Metaphysik einst und jetzt: Kritische Untersuchungen zu Begriff und Ansatz der Ontologie 9783110856767, 9783110053210

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Metaphysik einst und jetzt: Kritische Untersuchungen zu Begriff und Ansatz der Ontologie
 9783110856767, 9783110053210

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Kapitel I. Begriff und Ansatz der Metaphysik bei Aristoteles
KAPITEL II. Die Änderung des Begriffes der Metaphysik bei Thomas von Aquin und Franz Suarez
KAPITEL III. Allgemeine Gegenwartsübersichten
KAPITEL IV. Neuscholastik und Ontologie
KAPITEL V. Nicolai Hartmann
KAPITEL VI. Martin Heidegger
KAPITEL VII. Zur Metaphysik der Natur von heute
KAPITEL VIII. Zur Metaphysik der Technik

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Metaphysik einst und jetzt

Metaphysik einst und jetzt Kritische Untersuchungen zu Begriff und Ansatz der Ontologie von

Simon Moser

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. Vormals G. j . Göschea'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. B E R L I N 1958

© ArdiiV'Nr. 42 59 57 Copyright 1957 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35. - Alle Rechte des Nachdrucks, der photomedianischeo Wiedergabe, der Obersetzung, der Herstellung VOQ Photokopien und Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany Satz und Drude: Kahmann-Druck, Berlin'Steglitz

Vorwort Dieses Budi trägt den Titel „Metaphysik einst und jetzt", weil in ihm Begriff der Metaphysik und Ansätze des metaphysischen Denkens in der Antike und im Mittelalter an einigen Knotenpunkten verfolgt werden, dann aber ein Sprung in die Gegenwart gemacht wind, in der j a etwa seit 1900 metaphysische Tendenzen wiederum stärker hervortreten. Von Descartes z. B. ist also hier nur die Rede, insofern es sich um metaphysische Traditionen in seinem Denken handelt. Aber auch aus der gegenwärtigen Philosophie sind nur einige markante Beispiele, wie die Ontologie Nicolai Hartmanns und Martin Heideggers, dessen Seinsdenken im Rahmen dieses Buches besondere Aufmerksamkeit verdient, herausgegriffen, dafür aber dann konkrete Ansätze des metaphysischen Denkens über Naturwissenschaft und Technik eingehender behandelt. Die einzelnen Kapitel, mit Ausnahme der ersten historischen, sind relativ selbständig voneinander bearbeitet und können daher auch, vor allem die über Naturwissenschaft und Technik, unabhängig von den anderen gelesen werden. Der rote Faden, der sich aber doch durch das Ganze zieht, ist die Seinsfrage im allgemeinen und im besonderen der Vergleich des aristotelischen Seinsbegriffes mit dem Seinsbegriff der modernen Ontologie, die Konfrontation der „Physis" mit dem heutigen Naturbegriff, der „Techne" mit dem heutigen Technikbegriff. Diese engere Absicht soll auch im „und" des Titels zum Ausdruck kommen. Das Schlußkapitel ist Fragen der Metaphysik der Technik gewidmet. Die Grundphänomene der Technik stellen auch dem Philosophierenden, vor allem aber dem Philosophielehrer an einer Technischen Hochschule, neue Aufgaben. Der Karlsruher Hochschulvereinigung spreche ich für ihre großzügige Spende, die die Veröffentlichung dieses Buches ermöglichte, meinen herzlichsten Dank aus, ebenso meinem Assistenten, Dr. Harald Delius, für die mühsame Arbeit des Lesens der Korrekturen. Karlsruhe, im Oktober 1957

Simon Moser

Inhalt I. Begriff und Ansatz der Metaphysik bei Aristoteles 1. Die Wissenschaft von den ersten Gründen 2. Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden 3. Die Wissenschaft vom höchsten Seienden

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II. Die Änderung des Begriffes der Metaphysik bei Thomas von Aquin und Franz Suarez 1. Interpretation des Vorwortes des Metaphysikkommentars von Thomas 2. Unterschiede der Analogielehre 3. Die Transzendentienlehre 4. Name und Begriff der Metaphysik am Anfang der „Disputationes metaphysicae" von Suarez 5. Die ontologische Abstraktionslehre von Suarez 6. Descartes' Meditationen und die metaphysische Uberlieferung

14 19 21 24 29 31

III. Allgemeine Gegenwartsübersichten 1. „Metaphysik", „Ontologie", „Sein" 33 2. Zurückführung der Hauptschwierigkeiten auf die aristotelische Metaphysik (IV, 1) 40

IV. Neuscholastik und Ontologie 1. Das „esse commune" und „esse subsistens" nach Joh. Bapt. Lotz's „Ontologie und Metaphysik, ein Beitrag zur ihrer Wesensstruktur" 43 2. Das „esse commune" und „esse subsistens" nach Bernhard Weltes „Der philosophische Glaube bei Jaspers und die Möglichkeit seiner Deutung durch die thomistische Philolophie" . . . 50

V. Nicolai Hartmann 1. 2. 3. 4.

Metaphysische Probleme der Einzelwissenschaften Metaphysik und Ontologie Der Begriff des Seienden als Seienden Prozeß und Gesetz in der Naturphilosophie

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VI. Martin Heidegger 1. Sein und Seiendes 89 2. Der Wandel des Seinsverständnisses von „Sein und Zeit" zum „Humanismusbrief" 103 3. Vom Sein der Wahrheit zur Wahrheit des Seins 116 4. Sein und Nichts 124

5. Dasein und Grund 128 6. Das Sein bei Parmenides und der Spruch des Anaximander . . . . 135 7. Der „Dichterische Entwurf des Menschseins" im Chorlied „...nichst ist ungeheurer als der Mensch..." des Sophokles (Antigone, V. 332—375) 146

VII. Zur Metaphysik der Natur von heute 1. Auseinandersetzung mit metaphysischen Richtungen der heutigen Naturphilosophie 2. Physik und Metaphysik der Natur 3. Hinweis auf den Naturbegriff bei Aristoteles, Kant, Goethe .. 4. Grenzen der Naturerkenntnis 5. Natur und Geschichte 6. Form, Struktur, Modell

155 178 184 191 200 218

VIII. Zur Metaphysik der Technik 1. Vorbemerkungen zu einer Philosophie und Metaphysik der Technik 2. Technik als angewandte Naturwissenschaft, als zweckneutrales Mittelsystem, als innerweltliche, aktive Religiosität (Donald Brinkmann) 3. Das Experiment in Naturwissenschaft und Technik. Sein Handlungscharakter 4. Technik als Realsein aus Ideen und als Fortsetzung göttlicher Schöpfung, Erfindung als Fund von gegebenem Sosein. Diesem Technikoptimismus gegenüber die Dämonologien der Technik. „Der Streit um die Technik" (Friedrich Dessauer) 5. Piatons Begriff der Techne 6. Der Regelkreis als das universelle Gebilde der methodisch vollendeten Technik und als physischer Schattenriß des menschlichen Handlungskreises (Hermann Schmidt). Vollautomation 7. Moderne Technik als herausforderndes, stellendes Entbergen der Natur. Das Gestell (Martin Heidegger)

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Kapitel I

Begriff und Ansatz der Metaphysik bei Aristoteles 1. Die Wissenschaft von den ersten

Gründen

Die Haltung der aristotelischen Metaphysik ist letzlidi nicht diktiert vom Pathos des Weltanschauungskünders, aber auch nicht vom Systemwillen des Wissenschaftlers, der „Alles Seiende zu einem großen, einheitlichen Stufenbau zusammenfaßt" 1 , sondern ist getragen von der Grundabsicht, an allem, auch noch an den Stufen eines solchen Stufenbaues die Seinsfrage zu stellen. Sie will im strengen Sinne Ontotogie sein, nicht zwar Ontologie in der engeren Bedeutung der metaphysica generalis als der allgemeinsten Disziplin neben der metaphysica specialis, wie sie die deutsche Schulmetaphysik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ausgearbeitet hat, wohl aber will sie vor aller Ausfächerung in Schulfächer den Logos des 8v fj 6v, des Seienden als Seienden entfalten. Die „erste Philosophie", wie Aristoteles meist die Metaphysik nennt, wird in den ersten Kapiteln des ersten Buches der Metaphysik vorläufig als Wissenschaft von den ersten Gründen und Ursachen definiert, enthüllt sich aber einem tieferen Blick als Wissenschaft vom Seienden als solchen und schließlich im Zusammenhang damit als Theologie. Der Weise soll alles verstehen, so lautet die erste Forderung, die „man" an den Philosophen stellt. Aber darüber ist sich auch die durchschnittliche Volksmeinung im klaren, daß diese Forderung nur gilt, soweit es überhaupt möglich ist, d. h. daß der Weise nicht über alles Einzelne orientiert sein kann in dem, wovon er ein Wissen besitzt. Wie erfüllt er nun aber tatsächlich diese Forderung? Notwendig kommt das Alles-Verstehen dem zu, der das Wissen vom Allgemeinen besitzt, denn dieser weiß irgendwie alles, was unter dem Allgemeinen liegt (982 a 21—23). Schon vorher hat die Analyse der Wissenschaft aus den vorwissenschaftlichen Verstehensweisen sich auf das Allgemeine bezogen, das hier auch die übrigen Forderungen des „man" an den Weisen leitet. Die „Technik" unterscheidet sich wesentlich von der Empirie dadurch, daß sie zum erstenmal von allen Erkenntnisweisen das Allgemeine erfaßt. Der bloß erfahrene Heilkundige weiß, daß bei dieser Krankheit dem einen und dem anderen dieses bestimmte Heilmittel geholfen hat, der Arzt aber weiß um das elSos, um das Krankheitsbild selbst, um das Allgemeine, das allen Krankheitsfällen ge1

Werner Jaeger .Aristoteles", S. 227.

t Moser, Metaphysik

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Begriff und Ansatz der Metaphysik bei Aristoteles

meinsam ist, d. h. aber zugleich um das Warum, die Ursache (981 a 5 ff). So ist immer das Wesenswissen, das Allgemeinwissen auch das Ursachenwissen. Je höher man in der Erkenntnis des Wesens steigt, um so höher steigt man in der Erkenntnis der Ursachen; bis man zu den ersten Gründen und Ursachen überhaupt gelangt: Das Allgemeinste ist auch erster Grund. Setzt man aber die Frage nach dem Wissen bei den Ursachen anstatt beim Allgemeinen an, so wird man sagen: Die ersten Gründe betreffen alles Seiende, daher ist ihre Erkenntnis die Wissenschaft des Allgemeinsten und der Weise versteht alles, indem er die ersten Gründe erkennt 2 . Aber diese Interpretation, obwohl sachlich möglich, entspricht nicht der Gedankenführung des Textes. Daraus ist ersichtlich, daß das innere Verhältnis von Ursachenforschung und Allgemeinforschung zueinander an einer Dunkelheit leidet: Das Alles-Verstehen des Weisen ist einmal erklärlich durch den genetischen Rüdegang von allen Einzelwirkungen zur letzten Ursache überhaupt oder dadurch, daß das Einzelne dem zusammenfassenden Allgemeinen untergeordnet wird. Aber wie ist das xaööAou, das Allgemeine dieses Umfassende, Ganze, das der Weise im Blick hat bei seinem Alles-Wissen, ohne daß er doch alles Einzelne durchschreiten muß? Es ist nicht das Ganze aus Bestandstücken, nicht das Ganze iin Sinne des Vollständigen, dem kein Teil fehlt, sondern in der Bedeutung des Umfassenden so zwar, daß jedes einzelne Umfaßte das umhaltende Ganze ist, logisch gesprochen: Von jeder einzelnen Art wird die übergeordnete Gattung ausgesagt. Diese merkwürdige Ganzheitsstruktur des Allgemeinen gibt es eben nur in der Aussage (Metaphysik V, Kap. 26). So ist also der Weise gleichsam schon immer zu diesem eigentümlichen Ganzen vorausgesprungen, so daß er nicht mehr jedes einzelne Exemplar der Gattung „diskursiv" durchlaufen müßte. Wenn er aber das Allgemeinste weiß, weiß er damit wirklich alles? Nein. Er weiß es nur ncos (982a 24), nur irgendwie. Er weiß dann nur alles in der einen, leersten Hinsicht, der alle Momente des konkreteren Sachgehaltes fehlen. Aus dem formalen Sein als solchen läßt sich nie und nimmer die konkrete Seinsfülle deduzieren. Die Weisheit im eigentlichen Sinne kommt aber dem Menschen nicht zu, sondern nur der Gottheit. Dem Menschen eignet nur die Philosophie, das Suchen nach Weisheit, weil ihm die höchste Einsicht im Ganzen verwehrt ist. Aber doch ist es ihm vergönnt, in der Philosophie das Göttliche zu erkennen, weil das Göttliche allen als Ursache und Grund erscheint (983a 8—10). Die Weisheit als Wissenschaft vom Letzten und Allgemeinsten hat selbst noch Anteil an einem Tieferen, ist selbst noch zusammengesetzt aus Wissenschaft und Vernunft (nikom. Ethik VI, 6, 1141a 19). Die Vernunft ist es, die die Gründe rein und schlicht in sich erfaßt. So könnte aber nur Gott erkennen. Wir 1

Walter Brödcer .Aristoteles", S. 16.

Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden

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haben bloß Anteil an der in der Wissenschaft der Weisheit eingehüllten Vernunft, wir können Prinzipien bloß als Prinzipien des davon Abhängigen und daher Abgeleiteten verstehen. Trotz dieses wesenhaften „und"-Charakters ist die menschliche Weisheit doch die beste Haltung gegenüber den anderen drei Erkenntnishaltungen: Technik als poietisches Verständnis, Klugheit als praktische Einsicht und Wissenschaft. Si© allein hat das Höchste zum Gegenstand, ihr kommt am meisten die Autarkie, die Selbstgenügsamkeit zu, sie allein wird um ihrer selbstwillen erstrebt (Nikom. Ethik X, 7). 2. Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden In einer tieferen Bedeutung stellt sich die Wissenschaft von den ersten Gründen und Ursachen als Wissenschaft vom Seienden als Seienden dar (Metaphysik IV, 1). Von vornherein steht diese im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die bloß einen Teil des Seienden aus dem Ganzen für sich als Gegenstand herausschneiden. Der Begriff der Einzel- und Teilwissenschaften involviert aber doch den Begriff einer Wissenschaft vom Ganzen des Seienden. Warum entwirft Aristoteles hier aber nicht das Programm einer solchen Totalwissenschaft, sondern der Allgemeinwissenschaft schlechthin, d. h. der Seinswissenschaft? Das ndTuaTa kqcOöAou, das schlechthin Allgemeine des Seins ist nicht das Weltganze, dessen Teile die Einzelwissenschaften untersuchen. Aristoteles kennt natürlich die Frage nach dem Ganzen der Welt und ihrer Teile, nach dem Verhältnis des Menschen zu ihm, nach der Verursachung des Weltganzen, aber er betrachtet sie zum größten Teil in seinen sogenannten naturwissenschaftlichen Schriften. In der Hauptformulierung der Möglichkeit und des Wesens der Ontologie setzt er also den „Teilen" der Einzelwissenschaften nicht das Ganze der Welt, sondern das koööXou, das Allgemeine des Seins gegenüber, das ja auch ein Ganzes, wenn auch nur analoger Art im Verhältnis zum Beistandsganzen ist. Das wäre aber eine bloß äußerliche Lösung der Frage von vorhin; neu aufgegriffen wiTd sie beim Verhältnis von Ontologie und Theologie, und dort erhält sie auch eine irgendwie abschließende Antwort. Wie das Allgemeine die führende Idee in der Herausstellung des Wesens der Weisheit war und nun den Ubergang vermittelt zur Entwicklung der Seinswissenschaft, so auch der Begriff der höchsten Ursachen und Gründe, der ja mit dem des Allgemeinen innerlich zusammenhängt. Ist nun aber das Sein selbst höchste Ursache und letzter Grund oder suchen wir noch nach Gründen des Seienden als solchen? Das Sein ist sicher Wesensgrund, wenn auch Aristoteles davon nichts sagt und nur Wert auf die Feststellung legt, daß wir die ersten Ursachen des Seienden als Seienden zu erfassen haben. Aber vielleicht sind beide Thesen doch miteinander verträglich, wenn Grund das eine Mal begründendes Was oder Wesen und das andere Mal Grundbestiml*

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Begriff und Ansatz der Metaphysik bei Aristoteles

mung d«s Seins heißt. Aber allgemeiner gesprochen: Können wir von Gründen des Seienden als solchen überhaupt reden, wenn das Sein das Letzte und Höchste des Analysierbaren überhaupt und daher nicht mehr definierbar ist? Oder gibt es an ihm noch Strukturen, die nicht mehT Definitionselemente sind und doch das Sein in einem bestimmten Sinne noch artikulieren, so daß eine Wissenschaft vom Sein trotzdem möglich wäre? Als solche Strukturen gelten die sogenannten Transzendentalbestimmungen des Seins, wie Wesen, Einheit usw. Das ganze Problem bildet noch eine der wichtigen Vorfragen in den „disputationes metaphysicae" des Franz Suarez. Wenn aber das Sein irgendwie der linaivonEvov, andererseits vom yiyvonevov. 5*

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Nicolai Hartmann

Das Sein kann also danach weder in einer Erscheinung noch in einem Werdeprozeß bestehen. D. h. aber auch modern gesprochen: Das Seiende als Seiendes ist nicht als Gesetztes, nicht als Subjektbezogenes, nicht als Gegenstand, Sein geht nicht im Gegenstandsein auf. Christian Wolff bestimmt noch wörtlich n-ach Aristoteles die philosophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est, aber in der Durchführung n/ähert er das ens allzusehr der Bedeutung unseres Gegenstandes an. Gegenstand kann aber vieles bloß Erdachte, bloß Vorgestellte sein, was nicht ist. Andererseits kann es aber vieles Seiende geben, das nicht Gegenstand ist. So muß man Wolff gegenüber zur alten aristotelischen Formel zurückkehren. Nur hat Aristoteles das Seinsproblem viel zu schnell auf besondere Teilfragen hin eingeschränkt und auf bestimmte Kategorien hinausgespielt, so Potenz, Form, Materie, Akt, Substanz. Aber vor dieser Einschränkung hat er doch das Problem zu einer vorbildlichen Bestimmung gebracht, die auch heute noch von unerschöpflicher Tragkraft ist (S. 41—43). In dieser Darstellung Nicolai Hartmanns ist der Gedanke unrichtig, daß die aristotelische Formulierung nicht auf das Sein, sondern nur auf das Seiende abzielt. Das „Seiende als Seiendes" meint das Sein und nicht das generell Seiende, das Seiende in seiner größten Allgemeinheit. Anders gesprochen: Die Unterscheidung in dieser Formulierung ist schon bedenklich, denn so wie wir das Wesen des Wahren als Wahrheit bezeichnen, das Wesen des Wirklichen als Wirklichkeit, so auch das Wesen des Seienden als solchen als Sein. Sein oder Seiendes als Seiendes bedeutet dasselbe. Ist der Begriff des Seins vom Seienden als Seienden abgetrennt überhaupt noch sinnvoll? Wohl ebensowenig, wie Wahrheit vollständig losgelöst vom Wahren eine faßbare Bedeutung hat. Ist es nicht vielmehr so, daß die Frage nach der Wahrheit oder nach dem Wahren als solchen identisch ist? Hinter der Hartmannschen Unterscheidung könnte sich eine platonische Hypostasierung des Seins verbergen: Das Seiende zeige nach oben hin seine abstrahierten genera bis zur größten Allgemeinheit, aber davon prinzipiell getrennt sei das Sein in seiner Erstheit bzw. Letztheit, in seiner Undefinierbarkeit usw. Wir sehen aber im Ansatz des Problems keine Notwendigkeit, zwischen dem Seienden als Seienden und dem Sein noch zu unterscheiden. In einer anderen Bedeutung, als Hart mann hier meint, hätte es noch einen Sinn, wenn man unter dem Seienden als Seienden die höchsten genera verstehen würde und davon prinzipiell geschieden, formal transzendierend noch das Sein selbst setzte, nämlich als Analoges. Das meint aber Hartmann nicht und dieser Ansatz würde auch der höchsten Allgemeinheit, die schon im Terminus „Seiendes als Seiendes" liegt, nicht gerecht. Und das ist der zweite Fehler Hartmanns, daß er in der Darlegung des aristotelischen Ansatzes die Analogie des Seins, die schon hierher gehört, nicht heranzieht. Es scheint mir

Der Begriff des Seienden als Seienden

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auch unrichtig, daß bei Aristoteles, wie Hartmann glaubt, das Seiende als solches sich gegenübersetzt der Erscheinung und dem Werden. Weder der Erscheinung noch dem Schein setzt Aristoteles das Seiende als Seiendes gegenüber, sondern dem Seienden, das in den Teilwissenschaften — in heutiger Ausdrucksweise den positiven'Wissenschaften— angesprochen wird. Hier kommt eine erkenntnistheoretische Umbiegung in das ursprünglich ontologische Problem hinein. Gegenübergestellt wird nämlich im ersten Kapitel des vierten Buches der aristotelischen Metaphysik das Ganze des Seienden als Seienden den Teilen des Seienden, die die Einzelwissenschaften aus dem Ganzen des Seienden herausschneiden und zum Gegenstand machen. Natürlich kann man sich hier an der Doppeldeutigkeit des Ausdruckes „Ganzes" stoßen, daß nämlich einmal damit das Ganze des höchsten Allgemeinbegriffes und dann wiederum das Ganze des Seienden, d. h. das Weltganze gemeint ist. Aber das ist eben die grundsätzliche Dunkelheit im Verhältnis von Ursachenforschung und Allgemeinforschung, die schon implizite in der Definition der Metaphysik durch Aristoteles und in der Ansetzung einer sachlichen Seinsproblematik überhaupt liegt, es ist die Schwierigkeit, auf die wir in der Darlegung des aristotelischen Metaphysikbegriffes immer wieder verwiesen. Es muß tief in der menschlichen Natur das Bedürfnis verankert sein, immer mit der Frage nach dem Seienden als solchen die Frage nach dem Weltganzen und seiner Verursachung zu verknüpfen, wie wir ja auch bei der Erörterung des Verhältnisses der aristotelischen Ontologie und Theologie sahen. Und das ist der vierte Fehler des Hartmannschen Ansatzes, daß er diese Schwierigkeit des Verhältnisses von Seiendem als Seiendem zum Seienden im Ganzen — das ist der Heideggersche Terminus, der das kocööAov des Weltganzen gut wiedergibt gegenüber dem koOöAou des Seienden als solchen — übersieht. Es hatte seinen inneren ontologischen Grund, daß die metaphysische Tradition immer wieder nach einem einheitlich Seienden hinter der Mannigfaltigkeit alles Seienden, nach einer Substanz, nach einem Absoluten, nach einem Einheitsgrund gesucht hat. Die Frage nach der Totalität der Welt und die allgemeinste Seinsfrage hängen miteinander zusammen, mag man die erstere Frage zurückführen auf die nach einem letzten Seienden, nach einem Urgrund oder auch nach einem exemplarisch Seienden, an dem die Idee des Seins überhaupt abgelesen werden könnte. Da Hartmann diese Grundschwierigkeiten übersieht, kommt er zu seiner Trennung von Ontologie und Metaphysik. So ist im allgemeinen seine Unterscheidung von Sein und Seiendem schief und diese Schiefheit drückt sich schon in der Überschrift des ersten Teiles der Grundlegung der Ontologie aus „Vom Seiendem als Seiendem überhaupt". Wozu das überflüssige „überhaupt"? Das sind unsere kritischen Anmerkungen zum Begriff des

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Nicolai Hartmann

Seins und zu seiner Unterscheidung von Seiendem nach Nicolai Hartmann. Sein ist nun nach ihm ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein Letztes ist aber niemals definierbar, da es kein Allgemeineres mehr gibt, mittels dessen es definiert werden könnte. Man kann auch auf anderen Gebieten das Letzte nicht definieren, z. B. was Bewußtsein, was Materie ist. Man kann es nur eingrenzen, gegen anderes abheben und von den Besonderungen aus beschreiben. Aber beim Sein ist es doch noch schwieriger. Denn es gibt nicht neben dem Seienden als Seiendem noch anderes Seiendes, wogegen man es eingrenzen könnte. Man kann es höchstens gegen das Beistimmte überhaupt ausgrenzen, d. h. gegen seine eigenen Besonderungen. Dann aber: Geist, Materie sind ja noch bestimmte Inhalte, sind material, Sein aber ist rein formal, Sein ist nicht mehr das Allgemeinste eines angebbaren Inhalts. Sein ist nicht mehr Inhalt, sondern die generellste Seinsweise aller Seinsweisen (S. 46—47). — Ist aber damit das Sein nicht schlechthin irrational? Nein, mag das Sein in genere ungreifbar sein, mag es auf dem Wege logischer Definition unfaßbar sein, d. h. vom noch Allgemeineren her, in der Form von Merkmalen, gegeben aber ist das Sein in seinen Besonderungen. Und immer ist ein Generelles von seinen Besonderungen her zugänglich. Dieses ist ja der unvermeidliche Weg aller Philosophie, denn alles Suchen nach Prinzipiellem geht diesen Weg. D. h. aber hier methodisch: Eine Lösung der allgemeinen Grundfrage kann man hier nicht anschließen, sondern man muß Stellung und Lösung speziellerer Fragen dazwischenschalten. Eine mögliche Lösung resultiert dann aus der Analyse von Dasein, Sosein, der Seinsmodi usw. (S. 47—48). — Die Ontologie wurzelt zwar im Gehalt der metaphysischen Probleme, braucht es aber nicht mit der ganzen Schwere derselben aufzunehmen, sie setzt vielmehr im Vordergrund an, ihre Einstellung ist der natürlichen Einstellung verwandt. Diese natürliche Einstellung der Ontologie unterscheidet sie von der Reflexion der Erkentnistheorie, Logik und Psychologie, die für jede dieser Wissenschaften je verschieden ist. Die natürliche Einstellung geht gradlinig auf das, was dem Subjekt begegnet, auf die Welt, in der es lebt und deren Teil es ist, sie ist uns im Leben geläufig, mit ihr finden wir uns in der Welt zurecht. Es ist die intentio recta, während die Umbiegungen der Psychologie, Logik und Erkenntnistheorie die intentio obliqua darstellen. Das 19. Jahrhundert hat diese drei Wissenschaften zu den Grundwissenschaften gemacht und damit aus der reflektierten Einstellung überhaupt nicht mehr herausgefunden zurück zu einem natürlichen Verhältnis zur Welt, es huldigte einem weltfremden Kritizismus, Logizismus, Psychologismus. Mit der natürlichen Einstellung fällt aber der Ontologie wieder die ganze Problemfülle der Welt zu (S. 49—50). — Die große Masse der Wissenschaften hält, wenn man sie von der Philosophie im engeren Sinne unter-

