Sangspruchdichtung: Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg, 15.-18. Februar 2006 9783110916478, 9783484108080

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Sangspruchdichtung: Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg, 15.-18. Februar 2006
 9783110916478, 9783484108080

Table of contents :
Vorwort
I. Einführung und Perspektivierung
Und jetzt? Forschungsaufgaben auf dem Gebiet der Sangspruchdichtung und des Meistergesangs nach Abschluß des >Repertoriums der Sangsprüche und MeisterliederSpruchdichtung< in der nordwestlichen Germania: Sangspruch, sproke, spreuke
Sangsprüche in den Niederlanden? Die Unsichtbarkeit einer Gattung und deren Bedeutung für die Geschichte der mittelniederländischen Lyrik
Entwicklungen der lateinischen Lyrik vor dem Hintergrund von Sangspruch und Minnelied
Sirventes und Sangspruch: Interkulturelle und anti-päpstliche Polemik. Beobachtungen und Überlegungen zur Wirksamkeit politischer Lyrik (nicht nur im Mittelalter)
III. Intrakulturelle Interferenzen: Gattungsinterferenzen
Überlegungen zur Funktion und zu den musikalischen Formungen der >Jenaer Liederhandschrift

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Sangspruchdichtung Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext

Sangspruchdichtung Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext Internationales Symposium Würzburg, 15.-18. Februar 2006

Herausgegeben von Dorothea Klein zusammen mit Trude Ehlert und Elisabeth Schmid

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-10808-0 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Dr. Christian Naser, Würzburg Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX I. Einführung und Perspektivierung

JOHANNES JANOTA

Und jetzt? Forschungsaufgaben auf dem Gebiet der Sangspruchdichtung und des Meistergesangs nach Abschluß des >Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder< . . . .

3

BURGHART WACHINGER

Sangspruchdichtung und frühe Meisterliedkunst in der Literaturgeschichte

17

II. Interkulturelle Interferenzen in Sangspruch und Meisterlied HELMUT TERVOOREN

>Spruchdichtung< in der nordwestlichen Germania: Sangspruch, sproke, spreuke

35

FRANK WILLAERT

Sangsprüche in den Niederlanden? Die Unsichtbarkeit einer Gattung und deren Bedeutung für die Geschichte der mittelniederländischen Lyrik

55

U D O KÜHNE

Entwicklungen der lateinischen Lyrik vor dem Hintergrund von Sangspruch und Minnelied

77

ULRICH MÜLLER

Sirventes und Sangspruch: Interkulturelle und anti-päpstliche Polemik. Beobachtungen und Überlegungen zur Wirksamkeit politischer Lyrik (nicht nur im Mittelalter)

95

VI

Inhaltsverzeichnis

III. Intrakulturelle Interferenzen: Gattungsinterferenzen CHRISTOPH MÄRZ

Überlegungen zur Funktion und zu den musikalischen Formungen der >Jenaer Liederhandschrift< 129 JOHANNES RETTELBACH

Minnelied und Sangspruch: Formale Differenzen und Interferenzen bei der Tonkonstitution im 13. Jahrhundert 153 JENS HAUSTEIN

Gattungsinterferenzen in Sangspruch und Minnelied des Kanzlers

169

MICHAEL BALDZUHN

Minne in den Sangspruchtönen Regenbogens Eine Überschau in typologischer Absicht

187

SABINE OBERMAIER

Fabel und Sangspruch

243

IV. Konstitution der Gattung / von Gattungen MARTIN J . SCHUBERT

Verschriftlichung bei Sirventes und Sangspruch

261

FRIEDRICH WOLFZETTEL

Rutebeuf und das Problem der nicht-lyrischen Strophenformen in der altfranzösischen Lyrik

295

LEVENTE SELÄF

Parallele Geschichten: Die altfranzösischen nicht-lyrischen strophischen Dichtungen und die Sangsprüche

307

FIDEL RÄDLE

Gefaßtes Leben. Zur lateinischen Lyrik des Peter von Blois BRIAN TAYLOR

Das Meisterlied als poetologische Urkunde

325 353

Inhaltsverzeichnis

VII

FREIMUT LÖSER

Von kleinen und von großen Meistern Bewertungskategorien in der Sangspruchdichtung

371

Abkürzungsverzeichnis

399

Register

401

Vorwort

Unser Band dokumentiert die Beiträge eines Internationalen Symposions zur Sangspruchdichtung, das zum Abschluß des von HORST BRUN-

und BURGHART WACHINGER seit 1986 herausgegebenen >Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderte vom 15. bis 18. Februar 2006 in Würzburg stattfand. Die Teilnehmer hatten sich die Aufgabe gestellt, nachdem das >Repertorium< dafür nun den Grund gelegt hat, neue Perspektiven zur Erforschung der Sangspruchdichtung zu entwickeln. Die leitende Frage galt der Konstituierung der Gattung, mit der zugleich der herkömmliche Ansatz, den Sangspruch als festes Gattungsmuster mit distinkten Merkmalen zu beschreiben, zur Debatte stand. Wohl weist einiges - etwa die aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammende >Jenaer LiederhandschriftKleine< und die >Große Heidelberger Liederhandschrift< sowie die >Weingartner Liederhandschrift< - tradieren Minnesang und Sangspruch indes weitgehend ungetrennt. Zu diesem ambivalenten überlieferungsgeschichtlichen Befund kommt die Beobachtung, daß der Sangspruch sich offen zu benachbarten Texttypen (z.B. Minnelied, Spottvers, Fabel, Rätsel, rede oder Predigt) verhält. Diese Offenheit, die ein Merkmal der Sangspruchdichtung zu sein scheint, macht es umgekehrt auch schwer, distinkte Gattungsmerkmale zu bestimmen. Welche formalen und thematischen Interferenzen zu benachbarten Texttypen auszumachen sind; wie die Sangspruchdichtung sich z.B. zum geistlichen Lied oder zur rede verhält und wie der poetologische Diskurs der Sangspruchdichter zu dem der Meistersinger; ob und, wenn ja, wie der Sangspruch sich überhaupt in der Ordnung der Gattungen von anderen Gattungen abgrenzen sowie systematisch und historisch beschreiben läßt: mit diesen Fragen sieht sich konfrontiert, wer die Sangspruchdichtung nicht als statisches System, sondern als Bestandteil eines literarischen Netzwerks und als Ergebnis vielfältiger Interferenzerscheinungen fassen möchte. Noch komplexer wird der Fall, wenn man den Blick über die NER

χ

Vorwort

Grenzen der nationalsprachlichen Philologien hinaus weitet: Denn eine satirisch-moralische Dichtung hat sich seit dem 13. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Literatursprachen ausdifferenziert. Thematische Gemeinsamkeiten verbinden die deutsche Sangspruchdichtung mit der moralischen, satirischen und didaktischen Dichtung in mittellateinischer, provenzalischer, altfranzösischer oder auch mittelniederländischer Sprache. Ob man eine parallele Entwicklung unter ähnlichen sozialhistorischen Bedingungen annehmen darf oder ob sich Einflüsse oder gar Wechselwirkungen nachweisen lassen, wie sich der etwa im 15. Jahrhundert am Niederrhein verbreitete Typus der Spruchdichtung zum deutschen Sangspruch verhält, inwiefern die mittellateinische und romanische Dichtung auf die deutsche Sangspruchdichtung eingewirkt haben: das alles sind noch weitgehend offene Fragen. Die Beiträge unseres Bandes liefern >Bausteine< zu einem dynamischen und multiperspektivischen Beschreibungsmodell des Phänomens >SangspruchRepertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder< (RSM) nach über dreißigjähriger Arbeit zum Abschluß brachte und illustriert den gewaltigen Fundus, der jetzt der künftigen Forschung zur Verfügung steht, auch durch Zahlen. In 17 Bänden liegt das RSM jetzt vor und erschließt aus 350 Handschriften und 750 Drucken rund 17000 Texte vom Ende des 12. bis ins ausgehende 18. Jahrhundert. Damit erfaßt das RSM, das 1600 verschiedene Strophenformen verzeichnet, eine 600 Jahre alte, formal geschlossene literarische Tradition - eine Singularität innerhalb der deutschen Literaturgeschichte. Angesichts dieser Überfülle, welche dazu angetan sein könnte, selbst Fachleute verzagen zu lassen, erarbeitet JANOTA ein Bündel von Fragen und Aufgaben, welche geeignet wären, den Fortgang künftiger Forschung zu profilieren. Sie seien nachfolgend kurz zusammengefaßt: 1. Der jeweiligen Überlieferung gemäße Texteditionen, aber auch eventuell thematische Anthologien, durch die sich die Textmassen unter bestimmten Aspekten erschließen ließen, und nicht zuletzt die Edition der Melodienüberlieferung. 2. Gattungsdiskussion: Nach welchen formalen und inhaltlichen Kriterien lassen sich Sangspruch und Meisterlied gegenüber dem Lied abgrenzen, welche Interferenzen mit anderen lyrischen Gattungsbereichen lassen sich ausmachen, wo lassen sich Gattungs-

Vorwort

XI

transformationen beobachten? 3. Autorentypen: Dabei soll es nicht nur um die biographische bzw. soziale Verortung des Autors gehen, sondern vor allem um die Klärung der Autorrolle aufgrund der in den Texten selbst gegebenen Signale. Inszeniert sich z.B das Ich im Meisterlied anders als in den Sangsprüchen? Zu befragen wären hier auch die von den Dichtern beanspruchte Autorität und die damit verbundenen Strategien der Autorlegitimation. 4. Kommunikative Funktion: Dazu gehört Belehrung auf allen Gebieten, Kritik, Kollegenschelte, auch die Festigung der eigenen Position durch Bezug auf konkurrierende Kollegen, des weiteren die Gemeinschaft stiftende Funktion literarischer Spiele zur festlichen Geselligkeit. Eng mit diesem Aspekt zusammen hängt 5. Performanz und deren Rezeption, die allerdings bis zum Aufkommen von Singschulprotokollen im 16. Jahrhundert nur aus textinternen Signalen zu erschließen sind. Des weiteren stellt sich die Frage der Verständlichkeit der oft theologisch hochspezialisierten Themen sowie der sprachartistisch komplexen Strophenformen im Medium des Vortrags. 6. Das RSM als Dokumentation literarischen und kulturhistorischen Wissens bzw. als praktikables Findebuch: Das umfangreiche Stichwörterregister eröffnet differenzierte Einblicke in poetologische wie lebensweltliche Diskurse über die Jahrhunderte hinweg. Auf Grund der verzeichneten Nachweise lassen sich mentalitätsgeschichtliche Fragen aller Art verfolgen, z.B. Gender studies betreiben sowie zeitgenössische Aussagen zu Verwandtschaft und Familie und nicht zuletzt Aspekte der Frömmigkeitsgeschichte studieren. 7. Der Gattungsvergleich mit entsprechenden europäischen Traditionen: Hier soll es um interkulturelle Interferenzen in Sangspruch und Meisterlied gehen, mithin um eine Problemstellung, die nicht von ungefähr in diesem Tagungsband erstmals breiten Raum einnimmt. Gefragt wird dabei nach vergleichbaren Phänomenen in der mittellateinischen, niederländischen und romanischen Lyrik. BURGHART WACHINGER zeichnet in seinem Beitrag die Linien der internen Gattungsgeschichte von Sangspruchdichtung und Meistergesang nach und fragt nach deren Verhältnis zu einer allgemeinen Literatur- und Bildungsgeschichte. Dabei wählt Wachinger für seine vergleichende Betrachtung zum einen zwei Meister aus, deren literarischer Rang unbestritten ist und deren CEuvre zum anderen sich in der Mitte des vom RSM betrachteten Zeitraums ansiedelt. Dabei konzentriert der Beitrag sich auf drei Aspekte und Probleme, die seit Beginn der 90er Jahre in einigen jüngeren Arbeiten diskutiert worden sind : 1. Barbildung: Hier geht es um mögliche Gründe, die der Mehrstrophigkeit zur Durchsetzung verholfen und die das Meisterlied an eine Spitzenstellung

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Vorwort

im Prestige der lyrischen Gattungen befördert haben. In diesem Zusammenhang werden die Konkurrenz der emporkommenden Reimpaarreden sowie der Niedergang des anspruchsvolleren Minnelieds erwogen. Des weiteren wird gefragt, inwiefern die Thematisierung der Schriftlichkeit in den vielstrophigen Meisterliedern auf eine schriftliche Abfassung schließen läßt. 2. Sprachartistik und Meistertum: Ausgangspunkt ist der Befund, daß in den Lobdichtungen des 13. Jahrhunderts die Sprachartistik gesteigert hervortritt und die Kunst des Preisens zunehmend selbst zum Thema der Meisterlieder selbst wird, was zu einer starken Selbstbezüglichkeit der Dichtung führt. In diesem Zusammenhang werden Frauenlob und Heinrich von Mügeln, die beide eine metaphernreiche Sprachkunst entfalten, auf dem Hintergrund ihres neuplatonisch oder aber aristotelisch-scholastisch inspirierten Denkens gegeneinander kontrastiert. 3. Wissensverarbeitung und Diskurszusammenhänge·. Hier betrachtet WACHINGER Frauenlob und Heinrich von Mügeln vergleichend, indem er in beiden Fällen gerade die Individualität ihrer dichterischen Leistung >im Schnittpunkt verschiedener Diskurse und Denktraditionen< entstehen sieht. Des weiteren zeigt er, wie der höfische Liebesdiskurs nach dem Niedergang von Versroman und Minnesang in verwandelter Form im Sangspruch weiterwirkt und bestimmte Themen, ζ. B. merkwürdigerweise das Lob der Frau, sich im Meisterlied fest etablieren. Des weiteren wird der Wissensdiskurs, das Ausgreifen auf externe Diskurse, in der Diachronie mit dem Liebesdiskurs verglichen. Während beim Liebesdiskurs die Kategorien Transformation und Umbruch eine Entwicklung beschreiben können, scheinen die unterschiedlichen Positionen des volkssprachigen Wissensdiskurses immer nur auf die je vorgegebene lateinische Wissenskultur zu reagieren. Die Sektion >Interkulturelle Interferenzen in Sangspruch und Meisterlied< eröffnen HELMUT TERVOOREN und FRANK WlLLAERT, indem sie die signifikant differente Verteilung der lyrischen Gattungen in der nordwestlichen Germania bzw. den nideren landen ins Visier nehmen. Beide Autoren setzen sich mit dem Anschein auseinander, daß dort, wo sich im mittelhochdeutschen Gattungssystem des 13. Jahrhunderts höfische Lyrik und Sangspruchdichtung ansiedeln, sich in den nideren landen indes ein schwarzes Loch auftut. Beide heben auch, was die Situation der höfische Lyrik betrifft, die Mehrsprachigkeit der Höfe in der nordwestlichen Germania hervor, die es niederrheinischen und brabantischen Fürsten erlaubte, am literarischen Leben des nördlichen Frankreich teilzunehmen.

