Intertextualität in der Sangspruchdichtung: Der Kanzler im Kontext 9783110712889, 9783110712858

This differentiated analysis of the Sangspruch verses by Der Kanzler, a poet of the late thirteenth century, shows that

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Intertextualität in der Sangspruchdichtung: Der Kanzler im Kontext
 9783110712889, 9783110712858

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Analysen
3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
4 Literaturverzeichnis
5 Register
Erratum zur gedruckten Ausgabe: Kapitel 2: Analysen

Citation preview

Sophie Knapp Intertextualität in der Sangspruchdichtung

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 43

Sophie Knapp

Intertextualität in der Sangspruchdichtung

Der Kanzler im Kontext

ISBN 978-3-11-071285-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071288-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071296-4 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2020947130 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod.Pal.germ. 848, Blatt 355v. Wikimedia Commons Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für A.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2019 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Für ihre Aufnahme in die Reihe ‚Deutsche Literatur. Studien und Quellen‘ möchte ich mich an dieser Stelle bei den Herausgeberinnen Frau Prof. Dr. Beate Kellner und Frau Prof. Dr. Claudia Stockinger bedanken. Zudem habe ich auf meinem weiten Weg durch die literarischen Welten des Kanzlers vielfältige Unterstützung erfahren, für die ich von Herzen meinen Dank aussprechen möchte. An erster Stelle gilt dieser meinem Doktorvater Prof. Dr. Tobias Bulang, der meine Begeisterung für die Sangspruchdichtung allererst weckte. Ihm danke ich ganz besonders für sein Vertrauen in meine Arbeit, seinen untrüglichen Blick dafür, wo Texte interessant sind, und seinen wertvollen Rat, der dieser Dissertation an mancher Weggabelung den richtigen Pfad gewiesen hat. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Jens Haustein, der sich freundlicherweise bereiterklärte, das Zweitgutachten zu übernehmen. Außerdem möchte ich für die Offenheit und das Diskussionsinteresse danken, die ich im Fach und darüber hinaus erleben durfte. Hier seien besonders genannt Prof. Dr. Ludger Lieb, ohne dessen interessierte Nachfragen und Diskussionsfreude meine ersten Gedanken zum Kanzler womöglich nie ihren Weg aufs Papier gefunden hätten, PD Dr. Holger Runow, mit dem sich wie mit niemandem sonst über die großen und kleinen Schwierigkeiten des Übersetzungsgewerbes diskutieren lässt und dessen Begeisterung für die Sangspruchdichtung mich immer inspiriert hat, Frau Prof. Dr. Nine Miedema und Herr Prof. Dr. Martin Schubert, die mir die wertvolle Möglichkeit geboten haben, meine Arbeit in ihren Forschungskolloquien zu diskutieren, sowie Eva Locher und Andrea Möckli für die Einladung zu einem wunderbaren Zürcher LyrikWorkshop. Last but not least gilt mein Dank meinen wundervollen Kollegen und Kolleginnen, Freundinnen und Freunden, die mich in dieser Zeit auf vielfältige Weise unterstützt haben: Ich danke Lisa Horstmann, Franziska Stöhr, Hannah Mieger, Joana van de Löcht und Sylvia Brockstieger fürs Ermutigen, Philip Reich und Helge Perplies für treue Gesellschaft in vielen Mittagspausen, Ricarda Wagner für ein unersetzliches Brainstorming zu ersten konzeptionellen Überlegungen, Laura Velte, Ludger Lieb, Mirjam Mansen und Stefan Seeber für differenzierte Korrekturlektüren und Isabella Managò für lange Gespräche an der Kreuzung. Vor allem aber danke ich meinen geliebten Eltern. Heidelberg, den 25.11. 2020

Sophie Knapp

Inhalt Abkürzungsverzeichnis

XIII

 1 Einleitung . Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung 1 .. Exposition 2 .. singen .. tihten 3 6 .. vinden . Intertextualität in der Sangspruchdichtung 9 9 .. Problemaufriss 18 .. Methodenbildung ... Einzeltext- und Systemreferenz 20 22 ... Referenzstrategien und deren Markierung ... Kommunikativität und Tradition 30 33 Der Kanzler . 33 .. Autor, Werk, Überlieferung .. Relevanz für die Fragestellung 36 37 Forschungsstand ..  . .. .. .. .. .. .. .. . .. ... ... ... ... .. ... ...

1

Analysen 45 45 Ton I (1Kanz/1/1–6) Strophe 1 – Noah und seine Söhne (1Kanz/1/1) 45 52 Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2) 61 Strophe 3 – Schelte der Habgierigen (1Kanz/1/3) Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4) 67 Strophe 5 – Konkurrentenschelte (Esel, Rabe) (1Kanz/1/5) 75 Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6) 84 Ton I: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander 93 Ton II, Goldener Ton (1Kanz/2/1–11) 96 Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3) 96 1 100 Strophe 1 – Gottespreis ( Kanz/2/1) Strophe 2 – Jesu Opfer (1Kanz/2/2) 102 Strophe 3 – Die Sieben Gaben des Heiligen Geistes 104 (1Kanz/2/3) Die Strophenfolge 1–3 als Experiment und Vorbild 109 Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6) 110 Strophe 4 – Vereinbarkeit von Gut und Ehre (1Kanz/2/4) 111 Strophe 5 – Warnung vor falschem Rat (1Kanz/2/5) 118

X

... ... .. .. .. .. ... ... ... ... .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

Inhalt

Strophe 6 – Tugenden als Ehrenkleid (1Kanz/2/6) 128 Strophe 4 – 6: Intratextueller Bezug und strukturelle Ähnlichkeiten 134 Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7) 138 148 Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8) 159 Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9) Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.) 167 Strophe 10 – Himmel und Sphären (1Kanz/2/10) 172 Strophe 11 – Einfluss des Kosmos auf die Erde (1Kanz/2/11) 177 179 Strophe 10 f.: Intratextueller Bezug Strophe 10 f.: Gattungsreferenz 181 Ton II: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander 187 192 Ton III (1Kanz/3/1–4) Strophe 1 – Verweltlichte Geistlichkeit (1Kanz/3/1) 192 197 Strophe 2 – Falsche Ratgeber (1Kanz/3/2) Strophe 3 – Lob des Tugendadels (1Kanz/3/3) 199 Strophe 4 – Schlechtes als Bedingung für Gutes 202 (1Kanz/3/4) Ton III: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander 205 206 Ton XIII, Strophe 1–3 – Minnesangspruchlied (1Kanz/4/1–3) Strophe 1 – Natureingang (1Kanz/4/1) 207 Strophe 2 – Minneklage als milte-Klage (1Kanz/4/2) 209 212 Strophe 3 – Zeitklage (1Kanz/4/3) Ton XIII: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander 213 214 Ton XIII: Einzeltextreferenz Ton XVI, Hofton I (1Kanz/5/1–20) 223 223 Strophe 1 – Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1) 228 Strophe 2 – Phönix (1Kanz/5/2) Strophe 3 – leozephena (1Kanz/5/3) 233 1 Strophe 4 – Gold und Palme ( Kanz/5/4) 238 242 Strophe 5 – Lebensabschnitte (1Kanz/5/5) Strophe 6 – Geiz der Herren (1Kanz/5/6) 246 251 Strophe 7 – Das gelu̍ cke (1Kanz/5/7) 1 Strophe 8 – Zeitklage mit Kleruskritik ( Kanz/5/8) 254 259 Strophe 9 – Schifffahrt des Lebens (1Kanz/5/9) 264 Strophe 10 – septem artes liberales (1Kanz/5/10) Strophe 11 – Freundschaft gegen Verwandtschaft 268 (1Kanz/5/11) Strophe 12 – Zeitklage mit Adelsschelte (1Kanz/5/12) 273 Strophe 13 – Fuchs und Rabe (Herrenschelte) (1Kanz/5/13) 278

XI

Inhalt

.. ... ... ... ... .. .. ... ... ... ... ..

Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation 282 (1Kanz/5/14–16) 282 Strophe 14 – Exposition des Begriffs (1Kanz/5/14) 1 Strophe 15 – positive Scham ( Kanz/5/15) 285 287 Strophe 16 – negative Scham (1Kanz/5/16) 289 Strophe 14 – 16: Intratextueller Bezug Strophe 17 – milte als höchstes Gut (1Kanz/5/17) 292 Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen 297 (1Kanz/5/18–20) 298 Strophe 18 – milte (1Kanz/5/18) Strophe 19 – kerge (1Kanz/5/19) 302 1 306 Strophe 20 – nît ( Kanz/5/20) Strophe 18 – 20: Intratextueller Bezug 309 Ton XVI: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander



Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

 . . .

Literaturverzeichnis 326 326 Primärliteratur Nachschlagewerke und Wörterbücher Sekundärliteratur 334



Register

343

331

318

310

Abkürzungsverzeichnis AWb CB BMZ DRW DWb GA GA-S HdA HWRh KLD LDM LexMA MF MGG MWb PBB RLW RSM TPMA ²VL ZfdA ZfdPh

Althochdeutsches Wörterbuch (Karg-Gasterstädt, Frings) Carmina Burana Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Benecke, Müller, Zarncke) Deutsches Rechtswörterbuch Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Frauenlob, Göttinger Ausgabe Frauenlob-Supplement Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Historisches Wörterbuch der Rhetorik Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts Lyrik des deutschen Mittelalters Lexikon des Mittelalters Des Minnesangs Frühling Die Musik in Geschichte und Gegenwart Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Gärtner, Grubmüller, Stackmann) [Paul und Braunes] Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder Thesaurus proverbiorum medii aevi Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie

https://doi.org/10.1515/9783110712889-001

1 Einleitung 1.1 Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung 1.1.1 Exposition Ich hab mich underwunden/ ze singen, ob ich mag./ ze tihten truwe ich vinden,/ des wisent mich du̍ bch ( 1Kanz/1/1,V. 1–4)¹ – mit diesen Versen eröffnet im Codex Manesse das Liedcorpus des Chanzler,² eines Dichters, der als Verfasser von Minneliedern und Sangsprüchen im letzten Drittel/Ende des 13. Jahrhunderts in Erscheinung tritt.³ Die zitierten Verse zeigen ein Sänger-Ich, das corpuseinleitend⁴ seine Tätigkeit als Sangspruchdichter thematisiert. Die ‚Selbstbeschreibung‘ wirkt dabei auf den ersten Blick konventionell und gattungstypisch: Das Sänger-Ich äußert – unter dem (topischen) Vorbehalt des Unvermögens, es zu tun – das Vorhaben zu singen und behauptet selbstbewusst, mit der Hilfe von Büchern dichten zu können. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese ‚Prologverse‘ allerdings als ausgesprochen implikationsreich. Die einleitende captatio benevolentiae (Ich hab mich underwunden,/ ze singen, ob ich mag, 1Kanz/1/1, V. 1 f.) ist einerseits freilich topisch, ebenso wie die Tatsache, dass dieser Unfähigkeitsbeteuerung zugleich performativ widersprochen wird, weil das Sänger-Ich im Moment der Äußerung schließlich singt (es also durchaus kann). Andererseits bekommt der Topos hier eine ganz bestimmte Stoßrichtung: Indem das Sänger-Ich darauf hinweist, am eigenen Können zu zweifeln, schafft es die Voraussetzung für die folgende Selbstaussage, die mit umso größerem Selbstbewusstsein getätigt wird, nämlich dass es vielleicht nicht aus sich heraus, aber doch mit Hilfe der Bücher zu dichten vermöge. Damit erhebt das Sänger-Ich gelehrte Bildung zur wesentlichen Grundlage seines Dichtens und verweist so zugleich auf die schriftgebundene Literarizität seines Schaffens. Indem schriftliche Texte als Quelle für das eigene Schaffen und/oder den Stoff angegeben werden, stellt das Sänger-Ich seine Dichtung in eine literarische Tradition und partizipiert damit zugleich an deren Geltung. Diese schriftbezogene Legitimationsstrategie erscheint auf den ersten Blick nicht un-

 Die Texte des Kanzlers werden hier und im Folgenden zitiert nach der Neuedition in LDM (Der Kanzler, hg. von Manuel Braun, Stephanie Seidl. In: Lyrik des deutschen Mittelalters, online hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch, Florian Kragl, URL: http://www.ldm-digital.de, abgerufen am ); Sangspruchsignaturen hier und im Folgenden nach RSM (Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger, unter Mitarbeit von Eva Klesatschke u. a. 16 Bde. Tübingen 1986–2009).  Vgl. die Überschrift des Autorenportraits im Hauptüberlieferungszeugen, dem Codex Manesse (Heidelberg Universitätsbibliothek, Cpg 848, im Folgenden abgekürzt mit der Sigle C), fol. 423v.  Vgl. Gisela Kornrumpf: [Art.] Kanzler. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 986–992, hier Sp. 986.  Zumindest nach dem Hauptüberlieferungszeugen, der Handschrift C, ist diese Strophe dezidiert redaktionell positioniert. https://doi.org/10.1515/9783110712889-002

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1 Einleitung

gewöhnlich, denn in den Texten der höfischen Epik ist sie allgegenwärtig.⁵ In der Lyrik vor Ende des 13. Jahrhunderts dagegen ist sie keineswegs geläufig. Insofern möchte ich diese ‚Selbstbeschreibung‘ des Kanzlers im Folgenden differenziert analysieren, um das Verhältnis der verschiedenen poetologischen Begriffe, die er dabei aufruft, nämlich singen, tihten, vinden und bch, zueinander sowie zur Gattung Sangspruch zu bestimmen.

1.1.2 singen Einleitend äußert das Sänger-Ich, es underwinde sich des singens (1Kanz/1/1, V. 1 f.), nehme sich des Singens an,⁶ wenn es könne (ob ich mag, 1Kanz/1/1, V. 2). Dieser Vorbehalt stellt das singen in eine Opposition zum tihten, welches das Sänger-Ich sich dezidiert zutraut: ze tihten truwe ich vinden (1Kanz/1/1, V. 3). Der Parallelismus im Bau der Verse – ze singen ob ich mag/ ze tihten truwe ich vinden (1Kanz/1/1, V. 2 f.) – unterstreicht den spannungsvollen Bezug des singens und tihtens aufeinander. singen betont grundsätzlich den performativen Charakter der Dichtung, die Klanglichkeit und Mündlichkeit.⁷ Seit Walther ist singen – sowie etwas später auch das

 Besonders in der vor- und frühhöfischen Epik, im Rolandslied des Pfaffen Konrad, im Alexanderroman des Pfaffen Lamprecht oder im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, begegnet diese Legitimationsstrategie, aber auch noch in Hartmanns von Aue Iwein und Armer Heinrich. Im Tristan Gottfrieds von Straßburg wird sie bereits reflektierend gebrochen. Am weitesten geht Wolfram von Eschenbach im Parzival, in welchem er diese Konvention durch die spielerische Negation der Quellenberufung unterläuft; vgl. dazu auch Klaus Grubmüller: Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann, Klaus-Peter Wegera (Hg.): bickelwort und wildiu mære. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Göppingen 1995, S. 37–50, hier S. 47–50, der allerdings meint, einen Rückgang der Buchberufungen ab Ende des 12. Jahrhundert verzeichnen zu können.  Das semantische Spektrum von underwinden erstreckt sich auch auf das „rechtlich den Besitz einer Sache in Anspruch [nehmen]“ (BMZ, Bd. 3, Sp. 681a) und ein „sich dazu verstehen“ (DWb, Bd. 24, Sp. 1908; hier unter anderem mit einem Textbeleg aus der ‚ersten deutschen Bibel‘ das ich mich underwunden han eines sölichen wercks, 3, 43, 31). Im vorliegenden Kontext verweist die anschließende Demutsformel aber vorerst wohl auf ein weniger selbstbewusstes „auf sich nehmen“; underwinden im Sinne von ‚sich des Dichtens annehmen‘ auch beim Wilden Alexander: Do durch der werlde ummzicheit/ her abe von kuninges kunne schreit/ daz tichten unde daz singen,/ von sundehaften sculden ez quam,/ daz daz seitenspil urloͮ b nam/ unde der juncvrouwen spryngen./ do viel ez an die ergeren hant:/ ein arme diet sich es underwant,/ of daz der kunste nicht gienge abe./ do trgen die herren durch die kunst/ den selben helfebere gunst/ unde nerten sie mit varender habe, 1Alex/12, V. 1–12, zit. nach: Der Wilde Alexander, hg. von Florian Kragl. In: LDM, abgerufen am , dort J WAlex 15.  Dass der Begriff beim Kanzler gattungsgebunden ist, zeigt sich auch in seiner Strophe 1Kanz/1/5, in der er seine Kollegen im Rahmen einer Konkurrentenschelte als singer bezeichnet, ihre Unfähigkeit durch den Hinweis auf den (Miss‐)Klang ihres Sanges ausstellt, den er demjenigen sangesunfähiger Tiere vergleicht (Esel, Trappe, Storch) und resümiert, dass bei solchen singern ku̍ nste ruch, die stimme ihr Unvermögen tu̍ te (1Kanz/1/5, V. 5; 14). Sang kann also von anderen bewertet werden, er ist messbar. Zudem erscheint er beim Kanzler auch lernbar, wenn es im Rahmen einer Aufzählung der sieben freien

1.1 Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung

3

daraus abgeleitete nomen agentis ‚singer‘⁸ – ein geläufiger Begriff sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung für die künstlerische Darbietung (sie singen ihre kunst).⁹ Der Begriff des singens steht mithin in einer sangspruchdichterischen Gattungstradition und das Sänger-Ich der eingangs zitierten Kanzler-Strophe stellt sich in diese, indem es diesen terminus im Rahmen der Thematisierung des eigenen Kunstschaffens aufruft.

1.1.3 tihten Dem singen als performativ-mündlich geprägtem Begriff sangspruchdichterischen Selbstverständnisses stellt das Sänger-Ich in den folgenden Versen das tihten und die bch gegenüber. Diese Begriffe gehören im Gegensatz zum singen nicht in die geläufige Terminologie sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung. Sie rufen Schriftlichkeit und Literarizität auf und damit einen gelehrten Diskurs, der so dezidiert nicht genuin in der Gattung verankert ist. Die Schriftbezogenheit von tihten gründet in der Entlehnung des Begriffs aus dem lateinischen dictare, wobei tihten schon im Althochdeutschen neben ‚diktieren‘ und ‚vorschreiben‘ auch ‚literarisch schaffen‘ bedeutet.¹⁰ Deutlich schriftgebunden bleibt der Begriff auch im Mittelhochdeutschen, was sich unter anderem daran zeigt, dass er oft im Kontext der Abfassung von Urkunden und Schriftstücken begegnet und hier parallel zu schrîben gebraucht wird.¹¹ Daneben erweitert sich sein semantisches Spektrum aber im Mittelhochdeutschen zunehmend vom ‚literarischen Schaffen‘ zur ‚schöpferischen/geistigen Tätigkeit‘ allgemein (und kann in

Künste heißt, dass die menschliche Stimme durch die ars musica zum Sang geführt werde (du̍ dritte [ars des Quadriviums] menschen stimme keret/ ze sange uf, abe, nu mite, nu oben, nu unden, 1Kanz/5/10, V. 13 f.).  Der Begriff ‚singer‘ ist im Prinzip wertneutral (wie einige Belege zeigen), begegnet aber häufig in Scheltstrophen (vgl. S. 2, Anm. 7), während die rühmende Hervorhebung anderer Sänger vorwiegend über den terminus technicus meister erfolgt.  „[D]ie dichterische thätigkeit an sich wird nicht mit singen bezeichnet, diese anwendung entstammt […] aus der antike und wird erst im laufe des 17. jahrh. üblich“, DWb, Bd. 16, Sp. 1088. – Die Belege für den auf das eigene Tun bezogenen Gebrauch des Begriffs sind zahlreich unter anderem bei Bruder Wernher, Friedrich von Sonnenburg, dem Marner, dem Meißner, Konrad von Würzburg und Rumelant. Bei Konrad (der als Vorbild des Kanzlers im Rahmen dieser Untersuchung besondere Aufmerksamkeit verdient) beschreibt singen nicht nur das eigene Tun, sondern wird auch Gott und den Engeln zugeschrieben, die es besonders schön können (1, V. 134; 240 [Leich], zit. nach: Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. I: Der Welt Lohn – Das Herzmaere – Heinrich von Kempten. II: Der Schwanritter, Das Turnier von Nantes. III: Die Klage der Kunst, Leiche Lieder und Sprüche, hg. von Edward Schröder, mit einem Nachwort von Ludwig Wolff. Berlin 1959) – wohl auch im Sinne einer Aufwertung oder gar Transzendierung der eigenen Kunst.  Vgl. Kurt Gärtner: tihten / dichten. Zur Geschichte einer Wortfamilie im älteren Deutsch. In: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhart Hasebrink (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Berlin/New York 2006, S. 67–82, hier S. 72.  Vgl. Gärtner (tihten / dichten), S. 73.

4

1 Einleitung

diesem Kontext beispielsweise auch für die Schöpfung Gottes stehen).¹² In poetologischen Kontexten begegnen die Begriffe der Wortfamilie allerdings im 13. Jahrhundert – beispielsweise bei Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg – noch vorwiegend im spezifischen Umfeld literarischen Schaffens.¹³ Gerade bei Konrad fällt auf, dass er den Begriff tihten ausschließlich in seiner Epik nutzt, während er in seiner Lyrik kein einziges Mal auftaucht. Ebenso verhält es sich in seinem Œuvre mit dem Begriff buoch sowie mit der Berufung auf buoche und mit der Thematisierung des schrîbens. ¹⁴ Das zeugt von einem Gattungsbewusstsein bei Konrad, der für seine Sangsprüche offenbar andere Konventionen als für seine Epen ansetzt, nämlich Literarizität und Buchgelehrsamkeit dort nicht ostentativ ausstellt. Vielmehr betont er in seiner Sangspruchdichtung explizit, dass Sang nicht lernbar sei, sondern aus gottes gunst hervorgehe, also göttlich inspiriert sei (ellu̍ kunst geleret mac werden schone mit vernunst,/ wan daz nieman gelernen kan rede unde gedoͤ ne singen:/ du̍ beide mssent von in selben wahsen unde entspringen./ us dem herzen klingen ms ir begin von gottes gunst, 1KonrW/7/21a, V. 3 – 6, zit. nach LDM).¹⁵ Dieses Ideal scheint den Tenor der Gattung – zumindest im früheren 13. Jahrhundert – zu treffen,¹⁶ was sich auch im Rätselspiel, dem ältesten Teil  Vgl. Gärtner (tihten / dichten), S. 74, so auch bei Rumelant 1Rum/1/5, V. 1.  Vgl. Gärtner (tihten / dichten), S. 78, vgl. dazu auch Unzeitig, die darauf verweist, dass hier wiederum zunehmend eine Differenzierung zwischen schrîben und tihten zu beobachten ist, vgl. Monika Unzeitig: Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin/New York 2010, bes. S. 314– 336.  Die mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank liefert für das Werk Konrads von Würzburg allein 52 Belege für buoch, 55 für tihten/getiht und 172 für schrîben/schrift (von letzteren nur zwei Belege in der Lyrik [Minnesang]), besonders gehäuft in Partonopier und Meliur (6 Belege für buoch, 18 für tihten/ getiht, 18 für schrîben/schrift) und im Trojanerkrieg (20 Belege für buoch, 24 für tihten/getiht, 64 für schrîben/schrift), vgl. Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB). Universität Salzburg. Interdisziplinäres Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit (IZMF). Koordination: Katharina ZeppezauerWachauer. 1992–2020 (laufend). URL: http://www.mhdbdb.sbg.ac.at/, abgerufen am .  Konrad von Würzburg, hg. von Manuel Braun, Stephanie Seidl. In: LDM, abgerufen am ; als Epiker hingegen stilisiert Konrad im Trojanerkrieg die Fähigkeit zu tihten als Gabe Gottes und entsprechend als nicht erlernbar (V. 82– 101), vgl. dazu auch Unzeitig (Autorname), S. 315.  Haustein interpretiert auch Marners Strophe 1Marn/5/3 in diese Richtung, versteht sie nämlich als mögliche Replik auf Meißners Polemik gegen den Marner, dass der baz diu bůch lesen solle (1Mei/12/1, V. 8, hier und im Folgenden zit. nach: Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Untersuchungen, Ausgabe, Kommentar, hg. von Georg Objartel. Berlin 1977): „Wenn der Meißner sagt, der Marner sei aufgrund mangelnder Kenntnisse der künsten blint, hält ihm der Marner entgegen, er, der Meißner, sei dies, aber nicht wegen zu geringer Kenntnisse, sondern wegen nicht vorhandener göttlicher Inspiration. […] Die Strophe zeigt den Marner also gerade nicht auf seine Kenntnisse bedacht, wohl aber auf seinen göttlichen Dichterauftrag“, Jens Haustein: Marner-Studien. Tübingen 1995, S. 41. Willms fasst den passus etwas anders und weniger dezidiert poetologisch auf, vgl. Der Marner. Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang, hg. eingeleitet, erläutert und übersetzt von Eva Willms. Berlin/New York 2008, S. 163; Kästner versteht die Argumentationsfigur einer göttlichen Legitimierung der Kunst in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts grundsätzlich als Reflex der Konkurrenz von Sangspruchdichtern und Mendikanten, vgl. Hannes Kästner: Sermo Vulgaris oder Hövischer Sanc. Der Wettstreit zwischen Mendikantenpredigern und Wanderdichtern um die Gunst des Laienpublikums und seine Folgen für die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des

1.1 Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung

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des sogenannten Wartburgkrieges (wohl 2. Viertel 13. Jahrhundert),¹⁷ bestätigt. Denn auch hier – in diesem Text, der beinahe wie ein Kommentar zur Gattung wirkt¹⁸ – siegt gottesfürchtig-göttliche Inspiriertheit über gelehrte Bildung, wenn die (Buch‐)Gelehrsamkeit des meisterpfaffen Klingsor an der meisterschaft des auf Gott vertrauenden Laien Wolfram im Rätselwettkampf scheitert und sich zudem als schwarzmagisch desavouiert.¹⁹ In Anfängen bei Frauenlob, in Vollendung bei Heinrich von Mügeln lässt sich aber beobachten, dass zunehmend gelehrtes – und teilweise recht avanciertes – (Buch‐)Wissen Teil des sangspruchdichterischen Selbstverständnisses wird, bevor im Meistergesang letztlich die Inhalte weitestgehend zu einem Kanon (auch gelehrten, vorwiegend biblischen) Wissens erstarren und sich die Idee einer Erlernbarkeit von Gesang und Lied-Verfertigung (tihten !) durchsetzt, für die es ausdifferenzierte Regeln gibt, die schriftlich festgehalten sind.²⁰ Wenn nun der Kanzler gegen Ende des 13. Jahrhunderts vom tihten spricht, bei dem ihn die bch wisent, also anleiten (‚weise machen‘)²¹, dann ist gerade hier vielleicht dieser Umbruch im Selbstverständnis der Sangspruchdichter zu beobachten. Denn die Behauptung lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Gattung sich

13. Jahrhunderts. (Am Beispiel Bertholds von Regensburg und Friedrichs von Sonnenburg). In: Michael Schilling, Peter Strohschneider (Hg.): Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Heidelberg 1996, S. 209–243, hier S. 234 f.  Vgl. Burghart Wachinger: [Art.] Der ‚Wartburgkrieg‘. In: ²VL, Bd. 10, Sp. 740–766, hier Sp. 749.  Tervooren spricht davon, dass hier „die Sangspruchdichtung gleichsam zu sich selbst komm[e]“, Helmut Tervooren: Sangspruchdichtung. Stuttgart/Weimar 2001, S. 37; anders kürzlich Hallmann der diese Einschätzung deutlich relativiert, vgl. Jan Hallmann: Studien zum mittelhochdeutschen Wartburgkrieg. Literaturgeschichtliche Stellung – Überlieferung – Rezeptionsgeschichte. Mit einer Edition der Wartburgkrieg-Texte. Berlin/Boston 2015, bes. S. 117–130.  Dazu besonders Beate Kellner, Peter Strohschneider: Die Geltung des Sangs. Überlegungen zum Wartburgkrieg C. In: Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hg.): Wolfram-Studien XV: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998, S. 143–167, und Beate Kellner, Peter Strohschneider: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkriegkomplex. In: Manuel Braun, Christopher Young (Hg.): Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2007, S. 335–356.  Vgl. Horst Brunner: [Art.] Meistergesang. In: RLW, Bd. 2, S. 554–557, hier S. 555 f.; Johannes Rettelbach: Kap. I. Der Begriff und seine Geschichte 2. Abgrenzungen: Sangspruchdichtung und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst. In: Dorothea Klein u. a. (Hg.): Sangspruch/Spruchsang. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2019, S. 19–26, hier S. 19 f.; das spiegelt sich eben auch im Gebrauch schriftbezogener poetologischer Begriffe in jungüberlieferten Strophen, die in den Tönen der alten meister gedichtet wurden (z. B. einmal beim Meißner, vielfach beim Marner und ganz besonders bei Frauenlob, bei dem das freilich auch in seinen Strophen schon angelegt zu sein beginnt). Gade verweist allerdings darauf, dass das Verhältnis gegenüber der Gelehrsamkeit (besonders gegenüber astronomisch-kosmologischem Wissen) ambivalent bleibt, vgl. Dietlind Gade: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2005, bes. S. 180–182.  wîse ursprünglich „mache wîs“, also „mache verständig, kundig, weise; weise an, belehre, unterrichte“, daneben auch „weise, lenke, führe“, „zeige“, „thue dar, kund, offenbar“, BMZ, Bd. 3, Sp. 758a– 760a.

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zunehmend über geschriebene Texte zu legitimieren und damit an Konventionen eines gelehrten Diskurses zu partizipieren versucht. Entsprechende Tendenzen zeigen sich auch bei Boppe, wenn er sich bei der Spekulation über theologische Inhalte mehrfach über ein buoch legitimiert (1Bop/7/1, V. 8; 1Bop/7/2, V. 4; 1Bop/7/4, V. 4),²² beim Meißner, wenn er den Marner bezichtigt, er habe in seinem Sang gelogen, er solle baz diu bůch lesen (1Mei/12/1, V. 8; womit er auch seine eigene Buchgelehrsamkeit implizit ausstellt),²³ und bei Rumelant, wenn er in seiner Polemik gegen Singûf die nicht genauer spezifizierte Bücherkenntnis des Meißners und Konrads von Würzburg als Ausweis ihrer sängerischen Überlegenheit hervorhebt und konstatiert, dass diese Kenntnisse Konrads getichte verfeinerten (1Rum/8/3²⁴).²⁵

1.1.4 vinden Zum legitimierenden Rückbezug auf eine Schriftkultur (bche) tritt in den Eingangsversen des Kanzlers der poetologisch geprägte Begriff des vindens hinzu (ze tihten truwe ich vinden,/ des wisent mich du̍ bch, 1Kanz/1/1, V. 3 f.), der als terminus der antiken Rhetorik (inventio) ebenfalls in eine gelehrte Tradition gehört. Es wird mithin die rhetorische Auffassung thematisiert, dass der dichterische Schaffensprozess ein ‚Finden‘ geeigneter Themen und Ausdrucksmittel in vorgängigen Texten ist.²⁶

 Nämlich über küneges Tirols buoch, wobei die in dieser Strophenreihe ausgebreitete Rätselallegorie ein bispel zitiert, das im – wohl gemeinten – Rätselgedicht von Tirol und Fridebrant nicht vorkommt; vgl. dazu: Der Spruchdichter Boppe. Edition – Übersetzung – Kommentar, hg. von Heidrun Alex. Tübingen 1998, hier S. 157.  Vgl. S. 4, Anm. 16. Da die thematisierten Inhalte aus der Physiologus-Tradition stammen, ist wohl dieses Buch gemeint. Im in V. 9 folgenden Anwurf Swer valsch singet,/ der mac wol wesen kunste blint (1Mei/12/1, V. 9, zit. nach Objartel), in dem valsch sich eindeutig auf die Inhaltsseite bezieht (nicht auf die musikalische), steht singen hier übrigens dem tihten relativ nah, vgl. S. 3, Anm. 9.  nu lobe den Misner, der kan me/ wen du; her leset in bůchen/ […]/ Von Werzebůrch meister Conrat,/ der besten singer einer,/ Der schrift in bůchen kunde hat,/ da von ist sin getichte vil die reiner, 1Rum/8/3, V. 3–12, Rumelant hier und im Folgenden zit. nach: Die Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen. Edition – Übersetzung – Kommentar, hg. von Peter Kern. Berlin/Boston 2014.  Anders Gert Hübner: Kap. IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 8. Rhetorische Verfahren und hermeneutische Muster. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 189–203, hier S. 202, der meint, dass die Sangspruchdichter die Herkunft ihres Wissens – mit seltenen Ausnahmen – grundsätzlich auf Gott zurückführten.  DWb, Bd. 3 Sp. 1644: „finden, erfinden […] in der bedeutung von erdichten und dichten wie sie ganz technisch dem romanischen trovare, prov. trobar beiwohnt“. Daneben begegnen vinden/vunt im 13. Jahrhundert als poetologisch geprägte Begriffe – ähnlich wie die poetologischen Begriffe tihten/ buoch etc. beispielsweise bei Konrad – zuerst vorwiegend in der Epik (Wolfram, Gottfried), dann aber zunehmend in der Lyrik, so beispielsweise beim Marner in der Polemik gegen Reinmar: du núwest mangen alten vunt (1Marn/3/3,V. 2, zit. nach Willms) und bei der Thematisierung des eigenen Schaffens (1Marn/6/17,V. 14–16, vgl. S. 7, Anm. 27), bei Frauenlob: Man sicht in miner vünde krame, swer da wil,/ des ringen vil./ man vünde ouch lichte daz tiure,/ hiure und ungehiure/ dem spehen scharf, dem slechten weich nach der witze stiure./ ez zimt daz hie, daz dort nicht zimt, daz dort, daz hie nicht zeme (1Frau/2/34

1.1 Begrifflichkeiten poetologischer Selbstbeschreibung

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Dabei lohnt es sich zu analysieren und zu differenzieren, was und wo ‚gefunden‘ wird und worauf sich die Sänger berufen: Der Marner beispielweise thematisiert Mitte des 13. Jahrhunderts das poetische vinden ebenfalls und beruft sich dabei dezidiert auf die vorgängigen sanges meister (1Marn/6/17)²⁷ und damit auf eine lyrische ‚Gattungstradition‘ (singen). Der Kanzler dagegen beruft sich über die bche auf einen gattungsexternen gelehrten Diskurs.²⁸ Der Marner etabliert beziehungsweise konsolidiert, indem er die Vorgänger, die sanges meister, als rühmenswerte Autoritäten stilisiert,²⁹ die eigene lyrische (Gattungs‐)Tradition und bestimmt auf dieser (selbstgeschaffenen) Basis sein eigenes Verhältnis zu ihr. Dass er dabei in der erwähnten Sangspruchstrophe weitestgehend Minnesänger als Autoritäten und deren Topoi als [GA V,114],V. 1– 6, zit. nach: Frauenlob [Heinrich von Meissen]: Leichs, Sangsprüche, Lieder, auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas, hg. von Karl Stackmann, Karl Bertau. 2 Tle., 1. Teil: Einleitungen, Texte, 2. Teil: Apparate, Erläuterungen. Göttingen 1981) und später beispielsweise im Herbstlied des Mönchs von Salzburg sölich fünd erdengk ich, wann ich trungken pin (W 47, V. 22, zit. nach: Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien, hg. von Christoph März. Tübingen 1999, S. 327).  Lebt von der vogelweide/ noh min meister her walther,/ der venis, der von rugge, zwene reimar,/ heinrich der veldeggære, wachsmůt, rubin, nithart!/ die sungen von der heide,/ von dem minne werden her,/ von den vogeln, wie die blůmen sint gevar (1Marn/6/17, V. 1–7, zit. nach Willms; vgl. dazu auch S. 8, Anm. 30); zugleich rechtfertigt der Marner hier aber den Sang derer, die jetzt leben: sanges meister lebent noh, si sint in todes vart./ Die toten mit den toten, die lebenden mit den lebenden sin!/ […] ich mit sange nieman truge./ lihte vinde ich einen vunt,/ den si vunden hant, die vor mir sint gewesen./ ich můs us ir garten und ir sprúche blůmen lesen (1Marn/6/17, V. 8–16, zit. nach Willms). Gerade in diesen Begrifflichkeiten deutet sich freilich gelehrte Bildung an (der Begriff der flores für die Redeblumen ist in der lateinischen gelehrten Tradition geläufig, ebenso Sammlungen solcher zur Textverfertigung, die den Begriff teils im Titel tragen, vgl. dazu Klaus Grubmüller: [Art.] Florilegium. In: RLW, Bd. 1, S. 605– 607, hier S. 606) – umso aussagekräftiger ist es, dass der Marner diesen Topos auf die eigene Sängertradition, den eigenen Diskurs, bezieht und nicht auf die Rezeption gelehrter Texte. Interessant in diesem Kontext ist auch die auf Latein verfasste Strophe des Marners 1Marn/7/19, die in der Aufzählung der sieben freien Künste durchaus gelehrtes Wissen ausstellt. Haustein, S. 117–121, 241–243, der die gelehrte Bildung des Marner allgemein für ungewiss hält, plädiert mit guten Gründen für eine Entstehung dieser lateinischen Strophe erst im 14. Jahrhundert In beiden Fällen stützt sie – wenn auch in unterschiedlicher Weise –, was beim Marner in 1Marn/6/17 zu beobachten ist: Stammt die lateinische Strophe von ihm, könnte man sie als Ausweis dessen verstehen, dass er, wenn er in der gelehrten Sprache dichtet, auch eine gelehrte Tradition und Ausbildung als Grundlage seiner Dichtkunst ausstellt, während er sich in der volkssprachigen Dichtung auf volkssprachige Vorbilder bezieht; ist die lateinische Strophe aber eine Nachdichtung aus dem 14. Jahrhundert, belegt sie vielmehr, wie anonyme Nachdichter unter dem Namen alter sangspruchdichterischer Vorbilder zunehmend gelehrtes Wissen in der Sangspruchdichtung etablieren.  Ganz anders noch Walther, beispielsweise im Reichston dô dâhte ich mir vil ange,/ wie man zer welte solte leben/ deheinen rât kunde ich mir gegeben (1WaltV/1/1 [L. 8,4],V. 6–8, hier und im Folgenden zit, nach: Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, zweite, verbesserte und erweiterte Auflage hg. von Ricarda Bauschke-Hartung. 2 Bde., Bd. 1: Spruchlyrik. Stuttgart 2011), der das Problem souverän erörtert, ohne dass ein Rückbezug auf vorgängige Quellen oder die Ausstellung eines Traditionsbezuges sichtbar wird.  1Marn/6/17, V. 1–4.

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vorbildhaft zitiert,³⁰ zeigt möglicherweise auch eine ‚Gattung‘ Sangspruch, die noch nicht voll etabliert ist und die er an eine vorhandene stabile lyrische Tradition (Minnesang) anzuknüpfen bestrebt ist, um an deren Geltung zu partizipieren. Die ostentative Etablierung einer lyrisch-mündlichen Tradition erscheint dabei noch pointierter, wenn, wie in der Forschung erwogen wurde, diese Berufung auf vorgängige Dichter tatsächlich auf den Literaturexkurs in Gottfrieds Tristan referiert.³¹ Damit griffe der Marner zwar zurück auf einen genuin schriftliterarischen Text (den er nicht nennt) und eine Passage, mit der dieser Text gerade seine Literarizität prominent betont, doch genau diese schriftliterarische Komponente blendet der Marner aus, indem er den Dichterkatalog Gottfrieds, der sich auch zentral auf die Epiker beruft, modifiziert, nämlich dezidiert keine Verfasser ausschließlich (schrift‐)literarischepischer Texte als vorbildhaft inszeniert, sondern nur solche, die auch oder vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten sind. In alledem zeigt sich die Etablierung beziehungsweise Konsolidierung eines eigenen Gattungsdiskurses. Der Kanzler ruft diesen etablierten Gattungsdiskurs nun über den Begriff des singens auf und stellt sich damit in eine lyrische Gattungstradition. Dass er die eigene Fähigkeit zu singen unter Vorbehalt äußert (ze singen ob ich mag, 1Kanz/1/1,V. 2), macht die topische Demutsformel insofern ebenfalls auf diese Gattungstradition hin lesbar, nämlich auf das sangspruchdichterische Selbstverständnis, dass die Fähigkeit zu singen für den Sänger nur bedingt verfügbar ist, weil sie göttlicher Inspiration bedarf (s. o.). Diesen sangspruchdichterischen Traditionsbezug komplementiert das SängerIch, wenn es konstatiert, es vinde das zum tihten Notwendige mit Hilfe der bch. ³² Das vinden, die inventio speist sich hier also – anders als noch beim Marner – nicht mehr aus der eigenen lyrischen Gattungstradition, sondern das Sänger-Ich des Kanzlers gibt vor, für sein poetisches Schaffen aus schriftlichen Quellen zu schöpfen, die es anleiten (wisen). Mit dieser Quellenberufung implementiert der Kanzler zum einen eine legitimationsfördernde Selbststilisierung in die Sangspruchdichtung, die als Legitimierungstopos der gelehrten – beziehungsweise am gelehrten Diskurs partizipierenwollenden – (Schrift‐)Tradition entstammt.³³ Zum anderen macht er damit deutlich, dass sein Sang nicht nur an einer lyrischen Tradition partizipiert, sondern auch an einer anderen, schriftliterarischen. Damit verweist das Sänger-Ich zudem darauf, dass es andere (Schrift‐)Texte gibt, um die es weiß und die sein Schaffen prägen. Die Art  Vgl. S. 7, Anm. 27. Natürlich sind von den hier Erwähnten teilweise auch Sangspruchstrophen überliefert, nämlich von Walther von der Vogelweide, Heinrich von Veldeke und den neben Reinmar dem Alten als ‚zweiter‘ Reinmar zur Diskussion stehenden Dichtern Reinmar der Fiedler und Reinmar von Brennenberg; was der Marner in dieser Strophe aber als das hervorhebt, was ihren Sang exzeptionell mache, fokussiert eindeutig ihren Minnesang (1Marn/6/17, V. 5–7), weswegen auch eine Identifikation Reinmars mit dem ‚von Zweter‘ unwahrscheinlich ist, vgl. Willms (Marner), S. 198 f., die einer Identifikation Reinmars mit ‚dem Fiedler‘ zuneigt.  Vgl. dazu Haustein (Marner-Studien), S. 18, anders Willms (Marner), S. 199, für die diese Indizien nicht stichhaltig sind.  Zur Austauschbarkeit von Singular und Plural (buoch/buoche) vgl. Grubmüller (buoch), bes. S. 42.  Vgl. Gerd Dicke: [Art.] Quelle. In: RLW, Bd. 3, S. 203–205, hier S. 151.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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dieser intertextuellen Beziehungen wird dabei nicht genauer bestimmt, aber es deutet sich ein Schaffens- und Transformationsprozess an: Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens ist die inventio, das Auffinden einer materia in den bch, also in vorgängigen (Schrift‐)Texten. Den auf das vinden folgenden Vorgang des tihtens könnte man als Transformation dieser materia zu einem Text begreifen, der zum Singen geeignet ist.³⁴ In diesen Versen etabliert das Sänger-Ich somit einerseits einen starken Gattungsbezug, stellt sich mithin in die Tradition sangspruchdichterischer Vortragspraxis, zum anderen betont es ausdrücklich seine Partizipation an anderen Texten (und Diskursen), die über den Prozess des tihtens seinem (lyrischen) Sang eingemeindet werden. Am Kanzler lässt sich insofern exemplarisch eine Veränderung im sangspruchdichterischen Selbstverständnis beobachten: Über den fortlaufenden Rekurs auf die eigene Gattung streben die Sangspruchdichter weiterhin eine Konsolidierung und Institutionalisierung der eigenen Gattungstradition an, zugleich etablieren sich zunehmend Rekurse auf schriftliterarisches – auch gelehrtes – Wissen, mit denen die Dichter sich in Konkurrenz zu den Gelehrten begeben.³⁵ Zwangsläufig entstehen dadurch intertextuelle Verflechtungen aus Referenzen auf die eigene Gattungstradition und auf gattungsexterne (gelehrte) Wissensbestände verschiedener Provenienz. Diesen Referenzphänomenen, dieser Intertextualität, möchte ich im Folgenden nachgehen.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung 1.2.1 Problemaufriss Intertextualität³⁶ wurde als Beschreibungsmodell vielfach in der germanistischen Mediävistik aufgenommen, auch wenn die Übertragung dieses Modells auf die mit-

 Womöglich steht im Hintergrund auch der Gedanke, dass die inventio nach Dietmar Till: [Art.] Inventio. In: RLW, Bd. 2, S. 180–183, hier S. 181, sowohl des ingeniums bedarf (das hier im singen aufgehoben wäre) als auch der Geschultheit (die hier die buoche repräsentieren).  Vgl. Klaus Grubmüller: Autorität und meisterschaft. Zur Fundierung geistlicher Rede in der deutschen Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposium 2006. Berlin/New York 2009, S. 689–711, hier S. 710 f.; Tobias Bulang, Sophie Knapp: Kap. V. Thematische Kerne 4. Artes und Wissen. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 250–259, hier S. 252–254; vgl. auch die parallel dazu verlaufenden Beobachtungen Roethes in: Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. von Gustav Roethe. Leipzig 1887, S. 186–192, wie das Verständnis des Begriffs der kunst sich von Walther bis Frauenlob wandelt; vgl. dazu auch Manuel Braun: Kap.V. Thematische Kerne 5. Kunst. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 260– 283.  Grundsätzlich stehen sich in der Intertextualitätsforschung zwei Positionen gegenüber, eine poststrukturalistische dekonstruktivistische in der Nachfolge des globalen Intertextualitätsbegriffs, den Kristeva im Anschluss an Bachtins Dialogizität geprägt hat (Vertreter dieser Position sind z. B.

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telalterliche Literatur nicht unumstritten ist. Einerseits hat Intertextualität sich hier tendenziell dagegen zu erwehren, lediglich als avancierteres Etikett für die sogenannte Quellen- und Einflussforschung verstanden zu werden, da in der mediävistischen Forschung beim Nachweis von Textreferenzen die Frage nach der Funktion dieser Referenzen auf einen anderen Text und damit das Kerninteresse der hermeneutischen Intertextualitätsforschung bisweilen aus dem Blick rückte.³⁷ Andererseits ist der Intertextualitätsbegriff für mittelalterliche Literatur diskussionsbedürftig, weil die entwickelten hermeneutisch operationalisierbaren Intertextualitätskonzepte³⁸ Riffaterre, Barthes, Culler, Derrida, Grivel, Leitch, Jenny, auch Bloom, die Kristevas Position teilweise noch radikalisieren), und eine eher strukturalistische Position, die versucht, ein hermeneutisch operationalisierbares Intertextualitätskonzept zur Analyse literarischer Texte zu entwerfen (z. B. Lachmann, Genette, Pfister, Broich, Helbig, Schulte-Middelich). Überblicksartig zu dieser Diskussion vgl. Caroline Emmelius: Intertextualität. In: Christine Ackermann, Michael Egerding (Hg.): Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2015, S. 275–316, hier S. 275–288.  Vgl. Emmelius (Intertextualität), S. 289 f.; Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchbüchlein und Geschichtklitterung. In: Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a. M. 1994, S. 63–109, hier S. 67 [Anm. 12]. Das teils fehlende theoretische und methodische Profil mediävistischer Intertextualitätsforschung wird laut Emmelius (Intertextualität), S. 293 f., auch dadurch begünstigt, dass die historische und kulturelle Distanz zu den Texten grundsätzlich eine Kultur des philologischen Kommentars und der Quellenangabe in einem anderen Maße verstärkt, als das bei modernen Texten der Fall ist.  Zu nennen wären hier besonders Gérard Genette: Palimpsestes: La littérature au second degré. Paris 1982 und Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich, Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1–30. Genette (Palimpsestes), S. 8–12, differenziert Text-Text-Beziehungen („Transtextualität“) in fünf Typen: 1. Intertextualität (effektive Präsenz eines Textes in einem anderen), 2. Paratextualität (Texte, die einen Text einrahmen), 3. Metatextualität (kommentierender Bezug auf einen anderen Text), 4. Hypertextualität (Überlagerung des Textes durch einen anderen, entweder durch Transformation [gleiches Thema anderer Stil] oder Imitation [gleicher Stil anderes Thema]) und 5. Architextualität (Bezug auf ein übergeordnetes System wie eine Gattung); Architextualität als intertextuellen Bezug zu werten, ist dabei umstritten (kritisch etwa Klaus W. Hempfer: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard). In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 7–43, hier bes. S. 7–22; Rolf Kloepfer: Grundlagen des „dialogischen Prinzips“ in der Literatur. In: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 85–106, hier S. 92 f.). Systemreferenz und Intertextualität sind aber in der Praxis kaum scharf voneinander abgrenzbar, vgl. dazu Pfister (Intertextualität), S. 18–20. Pfister (Intertextualität), S. 25–30, entwirft ein Bündel qualitativer und quantitativer Kriterien, um die Beschaffenheit intertextueller Bezüge skalierbar zu machen; qualitativ wird differenziert zwischen: 1. Referenzialität (Intensität der Thematisierung des anderen Textes), 2. Kommunikativität (Bewusstsein der Referenz bei Autor und Rezipient), 3. Autoreflexivität (Thematisierung der Intertextualität), 4. Strukturalität (syntagmatische Integration des anderen Textes), 5. Selektivität (Prägnanz der Verweisung), 6. Dialogizität (ideologische Spannung zum Prätext); quantitativ zwischen: 1. Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Verweisung, 2. Zahl und Streubreite der Prätexte.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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sich nur bedingt auf die spezifische Literatursituation des Mittelalters übertragen lassen. Diese Übertragungsschwierigkeiten haben sowohl mentalitätsgeschichtliche als auch praktische Gründe. Mentalitätsgeschichtlich betrifft dies das literarische Selbstverständnis: Der mittelalterliche Autor ist nicht in dem Sinne creator ³⁹ wie in neuerer Literatur, das Innovationspostulat ist keine Bedingung für ältere Literatur,⁴⁰ mithin stellt sich das Verhältnis des Autors zur Tradition beziehungsweise zu vorgängigen Texten hier deutlich anders dar. Der Bezug auf das Vorgängige ist in einem kaum institutionalisierten Literaturbetrieb auf andere und existentiellere Weise Teil notwendiger Legitimationsstrategien. Entsprechend hat die Tradition für die volkssprachliche mittelalterliche Literatur fraglose Geltung, sie ist „kollektiv gesicherter Besitz und Ausgangspunkt weiteren Fortschreitens“.⁴¹ Dieses Verhältnis zur Tradition verleiht Referenzen auf vorgängige Texte in älterer Literatur einen anderen Status: Intertextuelle Bezüge sind vorwiegend affirmativ hinsichtlich der literarischen Tradition, während die Intertextualitätsforschung zu neueren Texten bevorzugt subversive Textreferenzen fokussiert, ja teilweise (in der Nachfolge Bachtins)⁴² überhaupt nur solche als ‚echte‘ Intertextualität gelten lässt.⁴³ Neben diesen mentalitätsgeschichtlichen Aspekten stellen sich bei der Übertragung operationalisierbarer Intertextualitätsmethoden auf die volkssprachige

Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996, S. 83–138, skaliert zudem die Markierung intertextueller Bezüge („nicht markiert“, „implizit markiert“, „explizit markiert“, „thematisiert“). Funktionen von Intertextualität erweisen sich dagegen als schwer skalierbar, auch, weil dies Textdeutung erforderlich macht, vgl. Emmelius (Intertextualität), S. 289. Festhalten lässt sich aber, dass Intertextualität „eine Möglichkeit, eine Alternative, ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus literarischer Werke“ ist (Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von R. Lachmann „Dialogizität und poetische Sprache“. In: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 25–28, hier S. 26 f.), dass der „Dialog mit fremden Texten“ also eine „spezifische Form der Sinnkonstitution“ produziert, vgl. dazu Renate Lachmann: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Dialogizität, S. 8–10, hier S. 8 (Lachmann betrachtet Sinnkonstitution dabei nicht als monologische Sinnzentrierung, sondern vielmehr als eine entstehende Sinnkomplexion und -diffusion, vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der Russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 88–125).  Vgl. dazu u. a. Karl Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln.Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958, S. 66; ähnlich Haustein (Marner-Studien), S. 245: „Grundsätzlich – so wird man etwas zugespitzt sagen dürfen – hat der mittelalterliche Autor seine Aufgabe nicht im ‚Erfinden‘, sondern im Darstellen allgemeiner, auf die Schöpfungsordnung gegründeter Weisheiten gesehen“.  Vgl. Müller (Texte aus Texten), S. 67.  Müller (Texte aus Texten), S. 70 (allerdings auf die Frühe Neuzeit bezogen); vgl. auch Emmelius (Intertextualität), S. 290.  Vgl. Michael Riffaterre: Semiotics of Poetry. Bloomington u. a., S. 100, 109 f., 164–166, für den intertextuelle Bezüge nur dort vorliegen, wo eine semantische Spannung zwischen Text und Prätext besteht.  Vgl. Emmelius (Intertextualität), S. 287, die aber auch betont, dass grundsätzlich zu allen Zeiten immer sowohl affirmative als auch subversive Textreferenzen zu finden seien.

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mittelalterliche Literatur praktische Schwierigkeiten ein: Wo man es in der neueren Literatur mit einem institutionalisierten Literaturbetrieb, mit festen Texten, autorautorisierten Letztfassungen und im Idealfall womöglich sogar verbürgten Informationen über den Schaffensprozess zu tun hat, ist man in diesen Punkten in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters überwiegend mit Unsicherheiten konfrontiert. Wörtliche Übernahmen lassen sich hier nur selten nachweisen. Das ist einerseits dadurch bedingt, dass es keine gesicherte Textgestalt gibt:⁴⁴ Wenn ein Vers desselben Dichters schon in verschiedenen Handschriften variieren kann, wird die Nachweisbarkeit eines wörtlich übereinstimmenden Zitats aus dem Text eines anderen Autors nicht gerade wahrscheinlicher. Dabei gibt es natürlich Ausnahmen, beispielsweise, wenn der Prätext ein biblischer (lateinischer) Text ist, dessen wörtliche Gestalt gesichert, stabil und in klerikalen Kreisen umfassend verfügbar ist – und wenn womöglich zudem bekannt ist, dass der Autor/die Autorin dieser klerikalen Sphäre entstammt, mit dem Text also bekanntermaßen vertraut ist. So etwa bei Mechthild von Magdeburg, in deren Fließendem Licht der Gottheit unter zahlreichen Referenzen auf das Hohelied auch wörtlich übersetzte Zitate begegnen, die fraglos identifizierbar sind.⁴⁵ Dagegen lassen sich wörtliche Zitate aus anderen, besonders aus volkssprachlichen Prätexten in der mittelhochdeutschen Literatur relativ selten nachweisen. Das liegt aber – neben dem technischen Problem einer unfesten Textgestalt – andererseits offenbar auch daran, dass sich im Mittelalter grundsätzlich ein anderes Verständnis von ‚Zitat‘ beobachten lässt, nämlich eines, das eher Ähnlichkeit fordert als Identität, wie Panzer an zahlreichen Textbelegen plausibel machen kann.⁴⁶ Diese Textbelege bei Panzer sind allerdings wiederum in der Hinsicht Ausnahmen, dass die entsprechenden Textpassagen hier explizit als Zitat ausgewiesen werden: Der manifeste Text markiert und thematisiert mithin in diesen besonderen Fällen eine intertextuelle Referenz, die allein aus dem Wortlaut keineswegs ohne weiteres erkennbar wäre, da der Prätext nicht identisch wiedergegeben wird. Insofern drängt sich damit zugleich der Gedanke auf, dass eine derartige Markierung beziehungsweise Thematisierung des Zitatcharakters wohl nicht der Regelfall ist, das

 Ähnlich – aber stark abwertend – Friedrich Panzer: Vom mittelalterlichen Zitieren. Vorgelegt im Jahre 1948. Heidelberg 1950, S. 25 f.; vgl. dazu auch Elisabeth Lienert: Intertextualität in der Heldendichtung. Zu Nibelungenlied und Klage. In: Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hg.): Wolfram-Studien XV: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998, S. 276–298, hier S. 278, 295.  Vgl. dazu Emmelius (Intertextualität), S. 298–300, die hier zudem zeigen kann, dass Textreferenzen auf diesen Prätext teils auch eindeutig sein können, wenn kein direktes Zitat nachweisbar ist.  Rudolf Helmstetter: [Art.] Zitat. In: RLW, Bd. 3, S. 896–899, S. 896, definiert ‚Zitat‘ als „wörtliche Übernahme und Einfügung aus fremden Texten, meist mit Markierung und Nachweis der Quelle“, schränkt diese Wörtlichkeit aber für mittelalterliche Texte ein (S. 897), nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Studie von Panzer (Vom mittelalterlichen Zitieren), bes. S. 35 f. Als symptomatisch für diese Irrelevanz einer wortwörtlichen Wiedergabe betrachtet Panzer bereits die Tatsache, dass es im Mittelalter keine lexikalische Unterscheidung zwischen aequalis und similis gibt, sondern die mhd. Begriffe gelîche und anelîch bis ins 17. Jahrhundert synonym gebraucht werden.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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heißt im Normalfall derartige Markierungen fehlen und ‚Zitate‘ in mittelhochdeutschen Texten daher meist nicht ohne weiteres identifizierbar sind, weil eben keine Textidentität vorliegt. Derartige ‚Zitate‘ wären damit eher über Parameter der Anspielung zu erfassen und zu beschreiben. Als intertextuelle Bezugnahme lassen sich solche Allusionen insofern aber oft nicht fraglos belegen und somit auch nicht vorbehaltlos nach den geläufigen operationalisierbaren Intertextualitätskriterien beschreiben.⁴⁷ Natürlich bildet das (wörtliche) Zitat nur eine Form intertextueller Bezugnahme und es gibt daneben auch in mittelhochdeutschen Texten zahlreiche andere Varianten und Fälle eindeutiger Intertextualität (von denen einige sich auch durchaus über diese ‚modernen‘ Intertextualitätskriterien beschreiben lassen). Derartige intertextuelle Referenzen können beispielsweise durch das ‚Zitieren‘ ganz bestimmter Prätextelemente markiert sein, nämlich durch die Erwähnung von Namen anderer Autoren oder literarischer Figuren. Die epischen Texte Wolframs von Eschenbach beispielsweise bieten zahlreiche intertextuelle Anspielungen dieser Art. Er ruft etwa die Namen Walthers und Neidharts auf und referiert damit auf deren Lyrik,⁴⁸ zudem zitiert er zahlreiche Namen literarischer Figuren aus verschiedenen Epen und Romanen, zu denken wäre hier etwa an die intertextuelle Auseinandersetzung mit Hartmanns Artusromanen, Heinrichs von Veldeke Eneasroman oder dem Nibelungenlied, deren Figuren Wolfram namentlich nennt, ihnen typische Verhaltensweisen zuschreibt und sie darüber spielerisch-kritisch in Beziehung zu seinen eigenen literarischen Figuren setzt.⁴⁹

 Für eine Ausdifferenzierung solcher Kriterien vgl. bes. Manfred Pfister (Intertextualität); Ulrich Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Ders., Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 48–52; Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993.  So im Parzival (V. 297,24), wo er auf Walthers kritische Haltung gegenüber dem Thüringer Hof referiert, wohl auf 1WaltV/6/5 (L. 20,4); dass der ‚zitierte‘ Vers heute in Walthers Œuvre nicht mehr identifizierbar ist, wurde in der Forschung viel diskutiert. Gerade dieses nicht-wörtliche ‚Zitat‘ ist Panzer unter anderem Beleg für seine These zum mittelalterlichen Zitieren (s. o.). Auch im Willehalm referiert Wolfram auf Walther (V. 286,19, angespielt ist wohl der sogenannte „Spießbratenspruch“ 1 WaltV/5/2 [L. 17,11]); ebenfalls im Willehalm findet sich die Referenz auf Neidhart (V. 312,12–14). Hier fungieren die Verweise tendenziell affirmativ. Derartige affirmative Verweise finden sich auch etwa in der Heldenepik, beispielsweise, wenn Hildebrand im Nibelungenlied auf Personen und Orte aus dem Waltharius referiert und das Epos über diese Textreferenz Hagens Vorgeschichte aufruft (Str. 2344, zit. nach: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar hg. von Joachim Heinzle. Berlin 2013). Auch Dietrich referiert auf diese gemeinsame Vorgeschichte, ebd. V. 1756 f. Nach einem an modernen Texten geschulten Intertextualitätsbegriff wären gerade letztere Verweise aber wohl nur als schwach intertextuell einzustufen.  So beispielsweise im Parzival, wenn er Hartmanns Figuren Enite und Lunete kritisiert (V. 143,21– 144,4; 253,10 – 18; 436,5 – 10) oder den zagen Fürsten Liddamus sich mit dem Küchenmeister Rumolt aus dem Nibelungenlied vergleichen lässt (V. 420,26–30; 421,5–10); Wolfram spielt an dieser Stelle zudem auf Figuren aus Heinrichs von Veldeke Eneasroman (Turnus und Tranzes) und der Dietrichepik (Si-

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Solche Namensreferenzen werden im sogenannten Wartburgkrieg schließlich zu einer umfassenden Interfiguralität gesteigert: In der Fluchtlinie der Wolframschen Epik wird der Dichter Wolfram hier selbst zur literarischen Figur, die im sogenannten Rätselspiel metaleptisch seiner eigenen Romanfigur, dem Zauberer Klingsor aus dem Parzival, in einem Rätselwettstreit um die meisterschaft gegenübersteht.⁵⁰ In den nicht-fiktiven ‚Sängerfehden‘ der Sangspruchdichter, ihrem „literarische[n] Streit um literarische Geltung“,⁵¹ kann die namentliche Anrede von Dichterkonkurrenten ebenfalls intertextuelle Bezüge generieren.⁵² Bisweilen werden Textreferenzen hier selbst ohne Nennung eines Namens oder eines wörtlichen Zitats eindeutig, so etwa in der Replik des Meißner auf die Physiologusstrophe des Marners:⁵³ Obgleich er den Namen des Angegriffenen dezidiert verschweigt (zweifellos eine damnatio memoriae), bezieht er sich fraglos auf dessen Strophe, indem er, ohne den Prätext zu nennen, dessen Inhalte paraphrasiert. Dabei stellt er die Richtigkeit der Marnerschen Unterweisung polemisierend in Abrede und legitimiert so seine eigene Belehrung über die im Physiologus hergestellten allegorischen Zusammenhänge von Naturphänomenen und Heilsgeschichte.⁵⁴ Aber auch jenseits der Sangspruchdichtung begegnen markierte intertextuelle Bezüge in der mittelhochdeutschen Lyrik offenbar bevorzugt in polemisch-agonalen

beche und Ermenrich) an (V. 419,11–13; 421,23–28); umfassend dazu: Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‚Parzival‘. Frankfurt a. M. u. a. 1993, bes. S. 217–225, 268–276, 321–335.  Vgl. dazu Hedda Ragotzky: Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolframrolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. Stuttgart 1971, S. 48–64; Tobias Bulang: Intertextualität und Interfiguralität des ‚Wartburgkriegs‘. In: Gert Hübner, Dorothea Klein (Hg.): Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013. Hildesheim 2015, S. 127–145.  Vgl. dazu umfassend Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. München 1973, hier bes. S. 303.  Zu dieser Form von Intertextualität in der Sangspruchdichtung vgl. Mirjam Burkard: Sangspruchdichter unter sich. Namentliche Erwähnungen in den Sprüchen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. Heidelberg 2012; ähnliches ist zudem in Dichternachrufen zu beobachten: Frauenlobs Nachruf auf Konrad von Würzburg beispielsweise (1Frau/5/2) zeichnet sich im Bereich der Bildsprache durch intertextuelle Bezüge Frauenlobs auf Konrad aus, vgl. dazu auch: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger. Frankfurt a. M. 2006, Kommentar S. 885–888; Karl Stackmann: Bild und Bedeutung bei Frauenlob. In: Ders.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften. Hg. von Jens Haustein. Bd. 1. Göttingen 1997, S. 249–271, hier bes. S. 264, 267.  1Marn/7/15, 1Mei/12/1–4.  Die Überbietungsabsicht gegenüber dem Prätext schlägt sich dabei auch im Bildfeld der Heilung deutlich nieder (mit waren sange wil ich ü lugensanc leiden./ ein meisterarzt mac siechen wol machen gesunt, 1Mei/12/1, 12 f., zit. nach Objartel); woran der Meißner beim Marner genau Anstoß nimmt, auf welche Physiologus-Tradition sie sich jeweils stützen und weiteres wird unterschiedlich bewertet, vgl. zur Forschungsdiskussion Willms (Marner), S. 256 f.

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Zusammenhängen (ganz in der Fluchtlinie geläufiger intertextueller Modellbildung⁵⁵), beispielsweise im Minnesang, wenn Walther Reinmars Überloben der Dame und seine Kussraub-Phantasie parodistisch kritisiert. Die Textreferenz zeigt sich hier sowohl in inhaltlichen Responsionen als auch in der formalen kontrafaktischen Imitation des metrischen Schemas. Selbst die Handschrift (C) markiert diese intertextuelle Referenz (ein singuläres Phänomen), indem sie die redaktionelle Beischrift In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man einfügt und Walthers Lied damit explizit als Kontrafaktur ausweist.⁵⁶ Neben derartigen Fällen markierter Intertextualität (sei es explizit, implizit oder thematisiert) gibt es allerdings auch Fälle wie den folgenden: In seinem Minnelied „Si hât mich verwunt“ lässt Heinrich von Morungen das Sänger-Ich imaginieren, es könne mit dem Mund der Dame – gewissermaßen hinter ihrem Rücken – kommunizieren und ihn überreden, dass er es in den dienst der Dame befehle und ihm einen Kuss von ihr raube.⁵⁷ Dieses Kussraub-Motiv begegnet auch bei Reinmar („Ich wirbe umbe allez, daz ein man“), der sein Sänger-Ich die Idee ausspinnen lässt, es könne einen Kuss vom Mund der Dame rauben und diesen fortan bei sich tragen – und, so imaginiert er weiter, sollte die Dame ihn für diesen Raub vêhen, werde er ihn freilich sogleich wieder dorthin zurückbringen, wo er ihn geholt habe.⁵⁸ Mit dieser Pointe eines potenziellen zweiten Kusserwerbs durch das scheinbar versöhnliche Angebot einer ‚Rückgabe‘ übertrumpft er gewissermaßen Morungens Ausgestaltung des Motivs. Bei Walther findet sich dieses Kussraub-Motiv gleich zweimal, einmal in der bereits erwähnten Parodie auf Reinmar („Ein man verbiutet âne pfliht“), wo in Frauenrede das Verhalten derartiger Kussräuber getadelt wird, und ein weiteres Mal in „Si wunder wol gemachet wîp“. Dort formuliert das Sänger-Ich den Wunsch, er gewönne gern das küssen der Dame für seinen Mund, wobei er pointenreich die Zweideutigkeit des Wortes (‚Küs-

 Da „Dialogizität“, also die semantische und ideologische Spannung zum Prätext, nach Pfister (Intertextualität), S. 29, einen der Parameter zur Skalierung von Intertextualität darstellt, ist die intertextuelle Verweisung demnach umso stärker, je größer diese Spannung ist.  Dabei stimmt das Lied Walthers („Ein man verbiutet âne pfliht“ [L. 111,22]) metrisch nicht vollständig mit Reinmars „Ich wirbe umbe allez, daz ein man“ (MF 159,1) überein, vgl. dazu: Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, zweite, verbesserte und erweiterte Auflage hg. von Ricarda BauschkeHartung. 2 Bde. Stuttgart 2011, hier Bd. 2, Kommentar S. 616–618. Inhaltlich ist es aber überdeutlich ein parodistischer Kommentar auf Reinmar MF 159,1 (und auf „Ich wil allez gâhen“ MF 170,1), vgl. ebd. und: Reinmar der Alte: Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift B, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986, Kommentar S. 336– 338. Umfassend dazu: Ricarda Bauschke-Hartung: Die ‚Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999, hier S. 59–76; Walter Röll: Zum Zitieren als Kunstmittel in der älteren deutschen Lyrik. In: PBB 105 (1983), S. 66–79.  Heinrich von Morungen „Si hât mich verwunt“ (MF 141,37), Str. 1, V. 7–10.  Reinmar der Alte „Ich wirbe umbe allez, daz ein man“ (MF 159,1), Str. 3, V. 2; 5–9.

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sen‘/‚Kissen‘) ausspielt und so die vorherigen Ausformungen des Motivs abermals überbietet.⁵⁹ Deutlich lässt sich hier eine intertextuelle Motivkette beobachten, obwohl speziell zwischen Morungen und Reinmar, aber auch in Walthers „Si wunder wol gemachet wîp“, keinerlei Markierung der Textreferenz vorliegt. Schlagende Plausibilität gewinnt die Interpretation der Motivresponsionen als intertextuelles Geflecht in diesem speziellen Fall durch die außergewöhnliche Tatsache, dass Walthers Kenntnis des Reinmarschen Kussraub-Motivs durch seine andere Parodie darauf („Ein man verbiutet âne pfliht“) fraglos gesichert ist.⁶⁰ Damit wird Walthers Wiederaufnahme dieses Motivs in „Si wunder wol gemachet wîp“ – auch über die parallele Ausgestaltung des Motivs hinaus – unstrittig als intertextuelle Referenz auf Reinmar belegbar. Nicht im gleichen Maße deutlich ist dagegen die intertextuelle Bezugnahme Reinmars auf Morungen (oder Morungens auf Reinmar), stünde sie nicht vor dem Hintergrund dieses intertextuellen Geflechts. Ohne dieses ließe sich eine bewusste Bezugnahme zwischen Reinmar und Morungen also weniger überzeugend plausibilisieren, zumal Morungens Ausgestaltung des Motivs von derjenigen Reinmars (und Walthers) deutlich differiert (die beide mit der Idee einer Rückgabe des kusses/küssens spielen). Gerade solche Fälle nicht markierter und damit ungesicherter Intertextualität wie hier bei Morungen begegnen besonders zahlreich in der Sangspruchdichtung. Die darin enthaltenen intertextuellen Referenzen zu belegen und präzise zu beschreiben wird allerdings nicht nur durch die mangelnde Markierung erschwert, sondern auch durch eine Reihe gattungsspezifischer Eigenheiten. So wissen wir über Person, Lebensumstände und Bildung der Sangspruchdichter aufgrund ihrer Lebensform als Berufsdichter und Fahrende oft noch weniger als ohnehin über mittelalterliche Autoren.⁶¹ Verlässliche autobiographische Informationen und Informationen über ihr Bildungsniveau lassen sich aus ihrem literarischen Werk nur bedingt erschließen,⁶² auch aufgrund einer gewissen Rollenhaftigkeit der Selbstdarstellung;⁶³ außerlitera-

 „Si wunder wol gemachet wîp“ (L. 53,25), Str. IV, V. 1–10; ausführlich dazu Bauschke-Hartung (‚Reinmar-Lieder‘ Walthers), bes. S. 109–133; Belege zum Kussraub in der Romania, vgl. Ernst Schmidt: Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge. Eine litterarhistorische Untersuchung. Strassburg 1874, S. 44 f.  Und zudem, weil die Dichte von Textreferenzen zwischen Reinmar und Walther grundsätzlich eine ‚Kommunikation‘ dieser Dichter anzeigt,vgl. dazu Günther Schweikle: Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung. In: ZfdA 115 (1986), S. 235–253; Bauschke-Hartung (‚Reinmar-Lieder‘ Walthers).  Vgl. Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 201; Sabine Obermaier: Kap. III. Pragmatische und mediale Kontexte 2. Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 56–63.  Vgl. Tervooren (Sangspruchdichtung), S. 24; Obermaier (Status und Bildungsvoraussetzungen), S. 62.  Gegen das Verständnis der Dichtung als Erlebnislyrik u. a. Haustein (Marner-Studien), S. 2, allgemein zur Übernahme verschiedener Rollen durch die Sangspruchdichter: Claudia Lauer: Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 2008.

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rische Quellen liegen zudem nur selten in größerem Umfang vor.⁶⁴ Damit lässt sich auch die Schaffenszeit einiger Dichter (und lassen sich vor allem ihre Lieder) nur ungefähr datieren, wodurch intertextuelle Bezugnahmen teils schwer zu chronologisieren sind. Das heißt, es lässt sich bei intertextuellen Befunden zwischen Sangspruchdichtern nicht immer klar feststellen, welcher Text der manifeste und welcher der Prätext ist – und teilweise auch nicht, welche Texte außerhalb der Gattung einem Dichter bereits vorgelegen haben könnten. Zudem verunklärt die Fahrendenexistenz der Sangspruchdichter, mit welchen Dichtern und Quellen sie in Kontakt gekommen sein könnten. Problematisch ist darüber hinaus, dass eine ihrer ganz zentralen Quellen vermutlich die Predigt war,⁶⁵ wie die Konkurrenz der Sangspruchdichter mit den Bußpredigern beziehungsweise die sangspruchdichterische Usurpation des Bußprediger-Amtes zeigt.⁶⁶ Da die Predigt allerdings primär mündlich vermittelt und auditiv rezipiert wurde,⁶⁷ sind diese Texte für uns heute in der Regel nicht mehr zugänglich. Insofern ist nicht rekonstruierbar, was die Sangspruchdichter ihnen entnommen haben könnten.⁶⁸ Anhand der erhaltenen verschriftlichten Predigtsammlungen⁶⁹ lässt sich hier zwar ein Überblick über geläufige Topoi, Motive, Exempel-

 Selbst wenn sie Erwähnung finden, gibt dies meist nur punktuell Auskunft, so etwa die berühmte Eintragung ins Ausgabenregister des Bischofs Wolfger von Erla, laut der dem cantor Walther Geld für einen Pelzrock zugeeignet wird (am 12.11.1203 in Zeiselmauer), vgl. Gerhard Hahn: [Art.] Walther von der Vogelweide. In: ²VL, Bd. 10, Sp. 665–697, hier Sp. 669 f.; eine weitere Besonderheit stellt die chronikalische Schilderung der Grablege Frauenlobs dar, vgl. Karl Stackmann: [Art.] Frauenlob. In: ²VL, Bd. 2, Sp. 865–877, hier Sp. 868. Damit liegt der Fall bei den Sangspruchdichtern anders als etwa bei den Minnesängern ab dem 13. Jahrhundert, die als Adelige bisweilen urkundlich verbürgt und damit eindeutiger zumindest datier- und lokalisierbar sind.  Seit dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts erlebt diese Gattung einen extremen Aufschwung (Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer: [Art.] Predigt. In: RLW, Bd. 3, S. 151– 156, hier S. 152) und übt aufgrund ihrer Relevanz und Verbreitung großen Einfluss aus; vgl. dazu Klaus Wolf: Kap. IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 4. Predigt und andere geistliche Prosa. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 154– 158. Exemplarisch zeigt etwa Haustein (Marner-Studien), S. 25 – 31, 240, an einer Strophe des Marners, inwiefern diese sich als Referenz auf die Predigt verstehen ließe.  Vgl. dazu Stackmann (Heinrich von Mügeln), S. 176 – 179, der konstatiert, dass die Sangspruchdichter beanspruchten, „bei allem schuldigen Respekt vor der Würde des einen rechten Glaubens, ein Lehrer dieses Glaubens zu sein so gut wie der von der Kirche verordnete Priester“, ebd., S. 176 f.; vgl. dazu auch Grubmüller (Autorität), S. 703 f.; umfassend zur Konkurrenz von Sangspruchdichtern und Bußpredigern: Kästner (Sermo vulgaris).  Sie dient als „zentrale[s] Medium autorisierter religiöser Kommunikation“ und lässt sich als „Genre persuasiver Rede“ beschreiben, vgl. Hasebrink/Schiewer ([Art.] Predigt), S. 151.  Vgl. Bulang/Knapp (Artes und Wissen), S. 251 f.  Beispielsweise Honorius Augustodunensis Speculum ecclesiae, die Leipziger Predigtsammlungen und die Predigtsammlung des Priester Konrad bis zum Einsetzen der Bettelorden-Predigt im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts. Prägend für das 13. Jahrhundert sind besonders drei Predigtkomplexe, nämlich die St. Georgener Predigten (Mitte 13. Jahrhundert), die Predigten Bertholds von Regensburg und die Schwarzwälder Predigten (Ende 13. Jahrhundert), vgl. Hasebrink/Schiewer ([Art.] Predigt), S. 153; HansJochen Schiewer: [Art.] Predigt. B. Volkssprachliche Literaturen des Westens. I. Deutsche Literatur. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 174–176, hier Sp. 174 f.

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erzählungen und zentrale Diskurse der Predigt gewinnen. Spezifische, den Dichtern bekannte Prätexte werden dabei aber kaum greifbar. Ganz zu schweigen ist bei all dem von potenziellen Text- (und das heißt auch Prätext‐)verlusten, die für mittelalterliche, besonders volkssprachige Texte immer miteinzukalkulieren sind. Deutlich zeigt sich mithin, dass die Texte, auf welche die Sangspruchdichter referieren – also die ‚Prätexte‘ einer Intertextualität in der Sangspruchdichtung –, sich nicht systematisch und umfassend erfassen lassen. Wir haben es mit einem lückenhaften Archiv zu tun.

1.2.2 Methodenbildung Dennoch meine ich – wie auch die Analyse der Eingangsverse des Kanzlers anzeigt –, dass es sich lohnt, Sangspruchstrophen intertextuell zu untersuchen. Das gilt selbst dann, wenn sich kein spezifischer Prätext mehr greifen lässt, auf den referiert wird, und auch wenn potenzielle intertextuelle Bezugnahmen sich häufig nicht chronologisieren und zudem selten zweifelsfrei belegen lassen, weil wir es kaum je mit wortgenauen Zitaten größeren Umfangs oder mit deutlich markierten⁷⁰ Textreferenzen zu tun haben.⁷¹ Denn trotz dieser schwierigen Ausgangslage, die für einzelne Textreferenzen den Nachweis bisweilen höchst problematisch macht, ist doch nicht zu übersehen, dass sich diese Gattung wie kaum eine andere in einem weiten Geflecht von Texten und Diskursen vernetzt. Diese Vernetzung – so meine These – ist geradezu charakteristisch für die Sangspruchdichtung. Sie übernimmt Versatzstücke und Charakteristika aus verschiedensten Texten und Diskursen und eignet sie sich an, um möglichst breit zu partizipieren. Intertextualität erscheint damit als zentrales dichterisches Verfahren dieser Gattung. Um dieses Partizipationsverhalten angemessen untersuchen und beschreiben zu können, soll im Folgenden ein Intertextualitätsbegriff profiliert werden, der diese spezifische Ausgangslage durch eine ‚weite‘ Konzeption zu berücksichtigen vermag. Dieser Intertextualitätsbegriff soll insofern auch Textreferenzen einschließen, die nach grundlegenden Kriterien für Intertextualität, wie sie etwa Pfister zu deren Ska-

 Heinrich F. Plett: Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik. In: Ulrich Broich, Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 78–98, hier S. 84–86, differenziert zwischen impliziter und expliziter Markierung; Helbig (Intertextualität und Markierung), S. 83–138, skaliert dann noch differenzierter (von nicht markierter über implizite und explizite bis zu thematisierter Intertextualität); allerdings stehen die meisten der von Plett und Helbig referierten Möglichkeiten der Markierung grundsätzlich eher für neuere (gedruckte) Literatur zu Gebote, besonders Kategorien wie „graphemische[ ] Indikatoren“ oder Markierung durch diachrone, diatopische oder diastratische Kodewechsel, vgl. dazu Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 85.  Außer – wie oben, S. 14, Anm. 50–52 ausgeführt – bei namentlichen Nennungen anderer Dichter in ‚Sänger-Fehden‘ (vgl. dazu Wachinger [Sängerkrieg]) und Nachrufen (beispielsweise Frauenlobs auf Konrad 1Frau/5/2).

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lierung entworfen hat, eher in den „Rand-“ als in den „Kerngebieten“ der Intertextualität zu lokalisieren wären.⁷² Merkmale nämlich wie etwa ‚wörtliche Übereinstimmung‘⁷³ und ‚Markierung‘,⁷⁴ die nach Pfister/Broich für intertextuelle Referenzen in neuerer Literatur zentral sind, werden der spezifischen Anlage zahlreicher Phänomene in mittelhochdeutschen literarischen Texten (besonders der Sangspruchdichtung) gerade nicht gerecht, obgleich sich diese Phänomene dennoch als intertextuelle Referenzen begreifen lassen. Ein ‚weiter‘ Intertextualitätsbegriff hingegen kann der breiten Vernetzung der Sangspruchdichtung gerecht werden, indem er sowohl Einzeltextreferenzen als auch Referenzen auf gesamte Gattungen sowie auf literarische und außerliterarische Diskurse miteinschließt. Um diese „Einzeltext“- und „Systemreferenzen“⁷⁵ präzise beschreiben zu können, möchte ich im Folgenden an Broich und Pfister anschließen, die jene Differenzierung in ihrem wegweisenden Band zur Intertextualität eingeführt und

 Vgl. Pfister (Intertextualität), S. 25–30.  Nach Pfister (Intertextualität), S. 28, verstärkt die wörtliche Übereinstimmung die intertextuelle Intensität, so heißt es zum Kriterium der „Selektivität“: „Dabei kommt schon einem wörtlichen Zitat […] eine größere intertextuelle Intensität zu als einer Anspielung, die sich pauschal auf den ganzen Prätext oder zumindest einen größeren Aspekt davon bezieht. […] Und analog ist der Verweis auf einen individuellen Prätext prägnanter und damit intensiver intertextuell als der Bezug auf die Normen und Konventionen einer Gattung, auf bestimmte Topoi und Mythen oder auf noch abstrakter definierte textkonstituierende Systeme. Den harten Kern markiert hier also das wörtliche Zitat aus einem individuellen Prätext“, ebd.  Markierung beeinflusst die Stärke der intertextuellen Verweisung nach Pfister/Broich maßgeblich, weil sie wesentlich für die „Kommunikativität“ intertextueller Verweisung sei, also notwendig für einen gelingenden Kommunikationsprozess zwischen Autor und Rezipient (d. h. ein Bewusstsein für die intertextuelle Referenz und wechselseitiges Bewusstsein dieses Bewusstseins), der wiederum intertextuelle Referenzen verstärke, Pfister (Intertextualität), S. 27; Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Ders., Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 31–47, hier S. 31. Broich systematisiert im Folgenden (S. 35–46) verschiedene Markierungsformen: Markierung 1. in „Nebentexten“ (z. B. Titel), 2. im „inneren Kommunikationssystem“ (z. B. Figurenverhalten), 3. im „äußeren Kommunikationssystem“. Für mittelalterliche Lyrik übertragbar scheint hauptsächlich die letzte Kategorie (z. B. Namensnennungen), meist jedoch scheint hier keine eindeutige Markierung vorzuliegen. Nach Broich sind Markierungen verzichtbar, wenn auf Texte referiert wird, „die einem breiteren Leserpublikum bekannt“ sind (S. 32), oder wenn ein Autor für einen (exklusiven) „Kreis von Kennern“ schreibt (S. 43). Für die spezifische Literatursituation des Mittelalters ist jedoch für die meisten Prätexte schwer ermittelbar, ob sie „einem breiteren Leser- [beziehungsweise zuhörenden, Anm. d. Verf.] Publikum bekannt“ sind und daher auf Markierung verzichtet wird. Dass auch in mittelhochdeutscher Literatur manche intertextuellen Verweise vielleicht auf einen (exklusiven) „Kreis von Kennern“ abzielen, darauf könnte in der Sangspruchdichtung möglicherweise die auffällige Selbstbezüglichkeit der Gattung (wie sie sich beispielsweise in der Polemik zeigt) ein Hinweis sein.  Broich (Einzeltextreferenz), S. 48–52; Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Ulrich Broich, Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 52–58.

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an neuerer anglistischer Literatur gewinnbringend erprobt haben.⁷⁶ Ich möchte diese Begriffe jedoch für mein Untersuchungsfeld anpassen, um sie für die hier als untersuchenswert eingestuften Fälle intertextueller Referenzen in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung operationalisierbar zu machen.

1.2.2.1 Einzeltext- und Systemreferenz Einzeltextreferenz definiert Broich als Textreferenz auf einen spezifischen Prätext eines bestimmten Autors.⁷⁷ Dieser Definition möchte ich mich in den folgenden Analysen anschließen, sie aber in zweierlei Hinsicht erweitern. Zum einen sollen darunter auch intertextuelle Bezugnahmen eines Autors auf eigene, aber eigenständige Texte fallen, die bei Broich in einer nicht ganz klar abgegrenzten Randzone zwischen Intratextualität (Autotextualität) und Intertextualität stehen.⁷⁸ Zum anderen scheint es mir für die spezifische Situation mittelalterlicher Literatur (und besonders der Sangspruchdichtung) sinnvoll, die Broichsche Definition auch auf Prätexte auszuweiten, für die kein Autor und/oder keine spezifische Textversion greifbar ist/sind. Denn bisweilen, beispielsweise bei Textparaphrasen, kann hier durchaus ein bestimmter Text als Prätext erkennbar sein und dennoch ungewiss bleiben, in welcher Version oder Bearbeitung er dem Verfasser des manifesten Textes vorgelegen hat. Es handelt sich also um Prätexte, deren Geschichte/Narrativ zeitgenössisch offenbar verbreitet und bekannt ist, für die es die spezifische Literatursituation des Mittelalters allerdings – gerade auch wegen dieser Bekanntheit und Verbreitung der Texte – oft verwehrt, letztgültig festzustellen, in welcher Form sie dem Verfasser des manifesten Textes vorgelegen haben. Derartige Prätexte können etwa biblische Versatzstücke sein, bei denen oft nicht zu entscheiden ist, ob der Prätext die Bibel selbst ist oder sekundäre Quellen, in denen Ausschnitte aus der Bibel verarbeitet sind (z. B. Bibeldichtung, Liturgie). Ähnliches gilt für die in der Sangspruchdichtung begegnenden Fabel-Versatzstücke oder etwa für Mythen. Referenzen auf letztere klassifiziert Pfister als Systemreferenz, weil „(1) Mythos mehr ist als eine Sammlung einzelner Erzählmotive, nämlich deren Verknüpfung zu einem System, und weil (2) ein mythologischer Text kaum je auf einen einzelnen Text zurückgreift, in dem dieser Mythos schon gestaltet war, sondern auf eine ganze Serie von Varianten“⁷⁹. Gerade mit diesem zweiten

 Ulrich Broich, Manfred Pfister, unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985.  Vgl. Broich (Einzeltextreferenz), S. 48–50; dabei können im manifesten Text selbstverständlich Einzeltextreferenzen auf mehrere Prätexte vorliegen, ebd., S. 50.  Vgl. Broich (Einzeltextreferenz), S. 49 f.  Pfister (Systemreferenz), S. 56; zugleich problematisiert/relativiert Broich (Einzeltextreferenz), S. 51, dies in seinen Überlegungen zur Einzeltextreferenz: „Auch wenn sich ein Text auf einen Mythos als Folie bezieht, ist oft schwer zu entscheiden, ob es sich bei dem Bezugstext um eine ganz bestimmte sprachliche Ausformung des Mythos oder um den hinter den einzelnen sprachlichen Ausformungen liegenden Mythos selbst oder nur um eine mythische Struktur handelt“.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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Punkt wären die von mir ‚neu‘ der Einzeltextreferenz zugeschlagenen Prätexte nach Pfisterscher Skalierung wohl eher als Systemreferenz einzustufen. Ich halte aber für mittelalterliche Texte eine andere Bewertung für angebracht und sinnvoll, da hier grundsätzlich selten je hinter verschiedene Versionen eines bestimmten Textes zurückzukommen ist, mithin mit einem unfesten Textbegriff gearbeitet werden muss. In der Fluchtlinie dieses Textverständnisses möchte ich also alle Phänomene als Einzeltextreferenz fassen, bei denen ein bestimmter zugrundeliegender Text oder eine ‚Geschichte‘ auszumachen ist, unabhängig von verschiedenen Versionen derselben, unabhängig von eben dieser „eine[n] ganz bestimmte[n] sprachliche[n] Ausformung“.⁸⁰ Der Einzeltextreferenz steht bei Broich/Pfister die Systemreferenz gegenüber, bei deren Beschreibung Pfister drei Ebenen unterscheidet: Als „äußerste[ ] Randzone“ der Systemreferenz begreift er den „Bezug auf die sprachlichen Codes und das Normensystem der Textualität“;⁸¹ prägnanter werde die Referenz, wenn sie sich auf ein „ausdifferenziertes Subsystem“ der langue beziehe, also auf „ein[en] bestimmte[n] Diskurstyp“ (auch nicht-literarische Sprach- und Textformen);⁸² eine weitere Einengung des Begriffes bedeute es, wenn speziell auf literarische Schreibweisen und Gattungen referiert würde.⁸³ In der Rezeption des Pfisterschen Beschreibungsmodells hat sich für den Begriff der Systemreferenz vor allem eine Anwendung auf diese engste Definition, das generische Verständnis, etabliert.⁸⁴ Da aber in der Sangspruchdichtung meines Erachtens gerade auch der Referenz auf verschiedene Diskurse maßgebliche Bedeutung zukommt, möchte ich den Begriff der Systemreferenz in seiner weiteren Bedeutung (zweite Ebene nach Pfister) ernstnehmen, wie sie auch bei Genette in dessen Konzept der Architextualité angelegt ist.⁸⁵ Um aber dennoch präzise zu beschreiben, auf welchen Typ von System ein Text sich bezieht, soll im Folgenden unterschieden werden zwischen einer Systemreferenz des zweiten von Pfister beschriebenen (diskursbezogenen) Typus, die ich ‚Diskursreferenz‘ nennen möchte, und des dritten (generischen) Typus, die ich als ‚Gattungsreferenz‘ bezeichnen will. Mit ‚Diskursreferenz‘ meine ich dabei den Bezug auf einen bestimmten Diskurstyp und zwar genau in dem Sinne, in dem Pfister das in seiner Theoriebildung beschreibt: „Solche Diskurstypen sind z. B. der religiöse, der philosophische, der wissenschaft-

 Broich (Einzeltextreferenz), S. 51.  Pfister (Systemreferenz), S. 53.  Vgl. Pfister (Systemreferenz), S. 54 f.  Vgl. Pfister (Systemreferenz), S. 55 f.; für die Intensität solcher intertextuellen Verweisung ist dabei nach Pfister wesentlich, inwieweit vorgegebene Gattungsmuster nicht einfach fortgeschrieben, sondern beispielsweise durchbrochen oder thematisiert werden, ebd., S. 56.  Vgl. Emmelius (Intertextualität), S. 283; gegen diese allgemeine Forschungstendenz betont Holthuis (Intertextualität), S. 51–88, die Bedeutsamkeit eines weiten Begriffs von Systemreferenz und erarbeitet eine differenzierte Systematisierung derartiger Verweisrelationen.  Siehe oben, S. 10, Anm. 38. Genette (Palimpsestes), S. 7, versteht Architextualität als „l’ensemble des catégories générales, ou transcendantes – types de discours, modes d’énonciation, genres littéraires, etc. – dont relève chaque texte singulier“.

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liche oder der politische, oder, noch pointierter, eine historisch-spezifische Ausformung solcher Diskurstypen, hinter denen immer auch bestimmte Sinnsysteme stehen“.⁸⁶ Ich möchte damit für die folgende systematische Analyse intertextueller Referenzen in Sangspruchstrophen also eine Trias möglicher Referenzkategorien entwerfen, die mit Einzeltext-, Gattungs- und Diskursreferenz vorerst verschiedene Bezugsebenen differenziert. Diese schließen sich dabei selbstverständlich nicht gegenseitig aus, vielmehr kann es zu Interferenzen kommen, in denen die intertextuelle Referenz auf einen Prätext diesen etwa sowohl in seiner individuellen (Einzeltextreferenz) als auch in seiner generischen (Gattungsreferenz) Verfasstheit aufruft.⁸⁷ Gerade deswegen scheint es mir notwendig und lohnenswert, die verschiedenen Referenzebenen zu differenzieren und ihre jeweilige Wirkungsweise/Funktion zu beschreiben. Für das weitere Vorgehen stellen sich im Folgenden besonders zwei Fragen: 1. Auf welche konkreten Einzeltexte, Gattungen und Diskurse beziehen sich intertextuelle Referenzen in Sangspruchstrophen? 2. Worin manifestieren sich diese Referenzen konkret, d. h. auch: wie lassen sie sich erkennen und identifizieren? Was die erste dieser Fragen angeht, scheint es mir einerseits geboten, den Blick darauf zu richten, inwiefern Referenzen auf die eigene Gattung erfolgen, das heißt konkret: innerliterarischen Bezügen auf Strophen desselben Themas nachzugehen und diese Bezugnahmen auszuwerten. Damit rückt auch der selbstreferentielle Charakter der Gattung in den Blick, den es zu untersuchen gilt, nämlich herauszustellen, inwiefern sich die Sangspruchdichtung über intertextuelle Bezugnahmen selbst zum Thema macht. Andererseits wäre hinsichtlich dieser Frage nach konkreten Prätexten zu berücksichtigen, dass es der Sangspruchdichtung – wie bereits betont – wesenhaft ist, an möglichst vielen Diskursen (teils in Form anderer Gattungen) zu partizipieren und zwar sowohl an inner- als auch außerliterarischen. Dabei wäre zu analysieren, wie sie bei dieser Partizipation verfährt, woher sie welche Inhalte, Themen, Topoi übernimmt und sich aneignet – und vor allem auf welche Art und Weise sie dies tut.

