cluster D

Cluster B

Lemmata

14

11

Formen

18

23

Bedeutungen

20

25

Tab. 1: Lemmata, denen Bedeutungen aus Cluster D und B zugeordnet werden inkl. quantitativem Überblick (Fettsatz: Lemmata, die in mehr als einem nach 2010 in Erstauflage erschienenen Wörterbuch enthalten sind).

Dieses Verhältnis lässt sich gut anhand der Cluster D bzw. B zugerechneten Bedeutungen (und damit einhergehend Formen) des Lemmas Jause illustrieren. Bei diesem handelt es sich um eine frühe, spätestens im 12. Jahrhundert erfolgte Entlehnung aus dem slowen. južina oder južna ‚Mittagessen‘. Dieses Wort wird wiederum von urslaw. jugъ ‚Süden‘ abgeleitet. Im Wiener Raum ist es erst später, aber immerhin seit dem 16. Jahrhundert belegt.30 Zu Cluster D zählt nur die Bedeutung ‚Zwischenmahlzeit am Nachmittag‘ der Form Jause (Substantiv, f.), die daher für das Wienerische wohl als „Grundbedeutung“ zu klassifizieren ist; auf das Lemma kommen somit im Cluster D je eine Form und eine Bedeutung. In Cluster B finden sich jedoch zu Jause vier Bedeutungen zu den folgenden vier verschiedenen Formen: Jause (Substantiv, f.; ‚Zwischenmahlzeit allgemein‘), jausnen (Verb; ‚Zwischenmahlzeit im Allgemeinen zu sich nehmen‘), Jausengegner (Substantiv m.; ‚schwacher Gegner [im Sport]‘) und Zehnerjause (Substantiv, f. ‚Gabelfrühstück‘). 30 Vgl. Steinhauser, 1978, 120–122; Pohl, 2005, 140–141; Kluge, 2012, s.v. Jause; Pfeifer, 1993, s.v. Jause.

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Erklärungen für dieses Verhältnis von Cluster D zu Cluster B sind mannigfaltig: Bedeutungswandel (‚Zwischenmahlzeit am Nachmittag‘ > ‚Zwischenmahlzeit allgemein‘), die (Neu-)Integration slawischer Lehnwörter sowie ihrer Derivate (jausnen) bzw. Komposita (Jausengegner) in den Wortschatz des Wienerischen und auch die Entwicklung der Textsorte Wörterbuch spielen eine Rolle. Ein bedeutender Faktor dürfte jedoch auch der Prozess der Indexikalisierung – nicht nur (süd-)slawischer – lexikalischer Elemente im Hinblick auf das soziale Zeichen „Wienerisch“ sein: Ihre Aufnahme in Wörterbüchern geschieht nicht nur primär zur Dokumentation des Sprachgebrauchs, sondern im Rahmen der Konstruktion dessen, was alles spezifisch wienerisch ist, wodurch auch kulturelle Praktiken – wie etwa das ‚Gabelfrühstück‘ als Zehnerjause – miteingeschrieben werden. In der Folge sollen diese Prozesse anhand ausgewählter Personen- und Gruppenbezeichnungen aus den in Tabelle 2 dargestellten Lemmata nachvollzogen werden. Diese Gruppe eignet sich insofern besonders gut, als es sowohl zwei solche Lemmata gibt, deren Bedeutungen in beiden Clustern vorkommen (Kroate, Raz), als auch jeweils zwei ausschließlich aus Cluster D (Husar, Schwabe) und Cluster B (Baraber, Tschusch). Lemmata aus beiden Clustern – Von Kroaten und Ra(i)zen (= Serb*innen) in Wien

Die ausgewählten, in beiden Clustern mit Bedeutungen vertretenen Lemmata sind Ethnonyme für südslawische Sprachen sprechende Bevölkerungsgruppen. Das Lemma Kroate ist in Wörterbüchern des Wienerischen primär in der phonetischen Form [g̥ ʀɔˈvɔːd̥] – hier repräsentiert als standardsprachlich Kroate – belegt, die auf die ältere, im 15. und 16. Jahrhundert auch geschriebene Form Krabat, Krabate verweist, während die heutige standardsprachliche Form durch lat. croat- vermittelt wurde.31 Die Herleitung des Etymons hrv. hrvat, aber auch mit Vokal in der Stammsilbe in den westslawischen Sprachen wie etwa č. chorvat, älter charvát, selbst ist umstritten.32 31 Vgl. Deutsches Wörterbuch, s.v. krabat (Bd. 11, Sp. 1908), www.woerterbuchnetz. de/DWB/krabat, letzter Zugriff: 11.11.2021. 32 Neben Versuchen, es als Erbwortschatz zu klassifizieren und aus dem Baltoslawischen herzuleiten (< urslaw. *chъrvъ ‚Horn, gehörnt‘, vgl. Schuster-Šewc, 1990) gibt es etwa auch Ansätze, die es als iranisches (< iran. harvat- ‚weiblich‘, vgl. Gluhak, 1990, der die Semantik mit den matriarchalen Strukturen von Völkern am Asowschen Meer erklärt) oder turksprachliches (< türk. chər-vat ‚freier Kämpfer‘,

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Cluster D wurden zwei Bedeutungen des Lemmas und der gleichlautenden Form Kroate (Substantiv, m.) zugewiesen, nämlich einerseits die von zwölf Wörterbüchern (sowie fünf Neuauflagen) verzeichnete allgemeinsprachliche ‚Kroate, Person aus Kroatien‘33 und andererseits die auf einen spezifischen kulturgeschichtlichen Hintergrund verweisende Bedeutung ‚Wanderhändler mit verschiedenen Waren (insbesondere Holzwaren oder Grünzeug)‘, die von immerhin sechs Wörterbüchern (und drei Neuauflagen) angegeben wird. Als solche haben Kroaten*innen auch Einzug in das Repertoire der „Wiener Typen“34 gehalten. Dabei handelt es sich um eine „stereotypisierende und ikonografisch stabile“ Form der bildlichen Darstellung von für das „Alt-Wiener“ Stadtbild spezifischen Figuren,35 wie sie ab 1870 populär wurde und dazu diente, in einer Epoche der durch Industrialisierung und Modernisierung bedingten tiefgreifenden Veränderungen, den („eigentlichen“, vormodernen) Charakter der Stadt zu repräsentieren.36 In diesem Kontext ist die Gruppenbezeichnung Kroate nicht immer eindeutig von jener der Slowaken abgrenzbar,37 ein Umstand, der unter anderem darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sich das Siedlungsgebiet von Kroat*innen und Slowak*innen in einem der zentralen Herkunftsräume dieser Händler*innen – dem Marchfeld und der Westslowakei38 – überschnitt. Cluster B werden vier Bedeutungen zugewiesen: Der Zwiebelkroate (phonet. [ˈt͡sviːfəg̥ʀɔˌvɔd̥]) ‚(Wander-)Händler von Zwiebel und anderem Gemüse‘39 verweist auf denselben kulturgeschichtlichen Hintergrund wie die oben genannte zweite Bedeutung des Basiswortes. Schuster beschreibt ihn etwa als „längst verschollene Wr. Straßenfigur“ sowie als „aus der Slowakei stammenden Wanderhändler“, der „nur durch Unterbietung der jeweiligen Marktpreise zu kümmerlichem Verdienst“ kommen konnte, selbst „durchaus rechtschaffen“

33

34 35 36 37 38 39

vgl. Kronsteiner, 1978, der Kroate nicht primär als Ethnonym, sondern als Bezeichnung einer sozialen Funktion sieht) sowie einige mehr, die in den genannten Publikationen auch diskutiert werden. Diese wird wohl oft aufgrund der oben genannten vom Standarddeutschen abweichenden Aussprache angegeben, wie es etwa Beyerl sogar expliziert: „Das ist sogar wiedererkennbar einfach ein Wort für ‚Kroate‘“ (Beyerl, 2012, 22). Schrankas Wörterbuch verweis explizit auch auf diese Bezeichnung und den entsprechenden kulturgeschichtlichen Kontext (vgl. Schranka, 1905, s.v. Kråwåd). Vgl. Kos, 2013, 14. Vgl. ebd., 16–17. Vgl. Milchram, 2013, 160; Payer, 2018, 101–107. Vgl. Kos (Hg.), 2013, 250. Oder realiter auch die Zwiebelkroatin, vgl. Abbildung 1.07 in Kos (Hg.), 2013, 250.

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war und „vortreffliche“ Ware, jedoch „ohne die Gerissenheit geschäftlicher Begabung“ feilbot.40 Dadurch wird ein nicht pejoratives Bild von Kroat*innen als städtische, verarmte Unterschicht gezeichnet. Ein solches wird auch in nicht Cluster B oder D zugerechneten Idiomen wie der Mensch ist do ka Krowot (‚er stellt Ansprüche an das Leben‘) reflektiert.41 Eventuell in demselben Kontext der Rolle von Kroat*innen als Wanderhändler*innen ist die Erklärung des Kompositums [ˈg̥ʀɔːd̥nˌfaə̯(d̥)ɫ] ‚einfaches, schlecht schneidendes Messer‘ als Kroatenfeitel zu sehen, das alternativ auch als Kröten-, Krotenfeitel angesetzt werden könnte. Hauenstein führt die Bezeichnung jedoch explizit darauf zurück, dass diese Form der „einfachen Taschenmesser mit Holzgriff “ von Kroat*innen eingeführt worden wäre. Diese Erklärung ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da das Erstglied auch ähnlich wie jenes in expressiven Komposita wie grotten-schlecht, grotten-doof mit der generell süddeutschen Form Krott(n) (in Wien [ˈg̥ʀɔːd̥n]), zu standarddeutsch Kröte in Verbindung gebracht werden könnte.42 In diesem Fall wäre es aus dem SüdSliW im engeren Sinne auszuschließen,43 bleibt jedoch ein anschauliches Beispiel dafür, wie über (Volks-)Etymologien Assoziationen von Südslaw*innen und Minderwertigkeit (re-)produziert werden. Das dritte Form-Bedeutungspaar zum Lemma Kroate aus Cluster B ist krawutisch ‚lärmend, wild, zornig‘, das in den Wörterbüchern von Hauenstein erstmals belegt ist,44 von Hornung jedoch einer ihrer ungedruckten Vorlagen, nämlich dem Manuskript von Rudolf Stürzer (1865–1926), zugeschrieben wird und daher älter sein dürfte.45 Insgesamt stellen vier von acht Wörter40 Schuster/Schikola, 1996, s.v. Zwiefl-kråwåt; Außerdem wird der kulturgeschichtliche Kontext in Hauenstein, 1972, s.v. Zwiefelkrowot und Hauenstein, 1978, s.v. Zwiefelkrowot expliziert. 41 Vgl. Schuster, 1951, s.v. Kråwåd und die nachfolgenden Auflagen des Wörterbuchs Schuster, 1985; Schuster/Schikola 1996; sowie Hornung/Swossil, 1998, s.v. Grǫwǫ́d; Hornung/Grüner 2002, s.v. Grǫwǫ́d. 42 Vgl. Duden, 2021, s.v. grottenschlecht, https://www.duden.de/node/142638/revision/142674, letzter Zugriff: 11.11.2021. 43 Erkenntnisse könnte etwa die Untersuchung aller im Lexikalischen Informationssystem Österreich (LiÖ, https://www.lioe.dioe.at, letzter Zugriff: 09.12.2021) verzeichneter Komposita mit dem Erstglied Kroten- bringen, die auch einige Synonyme zu Kroten-/Kroatenfeitel umfassen (z.B. Kroten-fenker, -fickerer, -schächerer, -schlächter, -schnitzer, -stecher, -töter, -würger) und die primär aus dem ostösterreichischen Raum stammen. 44 Hauenstein, 1972, 1978. 45 Vgl. Hornung/Swossil, 1998, s.v. grawútisch; Hornung/Grüner, 2002, s.v.

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büchern (zwei von vier Neuauflagen) explizit einen Konnex zu (stereo-)typischen kroatischen Charaktereigenschaften her,46 wobei hier beispielhaft die etymologische Angabe Wehles als die früheste dieser Art angeführt sei: „aus dem Kroatischen – die Kroaten waren sehr temperamentvoll.“47 Leicht anders gelagert ist die etymologische Erklärung Sedlaczeks, bei der es weniger das „kroatische“ Temperament ist, das charakterisiert wird, sondern eher Verhaltensmuster von Kroat*innen: „zu krawotisch (= mit roher Gewalt oder mit List) auf vermeintliche Eigenschaften der Kroaten anspielend; Vermischung mit Wut.“48 Ähnlich wie schon in Bezug auf die oben genannten Formen Zwiebelkroate und Kroaten-/Krottenfeitel finden auch hier wieder Zuschreibungsprozesse statt, bei denen gemeinsam mit der Aufnahme und Etymologisierung des Lemmas in den einzelnen Wörterbüchern nicht nur der Wörterbuchgegenstand im engeren Sinne (das „Wienerische“), sondern darüber hinaus auch (Wiener) Kroat*innen und ihre Eigenschaften be- und festgeschrieben werden.49 Zusammenfassend kann hinsichtlich des Lemmas Kroate folgendes konstatiert werden: Bei den Bedeutungen in Cluster D werden eher auf den Wörterbuchgegenstand Wien(erisch) (im Vergleich zu anderen Städten und/oder Varietäten) bezogene Informationen dargestellt. Bei jenen in Cluster B lassen sich jedoch verstärkt Zuschreibungsprozesse beobachten, die sich nicht nur auf den Wörterbuchgegenstand, sondern darüber hinaus auch auf (Wiener) Kroat*innen und ihre mutmaßlichen, sozioökonomischen und charakterlichen Eigenschaften beziehen. Verbindendes Element sind kulturgeschichtliche Hintergründe. Es ist die Rolle von Kroat*innen als (Wander-)Händler*innen, deren verklärend-positive, wenngleich naive Charakterisierung als „Wiener Type“, wie sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet, im Laufe dieses Jahr-

46 47 48 49

g­ rawútisch. Darauf deuten auch die rund 30 Belege zu dieser Form im LiÖ hin – die Datensammlung für den zugrunde liegenden Hauptkatalog des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) war bereits vor der Publikation von Hauenstein, 1972 abgeschlossen. Wehle, 1980, 2012; Hornung/Swossil, 1998; Hornung/Grüner, 2002; Sedlaczek, 2010; Leitner, 2018. Wehle, 2012, s.v. Krawutisch. Sedlaczek, 2010, s.v. Kra|wụ|tisch. Für das vierte und letzte Form-Bedeutungspaar aus Cluster B kann selbiges nicht beschrieben werden: Randkroate ‚Person, die an der Grenze Kroatiens lebt‘ wird ausschließlich in den beiden Auflagen des Wörterbuchs von Hauenstein (1972, 1978) beschrieben und zeigt sohin die Grenzen des zur Materialreduktion gewählten Verfahrens auf.

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hunderts mit tendenziell negativ-pejorativen Bedeutungskomponenten der Minderwertigkeit und Aggression kontaminiert wird. Das zweite Lemma, zu dem sich Bedeutungen sowohl in Cluster D als auch in Cluster B befinden, ist Raz (Substantiv, m.; auch: Raize ‚Serbe, Angehöriger eines griech.-orthodoxen serb. Volksstammes in Südostungarn‘), wobei jedoch beide dieser Bedeutungen eigentlich der Form Razenstadel (Substantiv, n.) zugerechnet werden können.50 Die spezifischere und ältere – weil Cluster D zugehörige – Bedeutung ‚Magdalenengrund‘ bezieht sich auf eine der kleinsten ehemaligen Vorstädte Wiens, die heute als Teil des 6. Gemeindebezirks direkt an den Ufern des Wienflusses liegt. Dort dürften die ersten Serb*innen in Wien gesiedelt haben.51 Das Determinativkompositum Razenstadel ist demnach als aus dem Grundwort Stad-e(r)l (Diminutivum zu Stadt) und dem Bestimmungswort Raz bestehend zu analysieren. Letzteres ist aus veraltet ungar. rác ‚Serbe‘ entlehnt, das wiederum auf den altserb. Namen einer Burg im Kerngebiet des mittelalterlichen Serbiens nahe des heutigen Novi Pazar, nämlich auf Rasь zurückgeht. Dieser wiederum entwickelte sich durch Bedeutungserweiterung zum Namen des gesamten mittelalterlichen Serbiens (Raška ‚Altserbien‘).52 Dass Stadtteile, in denen sich zunächst Serb*innen niederließen, im ungarischen Raum als Raizenstadt bezeichnet wurden, ist nicht außergewöhnlich;53 insofern schließt der Name an ein bekanntes Muster an. Aufgrund des durch die Aussprache als [̍ʀɔt͡sn̩ ˌʃd̥aːd̥ɫ] bedingten Zusammenfalls mit Rattenstadel wurde das Toponym undurchsichtig und gleichzeitig erklärungsbedürftig, was sich bereits seit dem 19. Jahrhundert in Wiener Wörterbüchern in zahllosen etymologischen Erklärungsversuchen spiegelt.54 So meint Hügel, die Bezeichnung des Ortes auf die kleinen Häuschen zurück50 Bedeutungen des Ethnonyms Raz oder Raize werden nur den beiden hier nicht näher charakterisierten Clustern A und C zugerechnet, wobei neben der im Haupttext angegebenen Bedeutung vereinzelt auch die Bedeutungen ‚Grieche‘ (Castelli, 1847, s.v. Rads) oder ‚türkischer Jude‘ (Hügel, 1873, s.v. Raz; Wehle 1980, 2012, s.v. Raz) ausgewiesen werden. 51 Vgl. Wien Geschichte Wiki, 2021, s.v. Magdalenengrund. 52 Vgl. Benkő, 1992–1997, s.v. rác. 53 So gab es in Buda (dt. Ofen), im heutigen 1. Bezirk Budapests einen Stadtteil mit dem deutschen Namen Raitzenstadt (ungar. Tabán, serb. Српска варош), ein Stadtteil von Pécs (dt. Fünfkirchen, slk. Päťkostolie, hrv. Pečuh, serb. Pečuj) trägt bis heute den Namen Rácváros ‚Raizenstadt‘, Novi Sad (dt. Neusatz, ungar. Újvidék) wurde im 17. und 18. Jahrhundert als Ratzenstadt bezeichnet. 54 Nur Wehle, 1980, 2012, s.v. Råtznstadl, gibt explizit an, alle Erklärungen für fragwürdig zu erachten und keine zu kennen.