Vorwort

XIII

Nach einer Erörterung des Bestandes der Überlieferung gelangt TTRzu einem zwiespältigen Ergebnis: Zwar ist der Sangspruch, wie ihn die deutsche Forschung definiert, nicht über den Kölner Raum hinaus nach Nordwesten gelangt. TTRVOOREN gibt aber zu bedenken, daß sich durchaus textuelle Phänomene ausmachen ließen, die eine Schnittstelle mit dem Sangspruch aufweisen, sofern man andere Kriterien anlegte. So seien etwa unter thematischen und funktionalen Gesichtspunkten die politischen Lieder Walthers, Jakobs von Maerlant vielstrophiges Gedicht über den Fall von Akkon und die KlerikerKritik des mittellateinisch dichtenden Walther von Chätillon sehr wohl vergleichbar. Des weiteren übernehme die seit dem 14. Jahrhundert vom Mittelrhein bis Holland entstehende panegyrische Kleindichtung Funktionen des Sangspruchs. TERVOOREN weist schließlich auf neue Quellen hin, welche Auskünfte über die soziale Verortung der seit dem 14. Jahrhundert auftretenden Herolde geben und den Schluß zulassen, daß sich französische Ministreis, niederländische Herolde und deutsche Sangspruchdichter in vielem nahe stehen. Eine komparatistische Perspektive ist freilich offensichtlich dadurch erschwert, das hebt TtRVOOREN als grundsätzliches Problem hervor, daß die beiden in der Niederlandistik und in der Germanistik geltenden Gattungssysteme nicht kompatibel sind. VOOREN

FRANK WILLAERT geht ebenfalls von dem Befund aus, daß in der niederländischen gesungenen Lyrik nichts überliefert ist, was gemäß der in der deutschen Forschung geltenden Definition als Sangspruch bezeichnet werden kann. Auch er erklärt das Fehlen einer einheimischen Tradition bis in das späte 13. Jahrhundert durch die bestimmende Rolle des französischen Minnesangs im literarischen Leben der Niederlande. Was die Lyrik in der einheimischen Volkssprache betrifft, so werden seit den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts wiederum aus der französischen Literatur einfacher zugängliche Liedformen importiert, deren sprachlicher Formelbestand hingegen aus Stereotypen des hochdeutschen Minnesangs stammt. Das Improvisieren solcher einfach zu dichtenden Lieder entwickelt sich jedenfalls im Rhein-Maas-Gebiet zu einer adligen Gesellschaftskunst. Der Charakter solcher Lieder erklärt allerdings auch, warum sie selten bzw. nur als Füllsel auf das Pergament gelangten. Die Stelle der Sangspruchstrophe nimmt hingegen im Kerngebiet der Niederlande seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die aus Frankreich importierte Helinandstrophe, dann aber zunehmend die Maerlantstrophe in ihren Abarten ein, eine Gedichtform, in der in der lateinischen Gelehrsamkeit bewanderte Intellektuelle didaktische Großformen ethischen und religiösen Inhalts verfaßten und

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Vorwort

sich als kritische Moralisten profilierten. Während TTRVOOREN nicht ausschließen will, daß solche Gedichte für den Gesang bestimmt waren, sieht WILLAERT keinen Grund für eine solche Annahme. Erst als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Maerlantstrophe auch in den sog. sproken auftaucht, läßt sich das Profil der Dichter, so WILLAERT, mit dem der Sangspruchdichter (fahrende Vortragskünstler) vergleichen. Für die lateinische Lyrik kann UDO KÜHNE den - angesichts dessen, daß die lateinische Literatur, sonst »auf allen Gebieten der kulturellen Produktion die Orientierungsgröße ist« - seltenen Fall einer lateinischen Lyrikrezeption deutscher Sangspruchdichtung beschreiben. Die sog. >Augsburger Cantionessammlung< enthält in einer wohl um 1300 entstandenen Textpartie gut 70 lateinische Strophen, die in Tönen deutscher Sangspruch-Meister gedichtet sind: Lieder, die in der Überschrift sowohl den Autornamen als auch den Namen des Meisters, dem der Ton zugeschrieben wird, verzeichnen. KÜHNE hebt die Singularität der Augsburger Sammlung gegenüber der sonst im lateinischen CantionesSchaffen zu beobachtenden Praxis des Kontrafazierens hervor, insofern es sich hier »um die Transposition eines formal und inhaltlich bestimmten Texttyps« handle, so daß er dafür die Bezeichnung lateinischer Sangspruch< vorschlägt. Des weiteren kontrastiert KÜHNE die Augsburger Sammlung als Antwort auf einen deutschen Prätext mit der literarischen Praxis des Codex Buranus, in dem lateinische und deutsche Strophen zueinander in einen Dialog treten. Er hebt aber auch hervor, daß sich die lateinischen Sangspruchdichter durch antike Reminiszenzen auf die etablierte mittellateinische Lyrik zurückbeziehen, wodurch sie vielleicht signalisieren, daß sie ungeachtet ihrer Adaptation deutscher Formen die internationale Entwicklung der europäischen Poesie im Auge behalten wollen. ULRICH MÜLLER fragt nach der mutmaßlichen Wirksamkeit der politischen Dichtung in Geschichte und Gegenwart. Zum einen vergleicht er die deutsche Gattung des Sangspruchs mit ihrem Pendant in der provenzalischen Sangverslyrik, dem Sirventes. Insbesondere am Beispiel Walthers von der Vogelweide, Peire Vidals und Guilhem Figueiras erörtert er die je in der Papstschelte angewendeten polemischen Techniken. In zwei Fällen (einer Replik Thomasins von Zerklaere auf Walther von der Vogelweide sowie einer Dame namens Gormonda auf Guilhem Figueira) präsentiert er in der deutschen und in der provenzalischen Kultur je eine antipäpstliche Invektive zusammen mit einer darauf erfolgten Reaktion. Ebenso erwägt er, ob Walthers sog. Preislied auf das deutsche Wesen eine Antwort auf eine Polemik Peire Vidals

Vorwort

XV

darstellen könnte. Dieser hatte nämlich in einem auf das Jahr 1157 zu datierenden Sirventes die Deutschen als ungehobelte Klötze und ihre Sprache als Hundegebell verspottet. Grundsätzlich versucht ULRICH MÜLLER, den Sitz im Leben der mittelalterlichen politischen Lyrik zu bestimmen, indem er sie in den Horizont des Politrock bzw. des politischen Lieds oder auch des Kabaretts unserer Gegenwart stellt. Der erste Beitrag in der Sektion >Intrakulturelle Interferenzen< von CHRISTOPH M Ä R Z und LORENZ WELKER ist dem Verhältnis von Text und Musik in der >Jenaer Liederhandschrift< (>J.L.J.L.< zu beobachtenden Lücken, Nachträge und Korrekturen, die das Prozessuale der Herstellung zeigen. Ein Vergleich mit den Formaten zeitgenössischer Chansonniers provenzalischer und nordfranzösischer Provenienz namentlich hinsichtlich der Relation von Blattgröße und Schrift- oder Notengröße ergibt, daß die romanischen Liederhandschriften als Modell für die Gestaltung der >J.L.< nicht in Frage kommen. Statt dessen eröffnet sich nun der adäquate Augenabstand zum Sänger als neue brauchbare Kategorie, und damit kommt die Benutzbarkeit der >J.L.< als Partitur für eine Mehrzahl von Vortragenden in den Blick. Aufgrund des ähnlichen optischen Maßverhältnisses von Form und Litera stellen M Ä R Z und WELKER die >J.L.< in eine Reihe mit den Gradualien, die ja zwecks praktischer Benutzung ähnliche Bedingungen erfüllen müssen. Erstmals in der deutschen Überlieferung werden durch die neue Notationspraxis der >J.L.< die Melodien auch lesbar und damit weiterführenden interpretatorischen Überlegungen zugänglich. Das ist der Ausgangspunkt des zweiten Teils. Die Beschreibung von Spruch- und Minneliedmelodien beim Wilden Alexander und bei Wizlav gelangt zum Befund, daß sich die Melodiebildung in den beiden Kategorien signifikant unterscheidet: Der ausgedehnten Melismatik und ausgeprägten Rezitation im Fall des Sangspruchs wird die schlichte, durch kleine Intervalle bestimmte Melodik im Fall des Liedes gegenübergestellt. Des weiteren stellt sich die Frage, wie weit diese musikalische Differenzierung ein Pendant in den Texten hat. Dabei ver-

XVI

Vorwort

weisen die Autoren auf erste Interpretationsansätze, die zeigen, daß die Weise keineswegs ein beliebiges Vehikel für den Text ist, sondern vielmehr vielfältige Text-Musik-Bezüge zutage treten konnten. Ausgehend von ihren gemeinsamen formalen Wurzeln zeichnet JOHANNES RETTELBACH die Entwicklungsgeschichte von Minnesang und Sangspruch nach, wie sie ihre Differenz ausbilden und sich schließlich wieder aneinander annähern. Dabei arbeitet RETTELBACH einerseits eine Reihe distinktiver Merkmale heraus, die es erlauben, Sangspruch und Minnesang kategorial zu trennen (u.a. Verslänge, Reimdichte, metrische Besonderheiten, Auftaktbehandlung). Aufgezeigt werden andererseits Wechselwirkungen: Spruchartige Formen im Minnesang (z.B. Neidhart) und vor allem die systematische Hereinnahme von typischen Minnesangelementen in die Sangspruchtradition (Konrad von Würzburg). Gerade dieser Dichter bezeugt, indem er die Mischform systematisch praktiziert, die Existenz eines formalen Bewußtseins. Schließlich weist RETTELBACH darauf hin, daß allerdings die bewußte Verquickung von Spruch und Lied auf lange Sicht den formalen Gattungsunterschied unterhöhlt. Mit inhaltlich-thematischen Gattungsinterferenzen in Sangspruch und Minnelied befaßt sich JENS HAUSTEIN. Ansätze, die herkömmlichen Gattungsgrenzen zu unterlaufen, bietet vor allem das Sprechen über die Minne, wie sich beispielhaft am CEuvre des Kanzlers studieren läßt. Dessen Sangsprüche erörtern auf hohem abstrakten Niveau die werdekeit der Frauen sowie zentrale höfische Begriffe wie guot, ere und schäme. Die argumentative Struktur, die Reduktion des Minnethemas auf den Frauenpreis, der beobachtende und kommentierende Gestus, das Motiv des erfolglos um milte bittenden Ichs bleiben freilich nicht auf die Sprüche beschränkt; sie sind konstitutives Element auch der Minnelieder des Kanzlers, für die überdies Ich-Verlust kennzeichnend ist. Während JENS HAUSTEIN das Minnelied des Kanzlers von dessen Sangspruch her zu fassen versucht, nimmt MICHAEL BALDZUHN die umgekehrte Perspektive ein. Er fragt nach der Minne im Sangspruch Regenbogens und in der meisterlichen Lieddichtung, die sich der Töne Regenbogens bedient. Mit seiner typologischen Beschreibung der etwa 180 Strophen (Mahn- und Lehrsprüche, Lieder von der ambivalenten Macht der Frau, Frauenpreis usw.) erfaßt er signifikante Unterschiede, die zugleich Verschiebungen im Gattungsgefüge der spätmittelalterlichen Lyrik indizieren. Die Sangspruchdichter nach Frauenlob und Heinrich von Mügeln haben vor allem den Frauenpreis aus der Sicht des von der Minne Betroffenen favorisiert. Nach BALDZUHN deutet

Vorwort

XVII

dieser Befund auf eine Annäherung des Sangspruchs an das Minnelied und »des Fahrenden an den Minnesänger« (S. 207), aber auch auf einen »literarisierten Rezeptionskontext« (S. 208) hin. Weniger um Interferenzen denn um die Frage, warum Fabel und Sangspruch trotz gemeinsamer Strukturelemente und ähnlicher Funktion sich kaum gegenseitig beeinflußt haben, geht es SABINE OBERMAIER. Sie erörtert verschiedene Gründe - den narrativen Zuschnitt der Fabel, den für den Sangspruch konstitutiven Zwang zur Kürze, Herrenmoral und Moralität des Sangspruchs - , die einen solchen wechselseitigen Einfluß möglicherweise unterbunden haben, aber auch die eine Affinität begünstigenden Faktoren. MARTIN J. SCHUBERT geht die Frage der Gattungskonstitution von einem kontrastiv vergleichenden überlieferungstypologischen Ansatz an. In seiner materialreichen Übersicht kann er zeigen, daß die altprovenzalischen Sirventes in einem einzigen hochentwickelten Handschriftentyp überliefert sind, d.h. in großen Sammelhandschriften mit dem canzo, dem Liebeslied, als Schwerpunkt, die jeweils umfangreiche Sammelprozesse bereits voraussetzen. In der Überlieferung des deutschen Sangspruchs lassen sich hingegen verschiedene Typen - sporadische Aufzeichnung, lateinisch-deutsche Mischhandschriften, Sammelhandschriften mit ausschließlich fiktiven Texten, reine Lyriksammlungen sowie reine Sangspruchsammlungen (inklusive Rollenaufzeichnung) - unterscheiden, die zugleich verschiedene Phasen der Verschriftlichung dokumentieren. Für die Frage nach der Konstitution der Gattung aus der Überlieferung geben die Befunde wenig her: Eine allein auf den Sangspruch konzentrierte Sammlung ist im deutschen wie im okzitanischen Bereich die Ausnahme. FRIEDRICH WOLFZETTEL packt die Frage der Gattungskonstitution hingegen von der Form und der Performanz her an. Anhand verschiedener Beispiele aus der altfranzösischen Dichtung erörtert er die grundlegende Schwierigkeit, wie gesungene (>lyrischenicht-lyrischenicht-lyrischen< Gedichte annehmen darf, und die »ständige Möglichkeit der Remusikalisierung« (S. 283), aber auch die inhaltliche Affinität, wie sie etwa zwischen gesungenen Sirventes und nicht-gesungenen Dits bestehen, und die zunehmende Entfunktionalisierung der höfischen Sirventes im städtischen Milieu erschweren die genaue Festlegung der Gattungsgrenzen, wenn sie sie nicht ganz unmöglich machen.

XVIII

Vorwort

Mit demselben Problem, indes mit anderer Akzentsetzung, ist auch befaßt. Er widerlegt überzeugend das Argument der Heterogonie (.i. der von Strophe zu Strophe wechselnden Verteilung männlicher und weiblicher Kadenzen bei ansonsten gleichem Strophenbau), das in der romanistischen Literaturwissenschaft bislang als Beweis für nicht-gesungenen Vortrag galt. Sangbarkeit ist demnach für die etwa 600 >nicht-lyrischen< strophischen Gedichte (>DitsGroßen Heidelberger Liederhandschrift< überlieferten Sangsprüche, mehr als 50% der Sammlung, späteren Aufzeichnungsphasen als die dort überlieferten Minnelieder angehören, der Minnesang also dem Sangspruch den Weg in die Schriftlichkeit bereitet hat. NINE MIEDEMA diskutierte das Nebeneinander von Sangspruch- und Minneliedpraxis insbesondere am Beispiel Konrads von Würzburg. LEVENTE SELÄF

Vorwort

XIX

Ohne die großzügige Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft hätten wir das Symposion zur Sangspruchdichtung nicht durchführen können. Ihr sei deshalb an erster Stelle gedankt. Bei der Drucklegung der Beiträge ist uns mannigfach Hilfe zuteil geworden: Dr. Christian Naser (EDV-Philologie, Würzburg) setzte die Beiträge, Annina Sczesny M.A. (Kiel) und Florian Bambeck M.A. (Würzburg) halfen bei den Korrekturarbeiten, Dr. Marion Gindhart (Kiel) erstellte das Register. Dafür möchten wir ihnen allen herzlich danken. Dank gesagt sei schließlich auch dem Max Niemeyer Verlag, der den Band in sein Programm aufnahm. Kiel und Würzburg, im Mai 2007 Dorothea Klein, Trude Ehlert, Elisabeth Schmid

I. Einführung und Perspektivierung

JOHANNES JANOTA, Augsburg

Und jetzt? Forschungsaufgaben auf dem Gebiet der Sangspruchdichtung und des Meistergesangs nach Abschluß des >Repertoriums der Sangsprüche und MeisterliederSymposium Sangspruchdichtung< verdankt sich weder zeitlich noch inhaltlich dem Zufall. Vielmehr gab der Abschluß des monumentalen >Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder< den willkommenen Anlaß, um die Leistungsfähigkeit dieser meisterlichen Quellenheuristik bei einer internationalen Tagung anerkannter Fachleute in Vortrag und Diskussion einer vielfältigen Bewährungsprobe zu unterziehen. Zugleich sollte aber auch gefragt werden, auf welche Teilgebiete sich die künftigen Forschungen zum Sangspruch und zum Meisterlied nach dem Vorliegen des gesamten >Repertoriums< zunächst konzentrieren könnten, wo sich in nächster Zeit Forschungsaktivitäten in diesem Bereich vielleicht bündeln ließen. Darauf zielt neben einem informierenden Überblick für Interessierte, die mit der Materie und den Fragestellungen dieser Forschungsrichtung bestenfalls ansatzweise vertraut sind, der Eröffnungsvortrag. Seine wissenschaftliche Fundierung erhält er bei den Vorträgen und Diskussionen des Würzburger Symposions. Ein glücklicher Zufall wollte es freilich, daß der Abschluß des >Repertoriums< mit dem Ausscheiden Horst Brunners aus seinem Universitätsamt verbunden ist. Dies erlaubt zugleich, seine besonderen Verdienste am Zustandekommen des >Repertoriums< zu würdigen, dessen Last er zusammen mit Burghart Wachinger über drei Jahrzehnte hindurch mit zäher Ausdauer getragen hat. Auf Horst Brunners Initiative hin traf sich nämlich März 1973 in Nürnberg ein Expertenkreis, der den ambitionierten, ja den geradezu waghalsigen, mit seinen Vorarbeiten bis 1968 zurückreichenden Plan nachhaltig befürwortete, die Sangsprüche und die Meisterlieder vollständig in einem >Repertorium< zu inventarisieren. Waghalsig war dieser Plan nicht nur im Blick auf die * Der Charakter dieses Eröffnungsvortrags, der auch ein Publikum erreichen wollte, das mit den Forschungen zum Sangspruch und Meisterlied nicht oder nur wenig vertraut ist, wurde im Druck bewußt beibehalten. Der wissenschaftliche Hintergrund des Überblicks verdeutlicht sich in den nachfolgenden Fachbeiträgen. Ihnen sind auch die einschlägigen Literaturangaben zum Thema zu entnehmen.