1.2.2.2 Referenzstrategien und deren Markierung Diese Partizipation beziehungsweise Bezugnahme manifestiert sich – um vorerst auf die zweite der aufgeworfenen Fragen zu antworten – meines Erachtens in drei ver-

 Pfister (Systemreferenz), S. 54.  Das betont auch Broich (Einzeltextreferenz), S. 51, und exemplifiziert es unter anderem am Don Quijote, der gleichermaßen auf den Amadis verweise wie auf die Gattung des Ritterromans; trotz (ich würde sogar sagen ‚gerade wegen‘) dieser Interferenz von Einzeltext- und Systemreferenz betont Broich aber die Notwendigkeit, diese zu differenzieren. Mit Blick auf Diskursreferenzen betont Pfister (Systemreferenz), S. 55, wiederum, dass hier durchaus bisweilen Einzeltexte (Traktate o. ä.) erkennbar sein können, aber je nach Fall dennoch deutlich werde, ob es sich dominant um eine Einzeltext- oder eine Diskursreferenz handele.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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wandten Referenzstrategien, nämlich Zitat, Anspielung und Paraphrase, die ich im Folgenden für meinen Zugriff präziser konturieren möchte. Als wohl eindeutigste Form intertextueller Referenz kann – wie oben bereits ausgeführt – das Zitat gelten. Plett definiert es als „ein aus einem Prätext abgeleitetes Sprachsegment, das in einen (Folge‐)Text eingelassen ist, wo es ein proprie-Segment substituiert“.⁸⁸ Nach Plett kann es dabei über Verfahren wie Addition, Subtraktion, Substitution, Permutation oder Repetition transformiert werden.⁸⁹ Derartige Transformationen verweisen in ihrem intertextuellen Spiel mit der Wortgestalt des Zitates zugleich auf die Relevanz der Wörtlichkeit und erhalten sie zumindest partiell. Ein anderes Verständnis von Zitat lässt sich – wie bereits dargelegt – im Mittelalter beobachten, das auch Abweichungen weit jenseits solcher Transformationsprozesse zu erlauben scheint.⁹⁰ Daneben verunklärt aber, wie gesagt, auch die ungesicherte Textgestalt mittelhochdeutscher Texte die Identifikation wörtlicher Zitate. „Mit zunehmender Modifizierung des verbalen Materials“ allerdings „[verwischen] die Grenzen zwischen unterschiedlichen Referenzstrategien (z. B. zwischen Zitat, Paraphrase und Allusion)“, wodurch die „prototypische Zuordnung“ zu einem bestimmten Referenztyp nicht mehr sinnvoll ist, sondern stattdessen eine Skalierung „mehr oder weniger eindeutiger Zitate, Allusionen etc.“ notwendig wird.⁹¹ Wiewohl Holthuis bei dieser Feststellung von gezielten autorautorisierten Modifikationen ausgeht, lässt sich diese Beobachtung auch auf die dargelegte Situation mittelhochdeutscher Texte übertragen. Entsprechend ist der Zitat-Begriff im heutigen Sinne einer wörtlichen Übernahme verbalen Materials für mittelhochdeutsche Literatur zwar nicht zu verwerfen, wird sich aber in den seltensten Fällen auf umfangreichere Passagen präzise anwenden lassen,⁹² da solche aufgrund mangelnder wortwörtlicher Übereinstimmung meist eher im Grenzbereich zu beziehungsweise im Bereich von Anspielung und Paraphrase liegen. Das wird gerade auch etwa im Fall von Diskursreferenzen deutlich, wo die Referenzbildung sich vorwiegend im Aufrufen, im ‚Zitieren‘ bestimmter, für den jeweiligen Diskurs typischer Topoi manifestiert. Im Gegensatz zum Zitat lässt sich die Paraphrase fassen als „reine Wiedergabe des Dargestellten mit anderen Worten, aber unter möglichst weitgehender Wahrung des

 Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 81; Plett beschreibt das Zitat darüber hinaus als „klar definiertes intertextuelles Sprachsegment“, dem eine „heuristische Schlüsselfunktion“ zufalle, weil es die „Gewinnung systematisierbarer Erkenntnisse“ erleichtere und sich beispielsweise nach „Gesichtspunkten wie Ähnlichkeit, Umfang, Markiertheit und Frequenz“ erfassen lasse, ebd., S. 87.  Vgl. Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 82.  Vgl. oben, S. 12, Anm. 46; dazu Panzer (Vom mittelalterlichen Zitieren); Helmstetter ([Art.] Zitat), S. 897.  Holthuis (Intertextualität), S. 105; vgl. dazu auch Jürgen Stenzel: [Art.] Anspielung. In: RLW, Bd. 1, S. 93–96, bes. S. 93.  Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 83, setzt für den Umfang von Zitatsegmenten drei Basisgrößen an, nämlich Wort, Satz und (Teil‐)Text; für mittelhochdeutsche literarische Texte wird wohl hauptsächlich mit (Mehr‐)Wortzitaten zu rechnen sein.

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semantischen Gehalts“⁹³, die variierend, expandierend oder reduzierend erfolgen kann.⁹⁴ Nicht immer scharf davon zu trennen ist die Anspielung,⁹⁵ die Stenzel definiert als „[i]ndirekte Erwähnung als bekannt vorausgesetzter Gegebenheiten, besonders: Wiedergabe von (Teil‐)Merkmalen als bekannt vorausgesetzter Textstellen“.⁹⁶ Sehr wichtig und sinnvoll ist dabei – gerade hinsichtlich der Sangspruchdichtung – die Öffnung auf Anspielungshorizonte jenseits literarischer Prätexte. Dennoch wird mit dieser Definition bereits deutlich, welche Schwierigkeiten sich beim Nachweis von Anspielungen einstellen können. Denn zum einen ist – gerade bei Texten, die in großer zeitlicher Distanz zu heute verfasst sind – nicht immer klar, was von einem Autor „als bekannt vorausgesetzt“ wird/werden kann,⁹⁷ zum anderen können „Gegebenheiten“ und „(Teil‐)Merkmale[ ] als bekannt vorausgesetzter Textstellen“ zu unscharfen, schwer nachweisbaren Kategorien werden, wenn sich letztere nicht gerade – an der Grenze zum Zitat – in einer gewissen Übereinstimmung des verbalen Materials manifestieren.⁹⁸ Die größte Schwierigkeit liegt freilich darin, dass sich die Anspielung in ihrer „konstitutive[n] Indirektheit“⁹⁹ – also durch eine tendenziell fehlende klare Markierung – geradezu programmatisch der fraglosen Identifikation entzieht.¹⁰⁰ Die Frage der Markierung und ihrer Notwendigkeit für intertextuelle Referenzen wird kontrovers diskutiert. Nach Broich gilt eine gewisse Form von Markierung für

 Vgl. Axel Spree: [Art.] Interpretation. In: RLW, Bd. 2, S. 168–172, hier S. 169.  Vgl. Elisabeth Gülich, Thomas Kotschi: Reformulierungshandlungen als Mittel der Textkonstitution. Untersuchungen zu französischen Texten aus mündlicher Kommunikation. In: Wolfgang Motsch (Hg.): Satz, Text, sprachliche Handlung. Berlin 1997, S. 199–261, hier S. 240–242; modifizierte Zitate sind dabei allerdings nicht eindeutig von Paraphrasen abzusetzen, vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 138; umfassend zur Paraphrase vgl. Cathérine Fuchs: La Paraphrase. Paris 1982.  Die Paraphrase richtet sich nach Holthuis (Intertextualität), S. 136, 138, allerdings „(dominant) auf die semantische Architektur des Referenztextes“, nicht auf die materielle (wie Zitat und re-linearisierende[r] Allusion[smarker]).  Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93; Objekt einer Textanspielung kann dabei sowohl ein ganzes Werk sein als auch ein Teil desselben: „(Stelle, Figur, Motiv, Ausdruck) oder der durch die Anspielung konstituierte Sinn“, ebd.; dabei differenziert Stenzel zwischen ‚einfachen Anspielungen‘, die sich – ähnlich einer Periphrase – im einmaligen Assoziieren des Gemeinten erschöpfen und ‚komplexen Anspielungen‘, für die das zusätzliche Deutungspotential zentral ist, welches sich aus der Überlagerung von angespieltem und anspielendem Text generiert, die also vollgültig als intertextuelle Referenz fungieren.  Auch Broich (Markierung), S. 33, weist in seinen Überlegungen zur Markierung darauf hin, dass für die Erkennbarkeit von Markierungen „die ‚Signalschwelle‘ mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Text bzw. Prätext bei vielen Rezipienten wieder höher [liegt], wenn der zeitgenössische Kontext nicht mehr unmittelbar präsent ist“; entsprechend müssten „die Herausgeber kritischer Editionen in späteren Epochen intertextuelle Bezüge oft explizieren, während diese für den zeitgenössischen Leser keiner Identifizierung bedurften“, ebd., S. 45 f.  Vgl. Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93; nach Helmstetter ([Art.] Zitat), S. 896, begegnet das Zitat „meist mit Markierung und Nachweis der Quelle“.  Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93.  Vgl. dazu auch Holthuis (Intertextualität), S. 132.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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intertextuelle Referenzen im „engeren Sinne“ (auch für Anspielungen) als obligatorisch, um das Gelingen des intertextuellen Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Rezipient zu gewährleisten.¹⁰¹ Entfallen könne sie demnach nur dann, wenn auf Texte referiert wird, „die einem breiten Leserpublikum bekannt“ sind oder wenn ein Autor für einen exklusiven „Kreis von Kennern“ schreibt.¹⁰² – Doch wonach bemisst sich, was einem breiten Publikum bekannt oder für Kenner gedacht ist? Und auch bei Zitaten, die gemeinhin als markiert gelten, eröffnen sich gewisse Unschärfen, wenn die verschiedenen Formen dieser Markierung etwa bei Plett kategorisiert werden nach explizit, implizit oder nicht vorhanden.¹⁰³ Die explizite Markierung eines Zitates liegt demnach vor, wenn eine eindeutige Indikation des Zitieraktes¹⁰⁴ und – nach Holthuis¹⁰⁵ – bibliographische Angaben zum zitierten Text gegeben werden.¹⁰⁶ Implizite Markierungen dagegen manifestieren sich in Codewechseln,¹⁰⁷ sowie „a) […] durch Hinweise fiktiver Personen, thematische Indikationen, spezifische Sachverhalte, Handlungsstrukturen, ‚zitierte‘ und in den Text eingebettete Titel […] oder b) durch metadiskur-

 Broich (Markierung), S. 31 f., betont dabei explizit, dass dies nur für einen engeren Intertextualitätsbegriff gilt, nach dem der Autor bewusst intertextuelle Verweise setzt und ihm daher daran gelegen ist, dass der Rezipient diese auch erkennt; er nimmt dabei Fälle von unbewusster Beeinflussung der Autors durch vorgängige Texte aus, ebenso den Sonderfall des Plagiats, in dem es dem Autor maßgeblich darum gehen muss, den Textbezug zu verschleiern. Holthuis (Intertextualität), S. 108 [Anm. 101], problematisiert diese Intentionalität, die ihres Erachtens nur nachweisbar ist, wenn die intertextuelle Relation vom Autor explizit markiert ist oder vom Leser als intendiert ermittelt werden kann. Ich denke allerdings, dass diese Bedingung einer ‚Kommunikativität‘ für Textreferenzen in mittelhochdeutschen Texten ganz grundsätzlich nicht im selben Maße gilt wie für neuere Literatur, ausführlich dazu s. u.  Vgl. Broich (Markierung), S. 32, 43; vgl. zudem S. 18, Anm. 70.  Vgl. Heinrich F. Plett: Poetics of Quotation. Grammar and Pragmatics of an intertextual Phenomenon. In: Bulletin CILA (Commission interuniversitaire suisse de linguistics appliquée) (Bulletin „VALS-ASLA“ since 1994) 48 (1988), S. 61–88, hier S. 71; auf die von beiden sowohl auf der Ebene ex- als auch impliziter Markierung diskutierte Bedeutung graphemischer Markierung wird im Folgenden aufgrund ihrer weitgehenden Irrelevanz für mittelalterliche Texte nicht eingegangen.  Vgl. Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 85.  Holthuis (Intertextualität), S. 108–114, greift Pletts Einteilung auf, skaliert aber nach explizit, quasi-explizit und implizit.  Werden lediglich Autor und/oder Titel genannt, spricht Holthuis (Intertextualität), S. 109, von quasi-expliziter Markierung.  Vgl. Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 84; der intertextuelle Charakter des Zitats ist demnach stärker markiert, „[j]e fremder die sekundärsprachlichen Kodes von Prätext und Text einander sind. […] Je ähnlicher die sekundärsprachlichen Kodes sind, desto eher wird die Intertextualität des Zitats verschleiert. In derartigen Fällen tritt Intertextualität nur auf Grund einer ‚pragmatischen Präsupposition‘ [Jonathan Culler: Presupposition and Intertextuality. In: Modern Language Notes 91 (1976), S. 1380–1396, hier S. 1393–1395] zutage. Das heißt: Das Vorwissen des Rezipienten schafft hier erst die Interferenz zwischen aufnehmendem und eingelagertem Text; ohne dasselbe existiert sie nicht“, vgl. Plett (Sprachliche Konstituenten), S. 84; das heißt allerdings nicht, dass jeder Kodewechsel zwangsläufig ein Zitat markiert, ebd., S. 85.

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sive Hinweise in Titeln oder Nebentexten […], c) durch weitere Referenzstrategien wie Allusionen oder d) durch Normenverstöße oder Kohärenzbrüche bzw. durch kontextuelle motivierte Indikationen […]“.¹⁰⁸

Bereits einige dieser Kategorien sind meines Erachtens schwer zu objektivieren, etwa „thematische Indikationen, spezifische Inhalte“ oder „Kohärenzbrüche“.Wenn weder eine ex- noch eine implizite Markierung vorliegt, ist nach Plett die „quotation competence“ des Rezipienten besonders gefragt; könne jedoch keine Quelle für ein Zitat verifiziert werden, so Plett, dann sei es keines.¹⁰⁹ Was sich dabei zeigt, ist, dass ein Zitat umso ‚anspielungshafter‘ wird, je undeutlicher die Markierung ist, auch wenn es etwa dezidiert verdeckt ist und mithin vom Rezipienten überhaupt erst als Zitat erkannt werden muss (Stenzel spricht dabei – ähnlich Pletts „quotation competence“ – von einer „Entzifferungskompetenz“).¹¹⁰ Zitat und Anspielung sind mithin nicht nur nicht scharf gegeneinander abgrenzbar und die Zuordnung insofern auch kontext- und/oder rezipientenabhängig, sondern sie können sich auch überlagern.¹¹¹ So kann ein Zitat ganz grundsätzlich immer zugleich als Anspielung fungieren, weil es „seinen Kontext zu evozieren geeignet ist“.¹¹² Zitate können insofern – vor allem wenn sie nicht explizit markiert sind – auf Anspielungen verweisen, fungieren also gewissermaßen als deren Markierung. Das gilt besonders dann, wenn die übernommene Textmenge relativ gering ist, auf bestimmte subsemantische Eigenschaften des Referenztextes Bezug genommen oder das verbale Material modifiziert wird.¹¹³ „In diesen Fällen wird der Allusionsmarker syntagmatisch eingebettet und kotextualisiert, die re-linearisierende Referenz auf linearisierte Eigenschaften des Referenztextes konstituiert als ‚Zitat‘ die Indikation der intertextuellen Allusion“.¹¹⁴ Anspielungen können allerdings nicht nur durch „Referenzen auf die linearisierte Version des Bezugstextes“ (Zitate) markiert sein, sondern auch über „nicht-linearisierte Eigenschaften des Bezugstextes oder auf den Bezugskontext“.¹¹⁵ Derartige

 Holthuis (Intertextualität), S. 111.  Vgl. Plett (Poetics of Quotation), S. 72.  Vgl. Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93.  Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 126; statt einer kategorischen Zuordnung zu einem von beiden Typen plädiert sie daher dafür, „eher von Gradationen zwischen beiden“ auszugehen, „partielle und nicht-explizit markierte Re-Linearisierungen sind demzufolge je nach Text und funktionaler Einbettung entweder eher dem Zitat oder eher der Allusion zuzurechnen. Mit anderen Worten konstituieren diese linearisierenden Referenzen einen Referenztypus der Allusion, der zugleich konstitutiv ist für einige Manifestationsformen des Zitats und je nach Standpunkt als ‚kryptisches Zitat‘ oder als ‚expliziter‘ Allusionsmarker definiert werden kann,“ ebd., S. 127.  Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93; „[e]in Zitat ‚kennt‘ man (Kenntnis wird als selbstverständlich vorausgesetzt), eine Anspielung ‚versteht‘ man (Akzentuierung der Entzifferungskompetenz)“, ebd.  Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 126.  Holthuis (Intertextualität), S. 127.  Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 126, 128.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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„‚klassische‘ Allusionsmarker“ sind aufgrund ihrer großen Heterogenität taxonomisch allerdings nicht leicht zu klassifizieren.¹¹⁶ Einen Versuch zu einer umfassenden Klassifikation von Anspielungsmarkierungen unternimmt Perri, die vier Markierungstypen differenziert, nämlich 1. ‚proper naming‘, als „term for a marker of direct quotation or the actual occurrence of a proper name“, 2. ‚definite description‘ im Sinne eines „significant word, or it may inhere in the repetition of a well known rhythmical phrasing“, 3. „allusion marker of paraphrase“ und 4. „topical or historical allusions to persons or events“, wobei dieser letzte Typus unter alle vorgenannten Markierungsformen fallen könne.¹¹⁷ Zu präzisieren wäre hier meines Erachtens noch die nur en passant erfasste Möglichkeit der Übernahme spezifischer thematischer oder formaler Merkmale des Prätextes, etwa eines prägnanten Reimschemas. Wiewohl diese Markierungstypen in einigem vage bleiben, denke ich, dass sie – gerade auch durch ihre Offenheit gegenüber nicht-literarischen Bezugshorizonten (wie auch bei Stenzel gegenüber „Gegebenheiten“)¹¹⁸ – eine gute Basis für die Analyse von Anspielungen in mittelhochdeutschen literarischen Texten bieten können. Ich möchte das im Folgenden an einem Beispiel zeigen: Wenn Wolfram von Eschenbach im Parzival in seiner sogenannten ‚Selbstverteidigung‘ den Anwurf formuliert sîn lop hinket ame spat,/ swer allen frouwen sprichet mat/ durch sîn eines frouwen (V. 115, 5–7),¹¹⁹ so ist dieser Angriff gegen einen Ungenannten durch die enthaltene Paraphrase, dass dieser Eine im Lobpreis seine Dame über alle anderen stelle, leicht auf den Minnesang beziehbar (Typ 3). Erst das spezielles Wort mat aber, das hier zitiert ist, lässt deutlich werden, auf welches spezifische Minnelied (und mithin welchen Sänger) Wolfram referiert, nämlich auf eben jenes Reinmar-Lied („Ich wirbe umbe allez, daz ein man“), das, wie bereits ausgeführt, auch Walther zur parodistischen Kritik angeregt hatte.¹²⁰ Der Begriff mat ist dabei als Zitat höchst wirksam, weil er der Schlüsselbegriff dessen ist, was diese Strophe zur Provokation macht, wie neben der Reaktion der Dichterkollegen auch die Varianz dieser Textstelle in der handschriftlichen Überlieferung zeigt. Offenbar nämlich wird die Behauptung Reinmars, seine Dame setze alle anderen ‚schachmatt‘ von den anderen Dichtern auch als Angriff gegen ‚ihre‘ fiktiven Minnedamen, also auch gegen ihr Lob und damit ihre Kunst verstanden, weil Reinmar dadurch sein eigenes Lob über das ihrige stelle und  Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 128–133; als klar erfassbare derartige Allusionsmarker nennt Holthuis nur „Autornamen“ – wie sie in mittelhochdeutschen Texten beispielsweise in ‚Fehden‘, Nachrufen oder Preisstrophen begegnen – und „Literatur in der Literatur“ (wobei hier die Grenzen zu Zitat oder semantischen Referenzstrategien fließend sein können), ebd.  Vgl. Carmela Perri: On Alluding. In: Poetics 7 (1978), S. 289–307, hier S. 304 f.  Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93.  Hier und im Folgenden zit. nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns, revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1994.  Dass Wolfram hier wohl auf Reinmars ‚Überlob‘ referiert, konstatiert schon Schmidt (Reinmar), S. 44.

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sich somit über sie erhebe.¹²¹ Das Ein-Wort-Zitat mat spielt hier insofern durch den spezifischen metaphorisch-beschreibenden Gebrauch in beiden Texten auf einen eindeutig identifizierbaren Prätext an und fungiert damit im Sinne Perris als ‚significant word‘ einer ‚definite description‘. Dass dieses sehr knappe Zitat als Anspielungs(‐markierung) besonders klar auflösbar ist, begünstigt hier, dass es mit der reduzierenden Paraphrase der betreffenden Prätextstelle gekoppelt ist („allusion marker of paraphrase“).¹²² Im Fall dieses auch wegen der Replik Walthers prominenten Reinmar-Liedes hätte aber wohl schon der zitierte Signalbegriff mat alleine im Kontext von Minnesang und Frauenpreis zur Identifizierung der intertextuellen Referenz genügt. Wiewohl ich diese intertextuelle Referenz im Ganzen als Anspielung begreife, möchte ich für den dabei wörtlich übernommenen Bestandteil zugleich den Begriff des Zitats verwenden. Ich verstehe also im Folgenden als Zitat eine referenzbildende wörtliche Übereinstimmung zwischen zwei Texten und zwar auch dann, wenn es nach der eingangs referierten Taxonomie nicht oder nur schwach markiert ist¹²³ und auch wenn das übereinstimmende Wortmaterial gering ist (was, wie gesagt, der Regelfall sein dürfte). Das, was ich hier als Zitat bezeichnen möchte, umfasst damit bisweilen nicht mehr als eine spezifische Kopplung zweier Wörter oder gar ein spezifisches Einzelwort. Dass es legitim ist, selbst einzelnen Wörtern Zitatcharakter und die Fähigkeit zur Bildung intertextueller Referenzen zuzugestehen, belegt meines Erachtens das angeführte Beispiel aus dem Parzival, in dem allein das Zitat des Begriffes ‚mat‘ auf ein spezifisches Lied Reinmars zu verweisen vermag.

 Vgl. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margarita Kuhn. Frankfurt a. M. 1995, hier Kommentar S. 832 f.  Zugleich ist diese Paraphrase notwendig, weil gerade das paraphrasierte maßlose (‚krankende‘) Frauenlob Reinmars das Ziel der Wolframschen Kritik ist.  Diese Taxonomie bleibt einerseits – wie angedeutet – gerade bei impliziten Markierungen selbst stellenweise im Vagen, zum anderen gilt es zu berücksichtigen, dass sie für neuere Literatur entworfen ist und einige ihrer Kategorien nicht oder nur bedingt auf mittelhochdeutsche Texte anwendbar sind. So entfällt die zentralste der für neuere Texte üblichen Markierungskonventionen von Zitaten, nämlich diejenige graphologischer Zeichen oder Auszeichnung (beispielsweise Anführungszeichen oder Kursivierung) bereits durch die handschriftliche Überlieferung mittelhochdeutscher Texte, die derartiges nicht kennt. Zudem gibt es für intertextuelle Referenzen in mittelhochdeutscher Lyrik praktisch keine Markierungen in Nebentexten, da die Strophen/Lieder weder ‚echte‘ Titel haben (eine sehr breit genutzte Verweisungs-Variante neuerer Literatur) noch zu ihnen Paratexte oder sonstige externe Dokumente vorliegen (eine Ausnahme stellt der eingangs referierte Fall dar, in dem die Beischrift in Handschrift C Walthers „Ein man verbiutet âne pfliht“ [L. 111,22] als Referenz auf Reinmars „Ich wirbe umbe allez, daz ein man“ [MF 159,1] ausweist). Darüber hinaus begünstigt gerade die Verfasstheit der Sangspruchlyrik eine ganze Reihe weiterer Markierungsformen nicht, wie sie beispielsweise in epischen Texten Anwendung finden, weil sie als kondensierte, poetisch-artifizielle und im Allgemeinen wenig narrative Form der Rede von einem Ich-Sprecher mit meist paränetischem Anspruch artikuliert wird (insofern entfallen beispielsweise Hinweise fiktiver Personen, Handlungsstrukturen, inquit-Formeln weitestgehend und tendenziell auch explizite Markierungen).

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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Um nicht rein assoziativ zu bestimmen, wann derartige Wortübereinstimmungen intertextuelle Referenzen anzeigen, ist es jedoch geboten, gewisse Bedingungen festzulegen, wann ein Wort oder eine Wortverbindung dergestalt als Zitat verstanden werden kann. Das kann – wie das Beispiel mat illustriert – erstens der Fall sein, wenn ein Wort (oder eine Wortverbindung) eine Schlüsselfunktion im betreffenden Prätext und idealerweise auch im manifesten Text einnimmt; dem zitierten Wort muss in diesem Fall also in einem bestimmten Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zukommen, es muss im Prätext inhaltlich oder formal prominent positioniert sein oder gar als Begriff thematisiert werden. Zweitens kann es der Fall sein, wenn es sich um seltene oder spezielle Wörter oder einen spezifischen Wortgebrauch (etwa als Metapher) in einem nicht zwingend erwartbaren Kontext handelt. Häufig verwendete Wörter, die zum genretypischen Vokabular der Sangspruchdichtung gehören, sind dagegen eher ungeeignet. Wortverbindungen können insofern, je kühner, unerwartbarer oder seltener sie sind, desto wahrscheinlicher als Zitat verstanden werden, wenn sie in einem anderen Text in derselben Verbindung begegnen. Derart zitierte Wörter/ Wortverbindungen fungieren dabei auch als Signalwörter: Sie verweisen auf einen bestimmten und bestimmbaren Prätext und evozieren damit zugleich ihren spezifischen (Text‐)Kontext,¹²⁴ der so in eine intertextuelle Beziehung zum manifesten Text gesetzt wird. Die Funktion solcher Zitate wäre damit also zugleich die Markierung einer intertextuellen Referenz im Sinne einer Anspielung.¹²⁵ Trotz dieser Bedingungen für solche markierenden Zitatwörter bleibt die Identifikation derartiger Anspielungen ein gewisses Problem, weil Allusionen „aufgrund äußerst geringer Re‐Linearisierungen“ im allgemeinen nicht unbedingt „die Information bereitstellen, die zu einer problemlosen Identifizierung und Verarbeitung der intertextuellen Referenz führen. […] Die intertextuelle Disposition ist in diesen Fällen [also] eher schwach ausgeprägt“.¹²⁶ Holthuis verweist allerdings darauf, dass „aus der geringen Kommunikativität der Referenz selbst nicht auf eine damit korrelierende geringe Intensität ihres ‚intertextuellen Potentials‘ zu schließen“ sei, problematisiert aber zugleich, dass das nicht bedeuten dürfe, „dass damit der ‚freien Assoziation‘ Tür und Tor geöffnet“ seien.¹²⁷ – Das gilt freilich auch für einige Modi nicht-linearisierender Markierungen von Anspielungen. So richtig diese Feststellung ist, so vage bleiben allerdings doch gemeinhin die Ansätze in gegebener Theoriebildung beim Versuch einer Einhegung dieser Assoziativität.¹²⁸

 Vgl. Stenzel ([Art.] Anspielung), S. 93.  Vgl. dazu auch Perri (On Alluding), S. 305; zum Zitat als Allusionsmarker vgl. auch Holthuis (Intertextualität), S. 126–128.  Holthuis (Intertextualität), S. 132.  Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 132.  Vgl. dazu die Auseinandersetzung von Holthuis (Intertextualität), S. 132 f., mit dem konnotationstheoretischen Ansatz Perris und Hebels (Udo J. Hebel: Towards a Descriptive Poetics of Allusions. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextuality. Berlin/New York 1991, S. 135–164).

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1 Einleitung

Diese Frage ist wohl letztlich nur text- und/oder fallspezifisch zu entscheiden, weshalb ich diesem Problem über das Kriterium der Plausibilität begegnen werde, auch wenn es nur bedingt objektiv und insofern nicht erschöpfend sein kann. Plausibilität soll dabei heißen, dass beim Nachweis intertextueller Referenzen nach verschiedenen Verdichtungen von Hinweisen innerhalb einer Strophe zu suchen ist, also eine gewisse Indiziendichte erforderlich ist, die plausibel macht, dass es sich um eine beabsichtigte intertextuelle Referenz handelt. Die Abstufungen bleiben dabei freilich graduell. Das heißt, wenn beispielsweise nur ein allusives Ein-Wort-Zitat vorliegt, wäre das – sofern das Wort nicht einen außergewöhnlich hohen Signalwert hat (wie etwa mat) – eine ungewisse oder gar ungenügende Evidenz einer intertextuellen Referenz, wenn nicht beispielsweise eine dezidierte Übereinstimmung des thematischen Zusammenhangs, in dem dieses ‚Zitat‘ in Prä- und manifestem Text steht, diese Bezugnahme zusätzlich zu plausibilisieren vermag. Ob eine derartige plausibilisierende Verdichtung von Indizien für eine intertextuelle Referenz vorliegt, lässt sich damit aber nur von Fall zu Fall entscheiden beziehungsweise als Wahrscheinlichkeit einer intertextuellen Bezugnahme graduell skalieren.

1.2.2.3 Kommunikativität und Tradition Die Frage danach, wie sicher eine intertextuelle Referenz nachweis- und belegbar ist, berührt in ganz besonderem Maße das Kriterium der ‚Kommunikativität‘– also die Garantie, dass die intertextuelle Referenz, die vom Autor ‚intendiert‘ ist, auch vom Rezipienten ‚dechiffriert‘ werden kann, und beide sich dessen bewusst sind. Diese Kommunikativität ist bei Anspielungen eher gering, wobei das nach Holthuis nicht bedeutet, dass damit auch ihr ‚intertextuelles Potenzial‘ gering ist.¹²⁹ Für Broich dagegen ist die ‚Kommunikativität‘ eine zentrale Kategorie intertextueller Referenzen im engeren Sinn.¹³⁰ Undeutlich markierte Ausprägungen der Anspielung würden damit als intertextuelle Verweise eher randständig oder gar ungültig. Das mag für neuere Literatur durchaus zutreffen. Für mittelalterliche Literatur dagegen muss das differenziert werden, weil es sich etwa in der Sangspruchdichtung offenbar auch bei Anspielungen, die keine deutliche, heute noch erkennbare¹³¹ Markierung aufweisen, durchaus um bewusste intertextuelle Referenzen handeln kann.¹³² Dies liegt, so meine

 Vgl. Holthuis (Intertextualität), S. 132.  Vgl. Broich (Markierung), S. 32 f.  Vgl. S. 24, Anm. 98.  Freilich gibt es deutlich markierte Fälle, wie etwa der polemische Angriff des Meißners auf den Marner zeigt (vgl. S. 4, Anm. 16), der eine präzise Identifikation des Prätexts auch ohne Nennung des betreffenden Verfassers ermöglicht, indem er den Inhalt der Strophe paraphrasiert, auf die er referiert (Paraphrase als Allusionsmarker, vgl. Perri [On Alluding], S. 305); auch die Prologverse des Kanzlers, in denen die Kenntnis der bche bildungsstolz als Grundlage des poetischen Schaffens exponiert wird, thematisieren explizit die Bezugnahme auf andere Texte – wenn auch ohne Nennung konkreter Quellen; daneben begegnet aber auch eine Vielzahl weniger eindeutiger Fälle.

1.2 Intertextualität in der Sangspruchdichtung

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ich, daran, dass Intertextualität hier partiell etwas anderes bezweckt als in neuerer Literatur und deshalb auch anders operiert. Denn vielleicht geht es bei intertextuellen Referenzen in Sangspruchstrophen nicht zwangsläufig um ‚Kommunikativität‘ (oder eine andere Art von ‚Kommunikativität‘), also weniger darum, dass intertextuelle Bezugnahmen gesetzt sind, um minutiös vom Rezipienten ‚decodiert‘ zu werden, sondern darum, dass sie produktionsseitig als eine Möglichkeit verstanden werden, in der eigenen Gattung und/oder anderen Diskursen mitzureden und sich breit zu vernetzen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass damit zugleich auch Figuren der Abgrenzung, Imitation, Überbietung einhergehen können, die möglicherweise auch vom Rezipienten erkannt und verstanden werden sollen (oder vielleicht manchmal auch nur von einem ‚Kreis von Kennern‘). Aber ich denke, dass es auch einen Modus des (vagen) Wiedererkennens intertextueller Referenzen geben kann, die weniger als innovative Transformation eines spezifischen vorgängigen Textes zu bewerten sind, sondern vielmehr als Möglichkeit, sich affirmativ einzuschreiben in vorgängige Texte, Textreihen, Diskurse. Der Zweck einer solchen affirmativen Intertextualität in der Sangspruchdichtung könnte insofern dazu dienen, über diese Anknüpfung, dieses Mitreden, diese breite Partizipation an der Geltung des Vorgängigen teilzuhaben. Intertextuelle Referenzen wären somit auch als Reaktion auf den prekären Status mittelalterlicher Literatur zu verstehen, die keinen stabilen, institutionell gesicherten Ort und kein entsprechendes Selbstverständnis hat, kein kohärentes literarisches System oder Leben.¹³³ Die Intertextualität in der Sangspruchdichtung begegnet dem – so meine Hypothese – mit zwei Strategien. Zum einen erfolgen intertextuelle Ausgriffe auf gattungsfremde, bevorzugt institutionell stärker verankerte Diskurse, wie

 Vgl. Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997. Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 204 f.; vgl. umfassend zum prekären Stand mittelhochdeutscher Literatur und daraus sich ergebenden Geltungsbestrebungen die Arbeiten aus dem SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (1997–2008), Teilprojekt B „Institutionalisierung und Geschichtlichkeit der höfischen Literatur des deutschen Mittelalters“ (Leitung: Peter Strohschneider), etwa Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider (Hg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 2001, darin bes. Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung, S. 1–26, und Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel (Hg.): Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Berlin 2005, darin besonders Beate Kellner, Franziska Wenzel: Einleitung, S. VII–XX, hier S. VII–XI; zu Geltungsstrategien in der Sangspruchdichtung dort Tobias Bulang: wie ich die gotes tougen der werlte gar betiute. Geltungspotentiale änigmatischen Sprechens in der Sangspruchdichtung, S. 43–62. Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), bes. S. 337 f., zeigen zudem am ‚meta-sangspruchhaften‘ sogenannten Wartburgkrieg wie Geltungsansprüche sich in der Behauptung literarischer Meisterschaft manifestieren, für deren Beanspruchung das Verfügen über nicht-/literarische Traditionen und das artistische Spiel mit intertextuellen Verweisen zentrale poetische Strategien sind; vgl. dazu auch Kellner/Strohschneider (Geltung des Sanges).

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1 Einleitung

etwa die Predigt, um an deren Geltungspotenzial und Anwendungsbereichen zu partizipieren und diese so der eigenen Gattung zuzuschlagen. Zum anderen stabilisieren intertextuelle Referenzen auf die eigene Gattung auch die eigene Gattungstradition, indem sie durch die Auseinandersetzung mit beziehungsweise Partizipation an dieser die Genese einer Textreihe vorantreiben.¹³⁴ Haustein konstatiert unter gattungsgeschichtlicher Perspektive „eine Zwangsläufigkeit, mit der sich die Gattungsgeschichte [der Sangspruchdichtung] auf das Typische hin entwickelt hat“¹³⁵, ein „Schreiben auf die Gattung hin“,¹³⁶ was er unter anderem an der Beobachtung festmacht, dass sich „der Ehrgeiz der Autoren“ offenbar auf etwas anderes gerichtet habe „als auf stoffliche Neuheit und stilistische Extravaganz“, nämlich auf „die immer wieder neue, gleichwohl traditionsbezogene Darstellung bekannter Aussagemuster […]; ‚traditionsbezogen‘ [sei] dabei in dem Sinne zu verstehen, dass die für bestimmte Themen entwickelten Redeweisen in Form von Metaphern und Bildern, Gliederungsabschnitten oder Exempla immer wieder aufgenommen und variiert w[ü]rden“.¹³⁷ Die „traditionsbezogene Darstellung bekannter Aussagemuster“ manifestiert sich mithin größtenteils in intertextuellen Referenzen auf die eigene Gattung, die Haustein damit als wesentlich für den typisch sangspruchdichterischen Rekurs auf die literarische Tradition ausweist.¹³⁸ Dabei dient dieses Sich-in-die-Tradition-Stellen freilich zugleich einer Selbstlegitimation, weil das Bewährte Geltung hat. Das von Haustein behauptete Telos der Gattung – nämlich Traditionsbezogenheit und Affirmation der Gattungsnorm – bestätigt sich im Übrigen auch im Umgang mit intertextuellen Versatzstück-Importen aus anderen Gattungen und Diskursen, die

 Darin lässt sich auch etwas von dem erkennen, was Grubmüller (Gattungskonstitution), S. 209, für die Konstitution von Gattungen beobachtet, nämlich dass „[d]ie Ausbildung von Textreihen in sich selbst fortschreibender Bezugnahme […] dem spezifisch mittelalterlichen Autoritätsdenken besonders adäquat [ist]“; der Begriff der ‚Textreihe‘ dient dabei der Sensibilisierung dafür, dass das Konzept Gattung insbesondere für mittelalterliche Literatur unhistorisch ist, weil hier vielmehr Reihen von Texten zu beobachten sind, die sich von einem vorbildhaft wirkenden Text aus selbst fortschreibend entwickeln, ebd.  Haustein (Marner-Studien), S. 250.  Haustein (Marner-Studien), S. 247.  Haustein (Marner-Studien), S. 246; die literarische Leistung besteht darin, „traditionelles, volkssprachliches Wort- und Bildmaterial und überkommene Wertmuster den spezifischen Anforderungen des jeweiligen Tones anzupassen, aus dem literarischen Vorrat dabei nur das zu schöpfen, was dem Strophenthema angemessen ist, und zudem die spezifisch metrischen Möglichkeiten der Sangspruchstrophe optimal zu nutzen“, ebd., S. 11; dabei geht Haustein durchaus davon aus, dass diese literarische Leistung vom Publikum im Vergleich zu anderen Strophen des Themas ermittelt und gewürdigt werden solle, ebd., S. 246 f.  Vgl. Haustein (Marner-Studien), S. 4; Haustein betont dabei, dass dieser ‚Einbau‘ traditioneller Motive sowie die Frage nach ihrer inneren Kohärenz zu untersuchen seien, ebd., S. 5.

1.3 Der Kanzler

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konsequent der eigenen Gattung anverwandelt werden.¹³⁹ Intertextuelle Referenzen dienen also einerseits der Ausbildung und Verfestigung einer eigenen Textreihe, in welche andererseits durch die intertextuelle Partizipation an anderen Gattungen und Diskursen immer neue Wissensbestände eingespeist werden. Gerade diese doppelte Art der intertextuellen Partizipation, sowohl an gattungsexternen Diskursen als auch am gattungsinternen Diskurs, begründet eine Art Reservoir von Text‐/Diskursversatzstücken in der Sangspruchdichtung. Deren Herkunft lässt sich aufgrund ihrer teils immer wieder neu erfolgenden Aufnahme in Strophen verschiedener Autoren vielleicht nicht immer genau bestimmen,¹⁴⁰ sie lassen sich aber dennoch beschreiben und hinsichtlich ihrer Funktionalisierung analysieren.¹⁴¹ Die Studie leistet diese Untersuchung und Beschreibung exemplarisch am Strophencorpus des Kanzlers, das dafür aus mehreren Gründen besonders geeignet scheint, wie ich im Folgenden ausführen möchte.

1.3 Der Kanzler 1.3.1 Autor, Werk, Überlieferung Über den Kanzler ist biographisch nicht viel bekannt. Sein Name ist in drei der vier Handschriften überliefert, die altbezeugte Strophen von ihm tradieren.¹⁴² Ungewiss ist dabei, ob es sich um einen Eigen- oder Beinamen handelt.¹⁴³ Trotz der fiktiven zitierten Anrede ‚her Kanzeler‘ in einer seiner Strophen (1Kanz/5/6) ist eine Zugehörigkeit zum Adel unwahrscheinlich. Dagegen sprechen sowohl seine Tätigkeit als Sangspruchdichter und seine Selbstbeschreibung als Fahrender wie auch die Tatsachen, dass das Autorenportrait des Kanzlers im Codex Manesse kein Wappen zeigt und sein Corpus in dieser hierarchisch geordneten Handschrift zumindest in seiner endgültigen

 Vgl. das Referat von Margreth Egidi: Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob. Heidelberg 2002, S. 61, zu Haustein (Marner-Studien), S. 247–250.  Ähnliche Bedenken über die kaum zu eruierende Herkunft gewisser Versatzstücke klingen bei Haustein (Marner-Studien), S. 239 f., an.  Draesner (Wege durch erzählte Welten), S. 24, bemerkt treffend zu diesem Problemkomplex: „Es handelt sich nicht um die Suche nach dem Ursprung des Textes in Form seiner Quellen oder der auf den Autor wirkenden Einflüsse, sondern um die Frage nach der Rolle der intertextuellen Referenzen für den Bedeutungsaufbau des literarischen Werkes.“ Sie versteht den Text damit als Zeichengebilde, dessen Strukturen sich erst aus dem Dialog mit anderen Texten entfalten, Intertextualität stellt die Texte insofern „als einen Körper diskursiver Spuren vor; sie weist auf die Mehrstimmigkeit und Pluralität seines Gehalts hin“.  Chanzeler (Codex Manesse, fol. 432v), Der Kantzeler (Basler Rolle, fol. 1v), kanczler (Basler Meisterliederhandschrift, fol. 34r); zur Überlieferung und den Handschriften s. u.  Vgl. Manuel Braun: Der Kanzler. Zu Autor und Überlieferung. In: LDM.

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1 Einleitung

Gestalt als letztes zu stehen gekommen ist.¹⁴⁴ Eine genaue geographische Verortung des Dichters ist nicht möglich, seine Sprache verweist allerdings auf eine oberdeutsche Herkunft.¹⁴⁵ Sein Œuvre lässt sich nur ungenau auf das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts datieren, nämlich anhand des deutlichen Einflusses Konrads von Würzburg (terminus post quem frühestens 1260) und der frühesten Überlieferung Kanzlerscher Strophen (terminus ante quem um 1300).¹⁴⁶ Ein gewisses literarisches Nachleben erfährt der Kanzler bei den Meistersängern, die ihn bisweilen unter die zwölf alten Meister ihrer Gründungssage zählen.¹⁴⁷ Das Œuvre des Kanzlers umfasst sowohl Minnesang als auch Sangspruchdichtung. Zehn der elf unter seinem Namen überlieferten Minnelieder gehören dem Typus des Allgemeinen Minneliedes an und stehen damit dem Minnesang Konrads von Würzburg nahe. Sie sind vorwiegend durch Natureingang eingeleitet und durch eine objektive Sprechinstanz gekennzeichnet. Außer in einem seltenen ‚wir‘ tritt diese nicht personal in Erscheinung, sondern preist unpersönlich-konstatierend die Frauen und die Liebe und ruft zu allgemeiner Freude auf. Nur in einem Minnelied (IV) spricht ein emotional affiziertes Ich, das im Spiel mit Topoi des Hohen Minnesangs darüber klagt, von seiner Dame nicht erhört zu werden. Formal sind die Minnelieder des Kanzlers (wie diejenigen Konrads) regelhaft dreistrophig und zeichnen sich vorwiegend durch Kanzonenform mit Steg und drittem Stollen aus.¹⁴⁸ Eine Nähe zu Konrad von Würzburg und Gottfried von Neifen zeigt sich überdies auch in weiteren formalen Übereinstimmungen.¹⁴⁹ Das Sangspruchcorpus des Kanzlers umfasst 44 Strophen in fünf verschiedenen Tönen (eine weitere Strophe, 1Kanz/5/21, ist in ihrer Echtheit umstritten).¹⁵⁰ Produktiv sind vor allem die ausladenden Töne, nämlich der Hofton I mit 20 (oder eben 21) Strophen und der Goldenen Ton mit elf Strophen. Im etwas kürzeren Ton I sind sechs Strophen überliefert, in Ton III vier, in Ton XIII drei. Prinzipiell herrscht in der Sangspruchdichtung des Kanzlers Einstrophigkeit vor, es lassen sich allerdings ver-

 Vgl. dazu auch Braun (Kanzler); das Kanzler-Œuvre ist Teil des Grundstockes und steht in diesem offenbar immer schon relativ weit hinten, es deutet jedoch einiges in der komplizierten Entstehungsgeschichte des Codex Manesse darauf hin, dass nicht dieses, sondern das Œuvre Johannes Hadlaubs ursprünglich die Handschrift – gewissermaßen krönend – beschließen sollte, vgl. dazu u. a. Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015, bes. S. 24– 26, 55 – 57.  Vgl. Kornrumpf (Kanzler).  Vgl. Braun (Kanzler).  Vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 989.  Vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 987; Braun (Kanzler); Horst Brunner: Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts. Wiesbaden 2013, S. 78, 82.  So weisen Lied XIII (1Kanz/4/1– 3) und XIV Reimspielereien auf, die offenbar von Konrad inspiriert sind, ebenso wie die Einführung eines Refrains in zwei Sommerliedern des Kanzlers; in der Nachfolge Gottfrieds von Neifen steht dagegen etwa die Verwendung reiner Vierheberformen beim Kanzler, vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 988.  S. u. Überlieferung.

1.3 Der Kanzler

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einzelt Strophengruppierungen beobachten, bei denen jedoch kaum zu entscheiden ist, ob sie auf den Autor oder den Redaktor zurückgehen.¹⁵¹ Deutliche Strophenbindung zeigen nur der Zweierbar 1Kanz/2/10 f. sowie die zwei Dreierbare 1Kanz/2/1–3 und 1 Kanz/5/14–16.¹⁵² Die Sangspruchdichtung des Kanzlers weist eine große thematische Vielfalt auf und lässt eine gelehrte lateinische Bildung vermuten.¹⁵³ Überliefert sind altbezeugte Strophen des Kanzlers im Codex Manesse (Heidelberg, UB, Cpg. 848, fol. 423v–428r; um 1300–1340¹⁵⁴; Sigle C), in der Basler Rolle (Basel, UB, cod. N I 6,50, fol. 1v; Ende 13. Jahrhundert, spätestens 1300¹⁵⁵; Sigle B3), in der Niederrheinischen Liederhandschrift (Leipzig Rep. II 70a; fol. 91v, 95rv; Mitte 14. Jahrhundert und um 1400;¹⁵⁶ Sigle N) und in der Basler Meisterliederhandschrift (Basel, UB, cod. O IV 28, fol. 34r–35r; um 1430¹⁵⁷; Sigle b); daneben gibt es eine nicht unbeachtliche meistersängerische Überlieferung von Strophen, die im Goldenen Ton des Kanzlers und anderen ihm sekundär zugeschriebenen Tönen verfasst sind,¹⁵⁸ aufgrund dieser späteren Entstehungszeit aber hier nicht im Fokus des Interesses liegen. Was die altbezeugten Kanzler-Strophen angeht, bietet C mit 77 Strophen die umfangreichste Überlieferung. Die Strophen sind dabei weitgehend nach Gattungszusammengehörigkeit systematisiert: Auf einen ersten Sangspruch-Teil mit 21 Strophen in Ton eins, zwei (Goldener Ton) und drei, folgen 12 dreistrophige Minnelieder (wobei Lied XIII ein Minnelied mit Sangspruchthematik ist [1Kanz/4/1–3]); beschlossen wird das Œuvre von weiteren 20 Sangspruchstrophen im fünften Ton (Hofton I). Die etwas ältere Basler Rolle tradiert dagegen ausschließlich Sangspruchstrophen, die alle acht auch in C zu finden sind (1Kanz/2/1–4; 1Kanz/2/7; 1Kanz/2/9; 1Kanz/5/1 f.). Die deutlich jüngere Niederrheinische Liederhandschrift überliefert zwei Sangspruchstrophen in Tönen des Kanzlers, deren eine (1Kanz/2/9) auch in C und B3 bezeugt ist, die andere (1Kanz/5/21) hier dagegen unikal überliefert ist, weswegen ihre Echtheit diskutiert wird.¹⁵⁹ Die jüngste Handschrift, die altbezeugte Kanzlerstrophen überliefert, ist die Basler Meisterliederhandschrift, in der drei bereits früher bezeugte Kanzler-Strophen (1Kanz/2/1 und 10 f.) neu zu einem Dreierbar zusammengestellt sind; die letzten beiden

 Vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 989; anders Christoph Petzsch: Lied III des Kanzlers. Argumentieren per analogiam. In: ZfdPh 98 (1979), S. 402–406, der Ton III als vierstrophige autorkonzipierte Einheit bewertet (vgl. dazu Kap. 2.3).  Eine klare Strophenbindung liegt auch beim Gattungshybrid Lied XIII (1Kanz/4/1–3) vor.  Vgl. Braun (Kanzler).  Grundstock um 1300, Nachträge bis ca. 1330/1340, vgl. RSM, Bd. 1, S. 278; Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen/Basel 1995, S. 141.  Vgl. Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. 1. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textbd. Wiesbaden 1987, S. 249.  Vgl. RSM, Bd. 1, S. 193.  Vgl. Willms (Marner), S. 9.  Vgl. dazu RSM (Kanzler), Bd. 4, S. 149.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 25–28.

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1 Einleitung

Strophen sind allerdings unvollständig, ohne dass die Handschrift, die zudem die Strophengrenze falsch setzt, das markieren würde.¹⁶⁰

1.3.2 Relevanz für die Fragestellung Für die vorliegende Untersuchung ist das Œuvre des Kanzlers erstens deswegen interessant, weil von ihm sowohl Sangspruchstrophen als auch Minnelieder in größerer Anzahl überliefert sind.¹⁶¹ Als einer von relativ wenigen Dichtern ist er damit in beiden Gattungen nennenswert produktiv. Sein Œuvre ist für eine intertextuell ausgerichtete Analyse insofern attraktiv, als sich hier einerseits eine klare formale und inhaltliche Unterscheidung zwischen beiden Gattungen abzeichnet, andererseits aber einige seiner Strophen/Lieder dezidiert mit dieser Gattungsgrenze spielen.¹⁶² Damit werden Beobachtungen und Rückschlüsse etwa zum Umgang mit literarischen Traditionen möglich, die gerade für die Frage nach der spezifischen Funktion und Funktionalisierung von Intertextualität in der Sangspruchdichtung äußerst wertvoll sind. Zweitens zeichnet sich das sangspruchdichterische Œuvre des Kanzlers durch eine ausgesprochen große thematische Breite aus und bietet damit eine umfangreiche Basis für die Beantwortung der Frage, wie die Sangspruchdichtung an verschiedenen Diskursen partizipiert. Das breite thematische Feld lässt auf ein gewisses Maß an gelehrter Bildung schließen und ist fruchtbar für vielfältige Zugriffe: Religiöse Strophen ermöglichen die Frage danach, wie die Sangspruchdichter mit geistlichen Diskursen umgehen, worauf sie referieren, etwa auf literarische Traditionen geistlicher Dichtung oder die klerikal institutionalisierte Tradition der Predigt. Strophen avancierten astronomischen Wissens werfen dagegen Fragen nach der Partizipation an gelehrten (Fach‐)Diskursen auf und auch nach den Rezeptionsbedingungen für solche Wissensbestände in der volkssprachigen Lyrik.¹⁶³ Eine Strophe über die Unverlässlichkeit der Gerichtsbarkeit scheint dagegen eher auf einen entsprechenden juristischen Diskurs zu referieren. Den Großteil des Kanzlerschen Sangspruchœuvres machen Strophen der Herrenlehre und -schelte (vereinzelt auch Kleruskritik) sowie

 Vgl. Holger Runow: Hât ieman sin sô snellen … Rezeptionsbedingungen des Sangspruchs um 1300 zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Gert Hübner, Dorothea Klein (Hg.): Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013. Hildesheim 2015, S. 89–108, hier S. 93. Der zweiten Strophe fehlen die letzten drei, der dritten die ersten zwei Verse, zudem erscheinen sie inhaltlich gestört. Allerdings stellen diese beiden Strophen einen Sonderfall dar, wie die verderbte (?) Parallelüberlieferung in C zeigt, die ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten verursacht; vgl. dazu Kap. 2.2.6.  Vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 986.  Ausführlich widmet sich diesem Befund bereits Jens Haustein: Gattungsinterferenzen in Sangspruch und Minnelied des Kanzlers. In: Dorothea Klein, Trude Ehlert, Elisabeth Schmid (Hg.): Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg 15.–18. Februar 2006. Tübingen 2007, S. 169–186.  Ausführlich dazu Runow (Hât ieman sin sô snellen).

1.3 Der Kanzler

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allgemeine Moral- und Tugendlehren aus, für die besonders Fragen nach gattungsinternen Textreihen virulent werden dürften. Das gilt auch für Strophen der Kunstreflexion und die damit nicht selten einhergehende Konkurrentenschelte. Zugleich finden sich in diesen typisch sangspruchthematischen Strophen – wie so oft in dieser Gattung – exemplarische Illustrationen des Gemeinten durch Versatzstücke aus der Bibel, aus Fabeln, aus dem Physiologus, deren spezifische Rezeption und Verarbeitung intertextuell zu untersuchen lohnt. Drittens weist die Dichtung des Kanzlers zahlreiche offensichtliche Berührungspunkte mit dem Œuvre Konrads von Würzburg auf. In Anbetracht der Bekanntheit und umfassenden Wirkung Konrads auf seine Zeitgenossen wird der Kanzler allgemein als der Nehmende und Konrad als sein ‚Vorbild‘ eingestuft.¹⁶⁴ Die intertextuellen Bezugnahmen zwischen diesen beiden Dichtern umfassen eine Vielfalt von Erscheinungsformen, denn sie zeigen sich sowohl in Übernahmen formaler als auch stilistischer und inhaltlicher Aspekte, wobei sich letztere mitunter auch in wörtlichen Zitaten oder Motivresponsionen manifestieren. Intertextuelle Referenzen zeichnen sich dabei nicht nur zum lyrischen Werk Konrads ab, sondern – zumindest vereinzelt – auch zu Konrads Epen, was erneut das Thema von Gattungsgrenzen berührt und insofern auch auf dieser Ebene aufschlussreich für die intertextuelle Betrachtung sein kann.

1.3.3 Forschungsstand Das Œuvre des Kanzlers wurde in der Forschung bisher im Allgemeinen nicht breit rezipiert, allerdings sind bereits zwei Monographien dazu entstanden. Die ältere dieser Arbeiten ist eine Dissertation von Harald Krieger aus dem Jahr 1931. Er kann dabei nur auf geringe Vorarbeiten zurückgreifen, die größtenteils überblicksartig sind und sich in sehr grundsätzlichen Beobachtungen und Diskussionen über biographische Daten erschöpfen.¹⁶⁵ Kriegers Dissertation setzt sich die Aufgabe „die von ihm [dem Kanzler, Anm. d. Verf.] ausgesprochenen Tatsachen und Ideen zu deuten, im Zusammenhang mit anderen Stellen von ihm, Vorläufern und Zeitgenossen verständlich zu machen und ihn geistesgeschichtlich einzuordnen“.¹⁶⁶ Ähnlich wie die vorliegende Arbeit beabsichtigt also auch Krieger, die Dichtung des Kanzlers im Kontext ihres literarischen Umfelds zu untersuchen, jedoch auf das anders geartete Ziel einer geistesgeschichtlichen Einordnung des Dichters hin. Diese Zielrichtung

 Vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 986–988; Braun (Kanzler).  Zu nennen wären hier die Ausführungen von der Hagens in: Minnesinger, hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 4 Bde. Leipzig 1838 (im Folgenden HMS), S. 701–705; Fritz Grimme: Vornamenlose Minnesinger. In: Germania 37 (1892), S. 150–171; Ders.: Die rheinisch-schwäbischen Minnesinger. Paderborn 1897; Hermann Blasius: Der Kanzler. Ein mittelhochdeutscher Spruchdichter. In: 25. Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums zu Kreuzburg O.-S. (1898), S. 1–17.  Krieger (Kanzler), S. 10.

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1 Einleitung

bedingt denn auch den Ansatz über eine Stiluntersuchung, weil Krieger davon „überzeugt“ ist, „daß von dem Gehalt eines Zeitalters bezw. einer Persönlichkeit der Stil bestimmt und organisch mit ihm verknüpft ist“, und er daher „den Stil des K.s möglichst eng mit dem Gehalt seiner Dichtung in Beziehung zu setzen“ beabsichtigt.¹⁶⁷ Vorangestellt wird dieser Stiluntersuchung die umfassende Darlegung der Überlieferungssituation – auch der meistersängerischen, woran folgerichtig eine Diskussion über die (Un‐)Echtheit dieser spätüberlieferten Strophen anschließt –, gefolgt von einer differenzierten Analyse der Sprache des Dichters, die in eine Erörterung über seine Persönlichkeit mündet. An diese Einführung schließt eine detaillierte metrische Analyse an, welche die für die Arbeit zentrale Stiluntersuchung vorbereitet. Auch die folgende stilistische Untersuchung zeichnet sich durch große Differenziertheit und Genauigkeit aus. Anhand einer Vielzahl von Belegstellen analysiert Krieger, welche verschiedenen rhetorischen Verfahren die Dichtung des Kanzlers prägen, welche Wirkung er dadurch erzielt und welches Dichterselbstverständnis sich daraus ableiten lässt. Diese Beobachtungen sind im Allgemeinen profund und gründlich, auch wenn die daraus abgeleiteten Einschätzungen Kriegers nicht immer frei von zeittypischen Werturteilen und heute nicht mehr haltbaren Forschungsmeinungen sind.¹⁶⁸ Die von Krieger eingangs angekündigte Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem Kanzlerschen Œuvre und seinen Vorläufern sowie Zeitgenossen leistet er besonders für dessen Minnesang. Dabei verweist Krieger auf häufige Motive und Wendungen beim Kanzler, die teils einen ‚vagantischen‘ Einfluss nahelegten, ansonsten aber im Gattungskontext des Minnesangs als äußerst gebräuchlich einzustufen seien. Als spezifische Einflüsse macht er daneben gleichwohl den Minnesang Neidharts, Gottfrieds von Neifen und ganz besonders Konrads von Würzburg aus. Für die Zusammenhänge mit Vorläufern und Zeitgenossen in der Sangspruchdichtung des Kanzlers bleiben die Nachweise dagegen exemplarisch, was Krieger damit begründet, dass „zu viele der Parallelen vorhanden [sind], die nicht alle gefunden, geprüft und gewogen werden können“, aber er wolle dennoch „fest[ ]stellen, wie weit einzelne Tatsachen dem Didaktiker Bildungsbesitz sind, der einer Verbreitung für wert erachtet wird“.¹⁶⁹ Krieger weist insofern nur einige Bezugnahmen auf spezifische Quellen aus (diese allerdings zwar knapp, aber sehr gründlich), nämlich auf die Bibel, die Darstellung der Sieben Gaben des Heiligen Geistes bei Thomas von Aquin, zwei äsopische Fabeln und den Physiologus. Er erörtert zudem, auf welchem Weg sie dem Kanzler vermittelt worden sein könnten, wobei er die Kanzlerschen Modifikationen dieser Quellen allerdings nicht immer als Ausweis einer dezidierten Auseinandersetzung eigenen Rechts mit der Vorlage versteht, sondern als Hinweis auf deren verlorene Rezeptionsstufen oder gar auf die mangelnde Bildung des Autors einstuft. Krieger

 Vgl. Krieger (Kanzler), S. 10.  Vgl. dazu etwa Krieger (Kanzler), S. 65 f., 77.  Krieger (Kanzler), S. 78.

1.3 Der Kanzler

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nimmt die Referenz des Kanzlers auf diese vorgängigen Texte insofern nicht uneingeschränkt als poetisches Mittel ernst, sondern betrachtet die Textreferenzen vorwiegend als unreflektierte Wissensweitergabe. Dieser Auffassung entspricht auch, dass er Referenzen auf andere Sangspruchstrophen fast gar nicht thematisiert (was aber zugleich wohl auch an den „zu viele[n] […] Parallelen“ liegt). Krieger schließt seine Dissertation mit einer erhellenden Analyse der vom Kanzler vermittelten Moralvorstellungen ab, bleibt es aber auch hier schuldig darzulegen, inwiefern sie Parallelen zur (Sangspruch‐)Dichtung seiner Vorgänger und Zeitgenossen aufweisen. Das kritisiert bereits Zach in seiner 1973 gedruckten (masch.) Dissertation, die sich ebenfalls dem Kanzler widmet.¹⁷⁰ Nicht zuletzt aufgrund dieses Defizits bei Krieger will Zach erneut „das Werk des Kanzlers vor dem Hintergrund der Dichtung des 13. Jahrhunderts […] betrachten“, indem er den Versuch unternimmt, „jeweils Verbindungen zu gleichen Motiven in den Werken anderer Autoren herzustellen, die dem Kanzler als Vorbilder gedient haben könnten, seine Zeitgenossen und Berufskollegen gewesen sind oder in den Jahrzehnten nach ihm gelebt und gedichtet haben“.¹⁷¹ Dabei richtet sich Zachs Interesse letztlich aber vorwiegend darauf festzustellen, „welche Arbeitsweisen dem Dichter bei der Abfassung seiner Dichtung vorgegeben gewesen sein könnten“, um die literarische Technik des Kanzlers zu beschreiben, sein Gesamtwerk zu charakterisieren und ihn in die Literatur seiner Zeit einzuordnen.¹⁷² Im Anschluss an ein einführendes Referat „grundlegende[r] Fragen nach der Überlieferung des Werkes, der Sprache des Dichters und seiner Persönlichkeit“¹⁷³ verfolgt er dieses Ziel in einem umfangreichen Analyseteil. In sehr ungleicher Gewichtung bietet Zach dort eine thematisch geordnete, differenzierte, wenn auch vorwiegend deskriptive Interpretation der Sangspruchstrophen des Kanzlers und eine besonders im Kontrast dazu eher pauschale Analyse seines Minnesangs. In beachtlicher Menge und Sorgfalt sammelt Zach bei der Untersuchung der Sangspruchstrophen mögliche Quellen für verschiedene Motive sowohl aus der „Schulgelehrsamkeit“ der Zeit als auch aus dem Werk anderer Dichter. Diese Quellenangaben stehen jedoch häufig eher neben der Interpretation und dienen Zachs Untersuchungsinteresse entsprechend vorwiegend dazu, die ‚Eigenleistung‘ des Dichters daran zu bemessen. Damit wird Fremdtextreferenz – wiewohl Zach den Rückgriff auf Quellen als literarische Technik bezeichnet – nicht als poetische Strategie eigenen spezifischen Werts wahrgenommen, sondern tendenziell abqualifiziert als epigonales innovationsarmes Schöpfen aus der Tradition, das infolge der Konventionalität des übernommenen Materials nicht zur Ausbildung eines individuellen Stils führe.¹⁷⁴ Zwar betrachtet Zach die Auswahl und Kombination beziehungsweise Variation der vorgegebenen Modelle als eine gewisse Eigenleistung des Dichters und fragt nach dessen spezifischem Autorenprofil,     

Vgl. Zach (Kanzler), S. 7 f. Zach (Kanzler), S. 9. Vgl. Zach (Kanzler), S. 9 f. Zach (Kanzler), S. 9. Vgl. Zach (Kanzler), S. 284.

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1 Einleitung

nach den Prinzipien also, nach denen dieser seine Themen auswähle und formal sowie stilistisch gestalte. Er resümiert allerdings letztlich, dass die Auswahl des Kanzlers ihn als Dichter zeige, der sich als „gebildete[r] Berater und schulmeisterliche[r] Warner“ ausweisen und „seine meisterliche Kunstfertigkeit und die absolute Beherrschung der Form unter Beweis stellen“ wolle,¹⁷⁵ womit er sich nicht so weit von den Werken anderer Dichter seiner Zeit abhebe, dass sich darin eine Sonderstellung in der Lyrik des 13. Jahrhunderts manifestiere.¹⁷⁶ Ein ähnlich gewissermaßen ‚unspezifisches‘ Autorenprofil attestiert Haustein dem Marner, macht dies aber im Gegensatz zu Zach nicht zu einem Argument, um den Dichter nach Maßgabe eines modernen sich an Innovativität bemessenden Werturteils abzuqualifizieren, sondern entwickelt daraus vielmehr die Frage, was dieses unscharfe Profil über das zeitgenössische Gattungsbewusstsein insgesamt aussagen könnte, und nimmt es zum Anlass, die Selbstreferentialität der Sangspruchdichtung stärker zu thematisieren.¹⁷⁷ Auf den Kanzler bezogen würde das erfordern, die von Zach angesprochenen Verfahren von Auswahl, Kombination und Variation vorgegebener Modelle spezifischer hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen, ihrer Funktion und ihres Potenzials auszuloten, die Wechselwirkungen zu sondieren, die sich aus diesen Referenzen auf gattungsin- und -externe Bezugshorizonte ergeben, und die Relevanz von Intertextualität als literarischer Technik im Feld der gesamten Gattung zu bestimmen. Wie fruchtbar solcherart differenzierte Untersuchungen am Œuvre des Kanzlers sein können, zeigen besonders Haustein, Seeber und Runow, die das an einzelnen Strophen mit drei ganz unterschiedlichen Fragestellungen unternehmen. Haustein untersucht Gattungsinterferenzen in Sangspruch und Minnelied des Kanzlers.¹⁷⁸ Er beschreibt dabei, inwiefern sich beim Kanzler – obgleich „die Gattungsidentität keineswegs auf breiter Front in Frage gestellt wird“ – werkintern Phänomene gegenseitiger Bezugnahmen zwischen den beiden Gattungen zeigen.¹⁷⁹ Hierbei beobachtet er zum einen für die Sangspruchdichtung des Kanzlers, dass gerade etwa in seinen Frauenpreis-Strophen natureingangshafte Versatzstücke Referenzen auf den Minnesang bilden. Zum anderen zeigt er, wie wiederum dem Minnesang des Kanzlers sangspruchhafte Tendenzen eignen. Denn trotz des starken Gattungsbezugs durch minnesangtypische Elemente wie Liedhaftigkeit und Natureingang nähere sich der Minnesang des Kanzlers – in der Nachfolge Konrads – durch  Zach (Kanzler), S. 285.  Zach resümiert hier: „Die nachgewiesene Technik ist mit Recht als Arbeitstechnik eines nach Vorbildern orientierten Dichters zu werten, denn die erlernbare ars steht vor dem schöpferischen ingenium im Vordergrund“, Zach (Kanzler), S. 285.  Vgl. Haustein (Marner-Studien), S. 243 – 247.  Haustein (Gattungsinterferenzen); zu formalen Interferenzen beim Kanzler vgl. Johannes Rettelbach: Minnelied und Sangspruch. Formale Differenzen und Interferenzen bei der Tonkonstitution im 13. Jahrhundert. In: Dorothea Klein, Trude Ehlert, Elisabeth Schmid (Hg.): Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg 15.–18. Februar 2006. Tübingen 2007, S. 153–168, bes. S. 162–164.  Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 181.

1.3 Der Kanzler

41

die „Reduktion auf den Frauenpreis, der sich zu einem allgemeinen Lob oder einer generellen Ermahnung erweitern kann“ und die „Dispensation des nur noch rudimentär erkennbaren Ichs von aller Erfahrung“ so weit dem Sangspruch an, dass Bilder und Vergleiche in beiden Gattungen gleichermaßen verwendet werden könnten.¹⁸⁰ Dabei arbeitet Haustein – im Rekurs auf eine Miszelle Petzschs zum dritten Ton des Kanzlers – eine spezifische Argumentationsstruktur bei diesem Dichter heraus, nämlich eine diskursive Begriffsentfaltung per analogiam, die sowohl seinen Sangspruch als auch seinen Minnesang präge.¹⁸¹ Er hebt hervor, dass dies im Kanzlerschen Minnesang gerade deswegen so auffällig sei, weil es zeige, dass sein Minnesang genauso wie seine Sprüche nicht in Erfahrung gründe, sondern in Wissen.¹⁸² Die Untersuchung von Gattungsinterferenzen beim Kanzler erweist sich also insofern als fruchtbar, als sie dazu beiträgt, poetische Verfahren des Dichters zu analysieren, etwa, inwiefern Minnesang, der sich nicht als individuelle Erfahrung geriert, spezifischer Begründung zu bedürfen scheint und wie dies im Fall des Kanzlers zu einer Übernahme bewährter rhetorischer Strategien aus der Sangspruchdichtung führt. Das berührt zugleich auch Fragen nach literarischen Geltungsstrategien und nach dem sich hier offenbarenden zeitgenössischen Gattungsverständnis, denen ich in meiner Untersuchung nachgehen will. Eine weitere Studie zu einer Strophe des Kanzlers (1Kanz/5/11), die intertextuelle Fragestellungen berührt, hat Seeber vorgelegt, der die Darstellung von Freundschaft bei Walther von Breisach und dem Kanzler vor dem Hintergrund sowohl des gattungsin- als auch -externen Freundschaftsdiskurses untersucht.¹⁸³ Er zeigt hier, dass die Sangspruchstrophen auf Versatzstücke einer gelehrten Freundschaftstheorie referieren, die sich Ciceros Laelius und Aelreds von Rivaulx De spiritali amicitia verdanken. Anders als in der Epik, die zwar von Freundschaft erzählt, sie aber nicht konzeptuell reflektiert, werde in der Sangspruchdichtung somit der Versuch unternommen, mithilfe von Leitbegriffen und Andeutungen das antike, christlich über Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 186; zur Atropie des Ich im späten Minnesang vgl. Franz Josef Worstbrock: Lied VI des Wilden Alexander. Überlieferung, Interpretation und Literarhistorie. In: PBB 118 (1996), S. 183–204, hier S. 199.  Vgl. Petzsch (Lied III des Kanzlers), der diese Argumentationsstruktur als Verbindungskonstituente der Strophen des dritten Tones betrachtet. Im Beweisgang per analogiam zeige sich das „differenzierende Denken“, das „offensichtlich Eigentümlichkeit des Autors“ sei. Dieser Beweisgang sei „auf ein Primäres bezogen: auf die Erkenntnis, dass vollere Wirklichkeit sich auch am Gegensätzlichen konstituiert, das Eine seine vollere Wirklichkeit erst in Hinblick auf das Andere (verkehrten Vorzeichens) gewinnen kann“, S. 405 f.  Vgl. Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 186; es zeige sich „das Bemühen des Kanzlers, im verallgemeinernden Sprechen, das alle betrifft, Begriffe zu entfalten, Gegensätze zusammenzustellen, durch Aufzählung auf ein Ganzes zu zielen und diese Begriffe, Gegensatzpaare und Aufzählungen dann in einen argumentativen Zusammenhang zu bringen“, ebd.; zur Begriffsexplikation beim Kanzler vgl. auch Christoph Huber: Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob. Zürich/München 1977.  Stefan Seeber: Freundschaft bei Walther von Breisach und dem Kanzler. In: ZfdPh 129 (2010), S. 347–362.

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1 Einleitung

formte Wissen der Rezipienten zum Thema Freundschaft aufzurufen. Der diskursive Hintergrund sei dabei vielfältig aufgefächert und erlaube verschiedentliche Aktualisierungen.¹⁸⁴ In der Betrachtung einer Reihe von Sangspruchstrophen, die sich dem Thema der Freundschaft widmen, zeigt Seeber dabei einerseits, wie wiederaufgenommene Topoi durch rhetorische Kniffe und ungewohnte Sichtweisen neu aufbereitet werden können, andererseits wird an dieser Textreihe deutlich, dass Walther von Breisach und der Kanzler den Freundschaftsdiskurs funktionalisieren, um eine Individualität des Ich zu reflektieren.¹⁸⁵ Die Analyse sangspruchdichterischer Diskursreferenzen ermöglicht es Seeber hier mithin, Tendenzen zu belegen, die sich in der Spruchdichtung häufiger andeuteten, selten aber in dieser Deutlichkeit ausformuliert würden, nämlich das Thema einer Identitätsbildung des Ich.¹⁸⁶ Seeber zeigt damit, wie ertragreich die differenzierte intertextuelle Verortung einer Einzelstrophe auch im Hinblick auf weiterführende Fragestellungen sein kann und ist insofern gewissermaßen vorbildhaft für die nachfolgenden Analysen. Seine Studie regt zudem dazu an zu vergleichen, in welchem Verhältnis die hier herausgearbeiteten Diskursreferenzen und intertextuellen Bezüge auf vorgängige Sangspruchstrophen zu derartigen Strategien in anderen Strophen des Kanzlers stehen. Mit einer scheinbar ganz anderen Fragestellung befasst sich Runow, der anlässlich astronomischer Strophen bei Rumelant von Sachsen und dem Kanzler nach den Rezeptionsbedingungen des Sangspruchs um 1300 zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit fragt.¹⁸⁷ Ausgangspunkt dieser Reflexion sind zwei astronomische Strophen des Kanzlers (1Kanz/2/10 f.), in welchen voraussetzungsreich mit Fachbegriffen operiert wird, die jedoch in beiden erhaltenen Überlieferungszeugen deutlich entstellt erscheinen.¹⁸⁸ Runow stellt vor diesem Hintergrund die Frage, welche Rückschlüsse jene prekäre Überlieferung auf die zeitgenössische Rezeption der beiden Strophen zulasse. Er erwägt besonders zwei Möglichkeiten: Entweder habe ein ursprünglich konsistenter Text eines gelehrten Autors zugrunde gelegen, dann zeige die Überlieferung, dass der avancierte Inhalt die Schreiber überfordert habe. Das würfe ferner die Frage auf, ob dies dann nicht ebenso auch für Zuhörer und Rezipienten zugetroffen haben müsste und welchen Zweck der Text dann letztlich verfolgt habe. Oder aber der Text sei schon immer fehlerhaft gewesen, weil der Autor selbst gar nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügte und Gelehrsamkeit nur habe prätendieren wollen.¹⁸⁹ Vergleichend stellt Runow dieser Kanzler-Strophe eine ebenfalls astronomische Strophe Rumelants gegenüber, die jedoch im Gegensatz zu derjenigen des

 Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 360.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 361.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 361 f.  Runow (Hât ieman sin sô snellen).  Um eine anspruchsvolle Rekonstruktion dieser Strophen verdient gemacht hat sich Johannes Siebert: Die Astronomie in den Gedichten des Kanzlers und Frauenlobs. In: ZfdA 75 (1938), S. 1–23, hier S. 1–14.  Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 94 f.

1.3 Der Kanzler

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Kanzlers in beiden Überlieferungen keine erkennbare Entstellung erfährt. Der Vermutung, dass dies dem Umstand geschuldet sein könnte, dass Rumelant hier im Gegensatz zum Kanzler auf (lateinische) Fachtermini verzichtet, hält Runow in einer differenzierten Analyse die Komplexität der Rumelantschen Strophe entgegen, die nicht weniger anspruchsvoll als diejenige des Kanzlers sei. Diese Beobachtungen führen Runow zu der Überlegung, ob sich in der Avanciertheit solcher Sangspruchstrophen, die im mündlichen Vortrag kaum vollständig rezipierbar gewesen sein können, vielleicht ein Hinweis darauf abzeichnet, dass sie zunehmend für eine schriftliche Rezeption bestimmt waren. Er erhärtet diese These im Folgenden durch eine Beispielreihe weiterer Sangspruchstrophen, die verschiedene Arten von Wortspielen enthalten, welche in einer mündlichen Rezeptionssituation kaum vollständig auflösbar sind und insofern ebenfalls auf eine zumindest zusätzliche schriftliche Rezeption verweisen.¹⁹⁰ Runow wertet diese Texte folglich als „Experimentieren unter und mit sich wandelnden medialen Voraussetzungen“ und sieht darin Hinweise auf ein produktionsseitig schon angelegtes Interesse an schriftlicher Verbreitung und Rezeption.¹⁹¹ Wiewohl dies nicht im Fluchtpunkt seiner Überlegungen steht, eröffnet Runow mit diesem Beitrag auch den Blick auf intertextuelle Fragestellungen: Zum einen diskutiert er – prominent unter rezeptionsseitiger Perspektive –, welche Absichten Rekursen auf gelehrte Diskurse in der Sangspruchdichtung potenziell zugrunde liegen könnten, zum anderen ließen sich die vorgestellten Textbeispiele zum Wortspiel auf eine darin sich offenbarende Selbstreferentialität der Gattung hin befragen.¹⁹² Wie die ältere Forschung zum Kanzler (Krieger, Zach) zeigt, bietet das Sangspruchcorpus dieses Dichters in großer Breite Referenzen auf andere Texte. Sie dezidiert als poetisches Mittel eigener Geltung zu analysieren, steht allerdings noch aus, ebenso wie ferner zu eruieren, inwiefern sich darin ein spezifisches Verfahren der Gattung abzeichnet und welche Funktion diesem zukommt. Dass eine solche Untersuchung sich lohnt, zeigen die jüngeren Beiträge zu diesem Autor, in welchen – wenngleich hier großenteils andere Untersuchungsschwerpunkte gesetzt werden – punktuell aufscheint, wie umfangreich die Sangspruchdichtung des Kanzlers intertextuell sowohl mit anderen Diskursen als auch Gattungen und Einzeltexten vernetzt ist und wie vielfältige Erkenntnisse eine differenzierte Analyse dieser Verknüpfungen auf verschiedenen Ebenen ergeben kann. Gerade da der Kanzler kein großer Neuerer im Stil Frauenlobs ist, sondern vielmehr ein Dichter, dessen Werk auf den ersten Blick eher konventionell wirkt, eignet sich sein Corpus für das vorangestellte Untersu-

 Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 99–106.  Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 107 f.  Unter intertextueller Perspektive erscheint mir ebenfalls aufschlussreich, dass diese Textreihe um das Beispiel eines wortspielerischen Lobpreises Albrechts von Braunschweig erweitert wird, das sich in ähnlicher Ausprägung bei Rumelant und in einer Chronik findet (der Braunschweiger Reimchronik, die in räumlicher und zeitlicher Nähe zu Rumelant entstanden ist), vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 102–104.

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1 Einleitung

chungsziel. Denn zum einen gründet diese scheinbare Konventionalität wesentlich im affirmativen Rekurs auf die eigene Gattung und in einer gewissen Orthodoxie der Inhalte, die sich – so meine ich – erst über einen intertextuellen Zugriff präzise als Strategien eigenen Wertes beschreiben lassen. Zum anderen kann die Untersuchung dieser Strategien an einem dergestalt konventionellen Strophencorpus aufgrund dieser gattungstypischen Anlage auch eine gewisse übergreifende Exemplarität für die gesamte Gattung beanspruchen. Um das Œuvre des Kanzlers möglichst feinmaschig nach intertextuellen Bezugnahmen zu untersuchen und diese in ihrer Verfasstheit und Funktion differenziert zu analysieren, werde ich im Folgenden von den Einzelstrophen ausgehen. Im Gegensatz zu den vorliegenden Monographien zum Kanzler, die ihre Analysen nach Themenfeldern strukturieren, folge ich der Anordnung der Sangspruchstrophen im Hauptüberlieferungszeugen C. Zwar bietet sich für eine intertextuelle Analyse eine inhaltsbezogene Systematisierung an, weil sie thematische Referenzen innerhalb des Œuvres abbildet. Eine solche thematische Gliederung steht aber der zeitgenössischen Systematisierung der Strophen in den Handschriften entgegen, die nach Tönen organisiert sind und droht in ihrer Vereindeutigung möglicherweise den Blick für die argumentative Vielschichtigkeit und thematische Offenheit mancher Strophen zu verstellen. Gerade unter dem Gesichtspunkt einer werkinternen Intratextualität soll daher im Folgenden mit Blick auf die häufig nicht zufällig wirkende Zusammenstellung von Strophen im Hauptüberlieferungszeugen C danach gefragt werden, ob die Überlieferung hier Hinweise gibt auf eine Zusammenstellung bestimmter Strophen und ihren Zusammenhang innerhalb der verschiedenen Töne, gleich ob diese Anordnung des Materials auf den Autor oder den Redaktor zurückgeht.¹⁹³ Den Analysen liegt entsprechend auch die Textgestalt der Einzelstrophen nach C zugrunde, ich folge dabei deren Neuedition in LDM. Wo Parallelüberlieferungen vorliegen, werden diese konsequent synoptisch abgebildet und abweichende Lesarten interpretatorisch berücksichtigt.

 Vgl. Brunner (Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit), S. 325 f., der konstatiert: „Die Anordnung der Strophen oder Spruchlieder innerhalb der Töne wird auch hier [in den Sammelhandschriften C und J, Anm. d. Verf.] vielfach auf Sammlungen der Autoren selbst zurückgehen, kann freilich auch durch Redaktoren hergestellt worden sein“, ebd. S. 326.

2 Analysen 2.1 Ton I (1Kanz/1/1–6) 2.1.1 Strophe 1 – Noah und seine Söhne (1Kanz/1/1) C Kanz  Ich hab mich underwunden ze singen, ob ich mag. ze tihten truwe ich vinden, des wisent mich du̍ bch.  Noe mit schanden funden wart, do er trunken lag, von drin sinen kinden: dem einen wart der flch. Kam vant sinen vater blozen,  mit spot in schalle er schrei: ‚seht umb den trunken bozen, sin wisheit ist enzwei!‘ Sem unde Japhet, die beide, im leiten uber ir kleit,  in tet sin schame leide. da hb sich edelkeit.

Indem der Codex Manesse diese Strophe das Kanzler-Œuvre eröffnen lässt, die mit einer expliziten poetologischen Selbstthematisierung anhebt, funktionalisiert er sie redaktionell pointiert als Prologstrophe. Das Sänger-Ich reflektiert im ersten Stollen seine künstlerische Tätigkeit, wobei es sein Vorhaben zu singen performativ bekräftigt (ich hab mich underwunden, V. 1), es aber zugleich mit einer Demutsformel relativiert (ob ich mag, V. 2). Zum einen stiftet es damit über den Begriff des singens einen Traditionsbezug auf die Sangspruchdichtung (s.o.).¹ Zum anderen exklusiviert es mit dieser Inszenierung den Akt des Singens: Das singen ist nichts Selbstverständliches, was jeder kann, und das Sänger-Ich weiß darum. Es vertraut aber dennoch darauf, etwas zum tihten zu vinden, weil es die bch dabei anleiten. Über die Thematisierung der inventio, die Notwendigkeit materia aufzufinden, greift es einen (gelehrten) rhetorischen Diskurs über Bedingungen des Dichtens auf und rückt mit dem Verweis auf die bch sogleich seine eigene (Schrift‐)Gelehrsamkeit in den Mittelpunkt, die es zu jenem Unterfangen, Teil einer rhetorischen Tradition des Singens zu werden, autorisiert. Das Sänger-Ich markiert damit explizit den Rückgriff auf vorgängige Schrifttexte, ohne jedoch zu präzisieren, um welche(n) Text(e) es sich dabei handelt und ob diese Aussage werküberspannend oder strophenintern zu verstehen ist. Bezöge die Berufung auf du̍ bch sich ausschließlich auf die Bibel (als Quelle des im Anschluss  Vgl. Kap. 1.1.1.2. Die Originalversion dieses Kapitels wurde revidiert. Verschiedene formale Punkte wurden korrigiert. Ein Erratum ist verfügbar unter: https://doi.org/10.1515/9783110712889-007 https://doi.org/10.1515/9783110712889-003

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auserzählten Stoffes), wäre vielleicht eher der Singular zu erwarten (daz bch), andererseits ließe sich der Plural auf die verschiedenen Bibelbücher beziehen. Gerade in der Unschärfe dieser Formulierung erscheinen du̍ bch über den konkreten Bezug hinaus allgemein als abstrakte Größe, als ein auf Konventionen beruhender Kanon, der den Einzelnen zum Dichten befähigt. Als (unspezifizierte) Autoritätsberufung legitimiert er die diskutierten Stoffe, gibt dem Sprecher einen gebildeten Anstrich² und markiert zugleich explizit eine Fremdtextreferenz. Auf welchen (Prä‐)Text der Kanzler in dieser Strophe referiert, markiert er im zweiten Stollen mit der eröffnenden Namensnennung: Noe (V. 5). Sogleich wird damit deutlich, dass es sich um einen biblischen Prätext handelt und mit der Genesis zudem um einen, der umfassend als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die nachfolgende Paraphrase der Bibelstelle verweist auf den spezifischen zitierten Prätext (und weist die Bezugnahme damit zugleich als Einzeltextreferenz aus): Noe mit schanden funden/ wart, do er trunken lag,/ von drin sinen kinden:/ dem einen wart der flch (V. 5–8). Der Stollen gibt hier also einen kurzen Abriss der zeitgenössisch gut bezeugten biblischen Geschichte von Noahs Fluch:³ Stark gerafft erzählt das Sänger-Ich, dass Noahs Kinder den betrunkenen Vater in beschämender Verfassung aufgefunden haben und dass eines von ihnen später verflucht wurde, wobei die Verfluchung durch die Formulierung einem wart der flch (V. 8) erstaunlich passivisch erscheint. Im Abgesang wird dieses Geschehen dann differenzierter ausgeführt: Kam vant sinen vater blozen,/ mit spot in schalle er schrei:/ ‚seht umb den trunken bozen,/ sin wisheit ist enzwei!‘/ Sem unde Japhet, die beide,/ im leiten uber ir kleit,/ in tet sin schame leide./ da hb sich edelkeit (V. 9–16). Der Prätext dieser Kanzler-Strophe ist Genesis 9,18–27, wo die Geschichte von Noahs Fluch folgendermaßen erzählt wird: Noah erfand den Weinbau, kannte aber die Wirkung des Weines nicht, trank zu viel davon und schlief berauscht nackt ein. Als sein Sohn Cham ihn so fand, erzählte er seinen Brüdern Sem und Japhet davon. Diese jedoch blickten die Blöße des Vaters nicht an, sondern bedeckten sie – rückwärts sich nähernd – mit einem Überwurf. Als Noah erwachte und erfuhr, was geschehen war, verfluchte er Chams Sohn Kanaan, er solle Sems und Japhets Knecht sein.⁴

 Vgl. auch Zach (Kanzler), S. 216.  Vgl. Krieger (Kanzler), S. 44.  Gen 9,18 – 27: erant igitur filii Noe qui egressi sunt de arca Sem Ham et Iafeth/ porro Ham ipse est pater Chanaan 19tres isti sunt filii Noe et ab his disseminatum est omne hominum genus super universam terram 20 coepitque Noe vir agricola exercere terram/ et plantavit vineam 21bibensque vinum inebriatus est et nudatus in tabernaculo suo 22quod cum vidisset Ham pater Chanaan/ verenda scilicet patris sui esse nuda/ nuntiavit duobus fratribus suis foras 23at vero Sem et Iafeth pallium inposuerunt umeris suis/ et incedentes retrorsum operuerunt verecunda patris sui/ faciesque eorum aversae erant/ et patris virilia non viderunt 24evigilans autem Noe ex vino/ cum didicisset quae fecerat ei filius suus minor 25ait/ maledictus Chanaan/ servus servorum erit fratribus suis 26dixitque/ benedictus Dominus Deus Sem/ sit Chanaan servus eius 27dilatet Deus Iafeth et habitet in tabernaculis Sem/ sitque Chanaan servus eius, die Vulgata ist hier und im Folgenden zit. nach: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch – Deutsch, nach Hieronymus hg. von Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers, Michael Fieger. 5 Bde. Berlin/Boston 2018.

2.1.1 Ton I, Strophe 1 – Noah und seine Söhne (1Kanz/1/1)

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An diese Bibelstelle knüpft eine lange aitiologische Auslegungstradition an: Zuerst wurde sie auf die Unterwerfung der Kanaanäer durch Israel bezogen,⁵ dann instrumentalisiert, um die Völkerfamilien Asiens, Afrikas und Europas zu hierarchisieren.⁶ Früh wurde sie auch auf die Gesellschaftshierarchie im Allgemeinen übertragen und zur Erklärung für die Entstehung von Herrschaft und Knechtschaft herangezogen, wobei sie im Mittelalter zunehmend auf das Ständesystem hin ausdifferenziert wurde.⁷ Diese Funktionalisierung der Genesis-Episode im Sinne einer Legitimation des Adels ist in der mittelhochdeutschen Rezeption der Bibelstelle von Anfang an zentral. So heißt es in der Frühmittelhochdeutschen (Wiener) Genesis beispielsweise nicht nur, dass Noah Cham und seine Nachkommen ze scalchen herabgesetzt habe, sondern es wird auch explizit hervorgehoben, dass er Chams Brüder ze urîem lîbe erhöht habe (V. 1510–1519).⁸ Ganz deutlich wird hier also eine zeitgenössische ständische Terminologie eingesetzt, die die Interpretation der Textstelle auf das Ständesystem hin vereindeutigt, denn vrî hebt auf die Adelsfreiheit ab, während schalk bis mindestens zum Beginn des 13. Jahrhunderts offenbar denjenigen bezeichnet, der unter dem „Fluch der eigenschaft“ (Leibeigenschaft) steht.⁹ Diese Semantik von schalche belegt auch das Anegenge, wo der Begriff synonym zu eigen gebraucht wird, wenn es heißt, Cham sei befohlen worden, seiner Brüder eigen zu sein und deswegen seien seine Nachfahren schalche (von dem wurden die schalche geborn,V. 2042).¹⁰ Im Lucidarius und den Vorauer Büchern Moses wird diese Hierarchisierung dann ständisch ausdifferenziert in Freie, Ritter und Diener, wofür die Bibelstelle erzählerisch ergänzt wird: Nur Sem habe Noah bedeckt, heißt es dort, Japhet habe lediglich dabeigestanden, aber zumindest nicht gespottet.¹¹ Die „alte[ ]

 Das knüpft daran an, dass Cham als Vater Kanaans eingeführt wird, vgl. Klaus Grubmüller: Noês Fluch. Zur Begründung von Herrschaft und Unfreiheit in mittelalterlicher Literatur. In: Dietrich Huschenbett u. a. (Hg.): Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters, Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Tübingen 1979, S. 99 – 119, hier S. 103.  Vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 103; nach Beda (Hexameron III, PL 91, Sp. 115) beispielsweise habe Ham Afrika erhalten, Sem Asien und Japhet Europa, vgl. ebd.; vgl. auch: Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Stuttgart 1957– 1963, Bd. 1 (bes. S. 120 – 122, 148, 272 f.) und Bd. 2 (bes. S. 371, 417, 434).  Vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 103 – 108; zur Konsolidierung dieser Vorstellungen im Mittelalter haben nach Grubmüller besonders Augustinus’ diesbezügliche Überlegungen in De civitate Dei beigetragen, vgl. ebd., S. 103 f.  Vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 104 f.; die Frühmittelhochdeutsche (Wiener) Genesis ist hier und im Folgenden zitiert nach: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift, hg. von Akihiro Hamano. Berlin/Boston 2016.  Vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 104 f.; die semantische Bedeutungsverschiebung von schalk zu einem Begriff moralischer Bewertung vollzieht sich erst im Laufe des 13. Jahrhunderts, vgl. ebd.  Hier und im Folgenden zit. nach: Das Anegenge, hg. von Dietrich Neuschäfer. München 1969; vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 105.  Lucidarius I,43 (Der deutsche Lucidarius. Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Dagmar Gottschall und Georg Steer. Tübingen 1994); Vorauer Bücher Mosis, S. 14 (Deutsche Gedichte

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Aitiologie von Freiheit und Unfreiheit“ wird also Ende des 12. Jahrhunderts zunehmend zu „eine[r] Legitimationserzählung für ständische Rangordnungen“.¹² Beim Kanzler scheint die Geschichte auf den ersten Blick in die gleiche Richtung zu weisen, wenn man für den Schlussvers da hb sich edelkeit die Bedeutung ‚dort entstand der Adel‘ ansetzt.¹³ Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass der Kanzler in dieser Einzeltextreferenz den Prätext und in der Folge auch dessen übliche Auslegungstradition subtil modifiziert. Durch diese Modifizierungen instrumentalisiert er die Noah-Geschichte, um zentrale Sangspruchthemen zu exponieren. Der biblische Prätext wird dabei umakzentuiert: Auffällig ist zunächst, dass das Sänger-Ich Chams Spott ausformuliert und in direkter Rede wiedergibt, was die Geschichte narrativ belebt,¹⁴ die Aussage des Sohnes in den Blick rückt und den im Prätext unspezifischen Spott Chams konkretisiert. Der Kanzler lässt Noahs Sohn dabei ausrufen: ‚seht umb den trunken bozen,/ sin wisheit ist enzwei!‘ (V. 11 f.). Cham inszeniert sich also als Sittenwächter und übernimmt damit eine Aufgabe, die in der höfischen Kultur des Mittelalters gerade die Sangspruchdichter für sich zu beanspruchen pflegen.¹⁵ Die Kritik Chams an Noah ist aber in zweifacher Hinsicht unangemessen: zum einen, weil das Verhalten des Vaters zwar unschicklich erscheint, sich aber dadurch entschuldigen lässt, dass Noah die Wirkung des Weines als sein Erfinder nicht kennen konnte, zum anderen, weil Cham sich gegenüber Noah falsch verhält, denn die personale Beziehung zu seinem Vater hätte seine Loyalität und seinen Respekt als Sohn erfordert. Dass Cham dem betrunkenen Vater hier nun die wisheit abspricht, ist besonders auffällig, denn in der mittelhochdeutschen Rezeption der Textstelle verspottet Cham typischerweise die unangemessene Entblößung Noahs und diskutiert nicht einen weininduzierten Verlust seiner geistigen Fähigkeiten. Topisch ist die Verhandlung von

des XI. und XII. Jahrhunderts, hg. von Joseph Diemer. Darmstadt 1968 [Nachdruck der Ausgabe Wien 1849]).  Vgl. Grubmüller (Noês Fluch), S. 110.  Vgl. auch Grubmüller (Noês Fluch), S. 117, der meint, gerade die spangspruchdichterische Rezeption zeige, dass „[d]as Thema […] verfügbar geworden [ist], rational hantierbar, es kann emotionslos abgehandelt werden, es geht in den Wissensvorrat ein, aus dem es Spruchdichter wie Frauenlob, der Kanzler oder Michel Beheim routiniert zitieren können“. Gerade hier gibt es meines Erachtens aber deutliche Unterschiede zwischen der differenzierten Rezeption beim Kanzler (s.u.) und der späteren Rezeption beim Jungen Meißner (1JungMei/1/100, 1– 3; früher – so auch noch bei Grubmüller – Frauenlob zugeschrieben) und dem ‚letzten Sangspruchdichter‘ Michel Beheim (1Beh/100), bei denen die Geschichte in eine Reihe alttestamentarischer Exempel eingegliedert wird und dabei selbst relativ eindimensional als solches fungiert, so beim Jungen Meißner als Exempel für arg[e] wihte, die Gottes Recht nicht erkennen und gestraft werden sollen, bei Beheim als eines für Ehrfurcht vor den Eltern.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 217.  Die Sangspruchdichter betrachten sich als „Erzieher zu Tugend und Frömmigkeit“, verkörpern ein „Stück des öffentlichen Gewissens“ im Sinne eines „Wächter- und Richteramt[es]“, vgl. Stackmann (Heinrich von Mügeln), S. 99 f.