Der Begriff des Seienden als Seienden

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scheidet, die Linie der intentio recta ein. Das gilt für die Naturwissenschaften, die zwar das Gegebene umformen, aber niemals die Richtung der Blickstellung umbiegen, die also bloß den naiv aufgefaßten Gegenstand erweitern. Aber das gilt auch von den Geisteswissenschaften, die es mit überindividuellen Gebilden des objektiven Geistes zu tun haben, wie Recht, Moral, Kunst, Dichtung. Wie diese Gebilde schon im Alltag als objektive Mächte gegeben sind, denen sich der einzelne gegenüber ebenso zurechtfinden muß wie den Naturmächten gegenüber, so setzen auch die Wissenschaften davon nur die Einstellung des Alltags gradlinig fort. So ist natürliches, wissenschaftliches, ontologisches Verhältnis zur Welt im Grunde dasselbe, schärfer gesagt: die natürliche und wissenschaftliche Einstellung sind von Hause aus ontologisch (S.51—52). — Aber nicht nur Einstellung und Riditung sind dasselbe für Alltag, Wissenschaft und Ontologie, sondern auch die Seinsweise. Ontologie ist nicht Gegenstandstheorie, sondern Wissenschaft vom Seienden als Seienden. Es kommt darauf an, ob im Gerichtetsein der Erkenntnis auf den Gegenstand dieser nur als Gegenstand oder als ein Seiendes verstanden wird, d. h. als etwas, was auch ohne Gegenstand und unabhängig von ihm ist, was es ist. Das wesentliche ist nun, daß gerade alle drei Einstellungen ihren Gegenstand als einen selbständigen, an sich seienden verstehen. Dieser natürliche Realismus bildet die Ausgangsstellung für die Frage nach dem Seienden als Seienden. Er ist die Voraussetzung für unser Leben in der Welt, aber auch für jedes wissenschaftliche Verhalten. Er versteht überall das Seiende schlicht als Seiendes und nicht etwa als Erscheinung oder sonst etwas. Das besagt der Satz, daß wissenschaftliche und naive Erkenntnis von Haus aus ontologisch sind. Der Seinsmodus des Gegenstandes ändert sich im wissenschaftlichen Fortschritt nicht; der Gegenstand bleibt der gleiche, auch wenn die Gegenstandsauffassung sich ändert. Die wissenschaftliche Theorie ist auch eine Schau, wenn auch eine höhere als die des Alltags (S. 54—55). — Die Aporie des Seienden als Seienden betraf seine Undefinierbarkeit. Aber diese Schwierigkeit mildert sich erheblich, wenn man sie im Zusammenhang der Gesamtlage menschlicher Welterkenntnis sieht. Sie erscheint dann eingebettet in einen so reichen Problemzusammenhang, daß sich die Zugänge zu ihr ganz von selbst öffnen. Mit der reflektierten Einstellung von Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie gelangt man aber nicht dazu. Ein Jahrhundert reflektierter Denkrichtung macht uns Heutigen den Zugang zur Ontologie so schwer, einer Denkrichtung, die gerade um Art und Voraussetzung ihrer Reflektiertheit nicht weiß. Auch die Phänomenologie führt hier nicht ins Freie, wenn ihr Kampfruf auch heißt: Zurück zu den Sachen. Sie führt bloß zu den Phänomenen, d. h. zur Gegebenheit und sie ist schon reflektiert, wenn auch nicht erkenntnistheoretisch, sondern bloß bewußtseinstheoretisch (S. 55—57).

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Nicolai Hartmann

Gerade daß nach der Ansicht Hartmanns der natürliche Realismus die eigentliche Ausgangsstellung für die Ontologie ist, muß bezweifelt werden. Mag die Erkenntnis auch immer ihren Gegenstand als einen selbständigen, an sich seienden verstehen, so tut das die Ontologie doch nicht thematisch. Ist hier nicht das Ansichsein ebenso wie: das Fürmidisein noch etwas Sekundäres gegenüber dem Sein selbst? Ist vielleicht nicht gerade mit diesen Formulierungen Hartmann von vornherein erkenntnistheoretisch belastet? Das Seiende als solches steht doch nicht dem Gegenstand als Gegenstand gegenüber, sondern die Seinsfrage sieht einfach davon ab. Der Aspekt des Seienden als Seienden ist nicht der des naiven Realismus. Der natürlichen Weltansicht fehlt schon das „als" im Sinne der gewöhnlichen Gattung, wievielmehr das „als" des Seienden als Seienden. Handelt es sich bei diesem Begriff nicht einfach um den höchsten Gattungs- bzw. analogen Begriff, der natürlich dann auch sowohl vom Seienden als Gegenstand als auch vom Seienden als an sich Seiendem gelten würde? Dabei ist aber noch zu sagen, daß dieser Gegensatz: Seiendes als Gegenstand und Seiendes als Ansichseiendes für die Ontologie überhaupt irrelevant ist. Es ist überflüssig und sinnlos, Seiendes als Seiendes im Gegensatz zu Erscheinung und ähnlichen Begriffen zu bringen. Dadurch stellt man sich von vornherein, wenn auch nur in der Abwehr, auf den erkenntnistheoretischen Boden. In Wirklichkeit liegt der Begriff des Seienden als solchen über alle derartigen Gegensätze hinaus, ist gleichgültig gegen sie. Deshalb sind auch nicht naive und wissenschaftliche Erkenntnis bereits von sich aus ontologisch eingestellt. Dazu ist eine neue Einstellung notwendig, ein Transzendieren, ein überstieg vom naiven und konkret wissenschaftlichen Erkennen zur Einstellung des Seienden als Seienden. Bei dieser handelt es sich daher nicht um eine Alltagseinstellung zur Welt; durch die Transzendenz des Seinsbegriffes erfolgt vielmehr eine Uniwendung der natürlichen Welteinstellung und deshalb ist es auch fraglich, ob die Ontologie wirklich eine keineswegs mit besonderen Schwierigkeiten belastete Disziplin sei (S. 48). — Natürlich kann man die Analogie des Seins auch leugnen und an einem schlechthin univoken Seinsbegriff festhalten wollen. Aber es geht nicht an, hier dieses Problem nicht zu streifen. Denn wer die Analogie des Seins vertritt, wird niemals wie Hartmann sagen können „die Besonderungen des Seins sind freilich faßbar und faßbar ist auch ihr Verhältnis zu ihrem genus" (S. 47). Durch die! Analogie wird eben gerade auch das Verhältnis des obersten Begriffes zu seinen Besonderungen mitbetroffen, weil es dann hier keine spezifischen Differenzen mehr gibt. Im zweiten Abschnitt der Grundlegung der Ontologie „Traditionelle Fassungen des Seienden" begegnen uns einige Differenzpunkte gegenüber der metaphysischen Tradition, die wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Ontologie noch erwähnt werden müssen. Hartmann

Der Begriff des Seienden als Seienden

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(S. 57 ff.) k e n n t nicht die ontologische Tradition, wonach ens, res u n d aliquid, also Seiendes, Ding u n d Etwas z u s a m m e n g e h ö r e n als T r a n s z e n d e n t a l b e s t i m m u n g e n . Res heißt nach ihr natürlich nicht materielles Ding, s o n d e r n sachhaltiges Ding u n d r e a l i t a s ist nach ihr die S a d i h a l t i g k e i t einer Sache u n d d a h e r mit e s s e n t i a identisch. Essent i a ist ü b r i g e n s nicht die U b e r s e t z u n g f ü r das aristotelische t ! fjv eIvoci, s o n d e r n die scholastische U b e r s e t z u n g dieses T e r m i n u s l a u t e t „quod quid e r a t e s s e " (S. 63). Diese B e d e u t u n g v o n Realität liegt auch noch im cartesianischen Begriff der r e a l i t a s o b j e c t i v a vor, w ä h r e n d m a n h e u t e u n t e r „real" u n d „ o b j e k t i v e Realität" das Wirkliche u n d die W i r k lichkeit v e r s t e h t . Einer d e r w e n i g e n n e u e r e n Philosophen, die d e n Begriff r e s in seiner a l t e n B e d e u t u n g v e r s t e h e n , ist Franz Brentano, der i h n a b e r insofern modifiziert hat, als nach ihm i m m e r ein Konkretes, e i n Ding, e i n Reales ist, niemals a b e r ein A b s t r a k t u m . Dieser Unterschied in der T e r m i n o l o g i e ist v o n wesentlicher B e d e u t u n g für die Geschichte der Ontologie. Ein zweiter Differenzpunkt betrifft den Begriff der Substanz. Es ist nicht so, daß nach d e r aristotelischen Tradition die Substanz das I n n e r e und V e r b o r g e n e g e g e n ü b e r der erscheinenden u n d g e g e b e n e n Oberfläche (S. 58) ist. „Inneres" u n d „Oberfläche" s i n d k e i n e g u t e n Umschreibungen f ü r das V e r h ä l t n i s v o n Substanz u n d A k z i d e n z u n d werd e n d a h e r auch v o n A r i s t o t e l e s nie gebraucht. H a r t m a n n meint, a m a u s g e r e i f t e n Substanzbegriff, den erst die N e u z e i t b e w u ß t e r k a n n t habe, s e i d e r G e g e n s a t z des B e h a r r e n d e n u n d des W e r d e n d e n das Wesentliche (S. 60). Das W e s e n t l i c h e scheint v i e l m e h r das s u b s t a r e der Substanz f ü r d a s Akzidenz, das eigentümliche Einschlußverhältnis der Substanz im Akzidenz zu sein, das typisch verschieden ist v o m Einschlußverhältnis d e r m a t e r i e l l e n Teile im K o l l e k t i v g a n z e n u n d v o m Einschlußverhältnis der I n d i v i d u e n im „Ganzen" des A l l g e m e i n e n . Dieses „per s e s t a n s " oder „ens n o n indigens esse in alio u t s u b j e c t o inhaesionis" w u r d e in der T a t auch in der Scholastik immer als das Selbständige, U n a b h ä n g i g e , T r a g e n d e (S. 59) v e r s t a n d e n u n d das A k z i d e n t e l l e als das Unselbständige, Abhängige, G e t r a g e n e g e r a d e in s e i n e m Sein als v o n G n a d e n der Substanz e x i s t i e r e n d a u f g e f a ß t . Es w ä r e v e r k e h r t , das V e r h ä l t n i s b e i d e r so zu v e r s t e h e n , d a ß ein für sich b e s t e h e n d e s , allerdings a b h ä n g i g e s Ding „Akzidenz" zur f ü r sich seiend e n Substanz hinzutritt, v i e l m e h r i s t das A k z i d e n z n u r als das v o n der Substanz innerlich u n d total A b h ä n g i g e . Das ist e i n H a u p t g r u n d dafür, daß v o n Aristoteles u n d der ihm f o l g e n d e n T r a d i t i o n der Seinsbegriff als a n a l o g e r a n g e s e h e n wird, weil e r bezüglich des Akzidenz n u r in d i e s e r v o l l k o m m e n e n A b h ä n g i g k e i t g e s e h e n wird, d e r e n Aus*druck d i e a n a l o g i a attrihutionis ist. Deshalb ist nach dieser Tradition das Seiende als solches k e i n e s w e g s , w i e Har.tmann meint, gleichgültig g e g e n d e n Unterschied v o n a b h ä n g i g u n d u n a b h ä n g i g S e i e n d e m u n d

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ist das Substanzprinzip für die ontologische Grundfrage nicht belanglos (S. 59), sondern von wesentlicher Bedeutung. Ebenso ist nach dieser Tradition die Verbindung der Begriffe Form und Substanz durdi Hartmann (S. 61) unrichtig. Es hält sich nach ihr nicht die Form als solche identisch in der Vielheit der Einzelfälle, sondern die Form als Allgemeines ist identisch gegenüber der individuellen Materie. Diese •wiederum ist in einem anderen Sinne, nämlich als individuell Bleibendes identisch gegenüber der Fülle wechselnder Formen, die an ihr kommen und vergehen. Wohl spricht der Aristotelismus von substanziellen Formen, aber das heißt keineswegs, daß die Form als solche die Anforderungen des Substanzprinzips erfüllt. 4. Prozeß und Gesetz in der

Naturphilosophie1

Unter Prozeß versteht Hartmann jene Kategorie, jene Seinsform, die alle Bewegung und Veränderung, Entstehen und Vergehen, organisches Wachstum und Schwund, kurz jeden denkbaren Umschlag in sich begreift. Die Griechen hatten sich dafür des Terminus (isTaßoAii = Umschlag oder auch k1vt)ctis = Bewegung im weiteren Sinne gegenüber der engeren Bedeutung Bewegung = Ortsveränderung bedient. Im lateinischen Ausdrude processuis liegt mehr die Bedeutung des Fortschreitens, des Fortgangs, des Verlaufes angedeutet. Um das, was dieses Verlaufen selbst ist, was der Fortgang und Vorgang an allem Umschlag ist, darum geht es Hartmann. Der Prozeß ist ihm das unentwegte Entstehen von Anderem und immer wieder Anderem und ebenso das unentwegte Vergehen in Anderes. Das Auftauchen und Verschwinden der Dinge, indem es aus Seiendem kommt und in Seiendes weitergeht, bildet einen zusammenhängenden Ductus. Der Prozeß ist der Zusammenhang des sukzessiv sich Ablösenden, er ist das kontinuierliche Zusammenerhalten des in die Zeitstadien Auseinandergerissenen, die Zusammengehörigkeit des zeitlich niemals beisammen Seienden, die Ganzheit und Einheit eines Vorgangs durch das sukzessive Aneinanderschließen des immer nur für einen Augenblick Entstehenden und dann für immer Vergehenden („Philosophie der Natur" S. 261). Er nimmt daher die alte Lehre Heraklits wieder auf, daß Entstehen und Vergehen nicht zwei verschiedene Prozesse, sondern einer sei, daß das Entstehen des einen das Vergehen des anderen ist, daß nichts Seiendes in Nichts, sondern nur in anderes Seiendes übergeht. Der Prozeß ist daher überhaupt nichts zwischen Sein und Nichtsein Hin- und Herpendelndes, daher auch nicht ein aus beiden Gemischtes. Das Bild Heraklits vom Fluß aller Dinge setzt er in die 1 Dieser Teil hätte auch im Kapitel „Zur Metaphysik der Natur von heute" behandelt werden können. Aber da es sidi dabei mehr um eine unmittelbare Anwendung der ontologischen Kategorienlehre Hartmanns auf Naturfragen handelt, schien mir der Platz hier besser gewählt zu sein.