4

Johannes

Janota

insgesamt desolate Forschungslage bei diesem seinerzeit völlig unüberschaubaren Gebiet, sondern waghalsig auch angesichts der damals meist dürftigen Katalogerschließung nahezu aller Bibliotheken, von denen etliche sogar durch den >Eisernen Vorhang< eher mehr als weniger abgeschottet waren. Gleichwohl ließen sich Horst Brunner und Burghart Wachinger auf dieses schwer kalkulierbare Wagnis ein: Mit ihren getreuen Mitarbeitern erschlossen sie in einem großangelegten Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 1986 und 2006 in nicht weniger als 17 gewichtigen Bänden aus etwa 350 Handschriften und circa 750 Drucken an die 17500 Texte vom endenden 12. bis ins ausgehende 18. Jahrhundert (das jüngste erhaltene Meisterlied stammt von 1788). Damit ist auf dem Gebiet der sangbaren Lyrik - singular innerhalb der deutschen Literaturgeschichte - eine 600jährige formal geschlossene literarische Tradition mit etwa 1600 verschiedenen Strophenformen erfaßt. Sie reicht von der Sangspruchdichtung - gemeint sind damit strophische Texte zu religiösen, didaktischen, ständischen und politischen, zu gelehrten und poetologischen Themen einschließlich Dichterschelte und Dichterlob, die Walther von der Vogelweide im lyrischen Gattungsspektrum deutschsprachiger Dichtung fest etablierte und für die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts das Prinzip der Einstrophigkeit herrschte - über das mehrstrophige meisterliche Lied im 14. und 15. Jahrhundert bis zum Meistergesang, der im Rahmen von Meistersingergesellschaften (die letzte löste sich 1875 in Memmingen auf) als literarische Institution vor allem in den süddeutschen Städten betrieben wurde - allgemein bekannt durch Richard Wagners >Die Meistersinger von Nürnberg< und Hans Sachs als deren hervorragendsten Vertreter. Für diesen gewaltigen Fundus bietet das >Repertorium< nicht nur eine im Rahmen des Möglichen vollständige Überlieferungsheuristik, es erschließt ihn darüber hinaus durch Inhaltsregesten zu allen Texten, durch Namen-, Quellen- und Datumsregister, durch einen Katalog der Töne (also Strophenformen), durch InitienVerzeichnisse und nicht zuletzt durch ein bewundernswertes Stichwörterregister zu den Inhalten der Sangsprüche und Meisterlieder, in dem einschließlich der vielen Querverweise eine faszinierende Diskursvielfalt zwischen Himmel, Erde und Hölle präsent wird. Nachdem dieser übervolle Thesaurus nunmehr in allen Teilen vorliegt, stellt sich unweigerlich die Frage: Und jetzt? In ihrem bangen Lakonismus gibt diese Frage das Erschauern gerade der Fachleute angesichts der überbordenden Forschungsaufgaben nach Abschluß des >Repertoriums< wieder. Das Würzburger Symposium will es freilich

Forschungsaufgaben

auf dem Gebiet der Sangspruchdichtung

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nicht bei diesem Schauder bewenden lassen, sondern in einem repräsentativen Ausschnitt aktuelle Aufgabenstellungen paradigmatisch vorstellen. Die thematische Vielfalt der Beiträge zeugt von einer erfreulichen Lebendigkeit in der Sangspruch- und Meisterliedforschung, die nicht zuletzt durch das sukzessive Erscheinen des >Repertoriums< beflügelt wurde; dennoch sollten nach Abschluß des >Repertoriums< nunmehr verstärkt auch Überlegungen angestellt werden, wie sich die Aktivitäten auf diesem Gebiet sinnvoll fokussieren lassen, um angesichts beschränkter Ressourcen mit vereinten Kräften einen profilierten Fortgang der Forschungen zu sichern. So unabdingbar dabei die Einzelforschung auch weiterhin sein wird, so nachhaltig ist aber ebenso an Forschergruppen zu zentralen Aspekten der Sangspruch- und Meisterliedüberlieferung zu denken. Das glanzvolle Ergebnis des >RepertoriumsRepertoriums< könne eine substantielle Forschung zum Sangspruch und Meisterlied beginnen. Sie hat vielmehr eine lange Tradition, die teilweise sogar in die Zeit vor der Etablierung der Germanistik als Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Und es waren glanzvolle Forschungsleistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die überhaupt erst den Plan und das Konzept für das >Repertorium< reifen ließen, und nicht minder glanzvolle Forschungserträge begleiteten und bestärkten - mehrfach sogar davon angeregt - die Arbeit am >RepertoriumRepertoriumsRepertorium< legitimierende Vorarbeiten geleistet hat. Zu Recht entschieden sich die beiden Herausgeber für ein Repertorium und ge-

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gen eine Edition aller rund 17500 Texte, die - wie manches editorische Großprojekt - einer Beerdigung 1. Klasse in den Katakomben der Bibliotheken auf Kosten der Steuerzahler gleichgekommen wäre. Mit dem >Repertorium< als Leitfaden lassen sich nunmehr Kriterien für eine verantwortbare Auswahl von Editionswürdigem aus der schier unübersehbaren Textfülle ableiten und unterschiedliche Editions-, aber auch Kommentartypen legitimieren (denn eine Edition ohne erschließenden Kommentar gilt heute zu Recht als obsolet). Welche Textmassen trotz strenger Auswahl gleichwohl noch zu bewältigen sind, mag das Beispiel des Hans Sachs verdeutlichen, von dessen rund 4300 Meisterliedern bislang nur etwa ein Viertel gedruckt vorliegt. Den bislang vorherrschenden Typ der überlieferungsorientierten Autoredition wird man vor allem bei den Sangspruchdichtern, für die wir teilweise noch auf eine Sammelausgabe aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgreifen müssen, und bei den frühen Meistersingern favorisieren; beim jüngeren, oft schablonenhaft wirkenden Meistergesang dürfte hingegen eine strengere Auswahl bei der Edition von Autorceuvres angebracht sein. Insgesamt aber sollten künftig neben die bewährte Autoredition in verstärktem Umfang auch andere Editionstypen treten, um die Textmassen in sinnvollen Ausschnitten unter bestimmten Aspekten zu erschließen. Zu denken ist dabei vor allem an die Edition von Überlieferungskorpora in Sammelhandschriften, an denen sich in besonderer Weise das thematische und formale Interesse der damaligen Rezipienten ablesen läßt. Zu denken ist aber auch an thematisch orientierte Anthologien und Auswahleditionen - etwa zu poetologischen Stellungnahmen der Sangspruchdichter und Meistersinger oder zur Tradition stets aktueller Problemfelder (um nur zwei Beispiele zu nennen) - , die von gegenwärtigen Fragestellungen gelenkt werden: Die große Chance dabei ist es, Konstanz und Varianz in Diskursen etwa zu gesellschaftlichen Normen über viele Jahrhunderte hinweg zu verfolgen. Und nicht zuletzt fehlen Editionen der reichen Melodieüberlieferung, die den hohen Formanspruch im Sangspruch wie im Meisterlied und den Spannungsbogen zwischen Traditionsverpflichtung und formalen Innovationen nicht nur für den Musikhistoriker erschließen. Auf jeden Fall aber sollte das >Repertorium< einer planlosen Herausgebertätigkeit, bei dem das Edieren zu einem horizontlosen Wildwuchs verkommt, künftig einen kräftigen Riegel vorschieben. Neben dem planvollen Edieren erlaubt das >Repertorium< erstmals auf umfassender Textgrundlage (2.) eine differenzierte und differenzierende Gattungsdiskussion. Das sieht für Außenstehende auf den ersten Blick nach unverbindlichen Exerzitien auf der literaturtheoretischen

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Spielwiese aus, aber das dahinterstehende Problem tangiert jeden interessierten Laien: Wie ist es möglich, innerhalb der unübersehbaren Flut der literarischen Überlieferung distinkte Gattungen abzugrenzen, deren Existenz sich ja nicht einer mehr oder minder beliebigen Definition verdankt, sondern auf die literarische Ausformung ganz unterschiedlicher Denkweisen zurückführt - ein Liebesgedicht ist in seinem poetischen Anspruch und in seinem lebensweltlichen Bezug eben etwas anderes als ein Liebesroman oder ein Traktat >De amorec. Je nach Lebenslage und Befindlichkeit greifen wir nach einer Gedichtanthologie oder nach einem Roman, hören wir uns einen Liedzyklus oder eine Oper an. Kurz: Wir treffen als Leserinnen und Hörer unentwegt literarische Gattungsentscheidungen, die lebensweltlich verankert sind. Das Aufdecken dieser Zusammenhänge und deren Wandel im Laufe der Zeit gehört zu den vorrangigen literarhistorischen und literaturwissenschaftlichen Aufgaben. Zu diesem zentralen Problembereich steuert das >Repertorium< vielfaltiges Anschauungsmaterial bei, es rückt aber zugleich eine ganze Reihe von Problemen in ein nunmehr schärferes Licht. Unbesehen der Grauzonen, die bei jeder Gattungsabgrenzung auftreten und auf die von den beiden Herausgebern einleitend mit aller Deutlichkeit hingewiesen wurde, grenzt das >Repertorium< mit dem offensichtlichen Kriterium der Strophenform den Sangspruch und das Meisterlied gemeinsam vom breiten, aber in sich vielfach verästelten Strom der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lyriktradition zwar überzeugend ab, aber sofort stellt sich beim so gewonnenen Textkorpus die Frage, ob es neben der formalen Differenz zwischen dem prinzipiell einstrophigen Sangspruch und dem mehrstrophigen Meisterlied auch inhaltliche Merkmale zur Unterscheidung dieser beiden lyrischen Traditionen gibt. Hierzu erlaubt das >Repertorium< auf der Grundlage seiner umfassenden Heuristik, das auf diesem Gebiet bereits Geleistete durch diachrone und synchrone Schnitte weiter abzusichern, aber auch zu differenzieren: Inwieweit zeigen sich innerhalb und zwischen beiden Gattungsausformungen thematische Verschiebungen? Welche Unterschiede lassen sich bei ihrer Institutionalisierung feststellen? Gibt es zwischen Sangspruch und Meisterlied unterschiedliche Inszenierungsmuster, divergente Aufführungsmodalitäten? Mit welchen Ansprüchen treten auf beiden Feldern die Autoren auf, welchen kommunikativen Aufgaben wollen und sollen sie im Sangspruch und Meisterlied gerecht werden? (Einzelne Aspekte dieser komplexen Fragestellungen sollen im weiteren Verlauf noch verdeutlicht werden.)

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Nicht weniger vordringlich und von der Tagung zu Recht aufgegriffen sind die Interferenzen zwischen Sangspruch bzw. Meisterlied und anderen lyrischen Gattungsbereichen. Ausgehend von >Doppelbegabungen< wie Walther von der Vogel weide, der Lieder und Sangsprüche verfaßte, und von Handschriften, die Lieder wie Sangsprüche gemeinsam überliefern, ergibt sich ein verzwicktes Doppelproblem: Einerseits ist es bereits im Blick auf die unterschiedlichen Formtraditionen unerläßlich, im geistlichen wie im weltlichen Bereich zwischen dem Lied und dem Sangspruch bzw. dem Meisterlied möglichst genau zu unterscheiden und präzise herauszuarbeiten, wo die gattungsspezifischen Unterschiede liegen, wenn ein Autor etwa die Liebesthematik einmal in der Form eines Sangspruchs oder eines Meisterliedes, ein andermal in Liedform behandelt; andererseits können wir die Augen nicht vor Gattungstransformationen zwischen dem Lied, dem Sangspruch und dem Meisterlied verschließen. Wo genau liegt der formale und textliche Unterschied etwa zwischen einem christologischen Kirchenlied in der Strophenform (Ton) eines Meisterlieds und einem Meisterlied mit christologischer Thematik? Was verdankt das Meisterlied der lyrischen Prunkform des Leichs (der sequenzartig aus Versikeln, nicht aus Strophen gebaut ist), und warum hat es im 14. Jahrhundert diesem lyrischen Meisterstück den Rang abgelaufen? Und wie soll man es beurteilen, wenn der Sangspruch und das Meisterlied in narrative literarische Kleingattungen wie die Verserzählung oder die Fabel übergreifen? Welchen literarischen Mehrwert bringt diese Transformation von einer narrativen in eine lyrische Formgebung? Fragen über Fragen also, die letztlich nach der Stellung von Sangspruch und Meisterlied im vielgestaltigen Repertoire der lyrischen Tradition zwischen hohem Mittelalter und Früher Neuzeit münden und die gleichzeitig dazu beitragen, das überreiche lyrische Repertoire im Wandel der Zeit und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Literaturorte nach ihren literarischen Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten differenziert zu beschreiben. Dieses anspruchsvolle Vorhaben wird ganz sicher auch zur Klärung beitragen, warum die Sangspruchdichtung und der Meistergesang zu ihren Zeiten im konkurrierenden lyrischen Gattungsspektrum zu literarischen >Faszinationstypen< avancierten. Neben der Gattungsdiskussion wird das >Repertorium< dazu beitragen, (3.) unterschiedliche Autortypen herauszuarbeiten. Auch dazu liegen bereits beachtliche Einzelforschungen vor, sie können aber jetzt auf der Grundlage einer praktisch vollständigen Heuristik erstmals auf eine repräsentative Basis gestellt und weiter ausdifferenziert werden. Bei der Autorfrage mag man zunächst an die Biographien der Sangspruch- und