2.1.1 Ton I, Strophe 1 – Noah und seine Söhne (1Kanz/1/1)

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wisheit hingegen in der Sangspruchdichtung.¹⁶ Die Akzentverschiebung in der Rezeption beim Kanzler steht also womöglich im Dienst einer sangspruchdichterischen Funktionalisierung der biblischen Begebenheit. Exemplarisch wird vorgeführt, wie sich der Kritiker Cham bei der Beurteilung von wisheit selbst diskreditiert, indem er sie auf die falsche Art und Weise vorbringt, nämlich mit spot in schalle er schrei (V. 10). Die doppelt hervorgehobene Lautstärke schrei mit schalle betont die unkontrollierte Artikulation, die von einem Mangel an mâze, an Selbstkontrolle und Benimm zeugt, getrieben ist er dabei von spot, einem niederen unqualifizierten Motiv.¹⁷ Über das Negativexempel Cham werden also gleich zwei große Sangspruchthemen exponiert, nämlich erstens das Thema ‚richtiges und falsches Verhalten‘ und zweitens ‚Verhandlung von wisheit‘. Cham zeigt sich beim Anmahnen falschen Verhaltens wenig kontrolliert und verständig und zielt zudem nicht darauf ab, zu belehren oder vor falschem Verhalten zu warnen, sondern handelt aus Spottlust und um Aufmerksamkeit zu erlangen. Indem das Sänger-Ich dieses fehlerhafte Verhalten Chams exemplarisch ausstellt und kritisch thematisiert, inszeniert es sich als Gegenfigur und zeigt, dass es das Verhalten anderer Menschen differenziert zu beurteilen vermag. Damit schreibt es sich selbst wisheit und die Fähigkeit zu belehren zu und exklusiviert zudem diese Kompetenzen. Zugleich polemisiert das Sänger-Ich mit dem Negativexempel Chams gegen alle, die sich die Kritiker- und Sittenwächterrolle unverständig anmaßen, was in diesem Kontext auch als eine Invektive gegen unfähige Berufskollegen fungieren könnte. In der zweiten Hälfte des Abgesangs kontrastiert das Sänger-Ich das Negativexempel Cham, das die erste Hälfte des Abgesangs beherrscht, mit dem vorbildlichen Verhalten seiner Brüder. Die beiden Quartette des Abgesangs wirken durch ihre Kreuzreime jeweils in sich geschlossen und stehen sich dadurch auch formal gegenüber. Hier nun fällt besonders auf, dass das Verhalten der Brüder, die den nackten Vater wie in der Bibel bedecken, explizit motiviert wird.¹⁸ Es heißt: in tet sin schame leide (V. 15). Das weicht von der Tradition ab, wo meist nur die negative Absicht Chams thematisiert wird. So betont beispielsweise das Anegenge, dass Cham den Vater öffentlich bloßstellen will, um ihn zu schädigen (daz tete er im ze leide,V. 2032, zit. nach Neuschäfer), während das Verhalten der Brüder nur kurz als vil getriulîchen (V. 2034, zit. nach Neuschäfer) apostrophiert wird. Die Frühmittelhochdeutsche (Wiener) Ge Vgl. bes. Stackmann (Heinrich von Mügeln), bes. S. 86–88; besonders deutlich zeigt sich die Relevanz dieses Themas für die Gattung auch etwa im Rätselspiel des sogenannten Wartburgkrieges.  Auch der Spott gilt als Zungensünde (peccatum linguae), vgl. Bettina Lindorfer: ‚Zungensünden‘ und ewiges Strafgericht. Zur Performativität der Rede im moraltheologischen Diskurs des späten Mittelalters. In: Jutta Eming, Claudia Jarzebowski (Hg.): Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008, S. 53–74, bes. S. 58; die Verhandlung solcher Zungensünden nehmen ab Ende des 12. Jahrhunderts zunehmend Raum in Predigten, Moraltraktaten und Handbüchern ein, vgl. Carla Casagrande, Silvana Vecchio: I peccati della lingua. Disciplina ed etica della parola nella cultura medieval. Rom 1987, hier S. 141–146.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 217.

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nesis führt Chams überbordende Spottsucht und hässliche Freude daran, die Schande seines Vaters zu verbreiten, noch weiter aus und profiliert die Geschichte als Exempel der Spottlust, die als Indiz für Niedrigkeit ausgewiesen wird.¹⁹ Die Brüder dagegen fürchten hier, irgendwer könne die Schande sehen, was sie schmerzen würde.²⁰ Beim Kanzler zeigt sich also eine zwar kleine, aber signifikante Verschiebung, eine Abweichung von der Tradition, wenn Chams Handlungsmotivation nicht explizit thematisiert wird und dadurch die dezidiert hervorgehobene Motivation der Brüder deutlich hervorsticht: in tet sin schame leide (V. 15). Die Brüder zeigen von sich aus Mitgefühl mit dem Vater und seiner brüskierenden Situation. Sie folgen also nicht einem extrinsischen Zwang, wie etwa dem vierten Gebot, das ihnen auferlegt, den Vater zu ehren, oder der Sorge eines öffentlichen Blicks auf das Geschehen, sondern ihre Handlung ist intrinsisch, nämlich affektiv-emotional bestimmt und wird damit zu einem Akt der Nächstenliebe. Die Tatsache, dass die Brüder beim Kanzler nicht traditionsgemäß irgendeinen Überwurf, sondern ir kleit (V. 14) über den Vater decken, ließe sich in diesem Sinne gar als Allusion an die Mantelgabe des Hl. Martin deuten. Wahrscheinlich ginge man zu weit, wenn man diese Kleidergabe auf die Lohnheische der gernden zurückbeziehen würde, doch scheint es mir nicht abwegig, dass im als Akt der Fürsorge stilisierten Bedecken die Handlungsanweisung zur milte mitschwingt.²¹ Vor dem Hintergrund des dergestalt umakzentuierten Verhaltens der Brüder lohnt es sich, den moralisierenden Schlussvers der Strophe, da hb sich edelkeit (V. 16), noch einmal in den Blick zu nehmen. Wie eingangs bemerkt, erscheint dieses ‚Fazit‘ im Lichte der üblichen Rezeption von Noahs Fluch als aitiologische Begründung der Entstehung des Adels. Allerdings überrascht die entpersonalisierte Formulierung: Anders als in der traditionellen Rezeption der Geschichte erzählt der Kanzler nicht, dass Noah seine Söhne hierarchisiert und damit durch eine willkürliche Entscheidung ständische Unterschiede bestimmt. Vielmehr bleibt in der Strophe des Kanzlers kausallogisch im Dunkeln, wie es zum Fluch kommt und wer ihn warum ausspricht. Es heißt nur: einem [der Söhne] wart der flch (V. 8). Und auch die Brüder werden hier nicht, wie in der Tradition, ausdrücklich durch Noah erhöht. Die edelkeit wird ihnen beim Kanzler noch nicht einmal direkt als Eigenschaft zugeschrieben, sondern sie entsteht vielmehr im Prozess ihres Handelns: da hb sich edelkeit (V. 16). Damit erscheint die edelkeit kausallogisch durch die gute Tat der Brüder bedingt – und vor allem durch ihre Motivation: Es ist ihre Fürsorge und compassio, welche die edelkeit hervorbringt. Die Brüder werden also nicht durch einen willkürlichen belohnenden Akt, den ihr Vater vollzieht, erhöht, sondern die edelkeit geht vielmehr aus ihrem vorbildlichen Verhalten hervor, erwächst also aus ihrem edele[n] art. Sie werden nicht mit edelkeit belohnt, sondern sie sind edel, womit der Adel gerade nicht mehr abhängig von einer äußeren Bestimmung ist, sondern von innerer Einstellung, mithin  Frühmittelhochdeutsche (Wiener) Genesis, V. 1536–1543.  und in leit ware/ ube iz ander iemen sâhe, V. 1500 f., Frühmittelhochdeutsche (Wiener) Genesis.  Das Bedecken lässt sich auch nach Mt 25,36 nudus et operuistis me als eines der Sieben Werke der Barmherzigkeit verstehen.

2.1.1 Ton I, Strophe 1 – Noah und seine Söhne (1Kanz/1/1)

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als Tugendadel profiliert wird.²² Damit entfernt sich der Begriff der edelkeit von seinem etymologischen Ursprung:²³ Die Identität von adel und edel wird aufgebrochen, es geht um ‚echten‘ Edelmut, um innere Größe und nicht um eine ständische Festlegung, die qua Geburt gilt. Der Kanzler macht aus einer Aitiologie der Un‐/Freiheit beziehungsweise der Dienerschaft eine Aitiologie ‚echten‘ Edelmuts und gibt damit einen Verhaltenscode für alle aus. Intertextualitätstheoretisch lässt sich konstatieren, dass mit der Referenz auf die Geschichte von Noahs Fluch beim Kanzler eine Einzeltextreferenz auf einen biblischen Prätext greifbar wird. Die Bezugnahme auf diesen spezifischen Text wird schon durch die Kurzsynopse der Ausgangssituation mit namentlicher Nennung Noahs (V. 5 f.) in den einleitenden Versen des Erzählteils ausgewiesen (gewissermaßen markiert).²⁴ Die Ausgestaltung des Stoffes lässt dabei deutliche Spuren der volkssprachlichen Rezeption dieser Bibelstelle erkennen; der Kanzler greift also diese Tradition auf. Bei einem differenzierten Blick auf seine Strophe zeigt sich aber, wie er die Geschichte gegenüber dem Prätext und der vorgängigen Tradition durch spezifische kleine Veränderungen und Verschiebungen modifiziert und sie damit in mehrfacher Hinsicht in die Fluchtlinie sangspruchdichterischer Interessen rückt: Der Stoff wird instrumentalisiert, um zentrale Themen der Gattung zu exponieren und eine Aitiologie des Tugendadels zu entwerfen. Dieser geht dabei aus der compassio hervor, die sich als Fürsorge äußert. Damit alludiert sie auch misericordia und lässt so die milte-Thematik aufscheinen. Das scheint mir umso deutlicher, als der Kanzler gegen die zu seiner Zeit verbreitete Rezeptionstradition der biblischen Geschichte von Noah und seinen Söhnen, die sie verschiedentlich auf ein dreiteiliges Ständesystem hin ausdifferenziert, programmatisch wieder eine binäre Unterscheidung in edele Menschen (Sem und Japhet) und ihr Gegenteil (Cham) setzt. Gerade diese Zurücknahme der ständischen Feindifferenzierung verdeckt menschengemachte Gesellschaftsordnungen und damit korrelierte Vorstellungen von Geburtsadel zugunsten eines Tugendadel-Ideals.

 Auch Zach (Kanzler), S. 217 f., hebt darauf ab, die so profilierte Textstelle lanciere, dass „nicht die adelige Geburt […] Gewähr für rechten Adel [ist], sondern die richtige Gesinnung“, wodurch der Dichter die Adeligen zu tugendhaftem Verhalten anhalten wolle.  Vgl. dazu Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, bes. S. 60 f., der erläutert, dass edil eine Zugehörigkeitsbildung ist zum Substantiv adal, dessen Semantik ursprünglich gleichermaßen ‚Geschlecht, Herkunft‘ und ‚Art,Wesen, natürliche Beschaffenheit‘ umfasst und der Bezeichnung der Aristokratie dient. Schon im Althochdeutschen könne edil aber auch dominant ‚vortrefflich/berühmt‘ meinen, bei den Dichtern der Stauferzeit verbänden sich „die Merkmale ‚+ hohe Geburt‘ und ‚+ sittlich vollkommen‘ wie selbstverständlich“; festzulegen, ob das inhaltsleer-formelhafte, das ständische oder das ethische Merkmal überwiege, sei hier kaum möglich, vgl. ebd. S. 61.  Das Sänger-Ich verweist hier insofern zuerst auf ein poetologisches Konzept, das dann konsequent im zweiten Stollen und Abgesang durchgeführt ist; die abwertende Einschätzung von Krieger (Kanzler), S. 44, die erste Strophe weise „einen Riß im Gedankengefüge“ auf, teile ich daher nicht.

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2 Analysen

Bei dieser sangspruchdichterischen Funktionalisierung des Bibeltextes kalkuliert die Strophe zudem die fraglose Geltung jener Quelle für ihre eigene neue Aussage ein. Zugleich zeigt sich in der Referenz auf die biblische Geschichte ganz grundsätzlich der Versuch des Autors, mit seiner Dichtung an der Autorität der Bibel und insbesondere der Genesis als einem Text höchster Geltung im Mittelalter zu partizipieren. Ebenso deutet sich in der hier angewandten poetischen Strategie, vermittels einer biblischen Geschichte zu belehren, auch eine Übernahme predigttypischer Textstrategien an, mithin eine Diskursreferenz, die anteilig als Usurpation einer Predigerrolle fungiert.²⁵

2.1.2 Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2) C Kanz  Gewalt bi grossem gte, lu̍ te, bu̍ rge unde da bi lant, lib, kraft, schoͤ n unde kleider, swer der genuht iht hat,  in des verschamten mte man lasterker ie vant. da velschet adel leider des herzen missetat, der distel hat dem weissen  vil gar an im gesigt. sol ich den edel heissen, der niender tugende pfligt? ob er mir durst niht buͤ sse unde oͮ ch umb ere niht gebe,  sin win ist ane suͤ ze, erwildet ist sin rebe.

Im Mittelpunkt der Strophe steht – wie schon in 1Kanz/1/1 – eine Reflexion darüber, was echten Adel ausmacht. Dabei eröffnet die Strophe vorerst mit einer Aufzählung: Gewalt bi grossem gte,/ lu̍ te, bu̍ rge unde da bi lant,/ lib, kraft, schoͤ n unde kleider (V. 1– 3). Durch die stabenden Anlaute gewinnt diese Reihung eine gewisse Eindringlichkeit und Dichte, die den Eindruck erweckt, hier werde eine Fülle all dessen aufgezählt, wonach ein Mensch auf Erden nur streben könne. Zugleich umfasst dieses Register deutlich all das, was nach zeitgenössischer Vorstellung äußerlich den Adel ausmacht: Macht, mobiler und immobiler Besitz, Vasallen, dazu körperliche Vorzüge und (angemessene) Einkleidung. Sogleich allerdings wird diese Fülle im Folgenden problematisiert: swer der genuht iht hat/ in des verschamten mte/ man lasterker ie vant (V. 4– 6). Wer also von diesen Dingen genuht iht hat, in dessen schamloser innerer Einstellung liege schon immer (ie) die Hinwendung zum Lasterhaften. Gerade über die swer–

 Vgl. Stackmann (Heinrich von Mügeln), S. 105 f.

2.1.2 Ton I, Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2)

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der Konstruktion und das verabsolutierende ie geriert sich diese Behauptung autoritativ als allgemeingültiges Weltwissen. Als problematisch erweist sich für das Verständnis allerdings der zentrale Begriff der genuht, der hier zwei verschiedene Deutungen anbietet. Die zeitgenössischen Belege verweisen dominant auf eine Bedeutung im Sinne von copia beziehungsweise affluentia. ²⁶ Damit wäre etwa zu paraphrasieren: „Wer davon [Macht, Reichtum …] irgend im Übermaß hat“²⁷, der wendet sich dem Laster zu. Behauptet würde damit, dass der Überfluss irgendeines materiellen/körperlichen Vorzuges den Menschen korrumpiere,²⁸ was sich im Verlauf der Strophe zu einer Kritik an den geizigen Reichen verengt.²⁹ Die Behauptung, dass ein Überfluss dieser Dinge, also dessen, was den Adel ausmacht, geradezu zwangsläufig (ie) zum Laster führe, erscheint provokativ, zielt aber offenbar darauf ab, dass ein solches Übermaß an Besitz einen Mangel an milte anzeigt, also ein maßloses Anhäufen von Reichtümern bedeutet. genuht ließe sich aber auch als synonym zu genügde verstehen, der passus wäre dann etwas anders akzentuiert: „wer daran [Macht, Reichtum …] kein Genügen hat“,³⁰ „wem das nicht genügt“.³¹ Damit würde nicht eine verderbliche Wirkung des Überflusses behauptet, sondern in der Kritik stünden diejenigen, die obwohl reich bedacht, damit nicht zufrieden sind, weil sie immer mehr haben – und das heißt implizit auch: nichts geben – wollen. Insofern führt diese schändliche innere Einstellung zum Laster, nämlich zu Geiz und Habgier.

 Vgl. BMZ, Bd. 2/1, Sp. 354b „die fülle, volles mass. affluentia“, MWb, Bd. 2, Sp. 477 f., „Fülle, (Über‐) Maß, Reichtum“, DWb „copia“ Bd. 5, Sp. 3486.  der wäre damit als Gen. Pl. aufgefasst und auf das zuvor aufgezählte (gt, lu̍ te, bu̍ rge …) bezogen, iht adverbial verstanden (vgl. dazu Lexer, „iht adv. acc. irgend, etwa allg.“, Bd. 1, Sp. 1419), was schwer wiederzugeben ist, etwa: ‚wer davon in irgendeiner Weise genug hat‘, im Sinne von ‚wer ganz viel davon hat‘ (genuht als affluentia); zu beachten ist auch, dass das nicht besonders gebräuchliche Wort genuht ein „Lieblingswort Conrads von Würzburg“ ist, der es häufig adverbial gebrauche, also „gänzlich, völlig, in grossem masse“, vgl. BMZ, Bd. 2/1, 355a.  Zach (Kanzler), S. 101 f., meint, damit sei dem ‚Publikum‘ die Schlussfolgerung überlassen, welche Sünde das Zuviel dieser Dinge je bedinge (Schönheit etwa verweise auf Eitelkeit, Kleider auf Putzsucht).  Anders Carl von Kraus, der iht als ‚nicht‘ liest und damit paraphrasiert „wer nicht genug hat (und daher nichts hergibt 13 f.)“, vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, durchgesehen von Gisela Kornrumpf. 2 Bde. Tübingen 1978 (im Folgenden KLD), hier Bd. 2: Kommentar, S. 246; gemeint sind aber wohl kaum diejenigen, die selbst nicht genug haben, sondern höchstens die, die meinen, sie hätten nicht genug – ausführlich dazu s. u.  So kann genuht nach Lexer, Bd. 1, Sp. 865, auch „genüge“ heißen. Das DWb, Bd. 5, Sp. 3486, verweist zudem – anhand eines allerdings späten Belegs von 1523 – auf die Überblendung von genuht und genügde, wenn es in einem Lied heißt: „[die] doran kein gnugt wolnt haben“ (zu beachten ist die zum Kanzler fast identische Phrase), was im dortigen Kontext eindeutig meint: ‚[die,] denen das nicht genügt‘ (im Sinne einer Maßlosigkeit); dass diese Bedeutung nicht nur spät begegnet, zeigt sich indes an ahd. ginuht, das neben ‚Fülle‘ auch ‚Zufriedenheit‘, ‚Befriedigung‘ und ‚Selbstgenügsamkeit‘ meinen kann, vgl. AWb, Bd. 6, Sp. 1404–1406.  So ist wohl auch die Paraphrase von 1Kanz/1/2–3 im RSM, Bd. 4, S. 150, zu verstehen: „bei demjenigen Adeligen, der an seinem reichen Besitz nicht genug hat“.

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In beiden Fällen richtet sich die Kritik gegen eine Maßlosigkeit im Macht- und Besitzstreben, die Ausweis eines verschamten mtes, einer verderbten inneren Einstellung ist und als Weg in die Lasterhaftigkeit ausgewiesen wird. Bei solchen Menschen, so schließt das Sänger-Ich am Ende des Aufgesangs, velsche[ ] adel leider/ des herzen missetat (V. 7 f.). Die Gruppe der gemeinten Gefährdeten wird damit erstmals explizit genannt – adel –, wobei die Statuszugehörigkeit sogleich zur Disposition gestellt wird, wenn es heißt, der adel könne durch des herzen missetat [ge]velschet werden. Das weist die zuvor thematisierte Maßlosigkeit der Angesprochenen, die in ihrem verschamten mt gründet, als missetat des herzens aus, profiliert sie also als ein Verbrechen, das seinen Sitz im innersten Zentrum dieser Menschen hat. Ihnen wird damit eine Boshaftigkeit im Kern attestiert, die, so heißt es, den adel velschet, verfälscht, falsch macht. Der adel wird damit differenziert in einen gewissermaßen ‚äußeren‘ Adel, der sich in einer Fülle von Besitz, Macht, Schönheit manifestiert (was auch auf den Geburtsadel abzielt), der aber durch unangemessenes Verhalten verfälscht werden kann. Damit wird implizit deutlich, dass ‚vollkommener‘ Adel einer Ergänzung durch einen ‚inneren‘ Adel bedarf, durch ein herz, das keine missetat begeht, einen mt, der nicht verschamt ist, also eine makellose innere Einstellung. Zugleich schwingt in der Formulierung da velschet adel leider/ des herzen missetat eine weitere Lesart subversiv mit: nämlich, dass angeborener Adel, äußerer Glanz eines Vollbesitzes von Reichtum, Macht, Schönheit bedauernswerterweise (leider) über die Vergehen des Herzens, über innere Schlechtigkeit, hinwegzutäuschen vermöge. Geläufige Vorstellungen von Kalokagathia werden damit subversiv hinterfragt. Die eröffnenden Verse des Abgesangs verdeutlichen diese Verfälschung und Verderbnis mit dem gleichnishaften Bild, dass bei solchen Adeligen der distel […] dem weissen,/ vil gar an im gesigt (V. 10 f.) habe. Bei demjenigen, der trotz seines Adels schändlich handelt, überwuchert also das Unkraut, nämlich die missetat des herzens (distel), das gute Nutzgetreide, den adel (weissen). Derartige Allegorien der Überwucherung verbildlichen in biblischen Texten häufig Niedergang oder Verderbnis.³² Ganz konkret scheint das Kanzlersche Bild vom Wildwuchs der Schlechtigkeit hier aber die zwei im Mittelalter sehr geläufigen Matthäus-Gleichnisse „von Unkraut und Weizen“ und „vom Sämann“ zu alludieren.³³ Diese Einzeltext-Referenz ist beim Kanzler implizit

 Dabei wird verschiedenerlei – vorzugsweise stacheliges, dorniges – Unkraut angeführt (z. B. Hi 31,40 [tribulus, spina], Spr 24,31 [urtica, spina], Hos 9,6 [lappa], 10,8 [lappa, tribulus], Jes 5,6 und 32,13 [vepres et spina], 34,13 [spinae et urticae et paliurus], Hebr 6,8 [spinas et tribulos]), die deutschen Übersetzungen setzen dabei schon früh (botanisch ungenau) die alliterierende Doppelformel ‚dornen und disteln‘, vgl. DWb ‚Distel‘, Sp. 1192–1194.  „Gleichnis vom Sämann“ Mt 13,3–9, Auslegung Mt 13,18–23 (auch bei Mk 4,3–9, 14–20 und Lk 8,4– 8, 11–15) und „Gleichnis vom Unkraut und Weizen“ Mt 13,24–30, Auslegung Mt 13,36–43; nach dem Missale Ambrosianum wurden diese Gleichnisse am 7. („Gleichnis von Distel und Weizen“) beziehungsweise 8. („Gleichnis vom Sämann“) Sonntag vor Ostern gelesen, vgl. Missale Ambrosianum. Latinum et italicum. Mailand 1966, die St. Galler Perikopen und die Stuttgarter Perikopen (deren früheste Überlieferung datiert allerdings erst ins 15. Jahrhundert) verzeichnen die Gleichnisse für den Mittwoch nach dem 19. Sonntag nach der Pfingstoktav (Stuttgarter Perikopen Mt 13,36–43) bezie-

2.1.2 Ton I, Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2)

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durch den plötzlichen sprachlichen Registerwechsel der Kanzler-Strophe zu einer bild- und gleichnishaften Rede markiert. Im „Gleichnis von Unkraut und Weizen“ – das lateinische zizania (Unkraut) wird in diesem Kontext mittelhochdeutsch wiederholt mit distel übersetzt³⁴ – heißt es, dass der Feind Unkraut unter den Weizen gesät habe und dass sich die Pflanzen nun, da sie beide wüchsen, nicht mehr voneinander trennen ließen, ohne dass man mit dem schlechten Unkraut auch das gute Nutzgetreide ausreiße. Jesus erklärt, man müsse daher nun beide zuerst miteinander wachsen lassen, solle sie aber nach der Ernte trennen und das Unkraut verbrennen. Er deutet das Gleichnis auf gute und schlechte Menschen hin aus, die manchmal nicht sofort voneinander getrennt werden könnten, letztlich aber komme der Gute (der Weizen) in das Himmelreich (die Scheune) und der Schlechte (das Unkraut) werde verbrannt.³⁵ Beim Kanzler bildet die Referenz auf das

hungsweise für den Sonntag Sexagesima (St. Galler Perikopen Lk 8,4–15) und den Mittwoch nach dem 3. Sonntag nach der Pfingstoktav (St. Galler Perikopen Mt 13,24–30; 36–43), vgl. Carsten Kottmann: Das buch der ewangelij und epistel. Untersuchungen zur Überlieferung und Gebrauchsfunktion südwestdeutscher Perikopenhandschriften. Münster u. a. 2009, hier S. 240, 257, 267; das bedeutet, dass eine Kenntnis produzenten- und rezipientenseitig als äußerst wahrscheinlich gelten kann, auch fragmentarische Anspielungen auf diese Gleichnisse also mit hoher Wahrscheinlichkeit verstanden werden.  Etwa bei Priester Konrad, der das Gleichnis in einer Predigt fast sprichworthaft paraphrasiert (wan swa man die distelen unde das unchrut uz dem waizen niht geprechen noch gejeten mac, man enmůze den waizen ouch verliesen, da sol man siu paidiu ensamt lazen wahsen, unze daz si zitec werden; so sundert man si wol ane schaden, Bd. 3, S. 154, zit. nach: Altdeutsche Predigten, hg. von Anton Schönbach. 3 Bde. Graz 1891). Ein Matthäus-Zitat scheint auch hinter dem „seltsam verdrehte[n] Bild“ (Heinzle) in Wolframs Willehalm zu stehen: die werden ûz den boesen jat er/ sô den distel ûz der sât (V. 98,18 f., zit. nach Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1991; vgl. hier auch den Kommentar dazu, S. 908, so auch schon Samuel Singer: Wolframs Willehalm. Bern 1918, S. 41). Auch Heinrichs von Freiberg Bild für die Falschheit der Welt in seiner Tristan-Fortsetzung transformiert möglicherweise das Bildmaterial dieses Gleichnisses (und wo du witze und ander korn/ hin wirfest, wenne daz uf gat/ so birt nur distelen die sat, V. 6632–6634, zit. nach Heinrich von Freiberg: Tristan und Isolde (Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg). Originaltext (nach der Florenzer Handschrift ms. B.R.226) hg. von Danielle Buschinger, Versübersetzung von Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993). Dass und wie diese Belegstellen das Gleichnis teilweise fast schon sprichworthaft verkürzt anzitieren, plausibilisiert zudem, dass es sich beim Kanzler um eine Referenz auf dieses Matthäus-Gleichnis handelt.  Mt 13,24–30: Aliam parabolam proposuit illis dicens/ simile factum est regnum caelorum homini qui seminavit bonum semen in agro suo 25cum autem dormirent homines venit inimicus eius/ et superseminavit zizania in medio tritici et abiit 26cum autem crevisset herba et fructum fecisset/ tunc apparuerunt et zizania 27accedentes autem servi patris familias dixerunt ei/ domine nonne bonum semen seminasti in agro tuo/ unde ergo habet zizania 28et ait illis/ inimicus homo hoc fecit/ servi autem dixerunt ei/ vis imus et colligimus ea 29et ait non/ ne forte colligentes zizania eradicetis simul cum eis et triticum 30sinite utraque crescere usque ad messem/ et in tempore messis dicam messoribus/ colligite primum zizania et alligate ea fasciculos ad conburendum/ triticum autem congregate in horreum meum; Auslegung (Mt 13,36–43): Tunc dimissis turbis venit in domum/ et accesserunt ad eum discipuli eius dicentes/ dissere nobis parabolam zizaniorum agri 37qui respondens ait/ qui seminat bonum semen est Filius hominis 38ager autem est mundus/ bonum vero semen hii sunt filii regni/ zizania autem filii sunt nequam 39inimicus autem qui

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Gleichnis insofern eine Warnung. Er verweist die Adeligen darauf, dass sie, auch wenn sie durch Geburt und äußere Umstände dem adel zugehören, diese Disposition auch durch vorbildliches adelsgemäßes Handeln beweisen müssen, damit sie bestehen bleibt beziehungsweise weiter heranwächst (weizen). Durch eine schlechte innere Haltung aber (verschamter mt/missetat des herzens) könne sie verfälscht werden, so dass das Böse in ihnen heranwachse (distel), das sich wiederum in der schlechten falschen Handlung manifestiert und das Gute zu ersticken vermöchte, wie der weizen durch die distel vollständig und endgültig verdorben werden könne (vil gar an im gesigt, V. 9). Das im biblischen Gleichnis ausgedrückte Nebeneinander von Gut und Schlecht wird damit überführt in die Vorstellung einer Überwucherung der ursprünglich ‚guten‘ Grundanlage (adel) durch eine verwerfliche innere Haltung, die übermäßiger Reichtum beziehungsweise Maßlosigkeit auslöse. Mit diesem Fehlverhalten werden die bösen Adeligen ihrerseits wiederum selbst zu disteln, die neben vorbildlichen Adeligen stehen, welche ihre makellose innere Haltung (weizen) zu bewahren und zu bestätigen vermochten.³⁶ Die Einzeltextreferenz auf Matthäus evoziert auch die Auslegung dieses Gleichnisses auf die Heilssorge hin und öffnet so den Blick auf die verheerenden Folgen unrechten Handelns. Erst der intertextuelle Horizont des biblischen Gleichnisses legt die umfassende Relevanz guten Handelns für die Aufnahme ins Himmelreich bloß. Die biblische Anspielung verweist die Angesprochenen mithin subtil auf den Konnex von vorbildlichem Verhalten und individueller Heilssorge, womit sie es als unabdingbare Notwendigkeit insinuiert, das Handeln – auch im eigenen Interesse – zu korrigieren. Noch deutlicher unterstreicht diese Stoßrichtung das „Gleichnis vom Sämann“, das bei Matthäus mit dem „Gleichnis von Unkraut und Weizen“ lose verbunden ist und ebenfalls im Anspielungshorizont der Kanzlerschen Allegorie liegt. Hier nämlich wird die Überwucherung der Weizenkörner durch die Dornen auf diejenigen ausgelegt, die für das Himmelreich verloren sind, da in ihnen Gottes Worte (Weizenkörner) nicht zur Entfaltung kommen – und zwar, weil die Dornen, das heißt die Sorgen der Welt und der Betrug durch den Reichtum sie ersticken (sollicitudo saeculi istius et fallacia divitiarum suffocat verbum, Mt 13,22).³⁷ Die Fixierung auf das Innerweltliche, der Betrug

seminavit ea est diabolus/ messis vero consummatio saeculi est/ messores autem angeli sunt 40sicut ergo colliguntur zizania et igni conburuntur/ sic erit in consummatione saeculi 41mittet Filius hominis angelos suos/ et colligent de regno eius omnia scandala/ et eos qui faciunt iniquitatem 42et mittent eos in caminum ignis/ ibi erit fletus et stridor dentium 43tunc iusti fulgebunt sicut sol in regno Patris eorum/ qui habet aures audiat.  So gelesen schwänge im sigen der disteln, i. e. der schlechten Adeligen, über den weizen, i. e. die guten Adeligen, zugleich auch die Idee mit, dass die Bösen die Guten verdrängten oder vielmehr – fast kontagiös – ebenfalls in Schlechte verwandelten.  Mt 13,3–9: et locutus est eis multa in parabolis dicens/ ecce exiit qui seminat seminare 4et dum seminat/ quaedam ceciderunt secus viam/ et venerunt volucres et comederunt ea 5alia autem ceciderunt in petrosa ubi non habebat terram multam/ et continuo exorta sunt quia non habebant altitudinem terrae 6 sole autem orto aestuaverunt/ et quia non habebant radicem aruerunt 7alia autem ceciderunt in spinas/

2.1.2 Ton I, Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2)

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durch den Reichtum – also das, was auch die Strophe des Kanzlers problematisiert, wenn sie eine Maßlosigkeit beziehungsweise Ungenügsamkeit hinsichtlich des Reichtums und des Innerweltlichen verurteilt – wird hier zur Ursache einer Verschlossenheit und Verstockung gegenüber dem göttlichen Wort, die letztlich in die Verdammnis führen. Die intertextuelle Referenz beim Kanzler nutzt ihre Prätexte hier auf zwei Ebenen. Auf rhetorischer Ebene übernimmt er mit dem Gleichnis auch dessen rhetorische Funktion, nämlich das Gemeinte durch eine bildhafte Übertragung zu veranschaulichen. Damit partizipiert die Strophe an der Autorität dieses Verfahrens, modifiziert es aber zugleich, indem der Kanzler das Gleichnis nicht auserzählt und ausdeutet, sondern dessen zentrales Bild zu einem allegorischen Vergleich kondensiert und illustrativ auf einen bereits dargelegten Sachverhalt überträgt. Auf hermeneutischer Ebene ruft die Einzeltextreferenz das Bild des biblischen Gleichnisses auf und stellt es dadurch in Relation zur Aussage der Strophe. Es ist damit nicht nur ein illustratives Verfahren, das Kenntnisse aus der Landwirtschaft aufruft, um zu veranschaulichen, wie das Schlechte das Gute überwuchern kann, sondern eröffnet über den intertextuellen Bezug einen zusätzlichen Bedeutungshorizont: Mit dem Prätext ruft es dessen ursprünglichen Kontext auf, der diese Überwucherung auf den Verlust des Seelenheils hin auslegt. Die Strophe insinuiert insofern über den biblischen Anspielungshorizont, dass das eingangs angedeutete Fehlverhalten der Adeligen nicht nur ihren Status gefährde, sondern zudem eine Gefahr für ihr Seelenheil darstelle. Die folgenden Verse des Abgesangs problematisieren nun explizit eine Divergenz von adel und angemessenem Verhalten, wenn es heißt, ob man etwa den edel heizen solle, der niender tugende pfligt (V. 11 f.). Die zuvor angedeutete Dichotomie zwischen Tugend- und Geburtsadel wird damit explizit ausgesprochen und das Sänger-Ich bezieht eindeutig Position: Adel ist edelkeit und diese äußert sich im Verhalten, nicht in Besitz, Schönheit oder Macht. Zugleich problematisiert die rhetorische Frage auf einer

et creverunt spinae et suffocaverunt ea 8alia vero ceciderunt in terram bonam/ et dabant fructum/ aliud centesimum/ aliud sexagesimum/ aliud tricesimum 9qui habet aures audiendi audiat; Auslegung (Mt 13,14–23): et adimpletur eis prophetia Esaiae dicens/ auditu audietis et non intellegetis/ et videntes videbitis et non videbitis 15incrassatum est enim cor populi huius/ et auribus graviter audierunt/ et oculos suos cluserunt/ nequando oculis videant/ et auribus audiant/ et corde intellegant/ et convertantur et sanem eos 16Vestri autem beati oculi quia vident/ et aures vestrae quia audiunt 17amen quippe dico vobis/ quia multi prophetae et iusti cupierunt videre quae videtis et non viderunt/ et audire quae auditis et non audierunt 18Vos ergo audite parabolam seminantis 19omnis qui audit verbum regni et non intellegit/ venit malus et rapit quod seminatum est in corde eius/ hic est qui secus viam seminatus est 20qui autem supra petrosa seminatus est/ hic est qui verbum audit et continuo cum gaudio accipit illud 21non habet autem in se radicem sed est temporalis/ facta autem tribulatione et persecutione propter verbum/ continuo scandalizatur 22qui autem est seminatus in spinis/ hic est qui verbum audit/ et sollicitudo saeculi istius et fallacia divitiarum suffocat verbum/ et sine fructu efficitur 23qui vero in terra bona seminatus est/ hic est qui audit verbum et intellegit/ et fructum adfert/ et facit aliud quidem centum/ aliud autem sexaginta/ porro aliud triginta.

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2 Analysen

poetologisch-reflexiven Ebene die panegyrische Aufgabe des Sängers (sol ich den edel heizen?, V. 11). Im Folgenden konkretisiert das Sänger-Ich, worin sich eine solche Tugendlosigkeit des Einzelnen manifestiere, nämlich unter anderem darin, ob er mir durst niht buͤ sse (V. 13). Mit dem Motiv, dass der tugendlose Adelige selbst etwas so Grundlegendes verweigere, wie den Durst eines Bedürftigen (gernden) zu stillen, spielt der Kanzler auf die Sieben Werke der Barmherzigkeit an (Mt 25,35–46)³⁸ und stellt die Verweigerung damit als Mangel an christlichem Mitgefühl und Nächstenliebe aus.³⁹ Die erneute Referenz auf Matthäus wird hier durch die vorherigen intertextuellen Bezüge auf dieses Evangelium vorbereitet und implizit markiert. In der Fluchtlinie sangspruchdichterischer Eigeninteressen wird derjenige als ‚tugendlos‘ angeführt, der eine mangelnden Bereitschaft zu geben an den Tag legt. Durch die Textreferenz auf Matthäus wird der Diskurs um das Geben, um Almosen, der ein typisch sangspruchdichterischer ist (Heische), hierbei geschickt in einen theologischen überführt. Das Geben wird damit als Ausweis von Barmherzigkeit profiliert. Damit entwickelt der Kanzler konsequent die zuvor bereits thematisierte Vorstellung von einem ‚Tugendadel‘ weiter, denn in der Barmherzigkeit zeigt sich eine bestimmte innere Verfassung (ein Mit-leiden mit dem Elend des anderen), die wiederum äußerlich sichtbar wird (also messbar ist), weil ein Tätigwerden zur Überwindung dieser Bedürftigkeit ihr wesenhaft ist.⁴⁰ Mit der Referenz auf die Sieben Werke der Barmherzigkeit thematisiert das Sänger-Ich zugleich erneut den himmlischen Lohn, da dieser den Barmherzigen bei Matthäus in Aussicht gestellt wird.⁴¹

 sitivi et dedistis mihi bibere (Mt 25,35); die Sieben Werke der Barmherzigkeit werden aus Mt 25,35–46 abgeleitet. Hier werden ursprünglich nur sechs Werke aufgezählt, nämlich den Hungrigen speisen, den Dürstenden tränken, den Fremden beherbergen, den Nackten bekleiden, den Kranken und den Gefangenen besuchen; das nicht bei Matthäus aufgeführte Bestatten des Toten ist wohl nach Tob 1,20 ergänzt, vgl. Dirk Kocks: [Art.] Barmherzigkeit. IV. Bildliche Darstellung der Werke der Barmherzigkeit. In: LexMA, Bd. 1, Sp. 1473. Dass der Kanzler aus diesen sieben Werken der Barmherzigkeit gerade das Durstlindern herausgreift, könnte mit der Absicht verbunden sein, die kerge der Gescholtenen besonders deutlich hervorzuheben, weil sie dieses ‚Werk‘ unter den materiellen der barmherzigen Werke doch am wenigsten kosten würde und sie verweigern es dennoch.  Der Topos von den Sieben Werken der Barmherzigkeit hat im Mittelalter eine umfassende Tradition, was sich auch in der ab Mitte des 12. Jahrhunderts zunehmend verbreiteten bildlichen Darstellung spiegelt, vgl. Kocks ([Art.] Barmherzigkeit), Sp. 1473; auch Berthold von Regensburg („Von zwelf scharn hern Josûê“) verbindet im Rahmen einer Schelte der Todsünde acedia die Aufforderung, Almosen zu geben, mit einer Aufzählung der Sieben Werke der Barmherzigkeit und hebt hervor, wer diese nicht tue und Gott nicht diene, auf den warte die ewige Verdammnis (Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten, mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer, mit einem Vorwort von Kurt Ruh. 2 Bde. Berlin 1964 [Nachdruck der Ausgabe Wien 1862], hier Bd. 1, S. 190); vgl. auch Freidank, V. 178,14– 179,1 (Fridankes Bescheidenheit, hg. von H. E. Bezzenberger. Aalen 1962 [Nachdruck der Ausgabe 1872]).  Vgl. Johann Auer: [Art.] Barmherzigkeit. I. Theologie. In: LexMA, Bd. 1, Sp. 1471, der hier besonders auf Thomas von Aquin (S. Th. I q 21 a 3c) verweist.  et ibunt hii in supplicium aeternum/ iusti autem in vitam aeternam, Mt 25,46.

2.1.2 Ton I, Strophe 2 – Warnung vor Besitz (1Kanz/1/2)

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Das Sänger-Ich schließt an dieses Ideal des barmherzigen Almosens noch eine zweite Möglichkeit des Gebens an, die er dem idealen Geben aus Barmherzigkeit gewissermaßen nachordnet, nämlich umb ere zu geben (V. 14). Die Gegenüberstellung profiliert dies als ein Geben um des äußeren (weltlichen) Ansehens willen, also als einen ökonomischen Akt im eigenen feudal-strategischen Interesse. Damit thematisiert das Sänger-Ich komplementär zum himmlischen Lohn die innerweltliche Gegengabe die dem Schenkenden vom Beschenkten (gernden) zuteilwird und verweist damit auf die panegyrische Aufgabe der Sangspruchdichter, für empfangenes guot das Ansehen (êre) des Freigebigen zu mehren, indem sie den in milte gründenden Ruhm des Betreffenden verbreiten. Die Strophe resümiert vituperativ mit einem Blick auf denjenigen, der eine solche vorbildliche innere Einstellung der Barmherzigkeit vermissen lässt und noch nicht einmal aus dem Kalkül äußerer Repräsentation heraus Almosen gibt: sin win ist ane suͤ ze,/ erwildet ist sin rebe (V. 15 f.). Der Adelige, der niender tugende pfligt (V. 12), wird also mit einer Weinrebe gleichgesetzt, die verwildert ist. Sie trägt zwar Früchte, doch nützen diese niemandem, denn ihr Wein ist sauer.⁴² Das weinbauliche Bild indiziert mit dem Begriff des erwildens, dass es sich um ein genuin werthaftes Gewächs handelt, das entartet ist. Der Bescholtene ist also ursprünglich edel und weist mithin äußerlich die Merkmale des Adels auf. Wie der Weinstock Trauben trägt, so trägt er im übertragenen Sinne Frucht, die er geben könnte, nämlich die Früchte: Reichtum, Macht, Schönheit. Doch sind sie für die anderen sauer, das heißt: niemand hat etwas von diesen Früchten, weil der Adelige sie nicht gibt. Auch dieses Bild spielt – erneut implizit markiert durch den sprachlichen Registerwechsel in die Bildhaftigkeit – auf zwei biblische Prätexte an, nämlich Jesaja 5,2–7⁴³ und Jeremia 2,21⁴⁴, die auch in der theologischen Auslegungstradition aufeinander bezogen sind.⁴⁵ Beide sprechen von einem ehedem edlen (electa) Weinstock, der verwildert ist (conversa es in pravum vinea aliena, Jer 2,21) und statt der erhofften Trauben Herlinge trägt (labruscas,⁴⁶ Jes 5,2), also verkümmerte Früchte, deren Wein zu sauer und daher ungenießbar ist. Biblisch steht diese Entartung für die Abtrünnigkeit des Volkes Israels, das sich von seinem Gott abwendet, Unrecht tut und falsche Götter anbetet. Die Kanzlersche Referenz auf diese Bibelstellen stilisiert damit den Geiz der Adeligen zum Ausweis ihrer hoffnungslosen Verderbnis.Vielleicht ließe sich die Bezugnahme sogar als Andeutung  Vgl. dazu auch 1KonrW/2/2.  et sepivit eam et lapides elegit ex illa et plantavit eam electam/ et aedificavit turrem in medio eius et torcular extruxit in ea/ et expectavit ut faceret uvas et fecit labruscas, Jes 5,2.  ego autem plantavi te vineam electam omne semen verum/ quomodo ergo conversa es in pravum vinea aliena, Jer 2,21.  Jes 5,2–7 wird zudem mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern in Verbindung gebracht, wo ebenfalls der Weinberg für das Volk Israel steht, Mt 21,33–41 (Mk 12,1–9, Lk 20,9–16).  labrusca ist die wilde Rebe, aber auch besonders die winterhol (vgl. Lexer, Bd. 3, Sp. 916; ‚unreife weintraube‘, ‚herling‘, vgl. DWb, Bd. 30, Sp. 447 [winterhelen]), die nicht zur Weinherstellung taugt. Plinius erklärt, dass die Früchte nicht voll reifen und lediglich medizinisch nutzbar sind (Naturalis historiae, lib. XIV, cap. 18), ähnlich bei Isidor (Etymologiae, lib. XVII, cap. 3).

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2 Analysen

darauf verstehen, die maßlose Fixierung auf innerweltliche Werte gleiche einer Abgötterei. Das Bild der Verwilderung wird mithin durchscheinend auf ein Abfallen von Gott, die mangelnde Bereitschaft zu geben zur Preisgabe des Seelenheils. Funktional zeigt sich hier eine besonders subtile Heischestrophe: Das Sänger-Ich äußert auf der Textoberfläche keine Bitte, keine Forderung, keine Drohung. Vielmehr reflektiert und konstatiert es, was echten Adel auszeichnet, und erhebt dabei die milte zum Prüfstein wahrer tugende. Zugleich reflektiert es darüber, dass Freigebigkeit auch innerweltlich lohnt, weil sie – nicht zuletzt durch den Sang freigebig beschenkter Sänger – das gesellschaftliche Ansehen fördert. Eine ganz andere Lohn-Thematik eröffnet sich aber durch den eschatologischen Horizont der biblischen Prätexte: Durch sie wird Freigebigkeit als Akt der Barmherzigkeit profiliert, die Gabe wird zum Akt individueller Heilssorge, wodurch das Zurückhalten des Almosens zugespitzt als missetat des herzens profiliert wird, die ewige Verdammnis befürchten lässt. Moralische Adelskritik wird konsequent auf das Auskommen der Sangspruchdichter hin enggeführt. Neben der intertextuellen Referenz auf Matthäus, Jeremia und Jesaja steht die Strophe zudem in einer intratextuellen Beziehung zur vorangehenden Strophe 1Kanz/ 1/1.⁴⁷ Diese Referenz wird auf der Textoberfläche aktiviert durch das die zweite Strophe beschließende Motiv des Weinbaus, das sie assoziativ an das Thema der vorherigen Strophe, Noah als Erfinder des Weinbaus, zurückbindet. Die Paraphrase der Geschichte von Noah und seinen Söhnen, die in der ersten Strophe explizit als Bibelparaphrase markiert ist, sensibilisiert den Rezipienten dabei wiederum dafür, die nicht explizit markierten Bibel-Allusionen der zweiten Strophe als solche zu identifizieren. Zugleich verweisen die Gleichnis-Referenzen und das gleichnishafte Sprechen in Strophe zwei darauf, dass die Geschichte um Noahs Fluch beim Kanzler, wie dargelegt, nicht einfach Bibeldichtung oder geläufige Aitiologie des Ständesystems ist, sondern hier gewissermaßen gleichnishaft funktionalisiert wird. Dabei referieren die Strophen thematisch aufeinander und explizieren, entfalten, erhellen so die ihnen zugrundeliegende Ideologie eines ‚wahren‘ Adels. Gerade in der Zusammenschau wird deutlich, dass adel kein status ist, der qua Geburt gesetzt ist und in einer Fülle von Macht, Besitz und Schönheit sich erschöpft, sondern dass echter Adel eine innere Qualität ist, die sich im Handeln erweisen muss. In der exemplarischen Darstellung wird dabei compassio zum Ausdruck dieser inneren edelkeit, die sich in Werken der Nächstenliebe äußert, womit der Kanzler geschickt die Gabe, das Almosen zu einem Ausweis echten adels macht.

 KLD und RSM setzen für diese beiden Strophen allerdings keine Strophenbindung an; dafür aber für vorliegende und die in C folgende (1Kanz/1/2–3); zur Strophenbindung vgl. auch Kap. 2.1.3, S. 65 – 67; Kap. 2.1.7.

2.1.3 Ton I, Strophe 3 – Schelte der Habgierigen (1Kanz/1/3)

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2.1.3 Strophe 3 – Schelte der Habgierigen (1Kanz/1/3) C Kanz  Verschamten schanden tu̍ rsten, verschamt ist u̍ wer mt. ir stritent unde vehtent niht wan in u̍ wern sack.  wie pflegent ir der fu̍ rsten, war kumt der herren gt? unschuldig wilt ir ehtent, gitig ist u̍ wer hag, bze unde besserunge  vil maniger vor u̍ tt. swer helwen gar us swunge, der same wurde gt, doch were hûffe kleine: der helwen ist ze vil –  us ruhem swarzen beine wart nîe gt wu̍ rfelspil.

Gleich zu Beginn apostrophiert das Sänger-Ich hier eine bestimmte Gruppe, nämlich die verschamten schanden tu̍ rsten (V. 1), solche also, die unerschrocken (tu̍ rstec ⁴⁸) nicht etwa im ritterlichen Kampf sind, wie der Begriff tu̍ rstec vermuten ließe, sondern unerschrocken hinsichtlich maßloser Schändlichkeit. Die Angesprochenen zeichnen sich mithin durch einen Mutwillen zur schande aus, ohne darüber Scham zu empfinden, d. h. ohne sich des daraus resultierenden Mangels an Ansehen in irgendeiner Weise zu schämen oder ihn verbergen zu wollen.⁴⁹ Die an ihnen (äußerlich) wahrnehmbare Schändlichkeit wird dabei auf eine fehlerhafte innere Einstellung zurückgeführt: verschamt ist u̍ wer mt (V. 2). Die Schärfe dieses Vorwurfs wird rhetorisch effektvoll durch Paronomasie und Anapher der zentralen Begriffe verschamt und schande verstärkt. Der Anwurf eines vorerst unspezifizierten Fehlverhaltens wird im Folgenden – unter Beibehaltung einer ritterlich geprägten Kampfmetaphorik – konkretisiert: ir stritent unde vehtent/ niht wan in u̍ wern sack (V. 3 f.). Die Schändlichkeit besteht also darin, dass diese schameloser schanden tu̍ rsten alle ihre Bemühungen darauf ausrichten, sich aggressiv selbst zu bereichern, womit sie sich sündhafter Habgier schuldig machen.

 Vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 1587: türste, adj. ‚kühn, verwegen‘, abgeleitet von turren, so auch Zach (Kanzler), S. 157; die Schreibung in C ließe auch eine Herleitung von tiure zu, der weitere Kontext (besonders V. 3) scheint mir aber dagegen zu sprechen, s. u.  Vgl. Jer 6,15: confusi sunt quia abominationem fecerunt/ quin potius confusione non sunt confusi et erubescere nescierunt/ quam ob rem cadent inter ruentes/ in tempore visitationis suae corruent dicit Dominus; Jer 8,12: confusi sunt quia abominationem fecerunt/ quinimmo confusione non sunt confusi et erubescere nescierunt/ idcirco cadent inter corruentes/ in tempore visitationis suae corruent dicit Dominus.

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Der zweite Stollen kritisiert mittels einer rhetorischen Frage, dass diese schändlichen Menschen darüber ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen, und expliziert, an wem sie sich bereichern: wie pflegent ir der fu̍ rsten,/ war kumt der herren gt? (V. 5 f.). Implizit geht daraus hervor, dass es sich bei den Angesprochenen um Personen handelt, die in einem Pflichtverhältnis gegenüber den Fürsten stehen. Dass ihr Handeln zudem über Begriffe aus der Sphäre des Ritterdienstes beschrieben wird (tu̍ rsten, striten, vehten, V. 1; 3), kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Angriff sich gegen die Höflinge richtet.⁵⁰ Dabei verweist die Umkontextualisierung der ritterlichen Begriffe zugleich auf die ‚eigentlichen‘ (jedoch versäumten) Aufgaben dieser Vasallen: Die Angesprochenen sind zwar tu̍ rste, aber nicht im Kampf für ihren Herrn, sondern im Erwerb von Schande, sie striten unde vehten zwar, aber nicht für ihren Fürsten und ihr Ansehen, sondern nur für sich selbst, um ihren eigenen Besitz zu mehren. Der ritterliche Wettstreit um Ehre wird damit geradezu pervertiert zu einem konkurrierenden Eifern um die größte Schändlichkeit. Gerade im Konterkarieren der Ritterpflichten stellt das Sprecher-Ich deren Vernachlässigung umso deutlicher heraus. Statt ihrem Lehnseid gemäß rât und helfe zu leisten, so wird implizit unterstellt, bereichern sich diese Vasallen auch noch am Geld ihrer Herren (war kumt der herren gt? V. 6). Dunkel und unklar scheinen die folgenden Verse, die einen Registerwechsel ins Bildhafte vollziehen und damit fremd wirken, ohne hier aber einen identifizierbaren Prätext aufzurufen: unschuldig wilt ir ehtent,/ gitig ist u̍ wer hag (V. 7 f.). Zach setzt das unschuldig gejagte Wild mit den Fürsten gleich, die von den Schändlichen in einer als Falle präparierten Heckenumfriedung des Geizes gefangen würden, „[s]ie locken die ahnungslosen Herren in die Falle ihrer Geldgier“.⁵¹ Wahrscheinlicher scheint mir, dass die marginalisierende Bezeichnung der Verfolgten als unschuldig wilt darauf verweist, dass es sich um Personen handelt, die den Gescholtenen untergeordnet sind. Nur solcherart Machtlose können eigentlich, obwohl sie unschuldig sind, von den angesprochenen Höflingen/Vasallen verfolgt (ir ehtent, V. 7) werden. ehten ist zudem ursprünglich ein Rechtsbegriff beziehungsweise -verfahren,⁵² was ebenfalls für eine Handlung gegen hierarchisch niedriger Stehende spricht, denen gegenüber die Angesprochenen zur Ächtung legitimiert sind. Gerade als Rechtsbegriff steht echten in Spannung dazu, dass die Verfolgten als unschuldig bezeichnet werden, es mithin

 So auch Zach (Kanzler), S. 156; Zach erwägt allerdings, ob es sich vielleicht auch um einen Anwurf gegen „fahrende, geldgierige Sänger“ handeln könnte, ebd.; das scheint mir aber aufgrund der gewählten Begrifflichkeit (der fu̍ rsten pflegen [V. 5], ehten [V. 7]) und Bildlichkeit (tu̍ rsten [V. 1], striten, vehten [V. 3]) sowie der weiteren Argumentation eher unwahrscheinlich, s. u.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 158. Krieger (Kanzler), S. 87, dagegen listet den Spruch unter denjenigen auf, die den Geiz der herren kritisieren; an anderer Stelle verzeichnet er den hac als Bild für die Wohnung (?), wobei dies nicht weiter erläutert wird, ebd., S. 61.  Vgl. DRW, Bd. 1, Sp. 393–395 (‚ächten‘), 361–370 (‚Acht‘).

2.1.3 Ton I, Strophe 3 – Schelte der Habgierigen (1Kanz/1/3)

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rechtswidrig ist, sie zu strafen.⁵³ Der Vorwurf, dass die Unschuldigen gejagt würden, insinuiert zudem, dass in dieser verkehrten Welt die Schuldigen, die es eigentlich zu strafen gälte, nicht verfolgt werden. Der folgende Vers (gitig ist u̍ wer hag, V. 8) bleibt im Register der Jagdmetaphorik, das mit der Verfolgung des Wildes eröffnet wurde, denn der hag, die schützende Einhegung, ist speziell in der Jägersprache ein abgezäunter Bereich, in dem das Wild gedeihen soll. Die Einfriedung dieses Areals, die umgebende Hecke (hag), welche die jägersprachliche Begriffsentlehnung bedingt hat, kann allerdings auch mit verschiedenen Arten von Fallen präpariert sein.⁵⁴ Genau auf diese latente Ambiguität hin scheint mir der Begriff hier ausgerichtet. Der hag ruft die Idee eines geschützten Raumes auf, der er für die Unschuldigen sein könnte, wird über die Klassifizierung als gitig aber zu einem von Fallen der Habgier umstellten Ort, aus dem die Gejagten nicht entkommen können und in dem sich die Schändlichen an ihnen bereichern. Dass gitig jägersprachlich gebraucht wird, um auszudrücken, dass ein Jagdhund oder Raubvogel ‚scharf‘ ist, überträgt sich zugleich assoziativ auf die habgierigen Fallensteller, die angesprochenen Höflinge, denen durch diese metaphorische Diskursreferenz auf das Waidmannswesen etwas von enthumanisierten Jägern eignet.⁵⁵ Der Aufgesang legt mithin bloß, worin sich die eingangs gescholtene verschamte schande der Angesprochenen äußerlich manifestiert, nämlich primär in einer Habgier, die dadurch besonders verschamt erscheint, dass sie die eigentlichen Pflichten dieser Herren, nämlich rât und helfe gegenüber dem Fürsten, kluge Verwaltung seines Besitzes und Schutz der Untergebenen, usurpiert und pervertiert. Der Abgesang greift nun den eingangs getätigten Vorwurf der inneren Verderbtheit dieser Angesprochenen wieder auf, wenn das Sänger-Ich konstatiert: bze unde besserunge/ vil maniger vor u̍ tt (V. 9 f.). Die Litotes vil maniger kehrt die unverbesserliche Haltung der Angesprochenen hervor: Jeder andere wird eher Wiedergutmachung und Besserung leisten, als diese Verwerflichen. In der alliterierenden Doppelformel bze unde besserunge verschränkt sich – im Anschluss an den Aufgesang – eine juristische Terminologie nun mit einer theologischen. Denn zum einen verweist diese Doppelformel auf die konkrete Möglichkeit rechtlicher Sühne, nämlich das habgierige Fehlverhalten materiell wiedergutzumachen. Zum anderen thematisieren diese Begriffe des Bußdiskurses die Möglichkeit oder vielmehr Notwendigkeit religiöser Abbitte und conversio.

 In der Diskussion um unrechtmäßige Bereicherung wäre hier vielleicht zu erwägen, ob mit dem Bild auch darauf angespielt wird, dass dem Geächteten die Fahrhabe entzogen und verteilt wird, etwa an den Geschädigten, den König und die Hundertschaften; auch die Liegenschaften werden gewüstet oder gefront; zur Acht vgl. Dieter Strauch: [Art.] Acht. In: LexMA, Bd. 1, Sp. 79–81, hier bes. Sp. 80.  Vgl. David Dalby: Lexicon of the Medieval German Hunt. A Lexicon of Middle High German terms (1050–1500), associated with the Chase, Hunting with Bows, Falconry, Trapping and Fowling. Berlin 1965, hier S. 76 f.; DWb, Bd. 10, Sp. 138: „In der jägersprache ist hac ein zaun oder verschlag um ein stück wald, worin das wild gehegt wird“ (allerdings ohne mittelhochdeutsche Belegstellen).  gitec meint im Jagdkontext in erster Linie ‚keen, eager, of hounds or hawks‘ (daneben aber auch ‚greedy, avaricious‘), vgl. Dalby (Hunt), S. 69.

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Diese theologische Dimension bereitet die nachfolgende gleichnishaft-bildliche Rede vor: swer helwen gar us swunge,/ der same wurde gt,/ doch were hûffe kleine:/ der helwen ist ze vil (V. 11–14). Das Gleichnisbild aus der Landwirtschaft stellt aus, dass man nur gutes Saatgut bekommen kann, wenn man die Spreu vollständig vom Korn trennt. Im vorliegenden Fall jedoch, also übertragen auf die gescholtenen Vasallen, konstatiert das Sprecher-Ich, dass der Haufen an Korn verschwindend gering wäre, weil es zu viel Spreu gebe. Einerseits ließe sich dieses Korn auf die Gesamtheit der Höflinge beziehen, unter denen es dem Bild nach zu viele Schlechte gebe.⁵⁶ Das Worfeln (us swingen) suggeriert insofern eine Handlungsanweisung an die Fürsten, diese ‚Schlechten‘ ‚auszusortieren‘, problematisiert aber zugleich, dass dann nicht viel(e) bliebe(n), und kritisiert damit unverblümt den Zustand des Hofes. Untergründig schwingt darin aber auch eine Heische mit: Wenn die Fürsten die Schlechten aussortieren und diese nicht mehr das gt ihrer Herren abziehen, können und sollen sie es den Richtigen geben. Andererseits lässt sich das tertium comparationis des Bildes von Spreu und Korn aber nicht nur auf die Gesamtheit der Höflinge beziehen, sondern auch auf deren innere Einstellung: Würden diese selbst versuchen, in ihrem Inneren, ihrem (verschamten) mt das Gute vom Schlechten zu trennen, bliebe praktisch nichts Gutes übrig. Damit schließt das Bild wiederum an die bereits zuvor getätigte Feststellung an, dass von diesen bze unde besserunge nicht zu erwarten seien. Die bildhafte Rede alludiert mit der Idee einer Trennung von Spreu und Weizen das biblische Gleichnis Lk 3,17,⁵⁷ wo es in Bezug auf das Jüngste Gericht heißt, dass Jesus seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheuer sammeln, die Spreu aber verbrennen werde.⁵⁸ Über diese Einzeltextreferenz ruft die Strophe des Kanzlers die Endzeitperspektive des biblischen Gleichnisses auf, insinuiert damit, dass die Schamlosen (Spreu) für das Himmelreich verloren seien, und profiliert so das angeprangerte Fehlverhalten der Angesprochenen deutlich als Preisgabe des Seelenheils. Genau an diesen Gedanken schließt das letzte Bild der Strophe an: us ruhem swarzen beine/ wart nîe gt wu̍ rfelspil (V. 15 f.). Die Äußerung sticht durch ihre Bildhaftigkeit und sentenzhafte Pointierung hervor, die sie wie ein Sprichwort klingen lassen, das Bild oder die Wendung scheint sonst aber nicht belegt. Die Sentenz ist dennoch klar verständlich in ihrer Aussage, dass sich aus einem schadhaften, schlechten Material, nämlich ‚rauhem‘ schwarzem Knochen, kein guter (nämlich glatter, weißer) Würfel herstellen lasse. Damit greift das Bild in der Thematisierung einer Kongruenz von innen und außen den stropheneinleitenden Gedanken wieder auf, dass die verschamte schande, also die äußerlich wahrnehmbare Schändlichkeit der Apostrophierten auch in einer verschamten inneren Einstellung gründet. Deutlich  Vgl. Zach (Kanzler), S. 158.  Vgl. Krieger (Kanzler), S. 79. Zach (Kanzler), S. 158 f., dagegen fehlt dazu die Übereinstimmung mit dem biblischen Gedanken.  Cuius ventilabrum in manu eius/ et purgabit aream suam/ et congregabit triticum in horreum suum/ paleas autem conburet igni inextinguibili, Lk 3,17.

2.1.3 Ton I, Strophe 3 – Schelte der Habgierigen (1Kanz/1/3)

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wird so hervorgehoben, dass derjenige, der solcherart durch und durch von Habgier korrumpiert ist, keinerlei Chance auf Besserung hat; zugleich suggeriert das Bildgleichnis, dass diese schwärzeste Verderbnis der Betreffenden sie schon äußerlich klar von den ‚Guten‘ abhebt und mithin jedermann unmittelbar erkenntlich ist. Mit dieser drastischen Geißelung der Habgierigen erhebt sich das Sänger-Ich zum moralisch überlegenen Kritiker und damit – trotz seiner eigenen Heische – selbst über den Vorwurf der Habgier. Die Rolle als öffentlicher Ankläger eines Missstandes verweist dabei intratextuell auf die erste Strophe des Tones zurück, in der sich das Sänger-Ich über das Negativexempel Chams, der sich unrechtmäßig zum Sittenwächter erhebt, diskursiv selbst als Kritiker legitimiert. Die Forschung veranschlagt für die vorliegende Strophe eine Strophenbindung mit der vorangehenden, zweiten Strophe (1Kanz/1/2),⁵⁹ weil sich die beiden Strophen in mehreren Punkten aufeinander beziehen lassen. In beiden Fällen wird der verschamte mt der Angesprochenen kritisiert, beide Strophen verhandeln den negativen Einfluss des Besitzes auf die Menschen. Strophe zwei stellt dabei heraus, dass ein Übermaß an Besitz beziehungsweise die Maßlosigkeit in Bezug auf selbigen den Menschen verderben können, Strophe drei verhandelt bösartige Habgier. Die Strophen sprechen damit zwar nicht dieselben Adressaten an, Strophe zwei führt aber insofern auf die dritte hin, als letztere gewissermaßen einen Extremtypus der zuvor profilierten Maßlosen vorstellt. Das zentrale Thema von Strophe zwei ist aber nicht diese Maßlosigkeit, sondern eine umfassende Diskussion darüber, was ‚wahren‘ Adel auszeichnet, worin sie wiederum an die Aitiologie des Tugendadels in der Prologstrophe 1 Kanz/1/1 anschließt. Es zeigt sich hier also sowohl eine Responsion zwischen Strophe eins (Noah/Tugendadel) und zwei (Tugendadel/mangelnde milte) als auch zwischen zwei (Tugendadel/mangelnde milte) und drei (Habgier). Strophe eins (Noah/Tugendadel) und drei (Habgier) weisen aber keine intratextuelle Verbindung auf, obwohl sie beide mit Strophe zwei (Tugendadel/mangelnde milte) verbunden erscheinen. Die Strophen zeigen damit, dass es nicht nur eine, sondern mehrere mögliche Strophenverbindungen geben kann, die sich tendenziell gegenseitig ausschließen. Ich halte es daher für präziser, solche Strophenresponsionen nicht als ‚Strophenbindung‘, sondern als intratextuelle (Einzeltext‐)Referenzen zu beschreiben. Denn das behauptet weniger eine klare Zusammengehörigkeit bestimmter Strophen, als dass es vielmehr zeigt, wie sich welche Strophen aufeinander beziehen lassen, und vor allem, dass es verschiedene mögliche Zusammengehörigkeiten geben kann, die nicht alle miteinander kompatibel sein müssen. Die Setzung einer Strophenbindung dagegen hierarchisiert die Referenzen bestimmter Strophen aufeinander und blockiert damit tendenziell den Blick auf weitere Referenzen zu anderen Strophen ‚außerhalb‘ der nunmehr als zusammengehörig verstandenen Strophen. Im vorliegenden Fall etwa überdeckt die angesetzte Strophenbindung von Strophe zwei und drei (1Kanz/1/2–3)

 KLD gibt die Strophen in der Edition ohne Spatium, im Kommentar wird das jedoch weder begründet noch thematisiert, ebd. (Kommentar), S. 246; ebenso im RSM (1Kanz/1/2–3) und in LDM.

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die ebenfalls deutlichen Bezüge zwischen Strophe eins und zwei (Tugendadel). Wenn man dagegen die Zusammengehörigkeit von Strophen skalierend als graduelle Intensität intratextueller Referenzen beschreibt, lassen sich solche verschiedenen Möglichkeiten potenzieller – möglicherweise auch sich gegenseitig ausschließender – Strophengruppierungen widerspruchsfrei und präzise erfassen. Eine solche Beschreibung erscheint mir auch mit Blick darauf sinnvoll, dass die Sangspruchdichtung Vortragslyrik ist: Sie öffnet den Blick dafür, dass eine Vielzahl verschiedener Strophen durch Responsionen so aufeinander bezogen und beziehbar sind, dass sie sich im Vortrag verbinden lassen und dass gerade diese variable Einbindung in der Performanz ermöglicht, ein- und dieselbe Strophe situationell unterschiedlich zu akzentuieren. Dem Konzept der Strophenbindung eignet zudem die Idee einer logischen Argumentationslinie von einer Strophe zur anderen, was eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten der Herstellung von Strophenresponsionen ausblendet – etwa solche, wie sie Strophe eins und zwei vorwiegend verbinden (Motiv, Thema, Referenztext). Im Fall von Strophe zwei und drei lässt sich eine vage Fortführung der Argumentationslogik beobachten, diese stellt aber nur einen Teil der sich eröffnenden Bezüge dar. Die Responsion der Formulierung des verschamten mtes etwa ließe sich auch als Markierung einer intratextuellen Referenz beschreiben, die noch dadurch hervorgehoben scheint, dass Strophe drei dieses ‚Zitat‘ anteilig durch die auffällige Anapher zu Strophenbeginn hervorhebt (verschamter schanden tu̍ rsten/ verschamt ist u̍ wer mt, 1 Kanz/1/3, V. 1 f.). Die intratextuelle Verbindung der Strophen sensibilisiert für ihre korrespondierende rhetorische Strategie: Wie die zweite Strophe arbeitet auch die dritte umfangreich mit einer gleichnishaften Bildsprache. Deutlich lässt sich das Bild von Spreu und Korn auf die demselben Bildfeld entnommene Allegorie von Weizen und Distel in der zweiten Strophe zurückbeziehen. Wo dort das Bildfeld der Aussaat dominiert, wandelt sich dieses in der dritten Strophe zu demjenigen der Ernte.Wo dort das Schlechte gedeiht, lässt sich hier keine gute Ernte einfahren. Auch wertlogisch entsprechen sich die Allegorien, die beide das Getreide beziehungsweise das Samenkorn als das Gute beschreiben, das im Bild gegen das Schlechte abgesetzt wird. Beide Allegorien alludieren zudem biblische Gleichnisse, über die das kritisierte Fehlverhalten als Weg zur ewigen Verdammnis profiliert und die Notwendigkeit von Heilssorge thematisiert wird. Die Referenzen der beiden Strophen aufeinander leiten dazu an, aus ihnen ein gemeinsames Thema zu abstrahieren, nämlich die Gefahren fehlerhaften Verhaltens in Bezug auf Besitz. Die Beschreibung als intratextuelle Referenz macht jedoch im Verhältnis zu einer Kategorisierung als Strophenbindung eher deutlich, dass dabei nicht eine klare argumentative Linie dominiert, sondern vielmehr nur bedingt zusammenhängende, komplementäre Aspekte dieses Themas verhandelt werden: Die zweite Strophe fokussiert die Verweigerung der Gabe und damit den Geiz als Gefährdung auch des adeligen status, die dritte dagegen bösartige Bereicherung, also Habgier. In der zweiten Strophe spricht das Sänger-Ich die Gemeinten nicht direkt an, sondern reflektiert objektiv Beweggründe dafür, Almosen zu geben. Die Bildlichkeit der Gleichnisse lässt den Geiz hier durchweg als etwas von außen Kommen-

2.1.4 Ton I, Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4)

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des, nicht ursprünglich Dagewesenes erscheinen, das den Menschen ‚überwuchern‘ und entarten kann. Sie suggeriert mithin eine innere Werthaftigkeit und deutet die Möglichkeit an, sich gegen das Schlechte zu erwehren. Insofern regt diese zweite Strophe zum reflexiven Nachvollzug und einem daraus abzuleitenden ‚richtigen‘ Handeln an. Die dritte Strophe dagegen geißelt in direkter Anrede im Ton schärfster Bußpredigt die Gemeinten und zeichnet sie in den abschließenden Gleichnisbildern sämtlich als durchweg schlecht und vollständig verloren. Das dunkle Schlussbild der dritten Strophe wird dabei durch seine Referenz auf die vorangehende Strophe erst vollständig erhellt und verständlich, denn es konstituiert sich aus dem Gegensatz zu ihm: Die verwilderte Weinrebe der zweiten Strophe trägt – auch wenn sie sauren Wein bringt – noch irgendwo in sich das (nun entartete) Gute, während der ‚rauhe‘ schwarze Knochen der dritten Strophe sich nicht nur nicht mehr zu einem brauchbaren Würfel verarbeiten ließe, sondern schon das ursprüngliche Material durch und durch verderbt ist. Die dunkle Bildhaftigkeit der dritten Strophe, die ihre Gleichnisse teils selbst zu erfinden scheint, begründet und legitimiert sich mithin partiell aus der Referenz auf die zweite Strophe und bedient sich der dort eingeübten Verfahren. Zugleich perspektiviert diese Referenz die zweite Strophe neu, indem sie die Verweigerung des Almosens, die dort im Rahmen einer Tugendadel-Diskussion verhandelt wird, als Weg in eine verderbliche Habgier profiliert.

2.1.4 Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4) C Kanz  So schoͤ n, so stark, so wise ist niender man noh wib, ein ku̍ nftig vorht in twenge: daz ist der grimme tot.  ern füer oͮ ch zeiner spise den wu̍ rmen sinen lip, son ist niht sin anegenge wan jamer unde not. sin erste stimme ist weinen,  wie daz du̍ leste si? bi der mag ich bescheinen daz ein: ist froͤ iden vri. in not, in vorhte, in leide stet menschen ende gar,  wie er von hinnen scheide unde wie er dort gevar.

Das Sänger-Ich setzt mit einer Aufzählung körperlicher und geistiger Vorzüge ein: so schoͤ n, so stark, so wise (V. 1), depotenziert diese jedoch sogleich, indem es feststellt, dass diese Vorzüge den Menschen doch nicht davor bewahren könnten, den Tod

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fürchten zu müssen.⁶⁰ Auf engstem Raum kontrastiert das Sprecher-Ich im ersten Stollen zentrale Qualitäten eines gesunden wünschenswerten Körperzustands und die Unausweichlichkeit ihres Vergehens. Mit der Vorstellung einer unentrinnbaren (künftec) Furcht vor dem Lebensende holt er den Tod in die ‚Blüte‘ des Lebens hinein und profiliert ihn als allzeit drohendes schreckliches (grimme) Schicksal. Die eingangs aufgerufene Vorstellung eines unversehrten schönen Körpers dekonstruiert der erste Vers des zweiten Stollens nun drastisch, indem er auf den natürlichen Weg des Körpers nach dem Tod verweist, der ihn zum Madenfutter bestimmt (ern füer oͮ ch zeiner spise/ den wu̍ rmen sinen lip, V. 5 f.). Doch selbst wenn dieses unwürdige Ende abgewehrt werden könnte, so konstatiert das Sänger-Ich gleichbleibend objektiv-distanziert, könnte der Mensch dem Leid nicht entgehen, da schon sein Lebensbeginn Kummer und Qual sei. Das Sänger-Ich belegt dies zu Beginn des Abgesangs argumentativ, indem es die erste lautliche Äußerung des Menschen, nämlich den Schrei des Neugeborenen, als Klagelaut interpretiert: sin erste stimme ist weinen (V. 9). Geschickt wird damit eine allgemein bekannte, unbestreitbare Beobachtung so gedeutet, dass sie der eigenen Argumentation dient. Zudem gibt der Klagelaut dem Sänger-Ich Anlass, in einer ungerichteten scheinbaren Frage über die letzte Äußerung des Menschen zu räsonieren: wie daz diu letzte [stimme] sî? und gibt die Antwort selbst: Sie ist froͤ iden vri, das könne es bescheinen (V. 10–12). Dabei tritt das Sänger-Ich das einzige Mal in dieser Strophe personal hervor (ich) und stellt mit dem Anspruch des bescheinens, des Sichtbarmachens, Verbürgens, implizit sein eigenes Wissen als Autorität neben die Beweiskraft des zuvor angeführten allgemein bekannten Phänomens (den Schrei des Neugeborenen). Der im Aufgesang behauptete jammervolle Zustand des Menschen zu Anfang und Ende seines Lebens bewahrheitet sich im unartikulierten Klagelaut, der das menschliche Leben (um‐)rahmt. Der abschließende Stollen des Abgesangs resümiert prägnant: in not, in vorhte, in leide/ stet menschen ende gar (V. 13 f.). Die Dreigliedrigkeit dieser Begriffsreihe (not, vorht, leide) nimmt deutlich Bezug auf die stropheneinleitende Trias schoͤ n, stark, wise ⁶¹ und hebt in der antithetischen Gegenüberstellung erneut deren Hinfälligkeit hervor. Was den Menschen zu Lebzeiten mit Stolz erfüllt, erscheint dadurch in seiner Nichtigkeit desavouiert. Damit korrumpiert der Schrecken des Todes auch die Mitte des Lebens, das somit von Anfang bis Ende vom Elend überschattet wird. Daran schließen die Schlussverse an: in not, in vorhte in leide/ stet menschen ende gar,/ wie er von hinnen scheide/ unde wie er dort gevar (V. 13–16), deren Verständnis maßgeblich davon abhängt (und mit ihnen das der Strophe), wie das abschließende wie (er dort gevar) zu verstehen ist. Begreift man es als ein swie,⁶² wäre etwa folgendermaßen zu paraphrasieren: ‚Das Lebensende des Menschen ist als solches fürch-

 Vgl. Freidank, V. 176,16–19.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 242 f.  Vgl. BMZ, Bd. 3, Sp. 571b.

2.1.4 Ton I, Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4)

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terlich, egal wie er stirbt und wie es ihm im Jenseits ergehen wird‘.⁶³ Die not, vorhte und leide des menschlichen Lebensendes gründeten damit nicht etwa in körperlichen Qualen des Todes oder der Sorge, was das Jenseits bringen mag (Verdammnis oder Erlösung). Vielmehr läge der Schrecken des Todes nach dieser Lesart in der Unentrinnbarkeit, mit der er das Leben – wie gesegnet es auch war – beendet und den Körper zersetzt, was die Strophe radikal innerweltlich erscheinen ließe.⁶⁴ Das wie lässt sich aber auch – und das scheint wahrscheinlicher – verstehen, indem man es auf den Anfang des Satzes bezieht. Dann wäre es entweder modal aufzufassen: ‚Sorge, Furcht und Qual, wie (auf welche Art und Weise) er sterben muss, beherrschen das Ende des Menschen‘, er hat also Angst, dass er dabei leiden muss – oder das wie wäre erläuternd aufzufassen: ‚Sorge, Furcht und Qual beherrschen das Ende des Menschen, nämlich zum einen quält ihn, dass er sterben muss, und zum anderen, dass er nicht weiß, wie es ihm im Jenseits ergehen, wie er dort bestehen wird‘. Die fast durchgehend innerweltliche Perspektive der Strophe würde damit im letzten Vers pointiert aufgebrochen und auf eine Heilssorge-Thematik hin geöffnet. Dem ‚Nachleben‘ des sterblichen Leibes, der als Speise der Würmer in seiner Körperlichkeit entwertet wird, steht damit implizit die Unsterblichkeit der Seele gegenüber. Schönheit, Kraft und Weisheit erscheinen überschattet von ihrer Vergänglichkeit, vermögen nichts im Jenseits. Der Jammerschrei des Neugeborenen steht als mahnende Präfiguration der Klage des Sterbenden über dem Leben, das unentrinnbar auf den Tod zuläuft. Die Handlungsanweisung der Strophe bleibt implizit: Der schrecklichen Furcht vor dem Ende und der Ungewissheit des Jenseits ist höchstens durch Vorsorge für das Seelenheil zu begegnen. In der Sangspruchdichtung sind Vergänglichkeit des Irdischen und Tod kein seltenes Thema, doch ist die vorliegende Ausgestaltung beim Kanzler auffällig. Die meisten Sangspruchstrophen, die sich mit dem Tod befassen, sind sehr moralisierend. Sie thematisieren vorwiegend die Notwendigkeit, die Seele vor der ewigen Verdammnis zu schützen, wobei sie nicht selten in einen gebetshaften Schluss münden.⁶⁵ Das Sänger-Ich nimmt oft die Rolle eines sündhaften Ichs an, geriert sich mithin als Identifikationsfigur, oder es schließt die Rezipienten in einem kollektivierenden wir mit ein. Bisweilen verweisen die Dichter auch auf die Vergänglichkeit weltlichen Besitzes und knüpfen dabei an einen milte-Diskurs an.⁶⁶ Daneben begegnen aber auch Strophen, die sich – wie beim Kanzler – speziell mit dem Thema der Todesfurcht beschäftigen.⁶⁷ Parallelen zum Kanzler lassen sich vor allem bei Süßkind von Trim-

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 243.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 243: „der Tod […] als grimmiger Bezwinger des Lebens“.  Beispielsweise 1Dam/3/9; 1FriSo/1/20; 1Gut/1/1–5; 1Marn/6/2; 1ReiZw/1/190; 1Süßk/1/3; 1UlrS/3/1–7; 1 Wern/1/17; 1Wern/4/3; 1Wizl/2/1.  So unter anderem 1Mei/17/5; 1Unv/1/5; 1Wern/1/24.  Etwa 1KonrW/7/24 (er thematisiert dabei aber – ganz anders als der Kanzler – gerade die Sorglosigkeit des Menschen trotz der Unentrinnbarkeit des Todes und stellt dem die Aussage gegenüber, dass

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berg ausmachen: Auch hier wird der Leichnam als Speise der Würmer ausgewiesen (1Süßk/1/3, V. 6) und die Nutzlosigkeit allen Besitzes, Wissens und Könnens diskutiert (selbst nigromazîe zu beherrschen oder ein heilig wîs prophête zu sein, schützen nicht vor dem unausweichlichen Ende, 1Süßk/1/4, V. 7, 10). Bei Süßkind wird das Thema allerdings aus der Perspektive eines betroffenen Ichs verhandelt, das Gottes Gnade erbittet (1Süßk/1/3) beziehungsweise wissen möchte, wohin die Seele nach dem Tode geht (1Süßk/1/4). Eine direkte Bezugnahme zwischen dem Kanzler und Süßkind anzunehmen, scheint mir insofern nicht sinnvoll. Vielmehr wird an allen diesen Sangspruchstrophen gleichermaßen eine Referenz auf Diskurse außerhalb der Gattung deutlich, nämlich auf theologische, genauer: auf den memento mori- und den contemptus mundi-Diskurs. Diese bilden sich ab dem 11. Jahrhundert besonders „in den auf monastische und kirchliche Reform hinarbeitenden Zentren […] (Cluny, Gorze, Hirsau, Viktoriner)“ heraus.⁶⁸ Ausgang für dieses Weltverständnis sind zahlreiche Bibelstellen, so etwa Job 7,7 memento, quia ventus est vita mea,⁶⁹ aber auch antike philosophische Schriften und die Patristik.⁷⁰ Ein wichtiges genuin mittelhochdeutsches Zeugnis dieser Tradition ist der wohl gegen Ende des 12. Jahrhunderts abgefasste Traktat Von des todes gehugde des sogenannten Heinrich von Melk.⁷¹ Europaweite Verbreitung fand der von Lothar von Segni – dem späteren Papst Innozenz III. – 1195 verfasste Traktat De miseria humanae conditionis. ⁷² Von der Bekanntheit und Verbreitung dieser „Summa der contemptus mundi-Themen“⁷³ zeugt im deutschsprachigen Raum unter anderem dessen Rezeption in Hugos von Langenstein Martina (1293).⁷⁴

ein Tier wohl, wenn es wüsste, dass es sterben muss, vor Furcht davor verhungern würde); 1Marn/7/13; Süßk/1/3; 1Süßk/1/4.  Vgl. Louise Gnädinger: [Art.] Contemptus mundi. A. Contemptus mundi als Begriff und Haltung abendländischer mittelalterlicher Geistlichkeit. In: LexMA, Bd. 3, Sp. 186 f., hier Sp. 187; Gabriel Silagi: [Art.] Contemptus mundi. B. I. Mittellateinische Literatur. In: LexMA, Bd. 3, Sp. 188; Rainer Rudolf: [Art.] Contemptus mundi. In: ²VL, Bd. 2, Sp. 5–8.  Vgl. Günther Bernt: [Art.] Memento mori. A. Begriff. Mittellateinische Literatur. In: LexMA, Bd. 6, Sp. 505 f., hier Sp. 506.  Vgl. Gnädinger ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 187.  Vgl. Peter-Erich Neuser: [Art.] Der sogenannte Heinrich von Melk. In: ²VL, Bd. 3, Sp. 787–797, hier Sp. 792 f.  Vgl. Silagi ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 188; Kurt Ruh: [Art.] Innozenz III. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 388– 395, hier Sp. 390, datiert die Zeit der Abfassung auf 1190–1194; dieser Traktat ist mit 672 Handschriften und 52 Drucken einer der am breitesten überlieferten Texte des Mittelalters überhaupt (vgl. Silagi ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 188) und wurde darüber hinaus auch in zahlreiche Volkssprachen übersetzt, vgl. Ruh ([Art.] Innozenz III.), Sp. 931 f., Gnädinger ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 187.  Vgl. Gnädinger ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 187.  Besonders deutlich wird diese im Abschnitt über die menschliche bloede (von des menschen natvre, von den eliuten): V. 114,95–137,30, in dem Hugo auch dezidiert seine Quelle nennt (V. 115, 22, Hugo von Langenstein: Martina, hg. durch Adelbert von Keller. Hildesheim/New York 1978 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1856]); die Martina ist die älteste geistliche Dichtung aus dem deutschen Orden und zeugt von literarischer (vielleicht auch persönlicher) Nähe des Verfassers zu Konrad von Würzburg,

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2.1.4 Ton I, Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4)

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Innerhalb dieser – nicht spezifisch gegeneinander abgrenzbaren – contemptus mundi- und memento mori-Literatur entwickeln sich zahlreiche topische Motive (wobei selbst Übereinstimmungen ganzer Verse zu beobachten sind).⁷⁵ In der Übernahme solcher Motive manifestiert sich nun auch die Diskursreferenz der vorliegenden Kanzlerstrophe. Auf die topischen, „auf richtige Selbsteinschätzung und -erkenntnis tendierenden Fragen nach dem Woher, dem Ist-Zustand und dem Wohin des Menschen“⁷⁶ spielt die Strophe etwa durch die Thematisierung der drei Lebensalter an. Sie formuliert – anders als beispielsweise Süßkind⁷⁷ und Reinmar von Zweter⁷⁸ – zwar keine expliziten Fragen, alludiert den Topos aber dennoch, indem sie über den Schrei des Neugeborenen das ‚Woher‘ aufruft (V. 7), über die Vorzüge von Schönheit, Kraft und Weisheit einen ‚Ist-Zustand‘ in der Mitte des Lebens (V. 1) und über den in Aussicht gestellten Tod das ‚Wohin‘ (wie er von hinnen scheide/ und wie er dort gevar, V. 15 f.). Diese modifizierten ‚Fragen‘ gliedern dabei gewissermaßen die Strophe: Der erste Stollen ist bestimmt vom ‚Ist-Zustand‘, der zweite vom ‚Woher‘, der dritte vom ‚Wohin‘. Des Weiteren manifestiert sich die Diskursreferenz beim Kanzler im Bild des den Würmern anheimfallenden Leichnams. Dieses Motiv, das sich mehreren Bibelstellen verdankt, hat als absoluter Ausdruck irdischer Vergänglichkeit und Nichtigkeit einen festen Platz in der contemptus mundi-Literatur.⁷⁹ Besonders drastisch stellt Lothar von Segni den würmerbegleiteten Verfallsprozess des Leichnams dar, den er als einen weiteren Ausweis für die Wertlosigkeit der menschlichen Kreatur interpretiert: […] cuius tandem cadaveri quasi funebres vermes adsistent. Vivus genuit pediculos et lumbricos, mortuus generabit vermes et muscas; vivus producit stercus et vomitum, mortuus producit putre-

besonders zu dessen Goldener Schmiede, vgl. Georg Steer: [Art.] Hugo von Langenstein. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 233–239, hier Sp. 235; das macht vielleicht auch eine Verbindung zum Kanzler oder dessen Umfeld denkbar.  Vgl. Ursula Schulze: [Art.] Memento mori. B.Volkssprachliche Literaturen. I. Deutsche Literatur. In: LexMA, Bd. 6, Sp 506 f., hier Sp. 507. Gerade zwischen Lothars von Segni De miseria humanae conditionis und des sogenannten Heinrich von Melk Von des todes gehugde zeigen sich aber neben den motivischen auch strukturell so deutliche Parallelen, dass vielleicht doch eine Abhängigkeit des letzteren von ersterem zu überprüfen wäre. Die Datierung Heinrichs ist immerhin so unsicher, dass sie nicht dagegen sprechen müsste („Reim- und Verskunst deuten noch aufs 12. Jahrhundert, die Verstechnik allerdings auf das Jahrhundertende“, Neuser ([Art.] Der sogenannte Heinrich von Melk), Sp. 792 f.).  Gnädinger ([Art.] Contemptus mundi), Sp. 187.  Swenn ich gedenke waz ich was ald waz ich bin/ ald waz ich werden muoz, 1Süßk/1/3,V. 1 f. (zit. nach KLD).  Sich, mensche, vür dich, wer dû bist,/ war ûz dû sîst worden unt wer dû wirst in kurzer vrist, 1ReiZw/1/ 190, V. 1 f. (zit. nach Roethe).  qui quasi putredo consumendus sum et quasi vestimentum quod comeditur a tinea, Job 13,28; putredini dixi pater meus es mater mea et soror mea vermibus, Job 17,14; et tamen simul in pulverem dormient et vermes operient eos, Job 21,26; quanto magis homo putredo et filius hominis vermis, Job 25,6; sicut enim vestimentum sic comedet eos vermis/ et sicut lanam sic devorabit eos tinea, Jes 51,8.