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nüchtern begriffliche These um, die ihm aber entscheidend scheint, daß der Prozeß die allgemeine Seinsform alles Realen ist. Damit stellt er sich in radikalen Gegensatz zu allen eleatischen und platonischen Meinungen, wonach Sein und Werden einander ausschließende Alternativen sind. Im Fließen der Zeit sieht er das Grundmoment des Prozesses. Die Zeit aber ist eine, der Prozesse sind viele, die Zeit ist nur die Dimension und die allgemeine Form des Fließens, der Prozeß aber ist das in ihr abfließende Reale, was in ihr ausgedehnt ist. Der Prozeß ist die Veränderung der Gebilde, das Anderswerden aber ist Sache des Prozesses, nicht der Zeit. Wohl aber ist das Aufgeteiltsein des Dauernden in die Stadien des Nacheinander Sache dieser, das Ganze ist niemals beisammen, sondern vielmehr in die Stadien des Prozesses auseinandergezogen, was bewirkt, daß keines von den Gebilden jemals als Ganzes beisammen ist (S. 259—260). Wenn man gegen diese Auffassung des Prozesses als einer Einheit und Ganzheit des sukzessiven Aneinanderschließens der Stadien den Einwand erheben würde, daß doch ein anfang- und endloser Prozeß denkbar wäre, so würde Hartmann antworten, daß der Einwand an eine äußere Einheit und Ganzheit des Prozesses denke, ihm aber gehe es um die innere Einheit auch des unbegrenzten Prozesses noch (S. 273). Nun müßte aber der Einwand, wenn es ihm um eine echtere Frage ginge, darauf insistieren, was diese innere Einheit als konstitutives Merkmal des Prozesses denn wäre, ob sie selbst wieder als zeitliche Einheit gemeint sei, dann würde sie das Prozeßhafte des Prozesses nicht betreffen, wenn aber das nicht, was müsse dann unter der Einheit des Prozesses positiv verstanden werden, kurz er müßte andern problematischen Verhältnis von Prozeß und Zeit anknüpfen, wie ja vielleicht schon der Ausdruck vom Fließen der Zeit eine unerlaubte Analogie vom Prozeß auf die Zeit ausgeweitet bedeutet. Das procedere des Prozesses scheint etwas anderes noch zu sein als das succedere der Zeit, denn in ersterem verändert sich immer noch ein Reales, schlägt immer noch ein solches um, in letzterem dagegen nicht. Was ist also der zusammenhängende Ductus des Prozesses eigentlich, das kontinuierliche Zusammenhalten des in die Zeitstadien Auseinandergebrochenen, und macht Kontinuität, Zusammengehörigkeit, Ductus den eigentlichen Kern des Prozesses aus? Und ist der Prozeß als solcher „die gemeinsame Seinsform alles Realen, an der die .ruhende' Existenz der Realbildung auseinandergebrodien wird in die Vielheit der zeitlich sich ablösenden Stadien" (S. 260)? Wie ist überhaupt das Verhältnis von Stadium zum Prozeßganzen zu fassen? Als das eines Teiles, einer Grenze, eines abstrakten und stehenden Moments gegenüber dem ursprünglichen Fluß des Prozesses? Das wären einige philosophische Anknüpfungspunkte für eine Diskussion über Hartmanns Grundauffassung vom Wesen des Prozesses.

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Daß der Prozeß noch nicht das zeitliche Auseinandergezogensein seiner Stadien, noch nicht das bloße Nacheinander seiner Zustände ist, daß erst die sukzessive Einheit der sich ablösenden Stadien die Ganzheit eines Vorganges ausmacht, erst die Geschlossenheit zum Ganzen durch die innere Zusammengehörigkeit der Stadien in ihrem Auseinandergezogensein das eigentliche Gepräge des Prozesses bildet, darüber läßt Nicolai Hartmann keinen Zweifel (S. 265). Es ist klar, daß bei dieser Auffassung Entstehen und Vergehen in den Hintergrund tritt und dafür die Veränderung, die ein identisch Bleibendes im Prozeß voraussetzt, in den Vordergrund rückt. Die Atomistik versucht mm, die Veränderung als räumliche Bewegung zu verstehen: Wie nach Heraklit Entstehen und Vergehen derselbe Vorgang ist, so nach Demokrit der räumliche und qualitative Vorgang, qualitative Veränderung ist nach ihm bloße Verlagerung der Atome, Qualitäten bloße Erscheinungsweisen, das Bleibende aber sind die Atome. Aber die Atome allein, meint Hartmann, könnten allen Veränderungsphänomen nicht gerecht werden, z. B. nicht der Fortpflanzung des Lichtes und den elektromagnetischen Phänomenen (S. 263). Die Verweisung der Qualitäten in das Gebiet der Erscheinungen sieht er als einen gesicherten Grundgedanken an, aber man dürfe diesen großen Gedanken nicht dahin vereinfachen, als sollte alles Qualitative auf Quantität und alle Veränderung auf mathematische Bestimmung der Bewegung zurückgeführt werden. Mit dieser Auffassung kommt Nicolai Hartmann in eine starke Opposition zur aristotelischen Prozeßlehre, vor allem gegen jene — bei den einen berühmte, bei den anderen berüchtigte — Bewegungsdefinition in der Physik des Aristoteles (III 201 a 10) wonach Prozeß der Bewegung sei die Entelechie des Potentiellen als solchen (S. 266). Als Vorurteile sieht hier Hartmann 1. das teleologische Schema. 2. Daß nur aufbauende, nicht aber abbauende oder neutrale Prozesse berücksichtigt würden. 3. Daß die beiden Grundbegriffe Dynamis und Energeia bloß das Anfangs- und Endstadium berücksichtigten, nicht aber auf den Prozeß selbst paßten, d. h. auf d e n Übergang zwischen ihnen. Und schließlich 4. sei die Ubertragung der Energeia auf ein bloß der Dynamis nach Seiendes ein Widerspruch in sich selbst. Als ein philosophiegeschichtliches Problem nebenbei möchte ich nur erwähnen, ob sich die aristotelische Bewegungsdefinition bei einer radikaleren Interpretation gegen die Vorwürfe 3 und 4 gerade auch im Sinne der Hartmannschen Prozeßlehre nicht doch verteidigen ließe. Eine damit zusammenhängende Frage wäre noch, ob Hartmann nicht allzu rasch Entstehen und Vergehen gegenüber der Veränderung in den Hintergrund gedrängt hat, ob sich nicht in Ubereinstimmung mit seiner Prozeßlehre doch Entstehen und Vergehen als Umschläge, Ubergänge vom Nichtsein zum Sein, bzw. vom Sein zum Nichtsein —dieses allerdings nicht als absolutes Nichts verstanden, — rechtfertigen ließen und im weiteren steht dahinter

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noch die Frage mach, dem Verhältnis von Sein und Prozeß, wenn wir von letzterem noch behaupten: Er ist vorhanden, er existiert. Hartmanns Hauptthese, daß der Prozeß die Grundform des Realen ist, scheint mir richtig, und die eleatische Gegenposition, daß das unveränderliche, absolute Sein die Grundform des Realen sei, falsch, aber das enthebt uns nicht der Notwendigkeit nach dem Sein des Prozesses selbst zu fragen und ferner nicht der Frage, ob der Prozeß selbst eine Kategorie ist oder an ihm nur kategoriale Momente, wie Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Kontinuität, Dimension, Möglichkeit und Wirklichkeit usw. abzuheben seien. In einem allerdings beschränkten Sinne ist Hartmann noch Aristoteliker, er will etwas von der Dynamis des Aristoteles retten für die Prozeßlehre, allerdings nicht im Sinne der organischen Tendenz als Anlage zu etwas, als immanente Tendenz zu etwas. Bestimmte Stadien der Bewegung und Veränderung sollen nicht als Anlagephasen nach Art des Samens verstanden werden, sondern von durchaus gleicher Seinsart, gleich wirklich sein, wie das Fließen des Prozesess im ganzen und deshalb auch alle gleich möglich. Die frei herumlaufenden Möglichkeiten der Alten führten eine Art Gespensterdasein, setzten die Existenz dessen, worauf sie angelegt sind, bereits voraus, seien etwas paradox Ideales-Reales, etwas Halbseiendes. Von den metaphysischen Voraussetzungen dieses Möglichkeitsbegriffes muß die Ontologie der Natur nach Nicolai Hartmann absehen, Wirklichkeit ist nicht Verwirklichung eines vorgegebenen Eidos ( S. 267). Aber in jedem Zeitstadium des Prozesses ist etwas wirklich geworden, anderes aber noch unwirklich. Dieses Unwirkliche ist zugleich noch unbestimmt als das Zukünftige, das im Anrücken Begriffene, das von der Wirklichkeit des Jetztstadiums aus ein bloß Mögliches ist. So enthält die Unbestimmmtheit des in einem bestimmten Zeitpunkt Anrückenden nach ihm eine Mehrheit verschiedener Möglichkeiten und im Vorrücken des Prozesses verwirklicht sich stets nur eine der vielen Möglichkeiten und die anderen werden ausgeschlossen. Der Realprozeß bewegt sich in lauter realen Stadien und daher dreht es sich hier nicht um reale Möglichkeiten, sondern nur um unvollständige Möglichkeiten, die bloß den negativen Sinn der Unbestimmtheit und des Offenstehens haben. Diesen Begriff der Möglichkeit als ein Residuum der aristotelischen Potenzlehre würde Hartmann festzuhalten versuchen, auch wenn der logische Positivismus von heute in heftiger Abwehr ihn ablehnte. Das Jetztstadium des Prozesses in seinem Verhältnis zum Nichtmehr der früheren Stadien und des Nochnicht der zukünftigen Stadien zur Jetztphase ist ihm eine solche Möglichkeit. Er setzt natürlich dabei die Dreidimensionenbetrachtung der Zeit nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als selbstverständlich voraus, das, was Carl Friedrich von Weizsäcker in seiner „Geschichte der Natur" (S. 12) die Geschichtlichkeit der Zeit im Gegensatz zur Verräumlichung der Zeit in der Auf-

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fassung der Zeit als 4. Koordinate versteht. Wenn man innerhalb der letzteren Auffassung bleibt, kommt man natürlich mit Hartmann kaum in ein Gespräch über seinen Möglichkeitsbegriff, der von der leeren Unbestimmtheit der Zukunft, wenn auch nicht mehr von der Anlagefülle des schon vorliegenden organischen Samens hergenommen ist. Es gibt nach Hartmann eine Anschauung des kontinuierlichen Charakters des Prozesses (S. 271): Erst das unanschauliche Begreifen löst den Vorgang in einzelne Stadien auf und behandelt diese wie Teile, aus denen sich die Bewegung zusammensetzen soll. Der Fehler in den Paradoxien des Zeno sei die abstrakt gedachte Auflösung der Bewegung in räumlich und zeitlich getrennte Zustände gewesen und die unbillige Anforderung an die Anschauung, sie solle diese Zustände nun so verbinden, daß ein Bild des stetigen Überganges herauskäme. Die Anschauung löse vielmehr die fließende Einheit des Vorgangs gar nicht erst auf. Im ganzen lehnt Hartmann, die Finaldetermination der Bewegung im Sinne der Antike und des Mittelalters ab, ebenso sehr die bloße Kausaldetermination der neuzeitlichen Auffassung. Beide linearen Auffassungen würden dem ursprünglichen Prozeßcharakter von Bewegung, Vorgang, Veränderung nicht gerecht, der, wie er immer wieder wiederholt, in der kontinuierlich sukzessiven Einheit der zeitlich auseinander gezogenen Stadien bestehe (S. 273). — Aber gibt es diese zeitlich sukzessive Einheit im allgemeinen und der auseinander gezogenen Prozeßstadien im besonderen und besteht darüber hinaus diese letztere Einheit nicht in der Ursprünglichkeit des Prozesses selbst, die vielleicht nicht weiter analysierbar ist? Man kann am Prozeß wohl ein räumliches und ein zeitliches Moment und in der Verbindung beider das kontinuierliche Durchlaufen eines Weges unterscheiden. Aber dieses kontinuierliche Durchlaufen des Weges ist wohl das Ursprüngliche des Prozesses, dem gegenüber sich Zeit und Raum mehr als formal allgemeine Bedingungen ausnehmen. In der Formel s = c. t ist diese Ursprünglichkeit bereits vorausgesetzt, keineswegs irgendwie erklärt. Der Prozeß ist also mehr als der Charakter der zeitlichen Dehnung des Prozesses, er ist das reale, raumzeitliche Verlaufen der Dinge. Raum und Zeit sind nach Hartmann Dimensionen, in denen die Bewegung verläuft, bildlich gesprochen ihr Medium. Dimension ist das Worin der Extension, das Substrat der Messung. Ob es sich um eine Strecke, um Winkelweite, Fläche, Volumen, Dauer oder Geschwindigkeit handelt, immer liegt hier eine substrathafte Dimension zugrunde. Und wenn Naturwissenschaftler diesen naturphilosophischen Erwägungen Hartmanns gegenüber betonen würden: „In der Materie gibt es nichts wie Prozesse" würde Hartmann antworten: Ja, alles materielle Geschehen ist prozeßhaft, aber nicht nur. Am Schlüsse dieser Darlegung der Hartmannschen Prozeßauffassung wäre es wohl eine nicht unpassende Ergänzung, sie mit den natur-