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führen zu können, die „etwa nur für Ratten groß genug schienen“.55 Weitere Etymologien bringen Schranka und Jakob in den Diskurs ein: Letzterer führt den Namen auf einen Bäcker namens Ratz und dessen Stadel (später von Hauenstein zu einem Bildstock umgedeutet) zurück,56 Ersterer erzählt folgende, wirkungsmächtige57 Geschichte: Die Benennung soll von Kaiser Josef  II. herrühren mit Bezug auf die unendlich große Anzahl von Ratten, welche in den kleinen dicht aneinander gebauten Häuschen ihre Unwesen trieben. Die Plage muß sehr groß gewesen sein, weil man sogar Bittgänge veranstaltete, um Rettung vor diesen Tieren zu erhalten. Eine derartige Prozession zog sogar am 20. Juli 1768 von Wien nach Füßen im Schwabenlande, um durch Vermittlung des heiligen Magnus (Skt. Mang), dessen Gebeine im dortigen uralten Benediktinerkloster liegen, von dem Übel befreit zu werden.58

Ebenso auf die Undurchsichtigkeit des Toponyms zurückzuführen ist seine durch die Zuordnung zu Cluster B nachverfolgbare Bedeutungserweiterung hin zu ‚heruntergekommenes Gebäude‘, wobei diese Bedeutung seit dem Wörterbuch von Teuschl59 in vier Wörterbüchern (und einer Neuauflage) und damit insgesamt deutlich seltener als erstere Bedeutung (acht Wörterbücher, fünf Neuauflagen) belegt ist. Abschließend kann festgehalten werden, dass das zugrunde liegende Ethnonym Raz, Raize in Wörterbuchartikeln zur Form Razenstadel nicht reflektiert wird und daher im Gegensatz zu jenen zum Lemma Kroate auch keine direkten ethnischen Zuschreibungen vorgenommen werden. Es lässt sich jedoch anhand des Beispiels nachvollziehen, wie die gewählte Methode der explorativstatistischen Datenstrukturierung Bedeutungsveränderungen abbilden kann.

55 Hügel, 1873, s.v. Råz’nstadl. Denselben Topos der Enge greift auch Schranka, 1905, s.v. Ratz’nstadtl, auf. 56 Jakob, 1929, s.v. Råtzenstadl; Hauenstein, 1972, 1978, s.v. Råtznstadl. 57 Sie wird von Schuster, 1951, 1985; Schuster/Schikola, 1996; Hauenstein, 1972, 1978; Hornung/Swossil, 1998; Hornung/Grüner, 2002, und Sedlaczek, 2011, teils als gültige Etymologie, teils als eine von mehreren oder die einzige Hypothese aufgegriffen. 58 Schranka, 1905, s.v. Ratz’nstadtl. 59 Teuschl, 1990, s.v. Ratzenstadel.

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Lemmata aus Cluster D – Husaren, Schwaben als Schädlinge

Die beiden Lemmata, zu denen sich Bedeutungen in Cluster D, aber nicht in Cluster B finden, haben weitere Gemeinsamkeiten, die primär die Frage danach aufwerfen, inwiefern sie überhaupt als Teil des SüdSliW zu betrachten sind: Es gibt zu ihnen auch allgemein-standardsprachliche Formen und Bedeutungen im Deutschen und die slawische Etymologie liegt nicht auf der Hand. Das Lemma Husar etwa wurde mit der Bedeutung ‚(ungarischer) Lanzenreiter‘ im 15. Jahrhundert aus ungar. huszár ins Deutsche entlehnt.60 Dabei wiederum handelt es sich um ein Wanderwort, das unter anderem vermittelt über hrv./serb. husarъ (veraltet) ‚Räuber‘61 vom lat. Etymon cursus ‚Kurs‘ stammt.62 Für das Lemma Schwabe gibt es keine slawische Vermittlung. Es ist wohl auf lat. suevus ‚Mitglied eines Volksstammes‘ zurückzuführen und wurde aus dem Deutschen in andere zentraleuropäische Sprachen wie Ungarisch, Tschechisch und Kroatisch entlehnt,63 in denen es unter anderem deutschsprachige Personen im Allgemeinen bezeichnete. Teil des SüdSliW ist es, weil Sedlaczek die aus dem Kroatischen und Serbischen rückentlehnte Form Schwabo mit der pejorativen Bedeutung ‚Österreicher‘ (als Gegenstück zu Tschusch) verzeichnet.64 Die beiden in Cluster D enthaltenen Bedeutungen zu den Lemmata Husar und Schwabe bezeichnen übrigens eigentlich keine Personen, sondern Schädlinge. Die Formen Hemdhusar und Leibhusar und ihre Bedeutung ‚Floh‘ dürften den Belegen im Lexikalischen Informationssystem Österreich (LIÖ) zufolge innerhalb Österreichs spezifisch wienerisch sein, die Bedeutung ‚Küchenschabe‘ der Form Schwabe tritt auch gesamtdeutsch und in den anderen zentraleuropäischen Sprachen auf.65 60 Vgl. Kluge, 2012, s.v. Husar; Pfeiffer, 1993, s.v. Husar. 61 Vgl. Benkő, 1993, s.v. huszár; vgl. auch Schuster 1951, 1985; Schuster/Schikola, 1996, s.v. Husar, der dies bereits expliziert. 62 Vgl. Gluhak, 1993, s.v. gȕsār. 63 Vgl. Benkő, 1993–1998, s.v. sváb; Skok, 1971–1974, s.v. Švába. 64 Vgl. Sedlaczeck, 2011, s.v. Schwa|bo; diese Bedeutung kommt nur einmal im Korpus vor und wird daher Cluster A zugerechnet. 65 Skok, 1971–1974, s.v. Švába geht dabei davon aus, dass sich diese Bedeutung bereits im Deutschen entwickelt hatte. Auch Pfeiffer, 1993, s.v. Schwabe2 weist darauf hin, dass auch seriöse frühe lexikographische und zoologische Publikationen die Bezeichnung Schwabe für die Art blatta (insbes. germanica) verwenden und dies wohl zur Abgrenzung von der zeitgleich als Schabe bezeichneten Kleidermotte (Tineola bisselliella) diente. Allerdings ist es auch ein in Zentraleuropa übliches M ­ uster, die

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Wichtig ist, festzuhalten, dass die in den Wörterbuchartikeln dargestellten Informationen sich in keinem Fall direkt oder indirekt auf Südslaw*innen oder südslawische Sprachen und ihre Sprecher*innen beziehen. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die in Cluster D enthaltenen Bedeutungen tatsächlich eher (historischen) Sprachgebrauch dokumentieren und nicht darüberhinausgehend mittels Selbst- und Fremdzuschreibungen Identität generieren. Lemmata aus Cluster B – Tschuschen, die in Wien barabern

Anders ist dies in Bezug auf die Lemmata Baraber und Tschusch und ihre Bedeutungen, die Cluster B zugeordnet wurden und die sehr eindeutig zum Kern des SüdSliW zu zählen sind: Baraber (Substantiv, m.) ‚Schwerarbeiter‘ sowie barabern (Verb) ‚schwer arbeiten‘ und Tschusch (Substantiv, m.) ‚Gastarbeiter aus Südosteuropa‘. Letzteres ist im sozialen, politischen und kulturellen Kontext des gegenwärtigen Österreich von großer Bedeutung und wird von allen Wörterbüchern, die es verzeichnen, als „abwertend“ markiert. In dieser Bedeutung ist das Lemma Tschusch seit den 1970er Jahren in den Wörterbüchern belegt,66 wobei interessanterweise die Cluster B zugeordnete Bedeutung, die nur in zwei Wörterbüchern (und einer Neuauflage) verzeichnet wird, nicht die häufigste ist; häufiger, nämlich von drei Wörterbüchern (und zwei Neuauflagen) wird die allgemeinere Bedeutung ‚Ausländer aus Südosteuropa‘ (Cluster C) angegeben. Hier seien beispielhaft die Definitionen aus den beiden Wörterbüchern, die die Bedeutung ‚Gastarbeiter aus Südosteuropa‘ verzeichnen, angeführt, wobei es sich bei ihnen um den frühesten sowie den jüngsten Beleg des Lemmas in einem Wiener Wörterbuch handelt: „modernes, aber nicht gerne gehörtes Schimpfwort für ausländische Fremdarbeiter (hauptsächlich für Jugoslawen)“;67 „abwertend für Gastarbeiter aus Jugoslawien“.68 Die Intensität der Beleidigung, die dem Wort inhärent ist, lässt sich jedoch am besten anhand der Bedeutungsangaben aus Teuschls Wörterbuch nachvollziehen, demzufolge es sowohl allgemein einen „Jugoslawen, Balkanbewohner“ als auch einen „Ange-

im 17.  Jahrhundert eingewanderte Art mit dem Namen der Volksgruppe zu bezeichnen, von der man dachte, dass sie sie „eingeschleppt“ hätte, vgl. Stachowski, 2018. 66 Hauenstein, 1972, 1978, s.v. Tschuschen. 67 Ebd. 68 Leitner, 2018, s.v. Tschusch.

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hörigen eines ‚unterentwickelten‘ Volkes“ bezeichnet.69 Die zugrunde liegende Fremdzuschreibung ist offensichtlich. Die Etymologie des Lemmas Tschusch gilt als umstritten. Unter den zahlreichen Hypothesen, die auch von den untersuchten Wiener Wörterbüchern referiert werden,70 ist die bei Sedlaczek angeführte die plausibelste: Er führt es auf die bos./hrv./srb. Interjektion ćuš(-ćuš) zurück, die beim Eseltreiben als Stoppsignal eingesetzt wurde71 und wohl mit gleichbedeutend türk. çüş in Verbindung zu bringen ist.72 Darüber hinaus kann bzw. konnte es Ende des 19.  Jahrhunderts ohne Reduplikation zumindest in der Bačka im heutigen nördlichen Serbien auch auf den ‚Esel‘ übertragen werden.73 Ein expliziter Beleg dazu, dass es in dieser Bedeutung auch Menschen pejorativ bezeichnen konnte, findet sich in den untersuchten Quellen nicht, doch weist der früheste Nachweis der Form Tschusch als Bezeichnung für eine Person aus dem Balkangebiet in deutschsprachigen Periodika innerhalb der Plattform ANNO (AustriaN Newspapers Online, https://anno.onb.ac.at) darauf hin, dass dies möglich war. In einem am 18. November 1900 in der Linzer Tages-Post abgedruckten Feuilletonroman mit dem Titel Skizzen aus der Herzegowina bezeichnet eine Protagonistin jemanden als „elende[n] Tschusch“, wobei letzteres Wort in einer Fußnote als „Schimpfname für die Einheimischen“ erklärt wird.74 Es sei abschließend hervorgehoben, dass insbesondere die von Wehle tradierte Ety69 Teuschl, 1990, 2007, s.v. Tschusch. 70 Hauenstein führt es etwa auf die die allerdings früh auch als Tschausch erfolgte Entlehnung des osmanischen (Unter-)Offizierrranges çavuş zurück (vgl. Hauenstein, 1978, s.v. Tschuschen), Wehle auf die 2. Pers. Sing. čuješ? von bos./hrv./srb. čuti ‚hören‘, das sich „Arbeiter vom Balkan“ etwa beim Bau der Südbahnstrecke „bei Unklarheiten“ zugerufen hätten (vgl. Wehle, 1980, 2012, s.v. Tschusch), während Teuschl es mit russ. чужой ‚seltsam‘, das er allerdings als ‚fremd‘ übersetzt, in Verbindung bringt (vgl. Teuschl, 1990, 2007, s.v. Tschusch). 71 Sedlaczek, 2011, s.v. Tschusch. 72 Vgl. Skok, 1971–1974, s.v. ćuš-ćuš. 73 Vgl. ebd.; Daničić, Val̦ avac, Budmani, 1884–1886, s.v. ćȕš; darüber hinaus wurde davon Verben (ćȕš-ati) und Substantiva (ćȕš-ka) abgeleitet, die ‚ohrfeigen‘, ‚Ohrfeige‘ bedeuten (vgl. Skok, 1971–1974, s.v. čȕšati; Daničić, Val̦ avac, Budmani, 1884–1886, s.v. ćȕšati, ćȕška). Letzteres ist auch aktuell für das Bosnische belegt, vgl. Čedić, 2007, s.v. ćȕška. Inwiefern diese Etymologie mit dem von Hornung genannten „orientalischen Wanderwort für Dummkopf “ zusammenhängt, bleibt noch zu prüfen (vgl. Hornung/Swossil, 1998; Hornung/Grüner, 2002, s.v. Dschusch; s. auch die entsprechende Etymologie für slow. čuž in Reichmayr, 2003, 202–203). 74 Vgl. (Linzer) Tages-Post, 18.11.1900, Unterhaltungsbeilage, 1.

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mologie aufgrund ihrer Kongruenz mit einer der Bedeutungen von Tschusch (‚Gastarbeiter aus Südosteuropa‘, vgl. FN 70) besondere Wirkungskraft entfalten konnte. Hier zeigt sich, welche Rolle der narrative und in den historischen Kontext des industrialisierungsbedingten gesellschaftlichen Wandels passende Charakter für die Akzeptanz einer Etymologie und der durch sie vermittelten Bilder einnimmt. Auch die zweite Personenbezeichnung unter den nur in Cluster B vorkommenden Lemmata verweist auf das Arbeiter*innen-Milieu: Der in Substandardvarietäten zentraleuropäischer (neben Deutsch auch Tschechisch, Slowenisch und Ungarisch) sowie slawischer Sprachen des Balkans (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Bulgarisch) bekannte75 Baraber ist ein ‚Schwerarbeiter‘, barabern bedeutet ‚schwer arbeiten‘. Das Substantiv ist seit den 1950er Jahren in der Bedeutung ‚Hilfsarbeiter‘76 in Wörterbüchern des Wienerischen belegt, in den auf ANNO zugänglichen Zeitungen und Zeitschriften erstmals 1892.77 Basierend auf frühen Belegen sowie der semantischen Kongruenz lässt sich vermuten, dass das ursprünglich (nord)italienische Etymon (barabba ‚Taugenichts‘ < biblische Gestalt des Barabbas) über das Slowenische (dort baraba ‚Nichtsnutz‘; älter: ‚Landstreicher‘78) zunächst in die süd(mittel)bairischen Dialekte der Steiermark und Kärntens vermittelt wurde,79 wenngleich es in andere Sprachen wie etwa das Bulgarische direkt aus dem Italienischen entlehnt wurde.80 Der historische Kontext der Verbreitung des Lemmas im zentraleuropäischen Raum ist jener des Ausbaus des Eisenbahnsystems Ende des 19. Jahrhunderts, in dessen Rahmen große Partien von (nicht nur, aber auch italienischsprachigen) Wanderarbeitern unter sehr schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen insbesondere für Erdarbeiten eingesetzt wurden. Interessanterweise stellt in diesem Kontext ein großer Teil der Wiener Wörterbücher (fünf plus drei Auflagen), die das Lemma verzeichnen, auch eine aufgrund der Beleglage allerdings unwahrscheinliche slawische Etymologie in 75 76 77 78

Vgl. auch Matl, 1958; Breneselović, 2007. Schuster, 1951, s.v. Paråber. Arbeiterwille, 09.07.1892, 4. Marginal sind diese Bedeutungskomplexe (‚Unterstandsloser‘; ‚wilder, ungehobelter Mensch‘) auch in Wörterbüchern des Wienerischen belegt vgl. Hornung/Swossil, 1998; Hornung/Grüner, 2002; Sedlaczek, 2011. 79 Vgl. auch die Verbindung, die Schuster mit dem allerdings nicht belegten slov. paraba ‚ungeschulter Arbeiter‘ herstellt, Schuster, 1951, 1985; Schuster/Schikola, 1996. 80 Vgl. Matl, 1958.