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2 Analysen

dinem et fetorem; vivus hominem unicum impinguavit, mortuus vermes plurimos impinguabit (lib. 3, cap. 4.3).⁸⁰

Das übernimmt auch Hugo von Langenstein in seiner Rezeption Lothars,⁸¹ das Motiv begegnet aber auch zuvor schon in der mittelhochdeutschen Literatur, so etwa beim sogenannten Heinrich von Melk⁸² und in der Sangspruchdichtung.⁸³ Der Rezeption des Topos beim Kanzler eignet eine gewisse Objektivität und Kontemplativität, die exemplarisch für die gesamte Strophe ist und damit im Kontrast zur üblichen anklagenden Schärfe der contemptus mundi-Literatur steht. Der Schrecken der Verwesung wird hier nicht unmittelbar als Drohbild dargestellt. In einer komplexen Exzeptivkonstruktion verschiebt das Sprecher-Ich den Fokus vom Elend des Lebensendes auf das Leid des Lebensanfangs: Selbst wenn der Mensch letztlich nicht von den Würmern gefressen würde, so wäre doch schon der Beginn seines Lebens nur Kummer und Qual (ern füer oͮ ch zeiner spise/ den wu̍ rmen sinen lip,/ son ist niht sin anegenge/ wan jamer unde not,V. 5–8). Zum einen wird das unausweichliche Ende als Würmerfraß damit gedanklich zur Disposition gestellt (und dabei doch zugleich seine Unausweichlichkeit betont), zum anderen wird es in Relation zur Geburt gesetzt, die darüber als gleichermaßen elendes Ereignis profiliert wird. Damit greift die Strophe noch einen weiteren Topos der contemptus mundi-Literatur auf, welche die Zeugung des Kindes mit verdammungswürdiger fleischlicher Begierde verbindet, mit Sünde und Schuld; insofern werden auch Schwangerschaft und Geburt entsprechend negativ dargestellt (vgl. etwa Lothar von Segni: Conceptus est homo de sanguine per ardorem libidinis putrefacto, lib. 3, cap. 4.3).⁸⁴ Als Ausdruck dieses Elends wird auch hier der Schrei des Neugeborenen interpretiert (vgl. beim Kanzler: sin erste stimme ist weinen V. 9). Dieser Gedanke begegnet erstmals bei Beda Venerabilis: prima hominis vox est

 Hier und im Folgenden zit. nach: Lotharii Cardinalis (Innocentii III): De miseria humane conditionis, hg. von Michele Maccarone. Lugano 1955; schon die Geburt wird hier als schmutziges Hervorgehen aus sündiger Begierde profiliert, das menschliche Leben als Zeitspanne abstoßender Ausscheidungen, der Tod als Beginn eines stinkenden Verfallsprozesses, an dem die Würmer ihre Speise haben; zum Ende vgl. auch etwa lib. 1, cap. 1,3: Fiet cibus ignis, qui semper ardet et urit inexstinguibilis; esca vermis, qui semper rodit et comedit immortalis; massa putredinis, que semper fetet et sordet horribilis.  Dem gewurme ein spise, V. 116,27; Ein ezzin dem gewurme, V. 117,44; Der würme genesche, V. 118,112; Und wirt mit leidez sturme/ Ein az dem gewurme, V. 121,63 f., Hugo von Langenstein Martina (zit. nach Keller).  Ich sihe dîn gebäin rozzen,/ daz hât diu erde gar vernozzen,/ ez criuchet bœser wurme vol,V. 673–675 (zit. nach: Der sogenannte Heinrich von Melk. Nach R. Heinzels Ausgabe von 1867 neu hg. von Richard Kienast. Heidelberg 1946).  Etwa 1KonrW/7/18; 1WaltV/7/5 (L. 22,3); 1Wern/1/17.  Damit verbindet sich auch die Idee, dass das Kind sich im Mutterleib vom Menstruationsblut nähre (weswegen die Menstruation während der Schwangerschaft ausbleibe) und dass dieses so unrein sei, dass in der Berührung mit ihm Pflanzen verdorren; die Kleidung des Neugeborenen sei ein blutbeschmiertes Fell; darüber hinaus sei der Säugling bei der Geburt unfähiger als die meisten Tiere, lib. 1, cap. 3–7.

2.1.4 Ton I, Strophe 4 – memento mori (1Kanz/1/4)

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doloris ⁸⁵ und etabliert sich im Folgenden im theologischen sowie volkssprachlichen contemptus mundi-Diskurs. Er begegnet etwa bei Bernhard von Clairvaux, Bernhard von Morlay, Lothar von Segni (und in dessen Nachfolge bei Hugo von Langenstein), aber auch beim sogenannten Heinrich von Melk.⁸⁶ Auch die beim Kanzler angeschlossene Frage, was die letzte Äußerung des Menschen sein möge (wie daz du̍ leste si?, V. 10), die das Sänger-Ich scheinbar nach eigenem Wissen beantwortet: bi der mag ich bescheinen/ daz ein: ist froͤ iden vri,V. 11 f., erweist sich als Referenz auf geläufige Muster: Die unvergleichliche Qual des Menschen im Moment des Todes führt auch etwa Lothar von Segni aus, wobei er dabei nur die Schuldigen anspricht.⁸⁷ Und auch in der – wie beim Kanzler dreigeteilten – Darstellung des Lebens bei Bernhard von Clairvaux deutet sich die Schmerzlichkeit des Todes an: Homo nascens cum moerore, vitam ducis cum labore et cum malo moreris. ⁸⁸ Dezidiert von einem Klagelaut spricht der sogenannte Heinrich von Melk: sô dû dîn herceichen/ mit wäinen beliutest,/ – dâ mit dû wol bediutest/ daz dû ze der armchäit giborn bist –,/ ê dir nû chomt din jungiste vrist,/ sô mûstû vil offte rûffen ‚wê!/ mit grimme ist recht daz er zergê/ der geborn ist mit grimme.‘/ alsô diu êrste stimme/ nach der geburt wol erschäinet,/ sô daz niweborn chint wäinet (V. 500–510).⁸⁹ Indem das Sänger-Ich beim Kanzler auf diese Tradition zurückgreift, das Wissen um die künftige Klage des Menschen im Tod aber als persönliches Wissen über das, was da kommen wird, inszeniert, nimmt es die Rolle eines Predigers ein und partizipiert an der Autorität dieses theologischen Diskurses.

 et quia in calido et humido nutritus est (infans), nascens et ad dissimile prodiens, contrarietatem sentit vocemque ululationis emittit, et ideo prima hominis vox est doloris, Beda Venerabilis De elementis philosophiae l. 4 (T. 2, 126). zit. nach: Heinrich von Melk, hg. von Richard Heinzel. Hildesheim/Zürich/ New York 1983 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1867), Anmerkungen I, S. 123.  Quotquot nascuntur vox illi prima doloris: incipit – fletu vivere quisque homo, Alexander Neckam De contemptus mundi (S. Anselmi Op. Gerberon 1721 p. 199b); Flens homo nascitur et cito tollitur, efflat humatur (p. 31), Nuper homo satus est, lacrimis datus hic sibi flere vagit ad ubera, vivit ad aspera, mors vocat itur (p. 32), Bernhard von Morlay; Homo nascens cum moerore, vitam ducis cum labore et cum malo moreris, Bernhard von Clairvaux Rhythmus de contemptus mundi (Venedig 1727, T. 3, p. 995), alle zit. nach Heinzel (Von des todes gehugde, Anmerkungen I), S. 123 f.; Lothar von Segni zitiert zudem den Ausspruch, dass die Neugeborenen E oder A schrien, weil sie von Eva abstammten (lib. 1, cap. 6.1), was Hugo von Langenstein übernimmt (Martina, V. 120,103–121,30); ein weiteres mittelhochdeutsches Zeugnis für den Klageschrei des Neugeborenen findet sich beim sogenannten Heinrich von Melk in Von des todes gehugde, V. 500–510.  Lothar von Segni unterscheidet dabei vier Qualen: Die erste ist eine unerträgliche leibliche Not, wenn sich die Seele vom Körper löst, die zweite ist der Schmerz der Seele, weil sie im Moment des Todes alle guten und schlechten Taten sieht, die der Mensch begangen hat, und davor Abscheu empfindet, die dritte Qual ist, dass die Seele jetzt gerecht urteilen kann und die verdienten Höllenstrafen antizipiert, die vierte ist, dass sie die bösen Geister erblickt, die sich ihrer nun bemächtigen werden, vgl. lib. 3, cap. 2 („De doloribus quos mali patiuntur in morte“).  Vgl. oben, Anm. 86.  Von des todes gehugde, zit. nach Kienast.

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Gedanken, die in der contemptus mundi-Literatur vorgeprägt sind, zitiert auch die Begriffstrias der Kanzlerschen conclusio: in not, in vorhte, in leide/ stet menschen ende gar (V. 13 f.). Bei Lothar von Segni heißt es nämlich, dass der Wurm in zweifacher Hinsicht am sterbenden Menschen frisst: sowohl dann wahrhaftig am toten Körper als auch zu Lebzeiten in übertragenem Sinn am ‚Gewissen‘, das den Sünder dreifach martert: Vermis conscientie tripliciter lacerabit: affliget memoria, turbabit penitentia, torquebit angustia (lib. 3, cap. 5.2). Sie werden also bedrängt (affliget, das entspräche der not beim Kanzler) durch die Erinnerung an ihre Taten, sie werden beunruhigt (turbabit, das entspräche der vorhte) durch ihre (zu späte) Reue und gequält (torquebit, das entspräche dem leide) durch ihre (gegenwärtige) Not. Nicht nur lässt sich dies als Anspielung verstehen, sondern zudem schärft der Prätext hier die beim Kanzler nicht weiter spezifizierten Begriffe und bietet eine Deutung der vorerst uneindeutigen Strophenpointe. Diese Referenz eines Sangspruchdichters auf den (ursprünglich) theologischen contemptus mundi-Diskurs erfüllt meines Erachtens zwei Funktionen, nämlich eine inhaltliche und eine legitimatorische. Inhaltlich evozieren die verschiedenen Motivkorrespondenzen das zugrundeliegende Schrifttum und holen dieses implikativ in den manifesten Text hinein: Die Strophe des Kanzlers endet gewissermaßen offen mit einer lediglich vagen Vorausdeutung auf das, was den Menschen nach dem Tod erwartet – doch gerade die Referenz auf den diesen Überlegungen zugrundeliegenden Diskurs lässt den Rezipienten das ‚Fehlende‘ ergänzen. Das ist zum einen die ausführliche Beschreibung der Qualen der ewigen Verdammnis, aber zum anderen auch ein umfangreicher Katalog irdischer Sünden, die beide in der contemptus mundi-Literatur einen festen Platz haben. Und dass gerade diese Sündenkataloge in der memento mori- und contemptus mundi-Tradition dabei – im Angesicht der Vergänglichkeit alles Irdischen folgerichtig – meist besonders die Hinfälligkeit irdischer Reichtümer und die Warnung vor Habsucht und Geiz fokussieren, könnte auch beim Kanzler implizit in der Fluchtlinie der sangspruchdichterischen Rezeption des Diskurses liegen. Die redaktionelle Positionierung der Strophe in C – nämlich genau nach einer Mahnung der Geizigen (Strophe zwei) und einer Schelte der Habgierigen (Strophe drei) – unterstützt diese Deutung. Ebenso tut dies der Umstand, dass die Strophe durch ihren Eröffnungsvers assoziativ an die Mahnung der Geizigen (1Kanz/1/2) zurückgebunden wird, da beide mit einer Aufzählung wünschenswerter irdischer Vorzüge anheben, die sie dann – jede Strophe im Dienste ihres Unterweisungsziels – als gefährlich beziehungsweise nichtig profilieren. Daneben bietet die Referenz dieser Kanzler-Strophe auf einen derart prominenten theologischen Diskurs, wie er sich in der contemptus mundi-Literatur niederschlägt, legitimatorisches Potenzial, weil sie damit an der Geltung dieses institutionalisierten Schrifttums partizipiert. Die Strophe des Kanzlers zeichnet sich im Gegensatz zu jenem allerdings durch eine auffällige Distanziertheit und Objektivität aus. Wo die contemptus mundi-Literatur die Rezipienten über ihre eindringlich wiederholte duAnrede unmittelbar apostrophiert und ihre Intention und ihre Weltbetrachtung in scharfem Predigtton formuliert, steht beim Kanzler eine unpersönliche Darlegung

2.1.5 Ton I, Strophe 5 – Konkurrentenschelte (Esel, Rabe) (1Kanz/1/5)

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menschlicher Todesverfallenheit. Was die Referenz auf diesen Diskurs mithin angeboten hätte, nämlich die überlegene Rolle des Bußpredigers zu übernehmen, unterbleibt. Selbst wo das Sänger-Ich hier (einmal) in Erscheinung tritt, bleibt es zurückhaltend-explikativ und unterlässt eine Apostrophe. Zugleich wählt das Sänger-Ich aber auch keine sich unterordnende Rolle, indem es den Diskurs nicht im demütigen Gestus eines kollektiven Gebets oder als zur Identifikation einladendes christliches (Sünder‐)Ich aufgreift. Gerade über die objektive Erörterung des Themas, die sich weder unterordnet noch die Predigerrolle einfach zu imitieren versucht, erhebt das Sänger-Ich unausgesprochen Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit den theologischen Vertretern beziehungsweise Verfassern des contemptus mundi-Schrifttums. Durch die Diskursreferenz beansprucht die Strophe damit insofern auf zwei Ebenen Geltung: Zum einen legitimiert sie auf der Ebene von Sänger und Rezipient ihre Aussagen durch die Partizipation an diesem institutionalisierten Diskurs und seiner Geltung. Zum anderen fordert das Sänger-Ich dadurch, dass es den Diskurs nicht einfach imitiert, sondern ihn in den für den Kanzler typischen objektiven Sprechgestus übersetzt, sich seiner also gewissermaßen bemächtigt, Geltung gegenüber jenen ein, die diesen Diskurs eigentlich zu führen legitimiert sind. Indem er sich den Diskurs dergestalt zu eigen macht, beweist er mithin seinen souveränen Umgang mit der materia.

2.1.5 Strophe 5 – Konkurrentenschelte (Esel, Rabe) (1Kanz/1/5) C Kanz  Ein esel in loͤ wen hiute, ein trappe in pfawen wat mugent vil der toͤ rschen triegen, sint si an ku̍ nste blint.  ir stimme oͮ ch wisen tu̍ te, wie ir nature stat: du̍ mag niht lange liegen, si ku̍ nd u̍ , wer si sint. ir edelen tugende richen,  ir merkent, ob ir munt, waz toren ir gelichen in disem liede sunt dem esel unde dem trappen: die singer ku̍ nste ruch.  niht wan ein snabelsnappen zeiget mir storchen kuch.

Die fünfte Strophe des Kanzlers eröffnet mit einer Anspielung auf zwei Tierfabeln, mit einer intertextuellen Referenz auf zwei spezifische Prätexte, nämlich die Fabel vom

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„Esel in der Löwenhaut“⁹⁰ und die Fabel vom „Raben mit fremden Federn“.⁹¹ Beide Fabeln sind schon seit der Antike bezeugt⁹² und im Mittelalter so verbreitet,⁹³ dass sie teilweise schon wie Sprichwörter gebraucht werden,⁹⁴ insofern dürften sie für die Rezipienten problemlos identifizierbar gewesen sein.⁹⁵ Die Fabel vom Esel in der Löwenhaut erzählt davon, wie ein Esel sich eine Löwenhaut überstülpt, dadurch vorerst von den anderen gefürchtet, aber letztlich doch (an seinen Füßen, Ohren oder seiner ‚Stimme‘) als Esel erkannt und in der Folge meist zur Strafe verbläut wird.⁹⁶ In der Fabel vom Raben (Dohle, Häher, Krähe) mit fremden Federn schmückt sich der unscheinbare Vogel mit fremden (Pfauen‐)Federn, wird aber seines Schmuckes wieder beraubt und (auch hier) bisweilen noch darüber hinaus bestraft.⁹⁷ Wie bei den meisten Fabelreferenzen in der Sangspruchdichtung werden diese Fabeln auch beim Kanzler nicht auserzählt, sondern nur angespielt,⁹⁸ indem das Sänger-Ich ihr je zentrales Motiv zitiert: ein esel in loͤ wen hiute,/ ein trappe in pfawen wat (V. 1 f.). Damit ruft er die relevante Kernhandlung auf, berichtet aber weder vom Ausgang dieser ‚Verkleidungsversuche‘ noch schließt er eine fabeltypische moralisatio

 Gerd Dicke, Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987, K 117.  Dicke/Grubmüller (Fabeln), K 470.  ‚Esel in der Löwenhaut‘ anspielungsweise bei Phaedrus, vollständig etwa bei Avianus (Nr. 5), Babrius (Nr. 139), vgl. Dicke/Grubmüller (Fabeln), S. 122 f.; ‚Rabe mit fremden Federn‘ schon bei Phaedrus (I 3), Babrius (Nr. 172), ‚Romulus‘ (45), vgl. Dicke/Grubmüller (Fabeln), S. 553 f.  Zur gesamten umfangreichen Überlieferung vgl. Dicke/Grubmüller (Fabeln), S. 122–128 (Esel in der Löwenhaut), 553–560 (Rabe mit fremden Federn); beide Fabeln sind bei Odo von Cheriton im Liber Parabolarum überliefert, „einer offensichtlich für die Verwertung durch Prediger bestimmten Sammlung von geistlichen Exempeln, die auch Fabeln in großer Zahl enthält“, vgl. Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. Zürich/München 1977, hier S. 102; dieser Gebrauchszusammenhang verleiht Fabeln eine gewisse Autorität und böte die Imitation einer solcherart exemplarischen Verwendung an, allerdings sind Fabeln in der deutschsprachigen Predigt bis zum 15. Jahrhundert kaum nachzuweisen; erst mit Geiler von Kaisersberg setzen sie sich hier als Element breit durch, vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 109 f.  Vgl. dazu TPMA (Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften [wissenschaftliche Leitung Ricarda Liver], begründet von Samuel Singer. 13 Bde. Berlin/New York 1995–2002): ‚Der Esel im Löwenfell‘, Bd. 3, S. 77 f.; ‚Sich mit fremden Federn schmücken‘, Bd. 3, S. 188. Fabeln gehören offenbar auch zentral zum Lesekanon gelehrter Ausbildungen etwa an Klosterschulen, vgl. Zach (Kanzler), S. 69, vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 214, 434.  Grubmüller (Meister Esopus), S. 240; differenziert zeigt Grubmüller das etwa an Hergers FabelSangspruchstrophen (1SpervA/1/6–10, 11–15), vgl. ebd. S. 118.  Vgl. Dicke/Grubmüller (Fabeln), S. 122.  Vgl. Dicke/Grubmüller (Fabeln), S. 553.  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 240; mögliche Gründe dafür erörtert ausführlich Sabine Obermaier: Fabel und Sangspruch. In: Dorothea Klein, Trude Ehlert, Elisabeth Schmid (Hg.): Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg 15.–18. Februar 2006. Tübingen 2007, S. 243–258.

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an.⁹⁹ Stattdessen werden diese verkürzt angespielten Fabeln hier als Gleichnisbilder bîspel-haft für eine Diskussion um rechte Kunstausübung funktionalisiert:¹⁰⁰ Denn, so fährt das Sänger-Ich fort, wer blint in Hinblick auf die ku̍ nste sei, ließe sich von solchen Eseln in der Löwenhaut und Trappen¹⁰¹ im Pfauengefieder betrügen (V. 1–4).¹⁰² Mit der Klassifikation als toͤ rsche[ ] werden diese betrogenen Kunstunverständigen intellektuell klar abqualifiziert. Wie in den Fabeln stehen Esel und Trappe damit für einen Typus des Blenders, der seine Umwelt über seine wahre ‚Natur‘ – und das heißt hier: seine tatsächliche mangelnde künstlerische Fähigkeit – zu täuschen bestrebt ist. Die Verkleidung mit Löwenfell und Pfauengefieder werden insofern sangspruchdichterisch umgedeutet als Anmaßung einer nicht gegebenen Kunstfertigkeit, was explizit als betrügerische Handlung profiliert wird (triegen, V. 3). Die intertextuelle Referenz auf die Fabel entfaltet dabei eine oszillierende Mehrdeutigkeit, da sie auf verschiedenen Ebenen Vergleichsmöglichkeiten zur Sangspruchdichtung generiert: Zentral problematisiert das Sänger-Ich eine als negativ gewertete Diskrepanz von vorgegebenem und wirklichem Können, postuliert mithin Authentizität gegen Prätention und straft dabei auch Dilettantismus ab. Es thematisiert damit aber auch das Verhältnis

 Anders als etwa das Reimpaarbîspel entfaltet die Sangspruchdichtung bei Bezugnahmen auf die Fabel generell keine „praktischen Erfahrungssätze und ‚bewiesene[ ]‘ Lebenserfahrung“, wie sie die Fabel typischerweise aus ihrer narratio ableitet (außer im Ansatz bei Kelin, 1Kel/3/5), vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 251 f.; das lässt sich für Fabelanspielungen in der Sangspruchdichtung schon seit ihren Anfängen beobachten. Für 1SpervA/1/6–10; 1SpervA/1/11–15, leitet Grubmüller (Meister Esopus), S. 113, 118 f., aus der fehlenden Auslegung erstens ab, dass die Texte offenbar als bekannt vorausgesetzt wurden, und erwägt zweitens, ob sich die Pointe vielleicht erst aus der Vortragssituation ergeben haben könnte; Obermaier (Fabel), S. 253 f., verweist dagegen darauf, dass die sangspruchdichterischen Fabeladaptionen den Auslegemodus von einem parabolischen zu einem allegorischen verschöben.  Die Fabel vom Esel in der Löwenhaut zitiert auch Stolle, allerdings im Kontext einer Herrenlehre, die auf die Notwendigkeit echter (innerer) êre abhebt (1Stol/26 f.; auf diese Parallele verweist auch Zach [Kanzler], S. 68); bei Reinmar von Zweter begegnet diese Fabel als Vergleichsbild im Kontext einer minne-Unterweisung (1ReiZw/1/52); der Meißner verhandelt die Tatsache, dass äußere Verstellung bei innerer Schlechtigkeit das Innere nicht ändere (1Mei/1/12), und spielt dabei – sehr fragmentarisch – vielleicht auf beide vorliegenden Fabeln an, wenn er davon spricht, dass den esel […] sin stimme [meltet], V. 2; und der valsche vogel immer smaheit leiden müsse, V. 9 f., zit. nach Objartel.  Unklar ist, ob es sich bei trappe um eine Verschreibung aus rappe handelt (so konjiziert KLD), denn die Varianten der Fabel kennen verschiedene schmucklose Vögel an Stelle des Raben (Dohle, Häher, Krähe, vgl. Dicke/Grubmüller [Fabeln], S. 553), vgl. Seidel (LDM, Kommentar); trappe ist aber auch Synonym zu tôre (also ‚einfältiger Mensch‘), vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 1497, und insofern möglicherweise bewusst gesetzt, denn es ruft über den Gleichklang zu rappe problemlos den ‚üblichen‘ Protagonisten der Fabel auf, fungiert aber zugleich über seine Polysemie subtil als Beleidigung jener im Verlauf der Strophe mit der Trappe gleichgesetzten unfähigen Sängerkollegen (vgl. auch V. 11, wo die derart Herabgesetzten nun dezidiert als toren bezeichnet werden).  Dieser vierte Vers (sint si an ku̍ nste blint) ließe sich auch auf die Blender Esel und Rabe beziehen: ‚sie können viele törichte Leute betrügen, obwohl sie (selbst) an ku̍ nste blint sind‘, d. h. nicht über Kunstfertigkeit verfügen. Als primäre Lesart ist hier aber wohl die Kritik an kunstunverständigen Rezipienten aufzufassen: ‚sie [die Sänger] können diese täuschen, weil diese Rezipienten keinen Kunstverstand haben‘.

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von Innen und Außen, die korrespondieren sollten, das heißt, äußere Schönheit, äußerer Glanz sollten auch auf innere Gutheit und Qualität verweisen, kunst sollte nicht nur blendende Rhetorik und Performanz sein, sondern Gehalt haben, Sinnvolles vermitteln, inhaltlich ihrem Schmuck gerecht werden. Zugleich ist in diesen Fabelgleichnissen aber auch eine Opposition von Geborgtem und Eigenem angelegt, was im Kontext einer Diskussion über ‚richtige‘ Kunstausübung auch auf die Problematisierung einer Übernahme fremder Töne, Wendungen oder Lieder verweisen könnte.¹⁰³ Über die Referenz auf die Fabeln, die ja ein Scheitern derartiger Prätention vorführen, erscheint dieser Betrug aber auch als Mangel an Weitsicht und eitle Selbstüberhebung. Zugleich ist diese vielschichtige Kritik an den Blendern eine Kritik an den Rezipienten, denn nur wer blint hinsichtlich der ku̍ nste ist, kunst also überhaupt nicht wahrzunehmen in der Lage ist, lässt sich vom Gebaren und Erscheinungsbild solcher falschen Sänger blenden. Der zweite Stollen stellt diesen toͤ rschen Rezipienten mit mangelnder künstlerischer Expertise nun die wisen gegenüber, die zu erkennen vermögen, mit wem sie es zu tun haben (V. 5 f.). Diesen, so heißt es, tu̍ te die stimme solcher ‚Sänger‘, wie es um deren nature stehe (V. 5 f.), da diese lautliche Äußerung nicht lange zu ‚lügen‘ vermöge, sondern ku̍ nd[e], mit wem man es zu tun habe (V. 7 f.). Dabei vollzieht der Sprecher über die Apostrophe ku̍ nd u̍ einen Wechsel vom unpersönlichen Sprechen zu einer direkten Anrede. Diese Anrede richtet sich zum einen an die wisen, denen die stimme der Betrüger deren natur ku̍ nd[et], ist zum anderen aber auch für die Gesamtheit des Publikums rezeptiv offen, wobei sie zugleich als Belehrung und Anreiz zur kritischen Kunstrezeption fungiert wie auch als captatio benevolentiae, weil derjenige, der die echte nature dieser ‚Sänger‘ zu erkennen vermag, sich aufgrund seiner Erkenntnisfähigkeit wohl zu den wisen rechnen darf. Mit dieser Gegenüberstellung von toͤ rschen und wisen eröffnet die Strophe eine Dichotomie von tump und wîse, die topisch ist im agonalen Kontext sangspruchdichterischer Verhandlung von meisterschaft. ¹⁰⁴ Das Sänger-Ich erhebt die Fähigkeit, rehte kunst zu erkennen, zum Prüfstein der wîsheit, einer wîsheit, die sich hier praktisch manifestiert im Vermögen, sich nicht vom äußeren Schein über das tatsächliche Sein betrügerischer (schlechter) Sänger hinwegtäuschen zu lassen. Dafür ist es wichtig, das richtige Rezeptionsorgan einzusetzen, nämlich genau zuzuhören, um sich nicht vom erhobenen Selbstanspruch solcher Blender täuschen zu lassen.¹⁰⁵ Die Bildlichkeit der Fabeln illustriert prägnant die wahrnehmbare Unvereinbarkeit einer falschen Stimme zur vorgeblichen äußeren Erscheinung. Die Pointe dieser Fabelal-

 Zach (Kanzler), S. 73, interpretiert die Fabelreferenz dagegen einmal moralisch: „Sie geben sich mit dem Edelmut des Löwen und der Tugendhaftigkeit des Pfaus“, vgl. ebd., S. 72 (nach welcher Tradition der Pfau als tugendhaft gilt, wird nicht belegt), einmal etwas unkonkret als Gegensatz von äußerer Erscheinung und tatsächlichem Können: „die durch ihr prunkvolles Äußeres die Schwächen ihrer Kunst zu verdecken such[en]“, ebd., S. 73.  Vgl. Stackmann (Heinrich von Mügeln), bes. S. 87.  Vgl. auch Zach (Kanzler), S. 71.

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lusionen ist im vorliegenden Kontext einer Diskussion über richtige Kunstausübung dabei eine doppelte: Denn nicht nur zeigt sich dem wisen die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, weil Esel und Trappe andere Laute von sich geben als die Tiere, die sie zu sein vorgeben,¹⁰⁶ sondern die Allusion spielt zudem damit, dass die ‚Stimme‘ dieser Tiere sich durch besondere Kunstlosigkeit auszeichnet.¹⁰⁷ Um das Verständnis dieser Fabelgleichnisse aber vielleicht auch für die nicht ganz so wisen letztgültig zu sichern, bietet das Sänger-Ich allen edelen tugende richen im Abgesang eine explizite Auslegungsanweisung für seine bîspel-Figuren:¹⁰⁸ Jenen nämlich, Esel und Trappe, seien die singer ku̍ nste ruch zu gelichen (V. 9–14) – wobei die unübliche Beschreibung als ruch lautlich mit der gebräuchlichen Wendung künste rîch spielt.¹⁰⁹ Damit legt der Abgesang die Bewertung der Sänger (nur) denen nahe, die sich durch moralisch-ethische Vorbildlichkeit auszeichnen (Tugendadel). Die Strophe kritisiert insofern nicht nur kunstlose Sänger, sondern profiliert zugleich eine vorbildliche Zuhörerschaft und behauptet damit implizit eine Korrelation von guten Sängern und guten Rezipienten. Freilich zielt das Sänger-Ich so auf die Adeligen ab. Sie werden dadurch – wie schon in den vorangehenden Strophen – indirekt aufgefordert, sich edeler tugende zu befleißigen, was sie nun – so die implizite Logik – unter Beweis stellen können, indem sie sich als fähig erweisen, die gegebene Lehre zu verstehen, d. h. zwischen schlechten und guten Sängern zu differenzieren. Vor dem Hintergrund eines Gattungsdiskurses, in dem Geltungsansprüche auch mit finanzieller Entlohnung verbunden sind, steht dahinter unausgesprochen auch eine Forderung, denn der sichtbare Ausdruck einer solchen Differenzierungsfähigkeit wäre die gabe, das Almosen, das die Adeligen mithin nur den ‚Richtigen‘, also den guten

 Zach (Kanzler), S. 71, verweist hier auch auf Freidank: Esels stimme und gouches sanc/ erkenne ich âne ir beider danc (V. 140,9 f., zit. nach Bezzenberger); bei Freidank geht es hier allerdings um mangelnde Selbsterkenntnis, da der Esel selbst von sich glaubt, schön zu singen (V. 7 f.).  In der Fabel vom „Esel in der Löwenhaut“ ist das Motiv, dass der Esel sich durch seine Stimme verrät, geläufig, nicht aber in der Fabel vom Raben, auf die der Kanzler das Motiv hier implizit überträgt; dass der Kanzler den Missklang der Stimmen von Esel und Rabe einkalkuliert, betont auch Zach (Kanzler), S. 71.  Mit der Zweiteilung in Exempel (bildhaftes Fabelgleichnis) und Auslegung referiert der Kanzler zugleich auf die Struktur des bîspels, vgl. Gerd Dicke: [Art.] Exempel. In: RLW, Bd. 1, S. 534–537, hier S. 534 (wobei der Kanzler die ‚Auslegung‘ nicht ausdifferenziert, sondern nur das Vergleichsobjekt benennt); über diese Gattungsreferenz beansprucht das Sänger-Ich einerseits etwas von der Autorität dieser Gattung, andererseits verdeutlicht diese Referenz die unterweisende Absicht der Strophe.  Anders Zach (Kanzler), S. 72–74, der die Apostrophe der edelen tugende richen als ironische Anrede der „falschen Künstler“ versteht und die folgende Belehrung als Unterweisung selbiger deutet; er fasst mithin gelichen (V. 11) als ‚gleichen‘, nicht als ‚vergleichen‘ auf (‚welchen Toren ihr gleicht, nämlich Esel und Trappe‘ statt ‚mit welchen Toren ihr diesen Esel und diese Trappe vergleichen sollt‘). Er erwägt daher für die hier verwendeten alemannischen Formen munt (für mugent) und sunt (für sulent; V. 10, 12), ob sie vielleicht gar kein Hinweis auf die Herkunft des Dichters sind, sondern er das Alemannische hier vielmehr spöttisch imitiert, weil sich seine Invektive gegen einen bestimmten Fahrenden oder eine Gruppe Fahrender aus dem alemannischen Sprachraum richtet.

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Sängern geben sollen. Damit spielt die Strophe einen milte-Diskurs an und das SängerIch lanciert implizit seinen eigenen Anspruch. Auf der Strophenoberfläche aber führt das Sänger-Ich den kunst-Diskurs fort und beschließt die Strophe mit einer letztgültigen Abwertung kunstloser Sänger: niht wan ein snabelsnappen/ zeiget mir storchen kuch (V. 15 f.).¹¹⁰ Der ‚Gesang‘ dieser Unwürdigen wird also als klanglos-zischender Luftausstrom profiliert, der lediglich vom unmelodischen Geklapper des Schnabels wie einer pantomimischen Geste des Singens begleitet wird. Dieser Storchenlaut führte übrigens zur naturkundlichen Auffassung, dass der Storch keine Zunge habe, wie schon bei Plinius referiert wird.¹¹¹ Über die Referenz auf diese naturkundliche Vorstellung erscheint die gesangliche Unfähigkeit der kunstlosen Sängerkonkurrenten als anatomisch bedingtes Defizit, was ihr Unvermögen grundsätzlich, unabänderlich und vollständig macht. Indem der Storchenvergleich dergestalt explizit die mangelnde Melodik der lautlichen Äußerung unfähiger Sänger hervorhebt, spitzt er die einleitenden Tiervergleiche vereindeutigend zu. Anders als beim Esel in der Löwenhaut und bei der Trappe mit den Pfauenfedern stimmen hier Innen und Außen überein: Das sichtbare Schnabelklappern des Storches begleitet unmelodiös sein aussageloses Keuchen. Zudem erscheint die Storcheninvektive inhaltlich als dritter Tiervergleich und formal durch die rahmende Positionierung am Ende der Strophe auf die einleitenden Fabel-Tiergleichnisse bezogen. Diese ließen sich insofern auch als Markierung verstehen, den dritten Tiervergleich ebenfalls intertextuell auf eine spezifische (lateinische, schulliterarische) Exempelgeschichte zu beziehen. Als Prätext käme die Geschichte der Antigone von Troja in Frage, die unter anderem bei Ovid begegnet: Antigone erhebt sich in ihrer Eitelkeit über Juno und wird in der Folge in einen Storch verwandelt, spendet sich aber weiterhin selbst mit ihrem Schnabelklappern Beifall.¹¹²

 kûch ist ein hapax legomenon, lässt sich allerdings problemlos von kiuchen/kûchen herleiten und meint damit wohl etwa ‚hauch‘, vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1761; der Kanzler beschreibt damit naturkundlich korrekt die zischende Lautäußerung des Storches.  Naturalis Historiae, lib. X, cap. 31: sunt, qui ciconiis non inesse linguam confirment, zit. nach: Caius Secundus Plinius: Naturalis Historiae/Naturkunde. Lateinisch – Deutsch, hg. und übersetzt von Roderich König. 37 Bde., ein Registerbd. München/Zürich 1973–2004; das referiert auch noch Gessner, korrigiert aber, dass der Storch durchaus eine Zunge habe, diese aber sehr kurz sei, vgl. Conrad Gessner: Vogelbuͦ ch […]. Zürich (Froschouer) 1557, Bl. CCXXXXI; dieses ‚Wissen‘ um den Storch begegnet in der mittelhochdeutschen Dichtung im Kontext von Rätselgedichten um 1300, etwa im Traugemundslied: waz vogele ist âne zungen?/ […]/ der storc ist âne zungen (Str. 3, V. 5–Str. 4, V. 4), zit. nach: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII–XII Jahrhundert, hg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, dritte Ausgabe von Elias von Steinmeyer. 2 Bde. Berlin 1892, hier Bd. 1: Texte; vgl. ebd., Bd. 2: Anmerkungen, S. 307 f., für weitere (allerdings spätere) Belege dieses Rätsels; Tomasek vermutet gegen die ältere Forschung auch für das Traugemundslied eine spätere Datierung etwa um Anfang des 14. Jahrhunderts, vgl. Tomas Tomasek: [Art.] Traugemundslied. In: 2VL, Bd. 9, Sp. 1008 f., hier Sp. 1008.  Metamorphosen, Buch VI, V. 93–97 (Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Niklas Holzberg, Berlin/Boston 2017); die Geschichte ist Teil der Erzählung vom Wettstreit der Pallas mit Arachne, die etwa auch im Eneasroman referiert wird (V. 162, 14–38; allerdings

2.1.5 Ton I, Strophe 5 – Konkurrentenschelte (Esel, Rabe) (1Kanz/1/5)

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Anders als in den einleitenden Fabel-Anspielungen, die die Bestrafung der Selbstüberhebung nicht thematisieren, rückte diese mit der Referenz auf das Storchenwesen, das Produkt göttlicher Bestrafung ist, in den Fokus. Mit dieser Textreferenz höbe das Sänger-Ich erneut auf Hochmut und Selbstüberhebung derer ab, die ihren Platz nicht kennen, wobei sich im klappernden Selbstapplaus noch deren Unbelehrbarkeit und mangelnde Selbsteinschätzung offenbart. Bei Albrecht von Halberstadt wird das Schnabelklappern – anders als bei Ovid – dagegen nicht als Selbstapplaus gedeutet, sondern als Zeichen der Streitsucht, die sich noch heute zeige, wenn man die Störche aus ihrem Nest jagen wolle.¹¹³ Legt man diese Tradition zugrunde, dann verstärkt die intertextuelle Referenz die Agonalität der Storchen-Invektive: Das Sänger-Ich antizipiert damit eine Wehrhaftigkeit der gemeinten Sänger, wenn er sie ‚aus ihrem Nest vertreibt‘, also ihnen, indem er ihre mangelnden Fähigkeiten offenlegt, ihre Position in der Gesellschaft streitig macht. Er depotenziert die antizipierte Gegenwehr dieser Getroffenen aber, indem er ihre Replik als aussage- und klangloses Zischen, ihre Angriffsgeste als nutzloses Schnappen abklassifiziert und die Gegner damit als unfähig zu replizieren ausweist. In diesem vielschichtigen Spiel mit Bildern der Gesangsausübung zeigt das Sänger-Ich performativ seine eigene künstlerische Überlegenheit.¹¹⁴ Die Fabelreferenzen in dieser Strophe bergen dabei aber noch weitere Implikationen: Durch seine Bloßstellung der kunstlosen Blender nämlich macht das SängerIch sich letztlich selbst zu einem Teil der Fabel, denn wie die Pfauen in der Geschichte vom „Raben mit fremden Federn“ wird er hier performativ zu demjenigen, der die Blender-Raben (Trappen) des geraubten und sich unrechtmäßig angemaßten Schmuckes entbirgt. Auf einer Metaebene beansprucht das Sänger-Ich in der Bildlichkeit der Fabel insofern als Entberger solcher Betrüger selbst ein echter Pfau zu sein, also ein wahrhaft guter Sänger. Ohne sich selbst explizit zu überheben, gelingt es dem Sänger-Ich dergestalt, sich durch die kunst-Diskussion implizit als Experte auf diesem Gebiet zu inszenieren. Die Behauptung der eigenen Kunstfertigkeit steht damit gerade nicht zur Diskussion, sondern gewissermaßen außer Frage. Unaus-

ohne die Antigone-Episode), also offenbar im Mittelalter – vermutlich in der ovidianischen Fassung – bekannt war, vgl. dazu: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, hier Kommentar, S. 792 f., und: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Handschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. von Hans Fromm, mit Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Frankfurt a. M. 1992, hier Kommentar, S. 837 f.  Bei Albrecht von Halberstadt wird zudem das ganze Volk der Antigone in Störche verwandelt, vgl. Manfred Kern: [Art.] Antigone [2]. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von dems. und Alfred Ebenbauer unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert. Berlin/ Boston 2003, S. 83.  Das erinnert an die Inszenierung von Sprachgewandtheit als Geltungsstrategie und Ausweis von meisterschaft im sogenannten Wartburgkrieg, besonders im Fürstenlob und Rätselspiel, vgl. dazu Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), bes. S. 337 f., 350 f.

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gesprochen aber unübersehbar lanciert er so seinen meisterschafts-Anspruch. Zudem ruft das Sänger-Ich mit der Referenz auf diese Fabeln aber auch die Logik seiner Prätexte auf, die eine Bestrafung der Betrüger, nämlich ihre soziale Desintegration,¹¹⁵ vorsieht, welche somit vom Publikum indirekt eingefordert wird. Die Fabelreferenzen in dieser Strophe sind aber nicht nur Einzeltextreferenzen, sondern nehmen zugleich auch Bezug auf die vorgängigen Gebrauchszusammenhänge und Auslegungstraditionen dieser Texte, sowohl innerhalb der Sangspruchdichtung, als auch jenseits davon. Die Bezugnahme des Kanzlers auf antike Fabeln lässt sich nämlich – gerade im Kontext der Konkurrentenschelte – auch als Referenz auf die eigene Gattungstradition verstehen,¹¹⁶ in der die Funktionalisierung von Fabelthemen für spezifische sangspruchdichterische Interessen wie etwa zur Illustration einer notwendigen Differenzierung zwischen guten und blenderischen beziehungsweise schlechten Sängern vorgeprägt ist.¹¹⁷ Unter anderem findet sie sich bei Konrad von Würzburg (1KonrW/7/12), auf dessen Dichtung der Kanzler wiederholt Bezug nimmt. Dass der Kanzler hier also für die Umsetzung einer Diskussion um die richtige Kunstauffassung wie Konrad Fabelvergleiche bemüht, könnte insofern durchaus davon beeinflusst sein, wobei die beiden Strophen über das grundsätzliche Thema hinaus wenig Ähnlichkeit haben.¹¹⁸ Die Funktionalisierung der Tierfabel für die Dis-

 Am Ende verachten nämlich auch die anderen Raben letztlich den hochmütigen Raben, weil er nicht ihresgleichen sein wollte; das findet sich auch etwa in der Fabelnacherzählung des Strickers (die in e vil gerne sahen,/ sæhen si in danne hahen,/ dar umbe lobten si alle got, II, V. 57–59, zit. nach: Der Stricker: Tierbispel, hg. von Ute Schwab. Tübingen 1968).  In der Sangspruchdichtung ist die Bezugnahme auf Fabeln vor Heinrich von Mügeln zwar nicht allzu häufig, begegnet aber seit den Anfängen der Gattung, so schon bei Herger 1SpervA/1/6–10; 1 SpervA/1/11–15 (vgl. dazu Grubmüller [Meister Esopus], S. 112–123) und auch bei Walther 1WaltV/4/1–4 (L. 13,5). Die Zugriffe auf Fabeln sind zwar eher punktuell – Grubmüller spricht (mit einem Zitat Roethes [Reinmar], S. 242, über Reinmar von Zweter) von einer „stiefmütterliche[n] Behandlung der Fabel“ in der Spruchdichtung vor Heinrich von Mügeln und davon, dass erst bei Heinrich von Mügeln eine „neue Autonomie der Fabel in der Spruchdichtung“ zu beobachten sei, vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 239 f., S. 280–296 –, dennoch sind Strophen mit Fabelreferenzen in den meisten größeren Œuvres zunehmend zu finden (etwa 1Gold/1–2; 1Kanz/1/5; 1Kanz/5/13; 1Kanz/5/21; 1Kel/3/5; 1KonrW/1/3 f.; 1 KonrW/7/12; 1Marn/6/6; 1Marn/6/13; 1Marn/7/7; 1ReiZw/1/52; 1ReiZw/1/201; 1Wern/1/28).  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 247; weitere solche Funktionszusammenhänge sind die Warnung vor schlechten Ratgebern oder Empfehlungen für rechtes Entlohnen; vgl. dazu auch Paul Sparmberg: Zur Geschichte der Fabel in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. Marburg 1918, hier S. 100, der bereits darauf verweist, dass die Fabel in der Sangspruchdichtung meist funktionalisiert werde, um die „Existenzverbesserung ihres Verfassers [zu] bezwecken“, und dass sie kaum mehr ein Gefäß der Lehre, sondern ein Kampfmittel, eine Waffe sei, um den Rivalen zu treffen; Referenzen auf die Fabel vom „Esel in der Löwenhaut“ finden sich auch sonst in der Sangspruchdichtung, werden dort aber nicht explizit für das Thema der Sängerkonkurrenz funktionalisiert, vgl. S. 77, Anm. 100; vgl. dazu Obermaier (Fabel), S. 246–250.  Konrads Strophe (1KonrW/7/12) ist ebenfalls eine Herrenlehre, zielt jedoch wesentlich deutlicher auf ein Entlohnungsinteresse ab. Er funktionalisiert nämlich die Fabel vom Esel, der, als er sieht, dass der Herr den Hund für sein Bellen und Hochspringen belohnt, dessen Verhalten imitiert, dafür jedoch

2.1.5 Ton I, Strophe 5 – Konkurrentenschelte (Esel, Rabe) (1Kanz/1/5)

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kussion künstlerischer Qualität in der Sangspruchdichtung erscheint aber auch insofern gewissermaßen grundsätzlich folgerichtig, als sich für die Gattung überhaupt beobachten lässt, dass Tiervergleiche aller Art geradezu topisch sind, wenn es um die Verhandlung des sängerischen Ranges und dabei auch um die herabwürdigende Beleidigung angeblich kunstloser Sänger geht.¹¹⁹ Reflexe einer solchen Tradition lassen sich auch im Fürstenlob des sogenannten Wartburgkrieges beobachten, also dem Ort theoretischer Verhandlung von Geltungsansprüchen schlechthin, wo wiederholt eine ‚Vertierung‘ des Gegners sowohl über schlichte Beleidigungen als auch über Fabelanspielungen begegnet.¹²⁰ Daneben haben die Fabeln, die der Kanzler hier aufgreift, aber natürlich auch ihre eigene Gattungs- und Auslegungstradition, auf die der Kanzler mit ihrer Rezeption meines Erachtens ebenfalls referiert. Auffällig scheint bei der Referenz auf alle drei Prätexte (die Fabeln und die Geschichte von Antigone), dass sie ursprünglich Geschichten sind, die eine Überschreitung des ordo thematisieren. So versteht auch die mittelhochdeutsche Rezeption diese Fabeln offenbar, wenn sie die Bestrafung des Esels in der Löwenhaut und des Raben mit den fremden Federn letztlich vorwiegend im Kontext einer Ständediskussion als Legitimation der bestehenden Verhältnisse profiliert.¹²¹ Die Unverrückbarkeit hierarchischer Gesellschaftsstrukturen, des ordo, wird über das Vergleichsbild der offensichtlichen und unüberwindlich gegebenen Unterschiede zwischen den Tieren als gottgewollt ausgewiesen.¹²² Die intertextuelle Referenz auf diese Fabeln beim Kanzler geht insofern – so meine ich – nicht allein in einer von dieser Auslegungstradition unabhängigen sangspruchdichterischen Funktionalisierung der Fabeln als gleichnishafte Bilder auf, sondern kalkuliert eben diese Auslegungstradition mit ein: Die Selbstüberhebung der kunstlosen Sänger ist als Verstoß gegen ihre nature (V. 6) nicht einfach nur eine Überschreitung ihrer künstlerischen Fähigkeiten, sondern wird über die Anspielung auf die Auslegungstradition dieser Fabeln als Missachtung des göttlichen ordo inszeniert.

vom Herrn verprügelt wird. Konrad bedauert nun, dass die Herren nicht ebenso mit guten und schlechten Sängern verfahren: Sie sollten die guten belohnen und die schlechten bestrafen.  Vgl. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 433 (dort auch Verweise auf weiterführende Literatur).  Vgl. Roethe (Reinmar), S. 242, vgl. Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 348.  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), bes. S. 182, 197 f.; Grubmüller beobachtet, dass die Fabelmoral im 13. Jahrhundert offenbar grundsätzlich einer Rechtfertigung der Herrenmoral dienstbar gemacht wird, ebd., S. 213, 439.  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 201 f.

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2.1.6 Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6) C Kanz  Ein trages sneggen slichen, ein[ ] sneller swalwen flug: dis birzen unde jens beissen mit meisterschefte kan  si braken, valken gelichen? dest ein gebu̍ rscher tug, swer hirzen unde geissen gelicher werde gan. der snegge slichet trage,  so kan du̍ spinne weben; swer swalwen spise vrage, der kenne oͮ ch muggen leben. her hirz unde ir, her valke, der kennet u̍ wer niht,  swer kunstelosem shalke der m[ ]eisterschefte giht.

In Thematik und Bildlichkeit schließt die sechste und letzte Strophe des ersten Tones in Handschrift C an die vorangehende fünfte Strophe an. Erneut geht es um das Erkennen und Bewerten guter kunst und erneut werden dafür bildhafte Tiervergleiche genutzt, die hier jedoch nicht auf Fabeln referieren. Das Sänger-Ich eröffnet die Reihe dieser Tiervergleiche mit der Schnecke und ihrer mühseligen Fortbewegung, die pleonastisch als trages slichen, als schwerfälliges Kriechen, beschrieben wird (V. 1). Dem erscheint der flug der Schwalbe, der im folgenden Vers als snelle[ ] charakterisiert wird, insofern kontrastiv gegenübergestellt (V. 2).¹²³ Überraschend hebt die Strophe nun aber gerade nicht auf diesen Kontrast ab, sondern bindet diese Tiere und ihre Modi der Fortbewegung zusammen, indem sie auf beide je einen terminus der Jagd überträgt: Das Kriechen der Schnecke wird als birzen, das Fliegen der Schwalbe als beissen klassifiziert.¹²⁴ In diesen Aktivitäten werden sie nun je einem weiteren Tier gegenübergestellt, die Schnecke dem bracken und die Schwalbe dem valken. Im Modus einer Frage stellt das Sänger-Ich zur Diskussion, ob die meisterschaft von Schnecke und Schwalbe auf dem Gebiet des birzens und beissens derjenigen von Bracke und Falke vergleichbar sei.¹²⁵ Es beantwortet dies im Folgenden

 Vgl. Krieger (Kanzler), S. 61; Zach (Kanzler), S. 78.  Vgl. dazu S. 85, Anm. 126 f.  KLD konjiziert hier folgendermaßen: mit meisterschefte ich kan/ nit bracken valken glîchen (V. 4 f.). Diese Konjektur lässt sich allerdings vermeiden, wenn man den Passus als Frage auffasst, wie bereits Zach (Kanzler), S. 75 f., festgestellt hat, dem LDM darin folgt; Zach erwägt daneben noch vorsichtig eine weitere mögliche Interpunktion, nämlich den ersten Satz nach kan (V. 4) enden zu lassen: Ein trâges sneggen slîchen,/ ein sneller swalwen fluc,/ diz birzen unde jenz beizen/ mit meisterschefte kan./ si braken, valken glîchen –/ dest ein gebiurscher tuc,/ swer hirzen unde geissen/ gelîcher werde gan (V. 1–8).

2.1.6 Ton I, Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6)

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mit der Feststellung, eine solche Einschätzung sei ein ebenso gebu̍ rscher tug wie derjenige, Hirsche und Geißen als gleichwertig zu betrachten (V. 6). Das Sänger-Ich beantwortet also den potenziellen Vergleich der ersten zwei Tierpaare vergleichend mit einem weiteren (als unangemessen ausgestellten) Vergleich und macht damit ihre Unvergleichbarkeit evident. Schnecke und Schwalbe sind auf die minderwertige Geiß, Bracke und Falke auf den implizit als ‚hochwertig‘ ausgewiesenen Hirsch zu beziehen. Die verschiedenen Wertigkeiten der Tiere agiert das Sänger-Ich in diesem Vergleichsspiel über differenziert gewählte Begriffe und Metaphern aus: Die Fortbewegung von Schnecke und Schwalbe überhaupt jagdsprachlich als birzen oder beissen zu bezeichnen wirkt bereits ironisch, denn keines dieser beiden Tiere ist in dem Sinne Jäger. Ganz anders Bracke und Falke, deren ausgewiesene Fertigkeit es ist, zu birzen beziehungsweise zu beissen. Die Begriffe sind termini technici für ihre spezifische Jagdtechnik, das birzen für die Fährtensuche des Jagdhundes,¹²⁶ das beissen für die Jagd der Greifvögel.¹²⁷ Dieser Vergleich vermittelt damit auch eine spezifische Auffassung von Kunstfertigkeit, die einerseits eine angeborene Anlage (art, nature) erfordert, andererseits aber auch deren Veredelung durch kulturelle Überformung, jahrelanges Training und verfeinerndes Einüben (meisterschaft). Zwar ist die Schnecke bodennah unterwegs wie der Spürhund, wenn er mit seiner Nase einer Fährte folgt, und die Schwalbe findet ihre Beute im Flug wie der Falke, doch gehören sie einer ganz anderen Klasse zu, da sie weder die Anlage zum echten Jägertum haben noch ihre natürlichen ‚Fähigkeiten‘ veredelt sind. Die jägerische Überlegenheit von bracke und valke manifestiert sich auch in ihrer Beute, die im Gegensatz zu der von Schnecke und Schwalbe nennenswert und wertvoll ist. Daher – das steht hier unausgesprochen im Hintergrund – genießt die Hohe Jagd mit Bracke und Falke höchstes gesellschaftliches Ansehen.¹²⁸ Sie ist der Sport des Adels und entsprechend sind auch die dazu tauglichen Tiere edel,¹²⁹ ganz im Gegensatz zu Schwalbe und Schnecke. Deutlich hebt das Sänger-Ich auf diesen Aspekt ab, wenn es das als gebu̍ rsche[n] tug, also als ‚bäurisches Gebaren‘, ausweist, dass jemand die vorgenannten Tiere nicht entsprechend ihrer meisterschaft im birzen und beissen zu hierarchisieren vermöchte (V. 6–8). Ein solches Unvermögen wird damit ständisch abklassifiziert: Nur ein einfacher Mensch, ein Bauer, kann aus seiner beschränkten Perspektive heraus eine Ziege für ebenso wertvoll halten wie einen Hirsch (wobei eine Pointe darin liegt, dass sie das für ihn ja tatsächlich auch ist, er aus seiner

Verkürzt paraphrasiert spräche das Sänger-Ich Schnecke und Schwalbe nach dieser Lesart mithin zwar eine (gewisse) meisterschaft auf ihrem Gebiet zu, aber nicht im Vergleich zu Bracke und Falke, ebd., S. 76 f.  Vgl. Dalby (Hunt), S. 24–27.  Vgl. Dalby (Hunt), S. 15 f.  Vgl. Sigrid Schwenk: [Art.] Weidwerk. In: LexMA, Bd. 8, Sp. 2101–2104, hier Sp. 2103 f.  Vgl. Irene Erfen: [Art.] Falkentraktate. III. Deutsche Literatur. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 242 f., hier Sp. 242; Siegrid Schwenk: [Art.] Jagdhunde. In: LexMA, Bd. 5, Sp. 270–272, hier Sp. 270; Schwenk ([Art.] Weidwerk), Sp. 2103 f.

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Sicht mit dieser Nicht-Differenzierung insofern Recht hat, darin aber zugleich seinen status offenbart – ähnlich wie der Hahn, der auf dem Misthaufen eine Perle findet und räsoniert, dass er lieber ein Weizenkorn gefunden hätte, womit er Recht hat und zugleich seinen niederen Stand offenbart). Die Tiervergleiche werden über den Terminus der meisterschaft, der in der Sangspruchdichtung Inbegriff höchster künstlerischer Fähigkeit ist, gleichsam ‚poetologisiert‘ und zielen – wie sich darin andeutet – auf eine Differenzierung von guten und kunstlosen Sängern. Diese Differenzierung stellt das Sänger-Ich dabei den Rezipienten anheim und macht, indem es die Unfähigkeit, rehte kunst zu erkennen, als gebu̍ rsche[n] tug mit dem Stand korreliert, Adel von kunstbezogener Bewertungskompetenz abhängig. Das präsupponiert zugleich eine Zusammengehörigkeit von guten Sängern und wahrhaftem Adel und weist Gesang als etwas aus, das von außen als kostbar wahrgenommen wird (swer hirzen unde geissen/ gelicher werde gan,V. 7 f.). Der Abgesang spezifiziert die bisher nur implizit als ungenügend abqualifizierten Qualitäten der eingangs aufgerufenen Tiere: Die mühselige Fortbewegung der Schnecke setzt er in Beziehung zur Spinne, die (eben)so zu weben vermöge (V. 9 f.), wobei sich als tertium comparationis die Jagd dieser beiden Geschöpfe verstehen lässt, die beide nicht aktiv ihre Beute zu verfolgen in der Lage sind. Wie die Schnecke, die nur fressen kann, was vor ihr nicht weglaufen kann, ist auch die Spinne darauf angewiesen, dass sich Beute in ihrem Netz verfängt und nicht mehr vor ihr fliehen kann. Weder die langsame Schnecke noch die fallenstellende Spinne¹³⁰ taugen insofern zur Verfolgung einer Beute, zur Hetzjagd (und damit dem gesellschaftlich renommiertesten Modus der ‚Hohen Jagd‘).¹³¹ Während die Schnecke schon ihre Geschwindigkeit disqualifiziert, ist das nicht das Problem der Schwalbe, wie die Eingangsverse bereits deutlich machen. Sie jedoch degradiert sich als Jägerin durch die mangelnde Bedeutung ihrer Beute, wie das Sänger-Ich im Folgenden andeutet: swer swalwen spise vrage,/ der kenne oͮ ch muggen leben (V. 11 f.). Der Konjunktiv weist bereits die Idee, dass jemand fragen könnte, wovon sich die Schwalbe ernährt, als abwegig aus. Wenn aber einer sich für etwas derart Unbedeutendes interessieren würde, könnte der wohl auch wissen, wie es um das leben – und das heißt auch um den ordo, den sozialen Stand¹³² – von Fliegen steht.¹³³ Im Anspielungshorizont dieser Aussage liegt möglicherweise das

 spinnenwebe (lautlich angespielt mit spinne webe) begegnet im Jägerjargon übrigens als Begriff für das Netz, das man spannt, um Vögel zu fangen (und damit auch für ein Genre niederer Jagd), vgl. Dalby (Hunt), S. 214 f.  Vgl. Schwenk ([Art.] Weidwerk), bes. Sp. 2104.  Vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1847.  Vgl. dazu auch KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 246; auffällig ist, dass es in der Sangspruchdichtung tatsächlich einen Kenner der Ständeordnung im Fliegenreich gibt, nämlich Walther von der Vogelweide, der im zweiten Reichston äußert: sô wê dir, tiuschiu zunge,/ wie stât dîn ordenunge,/ daz nû diu mugge ir künig hât/ und daz dîn êre alsô zergât!, 1WaltV/1/2 (L. 8,28), V. 17–20, zit. nach Schweikle; gemeinsam wäre Kanzler und Walther hier, dass die Fliege Ausdruck des Kleinen und Unbedeutenden ist; gewissermaßen ließe sich die Äußerung des Kanzlers damit aber als intertextuelle Spitze gegen Walther verstehen, bekundet dieser hier doch ein gewisses Interesse am Fliegenleben.

2.1.6 Ton I, Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6)

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Sprichwort aquila non captat muscas,¹³⁴ das klar die Irrelevanz derartiger Beute ausstellt und verdeutlicht, dass sich ein erhabener Jäger mit derartigem überhaupt nicht abgibt. Diese kümmerliche ‚Beute‘ der Schwalbe erscheint im poetologischen Licht der Verhandlung künstlerischer Ansprüche zugleich als Vergleichsobjekt für das, was die unfähigen Sänger letztlich hervorbringen, nämlich ihre kümmerliche vermeintliche ‚kunst‘.¹³⁵ Die folgenden beiden Verse – her hirz unde ir, her valke,/ der kennet u̍ wer niht (V. 13 f.) – lese ich gegen LDM als Apokoinu-Konstruktion: Solche Leute, die so etwas kennen (die Nahrung der Schwalbe, das Leben der Fliege, V. 11 f.), die kennen Hirsch und Falke (offenbar) nicht. Zugleich eröffnen die Verse die Schlusspointe (V. 15 f.), die schließlich die Strophe auf einen Diskurs über die Bewertung von kunst hin vereindeutigt:¹³⁶ Nur solche Leute, die Hirsch und Falke nicht kennen, sind in der Lage, kunstlosen shalken, also unfähigen niederen Leuten, künstlerische meisterschaft zuzusprechen (V. 13–16).¹³⁷ Deutlich werden damit Schnecke, Spinne und Schwalbe als Vergleichsfiguren für schlechte Sänger ausgewiesen: Solchen kann nur derjenige künstlerische meisterschaft zusprechen, der Hirsch und Falke, also Geschöpfe, deren Erhabenheit beziehungsweise Fähigkeiten allegorisch für wahre meisterschaft stehen, überhaupt nicht kennt. Dass hier neben dem Falken der Hirsch angesprochen wird (nicht wie eingangs der Bracke), rückt mit dem Wild auch die Beute ‚wahrer‘ Jäger in den Blick, was – wie bei der Schwalbe und ihrer Beute der Fliege (auf die es durch die Apokoinu-Stellung der Verse bezogen erscheint) – auf poetologischer Ebene mit der  Vgl. TPMA ‚Adler‘ 5.1, Bd. 1, S. 45; die griechischen und lateinischen Belege stammen hier jedoch erst aus dem 15. Jahrhundert, allerdings gibt es einen italienischen Beleg Mitte des 13. Jahrhunderts (dort noch: E l’aquila: le mosche non diserra, Cecco d’Ascoli 2, 11, S. 68, zit. nach TPMA, Bd. 1, S. 45, Nr. 40), des Weiteren könnte die Geläufigkeit, mit der das Sprichwort Anfang des 14. Jahrhunderts in Wittenwilers ‚Ring‘ verdeutscht wird, dafür sprechen, dass es bereits seit längerem im Umlauf war (Ze grossen dingen scholt dich piegen;/ Won chain adler vahet fliegen, V. 4785, zit. nach: Heinrich Wittenwilers Ring. Nach der Meininger Handschrift hg. von Edmund Wießner. Darmstadt 1964 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1931]); Wießner verweist hier allgemein darauf, dass das Sprichwort im Germanischen und Romanischen weit verbreitet sei (die hier aufgeführten Belege sind allerdings ebenfalls alle späteren Datums), vgl. ebd. (Kommentar), S. 176.  Zach (Kanzler), S. 78 f., dagegen betrachtet die Reihe dieser Tiere als zusammenhanglos und nur durch die auffällige s-Alliteration aneinander gebunden, er versteht die Tiere selbst aber nach KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 246 f., als sinnbildhaft, nämlich die Schnecke für den Schleicher, die Schwalbe wegen ihres Zickzack-Fluges für den Unbeständigen, die Spinne für den Ränkespinnenden, die Geiß mit ihrem Gemecker für den kunstlosen Sänger, denen der gerade Flug des Falken, das unermüdliche Suchen des Bracken und der Adel des Hirsches gegenübergestellt würden; diese Konnotationen zeigen deutlich den semantischen Überschuss bildhaften Sprechens und sind mit Sicherheit mitgemeint, dennoch sehe ich erstens eine stringente argumentative Linie in dieser Strophe und meine zweitens, dass hier dezidiert schlechte Sänger gemeint sind, nicht verschiedene Arten (konkurrierender) gernder; das legen meines Erachtens die sangspruchbezogenen termini meisterschaft und kunstelos nahe.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 79 f.  Zach (Kanzler), S. 80 f., verweist hier darauf, dass schalk in der Sangspruchdichtung der nachstaufischen Zeit das Schimpfwort für kunstlose Fahrende ist, und führt besonders Belegstellen bei Konrad von Würzburg an.

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Beute auch das Produkt thematisiert, das gute Sänger hervorbringen (erjagen). Hervorgehoben wird in den Schlussversen mithin nicht nur ein Typus des meisterlichen Sängers, ‚des jagenden Kunstproduzenten‘ (her valke), sondern auch der meisterliche Sang, ‚das zu erjagende Kunstprodukt‘ (her hirz).¹³⁸ Nur wer diese beiden nicht kennt, kann kunstlosen niederen Personen meisterschaft zusprechen. Diese Schlussverse beziehen sich unmittelbar auf die einleitenden Tiervergleiche zurück und explizieren sie: Nur wer das birzen und beissen von Bracke und Falke nicht kennt, kann darin Schnecke und Schwalbe als meisterlich empfinden, nur wer Falke und Hirsch nicht kennt, kann kunstelosen die meisterschaft zusprechen. Rhetorisch besonders auffällig ist, dass das Sänger-Ich in dieser Schlusspointe nicht etwa die Rezipienten anspricht, sondern Hirsch und Falke adressiert. Dass diese dabei als herren apostrophiert werden, birgt implizit eine ständische Konnotation und bringt so ihre Überlegenheit zum Ausdruck.¹³⁹ Über eine gleichnishafte Hierarchisierung verschiedener Tiere diskutiert die Strophe mithin meisterschafts-Ansprüche. Dabei agiert sie diesen meisterschafts-Diskurs aus, ohne die Rezipienten direkt zu unterweisen, die kunstlosen unmittelbar zu schelten oder offen zu polemisieren, und macht sich über diese rhetorische Strategie selbst unangreifbar. Solche Verschränkungen von Tiergleichnis und – meist polemischer – Kunstreflexion beziehungsweise Konkurrentenschelte sind in der Sangspruchdichtung ausgesprochen häufig.¹⁴⁰ Die Strophe nimmt insofern dezidiert ein topisches Thema der Gattung auf und referiert dadurch auf die eigene Gattungstradition. Dabei ist zweierlei zu beobachten: Zum einen geben vor diesem Referenzhintergrund die aufgerufenen Tiervergleiche bereits zu Strophenbeginn einen intertextuellen Hinweis darauf, dass die Strophe auf eine Kunstreflexion abzielt, wiewohl das auf der Textoberfläche erst der Strophenschluss expliziert. Zum anderen meine ich, dass diese Referenz eine poetologische Dimension hat, auf welche die außergewöhnliche Dichte verschiedener Tiervergleiche in dieser Strophe implizit verweisen will. Dass die Dichte an Bildvergleichen ein fast provokatives Potential hat, spiegelt sich auch in der Bewertung durch die Forschung: Krieger spricht von einer Heterogenität, welche die Anschaulichkeit

 Mit dieser Apostrophierung von Kunstproduzenten und Kunstprodukt referiert das Sänger-Ich zudem auf (vorgängige/andere) meisterliche Akteure der Sangspruchdichtung und die meisterlichen Texte, die sie hervorgebracht haben.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 79; Zach zitiert hier auch Parallelstellen von her-Anreden für Tiere in der Sangspruchdichtung (her voxs 1Rum/10/1, her valke 1ReiZw/1/201); diese entstammen aber anderen Sprechsituationen (bei Rumelant ist sie metaphorische Anrede eines verschlagenen Menschentypus, bei Reinmar die direkte Anrede einer Fledermaus an einen Falken) und sind insofern nicht als intertextuelle Referenzen der Kanzlerstrophe anzunehmen.  Vgl. etwa Kern (Rumelant, Kommentar), S. 432–434; Zach (Kanzler), S. 78–81; aber nicht nur in der Sangspruchdichtung, wie sich bei Freidank zeigt, wo es heißt: Swer lobt des snecken springen/ und des ohsen singen,/ der kam nie, dâ der lêbart spranc/ noch dâ diu nahtegale sanc (V. 139, 19–22, zit. nach Bezzenberger); auf die Freidank-Passage verweist in diesem Kontext auch Zach (Kanzler), S. 78 [Anm. 2].

2.1.6 Ton I, Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6)

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des Spruches beeinträchtige,¹⁴¹ Zach von einer „Anhäufung ohne Maß“, die „den Verfasser als Epigonen, das heißt als Nachahmer ohne besondere eigene Schöpferkraft aus[weise], der sich dem Zug der Zeit hing[ebe].“¹⁴² Mir scheint beide übersehen, dass der Spruch es offenbar gerade darauf anlegt, durch die Dichte der Vergleiche dieses poetische Verfahren – den Vergleich – zu thematisieren und auszustellen: Die Strophe zielt, so scheint es in den eröffnenden Versen, auf einen Vergleich der Langsamkeit der Schnecke mit dem schnellen Flug der Schwalbe ab, nur um dann eine andere Vergleichskategorie anzusetzen, die – überraschend nach diesem einleitend aufgebauten Gegensatz – gar nicht die Geschwindigkeit, sondern das Jagdvermögen ist, woraufhin die scheinbar opponierten Tiere Schnecke und Schwalbe nun beide zusammen einem anderen Paar, nämlich Bracke und Falke vergleichend gegenübergestellt werden. Indem Schnecke und Schwalbe dabei je einem Tier zugeordnet werden, das sich gewissermaßen im selben Element bewegt, thematisiert die Strophe implizit das Vergleichen und die Vergleichbarkeit selbst, nämlich was überhaupt vergleichbar ist (die Fortbewegung von Bracke und Schnecke zu Land, von Schwalbe und Falke in der Luft) und was nicht (nämlich die völlig unterschiedliche Fortbewegung von Schnecke und Schwalbe). Zugleich unterläuft der Vergleich diese Logik aber, weil die Tiere unter dem Aspekt ihrer Jagdfähigkeit verglichen werden, Schnecke und Schwalbe allerdings (wie bereits ausgeführt) eigentlich gar keine Jagdtiere sind und den Jägern Bracke und Falke in dieser Hinsicht somit gerade nicht vergleichbar. Potenziert wird die Thematisierung des Vergleichens dadurch, dass zum Verständnis dieser vergleichenden Gegenüberstellung nun noch ein weiterer Vergleich (zudem im Bild eines Vergleiches) herangezogen wird, nämlich jener, dass der Wert dieser verglichenen Tiere so unterschiedlich sei wie der von Hirsch und Ziege. Gleichwertig erscheinen könnten sie daher nur gebu̍ rschen Menschen, wobei die Pointe – wie bereits erwähnt – darin liegt, dass einem bäurischen Menschen Hirsch und Ziege durchaus gleichwertig scheinen können, sie es für einen Adeligen aber genauso wenig sind wie die Jagdfähigkeit von Schnecke und Bracke oder Schwalbe und Falke. Die Strophe thematisiert insofern implizit, dass es ganz wesentlich vom Rezipienten abhängt zu erkennen, was (in sinnvoller Weise) vergleichbar ist, und dass diese Fähigkeit etwas über seinen ‚echten‘ inneren adel aussagt. Noch deutlicher thematisiert die gesteigerte Verdichtung von Tiervergleichen im Abgesang dieses poetische Verfahren, umso mehr, als die Vergleiche hier vorerst nicht über ein explizites tertium comparationis systematisiert werden. Die Häufung von Tiernennungen wirkt damit auf den ersten Blick beinahe kontingent. Dass der erste

 „Leider ist dieser Spruch zu sehr mit heterogenen Bildern überladen, um recht anschaulich zu wirken“, Krieger (Kanzler), S. 61.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 81; er betrachtet diesen „Tierkatalog“ zudem als störend für die Einheit der Strophe: „Der Bildzusammenhang kann nur mit Mühe gewahrt werden; Die Chiffren der Verse 9–12 scheinen beinahe unauflösbar und sprengen die Einheit der Strophe. Zu großes Gewicht ist auf die einzelnen Tierbeispiele gelegt – in 16 Versen treten 8 verschiedene Tiere auf! –, so daß die gedankliche Konzeption des Spruches darunter leidet,“ vgl. ebd.

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Vers des Abgesangs aber den ersten des Aufgesangs fast wörtlich wiederholt (ein trages sneggen slichen, V. 1 – der snegge slichet trage, V. 9) und im Folgenden auf Wortebene explizit eine Vergleichsrelation behauptet wird (so kan diu spinne weben, V. 10), lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass Schnecke und Schwalbe hier unter dem gleichen Aspekt wie im Aufgesang ‚neue‘ Tiere gegenübergestellt werden, nämlich nunmehr solche, die ihnen in ihrer ‚Jagdfähigkeit‘ tatsächlich vergleichbar sind. Denn so mühsam wie die Schnecke jagt auch die Spinne und so unbedeutend wie die Fliege ist auch die Schwalbe als deren Jägerin.Wer aber kunstelose[n] shalke[n] die meisterschaft zuspricht, also die Kunstlosen mit meistern vergleicht beziehungsweise gleichstellt, so heißt es am Schluss der Strophe, der kennet die wirklich edlen Tiere (gute Sänger und guten Sang) nicht (V. 13–16). Diese Aussage bleibt in der Polysemie des Begriffs kennen offen: Versteht man es als ‚erkennen‘, kritisiert es den Kunstunverständigen, der mangelnde Vergleichskompetenz beweist, weil er zwischen guten und schlechten Sängern nicht unterscheiden kann; versteht man es als ‚kennen‘, hebt es darauf ab, dass wer gute Sänger und Texte kennt, weiß, dass sie mit schlechten überhaupt nicht vergleichbar sind. Die Überlegenheit meisterlicher Sänger wird insofern darüber ausgestellt, dass der Vergleich nicht trägt, weil es zwischen guten und schlechten Sängern kein tertium comparationis gibt. In dieser spielerischen Auseinandersetzung mit einer rhetorischen Strategie, die besonders in der Sangspruchdichtung topisch ist, nämlich dem Tiervergleich im Kontext von Kunstreflexion und Konkurrentenschelte, zeigt der Kanzler sein Reflexionsvermögen, indem er dieses Verfahren implizit als solches thematisiert und vielschichtig bespielt. Damit schreibt er sich – gerade dadurch, dass er sich mittels dieses Verfahrens in Beziehung zu Tiervergleiche bemühenden Konkurrentenschelten anderer Sangspruchdichter setzt – performativ in den thematisierten meisterschaftsDiskurs ein und positioniert so seinen eigenen Anspruch auf meisterschaft, ohne sich diese explizit anzumaßen. Zugleich liegen im Anspielungshorizont dieser Kanzlerstrophe möglicherweise auch konkrete Einzeltexte. Besonders auffällig sind etwa die Parallelen zu einem Spruch Rumelants, in dem dieser ebenfalls kunstlose Sänger über einen Vergleich mit Schwalbe und Falke kritisiert (1Rum/4/18).¹⁴³ Bei ihm stehen vor allem Anmaßung und falsche Selbsteinschätzung im Zentrum der Kritik, denn er lässt sich die Schwalbe gegenüber dem Falken brüsten, besser Fliegen fangen zu können als dieser ([d]ie swalewe vet die mucken vr den valken, des si baget, V. 1),¹⁴⁴ wobei sie offenkundig die Irrelevanz ihrer Beute im Vergleich zum Jagderfolg des Greifvogels verkennt. Ebenso verkennt sie, dass ihre ‚überlegenen‘ Fähigkeiten, nämlich dass sie im Gegensatz zum Falken erdnah fliegen und schnelle Richtungswechsel vollführen kann (den ertvlge unde den swippersweif kan sie baz ben, V. 2),¹⁴⁵ eigentlich Ausweis ihrer Unterle Vgl. zu dieser Strophe Kern (Rumelant, Kommentar), S. 432–438; Rumelant von Sachsen. Edition – Übersetzung – Kommentar, hg. von Holger Runow. Berlin/New York 2011, hier Kommentar S. 235 f.  Rumelant hier und im Folgenden zit. nach Kern.  Vgl. Runow (Rumelant, Kommentar), S. 236.

2.1.6 Ton I, Strophe 6 – Konkurrentenschelte (Tiervergleich) (1Kanz/1/6)

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genheit gegenüber dem hohen Flug und dem zielgenauen Herabstoßen des Greifvogels sind.¹⁴⁶ Rumelant hebt dezidiert und ausführlich auch auf den unschönen Gesang der Schwalbe ab, die sich, so klagt das Sänger-Ich, dennoch erdreiste, das Singen von Lerche und Nachtigall zu verspotten (Ir arme quitel, zwitter, schorfen, snarz ouch sange laget,/ sie wil mit listen aller vogele done prben./ Die lereche und ouch die nachtegal, die mzen vor der swalewen/ vrdulden spot./ Das ist mir leit, V. 3–7). Der Strophenschluss überträgt dieses Gebaren auf unwîse toren, die sich selbst nicht einzuschätzen vermöchten (ach, herre got,/ Wie sol ein tore werden wis, der sich vrgizzet?/ der zirket vremede kunst, e danne her sine mizzet, V. 8–10). Die Schwalbe begegnet in der Sangspruchdichtung zwar auch in anderen Strophen als Negativexempel, ebenso der Falke als Sinnbild für das Edle (auch im Kontext anderer Konkurrentenschelten),¹⁴⁷ in der Parallele des gesamten Jagdmotivs mit Schwalbe, Falke und Thematisierung der Fliege als Beute liegt die Strophe des Kanzlers derjenigen Rumelants aber dennoch auffällig nahe und könnte damit eine Einzeltextreferenz markieren. Zwei Funktionen einer solchen intertextuellen Referenz ließen sich beobachten: Vordergründig ist diese Referenz beim Kanzler affirmativ-imitativ, indem sie die Schwalbe ebenfalls als unterlegen ausstellt und sie – wie Rumelant – kritisch als Vergleichsfigur für kunstelose Sänger funktionalisiert. Damit ruft diese Referenz vorerst Bekanntes auf und konsolidiert einen spezifischen Diskurs in der eigenen Gattung. Dass die Schwalbe bei Rumelant dezidiert auch als überhebliche schlechte Sängerin ausgewiesen wird, die zudem versucht, die anderen Vögel zu imitieren (V. 4), überträgt sich durch die intertextuelle Referenz als Zusatzkonnotation auf den Schwalbenvergleich des Kanzlers, was dessen tertium comparationis schon vor der Pointe ankündigt und die Kritik an den kunstelosen allusiv um weitere Dimensionen anreichert (Nachahmerei, Selbstüberhebung). Zugleich referiert hier aber eine Reflexion über die Bewertung ‚rehter kunst‘ (beim Kanzler) auf eine Konkurrentenschelte (bei Rumelant), was auf poetologischer Ebene eine gewisse Potenzierung darstellt, umso mehr, als bereits die Rumelant-Strophe dezidiert intertextuell ist. Diese nämlich referiert sowohl auf die sangspruchdichterische Gattungstradition der Konkurrentenschelte mit Tiervergleichen als auch auf den Minnesang. Letzteres deutet sich bereits darin an, dass die überhebliche Schwalbe sich über Lerche und Nachtigall, also topische Vögel des Minnesangs, erhebt (V. 5 f.), und wird eindeutig, wenn das Sänger-Ich dieses Fehlverhalten im minnesang-topischen Vokabular eines Natureingangs als affektiv Betroffener beklagt:

 Vgl. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 434.  Bei Reinmar von Zweter etwa überhebt sich eine Fledermaus, indem sie dem Falken Falkenfedern zum Kaufen anbieten will, während ein dabei sitzender Kuckuck sich anmaßt, wie die Nachtigall singen zu können (1ReiZw/1/201; ausgelegt wird dies darauf, dass mancher êre verkaufen wolle, ohne solche zu besitzen); weitere Belege für den Falken als Sinnbild des Edlen, vgl. Zach (Kanzler), S. 79 f., und Kern (Rumelant, Kommentar), S. 435 f., hier zudem Belege für die Schwalbe als niederes Tier.

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[d]az ist mir leit, ich klagez me dan ob die louber valewen (V. 7).¹⁴⁸ Im Minnesang ist nach diesem Topos das, was dem Sänger noch größeren Kummer bereitet als das Vergehen des Sommers, (meist) die Erfolglosigkeit der minne-Werbung, also das zentrale Leiden, um das sich der Gattungsdiskurs dreht. Indem Rumelant diesen Minnesang-Topos für die Sangspruchdichtung usurpiert,¹⁴⁹ analogisiert er die Wirkung der mangelnden Selbsteinschätzung anderer Sänger mit derjenigen der abweisenden Dame/misslingenden Liebeswerbung auf das Sänger-Ich und inszeniert damit kunstlose selbstüberhobene Sänger als das zentrale Leiden und Problem guter Sänger in der Sangspruchdichtung. Mit der damit einhergehenden Selbsterhebung zur Bewertungsinstanz beansprucht das Sänger-Ich zudem, selbst ein solcher guter Sänger zu sein. Zugleich generiert die Referenz auf den Minnesang aber auch eine gewisse Spannung, wenn der sangspruchdichterische Kummer über selbstüberhobene unfähige Sänger mit dem Leiden des Minnesängers konkurriert. Die Strophe Rumelants schließt letztlich – fast aporetisch und auch darin gewissermaßen den Minnesang zitierend – mit dem Bedauern über die Unbelehrbarkeit solcher Sänger ohne Selbsterkenntnis, denen nicht beizukommen sei. Die Strophe des Kanzlers wirkt in diesem intertextuellen Bezug fast wie eine Antwort auf diese Rumelantsche Aporie, indem sie der bei Rumelant kritisierten Unbelehrbarkeit selbstüberhobener Produzenten eine Belehrung der Rezipienten über Fähigkeit und Unfähigkeit von Sängern gegenüberstellt. Schon die Einstiegsfrage beim Kanzler lässt sich wie ein Kommentar zu Rumelant lesen: Wo sich dort die Schwalbe mit ihren Jagdkünsten über den Falken erhebt und sich damit selbst unangemessenerweise einen meisterlichen status anmaßt, macht das Kanzlersche Sänger-Ich hier diesen status von einer Bewertung von außen abhängig, wenn es die Rezipienten dazu auffordert, genau diese ‚Konkurrenz‘ von Falke und Schwalbe zu bewerten und in der Folge zu bestimmen, welchem der beiden Tieren die meisterschaft im Jagen (beissen) zuzusprechen sei. Der Kanzler bietet damit einen Ausweg aus der Rumelantschen Aporie, weil die unkorrigierbare Selbstüberschätzung der schlechten Sänger irrelevant wird, wenn die Rezipienten sie als solche erkennen. Freilich liegt auch im Fluchtpunkt der Rumelantschen Invektive implizit die Unterweisung der Rezipienten. Indem Rumelants Sänger-Ich aber spezifizierte Vorwürfe gegen die Schwalbe vorbringt, ihren Sang onomatopoetisch parodiert ([i]r arme quitel, zwitter, schorfen, snarz ouch sange laget, V. 3)¹⁵⁰ und sich von der Selbstüberhebung solch kunstloser Sänger als affektiv Betroffener darstellt, begibt er sich in direkte Konkurrenz zu ihnen und büßt damit einiges von der Autorität ein, die das Sänger-Ich beim Kanzler beweist, wenn es Beurteilungskompetenz statt Bewertung thematisiert und damit eine objektive Perspektive einnimmt.

 Vgl. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 437.  Vgl. dazu auch 1KonrW/2/1–3, 1KonrW/3/1–3 und 1Kanz/4/1–3.  Vgl. Runow (Rumelant, Kommentar), S. 236.

2.1.7 Ton I: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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Zugleich fällt auf, dass der Kanzler – im Gegensatz zu Rumelant – nicht die Jagdund Gesangsfähigkeit der Schwalbe thematisiert, sondern nur ihre Fortbewegung im Kontext ihrer Jagdfähigkeit verhandelt und ausschließlich dieses Bezugsfeld, die Jagd, im Folgenden breit ausbaut.Versteht man die Strophe als Referenz auf Rumelant, ließe sich das als bewusste poetologische Entscheidung verstehen, mit der der Kanzler seine Fähigkeit ausstellt, konsequent in einem Bildvergleichsfeld, nämlich dem der Jagd, zu bleiben und Rumelant zugleich durch die Vervielfachung der Tiervergleiche in diesem einen Feld zu überbieten.¹⁵¹ Zugleich sind die Tiervergleiche beim Kanzler, indem sie – anders als bei Rumelant und in den meisten Sangspruchstrophen – eben nicht die mangelnde Gesangsfähigkeit der verglichenen Tiere ausspielen, weniger polemisch, aber auch weniger plakativ, weil sie dadurch die Spannung des ungewissen zugrundeliegenden tertium comparationis länger aufrechterhalten. Die Strophe des Kanzlers zeigt mithin auf mehreren Ebenen eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Gattung, die in verschiedenerlei Hinsicht produktiv gemacht wird und mit der sich das Sänger-Ich – ohne offen zu polemisieren – in einen literarischen Diskurs einschreibt, sich in diesem positioniert und ihn damit zugleich konsolidiert.

2.1.7 Ton I: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander Betrachtet man den ersten Ton des Kanzlers in seiner Gesamtheit, fällt auf, dass sich übergreifende thematische Zusammenhänge und intratextuelle Beziehungen der Strophen untereinander beobachten lassen. Besonders zwei Themenfelder, die bisweilen auch miteinander verschränkt erscheinen, stechen dabei hervor, nämlich eine Thematisierung von ‚Beurteilungskompetenz‘ und eine Diskussion darüber, was echten Adel (‚Tugendadel‘) ausmacht. Ein besonders deutlicher Zusammenhang zeichnet sich zwischen Strophe zwei und drei ab, die in der Forschung im Allgemeinen auch als Zweier-Bar aufgefasst werden.¹⁵² Beide Strophen verhandeln richtiges und falsches Verhalten Adeliger in Hinblick auf Besitz und Macht und nutzen dabei dieselbe intertextuelle Strategie, nämlich mittels bildhafter Wendungen auf spezifische Bibelstellen zu verweisen, wodurch sie unterschwellig einen Heilssorge-Diskurs einspeisen. Ebenfalls thematisch zusammenstehend erscheinen die abschließenden Strophen fünf und sechs, die verschiedene Arten kunstloser Sänger diskutieren und deren Unfähigkeit über bildhafte (Tier‐)Vergleiche illustrieren; in beiden Strophen sind diese Vergleiche zugleich intertextuelle Referenzen auf verschiedene Prätexte, in Strophe  Dass das Ausagieren meisterlicher Selbstansprüche über einen überlegenen Umgang mit Metaphern im Sangspruch eine relevante Geltungsstrategie ist, zeigt sich etwa im sogenannten Wartburgkrieg, wie besonders Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges) für Fürstenlob und Rätselspiel differenziert gezeigt haben.  Vgl. KLD, RSM, LDM, vgl. dazu auch die Überlegungen in Kap.2.1.3, S. 65–67.

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fünf auf Fabeln, in Strophe sechs auf andere Sangspruchstrophen und einen gattungsspezifischen Diskurs. Aber auch zwischen anderen Strophen des ersten Tones, die auf den ersten Blick nicht als zusammengehörig erscheinen, lassen sich Responsionen beobachten, die als intratextuelle Bezüge Sinn zu entfalten vermögen und die Strophen des Tones miteinander verknüpfen. Die dritte Strophe etwa, welche die Habgierigen und ihre Verderbtheit scharf angreift, bedient sich des Bildfeldes der Jagd, ebenso wie es die sechste Strophe für den Vergleich guter und schlechter Sänger tut. Dabei zeichnet die dritte Strophe die Habgierigen als bösartige Fallensteller, die sechste Strophe instrumentalisiert die Spinne, die ebenfalls Fallenstellerin ist, als Negativexempel für kunstlose Sänger, wodurch die negative Bewertung dieser beiden Vergleichsbilder aus der ‚niederen Jagd‘ sich gegenseitig verstärkt. Eine ähnliche assoziative Verknüpfung schafft das Wort ruch zwischen Strophe drei und fünf. In der dritten Strophe steht es prominent in der Pointe, welche die Unverbesserlichkeit der Habgierigen verbildlicht (us ruhem swarzen beine/ wart nîe gt wu̍ rfelspil,V. 15 f.). Diese Pointe erweckt den Eindruck, ein Sprichwort zu sein, das aber anderweitig nicht nachweisbar ist, und spielt insofern möglicherweise mit einer prätendierten Intertextualität. Dem Wort ruch kommt dabei zentrale Bedeutung zu, weil es gebraucht wird, um zu verdeutlichen, dass die Verdorbenheit jener gescholtenen Habgierigen grundsätzlich und unabänderlich ist. In der fünften Strophe dagegen beschreibt ruch – ebenfalls in der Schlusspointe – die kunst unfähiger, blendender Sänger (die singer ku̍ nste ruch, V. 14), was hier zugleich als spielerischassonante Verkehrung der Formel ‚kunste rîch‘ fungiert. Weil das Wort ruch auch eine allusive Referenz auf die dritte Strophe darstellt, überträgt sich die dort etablierte Idee einer Unabänderlichkeit und eines bis in den Kern wertlosen Materials auf die Invektive gegen die unfähigen Sänger und verschärft sie damit. Erwägen ließe sich grundsätzlich, ob solche intertextuelle Strophenverknüpfungen – die durchaus offen für die Kombination verschiedener Strophen sind – Hinweise auf potenzielle Zusammenstellungen im Vortrag geben könnten, die je situationsangepasst auf verschiedene Pointen zielen können. Bemerkenswert erscheint unter dem Aspekt intratextueller Bezugnahme auch die Anordnung des Strophenmaterials in der Handschrift C, in der sich eine gewisse Redaktion abzuzeichnen scheint. Besonders deutlich wird das in der Anordnung der Kanzlerschen Minnelieder, die je ein Sommer- und ein Winterlied miteinander wechseln lässt. Aber auch im ersten Sangspruchton des Kanzlers, mit dem das Corpus in C eröffnet, werden gewisse Gruppierungen sichtbar, die intratextuelle Verweisstrukturen hervortreten lassen, durch welche die einzelnen Strophen sich gegenseitig erhellen und bestimmte Pointen bilden. Das möchte ich im Folgenden kurz skizzieren, ohne damit jedoch dieser Strophenfolge den Vorrang vor anderen möglichen Gruppierungen der Strophen oder ihrer Eigenständigkeit als Einzelstrophen einräumen zu wollen: Die erste Strophe eröffnet das Corpus und den Ton ganz im Sinne einer Prologstrophe mit einer poetologischen Reflexion und präludiert die übergreifenden Themen des Tones durch ihre spezifische Akzentuierung der Geschichte von Noahs

2.1.7 Ton I: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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Fluch. Über das Negativexempel Cham kritisiert sie einerseits unangemessen verübte Kritik durch Unverständige (Thema ‚Beurteilungskompetenz‘). Andererseits profiliert sie das Handeln seiner Brüder Sem und Japhet als eines, das von compassio geleitet ist, inszeniert das wiederum als Ausweis echter edelkeit und damit subtil als Geburtsstunde wahren Adels (Thema ‚Tugendadel‘). Diesen ‚Tugendadel‘, der in Strophe eins implizit profiliert wird, verhandelt die zweite Strophe nun explizit: sol ich den edel heissen/ der niender tugende pfligt? (V. 11 f.). Als adelnde tugent ruft das Sänger-Ich exemplarisch die milte auf, die erneut als Akt der compassio ausgestellt wird und damit auf die vorherige Strophe zurückverweist. Auch im Bild des – allerdings verwilderten – Weinstocks für den ungenügsamen verderbten Adeligen korrespondiert die Strophe assoziativ mit der ersten Strophe, da Noahs Trunkenheit die Folge seiner Erfindung des Weinbaus ist. Zugleich ist diese Referenz Teil des Netzes biblischer Anspielungen in der zweiten Strophe und verweist mit dem Bezug auf eine biblische Geschichte (Noah) auch auf ihre eigene Textquelle (die Bibel), die sie nun wiederum funktionalisiert, um subtil eine Heilssorge-Thematik zu lancieren. Die dritte Strophe knüpft – wie bereits erwähnt – sowohl thematisch als auch durch Wortresponsionen deutlich an die zweite an, steht aber dennoch thematisch nicht in Verbindung mit der ersten Strophe. Wurden in der zweiten Strophe die Ungenügsamen beziehungsweise Geizigen gescholten, wendet sich die dritte Strophe nun denjenigen zu, bei denen sich diese schlechte Anlage zur Habgier steigert und die auch vor unrechtmäßiger Bereicherung nicht zurückschrecken. Die in der zweiten Strophe nur implizit angedeutete Gefahr für das Seelenheil, die ein solches Verhalten mit sich bringt, wird hier nun deutlicher expliziert (bze unde besserunge/ vil maniger vor u̍ tt, 1Kanz/1/3, V. 9 f.). Die vierte Strophe setzt mit einem neuen Thema, nämlich der Hinfälligkeit der diesseitigen Existenz und der Unentrinnbarkeit des als schrecklich profilierten Todes ein, womit sie thematisch vorerst isoliert im ersten Ton steht. Mit ihrer einleitenden Aufzählung verschiedener innerweltlicher Vorzüge verweist sie aber strukturell auf den verwandten Stropheneingang der zweiten Strophe zurück. Als mahnendes memento mori steht die Strophe mithin nicht nur für sich allein, sondern scheint auch auf die vorangehenden Strophen beziehbar und vervollständigt sie um die dort nur allusiv angedeutete religiöse Perspektive und Heilssorge-Thematik.Wenn weder schoͤ ne, noch sterke, noch wîsheit die Angst vor dem Tod abwenden können, wenn alles Irdische nichtig ist, dann fordert auch diese Strophe – und das wird im Zusammenspiel mit den vorhergehenden Strophen noch deutlicher – implizit eine Hinwendung zur tugent, die allein die Angst vor dem Ende bzen könnte. Zugleich lässt sich der Verweis auf die Machtlosigkeit von Schönheit, Kraft und Weisheit im Angesicht des Todes durch die intratextuelle Referenz auf die vorangehenden Strophen auch metonymisch als Verweis auf die Nutzlosigkeit allen Besitzes lesen, auch wenn die vierte Strophe diesen materiellen Aspekt gerade nicht thematisiert. Die letzten beiden Strophen des Tones greifen nun mit Kunstreflexion und Konkurrentenschelte erneut ein neues Thema auf. Jedoch sprechen sie nicht die Ange-

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griffenen selbst an, sondern vielmehr die Rezipienten, indem sie eine Diskussion über die Erkennbarkeit von Blendern und kunstelosen eröffnen. Intratextuell schließen sie damit an das in der ‚Prologstrophe‘ lancierte Thema der ‚Bewertungskompetenz‘ an, das wie dort mit dem Thema des ‚Tugendadels‘ verbunden wird: Es sind nämlich für das Sänger-Ich gerade die Tugendadeligen, die edelen tugende richen (1Kanz/1/5, V. 9), die nicht-gebu̍ rschen (1Kanz/1/6, V. 6), welche die unwürdigen Blender und Kunstlosen erkennen sollen beziehungsweise können. Im Gesamtkontext des Tones, in dem echte edelkeit nicht nur mit der Fähigkeit zur Bewertung guter kunst, sondern auch mit Freigebigkeit korreliert, wird der Appell zur Differenzierung von guter und schlechter kunst durch diese intratextuelle Verschränkung mithin auch zu einer ‚Anleitung zum richtigen Geben‘ und damit zu einer Heische, die jedoch in diesen letzten beiden Strophen nicht offen ausgesprochen wird. Der Ton diskutiert also die Grundlagen wahren Adels auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Implikationen, welche sich erst durch eine intratextuelle Zusammenschau der Strophen vollumfänglich entfalten. Zum einen stellt er Sems und Japhets compassio als Exempel echter edelkeit aus. Zum anderen warnt er vor der Korruption des adels durch Ungenügsamkeit, Geiz oder Habgier. Indem er drastisch die Hinfälligkeit alles Irdischen thematisiert, desavouiert er implizit auch die Hinfälligkeit eines solcherart gewonnenen Besitzes, was über die inhärente Thematisierung des Seelenheils zugleich wiederum die Bedeutsamkeit echter edelkeit ausstellt. Und wenn echter adel zugleich zur Bewertung künstlerischer Leistung qualifiziert, adelt das einerseits die ‚rehte‘ kunst, stellt aber andererseits – im Kontext der intratextuellen Verschränkung der Strophen dieses Tones, der prominent Besitz, Verzicht und Gabe verhandelt – auch eine implizite Forderung, diesen echten adel und die damit einhergehende Bewertungskompetenz auf dem Feld der kunst im Praktizieren von milte sichtbar zu machen – nicht zuletzt in Anbetracht der Hinfälligkeit des Besitzes, den zu horten mithin nicht lohnt.