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Meisterliedautoren denken, und tatsächlich ist vor allem bei den Meistersingern teilweise noch erhebliche archivalische Arbeit zu leisten, um unsere Kenntnisse von ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu verbessern. Aber die Frage nach unterschiedlichen Autortypen erschöpft sich keinesfalls in einer sozialen Verortung der Dichter und Sänger. Poetologisch vordringlicher erweist sich etwa eine Klärung der Autorrolle in den Texten. Literaturtheoretisch gewendet, ist dies die Frage nach dem Verhältnis von biographischem Ich und Autorrolle, nach deren Überschneidungen und Ambivalenzen in den Sangspruch- und Meisterliedtexten. Inszeniert und imaginiert sich das Ich in den Sangsprüchen anders als in den Meisterliedern? Möchte der Autor anhand bestimmter Textsignale vom Publikum eher in seinem rollenhaften Sprechen erkannt und gewürdigt werden, oder tritt er mit dem Anspruch auf Eigenerfahrung auf? Oder besticht ein Text gerade durch sein reizvolles Changieren zwischen biographischem Ich und Rollen-Ich, das dem Publikum stets neue Entscheidungen der Zuordnung abverlangt? Wenn aber ein Autor sein Publikum solchermaßen herausfordert, dann führt dies unweigerlich zur Frage nach dem Autoritätsanspruch des Autors. Wann liegt bei den Ich-Inszenierungen nur ein literarisches Spiel zur Freude des Publikums vor, wann wirft der Autor seine persönliche Autorität bei der Behandlung eines Themas in die Waagschale? Um hier genauer differenzieren zu können, muß ein Inventar der Formen erarbeitet werden, mit denen sich der Autoritätsanspruch des Dichters und Sängers in ihrer Zeit formulieren ließ. Zur Verdeutlichung wenigstens eine kleine Beispielreihe: Der Sänger hat die Möglichkeit, sprachlich unverstellt und präsentisch aufzutreten, um mit dieser scheinbar naiven Direktheit sein Publikum für sich zu gewinnen. Er kann aber auch seine präsentische Diktion mit Vergangenheitsbezügen durchsetzen, in denen er auf persönliche Erfahrung oder auf objektives Wissen zur unbezweifelbaren Absicherung seiner Ausführungen zurückgreift. Oder der Sänger inszeniert ein textinternes Publikum, mit dem er - als kommunikatives Angebot an das reale Publikum zur Zustimmung oder vom Dichter beabsichtigten Ablehnung - eine Interaktion fingiert. Eine wichtige Rolle spielen bei diesem Problemkomplex auch die vielfaltigen Legitimationen des Autoritätsanspruchs, die sich häufig ineinander verschränken. Dabei sticht sofort das Moment der formalen und sprachlichen Artistik hervor: Wenn ein komplexer Sachverhalt in einer anspruchsvollen Strophenform sprachlich und inhaltlich präzise und in sich stimmig wiedergegeben ist, dann bürgt - nach dem καλόν καί άγαθόν-Prinzip - offenkundig die Qualität der Darstellung für die

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Richtigkeit des Ausgesagten; denn das makellos Schöne - so meinte man - kann nichts anderes als wahr sein. Neben diesem unentwegtem Anspruch auf formale Höchstleistungen, die sich im zweibändigen Tönekatalog des >Repertoriums< dokumentieren, haben die Autoren auch auf der Inhaltsseite eine ganze Reihe von Legitimationsstrategien entwickelt. Am unmittelbarsten einsichtig sind dabei die ständigen Rückgriffe auf Themen damals unbezweifelten weltlichen und vor allem religiösen Expertenwissens (von der Bibel über die Dogmatik bis zur Katechetik und geistlichen Unterweisung). Freilich ergab sich daraus sofort die Frage, mit welcher Kompetenz und vor allem Berechtigung ein Sangspruchdichter oder Meistersinger etwa so diffizile Probleme wie die der göttlichen Dreifaltigkeit oder der Jungfrauengeburt zu behandeln vermochte. Gerade im religiösen Bereich erfolgte deshalb zur Absicherung eine Berufung auf göttliche Inspiration - ein Argumentationsmodell, das bis in die Neuzeit und dort auch ins Weltliche gewendet in der Formel vom >Dichter als Seher< präsent ist. Mit diesem Inspirationsgedanken überschneidet sich teilweise die Einbindung der Autoren in die sapientia-Trtäilion, die bis zu den biblischen Weisheitsbüchern zurückreicht: Als Diener der göttlichen Weisheit kann der Autor so selbst als kompetenter und berechtigter Weiser und Lehrer auftreten. Geleitet insbesondere von den Registerbänden des >RepertoriumsRepertoriums< umfassend erschlossen werden kann. Diese Vielfalt, die sich durch Addition und durch das Überschneiden einzelner Funktionen noch potenziert, hat ganz offenkundig zur Beliebtheit der Gattung über Jahrhunderte hinweg entscheidend beigetragen. Wegen der Fülle der kommunikativen Funktionen müssen sich die Beispiele noch mehr als bei den vorangegangenen Punkten auf einzelne Stichwörter zur Verdeutlichung dieses Aufgabenfeldes beschränken. Ganz sicher an der Spitze des funktio-

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nalen Repertoires steht die Didaxe, die Belehrung auf allen nur denkbaren Gebieten, die das ewige, das körperliche und das gesellschaftliche Heil betreffen. Dazu dient ebenfalls die Kritik an Fehl verhalten und Mißständen; Kritik und Schelte gelten ebenso konkurrierenden Sängerkollegen, deren Reputation und Legitimation man zu seinen Gunsten durch den Vorwurf mangelnder formaler oder thematischer Kompetenz unterminierte. Man festigte die eigene Position aber auch dadurch, daß man sich mit dem Lob eines allgemein anerkannten Kollegen auf gleiche Augenhöhe mit diesem stellte, denn mit der Beschwörung der bewährten Tradition erscheint man selbstverständlich in deren Nachfolge. Man demonstriert - zumal in der Überbietung vorliegender Sangsprüche und Meisterlieder - seine poetischen Fähigkeiten und seine Vortragskunst; man beweist mit poetologischen Reflexionen seine theoretische Kompetenz. Neben diesen Formen der Selbstbestätigung beschreiben die Texte auch Prozesse der Selbsterkenntnis, die individualitätsgeschichtlich aufschlußreich sein dürften. Andere Aspekte sind stärker gemeinschaftsbezogen: Mit der Inszenierung literarischer Spiele und Rollenspiele tragen die Sänger zur festlichen Geselligkeit bei, sie stiften Gemeinschaften, die sich produktiv und rezeptiv durch ihr Interesse am Sangspruch und am Meisterlied wie durch ihre sprachartistische Virtuosität und Kennerschaft pointiert nach außen abgrenzen, sie tragen durch Tradition und Variation im Tönegebrauch und bei den Themen zur Festigung wie zu Veränderungen in der Kanonbildung bei, die wiederum für das Selbstverständnis der Gemeinschaften Gleichgesinnter bis hin zu den Singschulen der Meistersinger eine enorme Bedeutung besitzt. Letztlich geht es dabei - nicht zuletzt im kompetenten Umgang mit den unterschiedlichen Medien der Mündlichkeit (Vortrag) und der Schriftlichkeit (Aufzeichnung) - um die Frage nach dem Stellenwert und dem Grad der Institutionalisierung von Sangspruch und Meisterlied im literarischen Leben der jeweiligen Zeit. Die behandelten Themen - das hat bereits diese kurze Liste gezeigt sind kein exklusives Eigentum der Sangspruchdichter und Meistersinger, vielmehr stehen sie teilweise in massiver Konkurrenz zu anderen literarischen Gattungsbereichen: Welchen Vorzug sollte etwa die Behandlung eines dogmatischen Problems in der Form eines Meisterliedes haben, wenn das nämliche Thema im gleichfalls oralen Medium der Predigt viel ausführlicher abgehandelt und vor allem durch die Autorität eines Geistlichen institutionell abgesichert wurde? Und begibt man sich gar auf die Ebene der Verschriftlichung, dann erhöhte sich der Konkurrenzdruck noch durch das übermächtige Angebot etwa der

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Traktatliteratur und deren Möglichkeit zur weitergespannten Diskursivität. Solche Überlegungen führen schließlich zur grundsätzlichen Frage nach dem Anteil, der Spezifik, dem Anspruch und der Bedeutung eines Gattungsbereichs innerhalb des gesamten literarischen Lebens einer Zeit und zugleich nach Verschiebungen innerhalb des Gattungskosmos im Laufe der Zeit - ein Phänomen, das die gesamte Literaturgeschichte begleitet und das erkannt sein muß, um die Eigenart, die Provokation oder Konformität eines literarischen Werks, eines Autors in seiner Zeit (auch heute) zu erkennen. Mit den kommunikativen Aspekten des Sangspruchs und Meisterlieds hängen (5.) die Fragen nach deren Rezeption bei Hörern und Lesern wie nach deren Performanz im Vortrag des Sängers eng zusammen. Dabei sind uns viele aufschlußreiche Details der Vermittlung wie etwa Mimik oder Gestik der Vortragenden oder die Disposition des hörenden Publikums unwiederbringlich verloren. Bis zum Aufkommen der Singschulprotokolle, der Schulordnungen und Tabulaturen ab dem 16. Jahrhundert haben wir praktisch keine Kenntnisse von den Aufführungsmodalitäten. Wir können nur textinterne Signale einer möglichen Rezeptionssteuerung in genauen Textanalysen herausarbeiten. Und hier ist das meiste noch zu leisten. Dringend diskutiert werden muß weiterhin das Problem der Verständlichkeit oft sehr komplexer Texte im Vortrag. Auch wenn man im Vergleich zu heute von einer viel höheren Rezeptionsfähigkeit der Zuhörer in einer oralen bzw. semioralen Gesellschaft ausgeht und selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Hörerschaft sich aus literarisch und thematisch versierten Leuten zusammensetzte, fällt die Annahme schwer, subtile Spekulationen etwa auf theologischem oder philosophischem Gebiet, die sprachartistisch in komplexen Strophenformen mit komplizierten Reimbändern gefaßt waren, seien im erstmaligen Vortrag auf Anhieb verstanden worden. (Selbst als Leser haben wir heute unsere Verständnisschwierigkeiten, denn es liegt ja keinesfalls an Überlieferungsdefekten oder an unserer mangelnden Sprachkompetenz, wenn sich Texte aus diesem Gattungsbereich auch nach gemeinsamen intensiven Studien nicht selten nur in annäherungsweiser Paraphrase verstehen lassen.) War der Vortrag ein Angebot, um mit dem Vortragenden, dem Autor in einem Expertenkreis, der sich vielleicht sogar als elitär verstand und sich so von anderen literarischen Gruppen und von den illiterati abgrenzte, über Thema und Form eines solchen Sangspruchs oder Meisterlieds ins Gespräch zu kommen? Oder muß man neben der hörenden zugleich auch von einer lesenden Rezeption anhand der verschriftlichten Texte ausgehen? War gerade das Wechsel-

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spiel von Vortrag und Lektüre ein Konstituens literarischer Zirkel, in denen Sangspriiche und Meisterlieder formal und thematisch besprochen wurden? Und sind bei sehr umfangreichen Autorkorpora insbesondere der Meistersinger - auch wenn sich darunter Auftragsarbeiten befinden - tatsächlich alle Lieder vorgetragen worden, oder muß man bei Teilen dieser CEuvres nicht von einer lesenden Primärrezeption ausgehen? Bis zu welchem Wahrscheinlichkeitsgrad sich diese Fragen klären lassen, ist vorerst offen, doch sollte gerade diese Unkenntnis die Forschung zu besonderen Anstrengungen in diesem Bereich anspornen. Immerhin werden davon zentrale rezeptions- und wirkungsästhetische, kommunikationstheoretische, aber auch literatursoziologische Aspekte angesprochen. Breiteren Raum innerhalb der Tagung nimmt erstmals ein anderer Gesichtspunkt innerhalb der Rezeptions- und Performanzdiskussion ein: nämlich das Verhältnis der Töne und Melodien zu den Themen der Sangsprüche und Meisterlieder, dessen Klärung eine philologischmusikhistorische Doppelkompetenz voraussetzt. Es geht dabei zunächst um eine formale, auf die Strophenformen und Melodien bezogene Differenzierung zwischen dem Lied und dem Sangspruch bzw. Meisterlied, aber zugleich auch hier um Interferenzen zwischen diesen lyrischen Gattungsbereichen. Für den Rezeptions- und Performanzaspekt nicht weniger wichtig halte ich aber auch die Erforschung der verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten beim Publikum, wenn sich im Vortrag Altes mit Neuem mischt: wenn also in einem vertrauten Ton ein vertrautes Thema mit neuen Akzentuierungen erklingt, oder wenn ein neues Thema in einem vertrauten Ton, ein vertrautes Thema in einem neuen Ton oder in einer Tonvariante gestaltet ist. Nicht zuletzt dafür bietet das >Repertorium< insbesondere mit seinem Tönekatalog wiederum eine optimal aufbereitete Arbeitsgrundlage. Sie wird demnächst durch eine kommentierte Edition der Sangspruchmelodien durch Horst Brunner noch erheblich erweitert. Bislang praktisch überhaupt noch nicht in Angriff genommen wurde (6.) die Auswertung des >Repertoriums< als Dokumentation literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Wissens in seinem Wandel vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Ein unschätzbarer Leitfaden für diese ertragreiche und viel versprechende Aufgabe, die differenzierte Einblicke sowohl in poetologische wie in lebensweltliche Diskurse über Jahrhunderte hinweg eröffnen wird, ist das umfangreiche Stichwörterregister zum >RepertoriumRepertorium< auf umfassender Grundlage der deutschsprachigen Überlieferung repräsentative Aussagen ermöglicht. Es kommt daher wohl nicht von ungefähr, daß auf dieser Tagung die interkulturellen Interferenzen in Sangspruch und Meisterlied erstmals einen breiten Raum einnehmen. Gefragt wird

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dabei nach vergleichbaren Phänomenen in der mittellateinischen, in der niederländischen und in der romanischen Lyrik. Wie spannend dieser komparatistische Ansatz ist, verdeutlicht die mittellateinische Lyrik, die eben nicht nur den gebenden Part einnahm, sondern - das zeigen Forschungen und Funde der letzten Jahre - mit Erfolg auch deutsche Formmodelle adaptierte. Hinter diesem erstaunlichen Vorgang darf eine Faszination vermutet werden, die von Sangsprüchen (und Liedern) deutschsprachiger Autoren ausging. Zwar ist uns das Hin- und Herübersetzen zwischen den beiden Sprachen in der Buchliteratur vielfach vertraut, aber der poetischen Rezeption auf formaler, nicht auf inhaltlicher Ebene kommt hier innerhalb der Geschichte beider Literaturen ein exzeptioneller Rang zu, der eine monographische Darstellung des Sachverhalts dringend erforderlich macht. Großer Klärungsbedarf besteht andererseits bei der Frage, aus welchen literarischen Bereichen die Sangspruchdichter und Meistersinger ihre teils erstaunlichen poetologischen und rhetorischen Kenntnisse und Fertigkeiten bezogen haben. Sicherlich spielen dabei orale Dichtungstraditionen eine nicht unerhebliche Rolle, die wir bestenfalls ansatzweise fassen können. Anders sieht es dagegen bei zwei anderen Traditionssträngen aus: nämlich beim Anschluß an eine lyrische Tradition, in die sich Autoren selbst stellten, an deren Ausbildung und Kanonisierung sie mitwirkten, deren Vorbildlichkeit sie formal und stilbildend zur unentwegten Schulung anhielt; und andererseits beim Rückgriff auf die schriftliterarische Überlieferung außerhalb der Lyrik als Quelle insbesondere rhetorischer Kompetenz. Um hier klarer zu sehen, bedarf es noch zahlreicher Detailanalysen. Sie leitet ein Interesse, das literarisch Interessierten auch heute als Frage durchaus vertraut ist: Wie und wo erlernt ein Dichter seine Dichtkunst? An dieser Stelle breche ich meinen Rundblick ab: Trotz seiner Skizzenhaftigkeit dürfte deutlich geworden sein, daß uns das >Repertorium< mit seiner heuristischen Aufarbeitung einer vielhundertjährigen literarischen Gattungstradition unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten ein fokussiertes Wissensrepertoire erschließt und uns damit einen ebenso tiefen wie differenzierten Blick in unsere literar- und mentalitätsgeschichtliche Vergangenheit gestattet. Unerläßliche Voraussetzungen dafür sind freilich zum einen die gründliche Lektüre der Texte, zu denen das >Repertorium< nur gezielt hinführen, sie aber natürlich niemals ersetzen kann; zum andern eine systematische Erschließung dieser Texte und ihrer Töne wie Melodien durch einläßliche Forschungen, zu denen das >Repertorium< ebenfalls nur anregend und in einem bislang unbekannten Umfange arbeitserleichternd beitragen kann. Einsichtig