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den Raum, indem sie das Substantiv mit tschech. poroba ‚Knechtschaft‘ in Verbindung bringen. Dies erweist sich generell als das verbindende Element der hier referierten Bedeutungen aus Cluster B des SüdSliW: In den Wörterbuchartikeln zu diesen werden Südslaw*innen primär über einen sozioökonomischen Status als Wander- oder Gastarbeiter*innen, damit einhergehend über ihre (geringe) Kaufkraft sowie sekundär auch über ihnen zugeschriebene Eigenschaften der Unstetigkeit und Aggressivität/Impulsivität charakterisiert.

5. ZUSAMMENFASSUNG

Im vorliegenden Artikel wurden aus sämtlichen Wörterbuchartikeln zu Lemmata mit südslawischer Etymologie und/oder anderem Bezug auf den südslawischen Raum in 25 Wörterbüchern des Wienerischen deren Bedeutungen verzeichnet und mittels statistischer Methoden gruppiert, um basierend auf Häufigkeit und historischen Belegmustern den Kern des „Südslawischen im Wienerischen“ (SüdSliW) sowie seine Peripherie zu identifizieren und anschließend in beispielhaften Analysen zum Kern dominante kulturelle Bilder und Wissensbestände zum südslawischen Wien herauszuarbeiten. Zwei Gruppen von Bedeutungen erwiesen sich als relevant: Einerseits waren dies Bedeutungen, die bereits seit dem 19.  Jahrhundert in Wörterbüchern belegt sind und von denen, ausgehend von der Berücksichtigung der Produktionsumstände und der genuinen Zwecke dieser Werke (exemplifiziert am für die statistische Einteilung wichtigsten Wörterbuch, nämlich jenem von Jakob81), angenommen werden kann, dass sie primär zur Dokumentation von tatsächlichem Sprachgebrauch verzeichnet wurden. Sie sind bis in die relative Gegenwart (Stichjahr: 2020) belegt und repräsentieren somit sowohl die historische als auch gegenwärtige Schicht des SüdSliW. Bei der Analyse der diesem Cluster zugeordneten Bedeutungen der Lemmata Kroate, Raz, Husar und Schwabe konnte eine neutrale Darstellung mit Fokus auf die sprachlichen Zeichen und ihre Inhalts-/Bedeutungsebene selbst festgestellt werden. In der Beschreibung der Bedeutung der Form Kroate als ‚Wanderhändler‘ ist jedoch durch die hier noch nicht pejorative Denotation eines soziodemographisch niederen Status auch die Konnotation sozialer Inferiorität mit angelegt, die sich in Bezug auf die Bedeutungen aus der zweiten Gruppe als relevant erweist. 81 Vgl. Jakob, 1929.

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Diese umfasst Bedeutungen, die seit den frühen 1970er Jahren bis in die Gegenwart belegt sind. Ihr Aufkommen fällt mit den ersten Wörterbüchern zusammen, die sich auf das Nachkriegswienerische fokussieren und die explizit auch künstlerisch, zum Beispiel in Wienerliedern verfremdete Sprache in ihre Wörterbuchbasis miteinbeziehen. Sie überwiegen, wie Abbildung 2 zeigt, auch in den jüngsten, im 21. Jahrhundert publizierten Wörterbüchern. Stellvertretend für sie wurden die Bedeutungen der Lemmata Kroate, Raz, Baraber und Tschusch in Bezug auf ihre Darstellung in den Wörterbüchern analysiert. Dabei fällt auf, dass die entsprechenden Wörterbuchartikel nicht ausschließlich die Ausdrucks- oder Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen, auf die sie sich jeweils beziehen, behandeln, sondern auch Schlüsse auf deren außersprachliche Referent*innen zulassen. Dadurch wird die Inferiorität des soziodemographischen Status von Südslaw*innen insbesondere in ihrer „Funktion“ als Wander- und Gastarbeiter*innen in Wien hervorgehoben. Neben einigen weiteren Aspekten wie einer gewissen charakterlichen Unstetigkeit, die ev. auch von der Eigenschaft des Wanderns projiziert wird, kann in dieser Kontinuität von Wander- hin zu Gastarbeiter*innen das zentrale Element im durch Wörterbücher des Wienerischen konstituierten Bild des SüdSliW identifiziert werden. Sie klammern damit einen bedeutenden Teil des gegenwärtigen (und auch historischen) südslawischen Wiens zur Gänze aus, nämlich den in diesem Band in zahlreichen Artikeln dargestellten intellektuellen und kulturellen. Literaturverzeichnis Wörterbücher des Wienerischen (Untersuchungskorpus, chronologisch angeführt)

Sonnleithner, Ignaz von [anonym]: Mundart der Österreicher oder Kern ächt österreichischer Redensarten und Phrasen. Von A bis Z, Wien 1811, http://data.onb.ac.at/ rep/10386F84, letzter Zugriff: 09.12.2021. Sonnleithner, Joseph [anonym]: Idioticon Austriacum, das ist: Mundart der Oesterreicher oder Kern ächt oesterreichischer Phrasen und Redensarten. Zweyte, vermehrte Aufl., mit besonderer Rücksicht auf Wien, Wien 1824, http://data.onb.ac.at/ rep/108C34AA, letzter Zugriff: 09.12.2021. Castelli, Ignaz Franz: Wörterbuch der Mundart in Oesterreich unter der Enns. Eine Sammlung der Wörter, Ausdrücke und Redensarten, welche von der hochdeutschen Sprache abweichend, dem niederösterreichischen Dialekte eigenthümlich sind, […], Wien 1847, http://data.onb.ac.at/rep/10568950, letzter Zugriff: 09.12.2021. Loritza, Carl: Neues Idioticon Viennense, das ist: Die Volkssprache der Wiener mit Berücksichtigung der übrigen Landesteile, Wien/Leipzig 1847, https://vidi.acdh-dev. oeaw.ac.at/, letzter Zugriff: 09.12.2021.

Das Bild der südslawischen Sprachen und ihrer Sprecher*innen

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Andere Wörterbücher und Nachschlagewerke

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Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin/Boston 252011. Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ), https://lioe.dioe.at/, letzter Zugriff: 09.12.2021. Pfeifer, Wolfgang et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1993, https://www.dwds.de/d/wb-etymwb, letzter Zugriff: 10.12.2021. Skok, Petar: Etimologijski rječnik hrvatskoga ili srpskoga jezika, Zagreb 1971–1974. Wien Geschichte Wiki, https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Wien_Geschichte_ Wiki, letzter Zugriff: 09.12.2021. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, kuratiert und bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1964–1977, https://www.dwds. de/d/wb-wdg, letzter Zugriff: 09.12.2021.

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Anhang erstes Vorkommen (… Jahre vor 2020)

letztes Vorkommen (… Jahre vor 2020)



m



min–max



m



min– max

A

79,02

42,00

66,07

3–209

57,18

30,00

57,67

2–209

B

76,04

48,00

50,85

30–173

10,76

9,00

11,63

2–42

C

47,81

22,00

43,67

22–209

16,02

18,00

3,99

3–18

D

153,75

173,00

46,25

91–209

9,70

9,00

5,56

2–18

Vorkommensdauer (… Jahre)

Anzahl der Vorkommen (in WBn)



m



min–max



m



min– max

A

21,85

0,00

42,47

0–165

1,51

1,00

0,99

1–6

B

65,28

45,00

52,51

6–171

5,80

5,00

2,36

2–10

C

31,79

12,00

43,58

4–191

2,94

3,00

1,06

2–5

D

144,05

159,50

45,18

73–201

9,60

8,50

2,54

6–14

Tab. 2: Lage- und Varianzmaße zur Charakterisierung der Cluster A–D (x̅ … arithmetisches Mittel, m … Median, s̅ … Standardabweichung, min–max … minimale und maximale Ausprägungen der Variable).

VIENNA MEETS THE BALKANS: SPRACHWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DIE BALKANISCHE MIGRATIONSÖKONOMIE IN WIEN Nadine Thielemann/Lejla Atagan

1. EINLEITUNG

Österreich und der „Balkan“ sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Daran haben ganz besonders Menschen Anteil, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf der Suche nach einem besseren Leben nach Österreich aufmachen, um sich hier niederzulassen. Wien übt hier eine besondere Anziehung aus, auch weil es als Metropole wirtschaftlich mehr Möglichkeiten in Aussicht stellt. Migrant*innen vom Balkan prägen das Wiener Stadtbild, aber auch die Wiener Wirtschaft auf verschiedene Weise. Besonders ins Auge fallen dabei Straßenzüge wie die Ottakringer Straße oder die Märzstraße, die unter anderem gerne als „Balkanmeile“ bezeichnet werden.1 Grund dafür sind die zahlreichen Geschäfte und vor allem Ladenlokale, die dort gehäuft, aber auch in anderen Vierteln Wiens von balkanstämmigen Unternehmer*innen betrieben werden. Darunter verstehen wir in erster Linie Unternehmer*innen, die ursprünglich aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) kommen.2 Diese stehen im Mittelpunkt unseres Projekts Vienna meets the Balkans – Communicative practices and com1 Dika et al., 2011. 2 Diese Verengung auf Ex-Jugoslawien hat einerseits praktische Gründe, stellen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien doch die größte Migrant*innengruppe vom Balkan dar. Andererseits ist der Begriff „Balkan“ mit bestimmten Vorstellungen und Assoziationen sowohl bei den migrantischen Unternehmer*innen als auch bei deren Kund*innen und den Mitgliedern der österreichischen Aufnahmegesellschaft verbunden. Die Mitglieder der von uns in den Blick genommenen Gruppe prägen dabei einerseits das Balkanbild in Österreich mit und machen es andererseits im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit auf unterschiedliche Weise für den Geschäftserfolg nutzbar. In unserem Projekt möchten wir diese Ethno-Konzepte des „Balkan“ erforschen. Wenn wir von „Balkan“ sprechen, geht es um das

320

Nadine Thielemann/Lejla Atagan

modification of culture in the city’s migrant economy, das vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Wirtschaftsuniversität Wien gefördert wird. In unserem Projekt möchten wir den Beitrag dieser migrantischen Unternehmungen genauer beleuchten. Dabei werden vorrangig zwei Forschungsfragen verfolgt. Zum einen interessiert uns, wie diese migrantischen Unternehmer*innen ihr kulturelles Kapital und ihre Herkunftssprache in ihren Wiener Betrieben einsetzen, um aus diesen Ressourcen Kapital zu schlagen. Zum anderen möchten wir beleuchten, wie sie die Stadtviertel, in denen sie angesiedelt sind, formen und zu multikulturellen Begegnungszonen in Wien verwandeln. Durch ihre Angebote sprechen diese Unternehmungen dabei verstärkt Mitglieder der Aufnahmegesellschaft an und wirken so auch an der Aufwertung städtischer Quartiere mit. Wir verfolgen dabei einen ressourcenorientierten und keinen defizitorientierten Ansatz auf Interkulturalität.3 Dies macht zugleich den Blick frei für den Beitrag migrantischer Unternehmer*innen und legt nahe, auch deren Perspektive anzunehmen und zu erforschen, was in der Anlage des Projekts widergespiegelt wird. In diesem Beitrag möchten wir unser Forschungsvorhaben vorstellen sowie einen Einblick in erste Beobachtungen auf Basis von Pilotdaten geben. Dazu wird zunächst der multidisziplinäre Forschungskontext auf migrantisches Unternehmertum und seinen Beitrag zur Stadtentwicklung vorgestellt (2). Im Rahmen der Beschreibung der Anlage des Projekts (3) wird skizziert, welche Daten und Methoden zum Einsatz kommen und wie sie sich komplementär ergänzen. Auf Basis erster Datenerhebungen wird dann (4) aufgezeigt, inwieweit diese Daten Einblicke geben in die Identitätskonstruktion und Positionierung der migrantischen Unternehmer*innen sowie in sprachliche Ressourcen, die Wiener Bezirke in multikulturelle Begegnungszonen verwandeln. Ein abschließender Ausblick (5) weist auf Möglichkeiten hin, wie Erkenntnisse aus dem Projekt fruchtbar gemacht werden können für die Verbesserung von Beratungs- und Schulungsangeboten, aber auch für neue Strategien im Stadtmarketing mit Blick auf bestimmte Bezirke und Grätzln.

3

emische Konzept und nicht um ein etisches Konzept im Sinne von Pike (1967). Für Letzteres verwenden wir auch die Bezeichnung postjugoslawischer Raum. Barmeyer/Grosskopf, 2019; Barmeyer, 2018.

Vienna meets the Balkans

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2. MULTIDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN AUF MIGRANTISCHES UNTERNEHMERTUM

Im Kontext des Projekts Vienna meets the Balkans kommen Konzepte und Erkenntnissinteressen zu migrantischen Unternehmer*innen aus verschiedenen Disziplinen zum Tragen. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich vor allem mit der Motivlage für migrantische Selbständigkeit, die Wirtschafts- und Sozialgeographie mit ihrer Wirkung auf die Entwicklung städtischer Räume und die Sprachwissenschaft mit ihren mehrsprachigen kommunikativen Praktiken. Alle drei Perspektiven sollen im Folgenden kurz in Hinsicht auf ihre Relevanz für das Projekt vorgestellt werden. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass es kein einheitliches Verständnis gibt, was unter „migrantischen Unternehmen“ verstanden wird. Vor allem im englischsprachigen Raum existiert eine Vielzahl von Begriffen, die alle unterschiedlich gedeutet werden (z.B. migrant business, immigrant business, ethnic business, ethnic minority business, ethnic economy, ethnic entrepreneurship, migrant economy etc.). Manche Konzeptualisierungen definieren ein Unternehmen als „ethnisch“ oder „migrantisch“, wenn die Person, die es betreibt, einer bestimmten Ethnie zugehörig ist und bzw. oder einen Migrationshintergrund hat.4 Als prominentes Wiener Beispiel für solch ein Konzept migrantischen Unternehmertums kann Schick in Tracht im 6.  Wiener Gemeindebezirk angeführt werden. Das Trachtenmodengeschäft wird von Gordana Radojević betrieben, die mittlerweile auch durch ihre Rolle als Testimonial in einer Kampagne für Ausländerwahlrecht der Stadt Wien Berühmtheit erlangte. Die Inhaberin selbst identifiziert sich dabei als Kroatin, verkauft jedoch seit fast 20 Jahren traditionelle österreichische Trachten. Interessant dabei ist, dass Radojević nicht ihre „eigene“ Kultur, sondern die Kultur des Aufnahmelandes vermarktet und damit Erfolg hat. In den Wirtschaftswissenschaften werden zudem oftmals zwei Typen von migrantischen Unternehmer*innen unterschieden – ethnic entrepreneurs und global entrepreneurs.5 Unter dem ersten Label werden Migrant*innen der ersten Generation erfasst, die sich für eine berufliche Selbständigkeit entscheiden aufgrund von Schwierigkeiten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Als Gründe werden in diesem Zusammenhang neben geringen Kenntnissen der Sprache des Aufnahmelandes auch ein Mangel an beruflicher Qualifikation bzw. deren Anerkennung angeführt, was Selbständigkeit zu einer attraktiven Alter4 5

Parzer/Huber, 2015, 1273. Enzenhofer et al., 2007; Schmatz/Wetzel, 2014.

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native macht, die Chance auf sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesellschaft ermöglicht.6 Damit kontrastiert werden sog. global entrepreneurs, womit gut ausgebildete Personen bezeichnet werden, die sich sowohl für Migration als auch Selbständigkeit bewusst entscheiden, um eine transnationale Karriere zu verfolgen.7 Mit Blick auf die balkanstämmigen Unternehmer*innen in Wien erweist sich jedoch ein offeneres und weiteres Konzept als sinnvoller, da sich unter ihnen sowohl global als auch ethnic entrepreneurs im obigen Sinne befinden. Ein solches Konzept entwickelt Dheer,8 der migrantisches Unternehmertum (immigrant entrepreneurship) definiert als „the process whereby immigrants identify, create and exploit economic opportunities to start new ventures in their destination nations“, denn auch die von uns in den Blick genommenen Unternehmer*innen realisieren wirtschaftliche Chancen in ihrer Aufnahmegesellschaft, indem sie Elemente ihrer Herkunftskultur sowie ihre Herkunftssprache kommodifizieren.9 Aus einer Fülle an unterschiedlichen Definitionen eignet sich jene von Dheer für unsere Fokusgruppe somit am besten. Die Sozialgeographie interessiert sich für den Beitrag von Migrant*innen und der Migrationsökonomie zur Stadtentwicklung und beschreibt deren Anteil an der Aufwertung städtischer Quartiere (urban scaling).10 Da sich migrantische Unternehmen oftmals in Vierteln ansiedeln, in denen sowohl Wohnals auch Geschäftsräume schwach nachgefragt sind, markieren sie den Beginn einer Entwicklung, die prinzipiell auch in einer Gentrifizierung der Quartiere münden kann. Je attraktiver die Viertel dabei für Mitglieder der Aufnahmegesellschaft werden, umso eher werden sie dabei dann auch zu multikulturellen Begegnungszonen, in denen Migrant*innen und Mitglieder der Aufnahmegesellschaft aufeinandertreffen.11 In Wien kann dieser Prozess der Aufwertung städtischer Quartiere, in deren Rahmen migrantische Unternehmen zunehmend Angebote für Mitglieder der Aufnahmegesellschaft machen und diese daher zu Begegnungszonen transformieren, unter anderem am Yppenplatz oder am Brunnenmarkt im 16.  Bezirk beobachtet werden. Zukin12 spricht in diesem Zusammenhang von einer „kommerziellen“ Gentrifizierung. Diese besteht aus einer breiten „Gastronomisierung“ mit vielen neuen Restaurants, 6 7 8 9 10 11 12

Dannecker/Çakır, 2016. Enzenhofer et al., 2007. 2018, 558. Vgl. Stock, 2019; Pichler, 2019; Leeman/Modan, 2010; Heller, 2003; Bubinas, 2003. Z.B. Schiller/Çağlar, 2013; Aigner, 2019; Schmatz/Wetzel, 2014. Schiller/Çağlar, 2009, 2013; Stock, 2019. Zukin, 1990, 182.