2.2 Ton II, Goldener Ton (1Kanz/2/1–11) 2.2.1 Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3) Am Anfang des zweiten, des ‚Goldenen‘ Tons¹⁵³ des Kanzlers steht in der Corpusüberlieferung in C eine Strophenreihe, die in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung

 Die Namenszuschreibung erfolgt erst in k, das heißt erst durch die Meistersinger, die diesen Ton rezipieren; beachtlicherweise tradiert k für diesen Ton zudem zwei Melodien, nämlich eine anspruchsvollere und die übliche, vgl. Kornrumpf ([Art.] Kanzler), Sp. 989; die Kolmarer Liederhandschrift (München, BSB, Cgm. 4997, fol. 545v) kommentiert dies folgendermaßen: Jn dysem hohen guldin Canczler mag man singen all die die [sic!] lieder dye im gulden Cantzler gent der ist nu herlich hoch vnd swer Aber hie nach ist genotiert ein anderer tone in dem selben gemess der ist nu senfter vnd sußer zu

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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einnimmt:¹⁵⁴ In diesem mit elf Strophen relativ umfangreichen Ton¹⁵⁵ bildet sie das einzige Dreierbar¹⁵⁶ und vermittelt als einzige geistliche Inhalte.¹⁵⁷ Grundsätzlich sind theologisch geprägte, katechetische Strophen in der Sangspruchdichtung alles andere als ungewöhnlich. Sie begegnen hier von Anfang an und etablieren sich im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einem zentralen Bestandteil der Gattung.¹⁵⁸ In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nimmt der Anteil lobpreisender Strophen unter diesen geistlichen Strophen zu,¹⁵⁹ was möglicherweise auch einen Einfluss der lateinischen Liedtradition sowie des volkssprachlichen paraliturgischen Gemeindelieds spiegelt, das sich immer mehr ausbreitet.¹⁶⁰ Zugleich referieren die

singen da man dar merer teil alles gesang jnn singet daz in Canczlers guldin tone stet [Abbreviaturen aufgelöst durch d. Verf.].  Vgl. zu den Folgenden Überlegungen auch: Sophie Knapp: Die Gebetsstrophen des Kanzlers im Goldenen Ton – ein ‚geistliches Sangspruchlied‘? In: Andreas Kraß, Matthias Standke (Hg.): Geistliche Liederdichter zwischen Liturgie und Volkssprache. Übertragungen, Bearbeitungen, Neuschöpfungen in Mittelalter und früher Neuzeit. Berlin/Boston 2020 (Liturgie und Volkssprache 5), S. 47–62.  Die Strophenzahl bezieht sich auf die Anzahl der ‚echten‘ altüberlieferten Strophen; hier wird der Goldene Ton nur durch den Hofton I mit seinen insgesamt 20 (beziehungsweise 21, je nach Einschätzung der Echtheit von 1Kanz/5/21) altüberlieferten Strophen übertroffen.  Die Zusammengehörigkeit zeigt sich in der Einheitlichkeit des Inhalts, aber auch in Reimresponsionen und grammatischen Bindungen; besonders deutlich stehen Str. 1 und 2 formal durch Strophenanapher zusammen, vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 247; Peter Nowak: Studien zu Gehalten und Formen mittelhochdeutscher Gebetslyrik des 13. Jahrhunderts. Diss. Bonn 1975, hier S. 247.  Diese formale und thematische Ausnahmestellung des vorliegenden Textes gilt weitestgehend für das gesamte Œuvre des Kanzlers, in dem sich nur eine andere Dreier-Strophenfolge (1Kanz/5/14–16) und – außer zwei knappen Hinweisen auf das Jenseits (1Kanz/1/4; 1Kanz/5/5) und einer einzigen weiteren Gebetsstrophe (1Kanz/5/9) – keine sonstigen Strophen mit geistlicher Thematik finden.  So schon bei Herger/Spervogel (1SpervA/1/16–20; 1SpervA/1/26–30); seit Walther von der Vogelweide fehlen sie in praktisch keinem Sangspruch-Liedcorpus.  Vgl. dazu Stefan Rosmer: Kap. V. Thematische Kerne 1. Religiöse Unterweisung – Gebet – Gottesund Marienpreis. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 205–223, hier S. 215; grundsätzlich finden sich preisliedhafte Tendenzen seit Walther (z. B. 1WaltV/14/1 f. [L. 78,24]), wobei auch seine Verfasserschaft des Marienleichs hier zuträglich gewesen sein könnte.  Nach Gerhoch von Reichersberg (1092/1093–1169) gab es schon im 12. Jahrhundert eine breit ausgebaute Tradition deutscher geistlicher Lieder: Tota terra iubilat in Christi laudibus etiam per cantilenas linguae vulgaris, maxime in Teutonicis, quorum lingua magis apta est concinnis canticis (zit. nach Johannes Janota: [Art.] Kirchenlied. II. Mittelalter. In: MGG, Bd. 5, Sp. 62–67, hier Sp. 64), wobei für diese Zeit primäre Zeugnisse weitgehend fehlen; zum 13. Jahrhundert werden aber doch einige Lieder dezidiert greifbar, vgl. ebd. Sp. 63–66; unklar bleibt der Gebrauch der seit Mitte des 12. Jahrhunderts zahlreich entstehenden Marienlieder, vgl. ebd., Sp. 66 f. Was den Ort der frühen Gemeindelieder angeht, meint Janota, dass sie nicht Teil der Liturgie waren, ebd. Sp. 62; umfassend dazu auch Johannes Janota: Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968, bes. S. 271. Praßl dagegen nimmt Einträge in verschiedenen libri ordinarii aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und später, die belegen, dass volkssprachige geistliche Lieder als Teil der Osterliturgie von der Gemeinde gesungen wurden, als Hinweis darauf, dass auch darüber hinaus volkssprachiger Gemeindegesang Teil der Liturgie war, vgl. Franz Karl Praßl: Das Mittelalter. In: Christian Möller in Verbindung mit Peter Bubman u. a. (Hg.): Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch. Tübingen 2000, S. 29–68, hier S. 34–37.

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geistlichen Sangsprüche in dieser Zeit zunehmend auf gelehrte theologische Wissensbestände,¹⁶¹ was sich wohl als Reflex einer Konkurrenz mit Mendikanten beziehungsweise einer aufkommenden Konkurrenz mit den gelehrten Theologen verstehen lässt.¹⁶² Geistliche Sangsprüche sind insofern in hohem Maß intertextuell vernetzt, denn sie stehen in einem Spannungsfeld zwischen der Absicht, geistliche Inhalte in der Volkssprache zu vermitteln, dem Versuch dabei an etablierten (gelehrten) sowie sich etablierenden volkssprachlichen Formen geistlicher Lieddichtung zu partizipieren und dem Aufscheinen gattungstypisch-sangspruchdichterischer Reflexe. In dieser Fluchtlinie liegt auch die Strophenfolge 1Kanz/2/1–3: Sie referiert klar auf theologische Diskurse, Texte und Liedtraditionen, die sie ihrer eigenen Gattung anverwandelt, schöpft daraus aber auch ein Potenzial für gattungsspezifische Interessen. Diese Hybridität spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen in der Verfasstheit dieser Strophen. Formal etwa sind sie zwar in einem vielstrophigen Sangspruchton verfasst, heben sich aber durch ihre intratextuelle Verbindung, die deutlich enger wirkt als die meisten sonstigen Strophenresponsionen beim Kanzler, von den anderen Strophen des Tones ab. Verstärkt wird das dadurch, dass ihr Thema im Ton isoliert steht. Das generiert eine bar-ähnliche Strophenzusammengehörigkeit, wie sie in dieser Form in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Sangspruch noch nicht breit etabliert und daher konzeptionell auffällig ist.¹⁶³ Formal nähert diese Dreistrophigkeit die vorliegende Strophenreihe gewissermaßen den Minneliedern des Kanzlers an, da diese regelhaft dreistrophig sind. Das ist insofern bedeutsam, als sich beim Kanzler – etwa zwischen Minnesang und Sangspruch – nachweislich ein formales ‚Gattungsbewusstsein‘ beobachten lässt,¹⁶⁴ wie besonders das hybride ‚Minnesangspruchlied‘ XIII (1Kanz/4/1–3) zeigt.¹⁶⁵ Die Mehrstrophigkeit der vorliegenden geistlichen Strophenreihe ließe sich daher als dezidierte Wahl einer spezifischen Form für das beim Kanzler wenig geläufige geistliche Thema verstehen und damit als gezielte Referenz auf die Mehrstrophigkeit (lateinischer) geistlicher Liedtradition wie etwa des Hym Ein weiteres einschlägiges Beispiel wäre hier etwa die Thematisierung des „Streits der Töchter Gottes“ bei Boppe (1Bop/7/1–4, vgl. dazu Bulang [wie ich die gotes tougen]); vgl. dazu auch Nowak (Gebetslyrik), S. 23.  Zur Konkurrenz mit den Mendikanten vgl. Kästner (Sermo vulgaris). Grubmüller (Autorität), S. 707– 711, dagegen betrachtet diese Autorisierungsstrategie als Ausweis einer aufkommenden Konkurrenz der Sangspruchdichter mit den gelehrten Theologen. Sowohl die (unterschwellige) Konkurrenz zwischen Geistlichen und Sangspruchdichtern als auch Redelizenzen hinsichtlich theologischer Inhalte verhandelt ex- und implizit das Rätselspiel des sogenannten Wartburgkrieges, vgl. dazu u. a. Tobias Bulang, Holger Runow: Allegorie und Verrätselung in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. In: Beatrice Trînca (Hg.): Verrätselung und Sinnzeugung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Würzburg 2016, S. 27–45.  Vgl. dazu Horst Brunner: Kap. VI. Formen 2. Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 317–328, hier S. 322, 324 f.  Vgl. Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 181.  Das dreistrophige Gebilde beginnt als Minnelied, schlägt in der zweiten Strophe aber unerwartet in eine Sangspruchklage um und spielt dabei dezidiert mit der Umbesetzung und Umsemantisierung von Minnesangtopoi, vgl. dazu Kap. 2.4.

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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nus.¹⁶⁶ Diese formale Anleihe an Traditionen geistlicher Liedlyrik markierte insofern eine Gattungsreferenz auf sie. Dennoch sind die Strophen des Kanzlers, wie gesagt, nicht in einem nur ihnen ‚eigenen‘ Ton verfasst, also nicht als eigenständiges Lied konzipiert, sondern bilden mit einer Vielzahl weiterer Einzelstrophen verschiedenster Thematik einen relativ umfangreichen Sangspruchton und partizipieren damit dezidiert auch an dieser Gattung. Ebenfalls sangspruchtypisch ist ihre Positionierung am Anfang des Tones, die auf die sangspruchdichterische Gattungstradition einer Tonweihe anspielt.¹⁶⁷ Die Strophen verschränken damit schon formal die Referenz auf eine geistliche Liedtradition mit derjenigen auf die eigene Gattungstradition und verwandeln damit den gattungsexternen Diskurs der eigenen Gattung an. Ähnlich verfahren sie auch inhaltlich, wie ich im Folgenden skizzieren will. Die geistlich-predigthaften Strophen dieser Strophenreihe thematisieren je eine der göttlichen Hypostasen: Die erste Strophe preist Gottvater, der besonders in seiner Qualität als Schöpfer profiliert ist. Die zweite Strophe thematisiert – stärker narrativ – den Opfertod Jesu Christi und die dadurch ‚erkaufte‘ Erlösung der Menschheit. In der dritten Strophe erbittet ein Sprecher-Ich, das sich als heilsbedürftig inszeniert, gebetshaft den Beistand des Heiligen Geistes und dessen Sieben Gaben. Die thematische Dreiteilung, die Reihenfolge und die Ausgestaltung der Strophen alludieren dabei das

 Karlheinz Schlager: [Art.] Hymnus. III. Mittelalter. In: MGG, Bd. 4, Sp. 479–490, hier Sp. 481, betrachtet es als naheliegend, dem Hymnus aufgrund seiner poetischen Sprache und Strophenliedform eine vermittelnde Rolle zwischen christlichem Choral und volkssprachigem Kirchenlied zuzuweisen, wobei er eher auf die Übersetzungen des 14. Jahrhunderts verweist (Mönch von Salzburg). Aber auch für das dreistrophige volkssprachige Petruslied aus dem 10. Jahrhundert (oder früher) war wohl die lateinische Petrushymnik vorbildhaft; gerade die Melodie ist im Stil des gregorianischen Chorals gehalten und hat damit „vielleicht dem Bereich zwischen Hymnenmelodik und der musikalischen Faktur von Litaneitropen angehört“, vgl. dazu Helmut Lomnitzer: [Art.] Petruslied. In: ²VL, Bd. 6, Sp. 521–525, hier Sp. 522–524. Damit scheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass derartige Vorbilder auch von einem gelehrten (oder gelehrt scheinen wollenden) Sangspruchdichter wie dem Kanzler rezipiert und adaptiert werden, umso mehr als die vorliegende Strophenfolge mit der Anrufung des Heiligen Geistes (1Kanz/2/3) auf den weit verbreiteten und auch in der Liturgie verankerten Hymnus „Veni, creator spiritus“ referieren könnte, der „auch im deutschen MA vermutlich der am häufigsten übersetzte Hymnus war“ (Interlinearglossierung schon Ende des 12. Jahrhunderts, zahlreiche Übersetzungen v. a. im 15. Jahrhundert), vgl. Julia Bauer, Franz Josef Worstbrock: [Art.] Veni, creator spiritus. In: 2VL, Bd. 10, Sp. 217–224; vgl. dazu auch Nowak (Gebetslyrik), S. 9 f.; Nowak betont überhaupt die (auch gedankliche und sprachliche) Traditionsgebundenheit der geistlichen Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts an Liturgie, Predigt und deutsche geistliche Dichtung, vgl. ebd., S. 16 f.  Geistliche Strophen stehen in der Sangspruchdichtung häufiger im Sinne einer Tonweihe am Beginn eines Tones, verweisen dabei aber normalerweise auch explizit auf diese Funktion, vgl. dazu Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophenbindung? Untersuchungen zur Lyrik der Jenaer Liederhandschrift. Diss. Bonn 1966, hier S. 107; Nowak (Gebetslyrik), S. 96 f.; da die Strophe das hier allerdings nicht explizit thematisiert, ist unklar, ob ihre Positionierung vom Verfasser intendiert ist oder auf die Redaktion der Handschrift zurückgeht.

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Credo und spiegeln zudem auf formaler Ebene im dreistrophigen einen Lied die Dreieinigkeit, das Drei-und-doch-Eins-Sein Gottes.¹⁶⁸ Auf den ersten Blick wirkt der Inhalt dieser Strophenreihe relativ stereotyp. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, wie sich hier auch inhaltlich über verschiedene Referenzstrategien eine Partizipation an geistlich-predigthafter Unterweisung und ihren gelehrten Versatzstücken abzeichnet, die sich zugleich mit sangspruchdichterischem Selbstbewusstsein, ja sangspruchdichterischer Selbstthematisierung verschränken.

2.2.1.1 Strophe 1 – Gottespreis (1Kanz/2/1) C Kanz 

B₃ Kanz 

Got, schepher aller dingen, Got, schepher aller dingen, din werdes lob kein zunge mag din werdes lop kain zunge enmac volsprechen noh volsingen, vollesprechen noch vollesingen, swie aller kreatu̍ re kraft wie aller creaturen kraft  in diner hende stat. in diner hende stat.

b Kanz  Got, schoͤ pffer aller dingen, din hohes lob kein zunge mag volsprechen noch volsingen, wie aller creaturen crafft in diner hende stat.

din sint die himeltrone, din sint die himeltroͤ ne, din sind die himeldrone, din ist du̍ naht, din ist der tag, din ist du̍ naht, din ist der tac, din ist diu nacht, din ist der tag, din ist der sunne. schone din ist des sunnen schoͤ ne. din ist der sunnen schoͤ ne. nah diner hohen meisterschaft nach diner hohen maisternach diner hohen maisterschaft schafft  der himel umbegat. der himel umbe gat. der himel ume gat. die sternen sint dir gar bekant mit ir bezeichenungen; vier element in diner hant sint eigenlich betwungen:

die sternen sint dir wol bekant mit ir bezaichenungen; vier elementen in diner hant sint aigenlich bezwungen:

die sternen sind dir wol bekant mit den bezeichenungen; fier element in diner hant stand eigenlichen beczwungen:

 Besonders Str. 2, die Leben und Leiden Christi thematisiert, spielt mit Formulierungen des Credo, wenngleich die zentrale Glaubensformel fehlt. Das Credo ist allerdings ein besonders sakrosankter Text, darf insofern auch nicht beliebig paraphrasiert werden. Andererseits macht gerade diese gesteigerte Bedeutsamkeit des Textes es attraktiv, ihn zu alludieren, um an seiner Geltung zu partizipieren (außerdem wird er schon früh gesungen [vgl. Karlheinz Schlager: [Art.] Credo. In: MGG, Bd. 2, Sp. 1036–1040, hier Sp. 1336 f.], was weiterhin die Anspielung motiviert haben könnte). Belege für eine poetische Rezeption des Credo im Sangspruch finden sich neben dieser Kanzlerstelle nur andeutungsweise bei Rumelant (1Rum/2/11; hier aber ausschließlich auf Christus bezogen) und dann erst deutlich später im frühen Meistergesang. Parallel dazu lässt sich auch im Kontext des kirchlichen Liedes erst im späten Mittelalter beobachten, dass zahlreiche textliche und musikalische Veränderungen am ursprünglich sehr festgefügten gesungenen Credo vorgenommen werden, vgl. Schlager ([Art.] Credo), Sp. 1037 f.; Bruno Stäblein: [Art.] Tropus. IX. Tropen zu den übrigen Proprien- und Ordinariumsgesängen. In: MGG, Bd. 8, Sp. 910–912, hier Sp. 911 f.

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

 luft, wasser, vu̍ r, erteriche. swaz in den vieren wonend ist, daz schf vil meisterliche dins edeln wortes hoher list in siben tagen vrist.

fu̍ r, wazzer, luft, ertriche. waz in den meren wonent ist, daz geschf gar maisterliche dines edelen herzen hoher list in siben tagen vrist.

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fu̍ r, wasser, luft, ertriche. was in den fieren wunnen ist, das beschuͤ fft du maisterliche mit dines hohen wortes list in siben tagen frist.

Die erste Strophe¹⁶⁹ hebt an mit dem Preis Gottvaters, des Schöpfers, und seinem unaussprechlichen Lob: Got, schepher aller dingen,/ din werdez lop kein zunge mag/ volsprechen noch volsingen,/ swie aller kreatu̍ re kraft/ in diner hende stat (Str. 1, V. 1–5). Dem folgt eine Aufzählung all dessen, was Gott schuf und worüber er herrscht, die eine gewisse räumliche Bewegung vom äußersten obersten heiligsten Punkt (himeltrone) zum innersten ‚untersten‘ (erteriche) andeutet und auf diese Weise biblischschöpfungsgeschichtliches Wissen mit kosmologischen Vorstellungen verschränkt. Dabei referiert der Kanzler dezidiert auf die geistliche Texttradition, etwa mit der Formulierung der göttlichen Sternenkenntnis: die sternen sint dir gar bekant/ mit ir bezeichenungen (V. 11 f.), die Psalm 146,4 paraphrasiert (qui numerat multitudinem stellarum, et omnibus eis nomina vocans).¹⁷⁰ Der Strophenschluss akzentuiert den Schöpfungsakt als wortgeboren: daz schf vil meisterliche/ dins edeln wortes hoher list (Str. 1, V. 17 f.).¹⁷¹ Das ist einerseits biblisch, andererseits ist es aber auch poetologisch lesbar. Wenn der Schöpfungsakt dezidiert als Erschaffen durch Wortgewalt ausgestellt wird, nähert ihn das dem Akt des Dichtens an. Diese poetologische Dimension gewinnt zudem dadurch an Gewicht, dass die Strophe termini technici sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung auf die Welterschaffung überträgt: So bezeichnet das Sprecher-Ich Gottes Macht über den Kosmos als hohe[ ] meisterschaft (Str. 1, V. 9) und konstatiert entsprechend in V. 17 f., er schf vil meisterliche mit seines edeln wortes hohe[m] list. Pointiert hervorgehoben ist damit die Kunstfertigkeit (list) als Voraussetzung für meisterliches Schaffen. Thematisiert wird hier insofern unterschwellig eine dichterische Qualifikation, die ihren Ursprung in Gott hat. Und wiewohl der Aufgesang in typisch sangspruchdichterischen Demutsformeln betont, dass keine irdische Zunge auch nur das Lob dieses Schöpfergottes zu singen und zu sprechen vermöge, dessen Sprechen alle Dinge hervorgebracht hat, so adelt es doch das Sprechen und Singen, wenn das Wort der Ursprung alles irdischen Seins ist. Das Sänger-Ich diskutiert in dieser ersten Strophe mithin Bedingungen des Schöpfens, was über die sangspruchdichterische Terminologie poetologisch geprägt

 Überliefert ist der Dreierbar – ohne signifikante Abweichungen voneinander – im Codex Manesse (C; Heidelberg Cpg 848, fol. 424rv) und in der Basler Rolle (B3; Basel N I 6/50, fol. 1v); die erste Strophe zudem in der späteren Basler Meisterliederhandschrift (b; Basel O IV 28, fol. 34rv), wo sie jedoch mit zwei anderen altüberlieferten Strophen des Kanzlers (den astronomischen Strophen 1Kanz/2/10 f.; vgl. dazu Kap. 2.2.6) zu einem Dreierbar zusammentritt. Die folgende Interpretation des Bares folgt dem Text in C, berücksichtigt aber signifikante Abweichungen in den anderen Handschriften.  Auf diese Referenz verweist auch Nowak (Gebetslyrik), S. 112 f.  So auch in der Basler Meisterliederhandschrift (b); die Basler Rolle (B3) bietet dagegen die abweichende Lesart: geschf […]/ dines edelen herzen hoher list (V. 17 f.).

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erscheint und dadurch, dass diese Strophe am Beginn des Tones steht, gewissermaßen programmatisch wirkt.¹⁷²

2.2.1.2 Strophe 2 – Jesu Opfer (1Kanz/2/2) C Kanz  Got, schepfer al der welte, Jesus, din einbornes kint, bant sich ze grossem gelte. die buoze er sunder missetat  vil gar uf sich gelt:

B Kanz  Got, schepher aller welte, Jesus, din ainebornez kint, bant sich z grozem gelte, do er der su̍ nder missetat  vil gar uf sich gelt:

er wolt die armen loͤ sen, die in der helle lagen blint von tu̍ vels reten boͤ sen. dane half golt, silber noh kein wat  wan sin vil reines blt.

er wolt die armen loͤ sen, die in der helle lagen blint von tievels reten boͤ sen. den half golt, silber noch kain wat  wan sin vil hailig blt.

von Juda wart er sicherlich verkoͮ fet unde verraten; gevangen liez er fuͤ ren sich gebunden vu̍ r Pylaten.  durh vuͤ ze unde oͮ ch durh hende unde dur sin siten wart da wunt got ane missewende – des manig sele sa ze stunt kam us der helle grunt.

von Judas ward er sicherlich verkoͮ fet unde verraten; gebunden liez er fuͤ ren sich gevangen fu̍ r Pylaten.  durch fuͤ ze unde ouch durch hende unde durch sin situn ward er wunt, got, ane missewende – des manec sele da zestunt kom uz der helle grunt.

Die zweite Strophe schließt mit ihrem Eingangsvers anaphorisch an die vorangehende an (Got, schepher aller dingen, Str. 1,V. 1 – Got, schepfer al der welte, Str. 2,V. 1) und leitet vom Welterschaffer Gott zu dessen einborne[m] kint über (Str. 2, V. 2). Die du-Apostrophierung Gottes in der ersten Strophe weicht in der zweiten nun einem Sprechen in der dritten Person und einem narrativeren Gestus, in dem von der Erlösungstat Jesu berichtet wird: Er bant sich ze grossem gelte./ die buoze er sunder missetat/ vil gar uf sich gelt:/ er wolt die armen loͤ sen,/ die in der helle lagen blint/ von tu̍ vels reten boͤ sen (Str. 2, V. 3–8). Die Strophe erzählt zudem vom Verrat Judas’ und wie Christus vor Pilatus gebracht wurde (Str. 2, V. 11–14). Passion und Kreuzigung werden abschließend sehr verkürzt über die Erwähnung der fünf Wunden Christi aufgerufen (V. 15–17). Die Schlussverse resümieren die heilsmächtige Wirkung dieser Wunden: des manig sele sa ze stunt/ kam us der helle grunt (Str. 2,V. 18 f.): des, ‚dadurch‘, durch diese Wunden, durch das Blut Christi vollzog sich die Erlösung sa ze stunt (Str. 2, V. 18), also ‚damals dort‘, aber auch ‚von da an‘. Die Strophe beschreibt das Opfer Christi prononciert über ein Bildfeld von Gabe und Entgelt: Der Opfertod wird als ‚grosse[r] gelt[ ]‘ (Str. 2, V. 3) perspektiviert, als eine buoze  Vgl. S. 99, Anm. 167.

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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(Str. 2, V. 4),¹⁷³ also eine Vergütung, eine Wiedergutmachung. Betont wird dabei jedoch, dass Jesus sich diese Sühne – dem Wesen des Begriffes zum Trotz – sunder missetat, ohne ein Vergehen begangen zu haben, also unschuldig, aufgebürdet habe. Die Schuldnermetaphorik hebt die Aufopferung pointiert hervor, die der Tat eignet: Sie suggeriert eine Austauschrelation, die in Jesu Opfer gerade unterlaufen ist, weil er schuld-los ist und damit eben nicht zum Geben verpflichtet. Dennoch leistet er aber die buoze, den entgelt aus Mitleid mit den Menschen, deren Erbsünde ein Sühnegut erforderlich machte. Dieses ‚Entgelt‘ wird über den Vergleich mit gewärtigen Zahlmitteln wie Gold, Silber oder Kleidern konkret als zu bezahlender Preis profiliert. Die aufgezählten herkömmlichen Zahlmittel, das macht die Strophe explizit, verfangen hier jedoch nicht. Der einzige Preis, der diese Schuld begleichen kann, ist Christi unschuldiges unbeflecktes Blut: dane half golt, silber noh kein wat/ wan sin vil reines blt (Str. 2, V. 9 f.). Deutlich referiert diese Stelle auf den 1. Petrusbrief (1,18 f.):¹⁷⁴ scientes quod non corruptibilibus argento vel auro redempti estis/ de vana vestra conversatione paternae traditionis 19sed pretioso sanguine quasi agni incontaminati et inmaculati Christi. Bei der Referenz auf diesen Text fällt aber prominent ins Auge, dass der Kanzler Petrus’ Aufzählung innerweltlicher Kostbarkeiten (argento vel auro) ausgerechnet um wat, eine typische Gabe für varnde, ergänzt. Dadurch erscheint der Katalog lebensweltlich aktualisiert, aber die Bibelstelle auch spezifisch sangspruchdichterisch (um‐)funktionalisiert.¹⁷⁵ Folgerichtig zu dieser Thematisierung pekuniären Gegenwerts hebt auch die Erzählung der Kreuzigung und Passion trotz ihrer ausgesprochen kondensierten Form, in der sie ansonsten auf Details verzichtet, pointierend hervor, dass Judas Jesus um des Geldes willen verriet (verkoͮ fet unde verraten, Str. 2, V. 12), und führt damit den angedeuteten Diskurs über Geld und Gut fort: Der unverzeihliche Verrat steht als ‚falscher‘ Verkauf, als fürchterlichste Form habgieriger Geldsucht negativ dem Opfer Christi gegenüber, wodurch dieses noch stärker als Akt unbegreiflicher milte profiliert wird.

 Der Begriff buoze hier ist allerdings eine Konjektur: „Das sinnlose isolierte Die (C) sowie der fehlende Auftakt machen eine Ergänzung notwendig; ich wähle buoze“, KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248; LDM folgt dieser editorischen Entscheidung. Die Parallelüberlieferung (B3) hat hier die Lesart do er der su̍ nder missetat/ vil gar uf sich gelt (V. 4 f.), was die nachfolgende Interpretation nicht grundlegend beeinträchtigt, auch wenn der Gegensatz von Christi Schuldlosigkeit und seiner dennoch im Opfer erbrachten Gabe damit schwächer wird.  Die Stuttgarter Perikopen (15. Jahrhundert) sehen dessen Lektüre für den Mittwoch nach dem 2. Sonntag nach Ostern vor, vgl. Kottmann (Das buch der ewangelij), S. 233.  Nowak (Gebetslyrik), S. 120, verweist darauf, dass sich wat in dieser Aufzählung schon in Von des todes gehugde des sogenannten Heinrich von Melk finde, der Kontext ist dort allerdings ein anderer, nämlich eine Schelte der Gierigen: Sant Paulus, der gotes bot,/ sprichet: ditzes rîchtûmes gîrischäit/ sî der abgot schalchäit./ daz ist an den gîrischen wol gewære:/ fur ir schepfære/ nement si daz er geschaffen hât,/ ez sî golt silber oder wât/ oder iht des iemen gewan:/ ez mûz allez hinder im bistân (V. 840–848, zit. nach Kienast). Ob dem Kanzler diese Textstelle bekannt war, ist nicht zu entscheiden (vgl. dazu auch Kap. 2.1.4), im vorliegenden sangspruchdichterischen Kontext gewinnt die Erweiterung der Aufzählung um den Begriff der wât aber unabhängig davon eine zusätzliche Bedeutungsdimension.

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Die Strophe reflektiert also implizit Bedingungen des Gebens. Indem der Opfertod Christi als Entgelt metaphorisiert wird, das ‚von Rechts wegen‘ nicht von ihm hätte bezahlt werden müssen, thematisiert sie die Selbstauf-Gabe Gottes aus Liebe zu den Menschen und wird so durchlässig auf einen milte-Diskurs.¹⁷⁶ Diese freiwillige Gabe steht kontrastiv dem Verkauf durch Judas als Negativexempel gegenüber und spielt damit milte gegen Besitzgier aus. Zudem verweist die Strophe gerade dort, wo sie die Nutzlosigkeit materieller Güter im Angesicht der menschlichen Erbsünde herausstellt (dane half golt, silber noch kein wat, V. 9), im da darauf, dass sie zwar da, dort und im Angesicht dieser Schuld nicht halfen; zugleich suggeriert sie in diesem da aber unterschwellig wie diese – gegenüber Christi Blut nichtig erscheinenden Gaben – zwar damals nicht verfingen, im Hier und Jetzt dagegen durchaus die in der Strophe propagierte Nächstenliebe ausmachen könnten. So öffnet sich auch die zweite Strophe unterschwellig auf innerweltliche Interessen der Sangspruchdichter hin.

2.2.1.3 Strophe 3 – Die Sieben Gaben des Heiligen Geistes (1Kanz/2/3) C Kanz  Heiliger geist, erhoͤ re mich armen, ich wil bitten dich, min suͤ nde du verstoͤ re. ich fu̍ rht, ich got unmere si  von su̍ nden ungezalt.

B₃ Kanz  Haileger gaist, erhoͤ re mich armen, ich wil biten dich, min sünde du̍ zerstoͤ re. ich fu̍ rht, ich got unmære[ ] si von sünden ungezalt.

erlu̍ hter aller herzen, mit diner lere erlu̍ hte mich, daz mich der helle smerzen an minem ende machen vri  din gabe sibenvalt.

erluchter aller herzen, mit diner lere erluhte mich, daz mich der helle smertzen an minem ende mache vri din gabe su̍ benvalt.

gib vorhte mir unde rehte kraft, rat unde rehte milte, sit ich mit su̍ nden bin behaft. noh mt ich drier schilte:  der erste ist rehte witze, der ander schilt ist rehtu̍ kunst; kein vient ich entsitze, wirt mir der dritte, reht vernunst, so hab ich gotes gunst.

gib vorhte mir unde rehte kraft, rat unde rehte milte, sider ich mit su̍ nden bin behaft. noch mt ich drier schilte: der ain ist rehtu witze, der ander schilt ist rehtu kunst; kain viande ich entsitze, wirt mir der dritte, reht vernunst, so han ich gotes gunst.

In der dritten Strophe nun ergreift ein Ich-Sprecher das Wort, der sich als sündig und heilsbedürftig inszeniert.¹⁷⁷ In gebethafter Sprechhaltung apostrophiert er den Heiligen

 Auch bei Johann von Ringgenberg wird die Erlösungstat – in sangspruchdichterischem Interesse – als Akt der milte profiliert, vgl. 1JohR/14, V. 12 f.  Mit dem Sprecherwechsel zum Ich greift der Kanzler die Tradition der Sündenklage auf, vgl. dazu Nowak (Gebetslyrik), S. 101; zu Sprecherrollen in der Sangspruchdichtung vgl. auch Lauer (Ästhetik der

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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Geist und bittet ihn um seine gabe sibenvalt (Str. 3, V. 10), die als erleuchtende lere apostrophiert wird (Str. 3,V. 6 f.) und von der es heißt, dass sie vor der Hölle zu bewahren vermöchte. Der Abgesang zählt dann diese siebenfältige Gabe auf – gib vorhte mir unde rehte kraft,/ rat unde rehte milte,/ […] rehte witze,/ […] rehtu̍ kunst;/ […] reht vernunst (Str. 3,V. 11–18) –, unterbrochen von Interjektionen, die erneut die eigene Sündhaftigkeit und Heilsbedürftigkeit des Ich sowie die rettende Kraft dieser gaben hervorheben. Ungewöhnlich ist hier zunächst, dass sich diese relativ topische Fürbitte eines Ich, das Gott wegen seiner Sündhaftigkeit nicht mehr zu adressieren wagt, nicht an die geläufige Mediatrix Maria richtet, sondern den Heiligen Geist als Mediator anruft.¹⁷⁸ Ebenfalls besonders ist, dass die Strophe auf das theologisch-gelehrte Thema der Sieben Gaben des Heiligen Geistes referiert, das in der Sangspruchdichtung bis dahin nicht belegt ist.¹⁷⁹ Die Strophe nimmt also einerseits Bezug auf die lateinische geistliche Liedtradition, nämlich den sehr verbreiteten Hymnus „Veni, creator spiritus“ und die Antiphon „Veni, sanctus spiritus (et emitte caelitus)“, die verschiedentlich in liturgischem Gebrauch bezeugt sind (besonders zu Pfingsten) und zu den am häufigsten übersetzten Liedern gehören, wobei die deutschen Übertragungen vorwiegend auf das 15. Jahrhundert datieren.¹⁸⁰ Beide erbitten über mehrere Strophen den Beistand des Heiligen Geistes und seine sieben Gaben.¹⁸¹ Die Kanzlersche Apostrophe des Heiligen Geistes als erlu̍ hter aller herzen (V. 6) zitiert darüber hinaus geradezu die dichte Lichtmetaphorik der Antiphon (Veni, lumen cordium, Str. 2, V. 3; O lux beatissima,/ Reple cordis intima/ Tuorum fidelium, Str. 5, V. 1–3; emitte caelitus/ Lucis tuae radium, Str. 1, V. 2 f.). Dem Hymnus wiederum steht die Kanzlersche Strophenreihe in ihren CredoAllusionen nahe, da auch dieser die Hypostasen Gottes in einem Glaubenssatz aufruft

Identität), S. 320, die gerade am vorliegenden Bar des Kanzlers eine Ausdifferenzierung der Predigerrolle festmacht.  Die Sangspruchdichtung des 13. und 14. Jahrhunderts apostrophiert in diesem Fall normalerweise Maria, Belege dafür auch bei Nowak (Gebetslyrik), S. 103. Eine gebetshafte Sündenklage mit Anrufung des Heiligen Geistes findet sich allerdings auch schon bei Herger/Spervogel (1SpervA/1/20), für welche Lauer (Ästhetik der Identität), S. 50 f., differenziert darlegt, wie über die Bildebene einer dienst-lônStruktur die ästhetische Handlungsrolle des Sündenklagenden ihre Identität aus einer Interferenz der beiden inferioren Positionen der Sozialrolle des servus Dei (als Christ) und des servus domini (als Fahrender) gewinnt.  Spätere Belege, vgl. RSM (Register), Bd. 15, S. 260 (Heiliger Geist, Gaben).  Vgl. dazu Bauer/Worstbrock: [Art.] ‚Veni, creator spiritus‘, Sp. 217–224; Franz Josef Worstbrock: [Art.] ‚Veni, sanctus spiritus‘. In: 2VL, Bd. 10, Sp. 226–233, hier Sp. 226.  Tu septiformis munere („Veni, creator spiritus“, Str. 3, V. 1, zit. nach Analecta Hymnica medii aevi, hg. Guido Maria Dreves und Clemens Blume. 55 Bde., hier Bd. 50: Hymnographi Latini. Lateinische Hymnendichter des Mittelalters. Zweite Folge, aus gedruckten und ungedruckten Quellen hg. von Guido Maria Dreves. Leipzig 1907, S. 193, Nr. 144); Da tuis fidelibus/ In te confidentibus/ Sacrum septenarium („Veni, sanctus spiritus“, Str. 9, V. 1–3, zit. nach Analecta Hymnica Bd. 54: Thesauri Hymnologici Prosarium. Partis alterius Vol. I. Liturgische Prosen des Übergangsstiles und der zweiten Epoche insbesondere die dem Adam von Sanct Victor zugeschriebenen aus Handschriften und Frühdrucken, neu hg. von Christian Blume und Henry M. Bannister. Leipzig 1915, hier S. 234, Nr. 153).

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(Per te sciamus, da, patrem,/ Noscamus atque filium;/ Te utriusque spiritum/ Credamus omni tempore, Str. 6, V. 1–4). Andererseits fällt aber auf, dass in dieser lateinischen Liedtradition keine explizite Aufzählung der Sieben Gaben des Heiligen Geistes im Einzelnen begegnet, der Kanzler greift hier mithin über diese Prätexte hinaus auf weitere Referenzgründe aus.¹⁸² Der Katalog der Sieben Gaben geht auf Jesaja 11,1–3 zurück und hat in geistlichen Texten eine breite Tradition;¹⁸³ er begegnet schon seit den Kirchenvätern, besonders in der Vaterunser-Auslegung, und dann prominent in Predigten.¹⁸⁴ Bevorzugt werden die Sieben Gaben dort mit anderen Heptaden verschränkt und sinnhaft zu diesen in Beziehung gesetzt. Sie bilden dabei ein auf- beziehungsweise absteigendes Stufensystem aus, dessen erste Stufe timor, die Gottesfurcht, über pietas, scientia, fortitudo, consilium und intellectus zu sapientia, zur Gotteserkenntnis führt.¹⁸⁵ In deutschsprachigen Texten begegnet das Thema der Sieben Gaben ab dem 11. Jahrhundert. Die Texte zeigen dabei zwei Auslegungstendenzen: Entweder werden die Gaben als Stufenweg zu einer unio mystica gedeutet oder sie leiten stufenweise zum contemptus mundi und zur Hinwendung zu Gott an.¹⁸⁶ Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts verliert sich dann die komplexe Idee des Stufensystems zunehmend und die gaben werden nurmehr summarisch als antidota gegen die sieben Todsünden begriffen, was die zuvor differenzierten Bezüge zwischen diesen Heptaden allmählich verwischt und verflacht. Entsprechend löst sich auch die ehedem streng festgelegte Reihenfolge der Gaben immer weiter auf.¹⁸⁷ Besonders in der predigthaft-unterweisenden, didaktischen Literatur werden sie nur noch „in einem formelhaften thematischen Zusammenhang erwähnt“.¹⁸⁸ Diese Tendenzen scheinen sich auch in der vorliegenden Strophe zu spiegeln: Ein spezifischer Prätext ist nicht auszumachen, vielmehr referiert der Kanzler allgemein auf das theologisch-gelehrte Thema, das ihm beispielsweise durch die Predigt vermittelt gewesen sein könnte.¹⁸⁹ Die Sieben Gaben des Heiligen Geistes werden bei ihm als allgemeines Heilmittel gegen eine unspezifizierte Sündenverfallenheit des Ich aufge Lausberg deutet allerdings die sieben Strophen des Hymnus „Veni, creator spiritus“ als Umschreibung je einer der sieben Gaben des Heiligen Geistes, vgl. Heinrich Lausberg: Der Hymnus ‚Veni, creator spiritus‘. Opladen 1979, bes. S. 23 f., 27–29; Klopsch widerspricht dieser Auffassung überzeugend, vgl. dazu: Lateinische Lyrik des Mittelalters. Lateinisch/Deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Peter Klopsch. Stuttgart 1985.  Jes 11,1–3a: et egredietur virga de radice Iesse et flos de radice eius ascendet 2et requiescet super eum spiritus Domini/ spiritus sapientiae et intellectus/ spiritus consilii et fortitudinis/ spiritus scientiae et pietatis 3et replebit eum spiritus timoris Domini.  Umfassend dazu: Barbara Tillmanns: Die sieben Gaben des Heiligen Geistes in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Diss. Kiel 1962.  Vgl. Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), S. 15–21.  Vgl. Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), S. 211.  Vgl. Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), S. 212 f.  Vgl. Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), S. 214.  Die Stuttgarter Perikopen und das Wiener Plenar (deren früheste Überlieferungen datieren allerdings erst aus dem 15. Jahrhundert) sehen die Jesaja-Stelle für den Quatember-Freitag im Advent vor, vgl. Kottmann (Das buch der ewangelij), S. 224, 243.

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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rufen. Ihre Reihenfolge weicht dabei im Text von der biblischen ab: Sie beginnt zwar traditionsgemäß mit vorhte (Str. 3, V. 11, timor), führt dann aber über kraft (Str. 3, V. 11, fortitudo), rat (Str. 3, V. 12, consilium), milte (Str. 3, V. 12, pietas), witze (Str. 3, V. 15, intellectus), kunst (Str. 3,V. 16, scientia) schließlich zu vernunst (Str. 3,V. 18, sapientia) und zeigt mithin keine klare Übereinstimmung mit der Tradition. Gänzlich indifferent erscheint die neue Anordnung der Begriffe jedoch nicht: Der Text gliedert die Gaben durch einen Einschub über die Heilsbedürftigkeit des SprecherIchs (apokoinu sit ich mit su̍ nden bin behaft, Str. 3,V. 13) in eine Tetrade und eine Triade. Die Triade ist explizit als Trias gebündelt: noh mt ich drier schilte (Str. 3,V. 14). Diese drei werden dann nummeriert aufgezählt, was sie hierarchisiert, weil es über den dritten und letzten schilt hervorhebend heißt: kein vient ich entsitze,/ wirt mir der dritte, reht vernunst,/ so hab ich gotes gunst (Str. 3, V. 17–19). An diesen Befunden nun ist verschiedenes auffällig. Zum einen sticht – gerade im Kontext der Sangspruchdichtung – ins Auge, dass die Gabe der pietas beim Kanzler mit dem Begriff der milte wiedergegeben wird. Diese Übersetzung begegnet zwar punktuell schon zuvor in der Rezeption, die übliche Übertragung ist hier aber güete. Wo in der Tradition dennoch mit milte übersetzt wird, ist der Begriff stets in Richtung Nächstenliebe und Barmherzigkeit spezifiziert, nicht in Richtung Freigebigkeit.¹⁹⁰ Alle diese Belege entstammen jedoch rein geistlichen Texten. Beim Kanzler dagegen steht der Begriff im Kontext der Sangspruchdichtung, in der milte ein topisches Signalwort ist, was die Frage aufwirft, ob der Begriff hier eine beabsichtigte gattungsspezifische Zusatzkonnotation haben soll.¹⁹¹ Dafür lohnt sich ein Blick auf die gesamte Tetrade. Auffällig ist dabei zuerst, dass die Triaden-Tetraden-Einteilung beim Kanzler entgegen vorgängigen Traditionen umstrukturiert ist.¹⁹² kunst bildet beim Kanzler eine Triade mit den der vita contemplativa zugeordneten Gaben witze und vernunst und erscheint ihnen damit subsummiert, während rat bei ihm zu einer Tetrade mit den Gaben vorhte, kraft und milte zusammentritt, die der vita activa zugeordnet sind.¹⁹³ Ganz in der  Belege bei Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), Anhang II/1 f.  Krieger (Kanzler), S. 80 f., bewertet die Übersetzung gewissermaßen als Verlegenheitslösung, weil dem Kanzler „bei der Konzeption des Gedichtes der eine und andere Begriff entfallen“ sei, zugleich verweist er aber auf die Bedeutung dieses speziellen ‚dazuerfundenen‘ Begriffes im Kontext des Sangspruchs: „Als Vertreter der Menschheit bittet er den heiligen Geist um rechte milte, die er allenthalben so bitter vermisst“; auch Zach (Kanzler), S. 226 f., hebt die wohl gewollte Bedeutsamkeit des Begriffes im Rahmen der Gattung hervor.  Gegenüber der Ordnung bei Jesaja sind die Gaben rat und kunst vertauscht; Thomas von Aquin setzt Wissenschaft vor Rat an dritte Stelle, um Korrespondenz mit den intellektuellen Tugenden zu sichern: […] ita etiam in donis sapientia et intellectus, scientia et consilium praeferuntur pietati et fortitudini et timori (Thomas I–II, 68,7), vgl. Ulrich Horst: Die Gaben des Heiligen Geistes nach Thomas von Aquin. Berlin 2001, S. 91; demgegenüber tauscht der Kanzler aber wiederum consilium und pietas sowie intellectus und scientia.  Ursprünglich werden nur sapientia und intellectus der vita contemplativa zugeordnet, später tritt dann consilium dazu – ein prominentes Beispiel dafür aus der volkssprachlichen Rezeption der Gabenlehre ist das St. Trudperter Hohelied (vgl. dazu Hans-Jörg Spitz: ‚Spiegel der Bräute Gottes‘. Das Modell der vita activa und vita contemplativa als strukturierendes Prinzip im St. Trudperter Hohen

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2 Analysen

Fluchtlinie sangspruchdichterischer Interessen wird die Gabe der kunst damit gewissermaßen transzendiert, die Gabe des rat[es] dagegen pragmatisiert.¹⁹⁴ Bei dieser Umstellung koppelt der Kanzler rat zudem mit milte und etabliert sie so als Begriffspaar – und zwar eines, das sich als programmatisch für das Verhältnis von Sangspruchdichter und Gönner verstehen lässt. Beide Begriffe entwickeln durch ihre neue nahe Zusammenstellung eine Polysemie zwischen aktiver und passiver Bedeutung. rat changiert mithin zwischen ‚Ratschlag‘ einerseits und ‚Hilfe‘ – auch in einem materiellen Sinne – andererseits.¹⁹⁵ Der Sprecher bittet also einerseits um die Eingebung guten Rates, den auch er dann geben kann (aktiv), andererseits (passiv) bittet er für sich selbst um Hilfe, auch im Sinne finanzieller Abhilfe. Gleiches gilt hier für die Bitte um milte, die einerseits eine Bitte um Nächstenliebe als Qualität für den Sprecher ist, aber sich auch heischend als Bitte um Freigebigkeit lesen lässt, die ihm (von außen) zukommen möge. Noch auffälliger ist die Triade, die beim Kanzler die Geistesgaben witze, kunst und vernunst (Str. 3, V. 15 f., 18) bündelt. Diese drei Begriffe werden als Schutz gegen die Sündhaftigkeit inszeniert, lassen sich aber – aus dem Mund eines Sangspruchdichters – auch poetologisch verstehen, denn sie begegnen in dieser Gattung immer wieder als Kernkompetenzen der Dichtkunst.¹⁹⁶ Diese Triade wird als Schutz gegen die Anfechtungen der Welt inszeniert, gerade durch die poetologische Dimension der Begriffe

Lied. In: Kurt Ruh (Hg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984. Stuttgart 1986, S. 481–493, hier S. 489; Tillmanns [Gaben des Hl. Geistes], S. 15). Thomas von Aquin dagegen systematisiert die dona nach Strebekräften (via appetitiva) und Vernunft (ratione), dabei gehören sapientia, intellectus, consilium und scientia letzterer zu, pietas, fortitudo und timor den ersteren, vgl. Horst (Gaben des Hl. Geistes), S. 86 f. Auf die Kanzlersche Abweichung gegenüber der Tetraden-Triaden-Einteilung bei Thomas von Aquin verweisen bereits Krieger (Kanzler), S. 80, und Zach (Kanzler), S. 225.  Das greift vielleicht auch ein Selbstverständnis auf, wie es bei den Mendikanten und im Dominikanerorden zu beobachten ist, wo „Lehr- und Predigtauftrag (contemplata aliis tradere) im Zentrum einer vita activa [stehen], die als notwendiger intellektueller Ausdruck der vita contemplativa begriffen ist (Thomas von Aquin S. th. II-II q. 188 a. 6 resp. und III q. 40 a. 1 ad 2)“, vgl. Niklaus Largier: [Art.] Vita activa/Vita contemplativa. In: LexMA, Bd. 8, Sp. 1752–1754, hier Sp. 1754.  Auch etwa das St. Trudperter Hohelied interpretiert consilium als die „Zuwendung zum Nächsten“ befördernd, verschränkt sie mithin mit der Nächstenliebe, vgl. Spitz (‚Spiegel der Bräute Gottes‘), S. 489; insofern verweist die Kanzlersche Koppelung der Gaben rat und milte auf die vorangehende Strophe zwei zurück, die den Kreuzestod Christi ebenfalls als Verschränkung von Freigebigkeit und Nächstenliebe profiliert.  Auf eine potenzielle poetologische Doppelbödigkeit des Begriffes kunst verweist schon Krieger (Kanzler), S. 81: „hier hat er [der Kanzler] sicher an sich und seine Mission als Künstler gedacht“; auch Zach (Kanzler), S. 227, hebt hervor, dass darin das Selbstverständnis als kunstrîcher aufscheine; ähnlich Nowak (Gebetslyrik), S. 251 f., der darauf verweist, dass die Übersetzung scientia mit kunst zwar geläufig sei (das zeigen auch die Belege bei Tillmanns (Gaben des Hl. Geistes), Anhang II/1–4), „im Zusammenhang mit der Kunstanschauung gerade der gelehrten ‚Spruchdichter‘“ aber durchaus die „[er zitiert hier Krieger, Anm. d. Verf.] ‚Mission als Künstler‘“ betreffen könne; ebenso könne sich die Bitte um vernunst in diesem Sinne „stärker auf die Fähigkeit des Dichters beziehen, die wârheit der göttlichen Geheimnisse zu erkennen“. Dass die kunst hier gegen jede Tradition unmittelbar hinter die höchste Gabe der vernunst rückt, stärkt meines Erachtens diese Interpretation.

2.2.1 Ton II, Strophe 1–3 – Trinitätspreis (1Kanz/2/1–3)

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erscheint die Bitte aber nicht nur als Heilssorge, sondern auch als invocatio. Diesen Eindruck verstärkt zudem die Metaphorik, die diese (Geistes‐)Gaben als schilte profiliert, mit deren Hilfe das Sprecher-Ich meint, dass ihn kein vient mehr entsitzen könne. Der Feind – das sind primär natürlich Laster, Sünde, Anfechtung. Der Begriff vient alludiert aber gerade im vorliegenden Kontext agonistischer Metaphern, die an Sängerfehden erinnern, auch den Dichterkonkurrenten. Die Terminologie macht mithin den Heilssorge-Diskurs auf einen poetologischen durchlässig. Diese poetologische Überblendung zeigt sich auch am konstatierenden letzten Vers, so hab ich gotes gunst (Str. 3, V. 19). Das profiliert die Sieben Gaben des Heiligen Geistes vordergründig ganz traditionell als Weg zu Gott, aber wenn diese Gaben zugleich auch poetologische sind, zeichnet sich damit zusätzlich ein Verständnis der Dichtkunst als göttliche Gabe und Gunst ab. kunst, vernunst und witze haben insofern ihren Ursprung in Gott, der sie zu geben vermag, womit die Strophe den Bogen zurück zur Eröffnungsstrophe schlägt, die mit Gottes Schöpfen aus dem wort, seinem hohe[n] list und seiner meisterschaft eine poetologische Deutungsdimension insinuiert.¹⁹⁷

2.2.1.4 Die Strophenfolge 1–3 als Experiment und Vorbild Die differenzierte Analyse der Strophenfolge hat gezeigt, dass diese scheinbar stereotypen gebetslyrischen Strophen des Kanzlers unter intertextueller Perspektive eine spezifische Aussagekraft gewinnen. Sie sind durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit geistlichen Texten und Formen ausgezeichnet, die sie zugleich für die eigene Gattung (um‐)funktionalisieren. Die Bezugnahmen auf diese Prätexte finden dabei auf ganz verschiedenen (Referenz‐)Ebenen statt. Als Gattungsreferenz etwa lässt sich die Dreistrophigkeit verstehen, die sich der geschlossenen mehrstrophigen Form geistlicher (lateinischer) Liedtradition verdankt,¹⁹⁸ wobei diese Dreistrophigkeit auf einer ganz pragmatischen Ebene zudem eine breitere Ausführung des Themas ermöglicht. Thematisch referiert die Strophenfolge einerseits breit auf theologisches Schrifttum und gelehrte Wissensbestände (sowohl auf Einzeltexte, als auch auf theologische Diskurse), indem sie das Credo alludiert, Bibelstellen anzitiert und gebethaft im theologisch-gelehrten Thema der Sieben Gaben des Heiligen Geistes kulminiert.¹⁹⁹ Zugleich wird diese

 Diese Verschränkung manifestiert sich auch darin, dass das Sprecher-Ich die Sieben Gaben des Heiligen Geistes als lere bezeichnet, also auch hier die Vermittlung göttlicher Weisheit mit einem Begriff sangspruchdichterischer Selbstbeschreibung erfasst: erlu̍ hter aller herzen,/ mit diner lere erlu̍ hte mich,/ daz mich der helle smerzen/ an minem ende machen vri/ din gabe sibenvalt, V. 6–10.  Vgl. dazu auch Nowak (Gebetslyrik), S. 9 f.  Gerade die Verbindung von Lobpreis und Bitte greift Traditionen des biblisch-christlichen Gebets auf, wie sie schon in den Psalmen angelegt und später auch im Hymnus ausgeführt sind, vgl. Nowak (Gebetslyrik), S. 10; Nowak differenziert dabei die Gebetslyrik der Sangspruchdichter von ihrer religiösen Lyrik lehrhaften und paränetischen Charakters (der ‚eigentlichen Spruchdichtung‘); zugleich verweist er darauf, dass sich diese beiden Ausprägungen geistlicher Dichtung nicht immer scharf gegeneinander abgrenzen lassen – schon in der klerikalen Tradition. Als Beispiele führt er einerseits die Hymnenhaftigkeit einiger Abschnitte der Weisheitsbücher des Alten Testaments an und verweist

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2 Analysen

geistliche Unterweisung in der sangspruchdichterischen Aneignung durchlässig auf Diskurse der eigenen Gattung, denn mittels dieser Katechese werden prominente Themen der Sangspruchdichtung exponiert, indem die vorgängigen Texte und Motive pointiert umkontextualisiert werden. Damit funktionalisieren diese Strophen die Katechese subkutan für eigene Interessen (Heische) und machen sie nutzbar für eine poetologische Selbstthematisierung. Exemplarisch zeigt sich das auch am Eingang der dritten Strophe: Die hier vorgebrachte Bitte um Reinigung von Sünde und Erleuchtung des Geistes ist einerseits ein typischer Exordialtopos, wie er häufig am Anfang eines (literarischen) Vortrags steht, zugleich fungiert die persönliche Heilssorge des hier sprechenden conversio-bereiten Sünder-Ichs katechetisch als Identifikationsangebot für das christliche Kollektiv. Bei all dem spiegelt die hybride Verfasstheit des Liedes aber auch ein Ausprobieren, einen Versuch, eine neue Form für ein lehrhaft-rückversicherndes Sprechen über Gott zu schaffen beziehungsweise zu finden. – Und das offenbar mit Erfolg, denn es ist gerade dieser Ton des Kanzlers, den die Meistersänger später reich rezipieren.²⁰⁰ Das wiederum überrascht nicht, denn das Lied weist in zweifacher Hinsicht auf genau das voraus, was sich im Meistergesang konsequent durchsetzt, nämlich erstens Barbildung, also eine echte Strophenzusammengehörigkeit konzeptionell aufeinander bezogener Strophen, und zweitens geistliche Unterweisung durch Laien.²⁰¹ Die spezifisch sangspruchdichterische Prägung, bei der beim Kanzler zu fragen wäre, ob sie ausschließlich Exposition eines Selbstanspruches oder auch Rückgriff auf Vertrautes im Findungsprozess ist, geht in den stereotypen Liedern des Meistergesangs allerdings zugunsten einer Dominanz von Katechese und Paränese verloren.

2.2.2 Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6) Die folgenden drei Strophen, 1Kanz/2/4–6, stehen nicht in derselben Weise zusammen wie die vorangehenden, bilden also keinen echten Liedzusammenhang, dennoch erscheinen sie thematisch, motivisch und hinsichtlich ihrer Referenzstrategien deutlich aufeinander beziehbar, wie ich im Anschluss an die Einzelanalysen aller drei Texte zeigen möchte.

andererseits darauf, dass christliche Hymnendichtung von Anfang an starke dogmatische Tendenzen zeige, vgl. ebd., S. 10 f.; auch im vorgestellten Dreierbar des Kanzlers verbinden sich, wie gezeigt, gebethaftes Sprechen und Lehre/Paränese.  Im Goldenen Ton sind 17 jünger verfasste Meistergesang-Bare geistlichen Inhalts überliefert.  Auch Kornrumpf (Kanzler), Sp. 989, hält diesen ‚geistlichen Bar‘ (und besonders den Schöpferpreis in der ersten Strophe) für ausschlaggebend dafür, dass die Meistersinger gerade diesen Ton des Kanzlers rezipieren.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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2.2.2.1 Strophe 4 – Vereinbarkeit von Gut und Ehre (1Kanz/2/4) C Kanz  Mich wundert harte sere, daz maniger ere hat ane gt unde maniger gt an ere. doh der beidu̍ halten kan,  der lebt in eren schine.

B₃ Kanz  Mich muͤ jet harte sere, daz maneger hat ere ane gt unde maneger gt an ere. doch swer du̍ baide haben kan,  der lebet in eren schin.

ere ane gt wol tu̍ ret, an ere gt dur valschen mt die ere gar verlu̍ ret. ere unde gt, swer die wil han,  der sol gt unde erhaft sin.

ere ane gt wol tu̍ ret, an ere gt durch valschen mt die ere gar verlu̍ ret. ere unde gt, swer du̍ wil han,  der sol gt unde erhaft sin.

gt er[ ] gegen got wesen sol unde erhaft gegen der welte; dis[ ] leben mag im fuͤ gen wol, daz in kein bederber schelte.  swer gt vu̍ r ere minnet, sin gt an ere gar zergat. swer aber sich so versinnet, daz er dur gt niht ere enlat, des armt wirt wol rat.

gt er gen got ouch wesen sol unde erhaft gen der welte; diz leben mag im fromen wol, dz in kain boͤ ser schelte.  swer gt fu̍ r ere minnet, sin gt an ere gar zergat. swer aber sich des versinnet, dz er sin gt durch ere hat, des armt wirt gt rat.

Die vierte Strophe des Goldenen Tones diskutiert das Verhältnis von gt und ere, wobei sie diese Begriffe durch ihre leitmotivische Wiederholung pointiert hervorhebt.²⁰² Da die beiden Begriffe auch in der für die Sangspruchdichtung konstitutiven Formel des guot umbe êre-Nehmens eng verbunden sind und daneben sowohl in ihrer (Un‐)Vereinbarkeit als auch jeder für sich ein zentrales Thema der Sangspruchdichter darstellen, verweist der Kanzler schon mit ihrer gemeinsamen Thematisierung intertextuell auf die Gattung. Das Sänger-Ich eröffnet die Strophe aufmerksamkeitsheischend mit der im Sangspruch häufigen Formel mich wundert ²⁰³ und zwar wundert das Sänger-Ich harte sere die Weltbeobachtung, dass Ansehen und Besitz so oft getrennt voneinander aufträten: Viele gebe es nämlich, die über gt verfügten, aber nicht über ere, aber ebenso diejenigen, die über ere, aber nicht über gt verfügten (V. 1–3).²⁰⁴ In eren schine aber lebe nur, wer beide, gt und ere, zu halten, also zu besitzen und zu bewahren

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 169 f.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 166.  Das präsupponiert eine (andeutungsweise kausale) Zusammengehörigkeit der beiden: Wer Ansehen hat, sollte genau deswegen auch über Besitz verfügen, und wer Besitz hat, sollte sich des Ansehens befleißigen, um des Besitzes würdig zu sein.

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vermöge (V. 4 f.). Die eingangs genannten Typen ‚nur ere‘ beziehungsweise ‚nur gt‘ werden damit dezidiert als defizitär ausgewiesen.²⁰⁵ Diese sentenzhafte conclusio differenziert verschiedene Arten von ere, wenn sie präsupponiert, dass derjenige, der (nur) ere habe, deswegen noch nicht im Glanz der ere lebe. Die Formulierung eren schin, Glanz des Ansehens, stellt diese ‚zweite‘ Form der ere als etwas äußerlich Sichtbares aus. Damit wird eine Unterscheidung etabliert zwischen innerer ere (einer vorbildlichen inneren Einstellung) und äußerer ere (dem Ansehen in der Gesellschaft) und diese in Beziehung zueinander gestellt:²⁰⁶ Nur wer innere ere und Besitz hat, verfügt auch über äußere ere. ²⁰⁷ Die zum Mitbeobachten einladende Sprechhaltung des Strophenbeginns weicht mit dieser sentenzhaften Setzung einem allwissend-autoritativen Sprechgestus, erfordert aber dennoch weiterhin eine aufmerksame differenzierte Rezeption, um das folgende Spiel mit der Vielschichtigkeit und Polysemie der Leitbegriffe nachzuvollziehen. Noch deutlicher wird diese belehrende Sprechhaltung im zweiten Stollen, in dem die eingangs aufgerufenen drei Typen nun noch einmal aufgegriffen und nacheinander didaktisch ausdifferenzierend erläutert werden: ere ohne gt, heißt es nun, veredele als innere richtige Einstellung den Menschen, mache ihn kostbar: ere ane gt wol tu̍ ret (V. 6). Besitz ohne (innere) ere dagegen führe aufgrund der falschen inneren Einstellung zu einem vollständigen Verlust der (äußeren) ere: an ere gt dur valschen mt/ die ere gar verlu̍ ret (V. 7 f).²⁰⁸ Der zweite Stollen spielt darin mit Begriffen der Werthaftigkeit, er benutzt genuin materielle Wertbegriffe als Metaphern und ‚ethisiert‘ sie. Denn gesagt wird, dass die (innere) ere trotz Mangel an Besitz den Menschen

 Das „Nebeneinander von Reichtum und schlechter Gesinnung (oft näherhin als Geiz benannt) wird in der didaktischen Literatur häufig kritisiert und guter, tugendhafter Gesinnung (oft als Freigebigkeit verstanden) gegenübergestellt“, vgl. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 569 (hier auch Verweis auf weitere Belegstellen zu dieser Thematik in Thomasins von Zerklære Welschem Gast und der Sangspruchdichtung); vgl. dazu auch Berenike Krause: Die milte-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Darstellungsweisen und Argumentationsstrategien. Frankfurt a. M. u. a. 2005, hier S. 62–64, 173–177. Rainer Ilgner: Scheltstrophen in der mittelhochdeutschen ‚Spruchdichtung‘ nach Walther. Diss. Bonn 1975, hier S. 83, verweist darauf, dass in der Sangspruchdichtung als „Wesensmerkmal von Falschheit und Untreue […] immer wieder die Divergenz zwischen dem äußerlichen Schein und der inneren Einstellung“ erscheine. Der Kanzler behandelt das Thema im Folgenden eher von der anderen Seite her, vom (ethischen) Reichtum der Armen aus, s. u.  Darauf, dass die êre im Laufe des 13. Jahrhunderts in der Sangspruchdichtung zwar weiterhin primär, aber nicht mehr ausschließlich die äußerliche Anerkennung meint, sondern ebenso eine innere Norm, verweist auch Dorothea Klein: Kap. V. Thematische Kerne 2. Ethik und Pragmatik für den Adel. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 224–239, hier S. 230 f.  Dass hier eine Aufspaltung in einen ‚inneren‘ und einen ‚äußeren‘ Begriff von êre vorliegt, thematisieren auch Krieger (Kanzler), S. 90 f., und Zach (Kanzler), S. 167.  Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 77, meint, „der Spruch [trete] hier auf der Stelle […] und führ[e] nur erklärend für den Ehrverlust den valschen muot ein“, wiederhole also nur das eingangs Gesagte; tatsächlich erläutert aber doch gerade der valsche mt, warum die ere dem Begüterten zerfließen kann und vereindeutigt erst die zuvor in der Paronomasie spielerisch verrätselte Aufspaltung des ere-Begriffs in einen inneren (Ehrhaftigkeit) und einen äußeren (Ansehen).

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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tu̍ re[ ], also zu einer ‚Wertsteigerung‘ führe, während Besitz in den Händen eines Menschen mit einer schlechten inneren Einstellung dessen ere gar verlu̍ re[ ], also zu einem ‚Wertverlust‘ führe. Mit der oxymorischen Behauptung, dass Mittellosigkeit den Wert steigern, während Besitz zum Verlust führen könne, eröffnet das Sänger-Ich zugleich einen Diskurs über verschiedene Arten von Werthaftigkeit und agiert ethischen Wert gegen materiellen Wert aus, die bei den beiden dargestellten defizitären Typen (ere ohne gt, gt ohne ere) genau über Kreuz liegen. Diese Ethisierung wertbezogener Begrifflichkeiten bereitet die im Folgenden ausgespielte Polysemie des Begriffes gt vor: ere unde gt, swer die wil han,/ der sol gt unde erhaft sin. (V. 9 f.). Wer also dem dritten eingangs genannten Typus zugehören, das heißt über (äußere) ere und gt verfügen möchte, der solle sich – so heißt es in chiastischer Verkehrung – gt (vorbildlich) und erhaft (von innen heraus ehrenvoll) verhalten.²⁰⁹ Diese sentenzhafte Aussage scheint in einer gewissen Spannung zur anfänglichen Behauptung zu stehen, dass es ehrenvolle Menschen ohne Besitz gebe, wenn das Sprecher-Ich nun konstatiert, dass vorbildliches Verhalten, das doch aus innerer ere zwangsläufig hervorgehen muss, grundsätzlich zu gt und ere führe. Gerade durch diese Spannung aber, durch diese Widersprüchlichkeit, fangen die Begriffe gt und ere an, in ihrer Mehrdeutigkeit zu oszillieren. Der Abgesang erläutert im Folgenden die handlungsanweisende Sentenz, die den zweiten Stollen abschließt: gt soll der Mensch gegenüber Gott sein, erhaft gegenüber der Welt. Dann, so erläutert das Sänger-Ich, könne ihm zukommen, dass ihn kein bederber, kein Vortrefflicher, Unbescholtener, schelte (V. 10–14). Wer sich also Gott und der Welt gegenüber durch vorbildliches Verhalten auszeichne, dem werde (von außen) eine gewisse Achtung zuteil. Damit hebt das Sänger-Ich auch hervor, dass hinsichtlich der Bewertung des Verhaltens nur das Urteil bederber Menschen relevant ist. Die Anerkennung (äußerer) ere ist insofern nur dann wertvoll, wenn sie durch diejenigen erfolgt, die selbst moralisch vorbildlich, innerlich erhaft sind, was das Zusprechen von Ansehen exklusiviert und insofern unterschwellig auch den Selbstanspruch des Sänger-Ichs offenbart. Wer aber die Werte falsch hierarchisiere, nämlich gt vu̍ r ere minne[ ], dem werde sin gt an ere gar zergehen (V. 15 f.).²¹⁰ Deutlich wird hier eine Reihenfolge der Werte etabliert, die nicht zuletzt in der Fluchtlinie sangspruchdichterischer Interessen steht: Wer das gt nicht mehr als die ere liebt, der ist auch bereit, es für die ere zu geben. Und diese ere wiederum wird von den bederben Sangspruchdichtern, welche die innere ere darin erkennen, dass ihnen jenes gt durch milte zuteilwird, durch ihren Lobgesang verbreitet und sie generieren damit äußere ere, Ansehen (guot umbe êre nehmen).

 Vgl. dazu auch: Franz H. Bäuml: „guot umb êre nemen“ and minstrel ethics. In: The Journal of English and German Philology 59 (1960), S. 173–183, hier S. 180 f., der diese Textstelle als Beleg anführt, dass die in der Formel des guot umbe êre nemens zusammengestellten Begriffe einen ethischen Mehrwert entwickeln, so dass guot mehr als Besitz und êre mehr als zugesprochenes Lob wird.  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 77 f.

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Etwas dunkel bleibt dabei vorerst aber die drohende Behauptung, dem ehrlosen geizigen Habgierigen werde das gt verderben.²¹¹ Nach diesem warnenden Verweis auf die negativen Folgen einer falschen Hierarchisierung der Werte schließt die Strophe mit dem positiven Gegenentwurf: swer aber sich so versinnet,/ daz er dur gt niht ere enlat,/ des armt wirt wol rat (V. 17–19).²¹² Die ‚richtige‘ Reihenfolge der Werte zu erkennen und danach zu handeln, weist dieser Rat des Sänger-Ichs damit als Akt kluger Überlegung aus (versinnen) und stellt in Aussicht, dass der Bedürftigkeit desjenigen, der dem gt nicht seine vorbildliche innere Einstellung (ere) opfere, abgeholfen werde. Der Abgesang insistiert mithin auf dem, was der Spruch durchgehend propagiert, nämlich die innere ere zu bewahren, die sich durch vorbildliches Verhalten gegen Gott und die Welt äußere. Versteht man die daraus abgeleiteten ‚Versprechen‘ des Abgesangs, dass dem ehrlosen Reichen der Besitz zerfließen, während er dem ehrhaften Armen zukommen werde, als materiell gedachte Faktenaussage, scheinen sie unbefriedigend, weil sie unkonkret bleiben und nicht dargelegt wird, wie dies geschehen sollte. Zudem steht das Versprechen, dass der ehrhafte reich werde, weiterhin in erläuterungsbedürftiger Spannung zur Behauptung des ersten Stollens, dass nicht alle erhaften Menschen über Besitz verfügten. Huber interpretiert diese Aussagen daher als durchlässig auf eine „ethische Wertaussage, für die der Reichtum des Bösen kein wirkliches Gut und die Armut des Guten im Grunde keine ist“.²¹³ Das ist sicher richtig, ich meine aber, dass sich der tatsächliche Sinn erst vollständig erschließt, wenn man den Spruch intertextuell vor dem Hintergrund der Gattungstradition beziehungsweise seiner Prätexte betrachtet. Wie eingangs bereits erwähnt, ist die (problematische) Zusammengehörigkeit von guot und êre ein vielbehandeltes Thema der Sangspruchdichtung seit ihren Anfängen.²¹⁴ Schon bei Spervogel ist die vom Kanzler proklamierte Hierarchie der Werte vorgeprägt: erst tump, swer guot vor êren spart (1Sperv/8, V. 3),²¹⁵ und: swem daz guot ze herzen gât, der gewinnet niemer êre (1Sperv/9,V. 5), wobei êre hier vor allem äußeres Ansehen zu meinen scheint.²¹⁶

 Möglicherweise ließe es sich als Anspielung auf die im Sprichwort verbreitete Behauptung verstehen, dass unrechtmäßig gewonnenes Gut keinen Bestand habe. Die Formulierung weist aber keine Nähe zu den belegten Sprichwörtern auf, vgl. TPMA, ‚Gut‘, Bd. 5, S. 310.  Die armt des Vorbildlichen steht dabei in paronomastischer Spielerei dem valschen mt des Ehrlosen gegenüber.  Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 78.  Das Thema (und die Polysemie von gt) finden sich aber auch schon ausführlich etwa bei Freidank, V. 57,1–25.  Hier und im Folgenden zit. nach MF.  Das deutet sich auch implizit im Nachsatz des Sänger-Ichs an: jô enrede ich ez niht dur mînen vromen, wan daz ich ez alle lêre (V. 6, zit. nach MF), dessen persönliches pekuniäres Interesse mit diesem Dementi umso deutlicher Thema wird (und damit verbunden eine Logik des guot umbe êreNehmens).

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Besonders prominent wird die guot und êre-Diskussion schließlich bei Walther, der das Verhältnis der beiden Werte mehrfach prominent thematisiert.²¹⁷ Dabei lässt sich besonders die erste Strophe des Wiener Hoftons (1WaltV/7/1 [L. 20,16]) als Anspielungshorizont des Kanzlers verstehen. Diese Strophe Walthers hebt mit einem vorgeblichen Gottespreis an, der die staunenswerte Schöpfung ex nihilo und die gâben Gottes rühmt (V. 1–3),²¹⁸ dann aber unerwartet als eines dieser wunder[ ] in der werlte die Tatsache ausstellt, dass Gott den einen schœnen sin gebe, dem andern guot und den gewin,/ daz er sich mit sîn selbes guote swachet (V. 4–6, zit. nach Schweikle).²¹⁹ In Bezug auf die Strophe des Kanzlers lassen sich hier gleich mehrere Parallelen ziehen: Zum einen inszeniert auch Walthers Strophe, wie die des Kanzlers, die nachfolgenden Beobachtungen als verwunderlich ([w]az wunders in der werlte vert, V. 1; freilich spielt das mit dem Begriffsspektrum des Wortes wunder ²²⁰). Zum anderen stellt auch Walther hier im Folgenden, wie der Kanzler, zwei Typen einander gegenüber, nämlich denjenigen, dem Gott schœnen sin gegeben hat, also eine innere Qualität, und denjenigen, dem er Besitz gegeben hat, womit dieser sich jedoch selbst schade. Deutlich ähneln diese beiden Typen denjenigen des Kanzlers, wobei vorerst noch die Kanzlersche Korrelation von Vorbildlichkeit und Besitzlosigkeit ausbleibt. Auch bei Walther findet sich aber das rhetorische Spiel mit einer Verkehrung materiell-wertbezogener Begriffe durch ihre Metaphorisierung, wenn er es ironisch als ‚gewin‘ bezeichnet, dass sich der Reiche mit seinem Besitz schade (dem andern guot und den gewin,/ daz er sich mit sîn selbes guote swachet, V. 5 f.). Im Abgesang hierarchisiert die Walthersche Strophe nun die beiden Typen, wobei er sie genauso profiliert wie die Strophe des Kanzlers und ebenfalls die Polysemie des

 Schon im Reichston (1WaltV/1/1 [L. 8,4]) beklagt Walther, dass diese Werte – zumindest unter derzeitigen Weltumständen – geradezu unvereinbar seien: êre unde varnde guot,/ der ietwederz dem andern schaden tuot, und erst recht nicht mit dem Erwerb von gotes hulde zusammen in ein Herz gelangen könnten (V. 11–19, zit. nach Schweikle); auch Bäuml (guot umb êre nemen), S. 180, verweist hinsichtlich vorliegender Strophe des Kanzlers auf Walthers Reichston. Im Unmutston (1WaltV/9/1 [L. 31,13]) problematisiert Walther, dass die richtige Hierarchie von guot und êre sich verkehrt habe, weil es den Leuten gleichgültig sei, wie sie Besitz errängen. Früher sei êre immer vor guot gegangen, mittlerweile aber sei daz guot sô hêre (V. 6), dass es sogar in den Rat des Königs gewalteclîche einziehe (V. 7 f.), was als krisenhaft für das Reich bewertet wird (V. 9). Daher wird das guot in der Schlusspointe in einem Spiel mit der Polysemie als nicht guot (gut) getadelt (V. 10). Sowohl in der Hierarchisierung der Begriffe guot und êre als auch im Spiel mit ihrer Polysemie, das letztlich den Wert ethischer Kategorien hervorhebt, zeigt sich hier eine deutliche Nähe zur Kanzlerschen Bearbeitung des Themas.  Gerade was die Reihenfolge der Kanzler-Strophen in Handschrift C angeht, stellt das strophenübergreifend eine interessante Parallele her, da der Strophe ja gerade die beim Kanzler seltenen geistlichen Strophen mit Schöpferpreis und Bitte um die Sieben Gaben des Heiligen Geistes vorangehen.  Vgl. S. 116, Anm. 223.  Im Kontext göttlicher Schöpfung scheint das vorerst ‚Staunenswertes‘ zu meinen, wird in Anbetracht der anschließend geäußerten Gefahr einer potenziellen Korruption durch die göttlich gegebene Gabe des Besitzes aber rückblickend eher ‚Verwunderliches‘.

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Begriffes guot bespielt:²²¹ armen man mit guoten sinnen/ sol man für den rîchen minnen,/ ob er êren niht engert (V. 7–9). Das Sänger-Ich fordert mithin, dem mittellosen Vorbildlichen den Vorzug vor dem reichen Ehrlosen zu geben, womit er wie der Kanzler klar den ethischen Wert dem materiellen überordnet. Zugleich macht er diese hierarchisierende Einschätzung zu einer Handlungsanweisung (sol man […] minnen, V. 8), womit er die Rezipienten zum richtigen Urteil erzieht – und mit der Hierarchisierung implizit auch die Gemeinten zum richtigen Verhalten anleitet. Das Sänger-Ich propagiert hier mithin eine Loslösung vom Primat des Materiellen und fordert die gesellschaftliche Anerkennung (êre) ethischer Vorbildlichkeit unabhängig vom Besitz ein.²²² Abschließend steht bei Walther, was beim Kanzler positiv als Belehrung formuliert wird (ere unde gt, swer die wil han,/ der sol gt unde erhaft sin./ gt er gegen got wesen sol/ unde erhaft gegen der welte, 1Kanz/2/4, V. 9–12), als Beginn einer pessimistischen Zeitklage, wenn er bedauert, dass die Menschen nicht mehr nach gotes hulde und êre strebten (1WaltV/7/1, V. 10 f.). Wer sich dergestalt dem Besitz verschreibe, dass er für die ethischen Werte wertlos werde (swer sich ze guote alsô verpflihtet,/ daz er beider [gotes huld und êre, Anm. d. Verf.] wirt entwert,²²³ 1WaltV/7/1, V. 12 f.), dem möge hie noch dort niht lônes mêre zukommen als eben dieser (eitle) innerweltliche Besitz (V. 12–15). Das Sänger-Ich wünscht den Raffgierigen also, dass ihnen zur Strafe für ihre Habsucht im Dies- und Jenseits nicht mehr zukommen möge als irdischer Besitz allein. Indem die Strophe so den materiellen Besitz dem jenseitigen lôn gegenüberstellt, also der ewigen Seligkeit, entwertet sie ihn radikal und öffnet sich auf eine HeilssorgeThematik hin. Gerade diese Pointe erhellt den vorausdeutungshaften Schluss der Kanzlerstrophe, der den Ehrlosen den Verlust ihres Besitzes und den Ehrenvollen Abhilfe ihrer Bedürftigkeit in Aussicht stellt. Mit dem Waltherschen Prätext wird dessen Schlusspointe zum Subtext der Kanzlerschen conclusio und transzendiert damit den Begriff des gtes. Wenn gt dergestalt vom irdischen Besitz zum ewigen lôn wird, verspricht die Kanzlersche Handlungsmaxime weniger eine unbestimmte, irgendwann eintretende innerweltliche materielle Gerechtigkeitsausschüttung für den Ehrenhaften und erschöpft sich auch nicht im unbefriedigenden Trost einer ethisierenden moralischen Umwertung von Besitz und Armut, sondern stellt ihm eine tatsächliche konkrete Entlohnung in Aussicht, nämlich eine Entlohnung im Jenseits. Und genau damit erklärt sich auch, warum dem reichen Ehrlosen der Besitz zerrinnen werde, denn seinem irdischem gt kommt im Jenseits kein Wert zu, sein valscher muot schließt ihm dort keine Türen auf.

 Die Polysemie von guot wird aber überhaupt oft bespielt in der Sangspruchdichtung, so etwa in Marn/7/3; 1Mei/17/14; 1Unv/1/3; 1WaltV/9/1 (L. 31,13); auch später bei Frauenlob 1Frau/2/61; 1Frau/2/110,2.  Vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 476 f.  Hier zeigt sich erneut das Spiel mit Begriffen der Werthaftigkeit, das sich auch beim Kanzler beobachten lässt, bei Walther an dieser Stelle aber noch gesteigert erscheint durch die zusätzliche Adnominatio des Reimwortes gewert (V. 15).

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2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Die Kanzlersche Handlungsanweisung, um gt und ere zu erlangen, gt gegen Gott und erhaft gegen die welt zu sein (V. 11 f.), verspricht insofern, dass die beiden Instanzen jeweils genau das zurückgeben, was man ihnen gibt: Die welte, die Gesellschaft, gibt für das ehrenhafte Verhalten die ere, die äußere Anerkennung, zurück; Gott gibt für das gt-Sein ihm gegenüber gt, Gut und Güte, in Form des Seelenheils zurück. Mit dieser dritten Umwertung des Begriffs gt, für die das Spiel mit seiner Polysemie, seine Ethisierung, zuvor schon sensibilisiert, löst die Strophe des Kanzlers die Diskussion um die Vereinbarkeit von gt und ere auf, weil das Streben nach diesen Werten mit der Entmaterialisierung und Transzendierung des gtes in eins fällt. Auffällige textliche und thematische Übereinstimmungen zur Strophe des Kanzlers zeigen auch einige Sangsprüche aus seinem näheren zeitlichen Umfeld: Der Meißner etwa diskutiert die Relevanz der richtigen inneren Einstellung und problematisiert die Fruchtlosigkeit unrechtmäßig gewonnenen Besitzes, der – hier schließt die Strophe mit einer Sprichwort-Weisheit – selten noch den dritten Erben erfreue (1Mei/17/14).²²⁴ Besonders durch den dichten Gebrauch derselben rhetorischen Mittel, wie sie in Walthers Strophen angelegt und auch beim Kanzler zu beobachten waren (Adnominatio, Polysemie von gt, Wiederholung der Leitbegriffe [hier anaphorisch, was einen gewissen Überbietungsgestus anzeigt]), scheinen die Strophen aufeinander bezogen.²²⁵ Beim Litschauer wird das Thema dagegen dezidiert auf eine Herrenlehre hin zugespitzt (1Lit/2/1). In ähnlichen Formulierungen wie der Kanzler propagiert er eine ‚richtige‘ Hierarchie der Werte,²²⁶ die – wie er im Gestus einer Zeitklage moniert – bei den jungen herren nicht mehr stimme: Die jungen herren habent eren sich erwegen,/ sie minnent vür die ere das guot;/ swelich herre hat den muot,/ der kan niht ganzen pris bejagen (V. 5–8, hier und im Folgenden zit. nach HMS). Dabei gewinnt er dem Thema dieser Hierarchisierung eine eigene Pointe ab, indem er sie durch göttliches Gebot autorisiert (Got selbe daz gebot, daz edele herren solten ere minnen, V. 9). Mit der Begriffsdefinition guot ist guot daz man vor êren niht enspart (V. 1, n III 29, hier und im Folgenden zit. nach KLD), stellt sich auch eine anonym überlieferte Strophe aus der Niederrheinischen Liederhandschrift²²⁷ in diese Reihe. Die Polysemie von guot, die in der fast durchgehenden ‚guot ist guot‘-Anapher dieser Strophe plakativ und stereotyp wirkt, exponiert zugleich das zentrale Thema, nämlich die Bedingungen für eine Vereinbarkeit von Besitz und moralischer Qualität.²²⁸ Deutlich in der Nachfolge Walthers öffnet sich das Thema auch hier letztlich auf eine Heilssorge-

 Dieses Sprichwort ist außergewöhnlich breit belegt, vgl. TPMA ‚Erbe‘, Bd. 3, S. 3; ‚Gewinn‘, Bd. 4, S. 481 f.; ‚Gut‘, Bd. 5, S. 310 f.  Deutlich verwandt auch etwa die Formulierung über den boshaft Besitzgierigen: daz her gt vür got unde ouch vür ere minnet (V. 8, zit. nach Objartel).  Vgl. dazu auch Zach (Kanzler), S. 171.  Leipzig, Universitätsbibliothek, Rep. II 70a.  Vgl. dazu auch Ilgner (Scheltstrophen), S. 52 f.

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Perspektive, wenn abschließend guot dann als guot bewertet wird, wenn es sowohl dem diesseitigen Wohl als auch dem jenseitigen Heil dient: guot ist guot daz hie dem lîbe ist guot und dort der sêle guot bewîset (V. 12). Zum einen wird hier deutlich, wie breit das Thema in der Gattung diskutiert wird und wie vielfältig und fast unauflösbar dabei intertextuelle Vernetzungen derart thematisch verwandter Strophen in der Sangspruchdichtung werden. Zum anderen geben diese Strophen einen Eindruck davon, wie sehr meisterschaft in der je eigenen Zuspitzung und dem immer weiter getriebenen Spiel mit rhetorischen Figuren ausgestellt wird. Insofern markiert der Kanzler gerade damit, wie er in dieser Strophe rhetorisch versiert verschiedene Bedeutungsebenen seiner zentralen Begriffe durchspielt – gt als materiellen und ethischen Wert, ere als innere Qualität und äußere Anerkennung –, einen poetischen Anspruch auf diesem sangspruchdichterisch prominent bespielten Feld. Das zeigt auch die affirmative Referenz auf Walther, der den Diskurs – zumindest in dieser Breite – in der Gattung begründet. Dabei eignet der Kanzlerschen Bearbeitung des Themas zugleich eine gewisse Überbietungstendenz, indem er dem gt eine neue, dritte Bedeutungsebene einschreibt und die dilemmatische Unvereinbarkeit der beiden Werte durch diese Transzendierung letztlich auflöst.

2.2.2.2 Strophe 5 – Warnung vor falschem Rat (1Kanz/2/5) C Kanz  Ein herre, der vor schanden in siner jugent ist beht mit tugende maniger handen, des alter mag wol werden gt,  ob er niht wirt ein zage, so daz er uberwinden sich niht enlaze valschen mt. er[ ] laze sich da vinden, da man vron eren dienest tt,  swaz ieman boͤ ser sage. vil manig herre schande hat, der doch daz beste tete, wan daz im in sin oren gat eines, heisset valsche rete.  swelh herre wol besliesse sin oren vor der valschen rat dur daz in in niht vlieze us valschen reten missetat, der habe im eren wat.

Thematisch steht im Zentrum der Strophe eine Herrenlehre, die besonders auf das verderbliche Potenzial schlechten Rates abhebt. Während die Sangspruchdichter diese

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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prominenten Themen häufig mittels Schelte und Polemik ausagieren, verhandelt die vorliegende Strophe sie auffällig sachlich und objektiv: Weder werden die Herren direkt apostrophiert und ermahnt noch gleitet die Strophe in eine polemische Invektive gegen schlechte Ratgeber ab. Vielmehr lässt sich beobachten, dass sie – wie auch die vorangehende Strophe – konstatierende Aussagen über die Welt trifft und ungerichtete, allgemeingültige Handlungsanweisungen formuliert. Dem (adeligen) Rezipienten gesteht das gewissermaßen Selbstverantwortung zu, denn es lädt zum selbstständigen Nachvollzug des Gesagten ein und dazu, die angebotenen Handlungsmaximen mit dem eigenen Verhalten abzugleichen und zu korrigieren. Zugleich fällt auf, dass der Kanzler diese rhetorische Strategie häufig nützt, wenn er diejenigen belehrt, die hierarchisch weit über ihm stehen. Er blendet gewissermaßen absichtlich die hierarchische Ebene dort aus, wo er nicht auf Augenhöhe ist, und verdeckt seinen prekären Status damit durch die Autorität des Allgemeingültigen. Rhetorisch gesehen argumentiert er also ‚topisch‘, das heißt er versucht seine Meinung und Absicht dadurch zu autorisieren, dass er sie als Teil des Allgemeingültigen, der doxa, darstellt. Die Strophe eröffnet mit der Feststellung, dass herren, die in der Jugend mit tugende maneger hande vor schande bewahrt seien, auch Aussicht auf Vorbildlichkeit im erwachsenen Alter hätten – zumindest sofern sie nicht zage würden und sich von valsche[m] mt überwinden ließen (V. 1–7). Die Formulierung beht/ mit tugende (V. 2 f.) impliziert dabei zweierlei, zum einen ein beschützendes vorbildliches Umfeld des jungen Herren, zum anderen eine persönliche innere Vorbildlichkeit. Beides fungiert als Schutz gegen die Schande.²²⁹ Damit entfaltet die Strophe suggestiv auch eine Handlungsanweisung für junge Fürsten, dass sie sich der tugende befleißigen sollten, wenn sie im erwachsenen Alter Ansehen genießen wollten. Die Strophe erinnert darin an eine Herrenlehre des Meißners, die ebenso die jungen Adeligen dazu auffordert, tugendhaft zu sein, weil ihnen nur so im (erwachsenen) Alter makelloses Lob, also Ansehen, zukäme: Ho edel man, nu tugende dich in der jugent, so wirt din lob in alter reine (1Mei/1/10, V. 7, zit. nach Objartel). Diese Belehrung steht beim Meißner im Kontext einer Strophe, in der er Tugendadel gegen Geburtsadel ausspielt.Versteht man die Kanzlersche Verhaltensanweisung als Referenz auf diejenige des Meißners, spielt er damit einen Tugendadel-Diskurs in seine Belehrung ein.²³⁰ Mit dem vorbildlichen Verhalten in der Jugend, das macht die Kanzler-Strophe aber zugleich dezidiert deutlich, wird nur überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, dass auch das alter des jungen Herren, seine erwachsenen Jahre, gt werden könnten (V. 4). Diese Formulierung ist doppelsinnig, zum einen heißt das, dass das Leben des Betreffenden gt werden könne, also bewahrt vor (äußerer) Schande. Zum anderen hebt sie auf die innere Einstellung ab. Das verdeutlicht die nachfolgende Bedingung für das gt werden, denn es heißt, der Herr dürfe sich nicht zu einem zage entwi-

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 172.  Dafür spricht vornehmlich die Tatsache, dass Tugendadel ein zentrales Thema des Kanzlers ist, vgl. besonders 1Kanz/1/1 f., Kap. 2.1.1 f.; 1Kanz/5/1, Kap. 2.5.1 und 1Kanz/5/12, Kap. 2.5.12.