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philosophischen, entsprechenden Anschauungen von Bertrand Russell zu vergleichen, der kurz und bündig erklärt hat: „Alles, was man sagen kann, wenn sich ein Körper bewegt, ist, daß er sich zu einem Zeitpunkt an einem und zu einem anderen Zeitpunkt an ¡einen anderen Ort befindet . . . Bewegung besteht bloß in der Tatsache, daß Körper manchmal an einem und manchmal an einem anderen Ort sind und daß sie an dazwischenliegenden Orten zu zwischenliegenden Zeiten sind." Hier spricht sich mit Berufung auf „diesen einfachen und geradlinigen Gemeinplatz" der absichtliche Verzicht auf den Möglichkeits- und Zeitbegriff Hartmanns aus, aber darüber hinaus auch auf seinen metaphysischen Ansatzpunkt, des Wesens des Prozesses Herr zu werden. Nun zum zweiten Begriff, zum Gesetzesbegriff. Hartmann versteht unter Naturgesetz immer Gesetz des Naturprozesses. Wichtig ist ihm die Unterscheidung zwischen Naturgesetz als Satz, mathematischer Formel und dem in den Prozessen waltenden Naturgesetz selbst (S. 382). Mit letzterem meint er die Gleichartigkeit der Prozesse, ihre Typik: Die konstanten Prozeßformen bilden ein Moment des Bleibenden im allgemeinen Flusse des Gesechehens, es handelt sich dabei um Formen der Konsistenz ohne Substrat. Mit den von den Naturwissenschaften formulierten Gesetzen brauchen sie nicht inhaltsidentisch zu sein (S. 385). Diese sind nur Versuche des erkennenden Bewußtseins, sie zu fassen. Die wirklichen Naturgesetze bestehen unabhängig von ihrem Erfaßtwerden. Sie sind das Realallgemeine in den Ablaufsformen der Naturprozesse. Es ist falsch, wenn vielfach logische Theorien die in exakte Form gebrachten generellen Urteile der Wissenschaft unmittelbar für Naturgesetze ausgeben. Das Gesetz besteht also in der Form der Realprozesse, auch ohne daß es ein Gedanke erfaßte. Es ist ein Allgemeines im strengen Sinne, läßt keine Ausnahme zu, ist kein bloß logisch ideales Gebilde. Die Gesetze führen kein mystisches Eigendasein hinter den Naturprozessen, es gibt Gesetze nur im Prozeß selbst, sie verhalten sich zu ihm wie das Allgemeine zum Einzelnen. Wie alles Realallgemeine ist es unselbständig, kommt nur an den einzelnen Fällen vor, aber geht in ihnen nicht auf. Die zweite Unterscheidung, die Hartmann trifft, ist die zwischen Gesetz und Gesetzlichkeit. Gesetzlich ist, was dem Gesetz unterliegt, also hier der Prozeß. Das Gesetz aber ist das, was den Prozeß gesetzlich macht, ihm die Gleichartigkeit der Typik gibt. Die Gesetzlichkeit ist die rationale Seite des Prozesses, ist die vornehmste und folgenreichste Kategorie im Bereiche der Natur überhaupt, sie ist eine Art Determination im Naturprozeß, und zwar eine andere als die Kausalität, bei der ein Prozeßstadium das andere in der Zeitfolge determiniert. Bei der Gesetzlichkeit determiniert ein Allgemeines, also ein Zeitloses. In einem Bild gesprochen: Die kausale Determination ist horizontal, die gesetzliche vertikal.

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An all diesen Unterscheidungen, Beschreibungen, Versuchen, das Wesen des Gesetzes zu erfassen ist der nächste Stein des Anstoßes das „Real-Allgemeine". Die Nominalisten werden das Allgemeine als Reales leugnen und die Idealisten das Allgemeine im Realen. Aber schließlich ist diese Schwierigkeit mehr eine erkenntnistheoretische als naturphilosophische und kann mit Nicolai Hartmann nur im Rahmen seiner „Grundlegung deT Ontologie" (4. Teil) besprochen werden. Ein mehr natuxphilosophisches Gewicht bekommt die Frage, wenn man sie so formuliert: Was ist das Realallgemeine im Naturprozeß? Was heißt das „Walten" der Gesetze im Naturprozeß, worin besteht die Determination der Gesetzlichkeit? Als Reales tut das Naturgesetz genau so etwas wie die Ursache, kann also nicht vertikal sein und als Allgemeines kann es nichts tun. Man könnte die Frage auch noch anders wenden: Damit, daß das Naturgesetz Formkonstanz, Realallgemeines, Determinierendes sein soll, damit ist gleichsam nur ein Oberbegriff angegeben, der Ort, wohin die Gesetze gehören, aber nicht gesagt, was das Naturgesetz selbst ist. Vielleicht wird das aber noch klareT, wenn wir die Formkonstanz und Typik mit der Substanz vergleichen, an welchem Vergleich Hartmann viel liegt. Unter Substanz versteht er das Subsistierende, das Suhstans, den Träger für die Akzidentien und das dauernd Bleibende. Die Substanz steht im Prozeß, sie ist wie er ein zeitlich Seiendes. Sie ist nicht der Prozeß selbst, sondern in ihm stehend widersteht sie ihm. Ihr Beharren ist nicht sein Beharren. Ein solches Beharren kommt nur den niedersten und elementarsten Seinsformen zu. Die höheren Seinsformen ruhen alle auf, die Substanz Tuht nicht auf, sondern liegt zugrunde. Substanz ist das Beharrende, d. h. Beharrung und Träger der Beharrung zugleich. Es gibt kein Argument für ein absolut Beharrendes. Bei der Beharrung hängt die Erhaltung an der Trägheit des Substrats, während die geformten Gebilde wechseln. Bei der Erhaltung im engeren Sinne handelt es sich um eine Erhaltung ohne Substrat, weil im Prozeß immer wieder gleichgeformte Gebilde auftreten (S. 301). Diese Art der Erhaltung nennt Hartmann Konsistenz im Gegensatz zur Subsistenz der Substanz als der unveränderten Grundlage. An ihre Stelle tritt die Konstanz der Form als stetige Wiederkehr des Getragenen und Aufruhenden. Eigentliche Subsistenz gibt es nur auf der niedersten Stufe des Realen mit dem quantitativen Charakter der Erhaltung, indem sich die Menge des Substrats erhält, und mit dem Moment der Passivität der Erhaltung. In den höheren Formen der Erhaltung dagegen ist immer eine aktive, formgebende Instanz im Spiel (S. 302). Nicht ein undifferenziertes Etwas erhält sich hier, während das Differenzierte zugrundegeht, sondern gerade die besondere Bestimmtheit, die Struktur, das höhere, getragene, vielfach bedingte Ganze. Durch die Substanz erhält sich nur das Formlose, durch die Konsistenz aber erhält sich das Hochgeformte.

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Die besonderen Formen der Konsistenz fangen schon in der anorganischen Natur an, wo sie am deutlichsten in der Konstanz der Naturgesetze greifbar sind. Die Naturgesetzlidikeit ist zwar wesentlich auf quantitativ beharrende Substrate der Naturvorgänge bezogen, aber sie ist nicht selbst quantitative Erhaltung. Sie ist das Allgemeine in den Abläufen der Prozesse, ihre Typik, ihr Festhalten in den eingefahrenen Geleisen. Was sich so erhält, ist also die Form des Prozesses. Die Grundgestalt, das Schema des Geschehens kehrt wieder. So steht die Form der Erhaltung der Beharrung der Substrate noch nahe. Sie ist zwar nicht Substanz, sondern durchaus Formkonstanz, aber doch nur eine solche des allgemeinen Schemas, sie ist kein aktives Hervortreiben, sondern ein passives Treiben im Geleise. Dagegen im Organischen subsistiert nichts mehr, gibt es keinen Lebensstoff und keine Lebensenergie mehr. Die Elemente des Stoffes und der Energie wechseln ständig. Was sich erhält, ist das getragene Ganze, das Sekundäre, das hochkomplexe Gefüge, das „Leben". Dieser Standpunkt Hartmanns in der Substanzfrage zeigt wiederum die komplexe Vielschichtigkeit seines Denkens in der Naturphilosophie, die auch Auseinandersetzung und Ausgleich großer Gedankenströme aus deT Vergangenheit mit modern wissenschaftlichen Fragestellungen, hier einer bestimmt modifizierten aristotelischen Suibstanzauffassung — denn Hartmanns Auffassung der Substanz als des subsistierenden Trägers ist nicht identisch mit der aristotelischen Auffasung der Substanz als des selbständig für sich Seienden — mit heutigen physikalischen und biologischen Lehren einschließt, während heutige Quantenphysiker auf dem radikalen Ersatz des Substanzbegriffes durch den Form- oder Strukturbegriff bestehen. Die Allgemeinheit des Naturgesetzes besagt bildlich gesprochen, daß die Natur nicht für jeden Fall etwas Neues erfindet, in ihr geht es vielmehr nach einer Vielheit von Schemata zu, die sich mannigfach kombinieren (S. 387). Im Erfassen der Natur liegt also ein apriorisches Element, welches uns grundsätzlich ermöglicht, in gewissen Gegebenheiten der Erfahrung das Allgemeine des Gesetzes zu erkennen. Denn die Erfahrung gibt nicht das Allgemeine als solches, die Allgemeinheit ist nur apriori erfaßbar. Die Synthese aposteriorischer und apriorischer Erkenntniselemente faßt man gewöhnlich im Begriff der vollständigen Induktion zusammen. Die Induktion gelangt aber nur dann zu wirklich allgemeinen Sätzen, wenn sie diese Allgemeinheit schon in Form eines Obersatzes voraussetzt. Eigentliche Verallgemeinerung von den beobachteten Einzelfällen her ist in ihr nicht möglich, sie geht gar nicht von diesen allein aus, sondern stets zugleich von der Voraussetzung einer in den realen Prozessen bestehenden strengen Gesetzlichkeit. Das Experiment isoliert also nur die Bedingungen einer bestimmten Teilgesetzlichkeit. Daß diese überhaupt besteht, ist vorausgesetzt, ehe man sie kennt. Der Versuch belehrt nur über das 6 Moser, Metaphysik

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Besondere des Gesetzes. Damit will natürlich Hartmann nicht eine erschöpfende Auskunft über das Experiment geben, sondern nur das Verhältnis von Experiment und Gesetz klarstellen. Er würde die Meinung ebenso teilen, daß im Experiment die Natur gezwungen wird, auf bestimmte, allgemeine Fragestellungen Antwort zu geben. Durch den Charakter der Allgemeinheit ist die Notwendigkeit der Naturgesetzlichkeit von der des Kausalnexus geschieden (S. 289—391). Kausalität ist die Notwendigkeit des linearen Ablaufs, Naturgesetzlichkeit die Notwendigkeit eines allgemeinen Soseins der Einzelfälle auf Grund eines Prinzips, das aber kein Sein neben seinem Prinzipsein besitzt. Erst diese beiden Notwendigkeiten zusammen, aufeinander querstehend, machen die volle Naturnotwendigkeit aus. Die Gesetzlichkeit als solche braucht also, wie gesagt, nicht kausal zu sein, aber auch nicht mathematisch. Wichtig ist nur, daß sie eine Formentypik der Prozesse ausmacht. Der Fehler in der aristotelischen Physik bestand in der Substantialisiemng der Formen, aber weit mehr noch in der Verkennung des Wesens des Prozesses. Er war auf das Ziel hin orientiert und daraus folgte die Notwendigkeit der reinen, dem Prozeß enthobenen, unveränderlichen Formen und der Prozeß selbst wurde diesen Essenzen gegenüber als das Uneigentliche entwertet. Es war ein langer W e g vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, bis sich über das Zwischenstadium der formae fluentes die neuzeitliche Lehre von Kausalität und Gesetz durchsetzte. Nicht nur die Gesetzlichkeit kann ohne mathematische und kausale Determination bestehen, sondern auch Kausalität ohne Gesetzlichkeit und mathematische Determination ohne Prozeßgesetzlichkeit und Kausalität. Kausalität geht weder in Gesetzlichkeit auf — man denke an die Möglichkeit des Hervorbringens — noch besteht sie in besonderen Gesetzen gleichartiger Abläufe. Die tatsächliche, bestehende Naturgesetzlichkeit beruht zwar auf ihr, aber das ist nur ein Faktum, keine kategoriale Notwendigkeit. Eine Kausalität ohne Naturgesetze müßte noch lange nicht eine Kausalität „aus Freiheit" sein. Diese Unterscheidungen sieht Hartmann seit dem Aufkommen der Gesetzeswissenschaft nirgends klar erfaßt. Man kann das System der Gesetze als „Inneres der Natur" verstehen, wenn man sie nicht als Kern deutet, der sein Äußeres selbsttätig hervorbringt (S.395). Gesetze sind keine produzierenden Mächte, kein Reich idealer Formen, keine Urbilder. Man soll nach Hartmann die Rolle des Naturgesetzes überhaupt nicht übertreiben, den Naturprozeß darf man nicht in lauter Gesetzlichkeiten auflösen, damit würde die Hauptsache, d. h. die Realität unterschlagen. Es sind ja auch noch andere kategoriale Momente im Prozeß enthalten: Zeitlichkeit, Fließen, Dauern, d. h. das Ablaufen selbst, Zustände und ihr Hervorgehen, beharrliche Substrate, vielerlei Dimensionen möglicher Größe. Vor