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geworden sein dürfte jedoch auch, daß die heuristisch erschlossene Wissensfülle und die daraus sich ergebende Vielfalt an zentralen Fragestellungen zu ihrer Bewältigung neben der unverzichtbaren Einzelforschung auch der Arbeit in Forschungsprojekten bedarf. Sollte sich diese Einsicht im Anschluß an das Würzburger >Symposium Sangspruchdichtung< durchsetzen, dann erledigte sich auch die Eingangsfrage >Was nun?Repertoriums der Sangsprüche und MeisterliederRepertorium< gesammelten Texte, genauer: über die Hauptprobleme der internen Gattungsgeschichte und über ihr Verhältnis zu einer allgemeinen Literatur- und Bildungsgeschichte. Ich beschränke mich dabei auf den älteren, den vorreformatorischen Abschnitt der Gattungsgeschichte. Unser Repertorium beruht zwar auf literaturgeschichtlichen Überlegungen, aber es mußte sie forcieren. Wir haben ein Merkmal, das zu den geschichtlichen Entstehungsbedingungen der Texte gehört und einen Zusammenhang zwischen ihnen konstituiert, nämlich den Tönegebrauch, zum Kriterium der Aufnahme oder Nichtaufnahme gemacht. Das läßt sich im Kernbereich gut begründen. An den Rändern aber, in der Frühzeit, in der das Töneprinzip noch nicht so fixiert war, oder später, wenn etwa Töne ausstrahlten (Lohengrinepos) oder Töne von außen her einbezogen wurden (Herzog-Ernst-Ton), blieb das Kriterium problematisch. Andere literaturgeschichtliche Gesichtspunkte wie Autorschaft, Thematik, Überlieferungszusammenhänge konnten für die Abgrenzung des Materials nur subsidiär herangezogen werden; sie wurden dann nach Möglichkeit wenigstens sekundär bei der Anordnung berücksichtigt. Das vielleicht allerwichtigste literaturgeschichtliche Kriterium aber, die Chronologie der Texte, mußten wir, abgesehen von der Zweiteilung in älteren und jüngeren Teil, völlig vernachlässigen, 1

Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von HORST BRUNNER u n d BURGHART WACHINGER u n t e r M i t a r b e i t v o n EVA KLESATSCHKE, DIETER MERZBACHER, JOHANNES RETTELBACH, FRIEDER SCHANZE. L e i t u n g d e r

Datenverarbeitung PAUL SAPPLER. Tübingen 1986ff.

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weil die Datierungsprobleme vielfach unlösbar sind und weil das Repertorium eben keine geschichtliche Darstellung, sondern ein praktikables Findbuch werden sollte. Als solches will es jedoch bei möglichst vielen literaturgeschichtlichen Fragestellungen eine Hilfe bieten und damit einer Gesamtliteraturgeschichte dienen. Eine Gesamtliteraturgeschichte gibt es bekanntlich bestenfalls als Idee, als Integral allen Nachdenkens über die Geschichtlichkeit von Literatur, des Nachdenkens über die geschichtlichen Bedingungen von und die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen Texten und des Nachdenkens über die geschichtlichen Voraussetzungen und Implikationen unseres Nachdenkens über sie. Selbst die Verfasser von umfangreichen Literaturgeschichtsdarstellungen müssen, da sie ja ihren Lesern die Texte auch noch als solche vorzustellen haben, aus der Gesamtheit der überlieferten Texte und aus der Fülle der Aspekte von deren Geschichtlichkeit2 auswählen. Um so mehr muß sich ein kurzer Beitrag beschränken. Ich möchte mich im folgenden in der Weise konzentrieren, daß ich 1. vor allem diejenigen Aspekte und Probleme aufgreife, die in einigen jüngeren Arbeiten3 diskutiert werden, und daß ich 2. vor allem zwei CEuvres ins Auge fasse und von ihnen aus Perspektiven auf die Gattungs- und die allgemeinere Literaturgeschichte zu gewinnen versuche. Meine Auswahl der beiden CEuvres ist - gegen die gleichmachende Registriertechnik des Repertoriums - primär bestimmt von einer literarischen Wertung. Wir sollten uns ja den Blick für den literarischen Rang der Texte von all den gängigen überlieferungs-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen, so berechtigt sie sind, nicht verdunkeln lassen. Daß die großen Autoren und Texte unser Geschichtsbild selbst dann mitbestimmen, wenn sie keinen Erfolg hatten oder nur mit den für uns weniger interessanten Texten weiterwirkten, ist legitim, schon weil nur das Bedeutende im Horizont der Gegenwart eine Chance auf Mitsprache hat. In der Gattungsgeschichte zwischen Walther von der Vogelweide und Hans Sachs gibt es nun - darauf wird man sich heute, da die klassizistischen Maßstäbe früherer Generationen aufgegeben sind, wohl leicht einigen können - zwei Dichter, die alle übrigen überragen: Heinrich Frauenlob und Heinrich von Mügeln.4 Bei ihnen ist 2

Vgl. den Katalog von sinnvollen Fragen, den JOHANNES JANOTA in seinem Beitrag zu diesem Band [S. 3-16] ausgebreitet hat. 3 Meine Hauptgesprächspartner sind Arbeiten, die nach dem Abschluß der Textkataloge des Repertoriums (1991) erschienen sind. Vollständigkeit strebe ich jedoch nicht an. 4 Zitate nach den maßgeblichen Ausgaben: Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von HELMUTH THOMAS hg. von

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der Konflikt zwischen literarischer und literarhistorischer Wertung nicht allzu groß. Wenn auch ihre konzeptionellen Besonderheiten, die uns zu faszinieren vermögen, relativ wenig Echo gefunden haben, sind sie doch sonst nicht ohne Wirkung geblieben, Frauenlob wurde sogar von seiner Stilwirkung überwuchert. Überdies stehen beide nach dem Konsens aller Kenner an einer Epochenschwelle etwa in der Mitte des hier betrachteten Zeitraums. Heinrich von Mügeln, mit dem Höhepunkt seiner Schaffenszeit etwa sechzig Jahre nach Frauenlobs Höhepunkt anzusetzen, nennt Frauenlob nie. Er kanzelt nur einmal Frauenlobs weniger bedeutenden Rivalen Regenbogen wegen einer Formulierung ab (3), und im Marienpreis des >Tum< stellt er sich, Frauenlobs Marienieich (GA I) überspringend, in die Tradition der >Goldenen Schmiede< Konrads von Würzburg (118). Daß er Frauenlobs Dichtungen sehr wohl kannte, ist jedoch kaum zu bezweifeln, ja man hat den Eindruck, daß er sich an dem großen Vorgänger ein Stück weit abarbeitete. Die Differenzen zwischen seinem Werk und dem Frauenlobs dürften also durchaus gewollt sein, sind artistische Alternativen, nach deren literaturgeschichtlicher Relevanz zu fragen ist.

Ich gehe also von einem Vergleich zwischen den CEuvres dieser beiden Meister aus und frage, wo dabei Allgemeineres in den Blick gerät, Entwicklungslinien der speziellen Gattungsgeschichte und Zusammenhänge mit der allgemeinen Literatur- und Bildungsgeschichte des deutschen Spätmittelalters. Drei Fragen von besonderer gattungsgeschichtlicher Relevanz möchte ich an die beiden CEuvres stellen: 1. Barbildung, 2. Sprachartistik und Meistertum und 3. Wissensverarbeitung und Diskurszusammenhänge. Eine vierte, wohl ebenso wichtige Frage, die nach Autorschaft und Autorschaftsbewußtsein (bezogen auf Texte und auf Töne), sei für diesmal zurückgestellt. 1. Barbildung Einer der Einschnitte, die zwischen Frauenlob und Mügeln liegen, ist die Durchsetzung der grundsätzlichen Mehrstrophigkeit des Meisterlieds. FRIEDER SCHANZE hat sie sogar zum Hauptkriterium einer Epochengrenze erklärt,5 HELMUT TFERVOOREN ist da zurückhaltender.6 Mir

KARL STACKMANN u n d KARL BERTAU. 2 B d e . G ö t t i n g e n 1 9 8 1 ( A b h a n d l u n g e n d . A k .

d. Wiss. in Göttingen. Philol.-hist. Klasse, III 119/120), zitiert: GA; Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Hg. von KARL STACKMANN. 4 Bde. Berlin 1959 und 2003 (DTM L, LI, LII, LXXXIV), die Sangsprüche/Meisterlieder zitiert nach der durchlaufenden Strophenzählung. 5 FRIEDER SCHANZE: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983 (MTU 82, 83), S. 2-4.

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scheint die Zäsur jedenfalls deutlich genug. Bei Frauenlob stehen, zumindest in der zuverlässigeren >Jenaer Handschrift, die meisten Sangspruchstrophen thematisch für sich. Bei Mügeln aber sind alle Strophen in Lieder oder Zyklen eingebunden bis hin zum 72strophigen Marienpreis des >Tum< (110-181); und Mügelns Hofton ist schon formal durch Kornreime auf dreistrophige Lieder oder Strophengruppen hin angelegt. Nach allem, was wir wissen, hat jedoch nicht Mügeln das Barprinzip erfunden oder durchgesetzt, eher hat er die allgemeine Entwicklung zur grundsätzlichen Drei- oder Mehrstrophigkeit, die sich im wesentlichen wohl in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vollzog, aufgegriffen und artistisch zu Zyklen und Großgedichten gesteigert. Das neue Barprinzip wirkte sich auch auf die Überlieferung älterer Strophen aus, allerdings mit Verzögerungen, wie MICHAEL BALDZUHN gezeigt hat.7 Daß auch das Frauenlob-Corpus der >Weimarer Handschrift< F in den Sog des Barprinzips geraten ist und daß wir da nicht sicher entscheiden können, ob und wieweit vielleicht schon der späte Frauenlob an den Barbildungen beteiligt war, habe ich früher zu zeigen versucht.8 Die Gründe dafür, daß nunmehr drei-, allenfalls fünfstrophige Meisterlieder als Norm galten, sind uns unbekannt. Verschiebungen im literarischen Gattungssystem dürften aber eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, anders ausgedrückt, eine Konkurrenz der literarischen Typen. Von der einen Seite mag der wachsende Erfolg der Reimpaarreden, die, der Schriftlichkeit näherstehend, ähnliche Themen behandelten, zu größerer Ausführlichkeit eingeladen haben.9 Daß man aber gerade drei oder fünf Strophen bevorzugte, ist sicher eine Anlehnung ans Minnelied, für das diese Strophenzahlen seit langem fast kanonisch waren. Wenn man an KURT RUHS Überlegungen zur Gattungsgeschichte der Sangspruchdichtung denkt,10 wäre dies ein zweiter Schritt der 6

HELMUT TERVOOREN: Sangspruchdichtung. Stuttgart/Weimar 1995 (Sammlung Metzler 293), S. 73-89. 7 MICHAEL BALDZUHN: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift. Tübingen 2002 (MTU 120). 8 BURGHART WACHINGER: Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift. Zur Corpusüberlieferung von Frauenlobs Spruchdichtung. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift für Karl Stackmann. Hg. von LUDGER GRENZMANN u.a. Göttingen 1987, S. 193-207. 9

So HORST BRUNNER: Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch der Erklärung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hg. vom Vorstand der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 392-413, dort S. 400-403.

Sangspruchdichtung

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Meisterliedkunst

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Anlehnung an die lyrische Leitgattung nach der ersten bei Walther, in der die Mehrtönigkeit eingeführt wurde. Ganz wurden die alten Differenzen im Tönegebrauch auch diesmal nicht aufgehoben; denn nach wie vor erhielten Minne- und Liebeslieder in der Regel ihren eigenen Ton, Meisterliedertöne aber konnten mehrfach verwendet werden. Immerhin wurde der Abstand zwischen Minnelied und Sangspruch/Meisterlied noch einmal verringert. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß dies ausgerechnet in einer Zeit geschah, in der das Minnelied erheblich an Bedeutung verlor und das schlichtere, dem Musikgebrauch nähere Liebeslied neuen Typs sich weitgehend durchsetzte. Wenn eine zuspitzende Hypostasierung erlaubt ist: Die Barbildung zeigt, daß das Meisterlied jetzt jene Spitzenstellung im Prestige der lyrischen Gattungen beanspruchte, die bisher das Minnelied innegehabt hatte. Besonderer Erwägungen bedürfen noch die vielstrophigen Meisterlieder Mügelns und später vor allem Beheims. Auch hier wird man mit Verschiebungen im lyrischen Gattungssystem rechnen müssen. Für den vielstrophigen Marienpreis hat S T A C K M A N N an eine Ablösung der Großform Leich gedacht, nicht ohne auch auf ältere lange Marienlieder hinzuweisen." Doch es gibt vielstrophige Meisterlieder auch zu anderen Themen, so die katalogartigen Bibelabbreviationen von Mügeln und Beheim. Da sollte man neben der Suche nach Modellen in der Sangversdichtung auch das Verhältnis von Vortrag und Schriftlichkeit bedenken. Mügeln nennt seinen >Tum< buch (176,1) und schrift (158,1), und in anderen vielstrophigen Dichtungen spricht er den leser an (104,11; 303,2). Das muß Gesangsvortrag nicht unbedingt ausschließen, allerdings vielleicht eher nur Vortrag von Teilen (denn die Vorstellung, daß die 72 Strophen des >Tum< hintereinander weg auf dieselbe Melodie gesungen worden seien, fällt mir schwer, schwerer auch als die Vorstellung, das ganze >Eckenlied< sei gesungen worden). Zumindest aber zeigen die Bezeichnungen buch, schrift, leser, daß hier schon beim Abfassen der Texte deren schriftliche Existenzform ins Auge gefaßt war. Ich vermute, daß man das verallgemeinern darf, daß überall, wo in der Gattungstradition vielstrophige Lieder oder längere Strophenketten anzutreffen sind, Schriftlichkeit eine wichtige Rolle gespielt hat. In der älteren Überlieferung dürften größere thematisch kon10

KURT RUH: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem. DVjs 42 (1968) 309-324; wieder in: K. R.: Kleine Schriften. Bd. I. Hg. von VOLKER MERTENS. Berlin/New York 1984, S. 86-102. " KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 29-32. Vgl. auch BALDZUHN [Anm. 7], S. 67.