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Bars, Imbissbuden, kleinen Einzelhandelsgeschäften etc., die essenziell für den städtischen Aufwertungsprozess ist, wie Stock13 am Beispiel bestimmter Berliner Quartiere argumentiert. Dieser Prozess manifestiert sich in einer neu entstehenden Infrastruktur, die Verbraucher*innen der Mittelschicht und der Aufnahmegesellschaft in diese Stadtteile zieht.14 Die Linguistik beschäftigt sich mit migrantischem Unternehmertum im Kontext von Mehrsprachigkeitsforschung. Hierbei steht vor allem sprachliche und kulturelle Diversität im städtischen Raum im Zentrum, wie sie beispielsweise im Rahmen des TLANG-Projekts in verschiedenen britischen Städten, im Rahmen des LIMA-Forschungsclusters am Beispiel von Hamburg oder aber auch von kleineren Studien wie Leeman und Modan15 am Beispiel von China Town in Washington, D.C. untersucht worden ist. In diesem Kontext werden auch immer wieder typische ethnic businesses wie Marktstände,16 call shops,17 Massagesalons18 oder Falafel-Läden19 in den Blick genommen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich oftmals auf die Chancen und Fähigkeiten von Migrant*innen, ihre Herkunftssprache und/oder -kultur zu kommodifizieren.20 Einige Studien markieren dabei auch einen spatial turn, indem sie den Sprachgebrauch und die mehrsprachigen Verständigungspraktiken in solchen Ladenlokalen analysieren.21 Mit Blick auf den weiteren städtischen Raum sind hier auch Untersuchungen von Sprachlandschaften (Linguistic Landscaping, seltener auch Linguistic Soundscaping) relevant,22 die anhand der räumlichen, aber auch funktionalen Verteilung von Sprachen im städtischen Raum ebenfalls auf die Rolle der Migrationsökonomie verweisen.23

13 14 15 16 17 18 19 20

2019, 225 unter Verweis auf Zukin, 1990. Stock, 2019 unter Verweis auf Zukin, 1990, 41. Leeman/Bodan, 2010. Blackledge et al., 2015; Blackledge/Creese, 2019. Bubinas, 2003. Flubacher, 2020. Stock, 2019. Flubacher, 2020; Gonçalves/Kelly-Holmes, 2020; Duchêne et al., 2013; Heyd et al., 2019. 21 Liebscher/Dailey-O’Cain, 2017; Hua et al., 2017. 22 Scarvaglieri et al., 2013. 23 Mühlan-Meyer/Lützenkirchen, 2017; Carson/King, 2016; Heyd et al., 2019.

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3. DIE ANL AGE DES PROJEKTS

Das Projekt Vienna meets the Balkans möchte die kommunikativen Praktiken analysieren, die die Arbeitsweise in kleinen und mittleren Gastronomiebetrieben und Lebensmittelläden, wie sie über ganz Wien verstreut von balkanstämmigen Migrant*innen betrieben werden, prägen. Dabei geht es im Wesentlichen darum, zu lernen, welche Rolle die Herkunftskultur, aber auch die sprachliche Identität im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit spielt und welchen Anteil die Unternehmen dadurch an der Entstehung multikultureller Begegnungszonen in Wien haben. Um hier ein umfassendes Bild zu erhalten, steht das Projekt auf drei Säulen. Semi-strukturierte narrative Interviews mit migrantischen Unternehmer*innen, aber auch kurze Interviews mit Kund*innen der entsprechenden Ladenlokale geben Einblick in die Vorstellungen davon, welche sprachlichen und kulturellen Ressourcen im Rahmen der jeweiligen Geschäfte mobilisiert werden. Sie laden die involvierten Akteur*innen ein, über ihre Rolle und ihren Beitrag zu reflektieren bzw. geben Einblicke in deren Identitätskonstruktion oder legen offen, was Kund*innen als „balkanisch“ wahrnehmen. Da sich diese Vorstellung oftmals von den eigentlichen Praktiken unterscheidet, sind im Rahmen des Projekts auch Aufnahmen von Serviceinteraktionen geplant, die Einblicke liefern sollen in die tatsächlich zum Einsatz kommenden kommunikativen Praktiken und sprachlichen Ressourcen. Auf Basis erster teilnehmender Beobachtungen vor den Lockdown-Maßnahmen 2020 und 2021 konnten hier Sequenzen beobachtet werden, in denen Angestellte mit Kund*innen im Rahmen einer Bestellung die richtige Aussprache von Speisen in einer der südslawischen Varietäten (Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch/Serbisch, im Weiteren B/K/M/S) spielerisch übten oder aber Rezept- und Zubereitungsvorschläge für bestimmte Produkte gegeben wurden. Beides verweist auf die Kommodifizierung der Sprache und besonders auch der kulinarischen Kultur des postjugoslawischen Raumes im Rahmen dieser Unternehmen. Schließlich soll mit dokumentarischen Methoden auch erfasst werden, welche semiotischen Ressourcen die Unternehmen bei der Vermarktung einsetzen, was neben der Herkunftssprache auch Design- und Dekorelemente oder Gerüche miterfasst. Es werden dabei aber auch typischerweise im Rahmen von Untersuchungen der Sprachlandschaften (Linguistic Landscaping) erfasste Schilder, Aushänge etc. miteinbezogen, da sie auch zeigen, inwieweit die Unternehmen die Quartiere, in denen sie angesiedelt sind, zu multikulturellen Begegnungszonen verwandeln. Beides zusammen reflektiert auch das, was

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Passant*innen wahrnehmen und mit einem bestimmten Konzept wie „Balkanmeile“ assoziieren.

4. ERSTE BEOBACHTUNGEN

Im Folgenden können erste Beobachtungen auf Basis von pilotierten Daten aus den Jahren 2020 und 2021 dargestellt werden. Verschiedene Lockdown-Maßnahmen haben die zu untersuchenden Unternehmen in vielerlei Hinsicht stark betroffen, was auch die Datenerhebung erschwert hat. Im nächsten Unterkapitel werden erste Einblicke in die Identitätskonstruktion und die Positionierung der Unternehmer*innen gegeben, die wir auf Basis erster Interviews gewinnen konnten. Sie zeigen, wie die Unternehmer*innen ihre Rolle als Migrant*in und Unternehmer*in in der österreichischen Gesellschaft konstruieren und welche Bedeutung sie dabei ihrer Herkunftskultur beimessen. Dann skizzieren wir auch für dieses Projekt relevante Beobachtungen, die auf der Erhebung von Linguistic-Landscaping-Daten mit einer weiteren Zielsetzung zurückgreifen. An diesen Daten lässt sich zeigen, inwieweit migrantische Unternehmen durch die Sprachwahl und Sprachkombination ihrer Schilder, Aushänge, Schaufensterinformationen etc. eine jeweils spezifische Kundschaft ansprechen, woraus sich wiederum unterschiedliche Strategien der Kommodifizierung ableiten lassen. Identitätskonstruktion und Positionierung

Im Rahmen einer ersten Pilotierung wurden 13 Interviews mit migrantischen Unternehmer*innen aus dem postjugoslawischen Raum durchgeführt, die unterschiedliche gastronomische Betriebe und Lebensmittelläden in Wien führen, in deren Rahmen sie die kulinarische Kultur ihrer Heimatländer vermarkten. Dabei überwiegen Imbisse und kleine Restaurants, es finden sich aber auch Veranstaltungs-Cafés, Bäckereien und Spezialitätenläden. Die Mehrheit der Interviewpartner*innen dieses Samples hat Wurzeln in Bosnien-Herzegowina, einige kommen aber auch aus Kroatien, Serbien oder dem Kosovo, was teils wohl auch dadurch bedingt ist, dass die interviewführende Forscherin (Lejla Atagan) selbst aus Bosnien kommt und hier auf ein persönliches Netzwerk zur Kontaktanbahnung zurückgreifen konnte. Die Interviewdaten werden dabei sowohl in sprachlicher als auch in inhaltsanalytischer Hinsicht ausgewertet, wobei der inhaltsanalytische Zugriff inspi-

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riert ist vom explorativen Zugang der Grounded Theory.24 Das Hauptmerkmal der Grounded Theory ist, dass es keine vorgefertigten Kategorien gibt, sondern diese anhand des Datenmaterials gebildet werden. Es wird auf vorgegebene inhaltliche Hypothesen und auf fixe Analysekategorien verzichtet. Stattdessen werden zunächst unterschiedliche mögliche Interpretationen des Interviewtextes entwickelt, weswegen es sich um ein datengetriebenes Bottom-up-Verfahren handelt.25 Weiter ist der Ansatz in dem Sinne empirisch, als der Untersuchungsgegenstand jene Identität ist, die im narrativen Interview her- und dargestellt wird, und nicht die „‚dahinter‘ liegende psychische Realität“ oder „‚objektive‘ biografische Gestalt“.26 Kurz gesagt geht es dabei im Wesentlichen darum, die für die Akteur*innen relevanten Kategorien und Konzepte aus dem Material selbst abzuleiten und zu rekonstruieren. Sprachwissenschaftlich angereichert ist unsere Vorgehensweise dabei dadurch, dass auch die sprachlichdiskursiven Formen und Formate, die eine Rolle spielen bei der Konstruktion relevanter Konzepte, mitberücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle spielt für die migrantischen Unternehmer*innen dabei die Konzeptualisierung ihrer Rolle(n) als Unternehmer*innen, Arbeitgeber*innen, Migrant*innen und als kulturelle Botschafter*innen ihrer Herkunftsländer. Die Identitätskonstruktion sowie die Vorstellungen von der Kommodifizierung der Herkunftskultur vollzieht sich dabei oftmals in Auseinandersetzung mit medial vermittelten gesellschaftlichen Diskursen über Vorstellungen vom Balkan und von Integration in Österreich. Dies kann mit Bamberg27 als Positionierung in Bezug zu master narratives beschrieben werden, wobei diese nicht auf erzählende Vertextungsmuster abheben, sondern vielmehr auf vorherrschende Diskurse.28 So äußern sich die Unternehmer*innen oft selbst sehr kritisch gegenüber dem Balkan und versuchen sich von diesem schlechten Image des „Balkanesen“/der „Balkanesin“ abzugrenzen, indem sie sich selbst als gut integrierte Migrant*innen positionieren. Dabei wird der Balkan oft als korrupt, kriminell und rückständig dargestellt im Gegensatz zum aufgeklärten Westeuropa bzw. Österreich. Damit spiegeln manche Unternehmer*innen in ihren Erzählungen den in Westeuropa, aber auch in ihren Herkunftsländern vorherrschenden medialen Diskurs wider.29 24 25 26 27 28 29

Strauss/Corbin, 1998; Breuer et al., 2019; Glaser/Strauss, 1967. Strauss/Corbin, 1998; Breuer et al., 2019. Lucius-Hoene/Deppermann, 2004, 96 f. Bamberg, 1997, 337. Vgl. Gee, 2015 zu small d und big D; Bamberg/Georgakopoulou, 2008. Vgl. Šarić, 2004; Vezovnik/Šarić, 2015.

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Der Diskurs um Migration und Migrant*innen stellt dabei einen weiteren wichtigen Bezugspunkt in den Interviews dar, der sowohl in Österreich als auch in den Westbalkanstaaten von Brisanz gekennzeichnet ist. Trotz vereinzelter positiver Rollenmodelle von Unternehmer*innen, wie der oben bereits genannten Gordana Radojević, die der in Folge des Raab-Olah-Abkommens (1961) eingewanderten und aufgrund des ursprünglich avisierten temporären Charakters der Arbeitsmigration auch als Gastarbeiter*innen bezeichneten Generation entstammt, überwiegt hier eine Abwertung durch den Begriff Migrant*in, die in den Interviews oftmals thematisiert wird. Hinzu kommt, dass der Begriff Migrant*in auch in den südslawischen Sprachen belastet ist, wird er doch oft synonym mit dem Begriff Flüchtling (izb(j)eglica) verwendet. Die mediale Berichterstattung über diese als Migrant*innen bezeichneten Flüchtlinge trägt dabei zur weiteren Belastung des Begriffs bei, werden diese doch oftmals unter anderem als kriminell und integrationsunwillig dargestellt. Diese mediale Präsentation trägt im Weiteren, ähnlich wie auch im Falle Österreichs, mit zu einer abneigenden Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Migrant*innen bei. Da manche der Unternehmer*innen nach dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre selbst als Geflüchtete nach Österreich gekommen sind, eröffnet dieser Begriff sowie die Einladung, sich mit ihm auseinanderzusetzen, den Zugang zu komplexen Prozessen der Identitätskonstruktion. In diesem Rahmen wird oftmals das Gefühl der Ausgeschlossenheit sowie eine mangelnde Anerkennung der eigenen Integrationsleistung durch die Aufnahmegesellschaft angesprochen. Dies steht im Gegensatz zur eigenen Wahrnehmung, bringen die meisten Interviewpartner*innen doch vor, dass sie sich mittlerweile bzw. zumindest teilweise als Teil der österreichischen Gesellschaft sehen und Österreich als ihre Heimat betrachten. Ein ähnlicher Zwiespalt tut sich auf mit Blick auf die Beziehung zu ihren Herkunftsländern. Viele geben an, sich auch dort nicht mehr als Einheimische zu fühlen oder als solche wahrgenommen zu werden, sondern als Diaspora. Die Interviewdaten geben somit Einblicke in einen auch transnational komplexen Prozess der Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Perspektive auf die eigene Herkunft, tut sich hier in den Interviewdaten doch ein Spannungsfeld zwischen Stolz und Scham auf. Während manche betonen, wie stolz sie auf ihre Herkunft sind, und Menschen vom Balkan als Beispiel guter Integration in Österreich anführen, schämen sich andere wiederum aufgrund der oben erwähnten Diskurse für ihre Herkunft und versuchen, sich von diesem schlechten Image auch durch ihre Geschäfte abzugrenzen, indem sie hervor-

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heben, dass sie sich am österreichischen Gastronomiestandard und Geschäftsstil orientieren. Ein Interviewpartner beispielsweise unterstreicht, dass sein Erfolgsrezept darin liege, ein traditionelles balkanisches Gericht nach österreichischem Standard zu vermarkten, um so auch eine breitere Kundschaft anzusprechen, was ihn wiederum mit Stolz erfülle. Darüber hinaus positionieren sich die interviewten Unternehmer*innen selbst auch als kulturelle Botschafter*innen und sehen sich als Repräsentant*innen ihrer Herkunftskultur. Sie bemühen sich dementsprechend, ihre Herkunftskultur im besten Licht darzustellen, und den Kund*innen außerhalb der Community die eigene Kultur und das Essen auf eine bestmögliche und authentische Art und Weise zu präsentieren. Eine der interviewten Unternehmer*innen sieht beispielsweise nicht nur ihr Geschäft und sich selbst als interkulturelle Brückenbauerin zwischen der Balkan-Community und der Aufnahmegesellschaft, sondern die Gerichte Pita bzw. Burek, die sie in ihrem Geschäft verkauft, selbst in dieser Funktion. So berichtet sie, dass es in vielen verschiedenen Ländern eine Variante von Strudelgebäck gibt, von BosnienHerzegowina, Kroatien, Serbien, über Bulgarien, Afghanistan, der Türkei bis hin zu Österreich mit seinem Apfelstrudel. Es sei etwas, das alle verbinde, ohne dass sie sich dessen bewusst seien. Das Gericht führe vor Augen und stehe stellvertretend dafür, dass die Menschen generell viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede hätten. Nicht zuletzt sehen einige Unternehmer*innen sich selbst und ihr Ladenlokal als Hüter*innen einer pan-jugoslawischen Identität. Ihr Lokal sehen sie dabei als Treffpunkt für all jene, die sich nach den „guten alten Zeiten“ sehnen. Diese Kund*innen könnten ein Stück der Vorkriegsheimat, die sie in schöner Erinnerung haben, bei ihnen finden. Sie betonen in diesem Zusammenhang immer wieder, dass alle willkommen seien und sich dies auch bei der Zusammensetzung der Mitarbeiter*innen widerspiegele, da diese aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens kämen. Eine pan-jugoslawische Identität wird auch durch semiotische Elemente, wie zum Beispiel Ex-YU-Rock-Musik, die im Lokal gespielt wird, Bilder der Olympiade in Sarajevo 1984, Fotos von Albumcovern von ex-jugoslawischen Bands und so weiter konstruiert. Manche sehen dabei ihr Ladenlokal als „Kleinjugoslawien“ mitten in Wien, worauf sie sehr stolz sind und weswegen sie ihrem Geschäft nicht selten auch eine emotionale Bedeutung sowohl für sich selbst als auch für ihre Gäste beimessen. Auf diese Weise wird das Ladenlokal als ein Ort der Geborgenheit dargestellt. „Jugonostalgie“ wird dabei gleichermaßen als Gefühl wie auch als Geschäftsmodell relevant, indem diverse semiotische Ressourcen genutzt werden, um einen Er-

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Abb. 1: Ein Stück Jugoslawien in Wien – Pub und Bar SFRJ Vienna in der Märzstraße.

innerungsort in Wien aufleben zu lassen und um diesen dabei zugleich auch wirtschaftlich nutzbar zu machen. Mit Blick auf ihren Weg in die Selbständigkeit lassen sich auch bereits in diesem ersten Datensample wiederkehrende Muster beobachten. Charakteristisch ist ein Framing als Erfolgsgeschichte, was durchaus im Einklang steht mit der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zum ethnic entrepreneurship, die ja einen zentralen Motivationsfaktor darin verortet, dass Selbständigkeit als einer der wenigen Wege zu beruflichem Erfolg und sozialem Aufstieg gesehen wird. Bestimmte narrativ verknüpfte Ereignisfolgen und Handlungsketten, die mit Tobias30 als typische und verfestigte Plots bzw. Plotmuster beschrieben werden können, kommen dabei gehäuft in den Darstellungen der Interviewpartner*innen vor. Sich wiederholende Handlungsstrukturen bzw. Plots präsentieren den Weg in die Selbständigkeit als Selbstaufopferung31 oder als Aufstiegsgeschichte eines Underdogs.32 Das Motiv der Selbstaufopferung scheint dabei vor allem dann auf, wenn es um die Aufgabe eigener Träume und alternativer Karrie30 Tobias, 1993. 31 Bzw. sacrifice in ebd., 1993, 192. 32 Ebd., 131.