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allem kann man auf Gesetzlichkeit nicht zurückführen die Ursachenkomplexe, die vom Prozeß selbst hervorgebracht werden und in ihn sich wieder auflösen. Und schließlich noch eine Bemerkung zum Mathematischen im Naturgesetz (S. 396): An der mathematischen Struktur hängt die relative Einfachheit, die weitgehende Erkennbarkeit und exakte Erfassung der Naturgesetze, der Apriorismus im Naturerkennen, der an der strikten Allgemeinheit der Einsichten, am Gelingen der Vorwegnahme, der Voraussage und der Berechnung überhaupt leicht kenntlich ist. Dieses Wunder der mathematischen Struktur ist durch die Pythagoreer und zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft entdeckt worden. Es besteht darin, daß die Naturprozesse sich nach mathematischen Größenverhältnissen richten, also auf mathematische Gesetzlichkeit aufbauen. Daraus folgt aber nicht die radikale These der Pythagoreer, daß die Prinzipien der Zahlen zugleich Prinzipien alles Seienden sind, aber auch nicht der Glaube der frommen Forscher des 17. Jahrhunderts, daß die Mathematik die höchste Wissenschaft vom Vollkommensten, gleichsam vom Göttlichen in der Natur sei (S. 400). Eher ist das Umgekehrte der Fall. Der Gegenstand der Mathematik ist nicht das Vollkommenste. Sie ist vielmehr Wissenschaft vom Einfachsten, Elementarsten, ontisch Niedersten. Die Vollkommenheit der Mathematik ist nur die ihrer Exaktheit und ihrer reinen Apriorität. Exaktheit ist für unser Erkennen nur im Bereiche des Quantitativen möglich, die Quantität aber spielt ihre dominierende Rolle nur im niedersten Reich des Realen. Aber auch hier ist die Naturgesetzlichkeit nicht eine rein mathematische, sie ist ja ebensosehr durch andere Kategorien ihrer Schicht bestimmt: Raum, Zeit, Prozeß, Kausalität. Das Mathematische ist nur dasjenige kategoriale Moment, welches die Gleichartigkeit in der Mannigfaltigkeit der Prozesse am weitesten bestimmt. Die Gesetzlichkeit der reinen Mathematik ist apriori gegeben, bzw. apriori auffindbar, als solche ist sie keine reale Gesetzlichkeit, es ist ihr äußerlich, die Naturprozesse zu beherrschen. Aber für die Naturprozesse ist das Letztere höchst charakteristisch und für die Naturerkenntnis vollends ausschlaggebend, die nur auf diese Weise exakt ist. Aber was besagt Hartmanns Ansicht über das Mathematische im Naturgesetz konkreter, z. B. im Begriff der Funktion und für das Kontinuum der Bewegung (S. 401)? Zum Unmathematischen zählen alle Dimensionen oder „Substrate" möglicher Größenbestimmtheit, also außer Raum und Zeit auch Geschwindigkeit, Beschleunigung, Druck, Dichte, Temperatur, kurz das, was in den mathematischen Formeln der Physik durch die Buchstabensymbole ausgedrückt wird. Das Mathematische dagegen besteht in der Art, wie die Größen verschiedener Dimensionen aufeinander bezogen sind. Die grundsätzlichen Größenverhältnisse sind konstant in der Veränderung der Größen selbst. Sie in der zutreffenden Weise auszudrücken ist Sache der mathematischen 6*

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Funktion. Wie kann nun eigentlich mathematische Bestimmtheit den Prozeß beherrschen? Die Mathematik muß das Größenverhältnis verflüssigen. Das geschieht in der Funktion: y = f (x). In diesem fließenden Verhältnis nimmt y verschiedene Werte an, und zwar in strenger Abhängigkeit von den Werten, die x durchläuft. Ein solch fluentes Verhältnis faßt sehr wohl etwas vom Wesen des Prozesses selbst, nämlich seine quantitative Seite, und zwar gerade, sofern der Übergang der Werte von x und y ein stetiger ist (S. 402). Die Funktion ist nicht bloß Gedanke, sondern darüber hinaus die mathematische Seinsform des im Prozeß sich erhaltenden Größenverhältnisses. Sonst ginge es ja nicht um den Naturprozeß, sondern nur um den gedanklichen Prozeß der reinen Mathematik. Von Anfang an, vor allem aber bei Leibniz, tauchten theoretische Grundfragen über die vielen Rätsel dieses Verhältnisses auf: Wie können von einem Moment der Bewegung aus die übrigen Stadien bestimmt sein, da doch die Momente selbst ohne Grenze ineinanderüberfließen und in diesem überfließen doch gerade der Vorgang besteht. Die Größen müssen offenbar selbst im stetigen Flusse sein — in der Weise, wie die Koordinaten einer Kurve sich stetig verändern —, während ihr Verhältnis sich erhält. Das setzt voraus, daß die Größenunterschiede ins unendliche Kleine zusammenrücken, wo sie dann in das reine Kontinuum „verschwinden". Dazu muß der Vorgang selbst ein ins Unendliche teilbares und aus unendlich kleinen Elementen sich aufbauendes Ganzes sein. Der Kalkül faßt nach Leibniz das Größenhafte im status evanescens, im Verschwinden, gesehen von der endlichen Größe her. Aber dieses Sehen ist bloß das unsrige, und gerade das nidit mehr faßbare Endglied der vom Endlichen herkommenden Sicht ist ontisch das Ursprüngliche, das wirkliche Element des Größenhaften, es ist die Größe im status nascens. So sind z. B. die Inkremente, die Zuwächse der Geschwindigkeit in der gleichmäßig beschleunigten Bewegung in der Tat „verschwindend" klein. Das Differential ist kein bloßer Begriff der Theorie, sondern das eigentliche Realelement des Vorganges selbst. Der Infinitesimalkalkül ist die Annäherung des Begreifens an das Reale, weil er Annäherung an das Kontinuum ist, aber das Rechnen erreicht das Reale des Vorganges selbst nicht, es substituiert bloß ein Endliches und wählt es „genügend klein" für seine Zwecke. Der Standpunkt Nicolai Hartmanns in der Frage der klassischen und statistischen Gesetzlichkeit endlich ist daher nicht mehr verwunderlich (S. 407). Selbst wenn in den atomaren Prozessen keine Gesetze herrschten, könnte in ihnen doch die kausale Folge bestehen. Aber da die atomaren Vorgänge molare Erscheinungen aufbauen, die ihrerseits eine strenge Gesetzlichkeit zeigen, so können die ersteren nicht vollkommen gesetzlos sein, sie müssen zu ihnen in einem wirklichen und bestimmten Verhältnis stehen. Aber radikal geändert hat sich in der Quantenmechanik die Auffassung des Prozesses selbst. Der stetige

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Übergang, das Kontinuum der älteren Physik ist hier aufgehoben. An die Stelle dex früheren Aufgabe, durch die Funktion das Kontinuum zu fassen, tritt die andere Aufgabe, aus der Regellosigkeit der Teilprozesse die einheitliche Bestimmtheit des Gesamtprozesses wiederzugewinnen. Die Theorie tut das mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie geht von der „Regellosigkeit" der mikromechanischen Gesetze aus, setzt aber dabei die „Gleichmäßigkeit" in der Verteilung der Möglichkeiten voraus. Unter diesen Voraussetzungen macht sie den Uberschlag über eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Einzelprozessen und gelangt zu Resultaten in der Form von statistischen Gesetzen (S. 408). Diese stellen wohl Naturgesetzlichkeiten dar, sind aber selbst nicht ohne weiteres Gesetze der Prozesse. Sie treffen nur auf ihren Durchschnitt zu. Naturgesetze im strengen Sinne sind sie nicht, wohl aber verweisen sie auf sie zurück, sie können als ihre Näherungsbestimmungen gelten, als ihre Surrogate (S. 409). Die Berechenbarkeit bestimmter Größen auf statistischem W e g e wäre gar nicht möglich, wenn es nicht eine durchgehende Gleichartigkeit in der Verteilung der Größen an den atomaren Prozessen selbst gäbe. Die Ablösung der klassischen Gesetze durch die statistischen verlegt also die eigentlichen Naturgesetze nur in eine größere Tiefe, weiter zurück in das noch unbekannte „Innere der Natur". Man kann sogar sagen: Die statistischen Gesetze gelangen näher an die wirklich waltenden Naturgesetze heran als die klassischen, weil sie der adäquatere Ausdruck gewisser Gesetzmäßigkeiten im Naturgeschehen selbst sind (S. 411). Es liegt hier wohl eine Erkenntnisgrenze, nicht aber eine Seinsgrenze der Naturgesetzlichkeit vor. Zwei Möglichkeiten, die man heute nicht entscheiden kann, liegen vor: Einmal, daß die wirklichen Gesetze einfacher sind als es nach den hochkomplizierten mathematischen Formulierungen den Anschein hat, oder aber, daß auf diesem Grenzgebiet das Mathematische ganz vorherrscht und das Unmathemathische, das Substrathafte bis zur Unkenntlichkeit zurückbleibt. Die exakte Wissenschaft ist stets durch die Zwangsläufigkeit ihrer Methoden in einer Gefahr, die mathematischen Formeln für die Sache selbst zu nehmen und schließlich nur eine Handvoll Schemata zurückzubehalten (S. 416). Aber deshalb besteht kein Grund zur Skepsis gegenüber der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Gerade die Lebendigkeit und Verflüssigung der Begriffe der heutigen Naturwissenschaft sind ein Anzeichen unbeirrter Annäherung an echte Naturgesetze. Die Auswirkungen dieser Lehre für die Naturwissenschaft im allgemeinen und für die Biologie im besonderen hat Max Hartmann öfters behandelt. Von großem Interesse schiene mir aber noch der Vergleich des Hartmannschen Gesetzesbegriffes mit den Meinungen der Physiker und Logiker der Physik zu sein. Der Logiker Popper 2 gibt eine rein 2 Vgl. „ N a t u r g e s e t z e u n d theoretische Systeme" in „Gesetz u n d Innsbruck 1949.

Wirklichkeit",

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Nicolai Hartmann

logische Erklärung des Gesetzes als des Obersatzes einer deduktiven Erklärung, dessen Untersatz die singulare Anfangsbedingung und dessen Schluß das Explicandum darstellt. Sein Sprachgebrauch ist sehr locker. Er identifiziert Gesetz mit Theorie und Hypothese, ja in einer sehr merkwürdigen Erweiterung mit dem Erwartungshorizont, der bei Tier und Mensch prinzipiell gemeinsam sei, als einem Bezugssystem oder Rahmen, der den Erlebnissen, Handlungen, Beobachtungen erst eine Bedeutung verleiht. Die Beobachtungen können, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen, diesen Rahmen selbst zerstören und uns zwingen, nach einem derartigen Bombeneinschlag unseren Erwartungshorizont neu aufzubauen. Und dann, meint er, besteht der Fortschritt der Wissenschaft als ein grandioses Abenteuer des Geistes bloß im Probieren, Irren und Weiterprobieren. Durch die Falsifikation unserer Annahmen bekommen wir tatsächlich Kontakt mit der „Wirklichkeit". Nicht auf die Entdeckung absolut sicherer Theorien geht die Bemühung des Wissenschaftlers, sondern auf die Erfindung von prüfbaren Theorien und ihre Falsifikation. Nicolai Hartmann würde das logische Gerüst der Popperschen Gesetzesdeutung anerkennen, aber ihre philosophische Ausdeutung als unzulänglich betrachten, so etwa die Lehre von der positiven Erfahrung der Wirklichkeit als bloßer Widerlegung unserer Irrtümer. Setzt nicht, so würde er weiterfragen, das Probieren, Irren und Weiterprobieren die Orientierung an einem absoluten Erkenntnisideal — wenn auch als Grenzidee im Unendlichen gelegen und vielleicht nur in Annäherung erreichbar — voraus? Er würde weiter die Identifizierung des Gesetzes mit dem Erwartungshorizont als biologischen Pragmatismus ablehnen und die Gleichsetzung von Gesetz mit Theorie und Hypothese zwar als logisch richtig, aber für das Sein selbst als unzulänglich ansehen. Und für den Physiker March ist das Naturgesetz nichts anderes als eine Anweisung, mit deren Hilfe man für ein System von Körpern, das sich in einem gegebenen Anfangszustand befindet, die künftigen Zustände vorausberechnen kann 3 . Nicolai Hartmann wäre mit dieser methodischen Selbstbescheidung des positivistischen Physikers, das Gesetz bloß als eine Anweisung der Vorausiberechnung anzusehen, nicht zufrieden. Er würde für diese Regel der Vorhersage als Voraussetzung die Geltung allgemeiner Seinsgesetze für die Natur selbst fordern. Für die physikalische Formulierung des Kausalitätsprinzips, daß aus demselben Anfangszustand sich immer derselbe Vorgang entwickelt, würde er die allgemeine Geltung apriorischer Elemente fordern. Uberhaupt würde er gegenüber March und Popper auf seiner Unterscheidung von Naturgesetz und Gesetz der Naturwissenschaften bestehen. Schrödinger äußerste dazu vor einiger Zeit brieflich folgende Meinung: „Was ist in diesem Zusammenhang Gesetz? Ich möchte sagen: eine empirisch mehr oder weniger sicher gestellte oder eine theoretisch vermutete oder eine ' V g l . »Der Gesetzesbegriff in der Physik" in demselben Buch.

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zuerst vermutete, dann sicher gestellte oder schließlich eine zuerst beobachtete, dann theoretisch begründete (d. h. mit anderen gewußten Dingen in Zusammenhang gebrachte) Regelmäßigkeit des Ablaufes innerhalb gewisser Klassen von — nun sagen wir — von Prozessen." Nicolai Hartmann würde an dieser Formulierung begrüßen, daß Gesetz als Regelmäßigkeit von Abläufen und Prozessen angesehen wird, also als etwas Wirkliches am Prozeß selbst, ergänzend würde er bemerken, daß Regelmäßigkeit vielleicht ein zu lockerer Terminus sei und als solche eine strenge Regel voraussetze. Gegenüber der Fülle von Möglichkeiten, wie man zu dieser Regelmäßigkeit kommt, die Schrödinger herausstellt, würde er auf der Stabilität eines apriorisch allgemeinen Elements in allen Gesetzesmöglicheiten bestehen.