22

Burghart Wachinger

vergierende Ensembles öfter erst von Sammlern arrangiert worden sein. Doch könnte man sich z.B. bei Reinmar von Zweter denken, daß er manche Strophen schon im Blick auf das Buch gedichtet hat, zur Abrundung der großen, thematisch geordneten Sammlung seiner Strophen, die hinter der Handschrift D erkennbar ist. Ob und wieweit auch Bare im Normalmaß von drei oder fünf Strophen schon primär für schriftliche Verbreitung verfaßt worden sind, wissen wir nicht.12 In einem Fall wäre eine solche Zielsetzung immerhin eine der möglichen Erklärungen für einen seltsamen Textbefund. Der Fall ist in seiner Komplexität zugleich, ja noch mehr, ein Beispiel für den zweiten Aspekt meines Versuchs, zu dem ich jetzt komme: 2. Sprachartistik und Meistertum Es handelt sich bei dem Beispiel, das ich meine, um eine Strophengruppe Frauenlobs im Langen Ton, überliefert in der >Jenaer Liederhandschriftgeblümtem Stilgeblümtem Lob< spricht, muß man, um alle Phänomene und Funktionen einer zur Schau gestellten Sprachkunst zu erfassen, entschieden über das Blümen im strengen Sinn hinausblicken. Rätsel und syntaktische Vexierspiele etwa können der gehobenen UnKÖBELE

16

HUBER [Anm. 15]; vgl. auch dens.: gepartiret und geschrenket. Überlegungen zu Frauenlobs Bildsprache anhand des Minneleichs. In: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geb. Hg. von JENS HAUSTEIN und RALF-HENNING STEINMETZ. Freiburg/Schweiz 2002 (Scrinium Friburgense 15), S. 31-50; MICHAEL STOLZ: »Tum«-Studien. Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mügeln. Tübingen/Basel 1996 (Bibliotheca Germanica 36); HÜBNER [Anm. 13]; SUSANNE KÖBELE: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarischen Standortbestimmung. Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43).

Sangspruchdichtung

und frühe

Meisterliedkunst

25

terhaltung dienen. Gesuchte Dunkelheit kann aber auch gravitätisch auftreten, kann z.B. traditionelle Hoflehren oder gnomische Weisheiten kostbar verhüllt darbieten als, wie Frauenlob einmal sagt, Lockspeise für den sinnes valken der Klugen, der Kunstkenner (GA V,114). Metaphern können Ornamente des Lobs sein, können aber auch, im Lob wie in der Didaxe, Ebenen des Denkens (z.B. weltlich-geistlich) aufeinander hin transparent machen oder, öfter in Verbindung mit Hyperbeln und Paradoxien, die Unauslotbarkeit eines Themas demonstrieren, wenn etwa von der Trinität oder der Inkarnation die Rede ist oder von den Wundern der Liebe. All das gehört zur Sprachartistik der Meister. Wenn man unsere Gattung im weiteren Kontext der literarischen Entwicklung zu sehen versucht, muß man an diesem Punkt allerdings darauf hinweisen, daß diese meisterliche Sprachkunst deutlich unterschieden ist vom Sprachgestus der zeitgenössischen mystischen Texte, wie ja auch mystische Theologie und Frömmigkeit der Gattung fremd geblieben sind. Die Metaphern, Hyperbeln und Paradoxien der Mystiker, die zum Vergleich einladen könnten, entbehren der für die Meister typischen, mehr oder weniger deutlichen Selbstbezüglichkeit. 17 Meister Eckhart ist eben kein Meister im Sinne des literarischen Meistertums, und die in der Volkssprache dichtenden Sangesmeister hatten kein akademisches oder kirchliches Lehramt. Die Traditionen der meisterlichen Sprachartistik sind nicht begrenzt auf die Gattung Sangspruch-Meisterlied, sondern treten in mehreren Gattungen hervor, so öfter in Minnereden oder in bestimmten Partien epischer Dichtungen. Innerhalb der Geschichte unserer Gattung spielen sie immerhin eine besonders bedeutende Rolle, und doch prägen sie die Gattung nicht insgesamt. Gründe für die erheblichen Unterschiede im stilistischen Aufwand wird man suchen dürfen einmal im Können und im Anspruch der jeweiligen Verfasser, zum andern in der Thematik der Texte - Lob wird, wie gesagt, gern geblümt - , und drittens könnte die verschiedene literarische Kompetenz der jeweiligen Adressaten eine Rolle gespielt haben: dem spehen scharf, dem siechten weich nach der witze stiure, um noch einmal Frauenlob zu zitieren (GA V,114). Man hat versucht, das Phänomen der meisterlichen Sprachkunst des Spätmittelalters mit außerliterarischen Tendenzen der Zeit in Beziehung zu setzen. Frühere Verweise auf den philosophischen Nominalismus sind in ihrer Pauschalität sicher abwegig. 18 Der neuere Versuch von 17

18

Das gilt auch für den künstlichsten mystischen Text, den ich kenne, das >Granum sinapisWartburgkriegs< bis zu Hans Folz. Der Faszination durch besonders hohes Wissen, vor allem Astronomie und Kosmologie, oder durch spezielle theologische Denkprobleme stellt sich immer wieder die Mahnung zu laikaler oder generell menschlicher Bescheidung des Wissenwollens und Denkens entgegen, der »fromme Agnostizismus«, von dem K A R L S T A C K M A N N schon vor Jahren gesprochen hat.27 Eine so selbstbewußte Haltung laikaler Bescheidung, wie sie der Wolfram des >Wartburgkriegs< in der Nasion-Szene zeigt, wenn er astronomische Fragen strikt als ihm unan25 26

Vgl. auch den Beitrag von MICHAEL BALDZUHN in diesem Band, S. 187-242. Vgl. zuletzt DLETLIND GADE: Hoch in dem lufft wirt uns erzögt ir wunder. Eine versifizierte >LucidariusWartburgkriegRepertorium< zu erschließen versucht, mit in den Blick nimmt.

II. Interkulturelle Interferenzen in Sangspruch und Meisterlied

HELMUT TERVOOREN,

Meckenheim

>Spruchdichtung< in der nordwestlichen Germania: Sangspruch, sproke, spreuke

Das >Symposion Sangspruchdichtung: Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext< will die europäischen Bezüge des Sangspruchs schärfer in den Blick nehmen. Es nimmt damit einen Ansatz auf, der schon zu Beginn der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die Forschung zur Sangspruchdichtung einen neuen Anlauf nahm, in Bonn intensiv diskutiert wurde, dann aber langsam in Vergessenheit geriet. Es war vor allem HUGO MOSER, der diese Fragestellung verfolgte. Programmatisch formuliert er sie in der Überschrift seines Aufsatzes »Die hochmittelalterliche deutsche >Spruchdichtung< als übernationale und nationale Erscheinung«.1 Ich möchte an diese Diskussion anschließen und einen Blick auf die Situation in der nordwestlichen Germania, auf die nideren lande, werfen, die allerdings in MOSERS Aufriß nicht beachtet wurde. Dazu sind zunächst jedoch einige Vorbemerkungen nötig. Zwischen dem Verbreitungsgebiet niederländischer und deutscher Literatur gibt es bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht die scharfen Grenzen, wie sie heute durch die politische Gliederung der Nationalstaaten und die niederländische und deutsche Hochsprache gezogen sind. Die Grenzen liefen anders, und der Grenzraum war breiter. Das >Repertorium van het Nederlandse liedSpruchdichtung< als übernationale und nationale Erscheinung, in: ZfdPh 76 (1957), S. 248-261; wieder abgedruckt in: ders.: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Darmstadt 1972 (WdF 154), S. 4 0 5 ^ 4 0 . Die weiteren Aufsätze (>Minnesang und Spruchdichtung? Über Arten der hochmittelalterlichen deutschen LyrikLied< und >Spruch< in der hochmittelalterlichen deutschen Dichtung« und »>Sprüche< oder >politische Lieder< Walthers?«) sind bequem greifbar in HUGO MOSER: Studien zur deutschen Dichtung des Mittelalters und der Romantik. Kleine Schriften II. Berlin 1984. 2 Repertorium van het Nederlandse lied tot 1600. Hg. von ΜΑΗΉΝΕ DE BRUIN/JOHAN OOSTERMAN. Met medewerking van Clara Strijbosch e.a. 2 Bde. Gent/Amsterdam 2001 (Studies op het gebied van de Cultuur in de Nederlanden 4).

36

Helmut

Tervooren

Moselfränkische angibt. Die Rechtfertigung dafür liegt in der historischen Landschaft zwischen Nordsee und Eifel, zwischen Brabant und Westfalen, eine Landschaft, die sich für den Sprachhistoriker als sprachliches Kontinuum ohne merkliche Übergänge darstellt. Es gibt im ganzen Mittelalter kaum einen Raum, der bessere Voraussetzungen politische, sprachliche und literarische - für interregionale oder internationale Austauschbewegungen hatte als die nordwestliche Germania. In diesem Raum treffen westliche mit östlichen Strömungen aufeinander, südlicher mit nördlichem Einfluß. Auch die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen sind gegeben: Mäzenale Netzwerke, die im Osten und Südosten des deutschen Reiches den Sangspruchdichtern Auftrittsmöglichkeiten und Lebensunterhalt sicherten, sind im 13. und 14. Jahrhundert auch in der nordwestlichen Germania - und dort vielleicht noch dichter - vorhanden und haben darüber hinaus eine zusätzliche Qualität. Die Höfe der Region sind mehrsprachig und können so verschiedene sprachliche Kulturen verbinden, allen voran den romanischen Westen mit den mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Gebieten im Osten und Südosten. Exemplarisch auf einen Hof bezogen, läßt sich das in der kürzlich erschienenen Monographie des Niederlandisten R E M C O S L E I D E R I N K zum Brabanter Hof nachlesen.3 Für das 13. Jahrhundert wird es aber auch deutlich über die Teilnahme niederrheinischer und brabantischer Fürsten am literarischen Leben im nördlichen Frankreich.4 Im 14. Jahrhundert sind es dann vor allem Minnereden, Ehrenreden, Totenklagen, in denen (nach heutiger Terminologie) niederländische, belgische, niederrheinische und rheinische Adelige nebeneinander agieren oder sich in Szene setzen. Die Sprache scheint bei solchen Inszenierungen keine Rolle zu spielen. Ich komme zu meinem eigentlichen Thema. Die Niederlandistik - so scheint es - kennt den Sangspruch nicht, weder das Wort noch die Sache. Aber natürlich kennt man dort gnomische Dichtung, man kennt z.B. Freidank - ein Import aus dem Süden - und seine Kunstform des konzisen Reimpaarspruches, ebenso >internationale< gnomische Dichtung wie den >Cato< und den >Facetus Cum nihil utiliusSpruchdichtung
Sangspruchdichtung< in de Nederlande?«. 6 Ich habe die Frage im Vorwort zum Sonderheft der ZfdPh 2000 und in der zweiten Auflage meines Sangspruchbändchens aufgenommen.7 Ich beginne meine Ausführungen zum Sangspruch in der nordwestlichen Germania - und nur der, nicht die Liebeslyrik ist im folgendem mein Bezugspunkt - mit einer Skizzierung der geographischen Verbreitung des Sangspruchs, die ja durchaus ihre Eigenarten hat. Stellt man die Sangspruchdichter, ihre Wirkungs- und ihre Rezeptionsräume einmal unter geographischen Gesichtspunkten zusammen und schaut auf die regionale Verteilung, dann fällt auf, daß der Sangspruch in fast allen germanischsprachigen Gebieten des römischen Reiches gepflegt wurde und sich in fast allen kontinentalgermanischen Varietäten Aufzeichnungen finden. Die hoch- und mitteldeutschen Dialekte sind daran ebenso beteiligt wie die niederdeutschen, letztere allerdings in einer spezifischen sprachlichen Form. Sie benutzen für die Aufzeichnung nicht ihre originären Dialekte, sondern eine literarische Kunstsprache, die Sprache der hochdeutsch sprechenden Niederdeutschen, wie sie in der Jenaer Handschrift und in weiteren kleinen bzw. fragmentarischen Überlieferungen dokumentiert ist.8 Der Sangspruch - wohl gemerkt: der Sangspruch in mitteldeutschen und oberdeutschen Varietäten scheint also wie der Minnesang - salopp gesprochen - ein literarisches

6

DINI HOGENELST: Spraken en sprekers. Inleiding op een repertorium van de M i d d e l nederlandse sproke. 2 B d e . Amsterdam 1997 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen X V I ) , S. 6 2 - 6 9 .

1

Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung. H g . von HORST BRUNNER und HELMUT TFERVOOREN. Berlin 2000 ( Z f d P h 119, Sonderheft), S . 6 f . und HELMUT HERVOOREN: Sangspruchdichtung. Stuttgart 2 2001 (Sammlung M e t z l e r 293), S. 48.

8

V g l . dazu THOMAS KLEIN: Zur Verbreitung

mittelhochdeutscher

Lyrik

deutschland (Walther, Neidhart, Frauenlob). Z f d P h 106 ( 1 9 8 7 ) 72-112.

in

Nord-

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Helmut

Tervooren

Erfolgsmodell des 13. und 14. Jahrhunderts gewesen zu sein, so erfolgreich im übrigen, daß er auch Sprachgrenzen überspringen konnte. Im Osten und besonders im Südosten überspringt sein Verbreitungsgebiet die slawisch-germanische Sprachgrenze, im Norden die Grenze zum Dänischen.9 Um so auffallender ist es, daß in weiten Gebieten der nordwestlichen Germania, d.h. in den wirtschaftlich blühenden Gebieten am heutigen Niederrhein, in Belgien und in den Niederlanden Überlieferungsbelege für den Sangspruch fehlen. Dort, wo in der Lyrik Heinrichs von Veldeke frühe Formen des Sangspruchs, allerdings noch wenig ausdifferenzierte, zu entdecken sind, finden sich in der Zeit nach ihm kaum noch wahrnehmbare Spuren dieser Ausprägung mittelhochdeutscher Lyrik.10 Es wirft ein Schlaglicht auf diese Regionen, daß die topographischen Register des Repertoriums zum Sangspruch Namen aus diesen Gebieten, seien es solche von Personen, von Höfen, Territorien, Städten oder Flüssen, nur ganz punktuell, etwa in unspezifischen Katalogdichtungen, registrieren." Diese Skizze der räumlichen Verteilung des Sangspruch legt die Vermutung nah, daß der nordwestliche Raum im Spiegel der uns überlieferten Sangspruchdichter offensichtlich eine unspezifische Region ist. Auch die oben erwähnte Kunstsprache, mit der sich niederdeutsche Autoren bei der Aufzeichnung des Sangspruchs in die Geschichte der Gattung eingeschrieben haben, könnte eine Vermutung nähren, daß der Sangspruch als hochdeutsche Gattung aufgefaßt wurde. Es fehlen dem mittelniederländischen Raum allerdings auch die großen, auf Ostentation angelegten Sammelhandschriften, in denen zunächst im Südwesten und dann in anderen Teilen des Reiches im späten 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die volkssprachige höfische Lyrik, d.h. Minnesang und Sangspruchdichtung, in einer charakteristischen Weise aufgezeichnet und gesammelt wurde und die das Bild mittelhochdeutschen Lyrik in den Literaturgeschichten prägen. Es drängt sich nach diesen Bemerkungen die Frage auf, ob der germanische Nordwesten - und das heißt: die Gebiete der mittelniederländischen Literatur, speziell die Literatur zwischen Rhein und Maas - den Sangspruch, wie er im 13. und 14. Jahrhundert in den hoch-, mittel9

10

WILLIAM LAYHER: Meister Rumelant & Co.: German poets (real and imagined) in 13th-century Denmark. In: Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung [Anm. 7], S. 143-166.

LUDGER LIEB: Modulationen. Sangspruch und Minnesang bei Heinrich von Veldeke. In: Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung [Anm. 7], S. 38-49. " RSM, Bd. 16: Register zum Katalog der Texte, Namen und Quellen, Bibelstellen, s. dort: Namen I (Topographisches), S. 3-63.