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ckeln, da ihn sonst der valsche mt übermannen könne (V. 4; 6). Wer sich in der Jugend durch Vorbildlichkeit auszeichnet, ist also nicht automatisch auch im Alter vorbildlich (gt). Vielmehr wird Vorbildlichkeit als Prozess profiliert, der beständigen Einsatz erfordert. Ähnlich pointiert Reinmar von Zweter diese Notwendigkeit, sein Gutsein permanent zu aktualisieren, um êre zu erwerben: ‚Was guot‘ ist einem hôhen man/ niht volliclîch ein lop, als ichz ze rehte erkennen kan:/ ‚ist guot‘ das ist guot; ‚was guot,‘ daz ist mêre danne halb verlorn./ Swer guot sî, der belîbe ouch guot (1ReiZw/1/70, V. 1–4, zit. nach Roethe). Zugleich wird die zageheit als zentrale Gefährdung ausgewiesen, welche die Herren anfällig für den valschen mt mache, wobei zage hier offenbar weniger Feigheit meint, als vielmehr Zaghaftigkeit, mangelnde Entschlossenheit, aus der eine unbeständige und überhaupt verwerfliche Gesinnung hervorgeht. Das bedrohliche Potenzial einer solchen mutlosen Unentschlossenheit problematisiert auch der Meißner (1Mei/2/20), der sie kritisiert und eine feste, entschlossene Einstellung als Weg zur êre profiliert:²³¹ Unendelich, schame dich der ungenende./ wes endelich, so wirt dir ein gt ende./ eime herren endelich ist eren vil bekant (V. 11–13, zit. nach Objartel). Mit dem Begriff des valschen mts verweist die Kanzlersche Strophe zudem intratextuell auf die in C vorangehende Strophe 1Kanz/2/4 zurück, wo es über den valsche[n] mt ebenfalls heißt, dass er den Begüterten zum Verlust der ere, also in die Schande führe. Die Begrifflichkeiten beht, zage, uberwinden (V. 2; 5 f.) inszenieren das Streben nach Vorbildlichkeit metaphorisch als Kampf gegen die Schande, als lebenslanges Ringen. Das kulminiert im Schluss des Aufgesangs, der geradezu das Bild zweier verfeindeter Lager evoziert, wenn er mit den Versen schließt: er [der junge Herr, Anm. d. Verf.] laze sich da vinden,/ da man vron eren dienest tt,/ swaz ieman boͤ ser sage (V. 8–10). Der Vorbildliche soll also darauf achten, im richtigen Lager zu dienen. Dass der Herr selbst einen vron […] dienst, das heißt einen ‚Herrendienst‘, also ‚Dienst für einen Herren‘ leisten soll, ist ein kühnes Wortspiel des Kanzlers, denn eine solche Handlungsanweisung ist in einer Herrenlehre einigermaßen intrikat.²³² Als richtiges Lager weist die Strophe dabei das Lager des Tugendadels aus, dem auch adelige Herren Dienst zu leisten haben, nämlich das Lager der Ehre (V. 8 f.). Dass die Herren sich davon nicht durch das Gerede der boͤ sen abbringen lassen sollen (V. 10), thematisiert erneut den potenziellen Einfluss des menschlichen Umfeldes und suggeriert so zum einen, dass dieses mit Bedacht zu wählen ist, zum anderen verdeutlicht es die Relevanz einer gefestigten inneren Einstellung. Denn der zage ist ungleich anfälliger für die Worte der boͤ sen, die ihn vom Herrendienst für die ere abzubringen und valschen mt in sein Herz zu säen vermögen. Zudem weist der Aufgesang, indem er den potenziellen Einfluss dessen, was die boͤ sen sagen, thematisiert, bereits auf die Ratgeber-Thematik des Abgesangs voraus.

 Vgl. dazu Objartel (Meißner, Kommentar), S. 259.  Anders Zach (Kanzler), S. 174, der vrôn als Nebenform zu vrouwe auffasst.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Der Abgesang greift das insofern auf, als das Sänger-Ich nun problematisiert, dass manche Herren zwar gerne gut handeln würden, aber, weil sie falschem Rat folgten, dennoch Schande auf sich lüden (vil manig herre schande hat,/ der doch daz beste tete,/ wan daz im in sin oren gat/ eines, heisset valsche rete,V. 11–14). Der falsche Rat (das kann der schlechte, aber auch der unaufrichtige sein) wird damit als einflussreiche, bedrohliche Gefahr inszeniert.²³³ Geradezu kreatürlich kriecht er in das Ohr der Betreffenden und vernichtet – deren besten Absichten zum Trotz – ihr Ansehen. Er wird damit zum Gegenspieler der ere, was durch die Personifikation der beiden Abstrakta rat und ere noch deutlicher hervortritt. Wer sich dieser Gefahr der Schande durch die valschen rete entziehen will, dem empfiehlt das Sänger-Ich – und bleibt damit im Bild –, die Ohren zu verschließen vor dem Rat der valschen, für ihre Worte also schon physisch den Zugang zu blockieren (swelh herre wol besliesse/ sin oren vor der valschen rat, V. 15 f.). Explizit betont die Strophe die Korrelation von valschem (schlechtem) Rat und valschen (moralisch verwerflichen) Ratgebern, setzt also die Qualität von Rat und Ratgeber in eins. Damit bietet sie zum einen ein Kriterium, wie schlechter Rat zu erkennen sei, nämlich an der ethisch-moralischen Qualität des Ratgebers. Zum anderen verwischt sie im Spiel mit der Polysemie des Begriffes rat die Grenzen zwischen beiden: dass in in [den herren, Anm. d. Verf.] niht vlieze/ us valschen reten missetat (V. 17 f.; ‚aus falschen Ratschlägen‘ und ‚aus falschen Ratgebern‘). Die valschen rete werden dabei – eine Sündenfall-Allusion – dezidiert als Verursacher der schlechten Tat inszeniert. Sie dringen vom valschen Ratgeber ausgehend in den Innenraum des Herren ein, auch wenn er prinzipiell zum Guten strebt, es sei denn, er verschließt entschlossen die Ohren dagegen. Einmal eingedrungen wirken die valschen rete, indem sie die innere Einstellung der Herren in valschen mt verwandeln (so ließe sich unter Einbezug des Aufgesangs formulieren), und manifestieren sich dann letztlich wieder äußerlich sichtbar in einer aus dem Herren herausfließenden verwerflichen Handlung.²³⁴ Die (zagen) Herren erscheinen somit als Spielball der Falschen (Ratgeber), sind bar eigener Handlungsmacht, wenn sie auf sie hören. Wer sich dagegen erfolgreich dem schlechten Rat verschließt, dem stellt das Sänger-Ich das Ehrenkleid in Aussicht (die eren wat, V. 19). Auch in dieser Strophe

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 175; das Thema begegnet vielfach in der Sangspruchdichtung, vgl. dazu auch etwa 1Feg/1/3; 1Kel/3/1; 1Rum/4/20; 1Wern/1/1. Klein (Ethik und Pragmatik), S. 235, verweist darauf, dass das Thema falscher Ratgeber in der Sangspruchdichtung besonders in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts virulent wird, was auch ein zeitgenössisch-historischer Reflex darauf sein könnte, dass sich damals neben dem traditionellen Rat der Vasallen ein Rat ‚geschworener‘, ‚heimlicher‘ Räte der Fürsten herausbildete, die aufgrund persönlicher Beziehung bestimmt wurden (vgl. Paul-Joachim Heinig: [Art.] Rat I. Fürstlicher Rat. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 449–451, hier Sp. 450) und deren Rat entsprechend demjenigen der Vasallen Konkurrenz machte (daher die Warnung, Fremden nicht zu viel Macht und Einfluss einzuräumen).  Auch die Predigt warnt vor falschem Rat, vgl. Berthold von Regensburg „Von den fremeden sünden“, wo auch der Rat zur Sünde als Sünde profiliert wird und es heißt: Unde geschiht manic tûsent sünde von ungetriuwen ræten unde von übeln râtgeben, Bd. 1, S. 213, zit. nach Pfeiffer.

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deutet sich also eine Differenzierung von ere in eine innere und eine äußere Qualität an (was sie ebenfalls intratextuell an die vorangehende anbindet), denn zum einen propagiert sie einen Herrendienst für die ere, der auf einen inneren Verhaltenskodex verweist, eine als Norm verinnerlichte ere, zum anderen thematisiert sie eine äußere ere, die dieses richtige Verhalten nach sich zieht. Dass diese äußere ere dann als eren wat metaphorisiert wird, illustriert beide Aspekte, denn das Ehrenkleid inszeniert ere plakativ als etwas Äußerliches, für jedermann deutlich Sichtbares, ist also Prachtkleid aber auch Livree des eren-Dieners. In dieser Diskussion um die Macht des (ratgebenden) Wortes offenbart sich eine sangspruchdichterische Selbstthematisierung. Die als Kompetenz inszenierte Fähigkeit des richtigen Weghörens verweist dabei folgerichtig komplementär auf die Notwendigkeit des richtigen Zuhörens, die eine Fähigkeit zu kiesen erfordert, nämlich die moralische Qualität des Sprechers zu erkennen. Unüberhörbar äußert sich darin der Selbstanspruch des Sänger-Ichs, das zudem implizit seinen Rat als rehten rat ausweist, wenn es für das Befolgen seiner Lehre ere in Aussicht stellt (Ehrenkleid), wo der valsche rat als Weg zur Schande profiliert wird. Die didaktische Absicht der Strophe wird hierbei von der Art und Weise unterstützt, wie ihr strukturierter argumentativer Aufbau thematisch ineinandergreift: Der erste Stollen ist allgemein gehalten und gibt die Ausgangsbeobachtung beziehungsweise Ausgangsbehauptung ‚Junge vorbildliche Herrscher können auch im Erwachsenenalter gut werden‘. Am Ende des ersten Stollens steht dann die Einschränkung ‚wenn sie nicht zage sind‘, die der zweite Stollen im Stil einer beratenden Handlungsanweisung diskutiert: valscher mt darf nicht wegen der zageheit siegen, die Herrscher sollen der ere dienen und nicht auf boͤ se rete hören. Der letzte Vers leitet dann erneut thematisch zum Abgesang über. Das Thema boͤ se rete wird dort beratend entfaltet ‚schlechter Rat ist schädlich, man soll die Ohren davor verschließen‘, und im letzten Vers wird im Rückgriff auf die im zweiten Stollen gegebene Handlungsanweisung das Resultat vorbildlichen Verhaltens noch einmal bestätigend in Aussicht gestellt: derjenige, der richtig handele, der habe im eren wat. Auch durch die Wiederholung der zentralen Begriffe (herre, valsch, valscher rat, schande, ere) wirkt die Strophe sehr geschlossen und stellt eindringlich ihre Absichten vor.²³⁵ Diese Strophe steht über das Motiv eines Verschließens der Ohren, um Ratschläge auszusperren, in intertextueller Beziehung zu einem Sangspruch Konrads von Würzburg (1KonrW/5/2),²³⁶ der mit ebendiesem Motiv wiederum auf eine Strophe Friedrichs von Sonnenburg referiert (1FriSo/1/36).²³⁷ Das Motiv unterliegt dabei verschiedenen Umdeutungen, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 177.  Auf Konrad von Würzburg nimmt das Œuvre des Kanzlers überhaupt auffällig Bezug, sowohl inhaltlich als auch formal (der deutlichste Zeuge dafür ist Lied XIII [1Kanz/4/1–3], vgl. Kap. 2.4), vgl. Kornrumpf (Kanzler), Sp. 985; Brunner (Formgeschichte), S. 82 f.  Die Strophe Friedrichs ist thematisch mit der in der Corpusüberlieferung in J vorangehenden 1 FriSo/1/35 eng verbunden.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Bei Friedrich von Sonnenburg, am Anfang dieser intertextuellen Reihe, reflektiert ein Sänger-Ich seine Ratgeber-Rolle, beklagt nämlich, dass gerade diejenigen, die in houbetsünden und houbetschanden lebten, seinen Rat verschmähten (1FriSo/1/ 36, V. 1–4, hier und im Folgenden zit. nach Masser).²³⁸ Sie handelten, so fährt es fort, also diu slange, die, wenn sie etwas höre, ein Ohr auf den Stein lege und das andere mit ihrem Schwanz verschließe (V. 5–8). Damit sind es hier gerade nicht die klugen Bedächtigen, die ihr Ohr gegen valsche rete verschließen, sondern im Gegenteil die Sünder, die auf diese Weise die rehte lere und den rehten rat aussperren (V. 9). Dieser bildhafte Vergleich referiert auf einen spezifischen Prätext, nämlich Psalm 57, wo ebenfalls die Schlange, die ihr Ohr versperrt, um die Beschwörungen nicht zu hören, mit dem verstockten Sünder verglichen wird, der das göttliche (durch den Priester vermittelte)²³⁹ Wort aussperrt: furor eorum sicut furor serpentis sicut reguli surdi obturantis aurem suam 6ut non audiat vocem murmurantium nec incantatoris incantationes callidas (Ps 57,5 f.).²⁴⁰ Wenn das Sänger-Ich Friedrichs sich nun explizit zu diesem Ratgeber (incantator) macht, dessen Rat die schlangengleich tauben Sünder missachten, inszeniert es sich über die Einzeltextreferenz als Verbreiter des göttlichen Wortes und apropriiert so das Amt des Predigers. Entsprechend scharf kritisiert es den muotwille[n] der Sünder, der sie zum Laster treibe und sie damit Gott und den liuten verhasst mache (V. 11 f.). Weder wollten sie auf Rat und Lehre hören noch wissen, was die werlt von ihnen rede (V. 9 f.). Ihre falsche innere Einstellung führe mithin dazu, dass sie sich weder um die êre vor der Welt, also das gesellschaftliche äußere Ansehen, kümmerten noch um die göttliche Gnade im Jenseits (V. 12). Sie verwerfen damit gerade die beiden Zielpunkte (Gott und der Welt gefallen), die in der Sangspruchdichtung seit Walther als Ausweis einer gelungenen Existenz propagiert werden und auch beim Kanzler in vorliegender und vor allem der ihr nach C vorangehenden Strophe 1Kanz/2/4 zentral sind. Die Strophe Konrads von Würzburg (1KonrW/5/2) nimmt das Motiv der ohrenverschließenden Schlange auf, überbietet die Fremdtextreferenz bei Friedrich von Sonnenburg aber sogleich, indem sie nicht nur den Bibeltext paraphrasiert, sondern mit einer naturkundlichen Beschreibung der Schlange auf gelehrtes Schrifttum zurückgreift. Konrad nämlich spezifiziert sowohl die Schlangenart als auch den Zweck ihres Handelns: Aspis ein wurn geheissen ist,/ der z der erden streket/ ein ore unde in

 Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg, hg. von Achim Masser. Tübingen 1979.  Belege für die Auslegung des Beschwörers als predicator im theologischen Schrifttum (bei Augustinus, in der Clavis des Ps.-Melito und bei Bernhard von Clairvaux) finden sich bei Dietrich Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100– 1500). 2 Bde. Berlin 1968, hier Bd. 2, S. 575 f.  Hier zit. nach: Biblia sacra. Iuxta vulgatam versionem, durgesehen und mit einem kritischen Apparat erläutert von Robert Weber. 5. verb. Aufl. bearbeitet von Roger Gryson. Stuttgart 2007; nach der ebenfalls auf Hieronymus zurückgehenden Vulgata-Ausgabe von Beriger/Ehlers/Fieger heißt es (Ps 57,5 f.): furor illis secundum similitudinem serpentis/ sicut aspidis surdae et obturantis aures suas 6quae non exaudiet vocem incantantium/ et venefici incantantis sapienter.

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das ander steket/ sines zagels ort,/ durh das er kein wispelwort/ verneme, so man in vahen wil (1KonrW/5/2a, V. 1–6, zit. nach LDM).²⁴¹ Diese Beschreibung findet sich vorgängig sowohl bei Isidor²⁴² als auch – ausgehend von Psalm 57,5 – in der lateinischen Physiologus-Tradition (versio b).²⁴³ Während der Physiologus diese proprietas allerdings genauso auslegt wie die Bibel (und Friedrich von Sonnenburg), die Schlange mithin mit den Sündern gleichsetzt, überträgt Konrad dieses Naturphänomen zum einen auf die Herren und damit in ein anderes Denksystem, das weltlichadelige (V. 8).²⁴⁴ Zum anderen wertet er die proprietas der Aspisviper kategorisch um,²⁴⁵ indem er ihre Fähigkeit, die Ohren zu verschließen, als klugen Kunstgriff profiliert (list), der bedauerlicherweise den Ohren mancher Herren fehle (V. 7 f.). Vor dem Hintergrund der etablierten theologischen Auslegungstradition dürfte diese überraschende Verkehrung die Neugierde und den Widerspruchsgeist des Rezipienten geweckt haben.²⁴⁶ Der Fortgang der Strophe macht aber sogleich deutlich,

 Die Aspisschlange wird später sogar tonnamengebend (‚Aspiston‘).  Etymologiae, lib. XII, cap. 4, 12: Fertur autem aspis, cum coeperit pati incantatorem, qui eam quibusdam carminibus propriis evocat ut eam de caverna producat: illa, cum exire noluerit, unam aurem in terram premit, alteram cauda obturat et operit, atque [ita] voces illas magicas non audiens non exit ad incantatem, zit. nach: Isidori Hispalensis Episcopi: Etymologiarvm sive originvm. Libri XX, recognovit brevique adnotatione critica instrvxit Wallace M. Lindsay. 2 Bde. Oxford 1957.  Die lateinische versio y zitiert Psalm 57,6 im Zusammenhang mit der mustela (dem Wiesel), der die ihre Ohren verschließende Schlange verglichen wird; der griechische Physiologus gibt dazu eine knappe Auslegung, in der er die Schlange dem Teufel gleichsetzt, der ebenso gehandelt habe, als er Jesus sah und der wie die Viper gestorben sei, als er Jesu Stimme gehört habe, vgl.: Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung, aus dem Griechischen übersetzt und hg. von Ursula Treu. Hanau 1981, hier Kommentar, S. 107 f.; die textaufschwellende versio b erweitert den Passus zu einer Eigenschaft der Aspisviper und gibt eine umfassende Auslegung (was sich möglicherweise einem Einfluss Augustinus’ verdankt [vgl. dazu auch S. 123, Anm. 239]): […] Isti tales non solum mustelae comparantur, sed etiam aspidi surdae, quae obturat aures suas et non audit uocem incantantis. Physiologus dicit quoniam aspis hanc habet naturam ut si, quando aduenerit aliquis homo ad speluncam ubi habitat aspis, et praecantauerit eam omnibus carminibus suis ut exeat de cauernis suis, illa uero, ne audiat uocem incantantis, ponit caput suum ad terram, et unam quidem aurem praemit in terram, alteram uero aurem de cauda sua obturat. Tales sunt istius mundi homines diuites, qui unam quidem aurem suam deprimunt in terrenis desideriis; aliam uero, posterioribus peccatis suis peccata noua semper addentes, obturant; et ita fit ut non audiant uocem incantantis, hoc est praedicatores. Et hoc quidem solum aspides faciunt, quod aures obturant. Isti uero et oculos excaecant terrenis cupiditatibus et rapinis, ita ut nec auribus audire uelint diunina mandata et seruare, nec oculis attendere in caelum et cogitare de illo qui est super caelum, et facit bonitatem et iustitiam. Hi qui nunc deum per praedicatores et diuinas scripturas audire nolunt, audient eum in die iuidicii, dicentem: Discedite a me, maledicti, in ignem aeternum, qui praeparauit diabolo et angelis eius [Matt. 25.41], cap. XXVI, zit. nach: Physiologus Latinus. Éditions préliminaires versio B, hg. von Francis J. Carmody. Paris 1939, hier S. 47.  Vgl. Rüdiger Brandt: Menschen, Tiere, Irritationen: Die doppelte Zunge der Natur. Kontexte und Folgen laikaler Aneignung des liber naturae. In: Das Mittelalter 12 (2007), S. 24–45, hier S. 42.  Vgl. auch Brandt (Menschen, Tiere Irritationen), S. 42 f.  Vereinzelt begegnet auch andernorts eine positive Deutung, nach der der Beschwörer (‚Gaukler‘) mit dem Teufel gleichgesetzt wird und der Mensch – hier weicht die Auslegung deutlich ab – „daran [denken soll], daß er von Erde genommen ist (Ohr auf Erde) und daran, welch bitteres Ende ihm Gott

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dass auch das tertium comparationis der wispelworte invertiert ist, nämlich nicht mehr die göttliche Lehre bezeichnet, sondern weltliche boͤ se[ ] rede (V. 9). Den schaden des ‚Nicht-Hörens‘ guter Lehre (bei Friedrich) verursacht hier nun gerade umgekehrt das ‚Er-Hören‘ falschen Rates, wenn es heißt, dass solcher das Ansehen vollständig vernichte: der boͤ ser rede sin ore empleket/ hie beide unde dort./ da von er den schaden bekort,/ daz er verlu̍ ret eren vil (V. 9–12).²⁴⁷ Das Ohr wird insofern von der Eintrittspforte für das Wort Gottes zum potenziellen Tor für die schädlichen Einflüsterungen falscher Ratgeber, welche die Herren mit ihren wispelwort umgarnen und beherrschen wollen (vahen, V. 6).²⁴⁸ Die Strophe Konrads zeigt also deutliche inhaltliche Parallelen zu derjenigen des Kanzlers,²⁴⁹ wobei vor allem das auffallend körperliche Bild vom Verschließen der Ohren, das bei beiden gegen die führende naturkundlich-theologische Tradition umbesetzt wird, diese Referenz markiert. Dass der Kanzler das Motiv dabei bis zur Unkenntlichkeit der ursprünglichen Quelle verkürzt, indem er den Vergleich mit der

bereiten kann (Ohr mit dem Schwanz verstopft) […], um zu widerstehen“, vgl. Schmidtke (Geistliche Tierauslegung), Bd. 1, S. 399 f. mit drei Belegen, nämlich einer nachfolgearmen Vaterunserauslegung (textintern datiert auf Mitte 13. Jahrhunderts, Bernd Adam: [Art.] Heinrich von Kröllwitz. In: ²VL, Bd. 3, S. 761 f., hier Sp. 761), einem späten Marienlied und Hugos von Langenstein Martina (V. 46,21–56), die wiederum anteilig in der Nachfolge Konrads steht, vgl. Steer ([Art.] Hugo von Langenstein), Sp. 237.  Die Formulierung hie unde dort lässt sich dabei auch apokoinu lesen (das Verschließen der Ohren verursacht hie unde dort, im Dies- und im Jenseits den schaden) und spielt damit auch eine HeilssorgeThematik an.  Gerade im onomatopoetischen wispelwort, das Konrad hier statt den beschwörenden incantationes setzt, suggeriert die Strophe auch, dass die Jäger die Sprache der Viper, die Ratgeber mithin die der Herren imitieren, also auch smeicher sind, die ihnen nach dem Mund reden.  Aber auch formal ist auffällig, dass diese vorliegende Strophe als einzige im Goldenen Ton das – per se vom Aspiston sehr verschiedene (s. u.) – Reimschema variiert, indem sie weniger verschiedene Reimklänge setzt: .3-a .4b .3-a .4b .3c / .3-d .4b .3-d .4b .3c // .4e .3-f / .4e .3-f / .3-g .4 f .3-g .4 f .3 f. Das lässt sich eventuell als Anspielung auf den Aspiston verstehen, denn sie wiederholt den b-Reim (der dann wie in Konrads Aspiston je zweimal in jedem Stollen steht) und setzt (wie Konrad) einen Reim des Stegs erneut im dritten Stollen. Überhaupt zeigt der Goldene Ton eine gewisse Übereinstimmung mit dem Aspiston (wenngleich er vor allem Konrads Ton vier [XXIV] nachgebildet scheint, vgl. Brunner [Formgeschichte], S. 83), da er als einer von zwei der insgesamt vier Spruchtöne des Kanzlers Konrads Form der Kanzone mit Steg und drittem Stollen aufnimmt und zudem den Wechsel der Drei- und Vierheber mit dem Aspiston teilt (die beim Kanzler gegenüber Konrad vertauscht sind); bei Konrad durchbricht diesen Wechsel jedoch die Doppelung des vierhebigen Verses am Stollenschluss, die seine Stollen zugleich gegenüber denen des Kanzlers um einen Vers verlängern. Durch den repetierten Steg des Kanzlers sind die Strophen dennoch (fast) gleich lang. Reimschema und Kadenzen divergieren allerdings deutlich, beim Kanzler dominieren Kreuzreimstrukturen (meist über die Stollengrenzen hinweg), bei Konrad verschränken sich die stollenübergreifenden Reime mit Paarreimen (außerdem steht hier auch weibliche Kadenz im vierhebigen Vers). Aspiston Konrads (.)4a (.)3-b (.)4-b (.)3c (.)4c (.)4d / (.)4a (.)3-b (.)4-b (.)3c (.)4c (.)4d // (.)3-e 1-e+3 f / (.)4 f (.)3-g (.)4-g (.)3 f (.)4 f (.)4 f. Goldener Ton des Kanzlers .3-a .4b .3-a .4c .3d / .3-e .4b .3-e .4c .3d // .4 f .3-g / .4 f .3-g / .3-h .4i .3-h .4i .3i.

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Schlange tilgt,²⁵⁰ indiziert zugleich die Richtung der Rezeption, nämlich dass der Kanzler auf Konrad referiert und nicht andersherum.²⁵¹ Was der Kanzler mit dem Motiv von Konrad übernimmt, ist aber seine Instrumentalisierung als Warnung vor boͤ ser rede beziehungsweise der rede der boͤ sen, welche die Herren durch valsche rete in Schande leiten wollten. Auffallend ist auch die unpersönliche Sprechhaltung bei beiden – gerade gegenüber derjenigen Friedrichs von Sonnenburg, in dessen Strophe ein ratgebendes tadelndes Ich die Gemeinten apostrophiert. Wo Friedrich sich also mit dem predigthaften Bibelzitat die anklagende Rhetorik des Bußpredigers borgt, ersetzt Konrad diese durch die distanziert-beschreibende Sprechhaltung seines gelehrten naturkundlich-theologischen Prätextes. Beim Kanzler, der diese Sprechhaltung von Konrad übernimmt, nicht aber dessen Prätext, wird sie zu seiner eigenen rhetorischen ‚topischen‘ Strategie: Dass die Dinge objektiv als Sachverhalte dargestellt werden, ist geeignet, sie fraglos gültig scheinen zu lassen. Dass er damit gleichermaßen die offensive Polemik vermeidet, die der Ratgeberschelte meist eignet, erhebt ihn über die Angegriffenen und steigert so seine Autorität. Bei dieser Referenz des Kanzlers auf Konrad zeigt sich zudem – wie öfter zu beobachten²⁵² –, dass dort, wo Konrad durch pessimistische Drohbilder didaktische Anreize zu schaffen sucht, der Kanzler in einen versöhnlichen Schluss mündet, der die Möglichkeit einer positiven Wendung anbietet. In den vorliegenden Strophen etwa lancieren zwar beide subtil den eigenen Rat, indem sie gewissermaßen ex negativo mittels ihrer Warnung vor der schandebringenden Wirkung schlechter Ratschläge die Bedeutsamkeit guter Ratschläge thematisieren. Während Konrad die Schädlichkeit schlechter Ratschläge aber abschließend über das düstere Szenario einer verderbten Welt illustriert, in der kein guter Ratschlag mehr an das Ohr der Bedürftigen dringt, macht der Kanzler am Ende der Strophe explizit deutlich, dass die Herren, wenn sie sich vor schlechtem Rat zu bewahren vermögen, das Ehrenkleid erringen und die Welt durch ihre Vorbildlichkeit schmücken könnten. So führt er seine Strophe konsequent zu Ende, die im Gegensatz zur angespielten Strophe Konrads das Thema falscher Ratgeber mit einer umfassenderen Herrenlehre verschränkt, welche zentral auf die Bedeutung von ere abhebt. Konrads Warnung der Herren vor schlechten Ratgebern dagegen öffnet sich im Abgesang zu einer allgemeinen Hofkritik: ritter unde cnehte kämen nu (Zeitklage) durch die wundebernden sprüche ehrloser Menschen (schalce) in Schande (V. 13–16). Durch deren lasterhaftes Geschrei würden sie vil gemeit, was aber ein tadelloser Mensch (zühtec man) ihnen erzähle, das hielten sie für goͮ ggelspil (V. 17–20). Diese wundebernden sprüche, die vil gemeit machen, lassen sich auch als geheuchelte Schmeicheleien verstehen, womit sich die Strophe nicht nur gegen die boͤ se rede, sondern auch gegen die smeicher richtet. Konrad bedient hier den Topos der ‚ver-

 So möglicherweise auch 1Mei/17/13, vgl. dazu Objartel (Meißner, Kommentar), S. 314.  Das wird sonst nicht selten vorwiegend aus der literarischen Prominenz Konrads geschlossen.  Vgl. 1Kanz/4/1–3 und 1KonrW/3/1–3, s. dazu auch etwa Kap. 2.4.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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kehrten Welt‘, wenn er kritisiert, dass die wundebernden sprüche der schalce, die als lasterlih gebrehte abqualifiziert werden (und damit doch eigentlich das goͮ ggelspil sind), Freude in der (Hof‐)Gesellschaft erzeugen und dafür die Rede vorbildlicher Menschen statt ihrer für goͮ ggelspil gehalten wird.²⁵³ Diese Kritik am Wohlwollen gegenüber denen, die schlechte Lehren verbreiten und die Guten missachten, verweist aber zudem auf das Thema einer varenden-Konkurrenz bei Hof, denn die Kritik an den wundebernden sprüchen lässt sich auch als Invektive gegen Berufskollegen verstehen.²⁵⁴ Darauf verweist zum einen der Begriff ‚sprüche‘ (V. 13), der in der Sangspruchdichtung als poetologischer terminus technicus begegnet,²⁵⁵ zum anderen das ‚goͮ ggelspil‘ (V. 20), das auf die goukelære referiert, also Gaukler und Taschenspieler,²⁵⁶ gernde varende niedrigsten Ranges, von denen sich abzusetzen die Sangspruchdichter stets bemüht sind.²⁵⁷ Wenn in einer verkehrten Welt aber die sprüche des Rechtschaffenen für goͮ ggelspil gehalten werden, dann sollte das in einer ‚richtigen‘ Welt natürlich für die Äußerungen der lasterhaften Konkurrenten gelten, die Konrad damit implizit als goukelære bezeichnet und sozial, moralisch und künstlerisch abqualifiziert.²⁵⁸ Zugleich kritisiert Konrad auf diese Weise die Rezipienten und problematisiert, dass sie – korrumpiert durch ruchlose Rede – den Wert lehrreicher, sinnvoller Worte nicht mehr erkennen können und also für den Sprecher verbal nicht mehr erreichbar sind. Konrad beansprucht insofern für sich selbst, ‚auf der richtigen Seite‘ zu stehen, und adelt die Rezipienten (captatio benevolentiae), die ihre Bewertungskompetenz unter Beweis stellen, indem sie seine Strophe hören und aufnehmen. Diese unterschwellige Konkurrentenschelte Konrads überträgt sich dadurch, dass der Kanzler auf dessen Ratgeber- und Rezipientenkritik referiert auch auf die Kanzlersche Strophe. Damit lässt sie sich ebenfalls assoziativ als eine subtile Invektive gegen die schlechten Ratgeber aus den eigenen Reihen verstehen. Neben dem dezidierten und über seine Bildhaftigkeit auch implizit markierten Verweis auf Konrads Strophe hat die Analyse dieser Strophe des Kanzlers aber auch gezeigt – und das war schon an der vorangehenden Strophe zu beobachten –, wie sehr Sangsprüche, die gattungstypische Themen verhandeln, sich intertextuell in den gattungsinternen Diskurs einschreiben, indem sie ein sicht- und beschreibbares Netz

 Vgl. Brandt (Menschen, Tiere, Irritationen), S. 43.  Vgl. Brandt (Menschen, Tiere, Irritationen), S. 43.  Die Sangspruchdichter verwenden den Begriff spruch im Kontext einer Kunstreflexion und Diskussion vorgängiger (lyrischer) Texte, etwa 1Kanz/2/9 nach Hs. B: Owe, daz mir gebristet,/ owe, dz mich die maister hant/ mit spruchen uberlistet,/ owe, dz ich nit vinden kan/ gar uzerweltu̍ wort (V. 1–5), und 1 Marn/6/17 [bezogen auf die vorgängigen meister]: lihte vinde ich einen vunt,/ den si vunden hant, die vor mir sint gewesen./ ich ms us ir garten und ir sprúchen blmen lesen (V. 14–16; zit. nach Willms).  Lexer, Bd. 1, Sp. 1059.  Vgl. Brandt (Menschen, Tiere, Irritationen), S. 43.  Vgl. Brandt (Menschen, Tiere, Irritationen), S. 43 f.

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2 Analysen

(vorwiegend affirmativer)²⁵⁹ Referenzen auf andere Strophen des Themas ausbilden. Zum einen sind derartige Bezüge bei topischen Themen innerhalb einer Gattung natürlich erwartbar – und bisweilen vielleicht nicht einmal pointiert gesetzt –, zum anderen zeigt sich darin dennoch eine spezifische Kenntnis der vorgängigen Texte. Im Anspielen bekannter (argumentativer, thematischer, verbaler) Versatzstücke wird Vertrautes aufgerufen, was in zweifacher Hinsicht eine strategische Funktion erfüllt: Es gewinnt die Rezipienten über das vage Wiedererkennen für die neue Bearbeitung des Themas und zugleich festigt jede weitere Strophe den gattungsinternen Diskurs und trägt damit zu seiner Konsolidierung und Behauptung seiner Institutionalisierung bei.

2.2.2.3 Strophe 6 – Tugenden als Ehrenkleid (1Kanz/2/6) C Kanz  Eime herren wol gezême, schuͤ fe er dur ere unde durh gewin, swar er der landen kême, daz menlich spreche: ›seht, dast der,  der da mit eren vert‹, unde swa man nennen horte den sinen namen, daz man in enpfienge in lobes worte. got langes lebens in gewer,  swem er dis hat beschert. der werlte lob erwirbet der man mit tru̍ we unde oͮ ch mit stete, nimt er sich da bi tugenden an; dis edel gt gerete  vil bas ein herren kleidet danne semit, pfellol, purpur, golt, wan es von su̍ nden scheidet unde kan erwerben richen solt: got ist im selber holt.

Mit dem einleitenden Vers Eime herren wol gezême gibt sich die Strophe sogleich als Herrenlehre zu erkennen. Damit schließt sie thematisch an die (in C) vorangehende Strophe an, auf die sie zudem mit der Strophenanapher ein herre intratextuell referiert. Wie dort bleibt auch hier die Sprechhaltung distanziert, weder tritt das SängerIch selbst hervor noch apostrophiert es die Herren oder Rezipienten. Die vorliegende Strophe ist allerdings – anders als die vorangehende – nicht als warnende Mahnung

 Im vorliegenden Fall referiert der Kanzler affirmativ auf Konrad, Konrad aber – zumindest auf motivlicher Ebene – gewissermaßen subversiv auf Friedrich, indem er dessen Deutung der Schlange invertiert.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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vor dem ‚Falschen‘ profiliert, sondern weist den Weg zum ‚Richtigen‘, zu vorbildlichem Verhalten. Diese Unterweisung wird rhetorisch komplex inszeniert. Der Aufgesang thematisiert vorerst die Relevanz von ere im Sinne äußeren Ansehens: Das Sänger-Ich konstatiert, dass es zu einem Herren passe (ihm gezême), also seinem status als Adeligem entspreche, wenn er dur ere unde durh gewin erreiche, dass swar er der landen kême,/ daz menlich spreche: ‚seht, dast der,/ der da mit eren vert‘ (V. 2–5). Das Wort durch lässt sich dabei instrumental, aber auch final verstehen: Zum einen sollen die Herren (instrumental) mittels ere und Verdienst, also durch ein bestimmtes Verhalten bewirken, dass man ihnen Ansehen zuspricht.²⁶⁰ Zum anderen suggeriert das aber auch, dass die Herren durch ere bewirken sollen, dass ihre fama verbreitet wird und zwar (final) gerade um dieses Nutzens (gewin) willen.²⁶¹ Damit greift die Strophe erneut (vgl. 1Kanz/2/4) die Differenzierung von ere in eine innere und eine äußere auf: Das ehrenhafte Verhalten, das aus innerer Ehre hervorgeht (schuͤ fe er durch ere, V. 2), führt zur äußeren Anerkennung: daz menlich spreche: ‚seht, dast der,/ der da mit eren vert‘ (V. 4 f.).²⁶² Der imaginierte Ausruf ‚seht‘ impliziert, dass ein solches Ansehen Aufmerksamkeit erregt,²⁶³ und spielt auf der Wortebene mit der Vorstellung von einer Sichtbarkeit äußeren Ansehens (vgl. 1Kanz/2/4, V. 5: der lebt in eren schin). Auf der Inhaltsebene inszeniert dieser imaginierte Ausruf aber vor allem die Vorstellung von einer Bekanntheit dieses Ansehens, von einem kollektiven Wissen darum: Wohin auch immer, egal in welches Land der Ehrenvolle kommt, wird er als genau solcher erkannt und benannt (dast der,/ der da mit eren vert, V. 4 f.). Ansehen wird somit als weithin bekannte fama inszeniert.²⁶⁴ Verbunden ist diese jedoch nicht nur mit der Person, sondern auch mit ihrem Namen, dem sie vorausgeht: unde swa man nennen horte/ den sinen namen, daz man in/ enpfienge in lobes worte (V. 6–8). Deutlich hebt das Sänger-Ich insofern darauf ab, dass eine solche fama sich durch das lobende Sprechen über den Menschen verbreitet. Das belegt gewissermaßen auch die Wirkmacht panegyrischer Rede und verweist damit unterschwellig auf die Relevanz der Sangspruchdichter als deren Medium. Mit dem stollenbeschließenden Wunsch: got langes lebens in gewer,/ swem er diz hat beschert (V. 9 f.), bleibt der zweite Stollen mit diesem Wunsch eines langen (Erden‐) Lebens einerseits der innerweltlichen Perspektive des Aufgesangs verhaftet, weist

 Der Begriff gezemen suggeriert hier zugleich, dass es solchen Herren zukommt, dass man ihnen Ansehen zuspricht, und ist damit auch Handlungsanweisung für die Leute (menlich).  Anders Zach (Kanzler), S. 178 f., der gewin materiell auffasst und die Textstelle damit als erneuten ere und guot-Diskurs interpretiert (wie 1Kanz/2/4). Dabei sieht er in der Gleichstellung von ere und gewin eine Abwertung der Ehre und eine Aufwertung des Gewinns, was er als Abwendung von den klassischen ‚ritterlichen Tugenden‘ und ein Zugeständnis an die sich verändernde realhistorische Situation wertet; das Kanzlersche Œuvre, das immer wieder auf den unbedingten Vorrang ethisch-moralischer Tugenden abhebt, spricht meines Erachtens klar gegen diese Interpretation.  Ähnlich Krieger (Kanzler), S. 90.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 179.  Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, hier S. 154–158.

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aber mit der impliziten Anrufung Gottes zugleich auf die Heilsthematik des Abgesangs voraus. Dass Gott hier als derjenige ausgewiesen wird, der den Herren diz [die fama/die Anerkennung] beschert (V. 10), irritiert, da der erste Stollen den Herren immerhin nahelegt, sie selbst könnten ihre fama durch vorbildliches Verhalten anregen. Es ist insofern sicher nicht prädeterministisch zu verstehen, sondern markiert die prinzipielle Kontingenz menschlichen Handelns, das heißt, dass das Gelingen der fama letztlich Gott gewähren muss. Als derart gottgegebenes Ideal erscheint sie umso deutlicher als Zielpunkt aller irdischen (Herren‐)Wünsche. Zugleich verweisen diese letzten Verse des zweiten Stollens aber auch zurück, nämlich auf eine Doppeldeutigkeit des Begriffs ‚gezemen‘ im ersten Vers: Nicht nur ‚passt es‘ zu den Herren, sich um Ansehen zu bemühen, sondern ‚es passte‘ auch wiederum zu ihren Bemühungen um (innere) Ehre und Verdienst, wenn diese Vorbildlichkeit des Verhaltens von der Umwelt anerkannt würde. Die Herrenlehre wird damit auch zu einer Unterweisung für alle anderen, dass sie den Herren, die es durch ihr Verhalten verdienen, Ansehen zusprechen und deren Lob verbreiten. Gerade das aber, nämlich zu erkennen, welche Herren des Lobes würdig sind und dieses anschließend zu verbreiten, ist eigentlich eine zentrale Aufgabe der Sangspruchdichter. Wenn hier also das Gelingen der Verbreitung einer solchen berechtigten fama letztlich als göttlich induziert ausgestellt wird (swem er [got, Anm. d. Verf.] diz beschert, V. 10), adelt das unausgesprochen die Aufgabe der Sangspruchdichter als Verbreiter des Herrenlobes und transzendiert ihre Panegyrik. Der Aufgesang verbleibt allerdings im Optativ und gibt sich insofern als Wunschbild zu erkennen, das die Welt zeigt, wie sie sein sollte, womit er indirekt belehrt, aber auch implizit auf eine defizitäre Realität verweist.²⁶⁵ Nachdem der Aufgesang also dergestalt dargelegt hat, wie erstrebenswert ein Leben in Ansehen ist, expliziert der Abgesang nun didaktisch, wie man das dafür notwendige Lob der Welt erringen kann: der werlte lob erwirbet der man/ mit tru̍ we unde oͮ ch mit stete,/ nimt er sich da bi tugenden an (V. 11–13). Aufrichtigkeit, Beständigkeit und Vorbildlichkeit werden als Bedingung für und Weg zum allgemeinen Lobpreis ausgewiesen. Diese sentenzhafte Äußerung ist dezidiert statusunabhängig formuliert, sie gilt also nicht nur für Herren, sondern für alle, für ‚jedermann‘ (erwirbet der man,V. 11).²⁶⁶ Darin deuten sich (erneut) Vorstellungen von Tugendadel an, gerade wenn das Sänger-Ich im Folgenden behauptet, diese Vorzüge seien edel gerete, also veredelnd, aber auch adelig machend (V. 14).²⁶⁷ Mit dem ‚Lob der Welt‘, das die Vorbildlichkeit ihrem Träger verschafft, spielt das Sänger-Ich erneut einen panegyrischen Diskurs in seine Argumentation ein und thematisiert so das Potenzial sangspruchdichterischer Rede.  Vgl. dazu auch Krieger (Kanzler), S. 51; Zach (Kanzler), S. 179.  Anders Zach (Kanzler), S. 181, der meint, dem Begriff man sei hier kein Gewicht beizumessen und er diene lediglich der Variation zu herre.  Auf einen beabsichtigten „Anklang an adel“ verweist auch Zach (Kanzler), S. 182.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Dass die vorbildlichen Eigenschaften als edel gt gerete profiliert werden (V. 14), die einen Herren vil bas kleideten (V. 15) als die kostbarsten Stoffe, ja selbst besser als Gold (die Aufzählung nach steigender Kostbarkeit – semit, pfellol, purpur, golt [V. 16] – steigert die Dramaturgie), illustriert als Bild zweierlei: Einerseits inszeniert es eine (äußerliche) Sichtbarkeit der Vorbildlichkeit, die ihren ‚Träger‘ schmückt und für jeden visuell wahrnehmbar ist (eine Idee, die schon der Aufgesang als Wunsch alludiert). Zum anderen spielt dieses Bild dezidiert verschiedene Logiken von Wert gegeneinander aus, nämlich materiellen gegen ethischen, und räumt moralischer Vorbildlichkeit den Vorrang vor jeder innerweltlichen Kostbarkeit ein. Die Aufforderung, sich mit der Tugend beziehungsweise spezifischen Tugenden zu kleiden, begegnet in der Sangspruchdichtung häufig²⁶⁸ und lässt sich insofern als Rekurs auf eine Gattungstradition verstehen. Schon Spervogel behauptet, dass tugent die Frau besser kleide als jedes Gewand.²⁶⁹ Reinmar von Zweter fordert die vrouwen auf, bestimmte Tugenden anzulegen, die als Kleidungsstücke metaphorisiert werden.²⁷⁰ Ähnlich differenziert werden bei Singûf bestimmte Vorzüge als Teile der Ausrüstung eines Ritters verbildlicht,²⁷¹ und auch der Meißner und der Henneberger empfehlen den Rittern das Tugendkleid.²⁷² Das Einkleiden in Tugenden begegnet daneben aber auch in einer Strophe Konrads von Würzburg (1KonrW/7/14), wobei seine Gestaltung der Metapher derjenigen beim Kanzler so nahesteht, dass sie sich als Einzeltextreferenz verstehen lässt, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Die Strophe macht damit einmal mehr deutlich, wie sehr der Kanzler sich auf Konrad bezieht, und zeigt auch, dass diese Referenzen sich häufig in einer Übernahme spezifischer bildhafter Vergleiche äußern, welche sie strategisch zugleich zu impliziten Markierungen dieser Referenzen machen. Konrads Strophe ist allerdings eine Ritterlehre, in der das Sänger-Ich demjenigen, der keine Kleider aus golde noch side habe, rät, sich in tru̍ we[ ] und manheit zu kleiden, denn es enwart nie ritterlicher wat als edel noh so gt wie diese Tugenden (1KonrW/ 7/14a, V. 1 f.; 7, zit. nach LDM). Derart bekleidet könne er sich unter den werden zeigen, denn der stete[ ] sin und ellent ehre ihn (1KonrW/7/14a,V. 3 f.); und auch wo der boͤ se[ ] in purpur gekleidet sei und sich überhebe, könne der vrume ohne pfellol gut verkehren (1KonrW/7/14a, V. 4–6). Deutlich spielt Konrad dabei verschiedene Oppositionen gegeneinander aus: vrum gegen boͤ se, arm gegen reich, materiellen Wert gegen ethischen. Er unterläuft diese Oppositionen aber zugleich, indem er die Wertbegriffe chiastisch zueinander in Beziehung setzt. Werthaft (die werden) sind diejenigen, die sich durch ethische Vorbildlichkeit auszeichnen, und das edel gt Gewand indiziert nicht adelige Geburt oder Reichtum, sondern tru̍ we und manheit. Die darin anklin-

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 181; auch hier bereits mit Verweis auf die nachfolgenden Parallelstellen (außer dem Henneberger).  1Sperv/18.  1ReiZw/1/41 und variiert in 1ReiZw/5/1–3.  1Singuf/1.  1Henb/1, 1Mei/2/5.

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2 Analysen

gende Inszenierung eines Tugendadels äußert sich – wie beim Kanzler – auch darin, dass die Strophe trotz ihrer dezidierten Adressierung der Ritter den Wert und die Erreichbarkeit der Tugenden immer wieder verallgemeinernd formuliert und sich damit für einen größeren Adressatenkreis öffnet: dar get unde keret der vrume ane allen pfellol wol (1KonrW/7/14a, V. 6), tru̍ we unde manlich mt; swem si ze herzen lege,/ dem solt ein hoher ku̍ nig sin mit gabe niht ze trege (1KonrW/7/14a, V. 8 f.). Von Konrad übernimmt der Kanzler auch die spielerische Umwertung der Wertbegriffe durch ihre Übertragung in ein anderes axiologisches System und rezipiert dessen Allegorie überhaupt bis in die Wortebene: Er zeichnet die Tugendkleidung mit denselben Prädikaten aus (edel gt gerete, 1Kanz/2/6, V. 14, wat so edel […] so gt, 1KonrW/7/14a, V. 7), erhebt sie über dieselben kostbaren Materialien (siden [Konrad]/semit [Kanzler], pfellol, purpur, golt) und stellt dieselben Tugenden (tru̍ we und stete[n sin]) als zentral aus. Dass die bei Konrad zudem prominente ritterliche Qualität manheit/ellent/manlich mt (1KonrW/7/14a, V. 2; 4; 8) beim Kanzler dem pauschalen Begriff der tugenden (1Kanz/2/6,V. 13) weicht, zeigt zum einen den spezifischen Zuschnitt des Motivs für den neuen Kontext (Herrenlehre statt Ritterlehre), betont zum andern aber auch stärker die moralischen Tugenden. Das Potenzial der damit zugleich implizit markierten Einzeltextreferenz des Kanzlers auf Konrad entfaltet sich vor allem im Schluss beider Strophen. Wo beim Kanzler am Beginn der Strophe die Wunschvorstellung einer idealen Welt steht, beschließt eine solche bei Konrad die Strophe, wenn es heißt demjenigen, dem tru̍ we und manlich mt am Herzen lägen, solt ein hoher ku̍ nig sin mit gabe niht ze trege./ mich du̍ hte reht, daz er mit golde in tu̍ re widerwege;/ daz er sin wol pflege, daz brehte im richer eren zol (1KonrW/7/14a, V. 9–11). Dem ethisch vorbildlichen, aber bedürftigen Ritter/Menschen komme es also zu, dass ihn ein hoher König mit Gold entlohne, ja, seinen (ethischen) Wert materiell mit Gold aufwiege. Das Sänger-Ich weist damit die Vorbildlichkeit, die in ihrem ethischen Wert den materiellen übertrifft, nun wiederum als gemäß ihrem Wert materiell entlohnenswert aus. In dieser indirekten Handlungsanweisung an die Herrschenden schwingt zugleich ein Versprechen mit, nämlich im riche[n] eren zol (1KonrW/7/14a, V. 11), den das Sänger-Ich für eine derartige materielle Entlohnung am rechten Ort wiederum als (immaterielle) ‚Belohnung‘ in Aussicht stellt. Ganz konkret profiliert diese pekuniäre Metapher das Ansehen als rechtmäßigen Tribut für eine gewisse Leistung, nämlich für milte. Die Strophe mutiert damit in der Schlusspointe von der Ritter- zur Fürstenunterweisung und erscheint insofern als umfassende Verhaltenslehre, welche die zentralen Akteure einer feudalen Welt unterweist, wie sie ein vorbildliches Funktionieren dieser Gesellschaft zu gewährleisten vermöchten. Dabei verschränken sich in diesem geradezu ökonomischen Diskurs der Schlusspointe mehrere spezifisch sangspruchdichterische Implikationen. Zum einen wird der Besitz bestimmter Tugenden so dargestellt, als ob er rechtmäßig eines materiellen Gegenwertes wert sei (mich du̍ hte reht, 1KonrW/7/14a, V. 10). Dass gerade hier vorab diese Tugenden unterschwellig als für jedermann erreichbar erscheinen (swem [also wem auch immer] tru̍ we und manlich mt am Herzen liegen, dem solle gelohnt werden, 1KonrW/7/14a, V. 8 f.), suggeriert unterschwellig auch, dass sie

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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ebenso grundsätzlich entlohnenswert sind, worin sich eine subtile Heische manifestiert. Noch deutlicher wird diese, wenn das Ansehen des Königs als Gegenwert für seine Freigebigkeit profiliert wird, womit das Sänger-Ich auf die Relevanz und Wirkmacht sangspruchdichterischer Panegyrik verweist – ein Thema, das auch der Kanzler in seinem auf diese Strophe referierenden Sangspruch ausagiert. Zugleich aber schillert Konrads Begriff des hohen ku̍ nigs, denn dieser ruft assoziativ auch eine transzendente Ebene auf (der ‚hohe König‘ als Periphrase für Gott). Die nachfolgend thematisierte Entlohnung des Tugendhaften verwischt diese Assoziation zwar durch das explizit innerweltlich-materiell gedachte Bild vom Aufwiegen in Gold. Die folgenden Verse allerdings erlauben die transzendente Lesart wieder, denn es könnte auch Gott sein, der sich des Tugendreichen annähme, was diesem (dann: dem Tugendreichen) richer eren zol brächte, den Tribut des reichen Ansehens (nämlich das Seelenheil). Bemerkenswerterweise greift nun der Kanzler gerade diese bei Konrad assoziativ mitschwingende Lesart im Abgesang auf und baut sie aus: Bei ihm nämlich besteht der explizite Wert der Tugenden, der sie zum gt gerete macht, das besser kleidet als alle Kostbarkeiten, nicht mehr im Glanz innerweltlichen Ansehens (den sie freilich auch einbringen), sondern darin, dass dieses Tugendkleid von su̍ nden zu scheiden vermöge (1Kanz/2/6, V. 17). Die Kostbarkeit des Gewandes wird mithin beim Kanzler noch einmal gesteigert, denn wo bei seinen Vorgängern das prächtige materielle Gewand durch den immanenten ethischen Wert des Tugendkleids übertroffen wurde, wird es beim Kanzler zum transzendenten Schatz. Konsequent dazu transzendiert die Strophe des Kanzlers auch den Lohn für den vorbildlichen Träger dieser Tugenden, denn der riche solt (1Kanz/2/6, V. 18; eine klangliche Referenz auf Konrads richer eren zol, 1KonrW/7/14a, V. 11) für jenen ist hier nicht mehr die immanente materielle Entlohnung durch einen hohen König, sondern die jenseitige immaterielle durch den höchsten König, die göttliche Gnade (got ist im selber holt, 1Kanz/2/6, V. 19).²⁷³ Die Strophe des Kanzlers überbietet damit das in der Gattung (und besonders bei Konrad) vorgegebene Spiel mit verschiedenen Logiken des Werts. Die vorgängige Diskussion, die immanent den Vorrang des Immateriellen (nämlich des Ansehens) gegenüber dem Materiellen behauptet, öffnet der Kanzler auf eine transzendente Perspektive hin, die als höchsten immateriellen Wert Gottes Gnade und damit eine Heilssorge-Thematik aufruft. Mit dieser Umwertung und Entmaterialisierung des Lohnes (und damit einer grundsätzlichen Entwertung materiellen Werts) schlichtet die Strophe dabei zugleich – wie 1Kanz/2/4 – letztlich unterschwellig die sang-

 Zach (Kanzler), S. 178, 182,verweist hier auf die Parallelen zum Aufgesang, auch durch die Begriffe solt und gewin (wobei er letzteren als materiellen Gewinn versteht); die Beobachtung einer Korrespondenz dieser Begriffe ließe sich vielleicht auch so verstehen, dass der Begriff des solt den des gewin erst rückwirkend erhellt oder ihm zumindest eine zusätzliche (nämlich transzendente) Bedeutung einschreibt.

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spruchdichterische Diskussion über die Vereinbarkeit von weltlichem gt, ere und gotes hulde aus.²⁷⁴ Diese Transzendierung verweist aber auch auf eine grundsätzliche Bearbeitungstendenz des Kanzlers gegenüber der Konradschen Strophe, die eine tendenzielle Überbietungsabsicht geradezu verbildlicht, nämlich, dass sie die Dinge gewissermaßen ständisch-hierarchisch je um eine Stufe nach oben transponiert: Beim Kanzler belehrt das Sänger-Ich nicht die ritter, sondern die ihnen übergeordneten Herren, denen für ihre Vorbildlichkeit kein hoher, sondern der höchste König lohnen soll; dieser Lohn wird sodann vom materiellen zum immateriellen vergeistigt (oder vielmehr vergeistlicht) und der weltliche Schatz damit zur ewigen Seligkeit. Dadurch öffnet der Kanzler Konrads immanente Logik auf eine transzendente hin.²⁷⁵ Der Fokus verschiebt sich beim Kanzler insofern auf die Heilssorge und individuelle Eingliederung in die höhere Ordnung.

2.2.2.4 Strophe 4 – 6: Intratextueller Bezug und strukturelle Ähnlichkeiten Die drei Strophen 1Kanz/2/4–6 sind nicht als Liedeinheit konzipiert, zeigen aber dennoch sowohl in ihrer Faktur als auch in ihrer Thematik deutliche Gemeinsamkeiten, die sie intratextuell miteinander vernetzen. Implizit markiert erscheint diese gegenseitige Bezugnahme durch die Wiederaufnahme zentraler Leitbegriffe und Motive. So werden etwa Strophe fünf und sechs durch einen anaphorischen Strophenbeginn (ein/eim herre) sowie durch das Motiv des immateriellen schmückenden Gewandes (eren wat/gerete der tru̍ we, stete, tugenden) verbunden; Strophe vier und fünf etablieren beide warnend den Begriff des valschen mtes als verderbliche ehrzerstörende Anlage; Strophe vier und sechs bespielen gleichermaßen die Idee einer Umwertung herkömmlicher Vorstellungen von Wert, indem sie den materiellen demjenigen ethischer Vorbildlichkeit unterordnen. An letztgenannter Parallele zeigt sich bereits das Potenzial dieser Verweisstrukturen, denn durch die intratextuelle

 Eine Strophe des Guter (1Gut/2/3) spielt im Kontext der Tugendkleiderallegorie ebenfalls eine transzendente Ebene an, wenn es heißt, dass diese kleider dafür sorgen sollen, dass sich das Lob ihres Trägers bis zu Gott hin ausbreite. Diese transzendente Ebene wird hier aber nicht weiter ausgespielt (V. 4; 6, zit. nach HMS). Die Strophe lässt sich möglicherweise aber ebenfalls als Referenz auf Konrad von Würzburg lesen, in dessen Nachfolge das Werk des Guter überhaupt zu stehen scheint, vgl. Helmut Tervooren: [Art.] Der Guter. In: ²VL, Sp. 334 f., hier Sp. 334. Der Guter stellt dabei den Wert des kostbaren Scharlachgewandes zurück hinter triuwe, zuht und êre, die – wie er gehört habe (diese Formel ließe sich auch als Markierung einer Referenz verstehen) – vil baz kleideten und Lobpreis selbst vor Gott einbrächten (V. 3–6); diese Sangspruchstrophe öffnet sich jedoch letztlich auf eine Zeitklage hin: Im Abgesang nämlich beklagt das Sänger-Ich, dass es leider viele gebe, die das Schandenkleid für ein edles Gewand hielten. Sie liebten der bœsen worte und folgten der Lehre der schalke, weswegen Gott sie dort (im Jenseits) nicht wolle (V. 7–12).  Zu Übergängen von transzendenter zu immanenter Logik, vgl. auch Andreas Hammer, Stephanie Seidl: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Heidelberg 2010.

2.2.2 Ton II, Strophe 4–6 – Tugend- und Herrenlehre (1Kanz/2/4–6)

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Referenz überträgt sich die Behauptung der sechsten Strophe, dass ethische Vorbildlichkeit der Weg zum höchsten Wert, dem Seelenheil, sei, auch auf die vierte Strophe. Diese Deutungsperspektive ist dort zugleich auch schon durch ihre Einzeltextreferenz auf Walther angelegt, wird aber durch die intratextuelle Referenz verstärkt und bestätigt. Die begrifflichen und motivischen Referenzen sensibilisieren auch sonst für die thematischen Verbindungslinien zwischen den Strophen und ihr intratextuelles Potenzial, etwa was das in allen drei Strophen zentrale Thema der ere angeht. Die vierte Strophe profiliert diese durch das paronomatische Spiel mit dem Wort als doppeldeutigem Begriff, nämlich als innere Qualität und äußere Anerkennung. Durch die intratextuelle Vernetzung der Strophen wirkt sich diese diskursive Verhandlung des Begriffes auch auf die nachfolgenden Strophen aus, die eine solche Differenzierung selbst nur andeuten, und konsolidiert die Begriffsdimension einer inneren Ehrhaftigkeit auch in ihnen. ere erscheint damit übergreifend als internalisierte Verhaltensnorm, die sich in unterschiedlichen Handlungen und Verhaltensweisen manifestiert, nämlich gt gegen Gott und erhaft gegen die Welt zu handeln (1Kanz/2/4), sich vor valschem mt zu bewahren (1Kanz/2/4 und 1Kanz/2/5) und sich auch nicht durch valsche rete zur missetat verleiten zu lassen (1Kanz/2/5), sondern (1Kanz/2/6) tru̍ we, stæte und tugende zu üben. Dass der ere damit Frondienst geleistet wird (1Kanz/2/5), inszeniert die ere zugleich als Instanz äußerer Anerkennung dieser Vorbildlichkeit. Dieser Konnex zwischen innerer Vorbildlichkeit und äußerer Anerkennung kulminiert in der gedoppelten Kleiderallegorie, die einmal die Tugenden selbst zum kleidenden Schmuck macht (1Kanz/2/6) und einmal ihre gesellschaftliche Anerkennung zum Prachtkleid (eren wat, 1Kanz/2/5). Die intratextuelle Referenz zwischen der fünften und sechsten Strophe, die sich besonders in dieser Kleiderallegorie manifestiert, führt darüber hinaus zu einem weiteren Spiel mit der Polysemie von Begriffen (eine rhetorische Strategie, für die Strophe vier wiederum sensibilisiert). Denn gerade im Licht der Ratgeberthematik der fünften Strophe wird der Begriff des edel gt gerete (für die Tugenden) in der sechsten Strophe auf seine Mehrdeutigkeit hin durchscheinend, da gerete nicht nur ‚Ausrüstung‘, sondern auch ‚Rat‘ heißen kann.²⁷⁶ Dieses Spiel mit der Polysemie des Begriffs inszeniert die Tugenden damit nicht nur als schmückende Ausstattung, sondern zugleich als gute(n) Rat(geber). Die sechste Strophe komplementiert durch diesen intratextuellen Bezug gewissermaßen die fünfte. Wenn diese warnt, dass die valschen rete zur missetat führen, zeigt die sechste die Tugenden – den guten Rat – entsprechend als Weg zur guten Tat. Zudem gibt sie die Antwort, welche die fünfte Strophe mit

 Vgl.: MWb, Bd. 2, Sp. 489: geræte, Koll. zu rât: ‚Ratschlag, Beschluss, Plan‘ (in erster Bedeutung; daneben freilich auch ‚Ausstattung, Ausrüstung‘). Umso weniger überzeugt die Konjektur in KLD – gewæte statt gerete –, die aber zugleich zeigt, wie der Begriff gerete, das in diesem Kontext zu erwartende gewæte assoziativ aufruft. Die Konjektur verweist zudem auf die gewisse – und wohl beabsichtigte – Irritation, die der Begriff gerete im Kontext der Kleiderallegorie erzeugt, in welchem er nicht breit belegt ist, und die dazu führt, ihn zu reflektieren und seine Polysemie zu erkennen.

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2 Analysen

ihrer Warnung vor schlechtem Rat gewissermaßen schuldig geblieben ist, erklärt nämlich, wer – oder vielmehr was – guten Rat gibt, nämlich die Tugenden (das greift zugleich die Idee einer Identität von schlechtem Rat und schlechten Ratgebern aus der fünften Strophe wieder auf und verweist damit komplementär auch darauf, dass die Tugendhaften gute Ratgeber sind). Durch die intratextuelle Verknüpfung der drei Strophen überlagert sich zudem ihre Apostrophierung unterschiedlicher Adressaten. Strophe vier bietet (eigentlich) eine allgemein gehaltene Verhaltenslehre, Strophe fünf und sechs adressieren dezidiert die Herren. Diese Adressierung wirkt durch die intratextuelle Verbindung der Strophen zum einen auf die vierte Strophe zurück und macht ihr behauptetes Primat der ere vor dem gt noch deutlicher zu einer unterschwelligen Aufforderung an die Begüterten (also letztlich die Herren), ihren Besitz um des Ansehens willen zu teilen. Zugleich verstärkt die rezeptive Offenheit der Verhaltenslehre in Strophe vier wiederum die Tendenzen zu einer Allgemeingültigkeit der Belehrung in den Strophen fünf und sechs, die damit noch deutlicher nicht nur an die Herren, sondern an alle appellieren. Neben den intratextuellen Verweisen aufeinander fällt auch auf, dass – wie die Analysen gezeigt haben – alle drei Strophen vielfältige Gattungs- und Einzeltextreferenzen auf die Sangspruchdichtung enthalten. Gerade vor dem Hintergrund ihrer ausgesprochen sangspruchtopischen Themen ist das alles andere als überraschend, zeigt aber dennoch, wie sehr diese Gattung innerhalb ihrer gattungsspezifischen Themen einen eigenen Diskurs ausbildet. Exemplarisch lässt sich dabei etwa an der intertextuellen Reihe des Aspis-Motivs (Strophe fünf) von Friedrich von Sonnenburg bis zum Kanzler beobachten, wie es zu einem Umbau von Anleihen an die Bußpredigt zu Referenzen auf die eigene Gattung der Sangspruchdichtung kommt. Zum einen schreiben sich die ‚neuen‘ Texte mit diesen Referenzen affirmativ in die vorhandene Textlandschaft ein, zum anderen zielt das Aufgreifen solcher Versatzstücke auf den Bau neuer persuasiver Argumente, worin sich auch deutliche Tendenzen der Überbietung manifestieren, die das Gattungsfeld zugleich als ein agonales erscheinen lassen. Beide Tendenzen treiben eine Institutionalisierung der eigenen Gattung voran und zeigen zugleich eine Etablierung neuer Habitusformen. Diese sangspruchtopischen Strophen sind im Übrigen auch ganz anders konstruiert als etwa die ihnen in C vorangehenden hymnischen Gebetsstrophen, die zwar auch ein geläufiges Sangspruchthema verhandeln, aber eines, das grundsätzlich auf andere, gattungsfremde Diskurse referiert. In den vorliegenden Strophen etabliert das Sänger-Ich eine spezifische Sprecher-Rolle: Es inszeniert sich als autoritative Instanz und als Ratgeber, der seinen Aussagen durch einen objektiv konstatierenden Sprechgestus eine Aura des als allgemeingültig Anzuerkennenden verleiht. Dieser klar belehrenden Absicht folgend sind die Strophen in der Tendenz wie kleine Reden aufgebaut, sie gliedern sich in eine Exposition, einen argumentativ-belehrenden (Haupt‐)Teil und eine pointierte conclusio. Wiewohl sie sich nicht glatt in ein Muster klassischer Redeteile fügen, lässt sich doch eine gewisse Anlehnung daran beob-

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achten.²⁷⁷ Die Eröffnung der vierten Strophe (1Kanz/2/4) lässt sich etwa als stark verkürztes exordium verstehen: Mit dem einleitenden ‚mich wundert‘ (Str. 4, V. 1) wendet sich das Sänger-Ich indirekt an das Publikum und sucht durch diesen Ausdruck des Erstaunens dessen Aufmerksamkeit zu erregen.²⁷⁸ Die Strophen eröffnen (dann) alle mit einer Exposition des Themas,²⁷⁹ indem sie gewissermaßen als Weltbeobachtung einen bestimmten Missstand oder (Wunsch‐) Zustand vorstellen, der gleichsam im Stil einer narratio den zu erörternden Sachverhalt darlegt.²⁸⁰ Der zentrale Teil der Strophen verhandelt anschließend, wie auf diesen Zustand zu reagieren sei, verfährt dabei allerdings im Gegensatz zu einer argumentatio weniger be- als vielmehr anweisend.²⁸¹ Entsprechend der paränetischen Absicht der Strophen werden die pro und contra-Argumente also vielmehr zu Unterweisungen, die diskutieren, wie man sich vorbildlich verhält und wie nicht. Dabei behaupten die Strophen einen Konnex von Vorbildlichkeit und gesellschaftlichem Ansehen, was zum einen die Richtigkeit der vorgebrachten Lehre bestätigt, zum anderen Anreiz schafft, ihr zu folgen. Abschreckend formulieren Strophe vier und fünf zudem die negativen Folgen ‚falschen‘ Verhaltens. Alle drei Strophen überführen ihre Diskussion in einen pointierten Schluss, der gerade in Strophe vier und fünf im Stil einer peroratio das Gesagte noch einmal zuspitzend konkludiert und zugleich unterschwellig als ex- beziehungsweise dehortativer Appell fungiert.²⁸² Im Gegensatz zur klassischen peroratio in der Rede (oder Predigt) gibt sich das Sprecher-Ich hier allerdings weder persönlich affiziert noch apostrophiert es die Rezipienten direkt.²⁸³ Die geradezu sentenzhaften Strophenschlüsse fordern in ihrer persuasiven Zuspitzung der Argumente vielmehr die Rezipienten implizit dazu auf, selbst die Konsequenzen aus diesen Lehren zu ziehen und die Anweisungen lebenspraktisch klug zu ergänzen.²⁸⁴

 Zu diesen Redeteilen vgl. Johannes Engels: [Art.] Partes orationis. In: HWRh, Bd. 6, Sp. 666–678, hier Sp. 666–673.  Vgl. Klaus Schöpsdau: [Art.] Exordium. In: HWRh, Bd. 3, Sp. 136–140, hier Sp. 136; vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Wissenschaft. Stuttgart 2008, hier § 269.  Strophe fünf und sechs haben kein exordium, sondern gehen medias in res, was aber nicht unüblich ist, vgl. Engels ([Art.] Partes orationis), Sp. 667.  Vgl. Lausberg (Rhetorik), § 293.  Vgl. dazu Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 192.  Damit stehen die Strophen wiederum der Predigt nahe, die statt in eine conclusio häufig in eine exbeziehungsweise dehortatio mündet, vgl. Engels ([Art.] Partes orationis), Sp. 673.  Vgl. Irmgard Männlein-Robert: [Art.] Peroratio. In: HWRh, Bd. 6, Sp. 778–788, hier Sp. 778.  Zur Relevanz des persuadere in der peroratio vgl. Männlein-Robert ([Art.] Peroratio), Sp. 778; in der Rede allgemein vgl. Lausberg (Rhetorik), § 289.

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2 Analysen

2.2.3 Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7) C Kanz  Ein infel unde ein crone, die pflegent nu der kristenheit mit ir gerihten schone. swelh rihter rat unde v̍ urspreche ist  unde selber teilen wil,

B Kanz  Ain infelle unde ain krone, die phlegent nu der cristenhait mit ir gerihten schone. swa rihter rat unde fu̍ rspreche ist  unde selbe ertailen wil,

wil der niht rehte rihten noh raten uf rehten scheit noh sprechen uf ein slihten, erteilet der durh argen list  ze lu̍ zel unde ze vil,

swer da ......... gerihte ...... e der ...... uf dz reht, die warhait unde die slihte. ............................  ...... oder ze vil,

we dem, der da ze rehte stat. mit schulde unde ane schulde, sin gt er vor verlorn hat da bi des rihters hulde.  ir pfaffen unde ir leigen, wa vindent ir ein sicherheit vor den gerihten zweien? die herren hant, daz si u̍ leit, den schaffen widerseit.

we im, swer da ze gerihte stat. mit schulde unde ane schulde, sin gelt er gar verzeret hat, verlu̍ rt er des rihters hulde.  ir pfaffen unde ir laien, rattent durch uwer sicherhait ...... gerihten zwaien. die herren hant, dz ist mir lait, ............................

Die siebte Strophe exponiert eine gänzlich neue Thematik, nämlich gerechte Rechtsprechung.²⁸⁵ Sie eröffnet mit einem (scheinbaren) Lob der weltlichen und geistlichen Gerichtsbarkeit, die sich nu, heutzutage, vorbildlich um die Christenheit kümmerten (V. 1–3). Weltlichkeit und Geistlichkeit werden dabei pars pro toto über ihre Insignien, die krone und die infel, aufgerufen, mit denen das Sprecher-Ich zugleich auf Kaiser und Papst als Oberhäupter der jeweiligen Gerichtsbarkeit verweist.²⁸⁶ Die diesen Gerichten Unterstehenden subsummiert die Strophe unter dem Glauben (kristenheit), womit alle regelhaft Rechtsfähigen angesprochen werden, unabhängig von Stand und Amt.  An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Andreas Deutsch vom Deutschen Rechtswörterbuch ganz herzlich dafür danken, dass ich einige fachspezifische Fragen zu dieser Strophe mit ihm diskutieren durfte.  infula ist das lateinische Pendant zu mitra, meint also die Bischofsmütze (entsprechend auch das Verb infuln ‚mit der infel versehen‘, vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1431, d. h. in den Bischofsstand erheben); ursprünglich handelt es sich dabei um eine verstärkende Binde am unteren Rand der Mütze, von der nach hinten zwei Bänder (infulae/fanones) herabhängen – so auch bei der päpstlichen Tiara (‚Papstkrone‘), vgl. dazu Withold Maisel: Rechtsarchäologie Europas. Aus dem Polnischen übersetzt von Ruth Poninska-Maisel. Wien/Köln/Weimar 1992, hier S. 228 f. Gerade in der Zusammenstellung mit der (Kaiser‐)Krone steht die Infel auch hier beim Kanzler offenbar stellvertretend für den Papst, denn einerseits trägt auch dieser zu liturgischen Zwecken – weil er Bischof von Rom ist – die Mitra, vgl. ebd.; andererseits findet sich der Begriff inful auch als Bezeichnung für die Tiara, vgl. etwa in der (allerdings deutlich späteren) Chronik Ulrichs von Richental: und sass der bapst mit siner infel […] und der römisch künec mit siner kron (hier also dieselbe Gegenüberstellung der Insignien).

2.2.3 Ton II, Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7)

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Im Fortgang der Strophe offenbart sich dieses Lob auf einen vermeintlichen Idealzustand des Rechtswesens als Ironie,²⁸⁷ wenn die Strophe problematisiert, dass es Richter gebe, die teilen,²⁸⁸ also urteilen wollen, zugleich aber rat und v̍ urspreche sind (V. 4–10). Dass jene damit drei verschiedene gerichtliche Funktionen in sich vereinen, kritisiert die Strophe jedoch nicht explizit, sondern vielmehr indirekt, indem sie die negativen Folgen veranschaulicht, die es haben kann, wenn eine derart ermächtigte Person nicht aufrichtig handelt: Wenn ein solcher Richter nämlich weder gerecht richtet (wil der niht rehte rihten, V. 6, also besonders in seiner Aufgabe als Richter fehlgeht) noch zu einem gerechten Schiedsspruch rät (noh raten uf rehten scheit,V. 7, was über den Begriff des ratens die Kompetenz als Rat einbezieht) und sich auch nicht für einen gütlichen Ausgleich ausspricht (noh sprechen uf ein slihten, V. 8, was das Interesse der Parteien schädigt, welches im Kompetenzbereich des Fürsprechers liegen sollte), ja wenn ein solcher Richter letztlich aus Boshaftigkeit mit seinem Urteil zu wenig und zu viel (zu‐)spricht (erteilet der durh argen list/ ze lu̍ zel unde ze vil, V. 9 f. – das Urteil zu fällen ist Aufgabe der Schöffen, nicht des Richters, s. u.), dann, so äußert das Sänger-Ich mit einem Ausruf der Klage, ergehe es demjenigen übel, der dort vor Gericht stehe (we dem, der da ze rehte stat, V. 11).²⁸⁹ Problematisiert wird hier mithin der Antitypus eines Richters, der alle Funktionen an sich reißt und aus falscher innerer Einstellung heraus ein ungerechtes Urteil spricht.²⁹⁰ Die Strophe stellt damit die unbedingte Notwendigkeit einer moralischen Integrität des Richters heraus, zugleich suggeriert sie, dass eine Aufteilung der gerichtlichen Funktionen auf verschiedene Personen dazu beitragen kann, ein potenzielles schändliches Fehlverhalten eines dieser Amtsinhaber zu korrigieren beziehungsweise zu sanktionieren. Wer aber vor einem dergestalt falschen Gericht steht, das pointiert der Abgesang, verliert mit schulde unde ane schulde (V. 12), also egal ob er zu Recht oder zu Unrecht angeklagt ist, seinen Besitz schon vor dem tatsächlichen Verfahren (sin gt er vor verlorn hat,V. 13). Die ergänzende Äußerung da bi des rihters hulde (V. 14) lässt, je nach Übersetzung von ‚da bi‘, zwei Deutungen zu: Entweder verweist sie darauf, dass der Angeklagte „zusammen mit“ (da bi) der Gunst des Richters seinen Besitz verloren hat, also dass der, der die Gunst eines solchen ungerechten Richters nicht hat, den Prozess schon vor seinem Beginn verloren hat und damit auch seinen Besitz aufgrund der verhängten Strafe (für diese Interpretation spricht die Parallelüberlieferung).²⁹¹ Die

 Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248; Zach (Kanzler), S. 160.  KLD konjiziert hier vereindeutigend zu ‚erteilen‘, doch auch teilen kann richterliches Urteilen meinen, vgl. BMZ, Bd. 3, Sp. 24b: ‚gebe eine richterliche Entscheidung ab‘; vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 1415: ‚urteilen, durch Urteil entscheiden‘.  Vgl. dazu auch KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248; dem folgt auch Seidl (LDM, Kommentar).  KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248, paraphrasiert die Stelle mit „wenn der Richtende zu wenig (nämlich an Entschädigung) und zu viel (nämlich an Strafe) zuerkennt“, gemeint ist aber wohl primär, dass der Richter kein gerechtes, ausgeglichenes Urteil fällt, sondern dem einen zu wenig, dem anderen zu viel gibt; dahinter steht auch das Bild der Waage der Justitia, die ausgeglichen sein soll.  Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248; Zach (Kanzler), S. 162.

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Äußerung ließe sich aber auch – und das scheint im Kontext der gesamten Strophe und juristischer Diskurse der Zeit wahrscheinlicher – als Hinweis auf eine Bestechlichkeit der Richter verstehen: Mit der Bezahlung eines solchen ungerechten Richters, „mit“ (da bi) dem überteuerten Erwerb seiner Gunst, verliert der Angeklagte sein Vermögen schon vor dem Prozess – und erwirbt er die Gunst nicht, ist schon vor dem Verfahren klar, dass er sein Vermögen durch die Strafe danach verliert. Dass diese Situation des Gerichtswesens für jeden beunruhigend ist, führt das Sänger-Ich in einer rhetorischen Frage vor Augen, die er dezidiert an alle richtet: ir pfaffen unde ir leigen,/ wa vindent ir ein sicherheit/ vor den gerihten zweien? (V. 15–17). Ausgestellt wird hier also die Unzuverlässigkeit des Rechtswesens, der jeder machtlos ausgeliefert sei, Geistliche wie Laien. Die Äußerung greift das Anfangsthema der doppelten Gerichtsbarkeit wieder auf und konstatiert diesen Missstand für beide. Über die ausgespielte Zahleninkongruenz – zwei Gerichtsformen vermöchten nicht eine Sicherheit zu gewährleisten – scheint zugleich unterschwellig der Pluralismus der Rechtsformen im Hochmittelalter²⁹² in der Kritik zu stehen. Die Strophe schließt – erneut in Publikumsapostrophe – mit der pessimistischen Feststellung, dass nun alle darunter zu leiden hätten, dass die Herren den schaffen widerseit hätten (V. 18 f.). An dieser Schlusszeile und ihrem nicht unproblematischen Begriff schaffen entscheidet sich die Interpretation. KLD konjiziert hier zu pfaffen ²⁹³ und begreift damit die gesamte Strophe als Kritik an einem Zerwürfnis zwischen weltlichen Herren und Geistlichkeit. Aufgrund ihrer Feindschaft nämlich verliere der Laie vor dem geistlichen Gericht und der Geistliche vor dem weltlichen Gericht jeweils die Gunst des Richters und mit dieser auch seinen Besitz. Sie büßten also als Exponenten des jeweils anderen Standes, dass die obersten Instanzen „einander die Freundschaft gekündet“ hätten.²⁹⁴ Die Konjektur scheint logisch und ist auch überlieferungsbezogen begründbar, da schaffen nur durch C gestützt ist (die Parallelüberlieferung ist an dieser Stelle unkenntlich²⁹⁵), allerdings ist sie alles andere als zwingend. So folgt auch die Neuedition in LDM der Überlieferung, belässt also ‚schaffen‘ und verweist im Apparat auf das (seltene) Nomen schaffe: ‚Anordnung, Befehl‘.²⁹⁶ Der Vorwurf gegen die Herren – in

 Vgl. Hubert Drüppel: [Art.] Gericht. Gerichtsbarkeit. I. Allgemein und deutsches Recht. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1322–1324, hier Sp. 1323.  „[N]ach dem Eingang, der infel und krône gegenüberstellt, scheint mir kein Zweifel, daß das Wort durch pfaffen zu ersetzen ist“, KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 249.  KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 248; Zach (Kanzler), S. 162 f., folgt dieser Interpretation.  Diese Strophe ist auf der (ehemaligen) Außenseite der Basler Rolle eingetragen und weist daher starke Abnutzungsspuren auf, vgl. Martin Steinmann: Das Basler Fragment einer Rolle mit mittelhochdeutscher Spruchdichtung. In: ZfdA 117 (1988), S. 296–310, hier S. 299.  Vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 630 (die Belegstellen stammen nur aus einem Text, einer Übersetzung der Benediktsregel aus dem 13. Jahrhundert, sind jedoch insofern eindeutig, als hier schaffe für lateinisch praeceptum verwendet wird); Müller dagegen verteidigt die Konjektur von HMS zu schafe (‚Schafe‘) als metaphorische Umschreibung der Laien, vgl. Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974, hier S. 159. Ich halte das für unwahrscheinlich. Erstens ent-

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dieser Lesart gegen die weltlichen und die geistlichen – lautet damit, dass sie sich gegen die Anordnungen richten, gegen das Gesetzte. Im Kontext der Strophe weist das die falsche Ausübung des Richteramts als Missstand im Rechtswesen der Geistlichkeit und Weltlichkeit aus, die gegen eine bestimmte Ordnung verstößt, nämlich eine reguläre Rechtsprechung, in der verschiedene Akteure verschiedene Aufgaben im Prozess übernehmen. Der Begriff der schaffe profiliert diese (hier unterlaufene) Rechtsordnung als etwas Gegebenes, als ein Gebot, dem sich selbst die Herren zu beugen haben. Da der Strophenanfang als (oberste) Herren mit inful und krone Papst und Kaiser aufruft, wird das Gebot, wenn selbst diese ihm zu folgen hätten, auf einen göttlichen Ursprung hin durchlässig. Damit referiert die Strophe auf eine zentrale Vorstellung des juristischen Diskurses, die der Zwei-Schwerter-Lehre. Diese leitet typologisch-allegorisch aus Lk 22,38²⁹⁷ ab, dass es nach Gottes Willen auf Erden nur zwei Gewalten gebe, nämlich die geistliche, welcher der Papst vorstehe, und die weltliche, welcher der Kaiser vorstehe.²⁹⁸ Breit vermittelt ist diese Vorstellung auch im volkssprachigen (Rechts‐)Schrifttum, etwa dem Sachsenspiegel Eikes von Repgow, einem der ältesten und wirkmächtigsten volkssprachlichen Rechtsbücher überhaupt,²⁹⁹ der bereits im Prolog betont, dass das Recht von Gott komme, indem er Gott mit dem Recht gleichsetzt: Got is selve reht, dar umme is em recht lef (Prolog, S. 51 f.).³⁰⁰ Einen Missbrauch des Rechtswesens klassifiziert Eike entsprechend als Sünde und als Bruch des Bundes mit Gott: Swe sek rechtes understeit,/ weme lef, weme leit,/ Weme scade oder vrome/ immer dar na kome/ […]/ Swe buten miner lere gat,/ he sprikt lichte, des he laster hat,/ Unde dut sunde jegen Got;/ went he brikt der e bot/ Swe so recht verkeret (Reimvorrede, V. 125–137).³⁰¹

faltet der überlieferte Wortlaut schaffe durchaus Sinn (s. u.), zweitens beschreibt die Metapher der ‚Schafe‘ traditionell einen Gegensatz von Laien und Klerikern, der einer anderen Logik gehorcht als die Opposition von (gleichermaßen weltlichen wie geistlichen) Herren und den Leidtragenden, welche die Strophe modelliert (die herren hant, daz si u̍ leit,/ den schaffen widerseit, V. 18 f.), drittens passt der Registerwechsel in eine geistliche Metaphorik schlecht zum Rechtsdiskurs der Strophe, der geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit gleichermaßen als Problem für die Menschen ausstellt.  Lk 22,38: At illi dixerunt [die Jünger zu Jesus]/ Domine ecce gladii duo hic/ at ille dixit eis/ satis est.  Breit diskutiert wird dabei, ob es eine Superiorität der geistlichen (päpstlichen) über die weltliche (kaiserliche) Gewalt gebe, wie sie von der Kirche aus Mt 26,52 abgeleitet wurde (beide Schwerter seien in der Nachfolge Petri in der Obhut des Papstes, der das weltliche Schwert dem jeweiligen Kaiser verleihe) – ein Disput, der bis in die volkssprachliche (Rechts‐)Literatur dringt: Bei Eike von Repgow und Freidank etwa werden die Schwerter von Gott programmatisch direkt den beiden Oberhäuptern übergeben, vgl. Werner Goez: [Art.] Zwei-Schwerter-Lehre. In: LexMA, Bd. 9, Sp. 725 f., hier Sp. 725.  Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: [Art.] Eike von Repgow. In: ²VL, Bd. 2, Sp. 400–409, hier Sp. 400; verfasst ist dieser wohl zwischen 1224 und 1235 (wobei Schmidt-Wiegand eine rund zehnjährige Entstehungszeit annimmt), vgl. ebd., Sp. 403.  Zit. nach: Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Landrecht, hg. von Karl August Eckhardt. Berlin/ Frankfurt a. M. 1955.  Zit. nach: Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel, hg. von Clausdieter Schott, Übertragung des Landrechts von Ruth Schmidt-Wiegand, Übertragung des Lehnsrechts von Clausdieter Schott, mit 18 farbigen und 11 schwarzweißen Illustrationen. Zürich 1984.

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Die einleitenden Verse der Kanzlerschen Strophe – Ein infel unde ein crone,/ die pflegent nu der kristenheit/ mit ir gerihten schone (V. 1–3) – spielen auf die ZweiSchwerter-Lehre an und somit auf die im juristischen Diskurs fest verankerte Vorstellung, dass das Recht von Gott komme. Der Vorwurf, die Herren hätten den schaffen widerseit, wird durch diese Referenz zu einem Vorwurf an die Herren, mit ihrer ‚Rechtsprechung‘ göttliches Gebot gebrochen zu haben. Indem der Missbrauch des Rechtswesens dergestalt als Verstoß gegen die göttliche Ordnung profiliert wird, inszeniert die Strophe ihn unterschwellig als Sünde und Weg in die ewige Verdammnis. Auch der Kanzlersche Vorwurf gegen die Richter, dass sie ungerecht, boshaft und bestechlich beziehungsweise habgierig seien (sin gt er vor verlorn hat/ da bi des rihters hulde, V. 13 f.), wird in den volkssprachlichen Rechtsbüchern der Zeit als potenzielles Problem thematisiert, etwa im Schwabenspiegel:³⁰² Vnde ſwelch rihter vnreht vrteil git . oder andren lv̍ ten geſtattet . daz ſi vnreht vrteil ſprechent . dt er daz durch haz . oder durch gtes willen . der verlv̍ ſet gotes willen vnde gottes hulde […] Deheinem rihter iſt nv̍ t gt geſetzet ze . nemenne wan ſine bzze (86 b).³⁰³ Als Richter ungerechte Urteile zu erteilen beziehungsweise sprechen zu lassen sowie sich über die rechtmäßigen Bußzahlungen hinaus zu bereichern, wird im Schwabenspiegel also ebenfalls als Verstoß gegen die göttliche Ordnung profiliert.³⁰⁴ Mit besonderer Schärfe verurteilt und dem Verräter Judas gleichgestellt wird dabei, wenn der Richter sich von dem bestechen lässt, der Unrecht hat.³⁰⁵ Auch der Mainzer Reichsfrieden (1235) beschäftigt sich mit diesem Thema, denn hier wird bestimmt: Derselbe richter sol schweren uff den heiligen, das er durch libe noch durch leide noch durch forcht noch durch mite anders richte, wann noch recht als im erteilt wirt. Derselbe rihter sol nehmen alle die wette, die uns von den gewettet werden die uß der aht komen […]. Dise wette bescheiden wir den-

 Der Schwabenspiegel geht auf den Sachsenspiegel zurück, den er stark bearbeitet und ergänzt. Er ist um 1275/1276 im Augsburger Franziskanerkloster entstanden und ausgesprochen breit überliefert, vgl. Peter Johanek: [Art.] Schwabenspiegel. In: ²VL, Bd. 8, Sp. 896–907, hier Sp. 896–898; besonders das römische und kanonische Recht finden hier stärker Berücksichtigung als im Sachsenspiegel. Anders als letzterer deutet er entsprechend auch die Zwei-Schwerter-Lehre im kurialistischen Sinne, vgl. Karin Nehlsen-van Stryk: [Art.] Schwabenspiegel. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 1603–1605, hier Sp. 1604.  Hier und im Folgenden zit. nach: Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und LehenRechtbuch, nach einer Handschrift vom Jahr 1287 hg. von Friedrich L. A. Freiherr von Lassberg, mit einer Vorrede von August L. Reyscher. Aalen 1961 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1840).  Zapp verweist auch im Rahmen der Sendgerichtsbarkeit auf gewisse Missstände in dieser Hinsicht, die zeitgenössisch Widerspruch fanden (besonders was die Umwandlung von Bußwerken in Geldbußen angeht, die dem Richter zufielen), vgl. Hartmut Zapp: [Art.] Send, -gericht. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 1747 f., hier Sp. 1748.  Vgl. Schwabenspiegel, 86 c; weiter heißt es, ein Richter habe sich vor Gott zu rechtfertigen und das heißt er solle ſich bedenken wan er gt ze vnrehte genomen habe . vnde ſwem er gt ze vnrehte verloren hat . dem ſol er daz wider geben nach rehte . oder nach minnen.

2.2.3 Ton II, Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7)

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selben richter, darumb das er daste gerner richte und von niemand keinerhand gut umb das gerichte neme (§ 28).³⁰⁶

Die Diskussion dieser Probleme in den Rechtsschriften (und der auf eine gewisse Aporie hindeutende Versuch, sie durch den Verweis auf die göttliche Strafe zu regeln) bestätigt implizit die Missstände im Rechtswesen, welche die Strophe des Kanzlers kritisiert. Vermittelt könnte dieser Diskurs dem Kanzler aber auch durch die Predigt sein, wo es etwa bei Berthold von Regensburg fast identisch mit dem Wortlaut des Mainzer Reichsfriedens heißt:³⁰⁷ Herre, her rihter […]. Sô rihtet […] weder durch liep noch durch leit noch durch guotes miete noch durch kein dinc wan nâch dem rehten; noch nemet von nieman kein guot wan iuwer rehte buoze; die selbe dannoch nâch gnâden („Von den fünf pfunden“, Bd. 1, S. 15, zit. nach Pfeiffer). Auch die Kritik an beiden Gerichtsbarkeiten ist hier angelegt: […] vil sünden möhten wol erwenden geistlîche richter unde werltlîche richter. Swenne die gereht wæren an ir gerihten, sô getörste nieman deheine sünde getuon […] („Von siben übergrôzen sünden“, Bd. 1, S. 209, zit. nach Pfeiffer).³⁰⁸ Ebenso ist das beim Kanzler angesprochene Thema eines richterlichen Übergriffs auf weitere gerichtliche Amtsfunktionen Thema der Rechtsbücher, wenn etwa im Sachsenspiegel die strikte Funktionsteilung zwischen dem Amt des Richters, der den Prozess leitet, und dem der Schöffen, die das Urteil finden und beschließen, betont wird:³⁰⁹ De rihtere scal gelih rihtere sin allen luden; ordel ne scal he vinden noch scelden (Ldr. III 30 2, zit. nach Eckhardt). Hier wird mithin eine Überschreitung in den Kompetenzbereich der Schöffen thematisiert, was auch beim Kanzler möglicherweise anklingt, wenn es heißt, der Richter erteilet […] ze lu̍ zel unde ze vil (V. 9 f.), aber auch in der hier behaupteten Usurpation der Aufgaben von Fürsprecher und Rat, die Teil des Schöffengremiums sind.³¹⁰  Zit. nach: Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, hg., eingeleitet und übertragen von Arno Buschmann. München 1984, hier S. 102.  Darin spiegelt sich freilich, dass es sich hierbei um Rechtsformeln handelt.  Auch in der Predigt „Von den fremeden sünden“ wird Kritik an ungerechter Rechtsprechung und Bestechlichkeit geäußert: Daz gêt aber die rihter an, sie sîn geistlich oder werltlich. Alle die sünde, die sie vertragent und ir niht wernt und alsô hin lâzent gên durch miete oder durch liebe oder durch leide oder duch lîhtsenftekeit […], Bd. 1, S. 217, zit. nach Pfeiffer. Ebenfalls mit dem Stand der Richter befasst sich der – allerdings wohl erst nach 1300 abgefasste – Schachtraktat Jacobus de Cessolis, der volkssprachig reich rezipiert wurde (vgl. Anton Schwob: [Art.] Schachzabelbücher. In: ²VL, Bd. 8, Sp. 589–592), in einem Kapitel; auch hier werden die Richter dazu aufgefordert, gerecht zu urteilen, und im Fall eines Zuwiderhandelns wird ihnen die ewige Verdammnis in Aussicht gestellt; Konrads von Ammenhausen mittelhochdeutsche Übersetzung dieses Werkes befasst sich dabei auch mit der weltlichen und geistlichen Gerichtbarkeit (nach Konrads eigener Aussage datiert diese Übersetzung allerdings erst auf 1337, vgl. Gerhardt F. Schmidt: [Art.] Konrad von Ammenhausen. In: ²VL, Bd. 5, Sp. 136–139, hier Sp. 136).  Vgl. Hubert Drüppel: [Art.] Richter. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 833–837, hier Sp. 834.  Vgl. Louis Carlen: [Art.] Fürsprecher. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1029.