KAPITEL VI

Martin Heidegger

I. Sein und Seiendes Dieser Unterschied ist die radikalste Voraussetzung der Heideggersdien Ontotogie seit dem Erscheinen von „Sein und Zeit". Warum setzt Heidegger diesen Unterschied als grundlegend schon am Anfang dieser Schrift an? Er legt ihn dort in dreifacher Hinsicht vor. Sein als „allgemeinster" Begriff: Nach Heidegger ist die Allgemeinheit des Seinsbegriffes die der Analogie im Sinne des Aristoteles. Aber auch er habe das Dunkel dieser kategorialen Zusammenhänge nicht gelichtet. Wenn Sein der allgemeinste Begriff ist, so heiße das daher keineswegs, daß er der klarste sei, er sei vielmehr der dunkelste. Beweise für diese Behauptung legt hier Heidegger nicht vor. Gegenüber der Analogie des Seins ist in der Geschichte der Ontotogie ebenso auch die Univozität des Seins vertreten worden. Es bleibt hier noch die Frage offen, welches Dunkel der kategorialen Zusammenhänge Aristoteles nicht gelüftet hat. Wenn das Sein als allgemeinster Begriff auch nicht der klarste ist, so ist er deshalb auch nicht schon der dunkelste. Aber das Entscheidende scheint zu sein, daß der aristotelische Beweis für den nicht gattungsmäßigen Charakter des Seins auf seiner Definitionslehre beruht, wonach die spezifische Differenz nichts vom Merkmalgehalt der Gattung in sich enthält.1 Das Wesentliche dieses Arguments hat aber zum Beispiel Franz Brentano bestritten.2 Heidegger läßt zwar („Sein und Zeit", S. 4) selbst die Lehre von genus proximum und differentia specifica nur für die Begriffe des Seienden zu, bezweifelt sie aber für den des Seins. Aber dieser Unterschied steht hier ja gerade zur Diskussion. Sein als „undefinierbarer" Begriff („Sein und Zeit", S. 4): Wenn Sein der allgemeinste Begriff ist, kann es nicht noch durch ein genus proximum erfaßt werden, ist also undefinierbar im Sinn der aristotelischen Logik. Das habe man — meint Heidegger — mit Recht aus seiner höchsten Allgemeinheit geschlossen, weil „Sein" in der Tat nicht als Seiendes begriffen werden könne. Diese logisch-ontologische Folgerung der Undefinierbarkeit hat aber nichts zu tun mit dem Unterschied von Sein und Seiendem, denn auch, wenn das Sein nur das höchste abstractum des Seienden sein sollte, ist es im Sinne dieser Logik undefinierbar. Die Folgerung Heideggers, daß aus der Undefinierbarkeit des Seins 1 s

Vgl. Simon Moser „Zur Lehre von der Definition bei Aristoteles", S. 6—11. Vgl. Franz Brentano, „Kategorienlehre", S. 305.

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Martin Heidegger

nur gefolgert werden könne, Sein sei nicht so etwas wie Seiendes, ist eine bloße Forderung. Die aristotelische Philosophie macht überhaupt nicht den Unterschied von Sein und Seiendem. Nach Heidegger müßte es aber für das Sein eine andere Definition geben als die durch die nächste Gattung und die entsprechende spezifische Differenz. Welche wäre das? Die aristotelische Tradition kennt keine andere. Aus der aristotelischen Analogie des Seins kann man keinen Hinweis auf die Unterscheidung von Sein und Seiendem entnehmen. Daß das Sein kein Gattungsbegriff ist, beruht bloß auf zwei Voraussetzungen: 1. auf dem logischen Verhältnis von Gattung und spezifischer Differenz und 2. der schlechthinnigen Universalität des Seinsbegriffs und der Verbindung beider Voraussetzungen miteinander. Für Heidegger stellt sich die Sachlage aber so dar, daß die Analogie nur der begriffliche Ausdruck dafür ist, daß Aristoteles das Seinsproblem gegenüber Piaton auf eine prinzipiell neue Stufe gestellt hat. Das kann er sich so deuten, weil er von vornherein einen Chorismos, einen Abgrund klaffen sieht zwischen Seiendem und Sein. Das Thomaszitat „Enti non additur natura aliqua" muß nicht heißen, daß dem Sein nicht Seiendes zugesprochen werden kann, sondern nur, daß dem Seienden als solchem kein davon vollständig unabhängiges Wesen hinzugefügt werden kann. Pascal hat ganz recht mit seiner Behauptung: Um das Sein zu definieren, muß man sich des Ausdrucks „ist" bedienen und nimmt damit das zu Definierende in die Definition mit hinein. Aber das ist nur ein Gedankengang aus der Logik des Seins und beweist keineswegs etwas für den Unterschied von Sein und Seiendem. Aristoteles selbst spricht nur immer von Seiendem als solchem, nie vom Sein. Es müßte also zuerst einmal der radikale Unterschied von Sein und Seiendem bei ihm aufgewiesen werden. Daher darf man vor diesem Nachweis vorläufig einmal Sein und Seiendes als solches, als „ens ut sie" identifizieren. Sein als „selbstverständlicher" Begriff (S. 4): Der Ausdruck Sein ist in jedem Verhalten durchschnittlich verständlich und selbstverständlich, wie jeder Satz beweist. Aber darf Heidegger mit dieser Feststellung zugleich behaupten, daß die durchschnittliche Verständlichkeit nur die Unverständlichkeit demonstriert, daß in jedem Verhalten zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel liegt. Natürlich liegen in jedem „ist" logisch-ontologische Probleme verborgen, aber darf man daraus auf die Unverständlichkeit des Seins schließen? Legt sich hier nicht der Verdacht eines Pröblemapriorismus nahe? Die Dunkelheit und Unverständlichkeit des Seins wird hier von vornherein postuliert. Auch die von Heidegger hier (S. 1, 2 und 6) vorgelegten wesentlichen Zitate aus Piaton und Aristoteles beweisen nicht das Gewollte. Der Ausdruck „Gigantomachie" im Dialog Sophistes (246 a) braucht

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nicht todernst genommen zu werden, könnte vielmehr ironisch gemeint sein und muß sehr wohl unterschieden werden von der Riesenanstrengung, die Heidegger Piaton und Aristoteles zumutet (z. B. auch in „Kant und das Problem der Metaphysik", S. 229). Der dort von Piaton geschilderte Kampf ist der Streit zwischen Idealismus und Materialismus, d. h. der Kampf, ob das Seiende idealistisch oder materialistisch zu deuten sei. Die Materialisten meinen, nur das sei, was eine Berührung zulasse, indem sie crcoua und oCrcria, Körper und Seiendes als dasselbe definieren. Also dreht es sich bei dieser Frage gar nicht darum, was die oücdcx an sich bedeutet, sondern um ihre Ausdeutung im materialistischen oder idealistischen Sinne. Die engere Seinsfrage im Sinne des Aristoteles ist aber doch eine andere, sie übersteigt noch diese Streitfrage, indem sie nach dem Seienden als Seiendes fragt. In Metaphysik III, 3 und 4 spricht Aristoteles nicht vom eIvcci, vom Sein, sondern vom öv und ev, vom Seienden und Einen als obersten Begriffen, aber es ist hier keineswegs klar, daß Sein gegenüber Seiendem gemeint wäre. Und Thomas von Aquin spricht in seiner „Summa theologica" I a , II ae qu 94 a 1 genau in dem Sinne vom ens, wie Ardstoteies vom öv. Das heißt, es ist in beiden Fällen das Seiende als solches gemeint, in späterer scholastischer Terminologie das ens ut sie, aber nicht das esse, oder wenn man schon vom Sein spricht, so ist hier Sein einfach identisch mit Seiendem als solchem gesetzt. Wenn Piaton die alten Seinsauffassungen (Sophistes 242 c) als Mythen bezeichnet, so versteht er sie als Geschichten, wie sie die Alten den heutigen Menschen gleichsam als Kindern erzählen. Märchen erzählten sie über die Anzahl des Seienden, und sie deuteten es dahin aus, ob es feucht und trocken oder warm und kalt usw. sei. Daher ist die Meinung Heideggers über den Mythos an dieser Stelle fraglich, daß hier Seiendes auf Seiendes zurückgeführt und damit in seiner Herkunft bestimmt wäre. Von Herkunft und Rückführung des Seienden ist hier primär nicht die Rede. Kindermärchen sind diese Geschichten deshalb, weil es bildhafte und bilderreiche Erzählungen darüber sind, was mit dem Seienden alles passiere, was es für Eigenschaften habe, aber nicht, was sein Wesen selbst sei. Die Absicht Piatons demgegenüber ist es zu fragen, was das Sein selbst sei — das heißt hier ebenso viel, was das Seiende selbst sei —, wenn diese Geschichten erklären, daß das All des Seienden warm und kalt oder ein ähnliches Gegensatzpaar sei (243 b), denn von jedem Gegensatzpaar werde ja noch gesagt, daß es sei, wenn auch im weiteren Verlaufe des Dialoges ein Rückfall hinteT diese Frageintention mit der Antwort erfolgt, daß edles, was eine Dynamis sei, övtcos S«m , im eigentlichen Sinne sei, also Sein mit Vermögend-Sein gleichgesetzt wird (247 e). Schon hier bei Piatons „Sophistes" (z.B. 242c — 244a) müssen wir vorsichtig sein, wenn wir den griechischen Terminus elvoci mit „Sein" übersetzen, diesen Ausdruck nicht von vornherein in der engeren Bedeutung der

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Heideggersdien Ontologie zu verstehen, denn wenn wir auch mit Heidegger 244 a so übersetzen „denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck .Seiend' gebraucht, wir jedoch glaubten, es einst zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen" („Sein und Zeit" S. 1), so dürfen wir daraus doch nicht die Konsequenz ziehen, daß hier schon die Frage nach dem „ S i n n v o m S e i n " gestellt würde, wenn unter „Sein" der prägnante Terminus der Heideggersdien Ontologie gemeint sein soll, schon deshalb nicht, weil es sich vorerst darum handelt, die Wortbedeutung des Ausdruckes „Seiend" zu klären. Auch hier ist die Frage, die wir vorhin gegenüber dem aristotelischen Seinsbegriff stellten, zu wiederholen, nämlich, ab nicht schon bei Piaton Sein mit Seiendem als solchem identisch ist. Die bisher angedeuteten Bedenken betreffen nun auch die folgenden Teile der Einleitung von „Sein und Zeit". So zum Beispiel die Ausführungen über Seinsverständnis uind Seinswissen, über Sein und Seinsbereiche, über Grundbegriffe und Grundlegungen der Wissenschaften. Heidegger sagt: Weil die Seinsfrage als erkennendes Suchen seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten her habe, deshalb müsse der Sinn von Sein in gewisser Weise schon zur Verfügung stehen und das tue er auch im vagen Seinsverständnis, über das wir alle verfügen. Aus ihm erwachse die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die Tendenz zu dessen Begriff. Wir wüßten nicht, was Sein besagt. Aber schon die Frage „Was ist Sein" zeige ein gewisses Seinsverständnis ohne begriffliche Fixierung. W e n n wir aber schon zur Vorsicht mahnen müssen beim Gebrauch von Ausdrücken wie „ S i n n von Sein", „ w a s ist Sein", „ B e g r i f f von Sein", dann hat diese Vorsicht ihren Grund in der Überzeugung, daß es sich beim Sein um einen letzten Grenzbegriff handelt, und diese Uberzeugung zwingt uns auch zur Vorsicht gegenüber Unterscheidungen wie „durchschnittliches und vages Seinsverständnis" einerseits und „expliziter Seinsbegriff und explizites Seinswissen" andererseits. Dann werden auch alle weiteren Unterscheidungen fraglich, wie die von „Sein als Gefragtes", da man nicht weiter fragen kann, und von „der Sinn von Sein als Erfragtes", aber auch das „Seiende als Befragtes" wird fraglich, weil dann das Seiende nicht nach seinem Sein befragt und abgefragt werden könnte. Ebenso wird fraglich, ob man an irgendeinem exemplarisch Seiendem den Sinn von Sein ablesen könne. Es kündigt sich damit auch die Fragwürdigkeit der sogenannten Seinsbereiche in ihrer Unterschiedenheit vom Sein an, zum Beispiel etwa des Seinsbereiches des Bestandes mathematischer Wahrheiten, des Seinsbereiches ethischer Werte, des Seinsbereiches der Realität usw. Dieselbe Frage wiederholt sich bei der Einteilung der Sachgebiete in Geschichte, Natur, Raum, Leben, Dasein, Spradie („Sein und Zeit" S. 9). Denn Geschichte, Dasein und Sprache gehören als Sachgebiete in

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anderer Weise zum All des Seienden, stellen in anderer Weise verschiedene Bezirke des Seienden dar als etwa Natur, Raum und Leben. Selbst Geschichte und Sprache einerseits und Dasein andererseits sind in dieser Hinsicht verschieden, weil sie selbst noch — in Heideggerscher Terminologie gesprochen — noch Seinsweisen des menschlichen Daseins darstellen. Fordert die Frage nach dem Sein wirklich eine Erläuterung des Hinseihens auf, des Verstehens von („Sein und Zeit" S. 7) oder nicht vielmehr nur die Frage nach der Frage des Seins? Wohl alber scheint dies notwendig zu sein, wenn die Frage nach dem Sein sich selbst durchsichtig werden soll. Wenn aber bloß die Selbstdurchsichtigkeit der Seinsfrage eine Analyse des Daseins fordert, so heißt das keineswegs, daß der Sinn von Sein auf das menschliche Dasein fundiert werden soll. Die These Heideggers (S. 9—10), daß sich die eigentliche Bewegung der Wissenschaften in der radikalen Revision der Grundbegriffe vollziehe, daß sich das Niveau der Wissenschaft an der Fähigkeit zu einer Krisis an den Grundbegriffen erweis©, trifft etwas sehr Wesentliches. Was sind aber die Grundbegriffe selbst? Die Antwort Heideggers lautet: Es sind die Bestimmungen, in denen das allen thematischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrunde liegende Sachgebiet einer Wissenschaft zum vorgängigen und alle positive Untersuchungen führenden Verständnis kommt. Sind die Grundbegriffe wirklich vorgängige, explizite Bestimmungen, wie zum Beispiel der Raum, die Zahlen, die Spradie, die Geschichte? Führen die Grundbegriffe wirklich die positive Untersuchung? Nach Heidegger soll diese grundbegriffeschöpfende Forschung das Seiende des Sachgebietes auf die Grundverfassung seines Seins hin auslegen, also sind wohl diese Grundbegriffe die Seinsstrukturen des jeweiligen Sachgebietes. Läuft aber eine solche grundbegriffliche Forschung wirklich den positiven Wissenschaften voraus, wie es das Beispiel von Piaton und Aristoteles zeigen soll, springt sie wirklich als produktive Logik in ein bestimmtes Sachgebiet voraus und stellt sie wirklich die gewonnenen Strukturen als Anweisungen des Fragens den positiven Wissenschaften zur Verfügung? Vielleicht vollzieht sich diese produktive Logik im Gange der einzelnen Wissenschaften selbst, leistet eine solche Grundlegung die positive Wissenschaft selbst in einer naiven Produktivität gegenüber der reflexiven Arbeit der Philosophie, z. B. in den sogenannten Material-Ontologien. Systematisiert, auf den Begriff gebracht wird diese produktive Logik der Einzelwissenschaften wohl durch die Philosophie. Hat Heidegger die Leistung der produktiven Logik von Piaton, Aristoteles, Kant für die positiven Wissenschaften nicht überschätzt? Man kann zum Beispiel das Verhältnis von Ranke und Burckhardt ZUT Geschiehtspihilosophie des deutschen Idealismus doch nicht so darstellen, als ob dieser den beiden Historikern seine produktive Geschichtslogik zur Verfügung gestellt hätte, obwohl