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rewege geht, die der Selbständigkeit und dem Unterhalt der Familie sowie eines familiär geführten Betriebs untergeordnet werden (z.B. ein junger aufstrebender Fußballmanager, der wegen der Krebserkrankung seines Vaters seinen Traumjob aufgeben musste, um die Führung des Familienunternehmens zu übernehmen). Das Motiv des Underdogs, dem der Aufstieg gelingt, betont den Erfolg des eigenen Weges und lebt im Wesentlichen vom starken Kontrast zwischen dem Ausgangspunkt (z.B. Flüchtlingskind, das zunächst in einer Wohnung in einem Bordell wohnte; junger Kriegsflüchtling; perspektivloser Jugendlicher aus einem übel beleumundeten Stadtteil Sarajevos) und dem Endpunkt der Entwicklung, der neuen Rolle als erfolgreicher Unternehmer in einem fremden Land. Von der Balkanmeile zur interkulturellen Begegnungszone

Im Rahmen eines anderen Projekts, das sich allgemeiner mit den sprachlichen Spuren slawischer Migration in Wien beschäftigt, wurden 2020 Sprachlandschaften mithilfe der App Lingscape dokumentiert und annotiert, unter anderem mit dem Ziel, auch wirtschaftlich relevante Hotspots von Migrant*innengruppen aus dem slawischen Raum, die für die Wiener Wirtschaft relevant sind, zu ermitteln. Diese mittlerweile fast 500 Fotos von Schildern, Aushängen etc. umfassende Datenbank belegt klar, dass relevante Hotspots für die Balkan-Community auf der Märzstraße (15. Bezirk), der Klosterneuburger Straße (20. Bezirk) und der Ottakringer Straße (16. und 17. Bezirk) zu finden sind.33 Die folgende Darstellung konzentriert sich auf jenen Teil unserer pilotierten Daten, der dem kommerziellen Diskurs zuzuordnen ist und einen Bezug zur balkanischen Migrationsökonomie aufweist. Letzteres kann einerseits an den angebotenen Produkten und Dienstleistungen festgemacht werden, andererseits daran, dass auch Elemente südosteuropäischer Sprachen enthalten sind. Hier spielen Sprachen aus dem B/K/M/S-Varietätenkontinuum eine prominente Rolle, ist es doch in gut der Hälfte der von uns dokumentierten Funde enthalten, wobei viele Funde auch B/K/M/S und andere Sprachen (v.a. Deutsch, aber auch Englisch) miteinander kombinieren. Sowohl die Sprachwahl als auch die Sprachkombination geben dabei Hinweise darauf, welches 33 Wie Katharina Tyran in ihrem Beitrag zu diesem Band zeigt, spielt B/K/M/S in diesen Hotspots nicht nur eine hervorgehobene Rolle im wirtschaftlich-kommerziellen Diskurs, sondern auch in alternativen Diskursen der Balkan-Community, sei es beispielsweise mit Blick auf politische Gruppierungen und Ideologien oder Fußballfangruppen.

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Zielpublikum angesprochen wird und weiter auch, welche Vermarktungsstrategie verfolgt wird. Der Fokus liegt daher hier zunächst auf Schildern mit Rekrutierungsfunktion. Darunter versteht Blommaert34 Schilder, die bestimmte Gruppen gezielt ansprechen und diese dazu einladen, mit dem/der Autor*in bzw. Produzent*in in Interaktion zu treten. Als Beispiele nennt er dabei Ladenschilder aber auch Veranstaltungsankündigungen. Anhand der Schilder mit Rekrutierungsfunktion lassen sich nun verschiedene Kommodifizierungsstrategien ablesen, die hier nur überblicksartig skizziert werden sollen, da eine eingehendere Analyse der Daten noch aussteht. Ein nicht geringer Teil der Schilder und Aushänge vermarktet Produkte und Dienstleistungen, die primär ein postjugoslawisches Publikum ansprechen, und dies ausschließlich auf Sprachen des B/K/M/S-Varietätenkontinuums. Es handelt sich dabei um Angebote, die auch in erster Linie innerhalb der migrantischen Community nachgefragt sind, wie Transportdienstleistungen in die entsprechenden Länder, Übersetzungsservices und Sprachkurse, spezielle Lebensmittel, aber auch Unterhaltungsveranstaltungen mit Künstler*innen vom Balkan. Im Gastronomiesektor können unterschiedliche Strategien beobachtet werden. Hier finden sich Ladenlokale (v.a. Imbisse und Bäckereien), die vorwiegend durch Aushänge und Schilder auf B/K/M/S auf ihr Angebot aufmerksam machen und allenfalls teilweise Übersetzungen ins Deutsche oder deutsche Bezeichnungen inkludieren. Oftmals enthalten diese aber auch Abbildungen der Speisen. Neben so klaren sprachlichen Indikatoren dafür, welche Zielgruppe angesprochen ist, finden sich auch verdeckte Hinweise bzw. Formen der Zielgruppenansprache durch Sprachspiele wie Beertija (birtija – Kneipe, beer + tija) oder Cafe 3Nice, welches die Hausnummer 13 (trinaest) hat. Andere gastronomische Betriebe sprechen durch ihre Sprachwahl bzw. -kombination gezielt sowohl die Balkan-Community als auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaft an. Hierbei werden Speisen und damit verbundene Dienstleistungen auf B/K/M/S und auch Deutsch (mitunter auch Englisch) angeboten. Mit Reh35 können hier verschiedene Übersetzungsstrategien unterschieden werden, wobei für diese Vermarktungsstrategie vor allem duplizierende (duplicating), aber auch überlappende (overlapping) Übersetzungen typisch sind. In einem Fall wird dabei die gesamte Botschaft in beiden Sprachen übermittelt, im anderen Fall werden nur Teile des Inhalts in beiden Sprachen angeführt, wodurch die gesamte Information nur mehrsprachigen 34 Blommaert, 2013, 54. 35 Reh, 2004.

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Rezipient*innen zugänglich ist.36 Mit Blick auf die grafische Gestaltung der Schilder und Aushänge spielt dabei manchmal B/K/M/S, manchmal Deutsch eine prominentere Rolle (markiert durch Schriftgröße, Anordnung, Anführung in Klammern etc.). Um auch gezielt ein österreichisches Publikum anzusprechen, versuchen manche Unternehmen dabei, Spezialitäten der Balkanküche in Konzepten der österreichischen Küche zu erklären (z.B. „Probieren Sie Pljeskavica zum Mitnehmen! Hacksteak mit verschiedenen Beilagen nach Wunsch …“, „Fleischstrudel [Burek]“). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Namen, die sich die Restaurants und Imbisse geben. Diese verweisen auf unterschiedliche Strategien, die balkanische Küche zu vermarkten und auf unterschiedliche Weise für ein Publikum der Aufnahmegesellschaft attraktiv zu machen. Neben einem Branding als ethnic cuisine (z.B. Etno Restaurant Konak, Etno Zlatibor Grill bzw. Etno Zlatibor Restaurant) gibt es auch Betriebe, die ihr Angebot als fusion vermarkten. Symptomatisch für diese Strategie sind Namen, die slawische Elemente mit deutschen oder englischen Elementen kombinieren und dabei auch konzeptuelle blends darstellen (z.B. Mek Burek, Mek Leskovac oder Pitawerk). Letztere kreieren dabei ein urbanes und superdiverses Image, das balkanisches Fastfood vergleicht mit amerikanischem und mittlerweile international verbreitetem Fastfood oder das in der Namensgebung an erfolgreiche Strategien zur Vermarktung anderer national-kulturell geprägter Küchen anknüpft (vgl. Pizzawerk) und beispielsweise den Manufakturcharakter der Herstellung hervorhebt. Andere Betriebe wiederum nutzen für die Vermarktung gezielt das Image, das vor allem Kroatien als Urlaubsland genießt, und präsentieren Spezialitäten als Delikatessen (z.B. Gourmet Croatia für Feinschmecker oder Delikroat). Sprachliche Elemente aus dem B/K/M/S werden hier recht sparsam eingesetzt (z.B. Gastro Fisch Brač), mitunter werden auch italienische statt slawischer Ortsnamen in Restaurantbezeichnungen eingesetzt (z.B. Restaurant Abbazia statt Opatija). Gemeinsam ist diesen Betrieben dabei, dass sie vorrangig ein eher zahlungskräftiges Publikum der Aufnahmegesellschaft ansprechen.

36 Reh, 2004, 8–12.

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5. AUSBLICK

Die hier skizzierten ersten Beobachtungen zeigen, dass migrantische Unternehmer*innen vom Balkan in Wien ihre Herkunftssprache(n) und -kultur(en) auf unterschiedliche Weise als Ressource im Rahmen ihrer Selbständigkeit nutzen und dabei unterschiedliche Kundensegmente ansprechen. Teils stehen dabei mehr Mitglieder der eigenen Community im Zentrum, teils aber auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaft. Ein solcher ressourcenorientierter Ansatz macht zugleich den Blick frei für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beitrag dieser Unternehmer*innen und zeigt dabei, wie sie den interkulturellen Dialog stimulieren und die Quartiere, in denen sie sich ansiedeln, in interkulturelle Begegnungszonen verwandeln. Die Vermarktung ihrer kulinarischen Kultur spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Ausführungen in den Interviews belegen darüber hinaus, dass die migrantischen Unternehmer*innen auch ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre Rolle als Mittler*innen und kulturelle Botschafter*innen haben und auf diese Weise wesentlichen Anteil haben an der Vermittlung eines positiven Balkanbildes in Österreich, jedoch nicht ohne sich zugleich an dem medial vermittelten eher negativen Balkanstereotyp abzuarbeiten. Der ressourcenorientierte Ansatz sowie die Inklusion der migrantischen Perspektive im Rahmen des Projekts soll im Weiteren auch zu Erkenntnissen führen, die im Sinne eines Transfers in die Praxis fruchtbar gemacht werden können. Indem den migrantischen Unternehmer*innen Raum gegeben wird, ihre Erfahrungen auf dem Weg in die Selbständigkeit zu reflektieren, können auch wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, die in die Verbesserung und Optimierung von bestehenden Unterstützungsangeboten einfließen können, geben sie doch einen Einblick in tatsächlich von Betroffenen erlebte Herausforderungen. Ein Blick auf die unterschiedlichen Strategien zur Kommodifizierung von Herkunftssprache und -kultur in und durch die Unternehmen selbst, zeigt außerdem, wie verschiedene Zielgruppen angesprochen werden und wie sich dabei Mitglieder der migrantischen Community und Mitglieder der Aufnahmegesellschaft überlappen und in Kontakt miteinander kommen. Eine wichtige Vermittlungsfunktion spielt dabei die kulinarische Kultur, die bei vielen Betrieben eine zentrale Rolle einnimmt und einen attraktiven Anknüpfungspunkt für einen transkulturellen Dialog darstellt. Eine Umwertung und ein Reframing des migrantischen Beitrags zur kulturellen Diversifizierung und Aufwertung urbaner Räume in Wien könnte hier beispielsweise im Rahmen

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neuer Strategien zum Stadtmarketing aufgegriffen werden, die explizit den Beitrag solcher migrantischen Unternehmen sichtbar machen und produktiv nutzen. Literaturverzeichnis

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: Bildrechte: Lejla Atagan.

BEČ OIDA: ZUR SICHTBARKEIT SÜDSLAWISCHER SPRACHEN IN DER WIENER LINGUISTISCHEN LANDSCHAFT Katharina Tyran

1. EINLEITUNG

Wer sich offenen Ohres durch den öffentlichen Raum Wiens bewegt und mit südslawischen Sprachen vertraut ist, wird sie bald an allen Ecken und Enden hören. In den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straße, in Lokalen, Arztpraxen, Geschäften – südslawische Sprachen sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Wiener Klangteppichs. Dies verwundert nicht, zählen doch Menschen mit südslawischem Hintergrund zu den größten Migrationsgruppen in der Stadt. Doch in welchen Kontexten sieht man diese Sprachen auch, wenn man offenen Auges durch Wien geht? Wer kommuniziert mit wem über sichtbare sprachliche Zeichen und welche Botschaften werden dabei übermittelt? Der vorliegende Beitrag widmet sich der sichtbaren Präsenz südslawischer Sprachen in Wien. Er beruht auf Daten, die im Rahmen der Lehrveranstaltung Sprachwissenschaftliches Konversatorium: Linguistic Landscape Research – am Beispiel südslawischer Sprachlandschaften in Wien, abgehalten im Sommersemester 2019 am Institut für Slawistik der Universität Wien, in einem gemeinsam mit Studierenden durchgeführten Projekt gesammelt wurden. An dieser Stelle gilt mein Dank Elisabeth Allabauer, Nestani Chumburidze, Karen Fromhold, Ivana Radovanović und Oskar Rupp für ihre engagierte Mitarbeit.

2. LINGUISTISCHE L ANDSCHAFTEN ALS FORSCHUNGSFELD

Spätestens seit 1997, als Rodrigue Landry und Richard Y. Bourhis ihre Studie zur Verbindung von sprachlicher Sichtbarkeit und ethnolinguistischer Vitalität im frankophonen Kanada präsentierten,1 entwickelte sich aus der Soziolingu1

Landry/Bourhis, 1997.

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istik heraus eine neue Forschungsrichtung: Linguistic Landscape Research, die Untersuchung sprachlicher oder linguistischer Landschaften. Auch wenn es durchaus schon früher Studien gab, die sich mit der Sichtbarkeit von Sprache beschäftigten, so war es doch der Beitrag der beiden kanadischen Linguisten, der dem neu entstehenden Forschungsfeld einen Namen gab. Diese Hinwendung zur sichtbaren, und damit im öffentlichen Raum geschriebenen Sprache, passierte anfangs vor allem in mehrsprachigen, konfliktbeladenen Situationen wie Québec oder Belgien, wo gesetzliche Regulativen zur Sprachverwendung auf öffentlichen Zeichen in den Fokus von Sprachplanern rückten.2 Um solche Situationen auch analytisch fassbar zu machen, definierten Landry und Bourhis: The language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration.3

Sprachlichen Zeichen in einer solchen linguistischen Landschaft, die also unterschiedlich weit gefasst sein kann, sprechen die beiden Autoren zwei grundlegende Funktionen zu, die in mehrsprachigen Konstellationen für Sprechende relevant sind. Ihnen ist ein informativer Charakter inhärent, wobei nicht die getätigte sprachliche Aussage als Information zentral ist, sondern sichtbare Sprache vielmehr Auskunft darüber gibt, welche Sprache/n in einem bestimmten Gebiet verwendet werden kann/können, ob sich die sprechende Person als Teil der In- oder Out-Group positionieren kann und wo territoriale Sprachgrenzen festgemacht werden können.4 Als symbolische Funktion verstehen Landry und Bourhis, dass die Sichtbarkeit von Sprache in der linguistischen Landschaft auch den Stellenwert und den Status von Sprache reflektiert. Sprachliche Präsenz impliziert Relevanz einer Gruppe, was wiederum zu einer verstärkten Vitalität führen kann.5 Die Linguistic-Landscape-Forschung bezog sich also anfangs vor allem auf die staatlich oder gesetzlich regulierte Verwendung von Sprache im öffentlichen Raum und rückte Sichtbarkeit von Sprache als Stimulus für Erhalt und Vitalität von Minderheitensprachen in den Fokus. Landrys und Bourhis’ Ansätze und Konzepte wurden seither ständig weiterentwickelt, vor allem in mehrsprachigen und minderheitensprachigen 2 3 4 5

Vgl. Landry/Bourhis, 1997, 24. Ebd., 1997, 25. Vgl. ebd., 1997, 25–27. Vgl. ebd., 1997, 27–29.