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Obwohl die Vorwürfe des Kanzlers bei alledem an keiner Stelle zwingend auf eine intime Kenntnis des Rechtswesens verweisen müssen – wie erwähnt, finden sich Versatzstücke dieses Diskurses auch in der Predigt –, greifen sie doch in vielen Punkten Themen auf, die im juristischen Diskurs virulent sind, und referieren damit auf ihn.³¹¹ Sangspruchhaft werden diese Missstände im Stil einer Zeitklage formuliert, die vordergründig als umfassende Kritik an der zeitgenössischen Rechtspraxis erscheint. Die Referenz auf den juristischen Diskurs, der grundlegend eine Herkunft des Rechtswesens von Gott behauptet und den Missbrauch juristischer Verfahren mithin als Frevel ausweist, macht die Strophe des Kanzlers dabei zugleich zu einer mahnenden Warnung vor dem künftigen Schicksal für alle diejenigen (Herren), die das Rechtswesen missbrauchen. Die auch im juristischen Schrifttum begegnende spezifische Kritik am Richterstand³¹² lässt sich beim Kanzler zugleich implizit als Schelte gegen die Herren verstehen, da diesen die Richterfunktion von Papst und Kaiser übertragen wird.³¹³ Gerade darin könnte sich ein ganz konkreter Bezug auf den zeitgenössischen Rechtsdiskurs offenbaren, nämlich die Frage, wer von wem zum Richter bestimmt wird. Sowohl der Deutschenspiegel als auch der Schwabenspiegel ³¹⁴ fordern, dass das Gericht mit einer Wahl (kur) beginne, nämlich der des Richters, denn dehein

 Wenn man daraus eine tiefere Kenntnis des Rechtswesens ableiten wollte, könnte das vielleicht zu den Erwägungen hinsichtlich des ‚Namens‘ des Kanzlers beitragen, da dieser sowohl Beinamen beziehungsweise Berufsbezeichnung (auch bei Gericht gibt es Schreiber) sein könnte als auch Familiennamen (vgl. Kornrumpf ([Art.] Kanzler), Sp. 986), im Rahmen der Sangspruchdichtung aber auch – wie etwa der Tugendhafte Schreiber – programmatisch selbstgewählt sein könnte (die Strophen betonen das Geschriebene, prätendieren oder verweisen insofern auf Lese- und Schreibkompetenz).  Ein besonders einschlägiges, aber deutlich späteres Beispiel bietet der Klagspiegel (Mitte des 15. Jahrhunderts); hier ist die Kritik an der richterlichen Willkür dezidiert Ausdruck eines Konflikts zwischen studierten Juristen und der Gerichtsbarkeit auf dem Land mit ihren ungelehrten Laienrichtern: die ungele[h]rten leyen urteyln/ unnd dunken etlich me[h]r nach gunst dann nach vernunfft (Titel 134, Bl. XC); auch hier wird den Richtern unterstellt, sie sein zum raub bereit/ und laden nach yegklichs willen (Titel 14 [Ander Teil], Bl. CXXI), vgl. Andreas Deutsch: Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden. Ein Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts als Wegbereiter der Rezeption. Köln/Weimar/ Wien 2004, hier S. 389 f.; dabei ist diese Klage dem Verfasser des Klagspiegels Rechtfertigung für seinen Text, der diesen Missständen wehren soll, vgl. ebd. Die Strophe des Kanzlers verweist möglicherweise auf eine Relevanz solcher Themen bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts.  [d]e koning ist gemene richtere over al (Sachsenspiegel, Ldr. III 26 § 1, zit. nach Eckhardt), vgl. Drüppel ([Art.] Gericht), Sp. 1323.; Drüppel ([Art.] Richter), Sp. 834; zum Papst vgl. Winfried Trusen: [Art.] Gericht, Gerichtsbarkeit. III. Kanonisches Recht. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1325 f.; Winfried Trusen: [Art.] Gerichtsverfahren. II. Kanonisches Recht. 3. Strafprozess. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1332 f., hier Sp. 1333.  Der auf ca. 1275 datierte Deutschenspiegel ist mit dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel eng verbunden; nicht ganz klar ist, ob er Bindeglied zwischen den beiden ist (was als wahrscheinlicher gilt) oder eine Kompilation aus beiden, vgl. Clausdieter Schott: [Art.] Deutschenspiegel. In: LexMA, Bd. 3, Sp. 767 f., hier Sp. 767; die Übereinstimmung im vorliegenden Punkt verweist ebenfalls auf die Nähe der beiden Texte.

2.2.3 Ton II, Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7)

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herre sol den lv̍ ten keinen rihter geben wan den ſi welent (Schwabenspiegel, 86 a)³¹⁵ – eine Bestimmung, die offenbar nur in den Städten und auch dort mit unterschiedlichem Erfolg Gehör fand,³¹⁶ was in der Strophe des Kanzlers ein literarisches Echo haben könnte. Der abschließende Vers der Kanzlerschen Strophe lässt aber noch eine weitere Deutungsmöglichkeit zu, BMZ erwägt nämlich, ob schaffen hier eine Nebenform zu ‚Schöffe‘ sein könnte.³¹⁷ Wenn die Strophe in dieser Lesart also behauptet, die Herren hätten sich gegen die Schöffen gestellt, äußert sie eine spezifischere Kritik am Rechtswesen. Die Schöffen fungieren im mittelalterlichen Gericht etwa wie Geschworene,³¹⁸ sie sind diejenigen, die das Urteil beschließen, und stehen damit gewissermaßen dem Richter gegenüber, der dem Prozess vorsitzt, ihn leitet und das Urteil verkündet sowie vollzieht (nicht aber fällt);³¹⁹ Fürsprecher und Ratgeber können Teil des Schöffengremiums sein.³²⁰ Die deutsche Rechtswirklichkeit des Hoch- und Spätmittelalters ist jedoch von „ein[em] strukturelle[n] Pluralismus unterschiedlichster, auf allen Ebenen miteinander konkurrierender Gerichtsbarkeiten […] und deren einander vielfach überschneidenden Kompetenzen“ gekennzeichnet.³²¹ Zwar erfährt die kanonische Gerichtsbarkeit in der fränkischen Zeit eine Anlehnung an das Volksrecht,³²² was jedoch das Amt des Richters angeht, grenzt die klare Funktionsteilung des fränkisch-deutschen Rechts „den Vorsitzenden des weltlichen Gerichts […] scharf ab vom selbsturteilenden geistlichen Richter“.³²³ In letzterem Modell „lebte der (spät‐)römische Prozeß fort, in dem ein oder mehrere (Beamten‐)Richter zugleich vorsaßen und urteilten“.³²⁴ Dieses Modell erfährt eine Reaktivierung durch die

 Ebenso heißt es im Deutschenspiegel: daz dehein herre sol den liuten deheinen rihter geben wan den si welent, im Landrechsteil, 77 § 2, zit. nach: Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel, zweite neubearbeitete Ausgabe hg. von Karl August Eckardt, Alfred Hübner. Hannover 1933.  Vgl. Drüppel ([Art.] Richter), Sp. 834.  BMZ, Bd. 2/2, Sp. 70b: „vielleicht gehört hierher auch: die herren hânt den schaffen widerseit […] oder ist der schaffe der arme, arbeitende?“ – letzteres scheint mir im vorliegenden Kontext nicht wahrscheinlich.  Prinzipiell darf jeder freie Bürger ehelicher Geburt das Schöffenamt bekleiden, es findet allerdings eine zunehmende Institutionalisierung statt, vgl. Jürgen Weitzel: [Art.] Schöffe. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 1514–1516, hier Sp. 1516.  Vgl. Drüppel ([Art.] Gericht), Sp. 1322 f.; Drüppel ([Art.] Richter), Sp. 833 f.; Jürgen Weitzel: [Art.] Gerichtsverfahren. III. Germanisches und deutsches Recht 1–3. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1333–1335.  Vgl. Carlen ([Art.] Fürsprecher), Sp. 1029.  Vgl. Drüppel ([Art.] Gericht), Sp. 1323; zum einen beansprucht beziehungsweise etabliert der mitregierende Adel zunehmend eine eigene Gerichtsbarkeit, zum anderen „[dringt die römische Universalkirche] mit dem konsequenten Ausbau ihrer unabhängigen geistlichen Gerichte […] tief in den Aufgabenbereich weltlicher Tribunale ein“,vgl. ebd.; zudem verweist Weitzel ([Art.] Gerichtsverfahren), Sp. 1335, darauf, dass im Hochmittelalter Entscheidungspflicht und Instanzenverhältnis, Beweis- und Vollstreckungsrecht geschwächt wurden.  Vgl. Trusen ([Art.] Gericht), Sp. 1325.  Vgl. Drüppel ([Art.] Richter), Sp. 834.  Vgl. Weitzel ([Art.] Gerichtsverfahren), Sp. 1333.

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hochmittelalterliche Kirche, die Kaiser und die Rechtswissenschaft und gewinnt zum Ausgang des Mittelalters Verbreitung auch in den weltlichen Obergerichten.³²⁵ Wenn die Strophe des Kanzlers im letzten Vers mit den schaffen tatsächlich auf die ‚Schöffen‘ abhebt, dann könnten sich darin gerade solche Veränderungstendenzen im Rechtswesen spiegeln, nämlich eine Kompetenzerweiterung der Richter auf Kosten derjenigen der Schöffen. Die Strophe zeichnet insofern ein Drohbild, was eine solche mangelnde ‚Gewaltenteilung‘ zur Folge habe, nämlich dass die Streitparteien dem Richter völlig ausgeliefert sind, wenn keine andere Instanz partizipiert beziehungsweise interveniert. Damit geht, das legt die Strophe eindrücklich nahe, gesteigert die Gefahr eines Machtmissbrauches einher, falls die moralische Qualität des Richters nicht gewährleistet ist und er aus argem list handelt oder habgierig ist. Dass die Herren (weltliche und geistliche) den Schöffen widerseit haben, wäre insofern als Vorwurf zu verstehen, dass sie den Einfluss des Schöffengremiums bei der Urteilsfindung aufgehoben und so eine Instanz beseitigt haben, die durch ihre kollektive Urteilsfindung Gerechtigkeit befördert. Die Herren hätten das Rechtswesen damit dem Richter allein überantwortet und somit auch dessen Willkür, was einen Missstand verursacht, der alle angeht. Die Strophe des Kanzlers ist auffällig durchstrukturiert, nicht zuletzt durch eine Fülle rhetorischer Figuren, wodurch sie starke persuasive Energie gewinnt. Zu Beginn exponiert sie die umfassende Bedeutung der Gerichtsbarkeiten und sensibilisiert für potenzielle Missstände im Rechtswesen. Die Relevanz selbiger macht sie über ihre eindringliche Apostrophe an die Zuhörer als unmittelbar Betroffene deutlich, bevor sie im Vorwurf gegen die Herren kulminiert. Die rhetorischen Mittel verleihen der Strophe großen Nachdruck, besonders die Adnominationen und figurae etymologicae, welche die Rechtsbegriffe umkreisen (reht, rihten, gerihte, rihter) – und teils in ihrer Polysemie umspielen (reht als ‚richtig‘, aber auch ‚gerecht‘). Zudem rhythmisieren dichte Alliterationen die Strophe sowie eine enge Verschränkung von Parallelismen (V. 6/7/8, mit Anapher [V. 7 f.]) und Chiasmen (V. 5/6/9), die mit dem Argumentationsfluss enggeführt sind und ihn dadurch unterstützen. Daneben evozieren auch verschiedene, teils komplementäre, teils antithetische Doppelformeln eine Art Absolutheit und Gültigkeit (ein infel unde ein krone, ir pfaffen unde ir leigen, ze lützel und ze vil, mit schuld und ane schulde). Die Sprache wirkt dadurch geradezu strategisch persuasiv und referiert damit auch sprachlich kritisch auf eine formelhafte, geschliffene Redeweise, wie sie Gerichtsreden eignet, was sich besonders performativ entfaltet haben könnte. Die Strophe referiert mit ihrem Thema aber nicht nur auf einen juristischen Diskurs, sondern steht mit diesem Bezug auch in ihrer eigenen Gattung nicht allein. Die topische Klage über einen allgemeinen Verfall des rehtes ist seit Walthers Reichston wiederkehrender Bestandteil sangspruchdichterischer Zeitklagen. Zu einer konkreten Kritik an der Gerichtsbarkeit weitet sie sich etwa bei Ulrich von Singenberg und Rumelant von Sachsen aus. Ulrich insistiert darauf, dass Richter gerecht sein sollen (1UlrS/1/3), und

 Vgl. Weitzel ([Art.] Gerichtsverfahren), Sp. 1333.

2.2.3 Ton II, Strophe 7 – Ungerechte Gerichtsbarkeit (1Kanz/2/7)

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stellt in ironischer Verkehrung den Verfall des Gerichtswesens seit Karl dem Großen aus, wobei er offenbar auf den Pluralismus der Rechtsformen abzielt (1UlrS/4/4). Rumelants Strophe (1Rum/7/3) steht derjenigen des Kanzlers noch näher, denn auch hier wird „über das korrupte Rechtssystem“ geklagt, „das an kriminellen Entscheidungsträgern und bestechlichen Richtern krank[e]“.³²⁶ Dieser doppelte Vorwurf, der sowohl eine Ungerechtigkeit und Bestechlichkeit der Richter anprangert als auch die Herren als (Mit‐) Schuldige ausweist, verbindet die Strophe mit derjenigen des Kanzlers. Die literarische Parallele legt dabei zudem nahe, die Kanzlerstrophe eher als allgemeine Kritik an einer Bestechlichkeit und Unaufrichtigkeit der Richter aufzufassen, als in ihr den Vorwurf einer spezifischen Kompetenzkonkurrenz zwischen Richtern und Schöffen zu suchen. Die (Parallel‐)Strophe Rumelants sensibilisiert zugleich für einige Eigenheiten der Kanzlerstrophe. Erneut fällt etwa der tendenziell objektiv-konstatierende Sprechgestus des Kanzlerschen Sänger-Ichs auf, das im Gegensatz zu Rumelants personal hervortretendem Ich deutlich weniger aggressiv erscheint, eher die Zustände beklagt, als die Zuständigen anzuklagen und entsprechend auch die Geschädigten anspricht, nicht die Schädigenden. Auch die moralisch-ethische Verwerflichkeit falscher Rechtsprechung und der sie verübenden Richter tadelt die Strophe – anders als bei Rumelant – nur implizit. Vielmehr führt sie jedem Einzelnen vor Augen, dass diese Zustände eine persönliche Bedrohung für alle sind, und stellt sie damit weniger plakativ, aber umso eindringlicher als umfassende Gefahr für die Weltordnung aus. Die Überlieferung der Strophe in der Baseler Rolle ist so beschädigt, dass der Text nur fragmentarisch rekonstruierbar ist.³²⁷ Die erkennbaren Abweichungen von C lassen sich insofern nicht in ihrem spezifischen Kontext betrachten und wirken damit auf den ersten Blick wenig sinnkonstituierend, was sie schlicht fehlerhaft erscheinen lässt. Die erste semantische Variante liegt im vierten Vers vor, denn hier heißt es: swa ritter rat unde fu̍ rspreche ist (V. 4, statt swelh rihter).³²⁸ Die Nähe der beiden Wörter ‚ritter‘ und ‚rihter‘ legt einen Verschreibefehler nahe (dafür spricht auch, dass B3 im Abgesang [V. 14] wie C die rihter thematisiert). Nimmt man ‚Ritter‘ allerdings als Lesart ernst, formuliert die Strophe vorerst eine Vereinigung verschiedener Schöffen-Kompetenzen (nämlich Rat, Fürsprecher und Urteiler) in einer Person, die dem weltlichen Adel entstammt – unklar wird auf Grund des nur fragmentarisch rekonstruierbaren Textes der

 Vgl. Runow (Rumelant, Kommentar), S. 261. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 567, verweist hinsichtlich des Vorwurfes einer Bestechlichkeit der Richter auf literarische Parallelstellen, nämlich eine (freilich spätere) Strophe des Hardeggers (1Hard/1/7) und – jenseits der Sangspruchdichtung – auf Wernhers der Gartenaere Helmbrecht (V. 1673–1678) und Heinrich den Teichner (Niewöhner III, S. 66; Nr. 563, V. 2436–2440; 2451–2457). Friedrich Panzer: Meister Rûmzlant Leben und Dichten. Norderstedt 2017 (Nachdruck der Ausgabe von 1893), hier S. 22, betrachtet die Strophe Rumelants als konkrete Kritik an den Zuständen des Interregnums, wobei schon Runow (Rumelant, Kommentar), S. 261, anmerkt, dass sie ebenso als allgemeine Zeitklage ohne konkreten Zusammenhang verständlich bleibt.  Vgl. dazu Steinmann (Basler Fragment).  Vgl. LDM; Steinmann (Basler Fragment), S. 308.

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folgenden Verse jedoch, ob beziehungsweise welche Implikationen damit einhergehen. Erst zu Anfang des Abgesangs lässt sich der Text wieder konsistent herstellen: Hier rücken nun ebenfalls solche Richter in das Zentrum der Kritik, die den Prozess nach Gunst statt nach Schuld entscheiden. Die Lesart sin gelt er gar verzeret hat,/ verlu̍ rt er des rihters hulde (B3,V. 13 f.) statt sin gt er vor verlorn hat/ da bi des rihters hulde (C,V. 13 f.) ist syntaktisch deutlich glatter und einfacher zu verstehen (KLD paraphrasiert C allerdings genauso).³²⁹ Damit steht die Bestechlichkeit der Richter deutlich weniger im Fokus als in der oben erprobten Interpretation der Textstelle nach C. Stattdessen wird die Abhängigkeit von der Willkür des Richters betont. Über die Bedeutung der nachfolgenden Variante ir pfaffen unde ir laien,/ rattent durch uwer sicherhait/ ...... gerihten zwaien (V. 15–17) lässt sich aufgrund des fragmentarischen Strophenschlusses wenig sagen.³³⁰ Die abschließende Klage des Sänger-Ichs wird hier – anders als in C – letztlich zu einer persönlichen, wenn es heißt die herren hant, dz ist mir lait (B3,V. 18), statt daz si u̍ leit (C, V. 18). Damit schließt die Strophe in B3 im Verhältnis zu C weniger appellativ, sondern eher reflektierend.

2.2.4 Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8) C Kanz  Manig herre mich des vraget, dur waz der gernden si so vil. ob in des niht betraget, dem wil ich betu̍ ten, ob ichs kan,  wie es umb die gernden si: ein gernder man, der tru̍ get, der ander kan wol zavelspil, der dritte hofelu̍ get, der vierde ist gar ein gumpelman,  der vu̍ nfte ist sinnen vri, so ist der sehste spottes vol; der sibende kleider koͮ fet, der ahtode vederliset wol, der nu̍ nde umbe gabe loͮ fet,  der zehende hat ein dirne, ein wib, ein tohter umbeht. den gebent nu̍ we unde virne die herren durh ir toͤ rschen mt. si gebent durh kunst niht gt!

 Vgl. S. 140, Anm. 294.  Erwägen könnte man womöglich auch, ob sich hier ein Aufruf andeutet, eine Ratgeberfunktion vor Gericht einzunehmen, um der richterlichen Willkür zu wehren. Möglicherweise stellt die Strophe in B3 das (weltliche) Schöffengericht dem (geistlichen) Gericht mit selbsturteilendem Richter gegenüber.

2.2.4 Ton II, Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8)

149

Dieser Ausfall gegen die gernden sticht durch eine Schärfe der Anklage und Polemik hervor, wie sie beim Kanzler selten begegnet. Zu Strophenbeginn berichtet das Sänger-Ich von einer Frage, die ihm schon viele Herren gestellt hätten (V. 1).³³¹ Zum einen regt das die Neugierde der Zuhörer an, zum anderen schaffen Fragen Wissensgefälle, das Sänger-Ich inszeniert sich als Kundiger, bei dem Rat oder Auskunft gesucht wird.³³² Dass die Herren den gernden Sangspruchdichter aber fragen, warum es so viele gernde gebe (V. 2), unterläuft dieses Prinzip. Durch ihren Kontext zielt diese Frage nicht mehr auf Auskunft ab, sondern wird zum latenten Vorwurf. Denn wenn die Herren dem (gernden) Sänger gegenüber ein ‚Zuviel‘ der gernden präsupponieren, impliziert das, dass man dieser Masse der gernden nicht mehr mit Gaben gerecht werden kann. Damit wehren die Herren geschickt einer Lohnheische. Entsprechend unterwürfig reagiert das Sänger-Ich, indem es seine Antwort mit Demutsformeln einleitet: ob in des niht betraget,/ […] ob ichs kan (V. 3 f.). Zugleich macht das Ich den Vorwurf aber, indem es Antwort in Aussicht stellt (dem wil ich betu̍ ten, […]/ wie es umb die gernden si, V. 4 f.), wieder zur ‚echten‘ Frage und die Demutsformeln beweisen als captatio benevolentiae rhetorische Bildung. Besonders mit dem Begriff betu̍ ten, also ‚erklären‘, ‚eine Sache verständlich machen, auslegen‘,³³³ unterläuft das Sänger-Ich die vorgebliche Unterwürfigkeit mit einem selbstbewusst-autoritativen Sprechgestus und nutzt die Frage der Herren trotz ihrer Uneigentlichkeit dafür, die überlegene Rolle des Kundigen einzunehmen.³³⁴ Dieses anklingende Selbstbewusstsein bricht sich in der anschließenden kritischpolemischen Aufzählung zehn verschiedener Typen von gernden Bahn. Katalogartig listet das Sänger-Ich diese anaphorisch Vers um Vers nach Ordnungszahlen auf: Der erste betrüge, der nächste verstehe sich aufs zavelspil (s. u.), der dritte hofelu̍ ge[ ], der vierte sei ein Possenreißer (gumpelman), der fünfte frei von Verstand, der sechste voller Spott, der siebte (ver‐)kaufe Kleider, der achte sei ein Schmeichler, der neunte loͮ fe[ ] umbe gabe und der zehnte habe eine dirne, eine Frau und/oder eine schutzlose Tochter (V. 6–16). All diesen – so beklagt das Sänger-Ich – gäben die Herren durh ir toͤ rschen mt, für kunst aber gäben sie ihr gt nicht (V. 17–19). Das Sänger-Ich profiliert mit diesem Katalog verschiedener Schnorrer, Schmarotzer und Bettler, deren Unaufrichtigkeit und Zwielichtigkeit augenfällig ist, eine Sammlung verachtungswürdiger gernder und grenzt sich mit dem letzten Vers deutlich von diesen ab, indem es solchem ‚Gesindel‘ die kunst gegenüberstellt, die es damit fraglos für sich reklamiert. Mit der Klage, dass die Herren all diesen Verwerflichen durch ir toͤ rschen mt lohnten, für die kunst aber keinen Besitz aufwendeten, überführt das Sänger-Ich den stropheneinleitenden Vorwurf der Herren in eine Diskussion um ‚richtige‘ milte und wer dieser würdig sei – ein Thema, das typischer

   

Vgl. Strophe 1Kanz/5/6 (Mich vraget manig edel man, V. 1). Vgl. Bulang (wie ich die gotes tougen), S. 44. Vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 141. Vgl. dazu auch Zach (Kanzler), S. 64.

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2 Analysen

Bestandteil sangspruchdichterischer Reflexion ist.³³⁵ Indem die Freigebigkeit der Herren als Produkt einer törichten inneren Einstellung angeprangert wird, profiliert die Strophe sie als ‚falsche‘ milte, welche die Unfähigkeit der Herren ausstellt, zu kiesen und zu erkennen, wem Gabe gebührt. Dass die Herren dergestalt den augenfällig moralisch Verwerflichen geben, rückt sie zugleich selbst in deren Nähe. Sie erscheinen dem Lasterkatalog geradezu subsummiert, indem die Kritik an ihrem Gebeverhalten bruchlos an die Aufzählung der zehn Typen schändlicher gernder anschließt, und werden so gewissermaßen die elften im Bunde fehlerhaften Verhaltens. Wo also die einleitende Frage der Herren, warum es so viele gernde gebe, eine apologetische Selbstverteidigung antizipieren lässt, nutzt das Kanzlersche Sänger-Ich sie als Ausgangspunkt, um die Herren über richtige milte zu belehren. Indem es die gernden dabei in eine klare Opposition zur kunst setzt, verteidigt es sich nicht selbst als gernder, sondern distanziert sich vielmehr von dieser Gruppe, die es als bettlerähnliche Schmarotzer profiliert, während es der kunst implizit einen Mehrwert zuschreibt, der einen berechtigten Anspruch auf Entlohnung präsupponiert. Zum anderen insinuiert das Sänger-Ich mit seiner Kritik, dass die Herren durch unverständiges Geben selbst die beklagte Zahl der gernden Schmarotzer vermehrten. Dieses warnende Belehren stellt zugleich performativ den Wert der kunst aus, welche Missstände zu erkennen und zu erklären vermag, die Falschheit der Speichellecker aufdeckt und das Sänger-Ich somit als klugen Beobachter und Ratgeber ausweist. Die in dieser Strophe geübte Kritik steht in einer langen sangspruchdichterischen Tradition der Abgrenzung gegenüber verschiedenen Gruppen und Typen von Konkurrenten im Werben um die Gabe der Herren.³³⁶ Bei Walther sind solche Vorwürfe oft moralisch gefärbt, kritisieren also Verstöße gegen die höfische Sitte (die Gemeinten werden als hovebellen bezeichnet,³³⁷ als lecker und schelke; 1WaltV/9/6 [L. 32,27]; 1 WaltV/19/2 [L. 103,29]).³³⁸ Seit dem 13. Jahrhundert dagegen setzen sich die Sang Vgl. Tervooren (Sangspruch), S. 50 f.; Dorothea Klein: Kap.V. Thematische Kerne 6. Fürstenlob und Heische. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 284–297, hier S. 292 f.  Derartige Abgrenzungen finden sowohl gegenüber gleichrangigen Sängerkonkurrenten statt als auch gegenüber Nachsängern, gegenüber künstelosen Unterhaltungskünstlern mit verschiedenen Fertigkeiten, aber auch gegen eine unbestimmte Gruppe von Betrügern, falschen Ratgebern und Ähnlichem, vgl. Tervooren (Sangspruchdichtung), S. 34; grundsätzlich lassen sich diese Abgrenzungsbestrebungen wohl als Reflex auf die Tatsache begreifen, dass die Sangspruchdichter sich gegen ein allgemeines Misstrauen der mittelalterlichen Gesellschaft erwehren zu müssen meinen, und zwar sowohl gegenüber ihnen als Fahrenden als auch gegenüber Vorwürfen der Schmeichelei und Lüge, vgl. Burghart Wachinger (Sängerkrieg), S. 116; umfassend zu derartigen Konkurrenzen vgl. ebd., zu Scheltstrophen in der Sangspruchdichtung zudem Ilgner (Scheltstrophen).  Dieser Begriff für die Intriganten und Verleumder bei Hof schließt an die lateinische Tradition an (canes palatini [‚Hofhunde‘, i. e. Höflinge]), die bis zu Boethius zurückreicht und seit dem 11. Jahrhundert für die Hofkritik funktionalisiert wird; auch Walthers „Thüringer Hofschelte“ hat in der lateinischen Tradition ihre Vorbilder (etwa im Policraticus des Johannes von Salisbury), vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 2005, hier S. 591.  Vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 117.

2.2.4 Ton II, Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8)

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spruchdichter zunehmend in Opposition zu den kunstelosen,³³⁹ womit sowohl ein Typus unfähiger Berufskollegen gemeint sein kann³⁴⁰ als auch Instrumentalmusiker oder sonstige joculatores. ³⁴¹ Da hier meist auch explizit die Konkurrenz um die Gabe problematisiert wird, schlagen die Konkurrentenschelten nicht selten in eine Kritik am Gebeverhalten der Herren um, wie auch in der vorliegenden Strophe.³⁴² Der vom Kanzlerschen Sänger-Ich geäußerte Vorwurf, die Herren gäben den lasterhaften gernden durch ir toͤ rschen mt (V. 18 f.), changiert genau zwischen diesen beiden Angriffszielen, da das ‚ir‘ (ir toͤ rschen mt) diese ‚törichte innere Einstellung‘ sowohl auf die gernden als auch auf die Herren beziehbar macht. Solche (Konkurrenten‐)Schelten haben in der Sangspruchdichtung also einen festen Platz,³⁴³ die Strophe des Kanzlers stellt aber dennoch eine Ausnahme dar. Zum einen fällt auf, dass die Abgewerteten als gernde bezeichnet werden – ein Begriff, der sonst (implizit) der Selbstbeschreibung dient und daher von den Sangspruchdichtern nie negativ besetzt wird.³⁴⁴ Zum anderen ist die ungewöhnlich scharfe Strophe singulär in der Breite und Differenziertheit des dargebotenen Katalogs der Gescholtenen.³⁴⁵ Damit scheint sie, obwohl sie als Disput mit den Herren inszeniert ist, auf die klerikale Kritik an den Spielleuten zu referieren – oder vielmehr zu reagieren.³⁴⁶ So-

 Besonders seit dem 13. Jahrhundert; diese Polemik gegen die künstelosen führt dabei lateinische Traditionen fort, vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 117.  In der individuellen Konkurrentenschelte dagegen begegnet der Vorwurf der kunstlosigkeit nicht, vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 118.  Vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 117 f.; zugleich bleiben moralische Vorwürfe virulent, vgl. Ilgner (Scheltstrophen), S. 72–77 (mit zahlreichen Primärtextbelegen).  Vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 118; Ilgner (Scheltstrophen), S. 73 f.  Vgl. Wachinger (Sängerkrieg), S. 117; Ilgner (Scheltstrophen), bes. S. 69–77.  Schubert bezeichnet die gernden als „Oberschicht“ unter den Vaganten, die „vor allem von den Gaben [lebten], die sie an adeligen und kirchlichen Höfen begehrten (daher die Bezeichnung); dafür verkündeten sie den Ruhm von der Freigebigkeit der Herren – Multiplikatoren der höfischen Repräsentation“, vgl. Ernst Schubert: Das Interesse an Vaganten und Spielleuten. In: Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut (Hg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. München 2003, S. 409–426, hier S. 413; ausführlich dazu auch: Ernst Schubert: Fahrendes Volk im Mittelalter. Bielefeld 1995, hier bes. S. 7 f.  Vgl. Eberhard Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden. Stuttgart 1970, hier S. 156; Zach (Kanzler), S. 65; entsprechend wird diese Strophe regelmäßig zitiert, wenn es in der (germanistisch‐)mediävistischen Forschung um die Fahrenden als Gruppe geht.  Als Referenz auf eine Rhetorik der Predigt lässt sich auch die Einleitung des Themas über eine Frage-Antwort-Struktur verstehen (vgl. etwa Berthold von Regensburg: „Von den dienern des tiuvels“) und die Strukturierung der Aufzählung durch Ordnungszahlen (über die Hälfte der Predigten Bertholds von Regensburg sind – didaktisch wirksam – durch Zahlen strukturiert, etwa „Von fünf schedelîchen sünden“, „Von zwelf juncherren des tiuvels“, „Von den siben planêten“, „Von den siben insigeln der bîhte“), die aber grundsätzlich in der Sangspruchdichtung Aufnahme gefunden hat, vgl. Zach (Kanzler), S. 65 (mit weiteren Belegen). Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Kanzler in mehreren Strophen eine Vorliebe für reihende Aufzählungen zeigt, vgl. Krieger (Kanzler), S. 63, 70 f.; vgl. Roethe (Reinmar von Zweter), S. 317. Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 177, sieht in diesen Reihen die Absicht, „in der Vielfalt der Erscheinung die Einheit des Phänomens aufzuweisen“; daneben ist das Mittel des Katalogs

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2 Analysen

wohl die tiradenhafte Aufzählungen verschiedener Typen von Fahrenden ist dort vorgeprägt als auch die Aufforderung, diesen heillosen Kreaturen keine Gaben zu geben.³⁴⁷ Diese kirchliche Verurteilung der fahrenden Spielleute reicht bis zu den Kirchenvätern zurück;³⁴⁸ ein besonders umfangreicher Katalog von Fahrenden, der auch in den moralischen Kategorien einige Nähe zu demjenigen des Kanzlers aufweist, findet sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beim Zürcher Kantor Konrad von Mure:³⁴⁹ Preterea ex omni natione professione conditione que sub celo est ad curias principum confluunt et concurrunt […], scilicet pauperes, debiles, ceci, claudi, manci, loripides, uel alias corpore deformati, kalones, ioculatores, saltatores, fidicines, tibicines, lyricines, tubicines, cornicines, hystriones, gesticulatores, nebulones, parasiti, umbre, mensiuagi, scurre, ribaldi, buflardi, adulatores, carciones, proditores, traditores, detractatores, susurrones, filii perditionis apostate, lotrices, publice mulieres quasi syrenes usque in exitum dulces.³⁵⁰

Eines der prominentesten Beispiele in deutscher Sprache dürfte Bertholds von Regensburg Predigt „Von den zehen kœren der engele unde der kristenheit“ sein, welche die Menschen verschiedenen Chören der Engel zuordnet. Als zehnter, von Gott abgefallener Chor werden dort die gumpelliute, gîger unde tambûrer, swie die geheizen sîn, alle die guot für êre nement (Bd. 1, S. 155, zit. nach Pfeiffer) profiliert, also die gernden. Besonders hervorgehoben ist dabei die Unaufrichtigkeit und heuchlerische Schmeichelei dieser Verworfenen: […] mit ir trügenheit. Wan er ret eime daz beste daz er kan die wîle daz erz hœret, und als er im den rücken kêret, sô ret er im daz bœste, daz er iemer mê kan oder mac, unde schiltet manigen, der gote ein gerehter man ist und ouch der werlte, unde lobet einen, der gote unde der werlte schedelîchen lebet. Wan allez ir leben habent si niwan nâch sünden unde nâch schanden gerihtet […]. Und allez daz man dir gît, daz gît man dir mit sünden; wan si müezent gote dar umbe antwürten an dem jungesten tage die dir gebent. Alsô gît man dirz mit sünden, und alsô enpfæhest dû ez mit sünden […]

in der Sangspruchdichtung auch fester Bestandteil der Gegnerbeleidigung, vgl. Klein (Fürstenlob und Heische), S. 286.  So etwa bei Abelard, Thomas Chobham, Petrus Cantor, vgl. Wolfgang Hartung: Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düsseldorf/Zürich 2003, hier S. 131, 135.  Bei Augustinus etwa wird die Gabe für Spielleute als sündig ausgewiesen, Honorius Augustodunensis nennt die Spielleute ministri Satanae, die keinerlei Hoffnung auf Erlösung hätten (Elucidarium, lib. II, cap. 18), Johannes’ von Salisbury Policraticus handelt in einem ganzen Kapitel von den histrionibus, et mimis et praestigiatoribus (lib. I, cap. 8); die Belege für eine – meist vernichtende – Aburteilung der Spielleute durch die Kirche sind zahllos, vgl. dazu Wolfgang Hartung: Die Spielleute. Eine Randgruppe in der Gesellschaft des Mittelalters.Wiesbaden 1982, hier S. 30–50; Bumke (Höfische Kultur), S. 695; Tervooren (Sangspruchdichtung), S. 28–30; Julia Zimmermann: Teufelsreigen–Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen. Frankfurt a. M. u. a. 2007, hier S. 202–213.  Vgl. Tervooren (Sangspruchdichtung), S. 26.  Zit. nach: Briefsteller und Formelbücher des eilften bis vierzehnten Jahrhunderts, bearbeitet von Ludwig Rockinger. Erste Abteilung. München 1863 (Nachdruck New York 1961), hier S. 426.

2.2.4 Ton II, Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8)

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dû bist uns aptrünnic worden mit schalkheit unde mit leckerîe, unde dâ von solt dû ze dînen genôzen, den aptrünnigen tiuveln […] (ebd.).

Diese klerikale Verurteilung ist in der Sangspruchdichtung auch vor dem Kanzler nicht unbeantwortet geblieben. Friedrich von Sonnenburg etwa reagiert in mehreren Strophen dezidiert auf solche Vorwürfe.³⁵¹ Er verhandelt mittels eines inszenierten PetrusChristus-Gesprächs, wem Almosen gebühren (1FriSo/3/2), und referiert in drei weiteren aufeinander folgenden Strophen³⁵² mit der Formel swer giht je einleitend einen der Vorwürfe, die sich bei Berthold finden. Dabei verwehrt er sich sowohl gegen die Behauptung, dass es Sünde sei, guot umb ere zu geben (1FriSo/3/4) oder zu nehmen (1FriSo/3/5), als auch dagegen, dass die Gaben, die den gernden gegeben werden, gleichsam dem Teufel gegeben seien (1FriSo/3/3). Letzterer Vorwurf wird als neidgeborene Lüge abgewiesen und eine moralische Integrität der gernden behauptet (V. 1– 7).³⁵³ Mit einem Schwur vor Gott bürgt das Sänger-Ich dafür, dass die gernden denjenigen, die ihnen geben, immer Heil wünschten, und führt zudem aus, dass und wie sie dem christlichen Glauben folgten, was – so schließt die Strophe pointiert – ein Teufel wohl nicht tue (desn tuot kein tiuvel niht, V. 8–16³⁵⁴). Den einleitenden Vorwurf, Geld für die gernden sei gleichsam dem Teufel gegeben, entkräftet die Strophe somit, indem sie diesen Vorwurf als Behauptung einer Identität von gernden und Teufel deutet, welche die Strophe argumentativ widerlegt (1FriSo/3/3). Besonders im Vergleich zu Friedrichs Argumentation, welche die Behauptungen der Kleriker zu entkräften und widerlegen sucht, fällt die ganz anders gelagerte Strategie des Kanzlers ins Auge. Wiewohl die klerikale Kritik an den Fahrenden dezidiert auch die Sangspruchdichter meint,³⁵⁵ sucht er die klerikale Verdammung einer Gabe für die gernden gerade nicht zu entkräften, sondern nimmt sie vielmehr affirmativ auf, deutet aber die Gruppe der gernden um, indem er die kunst-Schaffenden (und damit die Sangspruchdichter) aus dieser ausnimmt. Er stellt sich also in die Argumentationslinie klerikaler Autorität und macht sie für seine eigenen Interessen fruchtbar.

 Umfassend dazu Kästner (Sermo vulgaris), bes. S. 231–235.  1FriSo/3/3 – 5; die drei Strophen sind in C und J überliefert und folgen in beiden Handschriften aufeinander, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge.  Swer giht, die guot den gernden geben/ die möhtenz also maere/ dem tiuvel stozen in den munt,/ der liuget nidez vaz./ Diu wise gernder ist mir kunt:/ si hazzent offenbaere/ untriuwe, unvuore, unrehtez leben […], 1FriSo/3/3, V. 1–7, hier und im Folgenden zit. nach Masser.  mit gote erziuge ich daz:/ Si gernt durch got daz man in git/ und wünschent ane lougen/ Den gebenden heiles ze aller zit,/ sie habent got vor ougen,/ Si enpfahent gotes lichnamen/ und hant ze Kriste pfliht;/ Ouch kunnen si sich sünden schamen/ und bitten vür die kristenheit – desn tuot kein tiuvel niht!, 1 FriSo/3/3, V. 8–16.  Das wird in der Predigt Bertholds fraglos deutlich, wenn er am Schluss selbstgewählte Namen von Fahrenden referiert, die er als für sich sprechenden Ausweis ihrer Lasterhaftigkeit interpretiert, und dabei neben einigen Verballhornungen den Namen des Sangspruchdichters Helleviur zitiert, vgl. Berthold von Regensburg „Von den zehen kœren der engele unde der kristenheit“, S. 155 f.

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Diese Idee einer Differenzierung der Fahrenden greift wiederum Tendenzen auf, die sich Ende des 13. Jahrhunderts auch in klerikalen Kreisen abzeichnen. Auch hier zeigen sich Ansätze zu einer Differenzierung der Spielleute (histrioni), etwa bei Thomas von Chabham,³⁵⁶ der sie in drei Klassen unterteilt, nämlich erstens solche, die ihre Körper widernatürlich und liederlich verbiegen ([q]uidam transformant et transfigurant corpora sua per turpes saltus et per turpes gestus), womit sie zur Unkeuschheit anregen; zweitens fahrende Spaßmacher und Possenreißer, die Schmach und Schande verbreiten (scurrae vagi; alii qui nihi operantur, sed criminose agunt), und drittens fahrende Musiker (qui habent instrumenta musica), von denen einige ebenfalls durch Lieder zu Schande und Laster anregten, einige (ioculatores) aber durch die Geschichten von Heldentaten der Fürsten und Heiligenleben ihren Zuhörern Trost und Erbauung schenkten – allein diese letzte Gruppe habe eine Chance auf das Seelenheil.³⁵⁷ Auch Thomas von Aquin differenziert in der Summa Theologiae zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Spielleuten, gesteht die Unterhaltung durch Spielleute nämlich dann zu, wenn sie utilia conversationi humanae sei, und erlaubt hier auch eine angemessene Entlohnung (mercedem ministerii eorum eis tribuendo).³⁵⁸ Der Katalog des Kanzlers nimmt allerdings nicht nur einen spezifischen Typus etwa des Sangspruchdichters, der wahre und nützliche Moral verbreitet, aus seinem gernden-Katalog aus, sondern klammert – anders auch als die üblichen Sangspruchinvektiven – alle diejenigen aus seiner Aufzählung aus, die über irgendwelche künstlerischen Fähigkeiten verfügen, sei es Gesang, Instrumentalmusik oder sonstiges. Das liegt unter anderem daran, dass der Katalog des Kanzlers stark ethischmoralisch ausgerichtet ist und nicht so sehr auf bestimmte Fertigkeiten abhebt, als vielmehr auf (verwerfliche) Verhaltensweisen abzielt.³⁵⁹ Er kritisiert die, die lügen, betrügen, schmeicheln und spotten (worunter auch die Possenreißer fallen; gumpelman, V. 9). Daneben beinhaltet der Katalog des Kanzlers fragwürdige (kunstferne) Tätigkeiten, die den Fahrenden zugeschrieben werden können, etwa umb gabe zu loͮ fe[n] (V. 14), was wohl die bezahlten Boten meint.³⁶⁰ Diese begegnen auch in den Schachzabelbüchern als Darstellungstypus des achten venden, werden also dem ‚unsoliden‘ Stand zugerechnet, demjenigen der Spieler, Spötter und Landstreicher.³⁶¹

 Im allerdings erst um 1300 abgefassten Poenitentiale Summa confessorum, vgl. Zimmermann (Teufelsreigen), S. 219.  Vgl. Hartung (Spielleute), S. 38 f.; Zimmermann (Teufelsreigen), S. 219 f.  Vgl. Hartung (Spielleute), S. 45 f.; Hartung verweist hier zudem darauf, dass die Kulanz gegenüber den Spielleuten auch eine Frage der Position ist und dass sich entsprechend in der Ablehnung durch die predigenden und wandernden Mönche aufgrund der ähnlichen Lebensform auch ein persönliches Interesse der Abgrenzung ausdrückt, wogegen sich die Scholastiker in einer anderen Ausgangsposition und damit in geringerer direkter Konkurrenz befinden.  Vgl. Bäuml (guot umb êre nemen), S. 280; vgl. Ilgner (Scheltstrophen), S. 71 f.  Anders Obermaier (Status und Bildungsvoraussetzungen), S. 59, die hier mit ‚Hausierer‘ paraphrasiert; Schubert (Fahrendes Volk), S. 8, sieht darin denjenigen, der der Gabe nachläuft.  In einer mittelhochdeutschen Prosaübersetzung des Schachzabelbuchs heißt es (in Kap. 8): Der acht vend […] pedawt […] spiler, schelter, rjwalden […] vnd läwffel, die snell prief vnd des chünigs pot-

2.2.4 Ton II, Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8)

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Als Typus eines fragwürdigen Fahrenden erscheint auch der zehnte beim Kanzler, mit dirne, wip und tohter umbeht (V. 15 f.), was sich entweder als Hinweis auf die Ursachen einer finanziellen Notlage verstehen ließe³⁶² oder auf eine liederliche Lebensführung.³⁶³ Bis hierhin vereint der Katalog mithin Fahrende und Bedürftige, die nicht über künstlerische Fähigkeiten verfügen und moralisch verwerflich sind. Auffällig an der Aufzählung des Kanzlers ist aber sowohl das hapax legomenon ‚hoveliegen‘ (V. 8)³⁶⁴ als auch der im 13. Jahrhundert noch sehr seltene Begriff des vederlesens (V. 13), zudem der Vorwurf putzsüchtiger luxuria (der sibende kleider koͮ fet, V. 12)³⁶⁵ und des ‚zavelspils‘ (V. 7), das eben nicht das moralisch fragwürdige Würfelspiel einer sozialen Randgruppe ist (toppeln), welches sonst im Zentrum moralischer Kritik steht,³⁶⁶ sondern das höfische Brettspiel.³⁶⁷ Sowohl der Verweis auf hö-

schaft tragent; […] vnd spiler, wann die plos sind worden, das sy dann drat perait sein tzw potschaft tragen durch die landt vnd trachten vmb ander guet (V. 1–10; zur Ikonographie des achten venden: V. 10– 16; vgl. auch V. 112–120, zit. nach: Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis, O. P. in mittelhochdeutscher Prosa-Übersetzung, nach den Handschriften hg. von Gerard F. Schmidt. Berlin 1961); zum Darstellungstypus des achten venden und seinem Wandel im Übergang zum Druck vgl. Philip Reich: Tradierende Drucker. Überlegungen zum Traditionsverhalten in den Schachzabelbüchern deutscher Frühdrucker. In: Daphnis 47 (2019), S. 380–406; dass Spielleute bisweilen Botendienste übernehmen, begegnet auch als literarisches Motiv; zudem legen es historische Indizien nahe, vgl. Hartung (Spielleute im Mittelalter), S. 64 f.  Vgl. Lämmert (Reimsprecherkunst), S. 156.  Die Frauen der Spielleute sehen sich grundsätzlich dem Vorwurf der Prostitution ausgesetzt, vgl. Hartung (Spielleute im Mittelalter), S. 244, 290; Antoine Schreier-Hornung: Spielleute, Fahrende, Außenseiter. Künstler der mittelalterlichen Welt. Göppingen 1981, hier S. 7; Schubert (Fahrendes Volk), S. 14 f.; Schubert (Das Interesse an Spielleuten und Vaganten), S. 418. Zimmermann (Teufelsreigen), S. 226, versteht gerade diese Textstelle des Kanzlers als Unterstellung, dass die gernden „wie die Kuppler von der Preisgabe ihrer Ehefrauen oder Töchter leben würden“, auch Obermaier (Status und Bildungsvoraussetzungen), S. 59, liest sie als Hinweis auf Zuhälterei, ebenso Schubert (Fahrendes Volk), S. 8. Der Begriff der dirne ist im 13. Jahrhundert allerdings semantisch noch nicht auf die Prostitution verengt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er auch als Bezeichnung Mariens begegnet, vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 429 f.; BMZ, Bd. 1, Sp. 368b; vielleicht geht es hier insofern auch darum, dass der gernde eine (käufliche?) Geliebte neben Frau und Tochter aushalten will (also eine moralisch disqualifizierende Unterstellung) oder eine Dienerin, was eher einen Haussorge-Topos bedienen würde. Derartige ironisch bis mitleidheischend vorgetragene Haussorge-Motive finden sich zumindest in der Romania, etwa bei Rutebeuf und Colin Muset, vgl. Hartung (Spielleute im Mittelalter), S. 309–311.  Darauf verweist schon Zach (Kanzler), S. 66; vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1362.  koufen heißt allerdings auch ‚handel treiben‘, vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1693; so meint etwa Schubert (Fahrendes Volk), S. 147, dass der Kanzler „seinen Konkurrenten vorwarf, sie handelten mit Gewändern“, wobei er auf eine andere zeitgenössische Quelle verweist, die den Vorwurf formuliert, die Fahrenden trügen die edlen Gewänder der Herren ein paar Tage, um damit zu protzen, verkauften sie anschließend weiter und gingen wieder in ihren abgerissenen Kleidern einher. Wiewohl ich aufgrund des Strophenkontexts dazu tendiere, die Textstelle anders aufzufassen (s. o.), ist auch diese Deutung denkbar. Die Invektive des Kanzlers wäre dann offenbar eher gegen Fahrende gerichtet, die (vorübergehend) der Eitelkeit frönen, vor allem aber anschließend Bedürftigkeit heucheln, indem sie ihre eigentlichen Gewänder tragen und sich damit notleidender geben, als sie tatsächlich sind.  Vgl. Ilgner (Scheltstrophen), S. 72.

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2 Analysen

fische Spiele als auch die Kritik am Kleiderluxus, am ‚Federlesen‘³⁶⁸ und Falschheit bei Hofe scheinen weniger auf klassische Typen von Fahrenden abzuzielen als vielmehr durchlässig zu sein auf eine Kritik an – auch höhergestellten – Typen von Höflingen.³⁶⁹ Das stellt den gernden-Katalog des Kanzlers zugleich auch in eine Tradition der Hofkritik.³⁷⁰

 Der Begriff ‚zavelspil‘ ist selten belegt, dabei aber vorwiegend im hochhöfischen Rahmen – zweimal bei Konrad von Würzburg (Trojanerkrieg, V. 5975 und Partonopier und Meliur, V. 13978, was vielleicht auch auf eine Kanzlersche Kenntnis seiner Epen verweist); einmal in Strickers Daniel von dem blühenden Tal (V. 8188), wo er wie im Trojanerkrieg Konrads im Rahmen einer umfangreichen vorbildlichen höfischen Ausbildung aufgerufen wird; besonders Konrad scheint damit wiederum auf Gottfrieds Erzählung von der Ausbildung Tristans zu referieren (dieser setzt allerdings den Begriff ‚hovespil‘, V. 2121, zit. nach Krohn). Die Belege zeigen, dass das Brettspiel als Teil einer vollendeten höfischen Ausbildung verstanden wird, wiewohl es im klerikalen Kontext ebenfalls Kritik finden kann, vgl. etwa Bertholds von Regensburg Predigt „Von den fremeden sünden“, Bd. 1, S. 217.  Anders als in der frühen Neuzeit ist der Begriff ‚Federlesen‘ im 13. Jahrhundert zuvor kaum belegt; einmal steht er bei Berthold von Regensburg „Von den fremeden sünden“, wo es über die ‚jâherren‘ (die, die immer sagen ‚jâ herre, ez ist wol getân‘ – gemeint sind offenbar die Höflinge) heißt, sie seien smetzer, trügener, smeicher und vederleser (S. 214). Daneben erscheint der Begriff des ‚vederlesen[s]‘ einmal bei Friedrich von Sonnenburg (1FriSo/1/37, V. 9); Friedrich kritisiert hier scharf die Schmeichler, die er als vederleser bezeichnet, und ruft die Herren auf, ihnen kein Gehör zu schenken; die Strophe thematisiert dabei deutlich das Zuhören, wodurch sie motivlich an die vorangehende anschließt, die vom Ohrenverschließen der Schlange handelt (ein Motiv, das wie in Kap. 2.2.2.2 dargelegt, Konrad [1KonrW/5/2] und der Kanzler [1Kanz/2/5] aufnehmen; dass diese beiden Kanzlerstrophen, die hier auf Friedrich verweisen, ebenfalls in der Handschrift nahe beisammen stehen, scheint mir bemerkenswert). Etwas später begegnet der Begriff des vederlesens im Mitteldeutschen Schachbuch des Pfarrers zu dem Hechte, findet sich aber nicht in der lateinischen Vorlage des Jacobus de Cessolis (vgl. Pfarrer zu dem Hechte: Mitteldeutsches Schachbuch, hg. von Eduard Sievers. In: ZfdA 17 [1874], S. 161–389, hier S. 214,6). Schubert (Fahrendes Volk), S. 8, paraphrasiert und erläutert den Vers: „der achte lebt vom Verkauf gesammelter Federn (Daunenkissen stellen einen hohen Wert dar, wurden in Testamenten eigens erwähnt)“; die oben genannten Parallelstellen in der deutschen Literatur, die lateinische Tradition des Begriffs (vgl. S. 158, Anm. 377) und sein Gebrauch in der Frühen Neuzeit, sprechen jedoch gegen diese Deutung; das entkräftet auch Schuberts Interpretation von V. 7 (Kleiderhandel) partiell, vgl. S. 155, Anm. 365.  Zu diesen Motiven als Bestandteil einer Hofkritik, vgl. Bumke (Höfische Kultur), S. 585.  Diese hat auch eine breite sangspruchdichterische Tradition, unklar bleibt aber, gegen wen genau sich die Invektiven der Sangspruchdichter richten, wenn sie gegen die Schmeichler, Verleumder und Ohrenbläser polemisieren und mit Begriffen wie hoveschalc oder hovegalle offenbar eine Art Hofgesinde diffamieren wollen, vgl. Helmut de Boor: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3,1: 1250–1350: Zerfall und Neubeginn. München 1973, hier S. 432 f.; als Beispiele seien genannt etwa 1FriSo/1/37 (vgl. oben, Anm. 368); 1Mei/2/17; 1Mei/6/5; 1Mei/20/1 f.; 1Unv/2/3; 1WaltV/ 8/10; 1WaltV/8/12; 1WaltV/8/16; 1WaltV/9/6 (L. 28,21; L. 29,4; L. 30,9; L. 32,27); auch 1Marn/3/1–3 (wobei sich bei diesem die Hofkritik letztlich wiederum in eine personalisierte Konkurrentenschelte gegen Reinmar von Zweter transformiert, vgl. zu diesen Strophen Haustein [Marner-Studien], S. 162–166). Die Angegriffenen werden dabei fast nie als Höflinge bezeichnet, die Scheltbegriffe und Vorwürfe sind aber topisch in der Hofkritik (etwa smeicher, lekker, lôser, runer). Beim Wilden Alexander etwa heißt es im Rahmen einer Hofkritik über das „moralisch verkommene und intellektuell subalterne ‚Hofgesindel‘“

2.2.4 Ton II, Strophe 8 – gernden-Schelte (1Kanz/2/8)

157

Diese beginnt als Diskurs in der Mitte des 11. Jahrhunderts im lateinischen klerikalen Schrifttum greifbar zu werden. Als erste Hofkritik im engeren Sinne kann Johannes’ von Salisbury Policraticus Mitte des 12. Jahrhunderts gelten.³⁷¹ Im Folgenden dringt der Diskurs auch in die Volkssprache. Ein frühes mittelhochdeutsches Zeugnis ist die aus dem Lateinischen übersetzte Tugendlehre Wernhers von Elmendorf.³⁷² Im 13. Jahrhundert etabliert sich der Diskurs dann auch in der Volkssprache breiter, etwa in Thomasins von Zerklære Welschem Gast ³⁷³ und im Renner Hugos von Trimberg.³⁷⁴ Der topische Vorwurf hofkritischen Schrifttums ist, dass das Hofleben von adulatio und ambitio bestimmt werde.³⁷⁵ Die Höflinge werden als putzsüchtige Schmarotzer, Schmeichler, Spötter, Schwätzer und Lügner beschrieben,³⁷⁶ die ihren Herren nicht

(Kragl [LDM, Kommentar]): ob eyner kan eyn kunstelyn,/ der wil tz hant ein hobeman syn,/ unde ist eyn tzwevalt sunde,/ sol man den scalken gt wort geben,/ unde wollen sie da bi schelchliche leben,/ untugent uben unde arge list (1Alex/14 f., V. 4–9; zit. nach LDM, dort J WAlex 18).  Vgl. dazu Claus Uhlig: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik. Berlin/New York 1973, hier S. 47 f.; in der Nachfolge hervorzuheben sind etwa das Gedicht De palpone et assentatore; Johannes von Altavilla Architrenius; Nigellus Wirecker Tractatus contra curiales et officiales clericos; Bernhard von der Geist Dialogismi veritas, adulatoris, iustitiae und Palpanista; Peter von Blois Brief 14; Walter Maps Anekdotensammlung De nugis curialium, vgl. dazu auch Uhlig (Hofkritik), S. 88–110.  Diese Tugendlehre Wernhers ist die erste adelige Erziehungslehre in deutscher Sprache, entstanden ca. 1170–1180 als Übersetzung des lateinischen Moralium dogma philosophorum aus dem 12. Jahrhundert, vgl. Joachim Bumke: [Art.] Wernher von Elmendorf. In: ²VL, Bd. 10, Sp. 925–927, hier Sp. 925 f.  Wobei es sich bei Thomasin eher um Herrenlehre/-kritik handelt (bes.V. 6244–6798), vgl. Rüdiger Schnell: Hofliteratur und Hofkritik. Zur funktionalen Differenz von Latein und Volkssprache. In: Peter Moraw (Hg.): Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späten Mittelalter. Stuttgart 2002, S. 323– 355, hier S. 351.  Vgl. Schnell (Hofliteratur und Hofkritik), S. 347–351; Bumke (Höfische Kultur), S. 587; um 1200 wird das Thema auch in der Epik virulent (besonders im Tristan), verflacht dort aber um 1300 wieder, vgl. Bumke (Höfische Kultur), S. 587–592; bei Freidank finden sich ebenfalls hofkritische Sprüche (vgl. unten, Anm. 376) und auch in der Sangspruchdichtung scheint dieser Diskurs seit Walther immer wieder auf, vgl. S. 156, Anm. 370.  Vgl. Uhlig (Hofkritik), S. 39–54, 84–136; Bumke (Höfische Kultur), S. 585.  Zu den lateinischen Quellen vgl. Uhlig (Hofkritik), bes. S. 45 f., 91–95, 101, 108 f.; diese Vorwürfe finden sich auch bei Wernher von Elmendorf (bes. S. 73, 110, 118, 123, 130, 141); später bei Freidank (beispielsweise 49, 23 f. Die lôser sint den hêrren liep,/ doch stelent s’ir êre als ein diep; 166,5 f. Liegen triegen werder sint/ ze hove danne fürsten kint, zit. nach Bezzenberger); besonders deutlich wird der Renner, der die Höflinge anfeindet als Metter, hazzer, nîder/ […]/ die valschheit niht vermîdent (V. 1115– 1117), Smeicher, löter, bregeler (V. 1127) und die valsche[n] lecheler (V. 1137), welche die Herren umschmeichelten. Statt Tugenden seien bei Hof nur mehr Liegen, triegen, ribaldîe,/ Loterfuor und buoberîe,/ Unkust, unzuht, leckerschimpfen,/ Trinken, slinden, nasen rimpfen,/ Luoder, spil, diube und spot/ Lützel ahten ûf got […] (V. 1149–1154; zit. nach: Hugo von Trimberg: Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. 4 Bde. Berlin 1970 [Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1909]), vgl. dazu Schnell (Hofliteratur und Hofkritik), S. 347–351.

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2 Analysen

vorhandene Federn vom Gewand läsen³⁷⁷ und frei von Talent und Moral seien – ein satirischer Text kennt auch das Motiv, dass der Höfling den Herren beim Schachspiel gewinnen lasse, um ihn sich gewogen zu stimmen.³⁷⁸ Integral ist diesem Diskurs die Vorstellung, dass all dieses Hofieren von finanziellen Interessen geleitet sei.³⁷⁹ Die augenfällige Kongruenz dieser Topoi mit den beim Kanzler aufgezählten Typen (ein gernder man, der tru̍ get,/ […]/ der dritte hofelu̍ get,/ […]/ der vu̍ nfte ist sinnen vri,/ so ist der sehste spottes vol;/ […]/ der ahtode vederliset wol, V. 6–13) desavouiert damit letztlich auch die Höflinge als gernde. ³⁸⁰ Damit stellt er sie nach moralischem Maßstab auf eine Stufe mit den Bettlern und kunstlosen Fahrenden und weist sie als nutzlose, verwerfliche, ja gefährliche Figuren aus, die auf Kosten der Herren ihr Dasein fristen. Die gernden als Gruppe sind beim Kanzler mithin nicht mehr die Fahrenden, sondern alle Schmarotzer und Schnorrer bei Hof, die ohne besondere Fähigkeiten die Gabe der Herren begehren. Indem die kunst dezidiert diesen gernden gegenübergestellt und damit aus ihrer Gruppe ausgenommen wird, erscheint sie als nützlich, verdienstvoll und entlohnenswert.³⁸¹ Dass somit ein sozial randständiger fahrender Sangspruchdichter die Höflinge auf eine Stufe mit der untersten Klasse der gerenden stellt, ist provokativ und wenig orthodox, nicht zuletzt deswegen, weil eine Kritik des Hofes immer auch eine Kritik des Herrscher ist, was die vorliegende Strophe ja auch thematisiert. Die Strophe gibt unwillkürlich einmal mehr Zeugnis vom prekären status der Sangspruchdichter, die immer Gefahr laufen, aus kirchlicher Perspektive verurteilt zu werden und aus der Sicht der Herren im Gros der varenden aufzugehen, von denen sie sich einerseits als kunst-habende abzugrenzen suchen und mit denen sie andererseits

 De palpone et assentatore, V. 271–274 (wiederholt V. 283–286): Ad latus principis stat palpo blandiens,/ adaptans clamidem, vestemque poliens,/ et invisibiles plumas decutiens,/ invisa luteo visu conspiciens, zit. nach Uhlig (Hofkritik), S. 92.  In Bernhards von der Geist Palpanista, vgl. Uhlig (Hofkritik), S. 95.  Vgl. Uhlig (Hofkritik), bes. S. 95, 102; Bumke (Höfische Kultur), S. 585–588; C. Stephen Jaeger: The Court Criticism of MHG Didactic Poets: Social Structures and Literary Conventions. In: Monatshefte für deutschsprachige Kultur und Literatur 74 (1982), S. 398–409, hier S. 401; in der mittelhochdeutschen Hofkritik betonen das etwa der Welsche Gast (beispielsweise V. 6587) und der Renner (beispielsweise V. 693–699); gerade die Schmeichler, die keine bestimmte Funktion erfüllen, erscheinen als „rein parasitäre Existenz“, vgl. Uhlig (Hofkritik), S. 98.  Wer diese Höflinge tatsächlich sind, ist für das Ende des 13. Jahrhunderts nicht ganz klar zu bestimmen und offenbar können die Übergänge auch fließend sein, denn es gibt durchaus historische Zeugnisse dafür, dass manche Fahrende sich bei Hof etablieren und sogar bestimmte Ämter übertragen bekommen haben, vgl. dazu Bumke (Höfische Kultur), S. 696 f.; Hartung (Spielleute im Mittelalter), S. 110 f., 245; manche Hofordnungen zählen Narren und Spielleute auf, vgl. Bumke (Höfische Kultur), S. 701; die Strophe des Kanzlers könnte mithin literarischer Reflex darauf sein; auch die Kritik Johannes’ von Salisbury im Policraticus richtet sich gegen die Höflinge, besonders aber die Spielleute (I,8), vgl. Zimmermann (Teufelsreigen), S. 213.  Damit steht die Strophe auch 1Rum/4/24 nahe, in der sich das Sänger-Ich offensiv von denen abgrenzt, die durch Klagen und Weinen guot von den herren erbetteln; dieser Strophe fehlt allerdings das pessimistisch-belehrende, vielmehr stellt sie selbstbewusst Gesang als Freudenspender aus und profiliert kunst damit implizit als entlohnungswürdigen Dienst an der Gesellschaft.

2.2.5 Ton II, Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9)

159

unweigerlich die existentielle Abhängigkeit von der milte der Herren teilen.³⁸² Darauf reagiert die Strophe mit einer Verschränkung intertextueller Referenzen. Zum einen greift sie implizit, aber offensiv die klerikale Polemik gegen die Fahrenden auf und nutzt damit deren Autorität. Sie macht sich diese Polemik zum anderen aber insofern zu eigen, als sie eine Umbesetzung der zu verurteilenden Gruppe der gernden vornimmt. Dabei greift sie zugleich auf einen in der Sangspruchdichtung und den Tugendkatalogen vorgeprägten Diskurs der Hofkritik zurück, mit dem sie die von den Herren eingangs getätigte Kritik am Zuviel der Fahrenden zurückspielt. Einerseits deutet die Strophe mit ihrer Schelte falscher milte richtiges Entlohnungsverhalten nur an, andererseits bringt sie die kunst normativ so deutlich in Stellung gegen das verdienstlose geren der Schmarotzer und Schnorrer, dass sie ihr geradezu einen Entlohnungsanspruch zueignet. Statt unterwürfiger Heische scheint hier implizit das selbstbewusste Einfordern einer verdienten Vergütung auf.

2.2.5 Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9) C Kanz 

B Kanz 

N Namenlos

Owe, daz mir gebristet, Owe, daz mir gebristet, Ouwe, dat mir gebristit, owe, daz mich die meister hant owe, dz mich die maister hant ouwe, dat mich die meyster hant mit sprache [ ] uberlistet, mit spruchen uberlistet, mit sprchen uverlistit, owe, daz ich niht vinden kan owe, dz ich nit vinden kan ouwe, dat ich niet vindin inkan  userweltu̍ wort, gar uzerweltu̍ wort, de userwelden wort, dur daz ich reinen wiben dz ich den rainen wiben durch dat ich den vrauwen mit munde moͤ hte unde mit maht mit dem munde unde mit mit der hant unde mit dem hant der hant munde gesprechen unde geschriben. gesprechen unde geschriben. mocht gesprechen unde geszriben. wan si sint aller eren van wan sie sint aller eren van wan si sint aller eren wert  unde aller selden hort. unde gantzer tugend ain hort. und aller sielden hort. waz hulfe danne gegen mich, ob ich wer sinnen riche? in fu̍ nde niht, daz wiben sich

waz hilfet da engegen mich, ob ich bin sinne riche? ich vinde nit, daz wiben sich

waz hylfit dar ingien mich, of ich bin sinnen riche? ich invinde nicht, daz inkeyne vreude sich ze froͤ iden wol geliche. an vreuden wol geliche. ken reynin vrauwen muge geligin.  swaz bluͤ te meie bringet, swaz maie blte bringet, was mey uns blten bringit, swaz blmen heide unde anger swaz haide unde anger was walt, heide, anger uns treit, blmen trait, blmin dreyt, swaz nahtegal gesinget, swaz nahtegal gesinget, was nachtegale gesingit, daz ist ein niht, uf minen eit, daz ist ain niht, uf minen ait, daz gar eyn niet, uf minen eyt, gegen wibes werdekeit. gen wibes werdekait. ken wibis werdigeit.

 Vgl. dazu auch Obermaier (Status und Bildungsvoraussetzungen), S. 59.

160

2 Analysen

Die nach C neunte Strophe des Goldenen Tons thematisiert die vorgebliche Schwierigkeit, den reinen wîben im Lobpreis gerecht zu werden, was das Sänger-Ich ausführlich poetologisch reflektiert. Bemerkenswert ist, dass diese Strophe – als einzige des Œuvres neben der toneröffnenden Gottespreisstrophe 1Kanz/2/1 – dreifach überliefert ist, was auf ein gesteigertes zeitgenössisches Interesse an ihrer Thematik und der Verhandlung poetologischer Fragen verweisen könnte. Das Sänger-Ich eröffnet die Strophe mit einem Dreischritt der Klage, die ein anaphorisch wiederholtes owe strukturiert: Einleitend beklagt das Ich einen unspezifischen Mangel, eine persönliche Unzulänglichkeit (Owe, daz mir gebristet,V. 1), hebt dann kontrastiv die dichterische Überlegenheit der (vorangegangenen) meister hervor (owe, daz mich die meister hant/ mit sprache [spruchen, Hs. B3/N] uberlistet, V. 2 f.) und differenziert schließlich das eigene prätendierte Unvermögen: owe, daz ich niht vinden kan/ userweltu̍ wort (V. 4 f.). Mit dieser dreiteiligen Klage lanciert der erste Stollen Schlüsselbegriffe poetischer Reflexion und zentrale Probleme künstlerischen Schaffens. Er ruft die vorbildhafte Instanz der meister auf, die topisch als höchster Maßstab der Dichtkunst inszeniert werden, denn ihre sprache beziehungsweise sprüche, also ihre dichterischen Produkte, ermöglichen einen Vergleich, dem das Schaffen des Ich nicht standhält. Im Begriff des uberlistens (V. 3) kommt eine Komponente praktischer Kunstfertigkeit zum Tragen (list), hinsichtlich derer das Sänger-Ich sich bedauernd als übertroffen zu erkennen gibt. Diese Kunstfertigkeit beziehungsweise das künstlerische Vermögen manifestiert sich in der geistigen Fähigkeit (kunnen [kan, V. 4]), die richtigen, die auserwählten Worte zu vinden (V. 4). Dieses uzerweln profiliert den Prozess des Dichtens dabei auch als einen des geistigen scheidens und kiesens, als Fähigkeit die richtigen, also die passenden Worte und Vergleiche zu finden (aptum), die wiederum durch ihre ‚Auswahl‘ durch den Dichter ausgezeichnet erscheinen. Das Dichten wird hier also weniger als göttlich inspiriert oder einer authentischen Erfahrung entspringend profiliert, sondern ihm eignet etwas von einem Handwerk des Geistes.³⁸³ Das Sänger-Ich setzt sich hier zudem dezidiert mit der Existenz anderer Dichtung auseinander und lässt so das Problem der Epigonalität anklingen.³⁸⁴ Indem das Ich sich mit den vorangegangenen meistern vergleicht, wird das Dichten als konkurrenzgeprägtes Feld dargestellt, wobei die vorgebliche Überlegenheit der meister die topische Vorstellung aufruft, dass Worte und Ausdrucksformen bereits verbraucht seien, was originäres Schöpfen unmöglich mache.³⁸⁵ Zugleich fungieren diese Refle-

 Vgl. dazu auch 1Kanz/1/1, 1Kanz/5/10.  Vgl. Konrad Burdach: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs. Leipzig 1880, hier S. 137.  Explizit thematisiert der Marner das in einer Klage über verstorbene Minnesänger, die mit einem Nekrolog anhebt und die Schwierigkeit des ‚Nachschaffenden‘ thematisiert (1Marn/6/17, bes. V. 14–16), wobei das Sänger-Ich aber zugleich auf dem Wert der Dichtung der zu seiner Zeit Lebenden insistiert (V. 8 f.), vgl. S. 7, Anm. 27, zudem Haustein (Marner-Studien), S. 196 f.

2.2.5 Ton II, Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9)

161

xionen als Demutsformeln,³⁸⁶ welche die Erhabenheit des Sujets, nämlich der reinen wibe, sukzessive aufbauen. Nicht mit Mund noch mit Hand, also weder sprechend noch schreibend, fürchtet das Ich dem Lobpreis makelloser Frauen gerecht zu werden, weil sie aller eren van/ unde aller selden hort seien (V. 9 f.). In diesen hyperbolischen Bildvergleichen strapaziert das Sänger-Ich die Prätention seines dichterischen Unvermögens. Denn einerseits stehen sie im performativen Widerspruch zu seiner Behauptung, das Lob der Frauen dichterisch nicht umsetzen zu können. Andererseits steigern sie das Lob gerade durch diese Behauptung, wenn das Sänger-Ich selbst diese hyperbolischen Vergleiche implizit als ungenügend für den Lobpreis der Frauen ausweist – womit er ebenfalls seine behauptete Unfähigkeit unterläuft. Die hyperbolischen Metaphern, das Banner der Ehre und der Schatz der Glückseligkeit, stellen dabei eine Bildlichkeit des weithin Sichtbaren und des Kostbar-Geheimen nebeneinander, die sich in der makellosen Frau verschränken. Das Banner zeigt schon von Ferne an, wer unter ihm geht, die makellose Frau wird mithin sichtbarzeichenhafte Abbreviatur des Gemeinten, nämlich der Ehre. Gerade hinsichtlich der Kanzlerschen Differenzierung des Begriffes der Ehre³⁸⁷ verweist das einerseits auf die innere Ehre der Frauen, deren Aushängeschild sie als Banner selbst sind, zum anderen impliziert das Bild, dass diesem Banner und das heißt der Frau das Ansehen nachfolgt. Damit hebt die Metapher auch auf ihre gesellschaftliche Funktion und Rolle ab. Zugleich ist die Frau hort (V. 10), also Schatz, Anhäufung von Kostbarkeiten, die in diesem Fall immaterielle sind, nämlich die selde, die als innerweltlicher, aber auch numinoser Begriff die Metapher partiell transzendiert.³⁸⁸ Vordergründig hebt sie den Wert der Frau als Freudenspenderin hervor, wobei der Begriff des Schatzes zugleich eine gewisse Exklusivität andeutet, eine Verborgenheit, etwas, worum sein Besitzer weiß, womit auf eine persönlich-private Ebene angespielt wird. Die in diesen beiden Metaphern sich andeutende Gegenüberstellung einer gesellschaftlichen und privaten Rolle der Frau spiegelt das produktionsästhetische Begriffspaar gesprechen unde geschriben (V. 8), denn dem Sprechen eignet Öffentlichkeit, dem Schreiben dagegen etwas Privates, Exklusives. Zugleich thematisiert das sprechen und schriben aber auch Performanz und Produktion. Besonders fällt der Begriff des schribens auf, der als Beschreibung der eigenen Tätigkeit in der Sangspruchdichtung alles andere als geläufig ist. Das SängerIch korreliert seine dichterische Tätigkeit insofern deutlich mit einer Lese- und Schreibkompetenz, womit er eine gewisse (Schrift‐)Gelehrsamkeit ausstellt – und zugleich auch deren Scheitern im Angesicht seines Sujets, was dieses erneut erhöht.

 Krieger (Kanzler), S. 63 f., und KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 249, betrachten die Äußerungen nicht als Epigonalitätsdiskurs, sondern als ‚einfache‘ Demutsformeln; schon Zach (Kanzler), S. 210 f., verweist darauf, dass sich diese beiden Deutungen nicht ausschließen.  Vgl. 1Kanz/2/4–6, Kap. 2.2.2.  Vgl. Ehrismann (Ehre und Mut), hier S. 181.

162

2 Analysen

Das Sänger-Ich sensibilisiert die Rezipienten damit zudem für die poetische Gemachtheit der Strophe. Mit selde und ere, welche die reinen wip spenden, ruft das Sänger-Ich eine literarisch geläufige Doppelformel auf, die für den Inbegriff einer gelungenen Existenz steht,³⁸⁹ und profiliert die Frauen so als summum bonum. Die gesuchten Bilder der eren van (V. 9) und des selden hort (V. 10) stehen in ihrer Verfasstheit, der Genitivkonstruktion und einer Verschränkung unzusammengehöriger Bildelemente, in der Tradition der blüemer. ³⁹⁰ Während dieses Verfahren bei den blüemern besonders der Absicht dient, neue überraschende Metaphern zu erschaffen, die genau durch ihre Unerwartbarkeit Sinn stiften,³⁹¹ sind diese Bilder des Kanzlers jedoch gerade nicht innovativ und neu. Das Bild des selden hortes ist – auch als auszeichnende Metapher für die Frau – vielfach belegt, besonders in der Epik Konrads von Würzburg.³⁹² Auch die Metapher der eren van ist dem Kanzler von Konrad bekannt, allerdings im Rahmen einer Schelte der Geizigen.³⁹³ Das ist auffällig – vor allem im Kontext der einleitenden Klage hinsichtlich des eigenen Ungenügens im Finden userwelt[er] wort und der Überlegenheit der meister – und lässt sich insofern als beabsichtigtes Zitat verstehen: Die Worte und Metaphern, die das Sänger-Ich findet, sind nur die, welche die anderen – die meister – schon gefunden haben.³⁹⁴ Neu sind aber die sinnstiftende Zusammenstellung der beiden Metaphern und die Anwendung im Kontext sangspruchdichterischer Lobrede. Die Metaphern sind also auf subtile Weise zugleich konventionell und innovativ.³⁹⁵

 Diese Formel und Vorstellung findet sich sowohl in der Epik, als auch in der Lyrik.  Vgl. Jens Haustein: Autopoietische Freiheit im Herrscherlob. Zur deutschen Lyrik des 13. Jahrhunderts. In: Poetica 29 (1997), S. 94–113, hier S. 104 f. Hübner beobachtet, dass solche „Lobblumen“ im Herrscherlob zunehmend als Indizes fungieren, die auf die poetische Funktion der Texte und den Kunstanspruch der Autoren verweisen, wobei die Sangspruchdichter diese Indexfunktionen in der Folge auch in den Frauenpreis und das Begriffslob übernommen hätten, vgl. Gert Hübner: Lobblumen Studien zur Genese und Funktion der „geblümten Rede“. Tübingen/Basel 2000, hier S. 441.  Vgl. Haustein (Autopoietische Freiheit), S. 105, 110 – 112.  Die Metapher begegnet hier meist als Apostrophe in wörtlicher Rede: Partonopier und Meliur, V. 1408, 1948, 14309 (und in V. 1764 als Auszeichnung des Mannes durch die Frau); Trojanerkrieg, V. 16101, 29369; im Silvester dagegen als religiöse Metapher (V. 200, 240, 1048, unspezifisch zwischen irdischer und transzendenter Erfüllung V. 5162). Zur allgemeinen Beschreibung höchster Pracht und Freude findet sich die Metapher auch im Engelhart, V. 6449; in Partonopier und Meliur, V. 928, 6306, 6443, und im Silvester, V. 5204; als Metapher für Christus in der Goldenen Schmiede, V. 1029.  1KonrW/3/3, V. 7; dass dieses Lied dem Kanzler bekannt war, belegt dessen produktive Rezeption zweifellos (1Kanz/4/1–3), vgl. Kap. 2.4.  Entsprechend topisch ist die – im Sangspruch aus der Minnekanzone entlehnte – Figur, dass die Frau „als Liebesobjekt und ethisches Vorbild in einem [gepriesen wird], als Garantin innerweltlicher sælde wie der Gültigkeit höfischer Werte, als Freudestifterin für den einzelnen wie für die höfische Gesellschaft“, vgl. Egidi (Höfische Liebe), S. 187.  Ganz im Sinne einer Topik, die der Findung (inventio) neuer Argumente mittels alter Formeln (topoi) dient, vgl. Lothar Bornscheuer: Topik Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976, S. 97–103; Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeiten-

2.2.5 Ton II, Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9)

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Der Abgesang nun greift das Problem des im Aufgesang behaupteten – und dabei zugleich vielfältig performativ unterlaufenen – Unvermögens des Sänger-Ichs erneut auf und verkehrt die prätendierte persönliche Unzulänglichkeit nun geschickt, indem er plötzlich auf einen Unsagbarkeitstopos zurückgreift: Auch wenn das Ich reich an Verstand wäre, so konstatiert es spitzfindig, hülfe ihm das im Angesicht des zu lobenden ‚Gegenstands‘ überhaupt nichts, da sich für die Exzeptionalität der Frauen grundsätzlich kein Vergleichsgegenstand finden lasse (V. 11–14). Die persönliche Aporie wird damit als allgemeine und grundsätzliche ausgestellt. Mit dem Begriff des vindens (V. 13 und auch schon V. 4) verweist die Strophe zugleich explizit auf die ihr zugrundeliegende rhetorische Reflexion: Während es im Aufgesang die richtigen, passenden Worte sind, die das Sänger-Ich nicht finden kann, es also vorerst an der elocutio zu scheitern vorgibt, greift die Behauptung, keine angemessenen Vergleichsgegenstände finden zu können, zugleich auf die inventio selbst aus, denn sie thematisiert das argumentative Verfahren der Lobrede.³⁹⁶ Zentral für diese ist eine Illustration des Lobes durch die Herstellung von Analogiebeziehungen mittels Vergleichen und Metaphern.³⁹⁷ Wenn das Sänger-Ich nun behauptet, dass kein noch so reicher Verstand einen angemessenen Vergleich zu bilden vermöchte, der sich den Frauen ze froͤ iden gelichen könne (V. 13 f.),³⁹⁸ dekonstruiert es das zentrale argumentative Muster des Lobpreises, indem es den Vergleich als dysfunktional für das vorliegende Sujet ausweist. Zugleich macht es sich dieses Verfahren damit gerade zunutze, denn nur vor dem Hintergrund dieser Tradition der Lobrede entfaltet die Suspension ihrer zentralen poetischen Strategie die angestrebte Wirkung. Die Strophe zeigt damit einmal mehr, dass Lobstrophen, deren Lobgegenstand selbst gerade nicht als strittig ausgewiesen, sondern als certum gesetzt wird,³⁹⁹ die

topos im Hohen Minnesang. In: Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider (Hg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Frankfurt a. M. 2001, S. 183–206, hier S. 184 f.  Vgl. Bornscheuer (Topik), S. 91, 93 f.; auffälligerweise nutzt der Kanzler auch für die poetologische Reflexion keine (handwerklichen) Metaphern, die in diesem Kontext in der Sangspruchdichtung sonst bevorzugt begegnen, vgl. Braun (Kunst), S. 273 f., womit der eigentlich bildhafte Begriff des vindens deutlicher als terminus technicus erscheint.  Für argumentativ eingesetzte Analogiebeziehungen in der Sangspruchdichtung beobachtet Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 193, dass der formale Topos der similitudo (im Sinne einer abstrakten Begriffsbeziehung) zugleich als elokutionäre Figur dienen kann.  ze froͤ iden bleibt in C mehrdeutig: Zum einen gibt es nichts – so auch die Lesart der anderen Handschriften –, was den Frauen hinsichtlich der Freude, die sie verursachen, vergleichbar wäre (ein topisches Argument im Minnesang, vgl. dazu etwa Daniel Eder: Der Natureingang im Minnesang. Studien zur Register- und Kulturpoetik der höfischen Liebeskanzone. Tübingen 2016, u. a. S. 135, 233– 235). Zum anderen ist C durchlässig auf eine poetologische Lesart, ließe sich nämlich auch verstehen als die Behauptung, dass es keinen Freude verursachenden, also zufriedenstellenden Vergleich für die Frauen gebe (was zugleich insinuieren würde, dass Richtigkeit von Sprache zu einer emotionalen, nämlich beglückenden Reaktion beim Rezipienten führe).  Egidi (Höfische Liebe), S. 185, differenziert zwischen absolut gesetztem und ermahnendem Frauenpreis und beobachtet für den absolut gesetzten, uneingeschränkten Preis, dass dieser keinen Appell aufweise und keine „Orientierung an Wertgegensätzen“ erkennen lasse, also nicht unter-

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2 Analysen

Aufmerksamkeit und Reflexion auf den Akt des Lobens selbst lenken.⁴⁰⁰ Hübner konstatiert, dass der Frauenpreis im Sangspruch nicht das gleiche artifizielle Niveau erreicht habe wie das Herrscherlob, was er darauf zurückführt, dass ersterer nicht unmittelbar mit Entlohnung korreliert ist und daher die Dichterkonkurrenz weniger fördere.⁴⁰¹ Die vor allem im Herrscherlob ausagierten Überbietungsstrategien bilden aber gewissermaßen den intertextuellen Subtext für die rhetorische Strategie des Kanzlers in diesem Frauenpreis. Im Herrscherpreis lassen sich intertextuelle Reihen beobachten, wobei die Sangspruchdichter sich besonders hinsichtlich der Artistik ihrer hyperbolischen Metaphern zu übertreffen suchen.⁴⁰² Gerade derartige Strukturen thematisiert die Strophe des Kanzlers, wenn das Sänger-Ich einleitend beklagt, durch die spruche der meister uberlistet zu sein und selbst keine uzerwelt[en] wort finden zu können. Anschließend werden die Frauen aber – wie in der überbietenden Lobrede üblich – doch mit hyperbolischen Metaphern geschmückt. Diese laufen dem üblichen, die Konkurrenten überbietenden Metapherngebrauch der Preisrede jedoch in zweierlei Hinsicht entgegen: Zum einen sind sie – wie gesagt – nicht innovativ, denn sie sind weder neu und unerwartet noch verweisen sie intertextuell auf ihre vorgängige Einbindung. Zum anderen funktionalisiert das Sänger-Ich sie nicht direkt, um mit ihnen die Exorbitanz der Frauen zu belegen, sondern stellt deren in diesen Metaphern sich offenbarende Exorbitanz als Grund für sein Unvermögen aus, ihnen im Lobpreis gerecht zu werden (owe, daz ich nit vinden kan/ userweltu̍ wort,/ […]/ wan si sint aller eren van/ unde aller selden hort, V. 4–10). Unterschwellig werden diese überhöhenden Metaphern damit freilich wiederum rhetorisch zur Präsupposition, zum unwidersprechlichen, gleichsam absoluten Faktum – und gerade darin hat zugleich ihre mangelnde Innovativität ihre Berechtigung, die ihnen die Geltung der Tradition verleiht. Auf der Textoberfläche suspendiert das Sänger-Ich im Abgesang – wie gesagt – dezidiert die Möglichkeit, dem Gegenstand seiner Lobrede über (solche) Metaphern oder Vergleiche gerecht zu werden (in fu̍ nde niht, daz wiben sich/ ze froͤ iden wol geliche, V. 13 f.). Das ‚belegt‘ er abschließend über eine argumentative Beweisführung, indem er (doch) eine Reihe von Vergleichen anstrengt, nur um deren Nutzlosigkeit auszustellen. Dabei bietet er mit der Maiblüte, den Blumen auf Heide und Wiese, dem Ge-

scheide, wann das Lob gerechtfertigt sei, sondern die Preiswürdigkeit als objektiv gültig voraussetze. Beim Kanzler klingt in der Benennung der gemeinten Frauen als reine wibe zwar durchaus eine Bedingung für das Lob an, wird aber nicht Thema der Strophe.  Gerade weil die Lobrede (im absoluten Frauenpreis) nicht auf eine ‚echte‘ Bestimmung oder Definition des Gegenstandes ziele, werde sie selbstreferenziell, so Egidi (Höfische Liebe), S. 186 f. Darin entspreche sie dem generellen Charakteristikum des genus demonstrativum, in welchem „die darbietende Redekunst Objekt der Rede [wird]“ [Zitat Lausberg § 239]. Auch wenn dieser Selbstbezug des Preises beziehungsweise der Preiskunst nicht in jedem Text expliziert werde, sei er grundsätzlich immer mit angelegt (weswegen sich von der Lobrede aus immer ein Meta-Diskurs über das Loben entfalten beziehungsweise differenzieren könne); vgl. dazu auch Hübner (Lobblumen), S. 439 f.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 388.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 278; vgl. Kap. 2.5.1.

2.2.5 Ton II, Strophe 9 – Frauenpreis (1Kanz/2/9)

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sang der Nachtigallen (Sängerchiffrierung!) ein umfangreiches „minnesangtypische[s] Frühlingsinventar“⁴⁰³ auf, die Freudenspender schlechthin, nur um letztlich – im Gestus einer topischen Wahrheitsbeteuerung – eidlich zu versichern, dass diese nichts seien im Vergleich mit der werdekeit der Frau (V. 15–19). Die kunst, das zeigt das Sänger-Ich insofern, muss also in zweifacher Hinsicht vor der Frau kapitulieren: Der schönste Gesang kann sich nicht mit ihrer werdekeit messen, noch kann ihr Lobpreis mit wort und sin erfasst werden. Die Strophe situiert sich also in einem selbstgeschaffenen Spannungsfeld: Sie stellt implizit Prämissen meisterlicher Dichtkunst auf und inszeniert zugleich ihren Gegenstand als etwas, für das das Sänger-Ich beklagt, diese Prämissen nicht erfüllen zu können, und woran es daher scheitert. Es revoziert dieses Scheitern aber dann durch einen umfangreich ausgeformten Unsagbarkeitstopos.⁴⁰⁴ Die Strophe thematisiert mithin den zentralen Anspruch beziehungsweise das zentrale Problem der Lobrede, nämlich dass die Qualität der Rede der Qualität des Gegenstandes entsprechen muss.⁴⁰⁵ Gerade indem die Strophe aber die Erfüllbarkeit dieser Prämisse radikal negiert, steigert sie das Lob ihres Sujets ins Unermessliche. Indem das SängerIch also behauptet, dass das Lob der Frau nicht angemessen erfassbar sei, beweist es seine Fähigkeit, es zu erfassen, denn es lässt in der vorgeführten Unsagbarkeit das unsagbare Lob als Ahnung greifbar werden und nähert sich ihm so im ErfahrbarMachen seiner Unermesslichkeit an. Damit aber nicht genug, denn die Pointe der Strophe ist zugleich auch noch ein Selbstzitat. Die zentrale rhetorische Argumentationsfigur nämlich, dass das SängerIch die Unmöglichkeit angemessenen Frauenlobes auflöst, indem es die Unvergleichlichkeit seines Sujets behauptet und diese mittels dem Sujet unterlegenen Vergleichsgegenständen belegt, findet sich genauso in seinem Minnelied V:⁴⁰⁶ swaz us suͤ zem done erklinget,/ swaz der walt des loͮ bes treit,/ swaz du̍ heide blmen bringet,/ swaz du̍ nahtegal gesinget,/ dast gegen wiben ungereit (Str. 3, V. 7–11). In der impliziten Behauptung der vorliegenden Spruchstrophe, dass die sprüche der vorausgegangenen meister letztlich nicht dazu taugten, den Gegenstand des Lobes zu beschreiben, weil er unbeschreibbar ist, reklamiert dieses Selbstzitat – subtil, aber doch beinahe provokant – eine alle übertreffende meisterschaft. Zugleich ist diese Strategie, die Exzeptionalität der Frau mittels eines Unsagbarkeitstopos zu beschreiben, nicht neu. Im Minnesang – auf den die als ungenügend

 Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 335.  Bemerkenswert ist – gerade im Kontext der expliziten Thematisierung poetologischer Fragen – die klare Parallelisierung von formaler und argumentativer Struktur der Strophe: Der erste Stollen exponiert eine poetologische Reflexion, die im zweiten Stollen auf den Gegenstand des Lobes überleitet. Der Steg entwickelt daraus erneut selbstreflexiv-poetologische Gedanken, die im letzten Stollen zur Synthese mit dem Sujet kommen.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 277; Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 201.  Auf die „fast wörtlichen“ Übereinstimmungen zwischen 1Kanz/2/9,V. 15–19 und Lied V, Str. 3,V. 7– 11 verweist schon Krieger (Kanzler), S. 53.