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es andererseits auch ebenso falsdi wäre, in dieser Hinsicht eine absolute Unabhängigkeit zu behaupten. Kants Kritik der reinen Vernunft als transzendale Logik mag im Sinne einer apriorischen Sachlogik des Seinsgebietes Natur verstanden werden, sie gibt deshalb doch, sidier keine Anweisungen für die Fragen der Physik. Der gegenständlichen Unterscheidung von Seiendem und Sein entspricht auf Seiten des Denkens die Unterscheidung von „ontisch" und „ontologisdi" („Sein und Zeit" S. 11). Das ontische Fragen richtet sich auf das Seiende, das ontolagische auf das Sein, ontisches Fragen ist das Fragen der positiven Wissenschaften, ontologisches Fragen ist das Fragen der Philosophie. Die Ontologien sollen nach Heidegger vor den ontischen Wissenschaften liegen und sie fundieren, die Seinsfrage soll auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der positiven Wissenschaften, aber auch der sie fundierenden Ontologien zielen. Hier hängt natürlich alles an unserer Stellungnahme zur „Bedingung der Möglichkeit der positiven Wissenschaften", wozu z. B. die BrentanoSchule auch prinzipielle Bedenken angemeldet hat. 3 Hält man im allgemeinen die radikale Unterscheidung von Sein und Seiendem für fragwürdig, so natürlich auch die von ontisch und ontologisch. Im übrigen ist diese Unterscheidung auch der Antike unbekannt und stammt vor allem mit den weiteren Unterscheidungen von Formalontologie und Materialontologien aus der phänomenologischen Sdiule. Dasein ist nach Heidegger ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt, es ist vielmehr ontisch dadurch gekennzeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Ferner hat das Dasein in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis, d. h. das Dasein versteht sich in seinem Sein, hat sich sein Sein erschlossen, Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Das Dasein ist ontisch gerade dadurch ausgezeichnet, daß es ontologisdi ist. In diesen Bestimmungen Heideggers ist aber das Seinsverständnis der Seinssorge bloß angehängt, ohne daß das innere Verhältnis der beiden zueinander bestimmt wäre. Wie verhält sich dieses „es geht diesem Seienden um sein Sein" zum „es verhält sich zu seinem Sein" und „es versteht sich in seinem Sein"? Ist das Verhältnis zu seinem Sein der Oberbegriff für die beiden anderen? Was heißt überhaupt die Redewendung „Es geht diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein"? Sie meint doch: das Sein ist sein wesentliches Anliegen, das Dasein sorgt sich um sein Sein. Aber ist das überhaupt möglich? Der Ausdruck „Es geht um Sein und Nichtsein, es geht um meine Existenz" besagt doch etwas anderes, nämlich, daß es sich um eine wirkliche Existenz und um ein wirkliches Vorhandensein handelt. Das Sein, das Heidegger hier meint, kann doch nicht das Sein der allgemeinen Ontologie sein, denn von diesem allgemeinsten Begriff kann man doch nicht sagen, daß er es ist, um den sich das Dasein sorgt. ä

Vgl. Franz Brentano, a. a. O.

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Aber handelt es sich denn hier nicht um eine reine Äquivokation des Terminus Sein? Die Seinssorge ist sicher bei Heidegger das Primäre gegenüber dem Seinsverständnis im allgemeinen. Muß man aber dagegen nicht sagen, daß für die Seinssorge das Seinsverständnis schon Voraussetzung ist? Ich kann mich um etwas nur sorgen, das ich schon verstehe. Und wiederum tritt diese Zwiespältigkeit beim Seinsverständnis selbst auf. Heißt Seinsverständnis des Daseins, daß das Dasein das Sein im allgemeinen versteht, oder sein jeweiliges Sein? Heidegger meint das letztere mit der Behauptung, dem Dasein sei s e i n Sein erschlossen. Aber daraus folgt noch nicht, daß das Dasein im allgemeinen ontologisch ist. Es liegt also die Meinung nahe, daß für die Seinssorge und das Seinsverständnis das Bewußtsein und Selbstbewußtsein die Voraussetzung ist, während Heidegger diese zu sekundären Derivaten machen will. Dieses jeweilige Sein des Daseins nennt nun Heidegger die Existenz. Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens seiner Möglichkeiten vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Wird aber überhaupt j e das Sein eines Seienden entschieden? Muß die Entscheidung nicht immer über eine seiende Möglichkeit fallen? Aus Heideggers Ansatz folgt, daß Existenz nicht ein allgemeines Sein des Daseins, gleichsam ein Gattungsmerkmal für alle Menschen ist, sondern konkretes Sein des konkreten Menschen. Wird damit aber nicht die allgemeine Seinsproblematik radikal verändert? Das die Entscheidung der Existenz führende Verständnis des Daseins nennt Heidegger existentiell. Es ist eine ontische Angelegenheit des Daseins. Dagegen ist nach ihm der Zusammenhang der ontologischen Strukturen der Existenz die Existentialität, deren theoretische Auseinanderlegung die Existentialanalytik ist. Die existentiale Analytik ist deshalb Fundamentalontologie, weil die übrigen Ontologien, die Seiendes von nichtdaseinsmäßigem Charakter zum Thema haben, in deT ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert sind, dessen Seinsverständnis gleich ursprünglich das Verstehen von Welt und des Seins des innerweltlich Seienden betrifft. Durch diese Anschauung Heideggers werden also nicht die den jeweiligen Ontologien zugehörigen Sachgebiete wie Natur, Zahl, Raum subjektiviert, sondern nur die Ontologien auf das Dasein fundiert, das aber selbst nicht als immanent in sich geschlossenes Subjekt verstanden wird, sondern als In-der-Welt-sein, als weltoffen und weltverständig begriffen wird. Aber könnte man nicht ebensogut auch umgekehrt behaupten, daß das existentiale Verständnis des Daseins im Weltverständnis und im Verständnis des in der Welt Seienden gründet und daß daher die Fundamentalontologie für die ExiiStentialontologie die Ontologie der Welt und der Weltdinge sei? An die Doppelfragestellung der aristotelischen Metaphysik nach dem Seienden als Seiendem und dem Göttlich-Seienden, aus dem her sich das Seiende im Ganzen (KOC66XOU) bestimme, knüpft Heidegger

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seine Problemstellung in „Kant und das Problem der Metaphysik" (S. 6 f.) an, wenn er die Metaphysik definiert als die grundsätzliche Erkenntnis des Seienden als solchen und im ganzen, indem er allerdings diese „Definition" nur als Anzeige des Problems gelten läßt (S. 7). Dieses Verhältnis von Seiendem als Seiendem und Seiendem im Ganzen lag in „Sein und Zeit" noch im Hintergrund. Der historische Ansatzpunkt für dieses Verhältnis findet sich bei Aristoteles nicht nur in „Metaphysik" VI, 1, wo ausdrücklich übeT das Verhältnis des Seienden als solchen und göttlich-Seienden gehandelt wird, sondern vor allem, was noch wichtiger ist, unausdrücklich in „Metaphysik" IV, 1, dessen Hintergrund das Verhältnis des Seienden als Seienden zum Seienden im Ganzen und seinen höchsten Ursachen bildet.4 Daß Heidegger hier das Seiende im Ganzen mit dem KCC66AOU identifiziert, scheint mir nicht richtig zu sein, mit diesem Terminus meint vielmehr Aristoteles das Allgemeine und an den eben genannten Stellen den AUgemeihbegriff des Seienden als Seienden. Im Ganzen hält sich Heidegger in seinem Kantbuch mehr an die platonisch-aristotelischen Fragestellungen als in „Sein und Zeit", er läßt also die radikale Unterscheidung von Sein und Seiendem über die Fassung der Metaphysik als Erkenntnis des Seienden als solchen und im ganzen mehr zurücktreten. Die Möglichkeit dieses Ansatzes liegt wiederum schon rein terminologisch bei Aristoteles, der ja den Begriff des KOCÖÖAOU, des Allgemeinen als Aussageganzen aus dem öAov als seiendem Bestandsganzen entwickelt (Metaphysik V, 26). Am Ende des Kantbuches (S. 213) entscheidet sich Heidegger in der Frage dieses Verhältnisses dahin, daß die Frage nach dem Seienden als Seienden der Frage nach dem Seienden im Ganzen vorgeordnet ist, weil die Frage nach dem Seienden im Ganzen schon ein gewisses Begreifen dessen, was das Seiende als solches sei, voraussetzt. Und diese Entscheidung geschieht sicher in der Richtung des Problemansatzes des platonischen Sophistes, weniger in der der aristotelischen Metaphysik (IV, 1). Auch wenn Heidegger sein Kantbuch mit dem berühmten Aristoteles-Zitat („Metaphysik" VII, 1, 1028b 2 fg.) „Und auch das von altersher und jetzt Gesuchte und immerdar in einer Aporie stehende, was ist das Seiende . . . " beschließt, so bleibt auch hier die Frage offen, was unter diesem „Seiendem" zu verstehen ist, das „Sein" von „Sein und Zeit" oder das schlichtere allgemeinbegriffliche „Seiende als Seiendes" in seinem Verhältnis zu den Kategorien. Denn Aristoteles selbst versteht unter der genannten Frage „Was ist das Seiende?" die andere „was ist die oüatcc" und diese als das Seiende der ersten Kategorie, später von der Scholastik die Substanz genannt. Dies ist auch dieselbe Frage, wie sie die Alten stellten, wenn sie das Seiende als eines oder vieles, als begrenzt oder unbegrenzt ansahen. Wie auch der vorhergehende Teil dieses Kapitels der Metaphysik zeigt, geht es Aristoteles nicht darum, 4

Vgl. diese Arbeit S. 5-6, 42-44.

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noch nach einem hintergründigen Sinn des Seins zu fragen, sondern darnach, ob unter dem Seienden die erste Kategorie der Substanz, des Wesens oder die anderen Kategorien der Qualität und Quantität zu verstehen seien und gemäß dieser Fragestellung erweist sich die Substanz als das ursprünglich Seiende, also geht es ihm, kurz gesagt, um das von den Kategorien ausgesagte Sein. Wenn Heidegger mit diesem Aristoteles-Zitat schließt, so will er natürlich die innere Verwandtschaft von Kant und Aristoteles aufzeigen, indem er beide als Aporetiker der Metaphysik aufweist. Heute dagegen will Heidegger der Metaphysik einen Grund graben durch ihre Überwindung im Denken an die Wahrheit des Seins („Was ist Metaphysik" S. 9). Wenn die Schlußseite des Kantbuches noch vermerkt, daß nuT in der Freundschaft zum Wesentlichen, Einfachen, Stetigen sich die Zuwendung zum Seienden als solchem vollzieht, aus der die Frage1 nach dem Begriff des Seins (Sophia) erwächst, so hat Heidegger hier das Seiende als Seiendes noch zusammengebracht mit dem Sein, während er die beiden heute radikal trennt. Dann spricht er hier noch vom „ B e g r i f f " des Seins, wofür er heute nur das „Es" des Geheimnisses des Seins, der Wahrheit des Seins als einer Dimension des Heiligen und Heilen setzt, es also mit religiösen Prädikaten bezeichnet. Damals gab er noch dem Aristoteles das Schlußwort, heute dagegen Hölderlin. Heute spielt er die Tragödie des Sophokles gegen die Ethik des Aristoteles aus. Philosophie ist ihm nicht mehr Liebe zur Weisheit als Begreifen des Seins, sondern Hirtenschaft des Seins. Eine merkwürdige Abwandlung der Unterscheidung von Sein und Seiendem befindet sich in der Vorlesung „Einführung in die Metaphysik" (gehalten 1935, veröffentlicht 1953, S. 23). Dort versteht Heidegger unter dem „ °v", dem „Seienden" einmal das, w a s jeweils seiend ist, dann aber „jenes, was gleichsam ,macht', daß dies Genannte ein Seiendes ist und nicht vielmehr nichtseiemd, jenes, was am Seienden, wenn es ein Seiendes ist, das Sein ausmacht". Das „Seiende" meint also in dieser Bedeutung die Seiendheit, das Seiendsein, das Sein. Es handelt sich hier um einen Bedeutungsunterschied, den wir aus „Sein und Zeit" noch nicht kennen, daß nämlich das Seiende einmal verstanden wird im Sinne des Wasseins, der essentia, dann aber im Sinne des Seins als Grund des Wasseins. Diese Unterscheidung darf ja nicht verwechselt werden mit der anderen gebräuchlichen in Wassein und Dassein, in essentia und existentia, worin man seit altersher das Sein im allgemeinen unterschieden hatte. Merkwürdig ist diese Unterscheidung aber noch in einer zweiten Hinsicht, weil Heidegger diesen neuen Unterschied nun noch identifiziert mit dem anderen, daß das „Seiende" in der ersten Bedeutung die seienden Dinge selbst, in der letzteren Bedeutung dagegen die Seiendheit, die oücrlcc meint. Das Befremdliche dieser Identifizierungen liegt darin, daß das Wassein auf 7 Moser, Metaphysik

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der einen Seite mit den seienden Dingen selbst zusammengenommen wird und andererseits die oücrla mit der Seiendheit, dem Sein für dasselbe erklärt wird, obwohl oüuia nach Aristoteles als eine Hauptbedeutung die des Wasseins besitzt und überhaupt im ganzen niemals mit elvai identifiziert wird. „Die erste Bedeutung von TÖ ÖV meint das T