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Konstellationen.6 Aber auch die sprachliche Nachricht selbst, ihr Zweck und Kontext rückten stärker in den Fokus, wie auch Akteur*innen und handelnde Personen.7 Zudem wurde das Verständnis davon, was die linguistische Landschaft eines bestimmten Gebietes ausmacht, deutlich erweitert. Es sind heute nicht mehr nur Straßenschilder, Gebäudeaufschriften, Werbetafeln und kommerzielle Aufschriften, die als Linguistic Landscape erfasst werden, sondern zum Beispiel auch Sticker8 und Graffiti,9 die in den Fokus rückten, oder Stolpersteine, die in manchen europäischen Städten in den Gehweg eingelassen wurden, um an vertriebene jüdische Mitbürger*innen zu erinnern.10 Das Verständnis von Raum wurde von manchen auch hin zum virtuellen Raum11 erweitert, andere wie Jaworski und Thurlow dehnten die Untersuchungsansätze hin zur Semiotik aus, widmen sich dem Zusammenspiel unterschiedlicher semiotischer Ressourcen und prägten den Begriff der Semiotic Landscapes.12 Vor dem Hintergrund der starken Fokussierung auf städtische Settings diskutierten zum Beispiel Gorter13 und Spolsky14 auch kritisch, ob man nicht treffender von Linguistic Cityscapes anstatt Landscapes sprechen sollte. Der öffentliche Raum wurde nicht mehr nur in bekannten, weil konfliktbehafteten Minderheitensituationen ein spannender Untersuchungsraum, sondern vor dem Hintergrund der Globalisierung grundsätzlich als Begegnungszone unterschiedlicher Sprachen verstanden – die „Szenerie“ wurde erweitert, um den Titel des von Shohamy und Gorter 2009 herausgegebenen Sammelbandes aufzugreifen.15 Vor allem der urbane Raum rückte dabei stark in den Fokus der Forschung.16 Städte bieten dabei als Interaktionsräume unterschiedlicher Sprachen und Kulturen sowie als sozial und sprachlich hochgradig heterogene Räume spannende Forschungsperspektiven vor dem Hintergrund der Linguistic-Landscape-Ansätze. Untersuchungen der sprachlichen Landschaft können auch Erkenntnisse zur Dynamik innerhalb urbaner Umgebungen freilegen, sind doch urbane Sprachlandschaften durch verwobene historische, soziale, politische, ideologische, 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. z.B. Gorter, 2006, und Gorter/Marten/Van Mensel, 2012. Vgl. Shohamy/Gorter, 2009. Vgl. z.B. Reershemius, 2019. Vgl. z.B. Bilkic, 2018. Vgl. Ben-Rafael/Ben-Rafael, 2016. Vgl. Shohamy/Gorter, 2009. Jaworski/Thurlow, 2011. Gorter, 2006, 2. Spolsky, 2009, 25. Shohamy/Gorter, 2009. Vgl. z.B. Backhaus, 2007, und die Beiträge in Shohamy/Ben-Rafael/Barni, 2010.

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geographische und demographische Umstände geformt, während sie diese gleichzeitig als dynamische Prozesse illustrieren.17 Die österreichische Bundeshauptstadt Wien ist sowohl in historischer als auch gegenwärtiger Perspektive solch ein Interaktionsraum unzähliger Sprachen und Kulturen. In einem Daten-und-Fakten-Bericht aus dem Jahr 2018 positioniert sich die Stadt klar als Ort der Migration: „Wien ist, wie viele europäische Metropolen, eine Einwanderungsstadt. Wenn auch in unterschiedlicher Intensität und Dichte, so spiegeln alle Wiener Bezirke diese Vielfalt wider.“18 Folgt man Thomas Fritz’ Almanach, ist diese Vielfalt aus sprachlicher Perspektive enorm: Er listet und beschreibt 280 Sprachen, die in Wien gesprochen werden.19 Dieses Selbstverständnis müsste Wien grundsätzlich auch zu einer sichtbar multilingualen Stadt machen. Versucht man diese Vielfalt in Zahlen oder Prozenten zu fassen, stößt man immer wieder an die Grenzen ihrer Aussagekraft, greifen doch Statistiken ohne Kontext als alleinige Informationsquelle oft zu kurz. 2001 fand die letzte Volkszählung in Österreich statt, bei der sich Personen selbst mittels Fragebogen äußern konnten. Damals gaben rund 50.000 Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft eine der südslawischen Sprachen als ihre Umgangssprache an.20 Hinzu kommen all jene, die keine österreichische Staatsangehörigkeit, aber südslawischen Migrationshintergrund haben. Ihre Zahl steigt seit 2001 stetig.21 Nun bedeutet zum Beispiel eine Einordnung in die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund aus Serbien nicht zwingend, dass Serbisch auch die primäre Umgangssprache ist. Ebenso können wir davon ausgehen, dass sich auch bei der Volkszählung mit Eigendeklaration nicht alle Menschen zu ihrer Mehrsprachigkeit bekannt haben. Dieser Beitrag fragt nun sowohl nach den Kontexten, in welchen südslawische Sprachen im Wiener urbanen Umfeld sichtbar sind, als auch nach dem Funktionieren und den Funktionen der visuellen Mehrsprachigkeit. Wichtig zu betonen ist dabei, dass Sichtbarkeit im öffentlichen Raum immer eine Momentaufnahme ist. Ein Aushang, ein Graffiti, eine Werbetafel können grundsätzlich jederzeit entfernt, übermalt, überklebt werden. Die sprachlichen Zeichen werden Matras und Gaiser folgend als kommunikatives Event oder Ereignis aufgefasst, wobei Sender*innen Botschaften an Adressat*innen richten, um ein bestimmtes Kommunikationsziel zu erreichen. Zentral ist dabei die 17 18 19 20 21

Vgl. Ben-Rafael/Shohamy/Barni, 2010, xiii. Stadt Wien, 2018, 2. Fritz, 2001. Statistik Austria, 2007. Statistik Austria, 2021.

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Frage, wie eine solche Praxis durch sprachliche Zeichen auch Gemeinschaften und Zugehörigkeitsgefühle mitbegründet.22

3. METHODE UND MATERIALSAMMLUNG

Seit der Entstehung des Forschungsfeldes der Linguistic Landscape Studies entwickelten sich unterschiedliche Herangehensweisen an die Datensammlung und Analyse. Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses Forschungsprojekts wurde ein kombiniert quantitativ-qualitativer Zugang gewählt. Die Datensammlung erfolgte mit der Lingscape-App über ein eigens eingerichtetes Projekt. Lingscape ist eine App zur Erforschung sprachlicher Landschaften, die an der Universität Luxemburg beheimatet ist. Das Projekt verfolgt einen Citizen-Science-Zugang und konnte dadurch eine umfangreiche Datenbank mit Fotos zu Sprache im öffentlichen Raum erschaffen, die beständig weiterwächst.23 Im Rahmen von Lingscape ist die Einrichtung eigener Forschungsprojekte und die Datensammlung zu spezifischen Fragestellungen möglich. Ein solches wurde unter dem Titel Tracing the visibility of South-Slavic ­languages in Vienna – Südslawische Sprachlandschaften in Wien eingerichtet. Die gesammelten Daten sind über die Lingscape-Website öffentlich zugänglich und können online auf der interaktiven Landkarte unter dem Kurznamen Beč – Wien herausgefiltert und eingesehen werden.24 Geprägt durch unterschiedliche Studien zu urbanen Sprachlandschaften, wie zum Beispiel jener von Peter Backhaus zu Mehrsprachigkeit in Tokio,25 war unser Zugang, jegliche geschriebene sprachliche Mitteilung innerhalb eines definierbaren räumlichen Rahmens zu dokumentieren, mit der Einschränkung, dass das sprachliche Zeichen eine der südslawischen Sprachen enthalten muss. Wir erweiterten das Verständnis geschriebener sprachlicher Mitteilung allerdings auch hin zu einzelnen Graphemen oder Buchstabenkombinationen, die nicht als Lexem oder Syntagma lesbar sind, jedoch im südslawischen Sprachraum klar (sprachlichen) Botschaften zugeordnet werden können. Die Datensammlung erfolgte im Mai 2019 in drei vorab definierten Forschungsarealen. Das erste solche lag im 16. und 17. Bezirk beginnend vom Hernalser Gürtel die 22 Vgl. Matras/Gaiser, 2020, 214 f. 23 https://lingscape.uni.lu, letzter Zugriff: 19.11.2021. 24 https://lingscape.carto.com/builder/781d0814-ef0d-11e6-ad6f-0e3ff518bd15/embed, letzter Zugriff: 19.11.2021. 25 Backhaus, 2007.

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Ottakringer Straße stadtauswärts bis zum Nepomuk-Berger-Platz, dann südlich die Feßtgasse bis zur Thaliastraße, diese stadteinwärts bis zum Lerchenfelder Gürtel, und abschließend den Lerchenfelder Gürtel bis zum Startpunkt am Hernalser Gürtel. Daten wurden nicht nur in den genannten Straßenzügen gesammelt, sondern innerhalb des durch sie begrenzten Areals. Das zweite, deutlich kleinere Gebiet beschränkte sich auf die direkte Umgebung des Vienna International Busterminals in Erdberg in 1030 Wien. Das dritte Forschungsgebiet war ebenfalls kein in sich geschlossenes Areal, sondern eine rund zwei Kilometer lange Strecke im 15. Bezirk, ausgehend vom Wiener Westbahnhof die Äußere Mariahilfer Straße entlang bis zur Zwölfergasse, diese weiter zur Schmelzbrücke und über die Schweglerstraße bis zur Märzstraße, und diese stadteinwärts bis zur Hackengasse. Die drei Forschungsareale wurden ausgewählt, da es sich um gewachsene Interaktionsräume südslawischen Lebens in Wien handelt. Rudolfsheim-Fünfhaus (15. Bezirk), Ottakring (16. Bezirk) und Hernals (17.  Bezirk) zählen zu jenen Wiener Bezirken, in denen Menschen mit einem serbischen, bosnisch-herzegowinischen und kroatischen Migrationshintergrund regelmäßig unter den „Top 10 nach ausländischer Herkunft“26 angeführt werden, gemeinsam machen sie rund 15 Prozent der Bevölkerung in diesen Bezirken aus. Und dabei schließt diese Zahl die sogenannte zweite und dritte Generation gar nicht mit ein. Die Ottakringer Straße zwischen 16. und 17. Bezirk kennen viele in Wien auch unter dem Epitheton Balkanstraße. Beginnend vom Gürtel stadtauswärts entwickelte sich auf diesem Straßenzug eine Lokalmeile mit Cafés und Nachtklubs der ex-jugoslawischen Community, was auch musikalisch festgehalten wurde. 2011 veröffentlichten SemKoo feat. Da.Niko & ASZ & Dzingiz den Rap-Song Mach ma Party!?,27 in dem sie die Partys in den Klubs der Ottakringer Straße und ein sehr spezifisches Lebensgefühl zwischen Rakija, Turbofolk und Jugobeats besingen. Die Straße bekam ihre eigene Hymne. Auch die untersuchten Straßenzüge im 15. Bezirk weisen eine hohe Dichte an südslawisch geprägten Restaurants und Cafés auf. Der Busbahnhof Erdberg stellt eine wichtige Mobilitätsdrehscheibe südslawischer Migrant*innen in Wien dar. Was für die Gastarbeitergeneration in den 1960er und 1970er Jahren der Südbahnhof war, an dem täglich Busse in Richtung ExJugoslawien abfuhren, wurde seit dessen Umbau zum Hauptbahnhof und der Verlegung der Bushaltestellen nach Erdberg seit 2007 der Vienna International Busterminal. Ein Blick auf die Fahrpläne zeigt, dass die führenden Destinationen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien liegen, von Maribor in Slo26 Stadt Wien, 2018, 18–20. 27 https://www.youtube.com/watch?v=BrHmNNjnMGY, letzter Zugriff: 19.11.2021.

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wenien bis Bitola im Süden Nord-Mazedoniens. Zusätzlich zu den in diesen drei vorab definierten Arealen wurden im Laufe des Sommersemesters 2019 vereinzelt auch Daten außerhalb dieser gesammelt, doch stellt dies den deutlich kleineren Teil der Daten dar. Insgesamt wurden 478 Bilder gesammelt, die bewusst jeweils nur ein Motiv enthielten und damit als ein Token analysiert werden konnten. Konkret bedeutet das, dass zum Beispiel bei gastronomischen Einrichtungen mit südslawischen sprachlichen Zeichen jedes Schild und jede Aufschrift gesondert dokumentiert wurde. Das Material wurde mittels der Lingscape-App gesammelt, die als frei zugängliche Applikation auf Handys installiert wird und mittels derer man die aufgenommenen Fotos gleich annotieren kann. Hierzu können vorab im Backend Taxonomien und Annotation festgelegt werden. Vor dem Hintergrund der Fragestellung wurden die Daten in einem ersten Schritt hinsichtlich der verwendeten Sprachen annotiert. Vorab festgelegt waren dabei die südslawischen Sprachen (Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch, Slowenisch, Bulgarisch, Mazedonisch sowie Burgenländischkroatisch) sowie Deutsch und Englisch. Weitere Sprachen, die auf einem Token zu sehen waren, konnten nachträglich im Backend annotiert werden. Die Datenannotation zeigte hinsichtlich der Sprachenauswahl in den meisten Fällen das Problem, dass es aufgrund der kurzen Textsequenzen nicht immer möglich war, eine der vier Varietäten Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch auszuwählen. In solchen Fällen wurden alle vier annotiert. Für die weitere Annotation waren vorab sieben Taxonomien festgelegt: Mit der Kategorie „Script“ wird die verwendete Schrift (kyrillisch oder lateinisch) angezeigt, die Taxonomie „Translation“ ermöglicht Analysen mehrsprachiger Zeichen und fragt nach der Art der Übersetzung, die überlappend, duplizierend, fragmentarisch oder komplementär sein kann. „Directedness“ fragt nach der seit Beginn der Linguistic Landscape Studies relevanten Dichotomie von Top-down und Bottom-up, also der Aufteilung zwischen von offizieller Seite aufgestellten Zeichen und privaten sowie kommerziellen Zeichen. Die Kategorie „Status“ erfasst, ob ein Zeichen als autorisiert eingeordnet werden kann oder als ohne Erlaubnis, aber trotzdem geduldetes, oder ob es als transgressives, also regelwidriges sprachliches Zeichen klassifiziert werden muss. Welcher materiellen Art die gesammelten sprachlichen Zeichen sind – ob es sich zum Beispiel um Straßenschilder, Poster, Leuchtreklametafeln oder Graffiti handelt – wurde in der Kategorie „Form“ annotiert. In der Taxonomie „Discourse“ waren die Kategorien künstlerisch, infrastrukturell, politisch, expressiv, kommerziell, informativ, regulierend, subkulturell, erinnernd auswählbar, wobei hier auch Mehrfachannotationen möglich waren. In der letzten für dieses Projekt

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ausgewählten Kategorie „Dominance“ war aus unterschiedlichen Annotationsmöglichkeiten nur „Quantity“ auswählbar. Damit wurden jene sprachlichen Zeichen annotiert, die wiederkehrend waren, und somit öfter als ein Mal im untersuchten Raum dokumentiert wurden. In einem ersten Schritt wurden die gesammelten Tokens quantitativ innerhalb der oben beschriebenen Taxonomien aufbereitet, um zu beantworten, welche Sprachen in welchem Ausmaß vertreten sind, wie sie sich zueinander verhalten, in welchen Kontexten und in welcher Form südslawische Sprachen in der Wiener sprachlichen Landschaft präsent sind. In einem weiteren Analyseschritt wurden die unterschiedlichen Taxonomien in ihrer Interdependenz betrachtet. Dabei zeigten sich quantitative Überlappungen einiger Kategorien, die eine detailliertere qualitative Feinanalyse bestimmter Teilaspekte ermöglichten.