>Spruchdichtung< in der nordwestlichen Germania

39

und niederdeutschen Gebieten gepflegt wurde, überhaupt gekannt hat. Ich schaue deshalb zunächst einmal auf belegbare Zeugnisse aus der Sangspruch-Überlieferung. Von den dort belegbaren und namentlich bekannten Sangspruchdichtern lassen sich keine direkt im Raum von Rhein und Maas verorten. Gerade zwei könnte man nennen, die allerdings auch nicht aus zentralen Räumen des mittelniederländischen Sprachgebiets stammen, sondern wie in der Frühzeit Heinrich von Veldeke aus Übergangsgebieten. Beide sind ohne schärfere biographische Konturen: Reinolt von der Lippe und Zilies von Sayn, Reinolt, dem im Sangspruch einen gewisse Sonderstellung zukommt, vom Nordwestrand aus dem Westfälischen, Zilies vom mittleren Rhein mit möglichen Verbindungen zu den Grafen von Sayn und damit auch zum Kölner Stuhl.12 Über die Sayner Grafen, namentlich Heinrich III. von Sayn ( t 1247), führt eine dünne Spur zu Reinmar von Zweter, der in einem Gönnerlob13 die Gastfreundschaft der Sayner lobt. Reinmar taucht auch - das sei hier noch erwähnt - in der Losse-Sammlung (Kassel, ms. iur. fol 25) auf, die etwas westlicher lokalisiert wird. Die Nachricht, daß Reinmar von Rine geborn sei,14 gehört heute doch wohl ebenso zu den literaturgeschichtlichen Legenden wie die Annahme, daß Hermann Damen seine letzten Lebensjahre am Niederrhein verbracht habe und dort sehr geehrt wurde.15 Wäre die letzte Nachricht allerdings wahr, dann rückte Herman Damen in die Rolle des Kronzeugen. Auch die Nachrichten über die Kenntnis mittelhochdeutscher Sangspruchdichtung im engeren Rhein-Maas-Raum sind spärlich. Wichtig ist das Zeugnis in Bruder Hans' Marienliedern.16 Es belegt die Kenntnis Frauenlobs (v. 4095) und Boppes (v. 4096). Es ist kein Zeugnis von der Peripherie, sondern eines, das tiefer in den Sprachraum des Mittelniederländischen führt als die bisher genannten. Denn es gibt gute Gründe, 12

V g l . FRIEDER SCHANZE: R e i n o l t v o n d e r L i p p e . In: 2 V L , B d . 7 , S p . 1 2 0 7 f . u n d BURG-

HART WACHINGER: Zilies von Sayn. In: 2VL, Bd. 10, Sp. 1554f. Weiteres zu Zilies: INGEBORG GLIER: Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 57-81, RONALD MICHAEL SCHMIDT: Studien zur deutschen Minnerede. Untersuchungen zu Zilies von Sayn, Johann von Konstanz und Eberhard von Cersne. Göppingen 1982 (GAG 345), S. 66-76 und THOMAS BOHN: Gräfin Mechthild von Sayn (1200/1203-1285). Eine Studie zur rheinischen Geschichte und Kultur. Köln/Weimar/Wien 2002 (Rheinisches Archiv 140), S. 178-182. 13 Gedichte Reinmars von Zweter. Hg. von GUSTAV ROETHE. Leipzig 1887, Nr. 216. 14

ROETHE [ A n m . 13], N r . 150.

15

Zwischen Minnesang und Volkslied. Die Lieder der Berliner Handschrift germ. fol. 9 2 2 . H g . v o n MARGARETE LANG. B e r l i n 1 9 4 1 , S . 8 3 .

16

Bruder Hansens Marienlieder. Hg. von MICHAEL S. BATTS. Tübingen 1963 (ATB 58).

40

Helmut

Tervooren

Bruder Hans und seine Dichtung mit dem Klever Hof zu verbinden,17 der wie der ganze heutige Niederrhein damals noch im mittelniederländischen Sprachgebiet lag. Aber selbst wenn man geneigt ist, in den Nennungen mehr zu sehen als nur Autoritätsverweise - und für die Annahme gibt es Gründe, denn die >Goldene Schmiede< Konrads von Würzburg und die Sangsprüche Rumelants von Sachsen scheinen ebenfalls zu den Prätexten dieses Konversen gehört zu haben18 - ist es bei diesem weitgereisten Mann kaum auszumachen, wann und wo er mit diesen Texten in Berührung gekommen ist. Es muß nicht am Niederrhein gewesen sein. Zum Schluß der Bestandsaufnahme ein Blick auf einige Handschriften. Auch nach THOMAS KLEINS kritischen Analyse,19 in der er nachweisen konnte, daß ein großer Teil der für den niederrheinischen Raum von der Germanistik zunächst beanspruchten Lyrik-Überlieferung nicht dort, sondern in den östlich sich anschließenden niederdeutschen Gebieten lokalisiert werden muß, bleibt noch einiges, das für die Fragestellung von Bedeutung sein könnte, vor allem das >Maastrichter Fragment (um 1300),20 die >Niederrheinische Liederhandschrift< (Mitte oder Ende des 14. Jahrhunderts)21 und - cum grano salis - die etwas spätere >Haager LiederhandschriftMaastrichter Fragment< (Maastricht, Rijksarchief, 167/111,11) ist das früheste Zeugnis für Sangspruchdichtung in den nordwestlichen Regionen. Es überliefert neben Strophen Neidharts auch Sangsprüche und Reste einer Minnerede. Als Verfasser der Texte können aus der Parallelüberlieferung Reinmar von Zweter, Kelin, Der Tugendhafte Schreiber, Rumelant von Sachsen und der Meißner erschlossen werden. Eine Tongleichheit besteht auch mit dem 2. Philipps-Ton Walthers von 17

TtRVOOREN [ A n m . 4 ] , S. 2 7 8 - 2 8 0 .

18

SUSANNE FRITSCH-STAAR: Bruder Hans. Spiegel spätmittelalterlicher Frauenlobrezeption am Niederrhein. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 10 (1998) 139-165.

19

KLEIN [ A n m . 8 ] .

20

HELMUT DIRVOOREN u n d THOMAS BEIN: E i n n e u e s F r a g m e n t z u m M i n n e s a n g u n d

21

zur Sangspruchdichtung. Reinmar von Zweter, Neidhart, Kelin, Rumslant und Unbekanntes. In: ZfdPh 107 (1988) 1-26 und FRANZ HOLZNAGEL: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen/Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 387-395. Ausgabe und Kommentare bei GÜNTER SCHMEISKY: Die Lyrik-Handschriften m (Berlin, Ms. Germ. Qu. 795) und η (Leipzig, Rep. II, fol. 70a). Zur mittel- und niederdeutschen Sangverslyrik-Überlieferung. Abbildung, Transkription und Beschreibung. Göppingen 1978 (GAG 243); vgl. weiter HARTMUT BECKERS Rezension dazu in: RhVjbll 47 (1983) 364-368 und GISELA KORNRUMPF. >Niederrheinische LiederhandschriftSpruchdichtung< in der nordwestlichen

Germania

41

der Vogelweide. Die Verbindung des Fragments mit der nordwestlichen Germania ergibt sich aus der Sprache. Es ist die Sprache Hochdeutsch schreibender Kopisten, die nördlich der Benrather Linie zu Hause waren, wenn sie oberdeutsche Vorlagen abgeschrieben haben. Dabei haben sich als Herkunfts-Schibboleths graphische, phonologische und grammatische Formen ihrer Herkunftssprache eingeschlichen. Wenn auch eine Verortung in östlicheren Dialektgebieten damit nicht ausgeschlossen ist, sprechen die Mehrzahl der Sprachmerkmale und vor allem ihre Kombination für eine westliche Entstehung des Fragments, allerdings nicht in einem niederfränkischen Gebiet, sondern im Grenzraum des Mitteldeutschen, Niederfränkischen und des Niederdeutschen. Etwas genauer kann man die >Niederrheinische Liederhandschrift< (Leipzig, UB, Cod. Rep. II fol. 70") verorten. Sie überliefert u.a. 56 Strophen in bekannten Tönen der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Der Liederteil muß im Kölner Raum lokalisiert werden. Dorthin verweisen die Sprache der Lieder und die Geschichte der Handschrift sowie Hinweise auf das Kölner Kloster St. Pantaleon und auf (mittel)rheinische Adelsgeschlechter. Die Handschrift überliefert ebenso wie das >Maastrichter Fragment< weder Melodien noch Namen. Letztere können allerdings erschlossen werden und führen in mittelund oberdeutsche Räume, u.a. sind es Boppe, der Gast, Frauenlob, Marner, der Kanzler, Konrad von Würzburg, Reinmar von Zweter, Reinmar von Brennenberg und Walther von der Vogelweide.22 Darüber hinaus überliefert sie Töne, wie sie Sangspruchdichter und später die Meistersänger benutzten, darunter so bekannte wie die gespaltene Weise Walthers von der Vogelweide, Stolles Alment, der Grüne und der Lange Ton Frauenlobs, der Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter. Sowohl das >Maastrichter Fragment< wie die >Niederrheinische Liederhandschrift< - das wäre festzuhalten - haben Gemeinsamkeiten: Es sind Überlieferungszeugen von der Peripherie des anvisierten Raumes. Es sind weiter Handschriften ohne Namen und ohne Melodien und Handschriften, in denen Sangspruch und Minnerede eine Überlieferungssymbiose eingehen. Die meisten dieser Merkmale treffen auch für die sog. >Haager Liederhandschrift< ('s-Gravenhage, Koninklijke Bibl., Cod. 128 E2, um 1400) zu. Auch sie ist weitgehend anonymisiert und hat keine Melodien, auch sie tradiert Lied und Rede. Die >Haager Liederhandschrift< ist allerdings unter geographischen Gesichtspunkten keine Handschrift von der Peripherie, gleichgültig, ob man sie nun am südlicher agieren22

Eine Auflistung s. SCHMEISKY [Anm. 21], S. 218-222.

42

Helmut Tervooren

den geldrischen Hof oder am nördlicheren holländischen Hof lokalisiert.23 Unter inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten kann man sie allerdings auch als eine Handschrift von der Grenze betrachten, denn sie orientiert sich in der Sprache und bei der Textauswahl stark an südlichen, d.h. an Vorbildern des hochdeutschen Oberlandes. Das muß hier nicht im einzelnen belegt werden. Es genügt der Hinweis auf das >PotjesmiddelhoogduitsHaager Liederhandschrift< weist aber gegenüber dem >Maastrichter Fragment< und der >Niederrheinischen Liederhandschrift< eine Besonderheit auf: Hier hat sich die mittelniederländische Literatur explizit eingeschrieben - neben Namen oberländischer deutschen Dichter tradiert sie auch >niederländische< Autoren, Augustijnken [van Dordt], Erentrijch, Noydekijn, Vreudegaer, Willem van Hildegaersberch. Das ist im übrigen eine Namengebung, die an die der Sangspruchdichter erinnert. Das sind die wichtigsten direkten und indirekten Quellen vom 13. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert im Kontaktfeld zwischen mittelhochdeutscher und mittelniederländischer Literatur. Man könnte noch einige Quellen hinzufügen, die etwas südlicher zu verorten sind (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Mgq 284, aus 23

HELMUT TTERVOOREN: Die Haager Liederhandschrift, Schnittpunkt literarischer Diskurse. ZfdPh 116 (1997), Sonderheft, S. 191-207; weiter W.P. GERRITSEN und BRIGITTE SCHLUDERMANN: Deutsch-niederländische Literaturbeziehungen im Mittelalter: Sprachmischung als Kommunikationsweise und als poetisches Mittel. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Hg. von LEONARD FORSTER u n d HANS-GERT ROLOFF. B e r l i n / F r a n k f u r t 1976 (Jahrbuch f ü r internationale

Germanistik, Series A - Kongressberichte 2), S. 329-339, hier S. 335, dazu FRANK WILLAERT: Hovedans. Fourteenth-Century Dancing Songs in the Rhine and Meuse Area. In: Medieval Dutch Literature in its European Context. Hg. von ERIK KOOPER. Cambridge 1994 (Cambridge Studies in Medieval Literature 21), S. 168-187, hier S. 175. 24

TFERVOOREN [ A n m . 2 3 ] , S . 1 9 8 f f . u n d GREET JUNGMAN: H e t H a a g s e L i e d e r e n h a n d -

schrift een Gelders poeziealbum? Millenium 4 (1990) 107-120 (wieder abgedruckt in: Xantener Vortrage III, 1994-1995. Hg. von DIETER GEUENICH. Duisburg 1995, S. 57-78). Im Herzogtum Geldern regiert zur Entstehungszeit der Handschrift das Jülicher Haus. Eine südlichere Orientierung ist also durchaus möglich.

>Spruchdichtung< in der nordwestlichen

Germania

43

dem Besitz der Blankenheimer Grafen mit drei anonymen >Liedern< am Ende einer kleinen Sammlung von Fabeln, Ehrenreden und Minneallegorien, darunter der Sangspruch Walthers von der Vogelweide L 30,925 und die Losse-Sammlung, mit Versen Reinmars von Zweter) oder Handschriften, deren Überlieferungsschwerpunkt nicht vom Sangspruch, sondern vom Lied bestimmt wird, wie das Berliner Mgf 922.26 Sie ändern den Befund allerdings nicht wesentlich, zeigen aber, daß die Peripherie eine relativ breite Übergangszone ist, die auch den Eifel- und Moselraum umfaßt. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch die Überlieferungsgemeinschaft von (Minne-)Lied bzw. Sangspruch und Minnerede und die Randstellung im deutschen Literaturraum. Eine Randstellung haben sie jedoch nicht nur dort, sondern auch in dem sich im 13. Jahrhundert aufbauenden niederländischen Literaturraum. Wenn sich diese Handschriften auch in mancherlei Weise an einer südlichen Leitkultur orientieren, sind sie auch für die mittelniederländische Literatur wichtige Überlieferungsquellen. Sie haben aber dort zwangsläufig einen anderen Stellenwert. Die Niederlandisten sehen in ihnen frühe Quellen der Lieddichtung und der gnomisch-didaktischen Literatur in den Niederlanden, manchmal mit, meistens ohne Autornamen, immer und das ist festzuhalten - ohne Melodie. Die Germanisten dagegen betrachten dieselben Texte, da sie ihre früheren Tradierungsstufen mit und ohne Melodien kennen, als fragmentierte Sangspruch- oder Minnesang-Überlieferung. Niederlandisten müssen - um nur ein Beispiel zu nennen - die Walther-Überlieferung in der > Haager Liederhandschrift< nicht als Minnelied oder Sangspruch des historischen Dichters Walther von der Vogelweide betrachten, sondern können ihn als einen aus vielen Überlieferungsbruchstücken zusammengesetzten neuen Text des ausgehenden 14. Jahrhunderts mit Walther-Reminiszenzen27 lesen. 25

EDMUND E . STENGEL/FRJEDRICH VOGT: Z w ö l f m h d . M i n n e l i e d e r u n d R e i m r e d e n aus

den Sammlungen des Rudolf Losse von Eisenach. Köln 1956, s. dazu GLIER [Anm. 12], S . 8 1 - 8 4 u n d SCHMIDT [ A n m . 12], S . 5 3 - 6 5 . Z u r Bibliothek d e r G r a f e n v o n

Manderscheid und zur Hs. Berlin Mgq 287 s. HARTMUT BECKERS: Literarische Interessenbildung bei einem rheinischen Grafengeschlecht um 1470/80: Die Blankenheimer Schloßbibliothek. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFGSymposion 1991. Hg. von JOACHIM HEINZLE. Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische Symposien: Berichtsbände, XIV), S. 5-20 und FRANZ HOLZNAGEL: Minnesang-Florilegien. Zur Lyriküberlieferung im Rappoltsteiner Parzifal, im Berner Hausbuch und in der Berliner Tristan-Handschrift N. In: >Da hoeret ouch geloube zuoEins meien morgens fruoSpruchdichtung< in der nordwestlichen Germania