4. KONTEXTE SÜDSL AWISCHER SICHTBARKEIT

An einem der zentralen Knotenpunkte öffentlicher Verkehrsmittel der Stadt – an der Station Kärntner Ring/Oper, an der Straßenbahnen und Busse in viele Richtungen Wiens abfahren und man direkt zur U-Bahn-Station Karlsplatz übergehen kann – steht auf einer der Mittelinseln ein alter Fahrscheinautomat der Wiener Linien. Dieser Automat war 1994 in einen Autobus und vier Jahre später in einen Straßenbahngarnitur der Wiener Linien eingebaut. Seit 2002 steht er nach Umbau und Adaptierung nunmehr im Freien und ist seit 2013 nicht mehr in Verwendung.28 Der alte Automat erinnert mittlerweile wie ein schon leicht angeschlagenes Denkmal an Zeiten, als Kartenzahlungen und Apps noch in weiter Ferne lagen und man ohne Münzen nicht an einen Fahrschein kam. Doch dieser Fahrscheinautomat ist auch hinsichtlich der abgebildeten Sprachen ein spannendes Zeugnis von Wiens mehrsprachigem Selbstverständnis jener Zeit. Die Anweisungen zum Fahrkartenkauf finden sich in drei Schritten groß in deutscher Sprache, darunter jeweils in vier weitere übersetzt: Englisch, Französisch, Serbokroatisch und Italienisch. Nicht nur Touristen wurden hier dezidiert angesprochen, sondern auch die größte sprachliche Migrationsgruppe in der Stadt, nämlich Sprecher*innen südslawischer Varietäten aus dem ehemaligen Jugoslawien. In älteren Garnituren findet man diese Automaten auch heute noch, die neueren Straßenbahnen und Busse haben be28 Herzlichen Dank dem Kundendialog der Wiener Linien für weiterführende Informationen zum Fahrscheinautomaten.

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reits Automaten mit Displays und Touchscreens, die in ihrem digitalen Funktionieren weit mehr Platz für unterschiedliche Sprachen und Texte finden. Der Raum ist nicht mehr begrenzt, und heute kann man beim Fahrkartenkauf zwischen 14 unterschiedlichen Sprachen wählen, darunter auch Slowenisch und Kroatisch. Doch ist dieser prominent platzierte Fahrscheinautomat bei der Wiener Oper eines der sehr wenigen südslawischen sprachlichen Zeichen, die von offizieller Seite installiert wurden, also als Top-Down-Zeichen gewertet werden können. Knapp 95 Prozent der im Rahmen unseres Forschungsprojektes gesammelten Tokens waren Bottom-up-Zeichen. Somit sind es Sprechende selbst, die sprachliche Zeichen in den einzelnen Sprachen produzieren und damit zählen die Südslaw*innen zu jenen Sprachgruppen, die sich selbst Sichtbarkeit im urbanen Umfeld verschaffen. Doch welche Sprachen konkret sind es, die wir in Wien finden? Die Streuung der einzelnen südslawischen Sprachen spiegelt deutlich auch die Bevölkerungszahlen slawischer Communitys in Wien wider. Aus den knapp 500 gesammelten Tokens enthielten nur sechs Mazedonisch, zwölf Slowenisch und 16 Bulgarisch. Die dem Slowenischen zuordenbaren sprachlichen Zeichen präsentieren überwiegend politischen Diskurs, konkret antifaschistische Positionen und Plakate für die 2019 erschienene Graphic Novel zum Peršmanhof-Massaker.29 Bulgarische und mazedonische Tokens sind fast ausschließlich rund um den Busbahnhof in Erdberg zu sehen. Absolut dominierend sind also die vier aus dem Serbokroatischen/ Kroatoserbischen hervorgegangenen Varietäten Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch. Es ist in mehr als der Hälfte der Fälle nicht möglich, Tokens klar einer der vier Varietäten zuzuordnen. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass sichtbare Textsequenzen oft nur wenige Wörter enthalten und kurzgehalten sind, womit klare Varietätenmarker wie zum Beispiel die Realisierung des historischen Lautes /ě/ (beispielsweise wie in mlijeko – mleko) oder lexikalische Besonderheiten fehlen. Andererseits sind gewisse sprachliche Zeichen auch bewusst varietätenübergreifend konzipiert, wie ein Textstück auf der mehrsprachigen Säule der Erinnerung auf dem Yppenplatz im 16. Bezirk: „U znak s(j)ecanja [sic!] svim žrtvama fašizma … Im Zeichen der Erinnerung an alle Opfer des Faschismus“. Es gibt aber durchaus auch solche, die einer der Varietäten zuzuordnen waren, beispielsweise 128 Tokens, die klar als „Serbisch“ annotiert werden konnten. Dies korrespondiert gut mit der Annotation nach Schrifttypus, hier sind es 108 kyrillisch eingeordnete Tokens. 29 Steinthaler/Loisel, 2019.

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S­ olche deutlich dem serbischen Sprachraum zuordenbaren Zeichen finden sich zum Beispiel rund um die serbisch-orthodoxe Kirche in der Neulerchenfelder Straße im 16. Bezirk und bei Plakaten für Veranstaltungen, die von serbischen Kulturvereinen oder der Botschaft organisiert werden. Dasselbe Muster ist für ausschließlich dem Kroatischen zuordenbaren Zeichen zu erkennen. Diese 52 Tokens finden sich rund um die Pfarre Hildegard Burjan im 15. Bezirk, in der auch kroatische Messen gelesen werden, sowie auf Veranstaltungsplakaten, die auf Ereignisse der kroatischen Community hinweisen. Als dezidiert bosnische sprachliche Zeichen konnten nur vier annotiert werden, die sich ebenfalls auf Veranstaltungsankündigungen finden, als eindeutig Montenegrinisch konnte kein Token annotiert werden. Grundsätzlich findet man sichtbare südslawische Sprachen manchmal auch in Kombination mit anderen Sprachen. Neben Deutsch und Englisch ist es oft das Türkische, das auf solchen multilingualen Aufschriften mit sichtbar ist. Solche sprachlichen Zeichen findet man meist dann, wenn Dienstleistung oder Handel auf mehrsprachige Kompetenz hinweisen wollen. Gerade rund um die Ottakringer Straße entdeckt man Apotheken oder Optikfachgeschäfte, die potenziellen Kunden der direkten Nachbarschaft vermitteln, dass man auch Beratung abseits der deutschen Sprache bekommen kann. Dabei können zwei Arten unterschieden werden. Einerseits finden sich Botschaften, denen der Informationscharakter in der getätigten Aussage selbst inhärent ist: „Mi pričamo Bosanski, Srpski i Hrvatski“ [Wir sprechen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch] findet man zum Beispiel, oder auch ausgewiesene Sprachkompetenzen für Glottonyme, also Sprachennamen, die es so offiziell nicht gab und gibt: „Mi pričamo jugoslovenski“ [Wir sprechen jugoslawisch]. Damit erfüllen solche Aufschriften gewissermaßen einen doppelten Informationscharakter, denn mit ihrer Sichtbarkeit vermitteln sie, dass an diesem Ort südslawische Varietäten gesprochen werden und in ihnen kommuniziert werden kann, gleichzeitig wird dieser Informationscharakter mit der getätigten sprachlichen Aussage doppelt festgehalten. Andererseits wird diese Mehrsprachigkeit im Handel und im Dienstleistungsbereich auch durch eine Übersetzung von Willkommensgrüßen, Dienstleistungen oder Werbeaufschriften vermittelt. Der Augenoptiker Belladonna im 16. Bezirk zeigt seine sprachliche Kompetenz durch mehrere Werbetafeln für Gleitsichtbrillen und Kontaktlinsen in deutscher und serbischer Sprache oder mit der Aufschrift „Mit uns zu einer klaren Sicht auf die Dinge – Sa nama ka jasnom pogledu na stvari“. Auffällig bei beiden beschriebenen Arten von sprachlichen Zeichen ist die Tatsache, dass sie meist auch in Kombination mit anderen Sprachen jüngerer Migrationsbewegungen

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kombiniert werden, beispielsweise Türkisch oder Russisch, Albanisch, Polnisch und Italienisch. „Dobro došli – Herzlich willkommen – Mirë se erdhët – Hoş geldiniz – Welcome“ grüßt ein Frisör auf der Ottakringer Straße seine potenziellen Kunden im Schaufenster, ein Lebensmittelgeschäft grüßt ebenfalls in fünf Sprachen, allerdings weicht die Kombination – und die Orthographie – ein wenig ab: „Willkommen! – Hoşgeldiniz! – Dobrodošli – Benvenuto! – Powitanie!“. Beide Aufschriften zeigen, dass sich die Betriebe bewusst in die multikulturelle und multilinguale Umgebung eingliedern und diese gleichzeitig mitgestalten. Meist wird die getätigte Botschaft dabei direkt übersetzt, sodass in allen sichtbaren Sprachen dieselbe Information zu lesen ist. Handel und Gastronomie in den beiden untersuchten Arealen im 15. und 16.  Bezirk zeigen ihre Zugehörigkeit zum südslawischen oder vormals jugoslawischen Raum gerne auch über die gewählten Lokalnamen. Über dem Eingang einer solchen Konditorei prangt zum Beispiel in zuckerlrosa geschwungenen Lettern Kolačić [Törtchen/Gebäck], ein Frühstückscafé samt Bäckerei präsentiert seinen Namen im Logo gleich zweisprachig als Die Miss Bäckerei – Gospodjica Pekara. Auch einige Restaurants und Imbisse zeigen schon in ihrem groß sichtbaren Namen nicht nur, welche kulinarischen Besonderheiten es gibt, sondern auch, welche Sprachen dort vermeintlich gesprochen werden können. Burek-Vučko ’84 auf der Wiener Märzstraße ist so ein Beispiel: Der in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens bekannte und beliebte Burek wird in der Namensgebung mit dem Maskottchen der 1984 in Sarajevo abgehaltenen Olympischen Winterspiele, Vučko [Wölfchen] samt Jahresangabe kombiniert und referiert damit auf ein bedeutendes Ereignis, das noch zu Zeiten Jugoslawiens stattgefunden hat. Eine stärker lokale Ausrichtung zeigen hingegen Lokalnamen wie das ebenfalls auf der Märzstraße und damit in unmittelbarer Nähe von Burek-Vučko ’84 liegende Niški merak, was man frei wohl am treffendsten mit „Genuss aus Niš“ übersetzen könnte. Damit zeigt die Bezeichnung eine Verbindung zur südserbischen Stadt Niš sowie den Turzismus „merak“, der in Kombination mit Essen und Trinken semantisch einen besonderen Genuss vermitteln soll. Bei der Namensgebung findet man mitunter auch Konstruktionen mit mehreren sprachlichen Codes, wie bei dem Restoran Domaće Kuhinje National im 16. Bezirk. Hier wird die Beschreibung des Lokaltyps – ein Restaurant einheimischer Küche – in einer südslawischen Varietät kombiniert mit dem Zusatz „National“, allerdings in vermeintlich deutscher Orthographie. Allein durch die außen sichtbare Aufschrift ist allerdings nicht klar zu erkennen, auf welche Nation oder auf welchen geographischen Rahmen „domaće“ referiert. Auch bei außen sichtbaren Aufschriften zum kulinarischen Angebot

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solcher gastronomischen Einrichtungen zeigt sich, dass durchaus mehrere Sprachen nebeneinander verwendet werden. Südslawische Varietäten dominieren allerdings, und meist gibt es auch keine duplizierenden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Das bereits genannte Restaurant Niški merak bietet hier eine Fülle an im Außenbereich sichtbaren sprachlichen Zeichen: Aufstelltafeln mit Informationen zum Buffet und Zustellungsmöglichkeiten, bunt illustrierte und großformatige Auszüge aus der Speisekarte sowie kleinformatige Kopien derselben, und einfache Textdokumente auf weißem A4-Papier mit weiteren Angaben zum kulinarischen Angebot zum Mitnehmen finden sich nebeneinander. Auch die verwendeten Sprachformen und Kombinationen variieren: Auf einem deutschsprachigen Auszug aus der Speisekarte werden Namen bestimmter Gerichte in südslawischem Original belassen und in Anführungsstriche gesetzt, meist jedoch fehlen diakritische Zeichen. Ćevapčići werden zu Cevapcici, Šopska als Eigennamen für einen Salat zu Sopska. Die Texte der Aufstelltafeln preisen ein neues Gericht in serbischer Sprache an („Novo! Teletina ispod sača“ [Neu! Im Sač geschmortes Kalbfleisch]), darunter folgt wieder eine Auflistung von Gerichten vornehmlich in deutscher Sprache. Die zum Mitnehmen angebotenen Speisen werden ausschließlich in serbischer Sprache ausgewiesen. Das tägliche Buffet wird wie in der Gastronomie gängig in englischer Sprache mit „All you can eat“ angepriesen, und die Möglichkeit, auch Veranstaltungen organisieren zu lassen, findet sich in deutscher und serbischer Sprache mit komplementärem Inhalt („Organizacija proslava. Gruppen, Events, Firmenfeiern & Veranstaltungen“). Aus diesem sichtbaren Sprachenmix wird deutlich, dass hier unterschiedliches Zielpublikum angesprochen wird, nämlich sowohl die serbische und/oder südslawische Community, als auch deutschsprachige Gäste. Ein ähnlicher Name, ein ähnliches Angebot, und doch ein anderes Zielpublikum zeigt sich in der sichtbaren Sprachverwendung des Restaurants Merak auf der Äußeren Mariahilfer Straße in 1150 Wien, das sich in seiner Eigenbeschreibung der Balkanküche zuordnet. Außer im Namen sucht man südslawische Varietäten aber vergeblich. Die unter dem Namen angeführte Restaurantbeschreibung ist international verständlich in englischer Sprache angeschrieben („Traditional Charcoal Barbecue“), die Speisen sind mit Ausnahme von Cevapcici und Pljeskavica als Eigennamen – und wieder ohne diakritische Zeichen – in deutscher Sprache ausgewiesen. Die bisher beschriebenen sprachlichen Zeichen sind einerseits einem kommerziellen Diskurs zuzurechnen, wie Aufschriften auf Läden und in gastronomischen Einrichtungen, und andererseits, beispielsweise Plakate und Poster für Veranstaltungen oder Informationen rund um Seelsorge und Messe in

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den untersuchten Sprachen, einem informierenden Diskurs. Für diese beiden Kategorien, vor allem für letztere, lässt sich grob festhalten, dass eine genaue Zuordnung zu einer der vier post-serbokroatischen Varietäten meist möglich war. Doch beide Kategorien machten jeweils nur ein Fünftel der erfassten Daten aus und stellten damit zusammen nicht einmal die Hälfte der sprachlichen Zeichen mit sichtbarem südslawischem Bezug. Den weitaus größten Anteil an der Sichtbarkeit südslawischer Sprachen in Wien haben subkulturelle Zeichen. Überlappt man die quantitative Analyse der drei Kategorien Diskurs, Form und Status zeigt sich eine hohe Überschneidung und Interdependenz dieser Annotationen. Denn solche dem subkulturellen Diskurs zuordenbare Zeichen sind meist Sticker oder Graffiti und haben damit einen transgressiven, also unerlaubten Status. Und solche sprachlichen Zeichen machen mehr als die Hälfte des gesammelten Datenmaterials aus. Das südslawische Wien ist in seiner sprachlichen Sichtbarkeit daher vor allem als an Laternenmasten, Verkehrsschildern oder Hauswänden aufgeklebte und aufgesprühte Subkultur präsent. Auffällig ist dabei die Dominanz des Streetwear-Labels Wien Oida, gegründet 2010 vom kroatischstämmigen Wiener Hip-Hop Musiker und Rapper Kid Pex, der mittlerweile auch unter seinem bürgerlichen Namen Petar Rosandić als Ini­ tiator der humanitären Hilfsorganisation SOS Balkanroute bekannt ist und den auch Miranda Jakišas Beitrag in diesem Band vorstellt. Drei Stickersujets seines Labels Wien Oida – die es auch auf T-Shirts und Hoodies gibt – sind regelmäßig wiederkehrend und dominieren vor allem in den Straßenzügen rund um die Ottakringer Straße und Äußere Mariahilfer Straße. Aber auch im restlichen Wien findet man sie – hat man die Stickersujets erst einmal bewusst entdeckt, erspäht man sie an allen Ecken und Enden der Stadt, weshalb eine Abbildung des Labels auch das Cover dieses Bandes ziert. Die sprachlichen Botschaften enthalten nur Teile in einer südslawischen Varietät. Sie sind, teilweise auch in Kombination mit weiteren semiotischen Ressourcen, Ausdruck lokaler, urbaner Jugendkultur in einer transkulturellen, transnationalen und translingualen Ausprägung. Damit sind sie nur mit Kenntnis unterschiedlichster sprachlicher und kultureller Codes lesbar und verständlich. Das prominenteste Motiv ist „Wien Oida Beč Oida“ in fetten weißen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Es kombiniert unterschiedliche sprachliche Codes: Die Doppelung des Toponyms in deutscher Sprache und dem im Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen, Serbischen gebräuchlichen Beč (Slowenisch: Dunaj, Bulgarisch und Mazedonisch: Viena) wird ergänzt durch ein jeweils nachgestelltes „Oida“ – einem der wohl bekanntesten und mit unzähligen semantischen Zuschreibungen verwendbarem Wort des Wienerischen Urbanolekts, das 2018 sogar

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zum Österreichischen Jugendwort des Jahres gewählt wurde. Das zweite wiederkehrende Motiv war die sprachliche Botschaft „Ajde, Ajde. Ruf die Murija“. Hier steht die südslawische umgangssprachliche Interjektion „ajde“ – übersetzbar mit [los, mach schon] – zusammen mit dem deutschen Imperativ „ruf die“, als Akkusativobjekt folgt „murja“, der Jargon-Ausdruck für Polizei im Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen, Serbischen. Auch hier werden also verschiedene sprachliche Codes und Register kombiniert. Hinzu kommt das Zeichen der anarchistischen Bewegung, ein in einem Kreis eingefasstes über dem in „murja“, das sich auch farblich in Rot abhebt. Damit bekommt die sprachliche Aussage auch eine politische Ausrichtung. Zusätzlich ist der Text links und rechts von zwei eher älter anmutenden Walkie-Talkie-Modellen flankiert, was darauf hinweisen könnte, dass die Polizei hier nicht ernst genommen wird. Das Sujet entstand als Reaktion auf einen Konflikt mit dem österreichischen Sänger Andreas Gabalier, als dieser Kid Pex wegen „gefährlicher Drohung“ anzeigt hatte. Gabalier hatte sich von einer Textzeile im Song So viel Polizei bedroht gefühlt, das Verfahren wurde aber schließlich eingestellt. Der dritte wiederkehrende Sticker zeigt wieder eine sprachliche Botschaft in weißen Großbuchstaben auf schwarzem Grund: „Keep it Jugo Do it Švabo“. Hier ist der Ausgangssatz in englischer Sprache verfasst, nur die beiden Begriffe „Jugo“ und „Švabo“, die hier durchaus als Antagonismen aufgefasst werden können, sind dem südslawischen kolloquialen Sprachraum entnommen. Das Sujet rekurriert sowohl in der sprachlichen Botschaft als auch durch die Inkludierung weiterer semantischer Codes auf eine südslawische Zuschreibung, die sich klaren nationalen oder ethnischen Zuschreibungen entzieht, und bedient eine postjugoslawische migrantische Zuschreibung als „Jugo“ im Gegensatz zum Konzept eines vermeintlich prototypischen Deutschen als „Švabo“.30 So ist im letzten Graphem von „Jugo“ der kommunistische Stern in blassem Rot eingefasst, das in „Švabo“ wird durch den deutschen Bundesadler symbolisiert. Doch die Botschaft vermittelt deutlich, beide kulturellen Konzepte zu integrieren. Alleine diese drei Stickersujets machten ein Fünftel der sichtbaren südslawischen Präsenz in den untersuchten Gebieten aus. Sowohl als Sticker als auch als Graffiti findet man eine weitere wiederholt auftretende Markierung des öffentlichen Raumes mit Wien-Bezug: „ЧБЕ БРЕ”, „Čbe bre“ in kyrillischer Schrift, als reine Textbotschaft oder in Kombination mit dem serbische Kreuz mit vier kyrillischen Majuskeln (lateinisch: S, siehe unten), in variierenden Farbcodes, meist in Rot oder Schwarz gehalten. „Čbe“ steht dabei für Beč 30 Vgl. dazu auch den Beitrag von Miranda Jakiša in diesem Band.

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[Wien] und entsteht durch Silbeninversion, also Vertauschung der Silben. Dies ist im Šatrovački üblich, einer urbanen Jugendsprache, die sich seit den 1960er Jahren vor allem in den Städten des ehemaligen Jugoslawien etabliert hatte und bis heute Teil der sich ständig wandelnden und dynamischen jugendlichen urbanen Soziolekte ist. „Bre“ ist eine im Serbischen kolloquial gebräuchliche Partikel, die mit dem Wienerischen „Oida“ vergleichbar ist. Damit ist die sprachliche Botschaft den „Wien Oida Beč Oida“ Stickern ähnlich. Hier wird allerdings die Stadt durch die verwendete Schrift und die Interjektion mit dem serbischen Sprachraum in Verbindung gebracht. Sowohl einem subkulturellen als auch politischen Diskurs lassen sich schließlich manche an Wiener Hauswänden entsponnenen Dialoge des Hasses und nationalistischer Parolen zuordnen. Auch solche Zeichen gehen meist über eine rein sprachliche Botschaft hinaus und sind daher in einem breiteren semiotischen Kontext zu lesen. Prominentes und wiederkehrendes Motiv ist hier ebenso das serbische Kreuz mit vier kyrillischen Majuskeln als Akronym für den Slogan „Samo sloga Srbina spašava“ [Nur Eintracht rettet den Serben] wie auch das lateinische Graphem mit oben auf beiden Seiten angedeuteten Serifen, manchmal auch mit zentral postiertem Kreuz, das für die kroatische Ustaša-Bewegung steht. Beide können durchaus in einem konflikthaften Dialog miteinander stehen und werden als Graffiti gegenseitig überschrieben. Ebenso findet man beide Zeichen durchgestrichen oder mit dem in einem Kreis eingefassten Graphem als antifaschistisches Symbol überschrieben. In wenigen Fällen können solche Dialoge des Hasses anhand des Schriftbildes recht gut nachgezeichnet werden. Ein eindrückliches Beispiel hierfür findet man in einem Hauseingang im 16. Bezirk. Die erste, da schriftbildlich am weitesten unten liegende Botschaft lautet „Šiptari we cill [sic!] you“ als Kombination eines in südslawischen Varietäten oft pejorativen und nationalistisch konnotierten Ethnonyms für Albaner und Albanerinnen mit einer Morddrohung in fehlerhaftem Englisch. Als Antwort überschrieb eine weitere Person diese Aussage mit einem Herzen und einem in ein Rechteck eingefassten „UÇK“, dem Kürzel für die Mitte der 1990er Jahre entstandene paramilitärische kosovo-albanische Bewegung. Darüber findet sich dann in augenscheinlich selber Handschrift wie die erste Botschaft, nun aber mit anderer Farbe geschrieben „Ubij Šiptara“ [Töte den Albaner] als Wiederholung der ersten Botschaft. Darüber findet man angedeutet und vermutlich eingeritzt das Ustaša-U. Nationalistische Konflikte aus dem ehemaligen Jugoslawien werden also auch an Wiener Hauswänden ausgetragen und lassen sich somit als transnationale Erscheinungen charakterisieren.

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Abb. 1: Dialogische Konflikte in einem Hauseingang auf der Wiener Ottakringer Straße.31

Ebenfalls über Staatsgrenzen hinweg funktionieren Fan- und Ultra-Gruppen-­ Dialoge des Fußballs. Der Belgrader Revierkampf der Delije als Anhänger von Crvena Zvezda Beograd und der Grobari, Ultrafan-Gruppe von Partizan Beograd werden auch im 15. Wiener Gemeindebezirk an den Wänden mit dialogischen Graffiti ausgefochten. Auch hier sind es nicht die sprachlichen Botschaften alleine, die Bedeutung transportieren, sondern auch Farbcodes – Botschaften der Delije sind in roter, jene der Grobari in schwarzer Farbe gehalten. Lokale Unterstützung in Grün bekommen die Delije bei diesem Konflikt von RapidWien-Anhängern: Nicht nur ist eines der prominent sichtbaren „Bečki Grobari“ [Wiener Totengräber] Graffiti rund um die Äußere Mariahilfer Straße mit grünen Wellenlinien übersprayt, vielmehr gibt es noch eine klare Botschaft darüber, wen Rapid Wien hier unterstützt, in – fehlerhafter – Vulgärsprache: „Zvezda Jebe 31 Lingscape ID21675 (https://lingscape-app.uni.lu, letzter Zugriff: 29.04.2022).

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vas svaki DAN NA ULIZU [sic!]“ [Zvezda fickt euch jeden Tag auf der Straße]. Nicht nur als Graffiti, sondern auch als Sticker an Laternenmasten, Straßenschildern und Hauswänden findet man Zugehörigkeitsbekundungen für diverse Fußballmannschaften aus dem ehemaligen Jugoslawien, von Dinamo Zagreb und Hajduk Split über FK Sarajevo bis hin zu Crvena Zvezda und Partizan Beograd, deren Unterstützungsbekundungen in Stickerform in diversen Sujets in Wiens sprachlicher Landschaft gefunden werden können.

5. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Bei der visuellen Präsenz südslawischer Sprachen in Wien ist vor allem die absolute Dominanz von Bottom-up-Zeichen auffällig. Damit widersetzt sich der öffentliche Raum und die von Sprechenden südslawischer Sprachen mitgestaltete linguistische Landschaft Wiens offiziellen Herangehensweisen zur sichtbaren – oder vielmehr unsichtbaren – Mehrsprachigkeit der Stadt. Urbane Präsenz von Sprache folgt viel eher eigenständigen und dynamischen Praktiken. Somit zeigt sich klar, dass bei der Untersuchung sprachlicher Landschaften längst nicht mehr nur wichtig ist, wie offizielle Sprachenpolitik in ihrer Sichtbarkeit Sprachpraxis beeinflussen kann, sondern dass Sprechende die sprachliche Landschaft in weitem Maße mitprägen und gestalten. Dies kann als kommunikativer Akt der Sichtbarmachung interpretiert werden, was gerade auch für die wiederholt auftretenden Sujets gilt. Dabei werden zur kommunikativen Praktik nicht ausschließlich sprachliche, sondern auch semiotische Ressourcen wie zum Beispiel Symbole und Farben verwendet. Die Analyse der Daten zeigt außerdem, dass Zugehörigkeiten vor allem im subkulturellen und transgressiven Kontext performativ verhandelt und dargestellt werden. Die tatsächliche Verwendung sprachlicher Codes, Register und Ressourcen zeigt deutlich, dass eine Vielzahl solcher performativen Zeichen transkulturell, translingual und transnational funktionieren. Einerseits hebeln sie somit kulturelle, sprachliche und nationale Grenzen aus und transzendieren diese. Andererseits werden Nationalismen einzelner post-jugoslawischer Länder reproduziert und auch an Wiener Wänden konfliktgeladen ausverhandelt. Auffällig ist, dass gewisse Räume der Stadt wie Straßenzüge und Grätzl – wie man in Wien kleinere Teile von Stadtbezirken nennt – regelrecht mit sprachlichen und semiotischen Zeichen markiert werden, sei es durch Rap-Künstler*innen und ihre Fans oder Fans unterschiedlicher und oft rivalisierender Fußballklubs mit südslawischem Bezug, am Rande auch durch national-ethnisch definierte Gruppierungen. So-

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mit bekommen solche Zeichen eine neue informative und symbolische Funktion in der linguistischen Landschaft: Nicht mehr die Sprache selbst steht im Zentrum der Aussage, sie ist vielmehr nur ein Teil der Botschaft, um Grenzen zwischen unterschiedlichsten Gruppen – und nicht nur Sprachgruppen – im urbanen Umfeld zu markieren. Gemeinschaft, Zugehörigkeit und soziale Identifizierung, oft abseits ethnischer, nationaler oder sprachlicher Grenzen, wird über sichtbare Zeichen verhandelt. Dabei zeigt der Großteil der gesammelten Zeichen, dass die tatsächliche Verwendung von sprachlichen Ressourcen Sprachgrenzen aufhebt und dass gerade dies als Merkmal oder Charakteristikum der Wiener linguistischen Landschaft ausgemacht werden kann, in der die südslawischen Sprachen einen festen Platz gefunden haben. Literaturverzeichnis

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Abb. 1: Bildrechte: Katharina Tyran.

AUTOR*INNENVERZEICHNIS

Lejla Atagan ist PraeDoc-Universitätsassistentin am Institut für slawische Sprachen an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Migration, Sprache und Unternehmertum, Interkulturalität, Narrativen sowie semiotischen und linguistischen Landschaften. Vida Bakondy lebt und arbeitet als Historikerin in Wien. Sie führte verschiedene Projekte zur Historisierung, Musealisierung und Repräsentation der österreichischen Migrationsgeschichte nach 1945 durch. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsbereich Balkanforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und PostDoc-Stipendiatin im Hertha-FirnbergProgramm des FWF. Mascha Dabić unterrichtet Übersetzen und Dolmetschen (Russisch) an der Universität Wien. Sie übersetzt Literatur aus dem Balkanraum. Ihr Forschungsinteresse gilt vor allem dem Dolmetschen in der Psychotherapie für Kriegs- und Folterüberlebende. Bisera Dakova ist Mitarbeiterin am Institut für Literatur der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2016 ist sie Gastlektorin für bulgarische Sprache, Literatur und Kultur am Institut für Slawistik der Universität Wien. Sie forscht zu Dekadenz, Symbolismus und Modernismus in der bulgarischen Literatur. Darija Davidović ist Theaterwissenschaftlerin am Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft an der Universität Wien sowie freie Lektorin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen postjugoslawisches Gegenwartstheater, postjugoslawische Erinnerungskulturen und -politiken sowie Theater und kulturelle Erinnerung. Jana Dolečki ist Theaterwissenschaftlerin, Kulturmanagerin und Leiterin des Wiener Chores „Hor 29. Novembar“. Sie promovierte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien zu Inszenierungen von Nationalismus im kroatischen institutionellen Theater während der Kriege der 1990er Jahre.

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Autor*innenverzeichnis

Armina Galijaš ist Senior Scientist am Zentrum für Südosteuropastudien an der Universität Graz. Ihre Forschungsinteressen und ihre Lehrtätigkeit konzentrieren sich auf die Zeitgeschichte Südosteuropas. Siegfried Gruber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte/Arbeitsbereich Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Historischer Demographie, Haushalts- und patriarchalen Strukturen im südöstlichen Europa und im europäischen Vergleich. Miranda Jakiša ist Universitätsprofessorin für Südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschung und Lehre umfassen bosnische, kroatische und serbische Literatur, Theater und Film sowie südslawische kulturwissenschaftliche Themen und Fragestellungen einer breit aufgestellten „Post-Jugoslawistik“. Emmerich Kelih ist assoziierter Professor am Institut für Slawistik der Universität Wien. Seine thematischen Schwerpunkte sind die allgemeine Sprachwissenschaft slawischer Sprachen mit besonderem Interesse an quantitativen Methoden. Agnes Kim ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB „Deutsch in Österreich“ in einem am Institut für Slawistik der Universität Wien angesiedelten Teilprojekt. In ihrer Forschung fokussiert sie (historische) Mehrsprachigkeit und den daraus resultierenden Sprachkontakt zwischen dem Deutschen (insbesondere in Österreich) und slawischen Sprachen. Darko Leitner-Stojanov ist assoziierter Professor am Institut für Nationale Geschichte in Skopje und arbeitet extern mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften/IHB zusammen. Er ist Historiker und befasst sich gegenwärtig mit der visuellen Geschichte von Migration insbesondere von jugoslawischen und mazedonischen Gemeinschaften in Wien. Nedad Memić ist promovierter Germanist und Kommunikationsberater in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem deutsch-bosnische Sprachbeziehungen, Sprache in Bosnien-Herzegowina am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, Mehrsprachigkeit und Balkandiaspora in Österreich.

Autor*innenverzeichnis

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Lydia Novak studierte Theater-, Film und Medienwissenschaft, Vergleichende Literaturwissenschaft und Austrian Studies in Wien. Sie schreibt und arbeitet mehrsprachig an, in und über Sprache, Literatur, Kultur, Film und Theater. Sabrina Steindl-Kopf ist Lehrende am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und am Department für Soziale Arbeit an der FH St. Pölten. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Antiziganismus und der Inklusion von Rom*nja in Europa sowie der Reproduktion antiziganistischer Bilder in EU-geförderten Projekten. Amila Širbegović ist Architektin, Migrations- und Stadtforscherin. Sie arbeitet, forscht und lehrt an den Schnittstellen von Stadtplanung, Migration und Raumproduktion. Sie unterrichtet an der TU Wien und ist Teil des Teams der IBA_Wien. Nadine Thielemann ist Universitätsprofessorin für Slawische Sprachwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie beschäftigt sich mit dem politischen und wirtschaftlichen Diskurs in MOE, Kommunikation in sozialen Medien sowie der kulturellen Spezifik kommunikativer Strategien. Katharina Tyran ist Universitätsassistentin für slawische Philologie (PostDoc) am Institut für Slawistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte beinhalten soziolinguistische Fragestellungen mit einem Fokus auf Schrift und Graphie, Minderheitensprachen und Volksgruppen. Sanda Üllen ist Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Migrations- und Erinnerungsforschung mit besonderem Fokus auf translokale bosnische Familien und Rom*nja. Rada Živadinović ist Absolventin der Kultur- und Sozialanthropologie und Gender Studies an der Universität Wien. Sie beschäftigt sich wissenschaftlich sowie politisch-aktivistisch mit den Themen Migration, Feminismus, Antirassismus, LGBTIQ+ und widmet sich der Community Arbeit.