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Für das Fehlen der Sangspruchlyrik bzw. für das fehlende Interesse, Sangsprüche an Höfen der nideren lande aufzuzeichnen, wird diese Erklärung m.E. auch erwogen werden müssen. Schließlich steht dieser Literaturraum zwischen zwei Literaturen, die neben gesprochener Gnomik gesungene und strophisch organisierte didaktische Lyrik mit aktuellen politischen Bezügen kennen. HUGO MOSER hat in dem schon zitierten Aufsatz darauf verwiesen,31 daß in Frankreich wie in Deutschland neben gesprochener Gnomik gesungene strophische Texte stehen. Das heißt konkret: Neben den >Proverbes au vilaim steht das gerade in der Picardie, dem Kontaktraum zwischen frankophonem und germanophonem Adel, gepflegte >serventoishohen< chant royal. Einzelheiten wären hier noch zu klären.32 Wie steht es nun in den zentralen nideren landen mit Texten, die als Sangspruch gedeutet werden könnten oder zumindest Schnittstellen zum Sangspruch aufweisen? Ich will mir nicht anmaßen, hier ein endgültiges Wort zu sprechen, ich erlaube mir aber mit germanistischem Auge einige Texte anzusprechen, die zumindest in einem solchen Kontext diskutiert werden könnten. Dabei ist es opportun, zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert zu unterscheiden. Für das in den nideren landen in bezug auf Lyrik überlieferungsarme 13. Jahrhundert sind es vor allem zwei Texte, die neben den Liedern Hadewijchs (Brabant, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) - welche aber eher im Rahmen der Liebeslyrik diskutiert werden müssen - unter einem solchen Gesichtspunkt zu prüfen sind: Jakobs van Maerlant strophische Gedichte, besonders das Gedicht >Van den lande van oversee< (Holland nach 1291),33 und die >Lunder Gedichte/Lieder< (entstanden Mitte des 13. Jahrhunderts, aufgezeichnet im Limburgischen um 1300). Jakob van Maerlant hat nicht das künstlerische und soziale Profil eines Sangspruchdichters. Eine Vergleichsfigur in der mittelhochdeutschen Literatur wäre, auch was den Umfang und die Vielfalt seines (Euvres anbetrifft, Konrad von Würzburg. Er ist kein Fahrender, sondern lebt als Kleriker in wechselnden, aber festen Bezügen. Das Gedicht >Van den lande van overseeschönen< Handschriften, wie sie die französische und deutsche Tradition kennt. Das >Repertorium van de Middelnederlandse sproke< von DlNI HOGENELST39 notiert für dieses und für das beginnende 15. Jahrhundert zwei Dutzend einschlägige Überlieferungsquellen. Sie legen zwar Spuren, gehören aber zur Streuüberlieferung, die immer zufällig und sparsam ist. Zu den schon angesprochenen Handschriften aus den Übergangsgebieten treten jetzt auch Handschriften aus anderen Regionen des mittelniederländischen Sprachraums, u.a. die großen Repertoires des mittelniederländischen Liedes, die Hulthemsche Handschrift (Brüssel, Koninklijke Bibl., Ms. 15589-623; kurz nach 1400) aus dem Brabantischen und die Gruuthuser Handschrift (Privatbesitz; kurz nach 1400) aus Brügge. Zu den eindeutigen lyrischen Texten treten jetzt auch solche mit synkretistischen Tendenzen wie die Minnerede, panegyrische Kleindichtung oder Wappendichtung. Auch für das 14. Jahrhundert bleibt also die Frage relevant: Gibt es im mittelniederländischen Sprachraum Sangspruchdichtung oder etwas gattungsmäßig Vergleichbares, an dem man Sangspruchdichtung anschließen könnte? Die Hauptschwierigkeit für die Beantwortung der Frage besteht für einen Germanisten darin, daß zur Erfassung der überlieferten und eventuell einschlägigen Texte kein kompatibles Gattungssystem zur Verfügung steht. Das niederländische Material ist im >Repertorium van de Middelnederlandse sproke< von DlNI HOGENELST gesammelt. Sie definiert sproke als »zelfstandig overgeleverd, körte, Middelnederlandse, meesttal paarsgewijs rijmende, niet -lyrische teksten, die geschikt zijn, om door een spreker te worden voorgedragen«.40

Diese Definition ist sehr weit. Sie faßt zusammen, was in der Germanistik als Rede und Märe, z.T. auch als Fabel und Legende firmiert, Gattungen, die ja definitorisch nicht so leicht zu trennen und zu erfas39 40

HOGENELST [Anm. 6]. HOGENELST [Anm. 6], S. 40.

>Spruchdichtung< in der nordwestlichen

Germania

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sen sind. Darüber hinaus ist sie so angelegt, daß durch das Definitionsmerkmal >Middelnederlands< ein Philologien übergreifender Zugriff erschwert wird. Mit anderen Worten: HOGENELST wählt keinen kulturräumlichen Ansatz, auch keine komparatistische Perspektive, sondern orientiert sich an Grenzen einer im 19. Jahrhundert entstandenen Philologie. Damit werden die Kontakträume, die für einen Literaturtransfer so wichtig sind, nicht genügend ausgeleuchtet. Im konkreten Fall interessiert nicht die Märendichtung,41 sondern die Minnereden, denn gerade bei dieser Gattung gibt es sprachenübergreifende Überlieferungsgemeinschaften 42 und - was näher zum Thema führt - Gattungsinterferenzen und -annäherungen von Lied und Rede. Da ist zunächst eine formale Schnittstelle. Die Texte, die HOGENELST in ihrem Repertorium zusammenstellt, sind zwar weitgehend Vierheber, aber gerade bei den Minnereden verbinden sie sich »nicht nur zu Reimpaaren, sondern auch zu Kreuzreim- und Schweifreimgruppen und manchmal auch zu kunstvolleren, geschlosseneren strophenähnlichen Gebilden, die sich kaum noch von Liedstrophen unterscheiden lassen.«43 Daß solche Texte auch gesungen werden konnten, wird man zumindest in Erwägung ziehen müssen. Eine Schnittstelle von Sangspruch und (Minne-)Rede und sproke kann man auch in den Minnereden des Pseudo-Zilies von Sayn beobachten. Diese ist aus mehreren Gründen interessant. Wer auch immer dieser Zilies ist, im mittelrheinischen Raum, in dem er wirkte, läuft einerseits, wie oben gezeigt, die (Überlieferung der) Sangspruchdichtung aus. Andererseits entsteht dort eine panegyrische Kleindichtung, die von französischer Dichtung stark beeinflußt ist und sich nach Norden hin in die mittelniederländischen Gebiete fortsetzt. Sie weist thematische und funktionale Brücken zur Heroldsdichtung auf. Wie sich im 14. Jahrhundert der Minnediskurs in die Minnerede verlagert, so scheint sich auch der politische Diskurs im mittelrheinischen Raum auf die sproke zu verlagern, speziell auf heraldische Preis- und Wappengedichte. Viele von ihnen führen aus allgemeinen didaktischen Bezügen hin zu öffentlich wirksamer Dichtung über aktuelle und politische

41

Zu diesem Aspekt der sproken vgl. jetzt BART BESAMUSCA: In corten wort: Die mittelniederländische Kurzepik (sproken). In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. von MARK CHINCA u.a. Berlin 2006 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 13), S. 347-362.

42

MELITTA RHEINHEIMER: Rheinische Minnereden. Untersuchungen und Edition. Göppingen 1975 (GAG 144); JOHANNES SPICKER: Minnereden, Minneallegorien, Liebesgrüße und weitere didaktische Kleinformen. In: TFERVOOREN [Anm. 4], S. 177-197, hier S. 178-180.

43

GLIER [ A n m . 12], S . 2 7 6 .

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Helmut

Tervooren

Begebenheiten, wie sie auch die Sangspruchdichter immer im Auge hatten. Walther von der Vogelweide und die Sangspruchdichter gössen den Fürstenpreis in Sangsprüche, der Verfasser des >Ritterpreises< und andere Autoren benutzen als Vehikel des Lobes die Rede.44 Sie dringen damit in ein Segment ein, das die Sangspruchdichter für sich beanspruchten. Einer der hervorragendsten Vertreter dieses Genres ist der Heraut Gelre (bezeugt 1380-1414). 45 Von ihm sind im >Wapenboek< (Brüssel, Koninklijke Bibl., Ms. 1565L-15652-56) ein knappes Dutzend Ehrenreden unterschiedlicher Länge (zwischen 48 und 512 Versen) erhalten, die durch historisch verifizierbare Personen (u.a. Johann II. von Sponheim, Heinrich I. von Virneburg, Rainald I. von Valkenburg, Herzog Wilhelm II. von Jülich, Graf Wilhelm II. von Holland) mit dem Raum vom Mittelrhein bis in die zentraleren niederländischen Gebiete zu verorten sind. Sprachliche Eigentümlichkeiten Gelres Texte zeigen durchaus auch ripuarische Schibboleths - unterstreichen diesen Sachverhalt. Sie sind für ein adeliges Publikum geschrieben, das seine Sitze zwischen Hunsrück und Nordsee hat. Hier ist somit eine Brücke vom mitteldeutschen bis in den mittelniederländischen Sprachraum geschlagen, die für den Sangspruch und seine Überlieferung nicht zu finden war. Der mit den heraldischen Preis- und Wappengedichten verbundene neue Autortyp des Herolds, der aus dem Westen zu kommen scheint,46 hat offensichtlich das Zeug, mit dem Sangspruchdichter in Konkurrenz zu treten. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ist er direkt oder indirekt in Frankreich belegt, wo er als wandernder Unterhalter oft in Auseinandersetzung mit dem ministrel, also zum Pendant der Sangspruchdichter in Frankreich, auftritt. Für die Gebiete des deutschen Reiches läßt er sich seit dem 14. Jahrhundert nachweisen, zunächst im Südosten (Peter Suchenwirt) und dann in zahlreichen Quellen des Nordwestens, in den nideren landen, speziell an den Höfen von Holland, Schoonhoven und Geldern - eine interessante geographische Verteilung im übrigen, über die nachzudenken wäre, weil diese Erscheinung auf wenige benachbarte Höfe innerhalb des mittelniederländischen Sprachgebietes zentriert ist. 44

GLIER [ A n m . 12], S. 7 0 f f . , v g l . auch SCHMIDT [ A n m . 12], S. 6 6 - 7 6 .

45

Zur Herolddichtung und speziell zum Heraut Gelre WIM VAN ANROOIJ: Spiegel van ridderschap. Heraut Gelre en zijn ereredes. Amsterdam 1990 (Nederlandse Iiteratuur en cultuur in de Middeleeuwen I) und THEODOR NOLTE: Lauda post mortem. Die deutschen und niederländischen Ehrenreden des Mittelalters. Frankfurt a.M. u.a. 1983 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1/562). Zum folgenden vgl. URSULA PETERS: Herolde und Sprecher in mittelalterlichen Rechnungsbüchern. ZfdA 105 (1976) 2 3 3 - 2 5 0 und VAN ANROOIJ [Anm. 45], S. 16-28.

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>Spruchäichtung< in der nordwestlichen Germania

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Französische Ministreis, niederländische Herolde und deutsche Sangspruchdichter stehen sich in vielem nahe, wenn auch die Qualität der Belege über Sangspruchdichter und Herolde unterschiedlich ist und einen Vergleich schwierig macht. Bei den Sangspruchdichtern sind es Texte, meist mit Melodien überliefert, aus denen in der Regel die biographischen Daten ihrer Autoren erschlossen werden müssen. Von den Herolden sind - abgesehen von den Großen der Gattung, Peter Suchenwirt und Heraut Gelre - dagegen kaum Texte bekannt, aber den spezifischen, für die Forschung auch neuartigen Quellen - es sind Hofund Stadtrechnungen - lassen sich viele Namen entnehmen, wie bei den Sangspruchdichtern oft sprechende Namen, die auf Lebensweise und Funktion verweisen; weiter lassen sie auf Aufführungszeit und -umstände sowie auf Art und Höhe der Entlohnung schließen. Die Rechnungen sprechen von seggher und spreker, ihre Texte nennen sie sproke. Sie scheinen also den Reimsprechem der deutschen Literaturgeschichte (Peter Suchenwirt, Heinrich dem Teichner oder dem König vom Odenwald) näherzustehen als den Sangspruchdichtern. Dorthin stellt sie auch die Textorganisation. Sproke sind in der Regel nicht strophisch, sondern paarweise gereimte fortlaufende Verse, die gesprochen werden. Aber dieser Schluß ist - wie ich auch schon oben angedeutet habe - nicht ganz unproblematisch. Selbst DINI HOGENELST schließt in ihrem >RepertoriumlietsprekerSpruchdichtung< in der nordwestlichen

Germania

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den zentralen nideren landen gesungene strophische Lyrik mit politischen, sozialen und allgemein didaktischen Themen gegeben hat, läßt sich aufgrund des überlieferten Materials nicht definitiv entscheiden. Es scheint allerdings lohnenswert, den Ansatz, den HUGO MOSER 1953 in seinem auf dem Germanistentag in Münster gehaltenen Vortrag verfolgte, weiter nachzugehen. Sein Anliegen war damals ein doppeltes: Er wollte einmal die mittelhochdeutsche Lyrik und ihre gattungsartige Ausprägung präziser fassen und andererseits ihre Verflechtung mit der europäischen >Spruchdichtung< (Gnomik) herausstellen. Der Grund dafür, daß sein Ansatz nicht das sicherlich erhoffte Echo gefunden hat, dürfte darin liegen, daß sich die germanistische Diskussion der nächsten Jahrzehnte anders entwickelte.52 Sie verengte sich auf ein deutsches, ein germanistisches Spezifikum, auf Minnesang und Sangspruchdichtung und ihre im 12. Jahrhundert zunächst schwache, aber im 13. Jahrhundert ständig wachsende Ausdifferenzierung. Fragen nach dem Unterschied von (Minne-)Lied und Sangspruch standen im Mittelpunkt der Forschung. Die Germanistik beschritt damit allerdings einen Weg, der sie aus der wissenschaftlichen Erforschung der europäischen Gnomik herausführte. Der Weg führte aber gleichzeitig auch zu etwas Eigentümlichem in der mittelhochdeutschen Lyrik, denn die Dichotomie Minnesang und Sangspruch scheint die kontemporäre europäische Lyrik in der Strenge, wie sie in der mittelhochdeutschen Literatur erscheint und in der Germanistik diskutiert wurde und wird, genausowenig zu kennen wie eine differenzierte Unterscheidung von Sangspruch und Sprechspruch. Die Germanistik hat mit der Forschungskonzentration auf den Sangspruch - man sollte es pointierter formulieren: auf den Sangspruch, wie er sich in der Verbindung von Text und Melodie vor allem in einer Handschrift, nämlich in der >Jenaer< manifestiert - große Erfolge erzielt und mit dem >Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 16. Jahrhunderts< v o n HORST BRUNNER u n d BURGHART WACHIN-

GER die Summe gezogen. Ihr sollte allerdings bewußt sein, daß sie Spruchdichtung als eine übernationale Erscheinung noch kaum in den Blick bekommen hat. Aus einer europäischen Perspektive gesehen, könnte sich der Sangspruch als eine regionale Gattung erweisen, anders ausgedrückt - und das sage ich mit aller Vorsicht - als ein hochdeutsches Phänomen.

52

Vgl. dazu die Einleitung zu Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung. Hg. von HORST BRUNNER und HELMUT TERVOOREN. Berlin 2000 (ZfdPh 119, Sonderheft), S. 1-9.

FRANK WILLAERT, A n t w e r p e n

Sangsprüche in den Niederlanden? Die Unsichtbarkeit einer Gattung und deren Bedeutung für die Geschichte der mittelniederländischen Lyrik*

1. >Eine machtvolle einheimische Tradition