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2 Analysen

ausgewiesenen natureingangshaften Vergleiche des Kanzlers verweisen⁴⁰⁷ – findet sich dieses argumentative Verfahren immer wieder. Besonders prominent stellt etwa Reinmars Programmstrophe (Sô wol dir wîp, wie rein ein nam, MF 165,28) genau das aus, wenn sie konstatiert, dass das lop vortrefflicher wîp grundsätzlich mit Worten niemals erschöpfend erfasst werden könne: Dîn lop [das der Frau allgemein, Anm. d. Verf.] mit rede nieman volenden kan (V. 5, zit. nach MF). Diese Argumentation findet bereits bei Reinmar von Zweter Eingang in den Sangspruch, wobei er die unsagbare Makellosigkeit der Frau dabei auf Gottes Schöpferkunst zurückführt:⁴⁰⁸ Da dieser seinen vlîz auf die reinen wîp verwendet habe, seien sie wertvoller als alles andere (1ReiZw/1/34,V. 1–3) und [i]r werdikeit […] sô geslaht,/ daz ir lop hât übervlogen alles lobes maht,/ […]/ nieman lebt, der wîp volloben kunne/ noch ir lop müge vollen tihten (V. 4–9, zit. nach Roethe). Ganz im Gestus sangspruchmeisterlicher Preisrede operiert Reinmar von Zweter aber auch mit einem hyperbolischen Vergleich, wenn er konstatiert, dass das Lob der Frauen wie eine crône über allem Lob schwebe (V. 6). Dass er die Frauen als werder dan diu sunne ausweist (V. 7), liegt allerdings wieder in der argumentativen Fluchtlinie der beim Kanzler gebrauchten Naturvergleiche. Bei Reinmar von Zweter steht diese Strophe neben einer Reihe weiterer Frauenpreisstrophen (auch mit ermahnenden Tendenzen) im Frau-Ehren-Ton, in denen die Frau immer wieder mit ‚Lobblumen‘⁴⁰⁹ geschmückt wird. Gerade vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, dass die Unsagbarkeit in Reinmars Strophe – anders als beim Kanzler – letztlich doch auf einen hyperbolischen Vergleich abzielt, nämlich auf einen implizit transzendenten (daz in ûf erde iht sî gelîch/ mit êren reines muotes rîch,/ wizze ieman daz, den bite ich michs berihten, V. 10–12). Die in Cpg 350 nachfolgende Strophe expliziert diesen Gedanken letztlich, indem sie die Reinheit der Frau mit derjenigen der Engel gleichsetzt (1ReiZw/1/ 35, V. 10). Beim Kanzler dagegen inszeniert der Unsagbarkeitstopos tatsächlich eine Unvergleichlichkeit, was funktionalisiert wird, um über Bedingungen des Lobens zu reflektieren und implizit Fragen der meisterschaft zu verhandeln. Die Strophe des Kanzlers borgt sich ihre Pointe letztlich dennoch durchaus aus den spruchen der (vorgängigen) meister: Indem er die intertextuellen Parallelen aber durch die intratextuelle Referenz seines Selbstzitats überschreibt, werden jene geradezu negiert. Indem sich das Sänger-Ich dergestalt im rhetorischen Diskurs positioniert, stellt es implizit seine meisterliche Fähigkeit unter Beweis. Die dreifache Überlieferung der Strophe erlaubt zudem einen Blick darauf, wie sie eingebunden ist. Das ist besonders aufschlussreich für ihre zeitgenössische Rezeption. So steht die Strophe in der jüngsten Handschrift (N), in der sie anonym überliefert ist, im Kontext anderer Sangspruchstrophen, die Frauenpreis und Minne the-

 Auch Frauenpreis gegen Frühlingspreis auszuspielen, ist im Minnesang vorgeprägt, bei Walther von der Vogelweide etwa in L. 45,37, auch bei Konrad von Würzburg: reiner wibe guͤ te/ – baz dan al des meien blt –/ froͤ wet mannes gemuͤ te (Lied III, Str. 2, V. 7–9, zit. nach LDM), vgl. S. 163, Anm. 398.  Vgl. Dorothea Klein: Kap. IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 1. Minnesang. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 119–133, hier S. 129 f.  Vgl. Hübner (Lobblumen), bes. S. 442–447.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

167

matisieren (flankiert wird sie dabei von einer Strophe Frauenlobs [1Frau/5/5c] und einer Strophe, die Konrad von Würzburg zugeschrieben wird).⁴¹⁰ Hier scheint die Strophe insofern primär als Frauenlob wahrgenommen zu werden, ihr poetologischer Gehalt wird vom Überlieferungskontext nicht reflektiert.⁴¹¹ In der Basler Rolle (B3) schließt die Strophe an den dreistrophigen Gottespreis des Kanzlers an (1Kanz/2/1–3), mit dem sie einerseits das Genre des Lobpreises teilt, der aber andererseits implizit ebenfalls poetologische Fragen andeutet.⁴¹² Gerade die (dort vorangehende) Bitte um die Gaben des Heiligen Geistes, die sich unterschwellig als invocatio lesen lässt, leitet geradezu über zu den Demutsformeln, mit denen die vorliegende Frauenpreisstrophe eröffnet. Die nach B3 auf jene Strophe folgende Reflexion über die (Un‐)Vereinbarkeit von guot und ere (1Kanz/2/4) schließt mit ihrer Begriffsreflexion, der zentralen Referenz auf die eigene Gattung und ihrer zunehmend selbstbewussten Sprechhaltung ebenfalls an die Frauenpreisstrophe an. In Handschrift C folgt die Strophe dagegen auf die scharfe Invektive gegen die kunstlosen gernden (1Kanz/2/8). Zum einen lässt sich die vorliegende Frauenpreisstrophe in diesem Kontext als weitere Abgrenzung, nämlich nun gegenüber den kunstreichen verstehen, das heißt als implizite Erhebung über die anderen Sangspruchdichter. Zum anderen beweist die Strophe mit ihrer ernsthaften Reflexion über Grundlagen der kunst performativ den (Mehr‐)Wert der kunst im Verhältnis zu den in vorgenannter Strophe vorgeführten kunstlosen Schnorrern und Schmeichlern.

2.2.6 Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.) C Kanz 

b Kanz 

Hat ieman sin so snellen, der tu̍ te ein ellich zenter mir,

Hatt iemen sin so schnelle der tüt mir die vier eccenter mas da nach die paralellen, und die bar elle zwen orienten – dest min gir –, zuen uracentran das ist min begir  des vu̍ nften wesens schin, des fünft er wider schin wie sich dar inne mane nu klein erzeiget unde nu gros, doch wandelunge ane. da nah den himel luftgenos,  unde danne den kristallin. der tu̍ t oͮ ch, wie zediacus

Rekonstruktion Siebert Hât ieman sin sô snellen, der tiute mir eccentricôs, dar nâch die paralellen, zwên orizonten, dest min gir, des fünften wesens schîn,

wie sich dy gemone birget klein und ist doch gross und dar by wandel söne der oberhimel saget mir der under ein cristellin

Wie sich dar inne mâne nu klein erzeiget unde nu grôz, doch wandelunge âne; den oberhimel sage er mir, und dan den kristallîn;

wie zod iacob

Der tiute ouch, wie zodiacus

 Vgl. Franzjosef Pensel: Verzeichnis der deutschen mittelalterlichen Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig, zum Druck gebracht von Irene Stahl. Berlin 1998, hier S. 338.  Auch die Lesart der Verse 13 f. in N – ich invinde nicht, daz inkeyne vreude sich/ ken reynin vrauwen muge geligin – verunklärt deren poetologische Aussage tendenziell.  Vgl. Kap. 2.2.1.

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2 Analysen

zwefvalt die sunnen halte unde wie polus enpireus des sunnentaches walte[ ]  unde wie du̍ erste sache in schepf[ ]ungen dur die welt

zwölff der sunnen waltend wie polus und oracius das firmament enthaltent wie disen hohen sache bezaichent den ursprung

wu̍ rk unde wunder mache und sich ouch umme wache unde wie sich wege der erste der himel ob dem nüten ist ring, der beslu̍ zet ellu̍ ding. als mir du gschriffet vergicht

zwelfvalt die sunnen halte, und wie polus enpireus des sunnentaches walte, unde wie diu êrste sache in schepfungen der welt ursprinc würke und wunder mache, und wie sich wege der êrste rinc, der besliuzet elliu dinc.

 parabellen;  der vu̍ nfte wesent;  lust genos;  kristallen;  tt;  welf walt [...] halt;  waltet;  schepfe iungen



C Kanz 

b Kanz 

Rekonstruktion Siebert

Swie swerer last sich neiget ze der erden zenter, wa das stat, unde wie sich umbeweiget der himel, ob dem niht enist, des mir du̍ schrift vergiht:

[V.  f. aus C fehlen] ...... ...........................

Swie swærer last sich neiget zer erden zenter, wâ daz stât,

[V. – nach C bilden den und wie sich umbe weiget Schluss der ersten Strophe u. der himel, ob dem niht enist, ersetzen Str. , V. – nach C] des mir diu schrift vergiht.

klar hitzig sunnenblig, des manen kelte, des regens sprat, der bernde wint erkiket. planeten kraft, ir loͮ fes vrist[ ]  min kunst vermisset niht –

Clar heiss ist sunnen bliczgin des mones schin des regen sprat der berndu wind quikge planeten lauff und auch ir list min kunst vermisset nicht

Klâr, heiz diu sunne blicket; des mânen kelte, des regens sprât, der bernde wint erquiket. plâneten kraft, ir loufes frist mîn kunst vermisset niht,

wie lu̍ htet himel, sternen kraft der erde hilfe bringet, daz es ir suͤ ze hohgeschaft durh blt in vruͤ hte dringet,  wa elemente sich ruͤ rent, wa swer, wa liht, wa heis, wa kalt, wies us nature fuͤ rent lebendig geschepfde manigvalt gar wunderlich gestalt.

wie himel lüfftig sternekrafft der erde hilffe bringet wo hohu süssu meisterschafft durch blut die früchte dringet wo elementen sich rürent wo heiss wol kalt wo licht, wo schwer in die nature fürent lebent geschöpfft gar manigfalt so wunneclich gestalt etc.

Wie liuhtet himel, sternen kraft der erde hilfe bringet, daz es ir süeze hôhgeschaft durh bluot in frühte dringet, wâ element sich rüerent, wâ swær, wâ lîht, wâ heiz, wâ kalt, wies ûz natûre füerent lebend geschepfde manigvalt, gar wunderlîch gestalt.

 vristen;  vuͤ hte;  fuͤ ret

Die vorliegenden beiden Strophen, die in C den Goldenen Ton des Kanzlers beschließen, werden von der Forschung aufgrund ihrer großen thematischen Nähe als

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

169

Bar aufgefasst.⁴¹³ Sie sind außer in C auch in der deutlich jüngeren Baseler Meistersingerhandschrift (b) überliefert,⁴¹⁴ wo sie ebenfalls zusammenstehen. Diese Strophen nehmen aus mehreren Gründen eine Sonderstellung ein: Im Œuvre des Kanzlers sind sie die einzigen, die sich mit astronomisch-kosmologischen Themen beschäftigen,⁴¹⁵ aber auch unter den astronomischen Strophen der gesamten Gattung stellt ihr ausschweifender Gebrauch gelehrter Fachterminologie eine Ausnahme dar. Gerade diese sonst in der Sangspruchdichtung nicht begegnenden astronomisch-kosmologischen Spezialbegriffe dürften zugleich der Grund für den schlechten Überlieferungszustand der Strophen sein, der ihre philologische Erschließung vor besondere Schwierigkeiten stellt. Dass die Begrifflichkeiten zu Verständnisschwierigkeiten bei den Schreibern oder Redaktoren geführt haben, zeigt sich an mehreren Faktoren: Die terminologisch avanciertere Strophe (1Kanz/2/10) ist die schlechter erhaltene von beiden; die Handschriften weichen erheblich voneinander ab; die zweite Strophe (1Kanz/2/11) ist in b unvollständig überliefert, ohne dass die Handschrift das markieren würde;⁴¹⁶ das metrische Schema – besonders der ersten  Als Bare verstanden werden daneben 1Kanz/1/2–3 und 1Kanz/2/1–3 (KLD, LDM), nach RSM zudem Kanz/5/14–16; einen Sonderfall bilden die Strophen 1Kanz/4/1–3, vgl. dazu Kap. 2.4; KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 255, vermutet aufgrund der Strophenzusammengehörigkeit der beiden vorliegenden Strophen eine verlorene dritte Strophe, welche die Strophenfolge zum Dreierbar ergänzt habe; zum einen begegnen aber im 13. Jahrhundert sogar öfter zweistrophige als dreistrophige Strophenverbünde, vgl. Brunner (Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit), bes. S. 320 f.; zum anderen zeigen die Strophen des Kanzlers grundsätzlich, dass sich Strophenzusammengehörigkeiten vor der Ausbildung einer regelhaften Barbildung präziser als Form von Intratextualität beschreiben lassen, die bestimmte Strophen potenziell näher zusammenstellt, welche zugleich aber auch als Einzelstrophen verständlich bleiben (vgl. dazu etwa Kap. 2.1.2 f. zu 1Kanz/1/1– 3 und Kap. 2.1.7). Das zeigt auch etwa die Parallelüberlieferung der vorliegenden Strophen in der Baseler Meistersingerhandschrift b, die sie zu einem Dreierbar ergänzt (s. u. Kap. 2.2.6.4). Die dafür hinzutretende Strophe (1Kanz/2/1) ist eine Gottespreisstrophe, die in C und B3 (Basler Rolle) einen trinitarischen Gottespreis mit zwei weiteren Strophen bildet (Dreierbar), vgl. Kap. 2.2.1. Dass diese Gottespreisstrophe in b nun alleine in einem neuen Barzusammenhang begegnet, verweist entweder auf eine Rekombinierbarkeit auch von Strophen, die in Baren eingebettet sind, oder (und das scheint hier wahrscheinlicher) auf ein ‚Eigenleben‘ dieser Gottespreisstrophe als Einzelstrophe, was sie für eine meistersängerische Integration zu einem neuen Bar aus altüberlieferten Strophen verfügbar machte. In beiden Fällen deutet das darauf hin, dass die ‚Bare‘ im 13. Jahrhundert noch keine vollständig fest verbundenen Strophenzusammenhänge sind (sondern vielmehr stark intratextuell vernetzte Strophenreihen).  Basel Cod. O IV 28; um 1430, vgl.Willms (Marner), S. 9; Bartsch datiert sie auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, vgl. Karl Bartsch: Beiträge zur Quellenkunde der Altdeutschen Literatur. Straßburg 1886, hier S. 275. Die Strophen sind hier – behutsam normalisiert – nach der Handschrift zitiert.  Vielleicht lassen sich auch die – allerdings deutlich oberflächlicheren – Andeutungen in 1Kanz/2/ 1 dazu rechnen, die wohl auch zur Kombination dieser Strophe mit den vorliegenden astronomischkosmologischen Strophen in der Handschrift b geführt haben.  In b fehlt der erste Stollen der zweiten Strophe (1Kanz/2/11), wobei dessen letzte beide Verse (nach C) das Ende der ersten Strophe in b bilden. Die beiden Strophen sind in b aber deutlich voneinander abgesetzt (Schlusszeichen, freigelassene Restzeile und Großschreibung am Beginn der neuen Strophe). Gerade da die Strophen durch die Strophe 1Kanz/2/1 (die übrigens kaum und nur unbedeutende Abweichungen gegenüber der Parallelüberlieferung aufweist) zum Dreierbar ergänzt sind, könnte man

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2 Analysen

Strophe (1Kanz/2/10) – stimmt in beiden Handschriften in vieler Hinsicht nicht mit demjenigen des Goldenen Tones überein.⁴¹⁷ Darüber hinaus weisen beide Lesarten sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatischer und logischer Ebene deutliche Defekte auf.⁴¹⁸ Die Handschriften tradieren insofern einen „unverständliche[n] und damit dysfunktionale[n] Text“.⁴¹⁹ Dieser Umstand veranlasste Siebert, eine ‚Rekonstruktion‘ des Textes durch Kompilation der beiden Handschriften unter Einbezug zeitgenössischen astronomischen Schrifttums zu versuchen.⁴²⁰ Das Ergebnis ist eine beachtliche philologische Leistung, verdeckt aber zugleich, dass die Lesart in C zwar sicher nicht den ‚ursprünglichen‘ Text erhalten hat, aber dennoch auch schon mit geringeren Eingriffen verständlich werden kann, wie die Neuedition in LDM zeigt (s. o.). Anders liegt der Fall für die Handschrift b, deren Text sich an vielen Stellen kaum anders denn als fehlerhaft und verbesserungsbedürftig verstehen lässt.⁴²¹ Grundsätzlich liegt den astronomisch-kosmologischen Ausführungen der Strophen ein aristotelisch-ptolemäisches Weltmodell zugrunde. Dieses erfährt in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts etwa durch Honorius’ Augustodunensis Imago mundi umfassend Verbreitung.⁴²² Spezifischeres kosmologisches Fachwissen er-

prinzipiell annehmen, dass ein Bewusstsein für die reguläre Strophenlänge und -form hätte vorhanden sein können.  Vgl. Siebert (Astronomie), S. 3; in b reimen gegen das Tonschema V. 16, 18 und 19 nicht untereinander, sondern sind Waisen, was aus einer Verstellung der letzten beiden Verse (V. 18 f.) resultiert, die – wie C zeigt – eigentlich Teil der Folgestrophe sein müssten. In C dagegen zeigt das abweichende Reimschema eine gewisse Redaktion, denn immerhin reimen hier alle Verse – wenn auch nicht schemakonform (die Stollen sind kreuzgereimt ababc|dedec statt abacd|ebecd). Das ist als Störung auffällig, da sich in der Überlieferung des Goldenen Tones sonst keine Abweichungen vom Reimschema finden (außer 1Kanz/2/5, hier allerdings findet lediglich auf Basis des üblichen Schemas der Strophe eine Reduktion der Reimklänge statt, die möglicherweise als Markierung einer Konrad-Referenz fungiert, vgl. dazu S. 125, Anm. 249). Auch bei den Kadenzen zeigen sich Abweichungen. In b weicht daneben auch die Hebungszahl vom Schema des Goldenen Tones ab.  Vgl. Runow (Hât iemand sin sô snellen), S. 93 f.  Vgl. Runow (Hât iemand sin sô snellen), S. 94.  Siebert (Astronomie).  Die Handschrift b bietet noch einen Vergleichsfall astronomisch-kosmologischer Fachterminologie, nämlich in einer Strophe Heinrichs von Mügeln (La 7, 1HeiMü/500,7; nach Stackmann eine ‚echte‘ Strophe, vgl.: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung, hg. von Karl Stackmann mit Beiträgen von Michael Stolz. Berlin 2003, hier S. XXXI). Auch diese deutlich jüngere Strophe zeigt in b – neben korrekt Tradiertem – ähnliche Defekte wie die Strophe des Kanzlers, wenn etwa der Begriff zodiacus verschrieben ist zu Sodegicus,V. 4 (in der Strophe des Kanzlers zod iacob,V. 11) und der orizon zu arisa, V. 5 (in der Kanzlerstrophe wohl uracentren, V. 4); daneben beispielsweise colarie statt coluri, V. 4; ante artigus statt antarticus, V. 9; sturm nebel das zaichet blindes Coiades statt sturm, nebel das zeichen Pliades und Hyades, V. 16, zit. nach Stackmann.  Vgl. Hartmut Freytag: [Art.] Honorius Augustodunensis. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 122–132, hier Sp. 122, 125, 128–130; der anonym überlieferte mittelhochdeutsche Lucidarius (1190–1195) greift auf die kosmologischen Darstellungen in Honorius’ Augustodunensis Imago mundi zurück (Freytag ([Art.] Honorius Augustodunensis), Sp. 129 f.) und erschließt sie so auch in der Volkssprache, wo der Lucidarius breit rezipiert wurde, vgl. Georg Steer: [Art.] Lucidarius. In: ²VL, Bd. 5, Sp. 939–947, hier Sp. 940, 946.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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schließt den mittelalterlichen Rezipienten auf breiterer Basis etwas später Johannes von Sacrobosco mit seinem um 1230 abgefassten Traktat De Sphaera mundi, der astronomisch-kosmographisches Wissen unter Bezug auf antike und arabische Quellen klar verständlich und systematisch vermittelt.⁴²³ Der Kosmos ist nach diesem Weltbild aus konzentrischen Schalen aufgebaut: Im Zentrum liegt unbewegt die Erde als schwerstes Element, die Schale um Schale von weiteren Sphären umgeben ist. Zunächst sind das die Elemente: Die Erde wird vom Wasser umschlossen, das Wasser von der Luft und die Luft vom Feuer.⁴²⁴ Über der Sphäre des Feuers beginnt der Äther, die quinta essentia, das funft wesen. ⁴²⁵ In diesem kreisen die sieben Planeten, wobei der Mond der Erde am nächsten steht, gefolgt von Merkur,Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn. Die Planeten werden wiederum von verschiedenen aufeinander folgenden Himmelsschalen umschlossen, nämlich vom Fixsternhimmel (Firmament) und der ersten bewegten Sphäre (primum mobile), dem Kristallhimmel.⁴²⁶ Im 13. Jahrhundert wird diese ptolemäische Abfolge der Sphären im Zuge ihrer fortschreitenden Integration in ein christliches Weltbild noch um einen weiteren Himmel ergänzt, nämlich den unbewegten caelum empyreum, der als Ort Gottes gedacht ist,⁴²⁷ wiewohl Gott zugleich außerhalb von Raum und Zeit steht.⁴²⁸ Neben dem Aufbau der Welt erläutert die Sphaera Mundi Johannes’ von Sacrobosco, dass alle Dinge aus den vier Elementen aufgebaut sind, und vermittelt zudem ausführlich die kosmographischen (Groß‐) Kreise (etwa Äquator, Horizont, Tierkreis) sowie die Bewegungen der verschiedenen Himmel und Himmelskörper. Dieses astronomisch-kosmologische Wissen wird auch in die Volkssprache übertragen, so etwa mit dem Lucidarius Ende des 12. Jahrhunderts, der sich stark an Honorius’ Augustodunensis Elucidarium und Imago mundi anlehnt,⁴²⁹ und mit den ab Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisbaren Übertragungen der Sphaera mundi Johannes’ von Sacrobosco.⁴³⁰ Es begegnet versatzstückhaft auch in der höfischen Litera Vgl. Konrad von Megenberg: Die deutsche Sphaera, hg. von Francis B. Brévart. Tübingen 1980, hier Einleitung, S. IX f.  Vgl. Johannes de Sacrobosco: The Sphere of Sacrobosco and its Commentators, hg. von Lynn Thorndike. Chicago 1949, hier S. 78 [im Folgenden Sphaera Mundi].  Vgl. Sphaera Mundi, S. 79.  Sphaera Mundi, S. 79.  In Konrads von Megenberg erläuternder Übersetzung des Traktats von Johannes von Sacrobosco (Die deutsche Sphaera) heißt es darüber: Daz erst stukke ist der erst lauf oder der erst waltzer und haizt auch der cristallisch himel […]. Und ob dem setzen die kristen und die juden ainen himel, der haizzet der feurein himel […]. Und der hat kainen lauf, sunder got rt mit seinen lieben darinne. Aber unser Johannes [von Sacrobosco, Anm. d. Verf.] sagt von dem selben himel niht, noch kain ander haidenisch sternseher, S. 7, 14–21, zit. nach Brévart.  Vgl. Fritz Peter Knapp: Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung. Darmstadt 2011, hier S. 40.  Vgl. dazu Steer ([Art.] Lucidarius), vgl. auch S. 170, Anm. 422.  So Konrads von Megenberg Die deutsche Sphaera, um 1347–1350, und das anonyme Puechlein von der Sphaera, 2. Hälfte 14. Jahrhundert, vgl. Francis B. Brévart, Menso Folkerts: [Art.] Johannes de Sacrobosco. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 731–736, hier Sp. 733 f.

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tur.⁴³¹ Illiteraten Laien konnte einiges davon aber offenbar auch durch die Predigt zur Kenntnis kommen, wie sich etwa bei Berthold von Regensburg zeigt, der mehrfach astronomisch-kosmologisches Wissen bemüht, um es allegorisierend zu funktionalisieren.⁴³² Im Gegensatz zu den meisten astronomisch-kosmologischen Strophen der Sangspruchdichtung zeigen die beim Kanzler aufgerufenen Wissensinhalte allerdings eine intimere Kenntnis der Astronomie, als sie etwa die Wissensbestände in Bertholds Predigten erlauben würden. Ich möchte im Folgenden eine Interpretation der Strophen nach C unter Einbezug der Parallelüberlieferung in b und der Rekonstruktion Sieberts skizzieren. Ich übernehme für C dabei weitestgehend die wenigen behutsamen Konjekturen, welche die Neuedition in LDM von Siebert übernommen hat, da sie meines Erachtens aus der Parallelüberlieferung oder den grammatischen Anforderungen der Strophe selbst gut begründet sind.

2.2.6.1 Strophe 10 – Himmel und Sphären (1Kanz/2/10) Die erste Strophe richtet sich mit ihren eröffnenden Versen an die Rezipienten: Hat ieman sin so snellen,/ der tu̍ te […] mir (V. 1 f.). Sie formuliert insofern die Aufforderung, etwas zu tu̍ ten, also zu ‚erklären‘, ‚auszulegen‘,⁴³³ und knüpft die Fähigkeit dazu an eine bestimmte geistige Disposition, nämlich einen außergewöhnlich scharfen Verstand. Mit dieser Einleitung generiert die Strophe eine Rätsellöse- beziehungsweise Prüfungsfragen-Situation⁴³⁴ und damit automatisch ein Wissensgefälle zwischen dem Fragenden und dem/den Befragten.⁴³⁵ Derartige Strategien sind in der Sangspruch-

 So etwa im Welschen Gast, V. 2349–2422 oder in Wolframs von Eschenbach Parzival (wobei die Profilierung der Wolfram-Figur im sogenannten Wartburgkrieg, die gerade diese astronomischen Kenntnisse mit ihm verbindet, wiederum andeutet, dass dieses Wissen ein Alleinstellungsmerkmal Wolframs ist und dass astronomisches Wissen auch mit dem Verdacht schwarzmagischer Praktiken verbunden sein kann).  So wird in der Predigt „Von den siben planêten“ etwa im Kontext des freien Willens der Einfluss der Sterne und Planeten auf die Menschen verhandelt, Bd. 1, S. 50 (Pfeiffer); die Predigt „Von zwein wegen, der marter und erbermde“ weist die Versuche heidnische[r] meister, die Entfernungen der verschiedenen Sphären zueinander zu ermitteln, als fruchtlos aus, weil nur Gott um diese Distanzen wisse. Die Menschen aber könnten sie durch kristenglouben, gedinge (spes) und minne überwinden und zu den Himmeln gelangen (namentlich das firmament [celo de stella], der kristallîn [celum cristallinum] und darüber das celum empireum), S. 179 f. (vgl. auch „Von dem fride“, S. 235). Auch der Berthold möglicherweise durch Honorius Augustodunensis vermittelte Vergleich des Kosmos mit einem Ei (konzentrischer Schalen-Aufbau) begegnet hier, vgl. „Sælic sint die reines herzen sint“, S. 392; erläutert werden zudem die ungleichen Bewegungen von Firmament und Planeten, vgl. ebd., S. 392 f. Diese astronomisch-kosmologischen Versatzstücke werden allerdings fast immer zum Ausgangspunkt einer allegorisierenden Deutung, wie auch die Predigt „Von den siben planêten“ zeigt.  ‚erzählen, ausdeuten, übersetzen‘, vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 443.  Vgl. Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994, hier S. 220.  Vgl. Bulang (wie ich die gotes tougen), S. 44 f.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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dichtung topisch.⁴³⁶ Besonders prominent verhandelt werden sie im Rätselspiel des sogenannten Wartburgkrieges,⁴³⁷ der sich – auch in dieser Hinsicht – geradezu als Metatext der Gattung verstehen lässt.⁴³⁸ Das Kanzlersche Sänger-Ich inszeniert sich mit dieser Strategie implizit als Wissender und seine Gegenstände als anspruchsvoll, stattet also sowohl sich selbst als auch die angekündigten Inhalte mit Geltung aus. Dem folgt nun eine Aufzählung verschiedener astronomisch-kosmologischer Sachverhalte und Fachbegriffe, zu deren Erklärung das Ich auffordert. Diese Aufzählung hebt in C an mit der Frage nach dem ellich zenter (V. 2), also dem Mittelpunkt der Erde.⁴³⁹ Dieses wird auch bei Johannes von Sacrobosco behandelt, es verbindet sich damit die Vorstellung, dass zu ihm alles hinstrebt, weil die Erde – wie sich daran wiederum zeigt – das schwerste Element und der Mittelpunkt des Kosmos ist.⁴⁴⁰ In b steht hier statt ‚ellich zenter‘ ‚vier eccenter mas‘, was keine Entsprechung im Fachdiskurs hat. Siebert konjiziert daher plausibel zu eccentricôs ⁴⁴¹ als gebräuchliche Kurzform für die circuli eccentrici, exzentrische Kreise, die mit den epicicli die Unregelmäßigkeit des Ganges der Planeten erklären.⁴⁴² Da in C die folgende Strophe erneut die Schwere der Erde und ihre Position im Zentrum verhandelt (1Kanz/2/11, V. 1 f.), scheint die aus b konjizierte Lesart eccentricôs weniger redundant, sie fügt sich zudem besser in den Duktus des ersten Stollens, der Vers für Vers weitere lateinische Fachbegriffe aufruft. Im folgenden Vers nämlich fragt das Sänger-Ich nach den paralellen (V. 3; die übliche lateinische Form im Mittelalter scheint paralelli gewesen zu sein),⁴⁴³ vier gedachten Kreislinien, die parallel zum Äquator verlaufen, das sind Sommer- und Wintersonnwende sowie nördlicher und südlicher Polarkreis.⁴⁴⁴ Diese teilen die Welt in fünf Zonen ein, in zwei unbewohnbar kalte an den Polen, eine unbewohnbar heiße am Äquator und dazwischen je eine gemäßigte Zone.⁴⁴⁵ Des Weiteren, so äußert das Sänger-Ich, begehre es von den zwen orienten zu erfahren (V. 4). Denkbar wäre hier, dass mit orient der Sonnenaufgangspunkt, mit den

 Vgl. Bulang (wie ich die gotes tougen), S. 44 f.  Vgl. Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 352 f.; dies. (Geltung des Sanges), S. 158 f.  Vgl. Tervooren (Sangspruchdichtung), S. 38; anders Hallmann (Wartburgkrieg), vgl. S. 5, Anm. 18.  Wörtlich etwa das ‚allgemeine Zentrum‘, vgl. LDM Apparat.  Vgl. Sphaera Mundi, S. 84 f.; auch der Begriff zenter (centrum) kann im Mittelhochdeutschen als Fachbegriff gelten, da er volkssprachig sehr selten belegt und dabei fast immer astronomisch-kosmographisch gemeint ist.  Diese Konjektur ist dadurch gerechtfertigt, dass eccenter mas in b beinahe zusammengeschrieben erscheint und dass die rekonstruierte lateinische Form mit ihrer Endung (‐ôs) den Reim auf gross (V. 7) wiederherstellt, vgl. Siebert (Astronomie), S. 3; zudem hat die Vierzahl der eccenter keine Plausibilität, da alle Planeten eine exzentrische Bahn haben, vgl. Sphaera Mundi, S. 113 f.  Vgl. Siebert (Astronomie), S. 3, der hier zudem Belegstellen für die Kurzform eccentricos (besonders aber eccentrici) bringt.  Vgl Sphaera Mundi, S. 93 f.; vgl. dazu auch Siebert (Astronomie), S. 4, mit weiteren Belegen.  Vgl. Sphaera Mundi, S. 92–94; zudem Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 92.  Vgl. Sphaera Mundi, S. 94.

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zwen orienten also die verschiedenen Sonnenaufgangspunkte zur Sommer- und Wintersonnwende gemeint sind.⁴⁴⁶ Im zeitgenössischen Fachdiskurs ist allerdings eine spezifische Zweizahl und derartige Bezeichnung selbiger nicht bekannt. Siebert kontaminiert daher aus den Lesarten beider Handschriften – orienten in C und dem unverständlichen Begriff uracentren aus b – die orizonte. ⁴⁴⁷ Die zwei Horizonte, nämlich der orizon rectus und der orizon obliquus, also der geozentrische (rectus) und der vom Standpunkt des Betrachters abhängige (obliquus) Horizont, sind im astronomisch-kosmographischen Kontext – anders als die zwei orienten – sehr geläufig.⁴⁴⁸ Als nächstes fordert das Sänger-Ich zur Erklärung des vu̍ nften wesens schin auf (V. 5) – des Leuchtens des ätherischen Bereichs, der quinta essentia, die über den Elementensphären beginnt.⁴⁴⁹ Änigmatisierend fragt es nach dem Mond, der sich darin – scheinbar paradox – wechselnd groß und klein zeige und zugleich doch ohne wandelunge, also unverändert, bleibe (V. 6–8).⁴⁵⁰ Daraufhin wendet das Sänger-Ich sich den Himmelssphären zu: [der tu̍ te mir] den himel luftgenos,/ unde danne den kristallin (V. 9 f.). Diese Gegenüberstellung verweist offenbar auf zwei verschiedene und auch in ihrer Beschaffenheit unterschiedliche Himmel(‐ssphären). Sonst nicht belegt ist der – offenbar für einen der Himmel gesetzte – Begriff luftgenos (V. 9, konjiziert aus dem kaum sinnhaften lust genos ⁴⁵¹). Handschrift b spricht hier vom oberhimel, dem Firmament,⁴⁵² worauf inhaltlich wohl auch C abzielt. Die Beschreibung als ‚luftartiger‘ Himmel ist allerdings wenig orthodox, da sich das Firmament jenseits des Elementbereichs (also der Luft) im ätheri-

 Vgl. Krieger (Kanzler), S. 82 f.  An verschiedenen Parallelbelegen zeigt Siebert (Astronomie), S. 4 f., dass der Begriff orizon im Gegensatz zu orient/orion volkssprachig offenbar wenig geläufig ist und es – wohl deswegen – mehrfach zu ‚falschen‘ Angleichungen an diese ähnlich klingenden Begriffe kommt. In 1HeiMü/500,7 steht in Handschrift b für ‚orizon‘ ‚arisa‘, vgl. S. 170, Anm. 421, was Tradierungsschwierigkeiten mit dem Begriff belegt (aber auch darauf verweist, dass hier wohl bei beiden Texten bereits die Vorlage fehlerhaft war).  Sphaera Mundi, S. 91: Est autem duplex orizon, rectus scilicet et obliquus sive declivis [es folgt die Erklärung der beiden orizontum, Anm. d. Verf.].  So schon Krieger (Kanzler), S. 82, vgl. Sphaera Mundi, S. 79; die Übersetzung als fünft wesen findet sich – wie Siebert (Astronomie), S. 5, schon anmerkt – auch bei Konrad von Megenberg: Deutsche Sphaera, S. 10, 10–14: daz himelisch leuhtend reich […]. Daz reich haizzt von den maistern daz funft wesen, davon, daz es an der zal daz funft ist nach den vier elementen und hat ain ander sunderleich wesen von den elementen.  Anders Siebert (Astronomie), S. 5, der ‚wandelunge âne‘ auf die quinta essentia zurückbezieht, deren Unveränderlichkeit ihr wesenhaft ist. Siebert verweist hier zudem auf den Welschen Gast, der ebenfalls diese Unwandelbarkeit thematisiert, swaz zwischen mân und himel ist,/ daz hât stæte zaller vrist,V. 2393 f., zit. nach: Thomasin von Zirklaria: Der wälsche Gast, hg. von Heinrich Rückert, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965 (Nachdruck der Ausgabe Quedlinburg/Leipzig 1852).  Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 94.  So heißt es bei Honorius Augustodunensis: superius caelum dicitur firmamentum (De speculum mundi, I, 87; zit. nach Siebert [Astronomie], S. 6).

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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schen Bereich befindet und der aether gemeinhin streng von der aer geschieden wird.⁴⁵³ Möglicherweise drückt der Begriff luftgenos aber dennoch einen gedachten Gegensatz der Beschaffenheit von Firmament und Kristallhimmel aus, mit dem das Firmament vom darüberliegenden erstarrten Kristallhimmel abgehoben werden soll. Dem folgt eine erneute Deutungsaufforderung des Sänger-Ichs (der tu̍ t oͮ uch, V. 11),⁴⁵⁴ nämlich zu erklären, wie zodiacus, also der Tierkreis, ‚zwölffach die Sonne halte‘ (V. 11 f.). Diese verrätselnde Beschreibung zielt darauf, dass die Sonne alljährlich Monat für Monat die zwölf Zeichen des Tierkreises durchläuft.⁴⁵⁵ Zudem erfragt das Ich wie der polus enpireus/ des sunnentaches walte (V. 13 f.). Mit dem Begriff des enpireus (empyreum) greift die Strophe ein verchristlichtes ptolemäisches Weltmodell auf, das sich – wie bereits erläutert – im 13. Jahrhundert zunehmend durchsetzt und einen unbewegten weiteren Himmel über dem Kristallhimmel, der nach antiker Vorstellung bewegten letzten Sphäre, kennt.⁴⁵⁶ Diese Staffelung des Himmels findet sich – ebenfalls mit lateinischen Bezeichnungen – auch etwa in den Predigten Bertholds von Regensburg,⁴⁵⁷ was eine gewisse Verbreitung dieser termini indiziert. Das sunnentach, über das dieser empireus herrscht, ist offenbar als darunterliegendes ‚Dach über der Sonne‘ aufzufassen.⁴⁵⁸ Gemeint ist damit insofern wohl der Fixsternhimmel, wenn er als zodiacus – wie zuvor beschrieben wurde – die Sonne hält (dafür spräche auch die Überlieferung in Handschrift b, die statt ‚sunnentach‘ ‚firmament‘ schreibt).⁴⁵⁹

 Vgl. Siebert (Astronomie), S. 6; Krieger (Kanzler), S. 82, identifiziert luftgenos einfach als die elementische Sphäre der Luft, die um Erde und Wasser liegt; die Bezeichnung als himel, die Parallelüberlieferung und die scheinbar an dieser Stelle sich vollziehende Bewegung der Strophe von Sphäre zu Sphäre nach oben (vu̍ nft wesen, luftgenos, kristallin, nachfolgend weitere Beschäftigung mit den äußersten Sphären) sprechen dagegen.  Wobei es sich auch hier um eine Konjektur handelt. C schreibt nicht tu̍ t, sondern tt: den kristallin./ der tt oͮ ch, wie zediacus/ zwefvalt die sunnen halt/ unde wie polus enpireus/ des sunnentaches waltet; auch das lässt sich vielleicht noch verstehen, wenn man statt halt halten und statt waltet walten setzte, also etwa ‚den Kristallhimmel, der genauso die Sonne hält, wie es Zodiakus zwölffach tut und wie der polus enpireus über das Sonnendach herrscht‘. Freilich lässt die katalogartige Abfrageformel des die Strophe durchziehenden wie beziehungsweise und wie eher vermuten, dass hier – zumindest ursprünglich – mit einer parataktischen Aufzählung ohne solche Parenthesen zu rechnen ist.  Vgl. Sphaera Mundi, S. 87–89; Lucidarius, I, 79.  Vgl. S. 171, Anm. 427; der Begriff polus kann neben caelum für Himmel stehen, die Begriffe sind aber nicht synonym (vgl. KLD, Bd. 2 [Kommentar], S. 252), polus begegnet vorwiegend in der Dichtersprache als Begriff für den Himmel, vgl. Siebert (Astronomie), S. 8; Alanus ab Insulis verwendet den Begriff im Anticlaudianus für die Himmelssphären, bei ihm begegnet auch die Begriffsfügung polus empyreus, weshalb Siebert eine Abhängigkeit des Kanzlers von Alanus erwägt, vgl. Siebert (Astronomie), S. 8.  Vgl. S. 172, Anm. 432.  Die Formulierung wäre damit als genitivus objectivus aufgefasst – anders Krieger (Kanzler), S. 82, der es als genitivus subjectivus auffasst, also die Sonnensphäre als Dach versteht; KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 252, identifiziert als sonnentach den dem Firmament nächsten Punkt der exzentrischen Sonnenkreisbahn (aux), den der polus enpireus „besitze“.  Als Firmament identifiziert das ‚Sonnendach‘ auch Siebert (Astronomie), S. 8.

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Mit dem letzten Stollen fragt das Sänger-Ich nach der ersten Wirkursache, der prima causa, die – hier ist der Text unklar, gemeint ist aber wohl etwa: – die Schöpfung und die staunenswerten Abläufe der Welt verursacht habe (in schepfe iungen [schepfungen?] dur die welt/ wu̍ rk unde wunder mache, V. 16 f.). Dieser Vers ist offensichtlich gestört; dass hier ein umfassender Defekt vorliegt, indiziert auch seine Reimlosigkeit.⁴⁶⁰ Die Parallelüberlieferung in b erhält mit ursprung einen passenden Reim,⁴⁶¹ Siebert bessert daher zu in schepfungen der welt ursprinc/ würke und wunder mache (V. 16 f.). Mit der erste[n] sache, der prima causa, ruft das Sänger-Ich einen scholastischen Diskurs auf,⁴⁶² wobei diese änigmatisierende Umschreibung Gottes in der Fluchtlinie der vorangegangenen astronomisch-kosmologischen Erörterungen liegt und sie theologisch fundiert. Strophenabschließend erfragt das Sänger-Ich, wie sich wege der erste ring,/ der beslu̍ zet ellu̍ ding (V. 18 f.). Er greift darin auf das ursprüngliche aristotelisch-ptolemäische Modell zurück, wie es bei Johannes von Sacrobosco vermittelt wird. Demnach ist die äußerste Sphäre das caelum cristallum die erste bewegte Sphäre beziehungsweise der erste Beweger (primum mobile), der alle Bewegung verursacht.⁴⁶³ Dass der Kanzler hier nun aber diesem Modell folgt, wenn er sagt, der bewegliche Himmel umschließe alles und sei der erste (also äußerste), generiert einen Widerspruch, da die Strophe mit der vorgängigen Erwähnung des enpireus eigentlich ein Modell mit drei Himmeln angedeutet hatte (zodiacus [Fixsternhimmel], cristallin [Kristallhimmel] und polus enpireus), dem gemäß sich der erste ring, der äußerste Himmel, gerade nicht wegen dürfte, weil er eben nicht der bewegliche Kristallhimmel, sondern der unbewegliche polus empyreus wäre.⁴⁶⁴ Da die folgende Strophe erneut davon spricht, dass über dem bewegten Himmel nichts sei (er also offenbar als letzte Sphäre gedacht ist),⁴⁶⁵ und auch, da es in der ersten Strophe über den polus enpireus heißt, dass er über das ‚Sonnendach‘ herrsche (wohl das Firmament), scheint der Verfasser das empyreum nicht vom Kristallhimmel zu unterscheiden. Darin spiegeln sich einerseits die gerade in dieser Zeit konkurrierenden Kosmosmodelle, andererseits wird man hier letztlich Siebert zustimmen müssen, der resümiert, dass der Verfasser sich offenbar kein klares Bild von der Reihenfolge der obersten Sphären gemacht habe.⁴⁶⁶

 Vgl. Siebert (Astronomie), S. 3; KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 252.  Das gilt umso mehr, als dieser Reim in b offenbar aus einer älteren Schicht erhalten und nicht aus Schemazwang rekonstruiert ist. Das zeigt sich daran, dass dieser Reim auch in b nicht mehr funktioniert, hier wiederum, weil die ursprünglichen beiden Schlussverse, auf die er reimen müsste, durch zwei Verse ersetzt sind, die eigentlich der Folgestrophe anzugehören scheinen (Schreiberversehen in einer älteren Stufe?).  Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 92.  Vgl. Siebert (Astronomie), S. 8 f.; Sphaera Mundi, S. 77.  Vgl. Siebert (Astronomie), S. 9.  Noch einmal in 1Kanz/2/11, V. 3 f.  Man könnte hier freilich – gerade im Hinblick auf die Prüfungsfragen-Situation – vielleicht auch erwägen, ob die Frage absichtlich irreführend gestellt sein könnte (‚wie bewegt sich die erste Sphäre?‘, ‚sie bewegt sich nicht, aber die darunterliegende‘) oder ob das ‚erste‘ weniger global gemeint, sondern

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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Das zieht nun freilich auch die Belastbarkeit der sonstigen astronomisch-kosmologischen Kenntnisse des Verfassers in Zweifel⁴⁶⁷ und wirft die Frage auf, an welchem Punkt des Produktions- und Tradierungsprozesses die Defekte des überlieferten Textes entstanden sind.⁴⁶⁸ Allerdings kann der überlieferte Text in seiner teils gravierend vom metrischen Schema des Tons abweichenden Gestalt wohl keinesfalls als vom Verfasser verantwortet betrachtet werden.⁴⁶⁹ Zudem bezeugt der Textabgleich der divergierenden Lesarten in C und b fraglos einen Korruptionsprozess im Lauf der Überlieferung und zeigt, dass die fachsprachliche Verhandlung derartiger Spezialdiskurse alles andere als üblich war. So deuten in C zwar einige fehlerhafte Begriffe und Formulierungen darauf hin, dass der Inhalt anteilig unverstanden weitergegeben wurde, die Begriffe sind aber zumindest prinzipiell lexikalisch sinnvoll (außer dem geringfügig verschriebenen Wort ‚parabellen‘). Die deutlich jüngere Handschrift b dagegen lässt – gerade bei den Fachtermini – keinerlei Versuch erahnen, lexikalisch Sinnvolles zu erkennen oder zu bilden (eccenter mas, bar elle, uracentran, zod iacob, polus und oracius – was minder defekte Vorlagen wie C etwa durch grammatisch unsinnige Sätze wiederum begünstigt haben könnten). Dass aber in b selbst der geläufige Begriff des Mondes entstellt ist zu dy gemone, deutet eine grundsätzliche Kapitulation vor dem Verständnis der Strophe an.

2.2.6.2 Strophe 11 – Einfluss des Kosmos auf die Erde (1Kanz/2/11) Die zweite der beiden Strophen ist terminologisch weniger avanciert und auch inhaltlich weniger voraussetzungsreich. Entsprechend zeichnet sie sich – zumindest in C – durch eine deutlich unproblematischere Textgestalt aus.⁴⁷⁰ Syntaktisch und inhaltlich scheint sie nahtlos an die erste Strophe anzuschließen, indem sie deren mehrfach anaphorisch wiederholte Frageformel (s)wie beziehungsweise unde wie wieder aufnimmt und weitere astronomisch-kosmologische Begebenheiten aufruft, nämlich wie alle Masse zum Zentrum der Erde hingezogen sei, wo sich dieses befinde und wie sich der Himmel darum drehe, über dem sich nichts befinde (V. 1–4). Sie thematisiert also, dass alles Schwere zum Zentrum des Kosmos hinstrebt, woran sich zugleich zeigt, wo die Erde steht, nämlich als schwerstes Ele-

auf die Bewegung zu beziehen ist: ‚Wie bewegt sich die erste Sphäre, die sich bewegt‘, als Aufforderung, die im astronomisch-kosmologischen Diskurs ausführlich diskutierte Frage der verschiedenen Himmelsbewegungen darzulegen.  Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 95, der erwägt, ob die Fehlerhaftigkeit des vermittelten Fachwissens auch dem Verfasser anzulasten sein könnte, der sich möglicherweise als gelehrt inszenieren wolle, ohne es zu sein. Die astronomischen Fachbegriffe wären dann lediglich „leeres name dropping und damit eine Relevanzprätention, deren Anspruch letztlich nicht eingehalten werden kann“, ebd.  Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 94–96.  Umso mehr, als die restlichen Strophen des Goldenen Tons keinerlei solche Abweichungen zeigen; das gibt auch Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 95 [Anm. 15], zu bedenken.  Unklar ist allerdings die Satzstruktur, vgl. Siebert (Astronomie), S. 9 f.

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ment in dessen Mittelpunkt.⁴⁷¹ Der bewegte Himmel, über dem nichts ist, der also die letzte Sphäre bildet, ruft – wie oben bereits erläutert – erneut das nicht christianisierte aristotelisch-ptolemäische Kosmosmodell auf, das mit dem primum mobile abschließt (nicht mit dem empyreum). Diese scheinbaren weiteren Fragen – ihre Formulierung im Indikativ deutet bereits darauf hin – macht der letzte Vers des Stollens aber nun zu Aussagen, Tatsachen, welche dem Sänger-Ich, wie es konstatiert, die Schrift vermittelt habe (des mir du̍ schrift vergiht, V. 5). Mit dem zweiten Stollen ruft das Sänger-Ich im Folgenden Naturphänomene auf, die auf der Erde unmittelbar erfahrbar sind, nämlich das heiße Scheinen der Sonne, die Kälte des Mondes, das Spritzen des Regens und die belebende Kraft der (fruchtbaren) Winde sowie die Macht der Planeten und ihre Umlaufzeiten. All das, so stellt das Sänger-Ich fest, vermisse/vermezze ⁴⁷² seine kunst nicht (V. 6–10).⁴⁷³ Diese Wissensbestände sind im volkssprachigen Bereich auch sonst zu finden. Die Wesenheit von Sonne (heiß) und Mond (kalt), die Umlaufbahn der Planeten sowie die Entstehung  Vgl. Sphaera Mundi, S. 84 f.  Sowohl Siebert als auch (ihm folgend) KLD und LDM setzen hier vermisset als Form des schwachen Verbs vermissen: ‚nicht wahrnehmen, übersehen‘ (Lexer, Bd. 3, Sp. 181), BMZ dagegen ordnet die Textstelle dem starken Verb vermezzen zu und führt sie als einzigen Beleg für die Bedeutung ‚zu Ende messen, ausmessen‘ (Bd. 2/1, Sp. 214a). Siebert (Astronomie), S. 10 f., und KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 253, sehen darin einen inhaltlichen Widerspruch, weil sonst ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit vorläge, das sich nur schwer mit der implizit gelehrten Selbstinszenierung dieser astronomischkosmographischen Ausführungen vereinbaren lasse; dafür ließe sich jedoch auch ‚vermezzen‘ als ‚falsch messen‘ (Bd. 2/1, Sp. 214a) übersetzen. Vielleicht wäre zu erwägen, ob die Strophe aber gerade mit einer Uneindeutigkeit dieses Wortes spielt.  Hier folge ich der Konjektur in KLD von sunnenblig/erkiket (V. 6/8) zu sunnenblicken/erkicken (das metrische Schema erfordert weibliche Kadenz), die mir durch die Parallelüberlieferung in Handschrift b gerechtfertigt scheint (in b blitzgen/quicke). Ich lese also: klar hitzig sunnenblicken/ des manen kelte des regens sprat/ der bernden wint erkiken/ planeten kraft ir loͮ fes vrist[ ]‘ / min kunst vermisset niht (V. 6– 10); anders Siebert (Astronomie), S. 11, der prädikativ auflöst (klar heiz die sunne blicket […] der bernde wint erquiket) und die Verse 6–8 als eingeschobene, in sich abgeschlossene eigene syntaktische Einheit versteht. Ich halte einen solchen bezugslosen Einschub für unwahrscheinlich. LDM belässt den in C überlieferten Text unangetastet (klar hitzig sunnenblig […] der bernde wint erkiket) und lässt V. 6–8 wie auch den ersten Stollen apokoinu von V. 5 (Berufung auf die Schrift) abhängen, versteht alle diese Phänomene also als dem Sänger-Ich vorgeblich durch die Schrift mitgeteilt und bezieht erst V. 9 (Wissen um den Lauf der Planeten) als abhängig von V. 10 (Berufung auf die eigene kunst).Wiewohl der Überlieferung immer ihr Recht einzuräumen ist, meine ich, dass hier die Reihe der nach sunnenblig folgenden Zusammenstellungen, die alle nach dem gleichen Muster funktionieren (des manen kelte, des regen sprat, planten kraft, ir loͮ fes vristen, V. 7/9) nahelegen, dass erstens für V. 6 ‚ursprünglich‘ eine ähnliche Konstruktion zu vermuten ist (also sunnen blicken, was auch die schemakonforme weibliche Kadenz herstellt), zweitens diese Reihe von Phänomenen durch ihre grammatische Gleichförmigkeit als zusammengehörige Aufzählung markiert ist und sie also vom selben Vers abhängt (nämlich V. 10 min kunst vermisset nicht) – nicht zuletzt, da somit der Stollen nicht in der Mitte geteilt wird. Zugleich spielt die Strophe meines Erachtens gerade damit, dass sich beide Stollenschlussverse im Aufgesang scheinbar apokoinu lesen lassen, wie auch schon der Strophenbeginn damit spielt, dass er scheinbar nahtlos an die erste Strophe anknüpft.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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verschiedener Wetterphänomene verhandelt etwa der Lucidarius ebenfalls zusammenhängend im Zuge astronomisch-kosmologischer Unterweisung⁴⁷⁴ und auch Berthold von Regensburg hebt die Einwirkung der Planeten auf die Entstehung von Wind und Regen hervor ([s]wie grôze kraft die sternen haben über regen und über wint, „Von den siben planêten“, zit. nach Pfeiffer, Bd. 1, S. 50).⁴⁷⁵ Der Abgesang schließt apokoinu an den letzten Vers des zweiten Stollens an (min kunst vermisset/vermizzet niht) und führt die Einflüsse von Kosmos und Elementen auf die Erdennatur weiter aus: Hervorgehoben wird das Leuchten des Himmels und die Kraft der Sterne, die der Erde helfe, ihre lieblichen, erhabenen Geschöpfe vermittels der Blüte zur Frucht zu bringen. Ganz ähnlich thematisiert Berthold von Regensburg den mächtigen Einfluss der Gestirne auf die Lebewesen der Erde: Ob des allerminnesten sternen gebreste, der iendert an dem himel ist, sô […] [wære] allez daz ûf erden lebt unde allez daz ûf erden swebt […] deste unberhafter und deste touber an sîner frühte und an sînem sâmen und hebt hervor, dass die Planeten von allen Sternen den größten Einfluss auf die Welt hätten („Von den siben planêten“, zit. nach Pfeiffer, Bd. 1, S. 51).⁴⁷⁶ Der letzte Stollen der Kanzlerschen Strophe thematisiert, wie die Elemente sich berühren, leicht und schwer, heiß und kalt, und wie sie – gemeint ist wohl: durch ihre Vermischung – aus der Natur vielfältige Geschöpfe von staunenswerten Gestalten hervorbringen (V. 15–19). Dass die Strophe hier nicht die vier humoralpathologischen Qualitäten der Elemente aufruft, nämlich warm, kalt, feucht, trocken, sondern statt feucht und trocken die unterschiedliche Dichte dieser Elemente, trägt zur Geschlossenheit der Strophe bei, indem es vorgängige Begriffe wieder aufgreift (die schwere Erde im Zentrum des Kosmos [V. 1 f.], die Hitze der Sonne, die Kälte des Mondes [V. 6 f.]). Zugleich ist damit wohl eine Zuweisung dieser Qualitäten an je eines der Elemente verbunden (die Erde schwer, die Luft leicht, das Feuer heiß, das Wasser kalt).⁴⁷⁷

2.2.6.3 Strophe 10 f.: Intratextueller Bezug Besonders in der ersten Strophe markiert der Gebrauch avancierter lateinischer beziehungsweise latinisierender Begrifflichkeiten, dass das Sänger-Ich hier auf einen gattungsexternen gelehrten Diskurs referiert, nämlich den astronomisch-kosmologischen. Dieses Wissen kann zeitgenössisch – wie nicht zuletzt die defekte Überliefe-

 Lucidarius, I. 79–90, 93, 99, 102.  Vgl. dazu auch Siebert (Astronomie), S. 11, der hier das Buch Sidrach zitiert (das allerdings erst auf ca. 1318 datiert, vgl. Hartmut Beckers: [Art.] Buch Sidras. In: ²VL, Bd. 1, Sp. 1097–1099, hier Sp. 1098): En were de sonne nicht heit unde mane niht kolt, gheyn creature en mochte leven unde de erde en mochte gheyn vrucht dreghen (LV 235, S. 123, Frage 148).  Diese Passage bei Berthold zitiert auch Siebert (Astronomie), S. 12, zudem verweist er auf Vincent von Beauvais: Ab antiquis dictum est, quod non est herba in terris, quae non habeat stellam in coelo, quae eam respiciat et crescere faciat (Speculum naturale 3, 88).  Vgl. Zach (Kanzler), S. 234.

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rung zeigt – offenbar in keiner Weise als selbstverständlich oder allgemein bekannt vorausgesetzt werden.⁴⁷⁸ Genau das kündigt die stropheneinleitende Herausforderung an. Sie inszeniert ihre Gegenstände als hochanspruchsvolle (Prüfungs‐)Fragen, mittels derer geistiges Vermögen bewertet werden könne (1Kanz/2/10,V. 1 f.). Entsprechend scheinen die aufgerufenen termini vor allem nach Exotismus gewählt, denn die eccentricôs/das ellich zenter, die parallelen und die zwen orizonten sind nicht gerade essentiell, um ein kosmologisches Modell von Grund auf zu beschreiben. Die Strophe zielt mithin nicht auf Unterweisung, sondern darauf, das eigene Wissen gerade in Abgrenzung von anderen auszustellen. Sie bringt den Rezipienten ihre Unwissenheit zu Bewusstsein und sticht potenzielle Konkurrenten – antizipierend, dass sie diese Begriffe nicht zu tiuten vermögen – aus. Dieses Wissensgefälle fördern auch änigmatisierende Formulierungen, etwa, dass der Mond zu- und abnehme und sich doch nicht verändere (1Kanz/2/10, V. 6–8) und das zodiacus (der verunklärend den Fixsternhimmel umschreibt) die Sonne zwölffach halte (1Kanz/2/10, V. 11 f.). Derartige sprachliche Verdunkelungen, die gezielt das Verständnis erschweren, sind typisch für die Sangspruchdichtung und Reflex ihres prekären Status. Die Sänger schaffen einen Erklärungsbedarf, den sie im Folgenden selbst einlösen, um sich eine autoritative Rolle zuzuschreiben und ihren Sang mit Geltung auszustatten.⁴⁷⁹ Eine solche Einlösung bleibt hier allerdings aus, die Strophe deutet mehr an als zu erklären.⁴⁸⁰ Das setzt sich in der zweiten Strophe fort, die vorerst weitere Herausforderungsfragen zu stellen scheint. Zum Ende des ersten Stollens bricht das Sänger-Ich aber – wie gesagt – mit diesem Schema und verweist darauf, dass es das Wissen in diesen Fragen der schrift verdanke (des mir du̍ schrift vergiht, 1Kanz/2/11, V. 5). Diese Legitimationsgrundlage ergänzt das Sänger-Ich am Ende des zweiten Stollens um seine kunst, mittels derer es – wie es selbstbewusst konstatiert – die Qualitäten von Sonne und Mond sowie die Einflüsse des Kosmos und der Elemente auf die Erde zu verstehen vermöge (min kunst vermisset nicht, 1Kanz/2/11,V. 10). Indem die Berufungen auf schrift und kunst je pointierend einen Stollen des Aufgesangs beschließen und die zugehörigen Verse damit auch durch den Reim aufeinander bezogen werden, erscheint diese legitimatorische Doppelbasis des Wissens auch formal hervorgehoben.⁴⁸¹ Indem das Sänger-Ich sich mithin fähig zeichnet, die ausgebreiteten Sachverhalte zu erklären, reklamiert es implizit den eingangs dafür als notwendig ausgewiesenen snellen sin für sich. Ein tu̍ ten der am Anfang aufgezählten Phänomene (1Kanz/2/10) geht damit allerdings nicht einher, doch die im Abgesang thematisierten Einflüsse der Sterne und Elemente auf die Geschöpfe der sublunaren Welt werden nun mehr erläuternd als

 Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 94–96.  Vgl. Bulang (wie ich die gotes tougen).  Vgl. Runow (Hât ieman sin sô snellen), S. 92.  Sie erinnert darin auch an die ‚Prologstrophe‘ des Kanzlers (1Kanz/1/1), die das künstlerische Schaffen zwischen singen und mit Hilfe der bch tihten situiert.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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agonal herausfordernd vorgebracht.⁴⁸² Zudem verzichtet die zweite Strophe – abgesehen vom seltenen Wort zenter – vollständig auf Fachbegriffe. Auffällig ist, dass die Berufung auf schrift und kunst diese Begriffe mit kategorisch unterschiedlichen Wissensfeldern zu verbinden scheint: Über die schrift heißt es, sie erkläre, wie und warum die Erde im Zentrum steht und der Himmel, über dem nichts ist, sich um sie dreht – sie vermag mithin solche astronomisch-kosmologischen Sachverhalte zu erklären, wie sie in der ersten der beiden Strophen verhandelt werden.⁴⁸³ Die kunst dagegen wird aufgerufen, als es darum geht, die Einflüsse der Himmelskörper und Elemente auf die Erde und ihre Geschöpfe zu erfassen, also Sachverhalte zu erklären, die dem Erdenmenschen aus eigener Anschauung bekannt sind. Die Schrift wird mithin als Legitimationsbasis für die unfasslichen astronomisch-kosmologischen Phänomene herangezogen. Das geschriebene Wort fungiert damit als Autorität, an der das Sänger-Ich zu partizipieren beabsichtigt und mit der es sich zugleich schmückt. Andererseits scheint hier aber ein meisterlich-sängerisches Selbstbewusstsein auf, das sich partiell von reiner Buchgelehrsamkeit abgrenzt: (Buch‐)Wissen ist nicht allein die Grundlage seiner Expertise, es bedarf auch einer bestimmten Kunstfertigkeit, um die ausgestellten astronomisch-kosmologischen Vorgänge zu erfassen.

2.2.6.4 Strophe 10 f.: Gattungsreferenz Die Referenz der vorliegenden Strophen auf die eigene Gattung ist komplex und markiert ein sich wandelndes Selbstverständnis der Sangspruchdichter. Astronomisch-kosmologische Versatzstücke begegnen in der Sangspruchdichtung gemeinhin im Kontext des Gottespreises, wo sie als anschauliches Argument für Gottes unbegreifliche Allmacht fungieren (vgl. auch 1Kanz/2/1). Im Laufe des 13. Jahrhunderts aber lässt sich beobachten, dass diese astronomisch-kosmologischen Versatzstücke dabei immer mehr Raum beanspruchen. Unter der vorgeblichen Behauptung, sich dieses Wissen nicht anzumaßen, weil es in Gottes Unbegreiflichkeit gründe, zählen die Dichter zunehmend eine Vielzahl astronomisch-kosmologischer Phänomene auf, wobei sie diese nicht selten durch änigmatisierende Umschreibungen arkanisieren.⁴⁸⁴

 Gerade darin gründet die Vorstellung, es könne sich bei diesen Strophen um einen ehemaligen Dreierbar handeln, dessen dritte (verlorene) Strophe die aufgeworfenen astronomisch-kosmologischen Phänomene ausgelegt habe. In diesem Fall könnte eine solche Strophe aber – als einzige im Œuvre des Kanzlers – wohl kaum potenzielle Eigenständigkeit für sich beanspruchen, was die Hypothese neben anderem (vgl. dazu S. 169, Anm. 413) unwahrscheinlich macht.  Gerade durch den scheinbar nahtlosen Übergang der beiden Strophen ließe sich die Schriftberufung assoziativ auch auf die in der vorangegangenen Strophe aufgerufenen Phänomene zurückbeziehen, umso mehr, als sie mit dem sich bewegenden Himmel als letzte Sphäre das in der vorangehenden Strophe zuletzt genannte Phänomen wieder aufgreift (und mit dem Thema der Erde als Mittelpunkt des Kosmos auch den Anfang jener Strophe nach der Überlieferung in C [ellich zenter]).  Vgl. dazu 1Marn/6/16; 1Mei/1/2; 1Rum/1/5; 1WaltBr/1/1–2; besonders deutlich verurteilt Rumelant (1Rum/3/3) die Erörterung astronomisch-kosmologischen Wissens durch ‚gar gelerte[ ]‘ leiebere[ ]‘

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Dennoch geht das aufgerufene Wissen selten über einen bestimmten Kanon an „leicht variiert wiederkehrende[n] Floskeln und Motiven“ hinaus, die nur eine „ganz grobe Vorstellung von der Ordnung und dem wunderbaren, harmonischen Zusammenspiel aller Bestandteile des sphärischen Kosmos entwerfen“.⁴⁸⁵ Die Verkürzung und Versatzstückhaftigkeit des gebotenen Wissens verweisen möglicherweise auf seine Herkunft aus enzyklopädischen naturkundlichen Kompendien.⁴⁸⁶ Vorgeprägt sind derartige Aufzählungsreihen aber auch etwa im Buch Hiob, Kap. 38 f.,⁴⁸⁷ wo die göttliche Allmacht katalogartig anhand des Kosmos und der Ordnung der Welt vorgeführt und die Unzulänglichkeit des Menschen hervorgehoben wird. In dieser Funktion kennt auch die Predigt solche Versatzstücke.⁴⁸⁸ Gegen Ende des 13. Jahrhunderts – am Übergang zum Meistergesang – scheint dem astronomisch-kosmologischen Wissen schließlich zunehmend auch ein Eigenwert als gelehrtes Wissen zuzukommen. Das deutet sich etwa bei Frauenlob an⁴⁸⁹ und wird besonders bei Heinrich von Mügeln deutlich.⁴⁹⁰ Zugleich bleibt dieses Wissen dabei aber fast immer auf verschiedene Art und Weise und aus verschiedenen argumentativen Gründen religiös eingebettet.⁴⁹¹ Von diesen Prozessen und Entwicklungen geben die vorliegenden beiden Strophen des Kanzlers meines Erachtens Zeugnis. Die zweite der beiden Strophen steht hinsichtlich der geschilderten Phänomene in der Fluchtlinie vorgängiger Sangspruchstrophen. Auch der Marner spricht von den vier Elementen, davon wie der Himmel geechset sei (also umlaufe) und wie die Macht der Planeten das Wetter beeinflusse, stellt diese Phänomene aber gerade als Dinge pfaffen‘ (V. 1; zit. nach Kern), womit er offenbar Sangspruchdichter angreift, die „sich wie äußerst gelehrte Geistliche gerieren, über die Beschaffenheit von Himmel, Hölle und Kosmos spekulieren und sich dabei ein Wissen anmaßen, über das Gott verfügt, aber kein Mensch“, Kern (Rumelant, Kommentar), S. 354. Kern verweist hier zudem auf die biblische Tradition dieser Kritik und deren Rezeption in der mittelhochdeutschen Literatur (auch in der Sangspruchdichtung), vgl. ebd., S. 345 f. (mit zahlreichen Primärtextbelegen).  Dietlind Gade: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2005, hier S. 180.  Vgl. Gade (Wissen), S. 181.  Darauf verweist in diesem Kontext schon Objartel (Meißner, Kommentar), S. 241, ebenso wie auf das Buch Daniel (Dan 3, 51–90).  Vgl. dazu auch Haustein (Marner-Studien), S. 106; Haustein verweist hier zudem auf Parallelen auch im naturkundlichen Schrifttum; bei Berthold von Regensburg begegnet Astronomisch-Kosmologisches als Ausdruck der göttlicher Allmacht, etwa in den Predigten „Von den siben planêten“, „Von zwein wegen, der marter und erbermede“, „Sælic sint die reines herzen sint“ (Pfeiffer, S. 59, 179, 400); zugleich werden astronomisch-kosmologische Sachverhalte hier allegorisierend funktionalisiert, besonders prominent in Bertholds von Regensburg „Von den siben planêten“.  Andeutungen astronomisch-kosmologischer Kenntnisse begegnen bei Frauenlob im Marienleich (GA I, 17), wo sie als Rede (und damit Wissen) Mariens gewissermaßen legitim bleiben; die Echtheit der daran textlich eng anschließenden astronomisch-kosmologischen Strophe 1Frau/8/100,4 ist sehr zweifelhaft, vgl. GA-S, Bd. 1, S. 272.  Besonders zeigt sich das in seinen Strophen über die Astronomia als eine der septem artes liberales, etwa HeiMü/500,7 (auch vorgenannte Frauenlobstrophe steht im Kontext des Quadriviums).  Vgl. Gade (Wissen), bes. S. 180–182.

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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aus, die des menschen sin niht volreken könne (V. 3, 1Marn/6/16, zit. nach Willms; ganz ähnlich der Meißner 1Mei/1/2⁴⁹²). Motivlich noch näher am Kanzler fragt Walther von Breisach (1WaltBr/1/2) danach, wie die kreatürlichen Geschöpfe aus der Mischung der Elemente hervorgehen ([w]ie wazzer fiuwer erde und luft ir ungemeine gemeinent,/ daz sî der lebenden crêatûr ir lebens kraft erscheinent, V. 1 f., zit. nach KLD), wie die Planeten das Wetter beeinflussen (von den uns kumt und komen sol/ wint regen snê tuft unde tou gelîche, V. 7 f.) und wie das Firmament, dessen Namen ‚wir‘ den buoch verdanken, umlaufe (wie sich sô sinwel unde breit/ mit stætem loufe swinde al umbe treit/ daz uns diu buoch daz firmamente hânt genant, V. 9–11). All das, so konstatiert aber auch diese Strophe, sei nur dem wunderære bekannt, dem elliu wunder dienent eigenlîche (V. 3 f.). Dieser habe auch den Mensch geschaffen, weswegen – hier geht die Strophe deutlich in die Paränese über – der Mensch ihm sein bein böu[gen] solle, denn: er treit dîn leben in sîner hant,/ er durch dich arm, du mit im iemer rîche (V. 14 f.). Vor dem Hintergrund dieser Gattungstradition, auf die der Kanzler motivlich und rhetorisch referiert,⁴⁹³ wäre erneut nach der Übersetzung des zentralen Verses seiner Strophe 1Kanz/2/11 zu fragen: min kunst vermisset/vermizzet niht (V. 10; ‚nicht übersehen‘/‚nicht falsch messen‘ vs. ‚nicht ermessen‘/‚sich nicht anmaßen‘). In Hinblick darauf, dass es in der Gattung topisch ist, die Einflüsse von Planeten und Elementen auf das Erdenleben als Ausweis der Unergründlichkeit Gottes auszustellen, läge es hier vielleicht doch nahe, den Satz als Eingeständnis des eigenen Unvermögens im Angesicht der staunenswerten Schöpfung (1Kanz/2/11, V. 18 f.) zu begreifen. Die im ersten Stollen dieser Strophe geäußerte Berufung auf die schrift, die über die Erde als Zentrum des Kosmos und das Umlaufen des Himmels informiere (1Kanz/2/11, V. 1–5), weist diese Kenntnisse allerdings als Teil gelehrter Fachliteratur aus und steht damit quer zur Vorstellung, dass der menschliche Verstand astronomisch-kosmologische Phänomene nicht zu fassen vermöge.⁴⁹⁴ Spielerisch mag die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚vermissen/vermezzen‘ also einkalkuliert sein. Doch offenbar installiert die Strophe hier gerade im Rekurs auf die eigene Gattungstradition ein eigenes neuartiges gelehrtes Dichterselbstbewusstsein, demnach es die kunst als Verständnis-, aber auch Vermittlungsfähigkeit des Dichters in Verbindung mit seiner Kenntnis der schrift – also seiner Buchgelehrsamkeit – vermag, solche gelehrten astronomisch-kosmologischen Sachverhalte zu erfassen.⁴⁹⁵ Die Strophe verweist damit voraus auf eine gelehrte  Die Strophen stehen sich im Wortlaut so nahe, dass hier in eine von beiden Richtungen eine Bezugnahme angenommen werden muss, vgl. Haustein (Marner-Studien), S. 106.  Nähe erzeugt inhaltlich, dass der Kanzler dieselben astronomisch-kosmologischen Themen aufruft, formal, dass er dieselbe wie-Anapher verwendet.  Freilich könnte man darin auch ein drastisches Bekenntnis zur Autorität der schrift sehen, die erfassen kann, wovor die kunst kapitulieren muss. Eine solche Abwertung der kunst würde zwar hinsichtlich gängiger Darstellungen sangspruchdichterischen Gattungsselbstbewusstseins überraschen, andererseits ist die radikale Darbietung astronomisch-kosmologischen Spezialwissens, das weder religiös noch über die septem artes liberales eingehegt wird, in dieser Form absolut unikal und könnte daher einer solchen Autorisierung über die schrift und Abgrenzung von der eigenen kunst bedürfen.  Dafür spricht zudem der Strophenzusammenhang mit 1Kanz/2/10.

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– und agonale – Selbstinszenierung, wie sie dann auch bei Frauenlob und später bei Heinrich von Mügeln zu beobachten ist.⁴⁹⁶ Zugleich zeigt die Strophe durch den vollständigen Verzicht auf eine religiöse Relativierung dieses astronomisch-kosmologischen Wissens – was im Kontext der Gattung durchaus signifikant ist –, dass solches Wissen-Wollen und Wissen-Können keineswegs Häresie bedeutet. Als Ausdruck dieser implizit zugrundeliegenden Vorstellung einer Vereinbarkeit religiöser Vorbildlichkeit, gelehrter (kosmologischer) Expertise und poetischer Vermittlungsfähigkeit lässt sich der Abgesang der zweiten Strophe verstehen. Dieser nämlich verweist auf beobachtbare Naturphänomene, deren Ursachen das Sänger-Ich vermittels seiner gelehrten astronomisch-kosmologischen Kenntnisse zu erklären vermag, zugleich aber lässt sich die Passage als exklamatorisch-staunender poetischer Lobpreis der wunderhaften Schöpfung lesen: wie lu̍ htet himel! sternen kraft/ der erde hilfe bringet,/ daz es ir suͤ ze hohgeschaft,/ durh blt in vruͤ hte dringet!/ wa elemente sich ruͤ rent,/ wa swer wa liht, wa heis wa kalt,/ wies us nature fuͤ rent/ lebendig geschepfde manigvalt/ gar wunderlich gestalt! (1Kanz/2/11, V. 11–19, Interpunktion d. Verf.). Hier kündigt sich also an, dass astronomisch-kosmologische Wissensbestände in der Sangspruchdichtung/dem Meistergesang zunehmend funktionalisiert werden, um die eigene Gelehrsamkeit auszustellen. Der gattungsinterne Diskurs zeigt aber zugleich, dass zwischen dem Ausstellen solcher Kenntnisse und dem Tabu eines unangemessen tiefen Eindringen-Wollens in gotes tougen ein schmaler Grat verläuft.⁴⁹⁷ Diskursiv verhandelt wird dieses Thema nicht nur in diversen Sangsprüchen,⁴⁹⁸ sondern ganz besonders im Rätselspiel des sogenannten Wartburgkrieges. Gerade in der Anlage dieses Textes als Wissensprüfung mittels astronomisch-kosmologischer Fragen zeigt sich eine auffällige Parallele zur ersten der beiden vorliegenden Kanzlerstrophen. Im Rätselspiel steht bei dieser ‚Prüfung‘ dem ‚frommen Laien‘ Wolfram der meisterpfaffe Klingsor in einem Rätsellöse-Wettstreit gegenüber.⁴⁹⁹ Da Wolfram in dessen Verlauf alle Rätsel zu lösen vermag, unterstellt Klingsor ihm die Hilfe eines Engels oder Teufels (Str. 47,V. 1 f.⁵⁰⁰) und verdächtigt ihn, astronomische Kenntnisse zu besitzen (Str. 48, V. 3), die hier offensichtlich mit einer diskreditierenden Zwielichtigkeit verbunden sind. Das zeigt sich daran, dass Klingsor im Folgenden den Teufel Nasion zu Wolfram schickt, damit er Wolfram mittels astronomischer Fachfragen

 Besonders deutlich wird das an den Strophen 1Frau/8/100,4, vgl. dazu Siebert (Astronomie), S. 14– 23 (vgl. aber S. 182, Anm. 489) und 1HeiMü/500,7, vgl. dazu Johannes Kibelka: der ware meister. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln. Berlin 1963, u. a. S. 174.  Vgl. dazu auch Gade (Wissen), S. 181 f.  Vgl. Ragotzky (Wolfram-Studien), S. 71 f.  Dieser ‚Kern‘ des Rätselspiels dürfte etwa auf das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts zu datieren sein, vgl. Wachinger ([Art.] Wartburgkrieg), Sp. 749; zu den ‚Rollen‘ der Protagonisten vgl. Ragotzky (Wolfram-Rezeption), S. 54–62.  Ich folge hier der Überlieferung in Handschrift C, da das Corpus des Kanzlers immerhin in derselben Handschrift überliefert ist, zit. hier und im Folgenden nach Hallmann (Wartburgkrieg).

2.2.6 Ton II, Strophe 10 f. – Astronomisch-kosmologische Strophen (1Kanz/2/10 f.)

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examiniere, auf dass dieser seine dunklen Wissengründe preisgeben möchte: [Nasion zu Wolfram] Nu sage – hastu meisterschaft –/ wie das firmamente mit vil hoher kraft/ gegen den planeten allen wil gekriegen/ Und der polus Artanticus,/ dar zuo der hohe meisterstern Antribilus/ […] Saturnus, swenne er osten stat, waz tiutet uns sin wunder? (Str. 51 nach C, V. 1–7, zit. nach Hallmann).⁵⁰¹ Wolfram aber sagt, er wisse darüber nichts, da über diese Dinge Gott allein walte (Str. 52), und vertreibt den Teufel, indem er das Kreuzzeichen schlägt (Str. 53).⁵⁰² Diese Passage stellt aus, dass sich moralisch-religiöse Vorbildlichkeit im Wissensverzicht beweist, wo das gelehrte Wissen zu sehr an die göttlichen Geheimnisse rühren würde⁵⁰³ – und dass dies primär im Wissensfeld der Astronomie der Fall ist. Astronomische Kenntnisse erscheinen damit als Teufelswissen (zumindest innerweltlich). Zudem wird Gelehrsamkeit grundsätzlich diskreditiert, indem die Figur des meisterpfaffen Klingsor, dessen gelehrte Bildung breit thematisiert und ausgeführt wird (Str. 40, 43), sich mit der Teufelsbeschwörung Nasions als schwarzmagisch bewandert desavouiert (so auch schon in Str. 44).⁵⁰⁴ Dass die Strophe des Kanzlers (1Kanz/2/10) nun also ebenfalls differenzierte astronomisch-kosmologische Fragen aufwirft und diese ebenfalls implizit als meisterPrüfung inszeniert (Hat ieman sin so snellen, 1Kanz/2/10, V. 1), scheint einerseits auf dieses Teufelsexamen zu referieren, zeigt aber andererseits eine völlig veränderte Rezeptionssituation, in der eine solche Frage zentral dazu dient, die – offenbar unproblematische – Gelehrsamkeit des Fragenden auszustellen. Tendenzen derartiger Entproblematisierungen astronomisch-kosmologischen Wissens spiegeln sich wiederum auch im Rätselspiel selbst, wenn jüngere Zusätze den Rätselwettstreit zwischen

 Auffällig ist auch hier ein Gebrauch (übrigens gleichermaßen entstellter) astronomischer Fachbegriffe, wie er auch die Strophe des Kanzlers – im deutlichen Gegensatz zu den sonstigen astronomisch-kosmologischen Strophen der Sangspruchdichtung – auszeichnet (Ausnahmen sind 1Frau/8/ 100,4 und 1HeiMü/500,7, in denen diese Fachbegriffe ebenfalls problematisch für die Überlieferung gewesen zu sein scheinen).  Tomasek (Rätsel), S. 229 f., verweist darauf, dass sich eine Parallele zu diesem Teufelsexamen – oder vielleicht gar ihr Vorbild – in der Legenda Aurea beim Apostel Andreas findet: Auch hier stellt der Teufel (drei) Fragen und der Heilige verweigert die letzte – eine astronomische Frage – zu beantworten, nämlich wie weit es von der Erde zu den Sternen sei. Auch hier beweist sich dieses Handeln als kluge Selbstbescheidung und das Wissen darum wird als Teufelswissen desavouiert (Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Goldene Legende, Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. 2 Bde. Freiburg i. Br. 2014, S. 120–122; und fast identisch noch einmal beim Apostel Bartholomäus, wobei der Erzähler der Legenda Aurea selbst auf diese Doppelung verweist [simile fere legitur de beato Andrea], S. 1618). Genau dieses astronomische Thema greift auch Berthold von Regensburg in der Predigt „Von zwein wegen, der marter und erbermde“ auf, wo er die heidenischen meister kritisiert, die alle wunder erschließen wollten und Angaben zu den Entfernungen der Planeten und Himmel zueinander machten, doch hätten sie (und der Mensch) kein Wissen darüber (zit. nach Pfeiffer, Bd. 1, S. 179).  Vgl. dazu Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 353–355; dies. (Geltung des Sanges), S. 160 f.  Vgl. Ragotzky (Wolfram-Rezeption), S. 53 f.; Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 353.

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Klingsor und Wolfram nach dem Teufelsexamen fortführen und dabei zunehmend zu einem Wissenswettkampf machen.⁵⁰⁵ Beide, Klingsor und Wolfram, suchen sich nun mit Kenntnissen auf verschiedenen (auch astronomischen) Wissensfeldern zu überbieten, wie besonders die Weiterführung des Rätselspiels in Zabulons Buch zeigt.⁵⁰⁶ Eine ambivalente Einstellung gegenüber astronomischen Kenntnissen zeichnet sich im Wartburgkrieg-Komplex dagegen wiederum im deutlich jüngeren Hort von der Astronomie ab.⁵⁰⁷ Diese Ambivalenz hat Gade auch an anonymen astronomischen Meisterliedern und deren „Einstellung zum Wissensstreben und zur Gelehrtheit“ gezeigt, denn Gelehrtheit, insbesondere wo sie sich in den Bereich der Kosmologie vorwagt, scheint hier immer auch „als gotteslästerliche superbia und Häresie verurteilt“ werden zu können.⁵⁰⁸ Gerade das spiegelt sich meines Erachtens in der Überlieferung der astronomisch-kosmologischen Strophen des Kanzlers in der Baseler Meistersängerhandschrift (b), die gewissermaßen bemüht scheint, sie zu entproblematisieren. Hier werden die beiden Strophen nämlich (vgl. S. 169, Anm. 413) nach meistersängerischer Konvention zu einem Dreierbar ergänzt, indem ihnen die Gottespreisstrophe des Kanzlers vorangestellt wird (1Kanz/2/1).⁵⁰⁹ Das bietet diese Strophe inhaltlich freilich an, denn sie betont nicht nur das unaussprechliche Lob des Schöpfergottes, sondern hebt auch auf astronomische Themen ab, indem sie Gottes Macht über den Kosmos, den Gang der Sterne und die vier Elemente erwähnt und die meisterschaft seiner Schöpfung preist. Dass daran nun Strophe 1Kanz/2/10 mit der Frage anschließt, ob iemen sin so schnellen habe, dass er die nachfolgend aufgezählten astronomischkosmologischen Phänomene zu deuten wisse, ermöglicht es, diese Frage auch als rhetorische zu verstehen beziehungsweise als Fortsetzung des vorgenannten Schöpferlobs (‚niemand außer Gott kann diese Dinge verstehen‘). Sie wird damit von einer Wettkampfherausforderung zu einer Unsagbarkeitsformel, die Gottes Unergründlichkeit feiert. Die neue ‚falsche‘ Zusammensetzung dieser Strophe (von 1Kanz/2/10 und 1Kanz/2/11), die sie schließen lässt mit ‚der himel ob dem nüten ist/ als mir du gschrifft vergicht‘ (V. 18 f.), trägt ebenfalls dazu bei, die Agonalität der Strophenreihe

 Vgl. Wachinger ([Art.] Wartburgkrieg), Sp. 740 f.  Vgl. Ragotzky (Wolfram-Rezeption), S. 68–71; Kellner/Strohschneider (Geltung des Sanges), S. 159.  Ende 14./Anfang 15. Jahrhundert; einerseits verhandelt dieser Text ausschließlich astronomische Kenntnisse, andererseits warnt er implizit vor diesen, vgl. Wachinger ([Art.] Wartburgkrieg), Sp. 761 f.  Vgl. Gade (Wissen), S. 181. Sie widerlegt damit Sieberts vorschnelle Entwicklungsthese eines „Übergang[s] von frommer Scheu vor der Enthüllung der himmlischen Geheimnisse zu unbefangenem Auskramen aller möglichen Kenntnisse auf diesem Gebiet“ (Johannes Siebert: Himmels- und Erdkunde der Meistersänger. In: ZfdA 76 (1939), S. 222–253, hier S. 223); ähnlich auch schon Ragotzky (Wolfram-Rezeption), S. 71 f.; zugleich zeichnet sich hier die von Grubmüller (Autorität), S. 710 f., beobachtete Entwicklung ab, dass sich die Sangspruchdichter zunehmend von der Konkurrenz mit den Predigern in eine Konkurrenz mit den Gelehrten begeben.  Diese eröffnet nach der Überlieferung in C wiederum den Goldenen Ton und bildet hier mit zwei weiteren religiösen Strophen einen trinitarischen Gottespreis (so auch in B3 [Baseler Rolle]), vgl. Kap. 2.2.1.

2.2.7 Ton II: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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aufzulösen. Denn diese Berufung auf die Schrift dient durch die Umstellung des Verses in b nun nurmehr der Verbürgung, dass über dem bewegten Himmel nichts sei.⁵¹⁰ Sie ist damit nicht mehr mit der kunst zusammengebunden als doppelte Legitimationsbasis der eigenen Dichtkunst (schrift und kunst). Die letzte Strophe thematisiert in b insofern – um den ersten Stollen verkürzt – nurmehr kosmische und elementische Einflüsse, die auf der Erde unmittelbar erfahrbar sind. Diese Umakzentuierungen suspendieren sukzessive die Selbstausstellung der eigenen meisterschaft. Der vieldiskutierte Vers ‚min kunst vermizzet niht‘ (1Kanz/2/11, V. 5 nach b) legt damit in dieser Version der Strophenfolge tatsächlich nahe, als Eingeständnis der eigenen Unwissenheit gelesen zu werden. Der Dreierbar profiliert insofern letztlich ein Ich, dass sich vorgeblich in demütiger Selbstbescheidung übt, dabei aber freilich genau das gleiche Wissen ausstellt wie der agonale Gegenentwurf in C, der zentral das eigene Dichterselbstbewusstsein verhandelt.⁵¹¹

2.2.7 Ton II: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander Betrachtet man die Strophen des Kanzlers im Goldenen Ton in ihrer Gesamtheit, fällt auf, dass sie – gerade auch im Verhältnis zum ersten Ton – nicht nur auf ausgesprochen unterschiedliche, sondern bisweilen auch auf außergewöhnlich spezielle, gelehrte Diskurse referieren. Zudem ist der Goldene Ton der ausladendste und metrisch komplexeste des Kanzlers.⁵¹² In dieser Korrespondenz von anspruchsvoller Form und anspruchsvollem Inhalt beweist er sich mithin als sein Prunkton.⁵¹³ Die zahlreichen Referenzen auf gattungsexterne Diskurse sind dabei nicht selten zugleich Referenzen auf gattungsinterne Diskurse oder werden mit solchen verschränkt. In dieser engen Verflechtung appropriieren sie die fremden gelehrten Diskurse und damit auch die mit ihnen einhergehende Geltung, machen sie so zunehmend zu einem Teil der eigenen Gattungstradition und treiben damit die Institutionalisierung dieser eigenen Gattung voran.

 Sie ähnelt damit übrigens der Formulierung bei Walther von Breisach: wie sich sô sinwel unde breit/ mit stætem loufe swinde al umbe treit/ daz uns diu buoch daz firmamente hânt genant, 1WaltBr/1/2, V. 9–11 (zit. nach KLD), die sich wohl auf die Bibel beruft. Diese Strophe Walthers bildet zudem ebenfalls (allerdings in C) einen barartigen Strophenzusammenhang mit einer vorangehenden Gottespreisstrophe (1WaltBr/1/1).  Diese Strategie zeichnet letztlich auch die sonstigen Sangspruchstrophen aus, die ihre Unwissenheit im astronomisch-kosmologischen Feld unter Aufzählung aller dieser angeblich ungewussten Phänomene behaupten. Zu berücksichtigen bleibt bei dieser Interpretation nach Handschrift b allerdings, dass die Fachbegriffe bis zur Unverständlichkeit entstellt sind.  Abgesehen vom Sonderfall 1Kanz/4/1–3, vgl. Kap. 2.4.  Neben dem toneröffnenden Gottespreis-Dreierbar dürfte ihn auch das für die meistersängerische Rezeption reizvoll und anschlussfähig gemacht haben und erklären, warum er von den Meistersingern als einziger Ton des Kanzlers rezipiert wurde.

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2 Analysen

Gerade angesichts der großen Vielfalt der Themen, die der zweite Ton des Kanzlers verhandelt, ist eine gewisse ordnende und Verbindungen schaffende Redaktion der Strophenreihenfolge in Handschrift C auffällig. Bisweilen sind die intratextuellen Bezüge zwischen den Strophen so deutlich, dass sie als vom Verfasser konzipierte Strophenzusammenhänge (Bare) erscheinen. Aber auch darüber hinaus scheint die Handschrift C thematisch korrespondierende Strophen zu gruppieren. Der Ton eröffnet mit einem geistlich-gebethaften Dreierbar, der zugleich implizit eine poetologische Selbstthematisierung darstellt und mit seiner Stellung am Anfang des Tones auf die sangspruchdichterische Tradition einer Tonweihe anspielt. Diese Strophen präludieren zudem wesentliche Themen des Tones: Die erste Strophe problematisiert im Gottespreis die dichterische Herausforderung eines unaussprechlichen Lobs (ein Thema, das im Frauenpreis der Strophe 1Kanz/2/9 wiederkehrt) und nimmt Bezug auf kosmologisches Wissen (welches die Strophen 1Kanz/2/10 f. ausführlich verhandeln, was wohl dazu geführt hat, dass diese drei Strophen [1Kanz/2/1 und 1Kanz/2/10 f.] in der Meistersingerhandschrift b zu einem Dreierbar zusammentreten). Die zweite Strophe thematisiert mit Jesus Christus als Exempel wahrer milte vorbildliches Geben (ein Thema, um das die Herrenlehre-Strophen 1Kanz/2/4–6 und 1 Kanz/2/8 kreisen) und kontrastiert dies mit Judas’ verräterischem Verkauf Christi (was als Bestechlichkeit assoziativ in Beziehung zur Kritik am Rechtswesen in 1Kanz/2/7 steht – auch mit Blick darauf, dass der Judasverrat in volkssprachigen Rechtsbüchern als Vergleichsfigur für das Handeln bestechlicher Richter begegnet).⁵¹⁴ Die dritte Strophe ruft mit der Bitte um die Gaben des Heiligen Geistes eine Heilssorge-Thematik auf (auf welche auch die Pointen der Strophen 1Kanz/2/4 und 1Kanz/2/6 zielen), spielt mit diesen Gaben zudem auf das Thema des Rates an (das in Strophe 1Kanz/2/5 wiederkehrt) und verweist mit der als invocatio lesbaren Bitte um witze, kunst und vernunst auf poetologische Fragestellungen voraus (ein Thema, das auch die Strophen 1 Kanz/2/9–11 beherrscht). Die nach C vierte Strophe, die auf diese Exposition folgt, schließt thematisch und in der Sprechhaltung allerdings nicht direkt an ihre geistlich geprägten Vorgängerstrophen an, sondern eröffnet mit der unterweisenden Thematisierung einer (Un‐) Vereinbarkeit von gt und ere einen neuen Block von Verhaltens- beziehungsweise Herrenlehre-Strophen. Verbindungs- und sinnstiftend wirkt die Zusammenstellung mit den vorangehenden geistlichen Strophen allerdings mit Blick auf die Pointe der vierten Strophe, die auf die Heilssorge abzielt und den Wert immateriellen Reichtums betont, für den auch die erlösende Kraft der immateriellen Gaben des Heiligen Geistes in Strophe drei sensibilisiert. Die engen und aufschlussreichen Wechselwirkungen, die aus der Zusammenstellung der Strophen 1Kanz/2/4–6 hervorgehen, wurden bereits in Kap. 2.2.2.4 ausführlich verhandelt, sollen daher hier nur knapp rekapituliert werden: Alle drei Strophen werden verbunden durch das zentrale Thema der ere sowie Responsionen

 Vgl. Schwabenspiegel 86 c.

2.2.7 Ton II: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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bestimmter Begriffe, die dadurch mit Bedeutung aufgeladen und als Leitbegriffe beziehungsweise Leitthemen erkennbar werden. Die vierte Strophe, die als allgemeine Belehrung formuliert ist, wird durch ihre Nähe zu den Strophen fünf und sechs, die spezifisch Herrenlehre vermitteln, ebenfalls als solche lesbar. Die Nähe der Strophen sorgt zudem dafür, dass die Warnung vor falschem Rat und falschen Ratgebern in der fünften Strophe, die implizit die Relevanz guten Rates hervorhebt, für die vorliegenden drei Lehr- und Ratsstrophen insinuiert, dass sie solchen guten Rat bereithalten. Verbindung stiftet zudem, dass die sechste Strophe das Thema der Heilssorge (vgl. Strophe vier) dezidiert wieder aufgreift, womit das Thema im Verlauf des Tones gewissermaßen aktuell bleibt. Die folgenden beiden Strophen, sieben (ungerechtes Gericht) und acht (gerndenSchelte/Hofkritik), eröffnen thematisch grundsätzlich neue Felder. Beide adressieren ganz unterschiedliche aber sehr konkrete Missstände und referieren auf genuin gattungsexterne Diskurse. Die siebte Strophe führt dabei die allgemeine HerrenlehreThematik der Vorgängerstrophen thematisch nicht fort, vielmehr adressiert ihre objektive Kritik an der Abgründigkeit des Rechtswesens die Gesamtheit aller Christen. Die Schlussverse der Strophe weisen das Problem jedoch indirekt als Schuld der Herren aus. In dieser abschließenden Kritik am Fehlverhalten der Herren zeichnet sich eine intratextuelle Parallele zur achten Strophe ab, die ihre vorgebliche Invektive gegen die gernden in der Schlusspointe ebenfalls in einen Vorwurf gegen die Herren münden lässt und zwar, dass es zu viele Schmarotzer gebe, weil die Herren sie zu Unrecht mit Almosen bedächten. Auch auf Wortebene korrespondieren Strophe sieben und acht im vorletzten Vers, den sie beide mit ‚die herren‘ einleiten (V. 18).⁵¹⁵ Die Strophen erscheinen insofern intratextuell aufeinander beziehbar als Mahnung vor zwei zentralen Möglichkeiten herrscherlichen Fehlverhaltens, nämlich vor Ungerechtigkeit und mangelnder beziehungsweise falscher milte. Mit Blick auf diese intratextuelle Perspektive rückt somit auch die siebte Strophe in einen Kontext der Herrenlehre beziehungsweise ‐schelte, was einen losen Zusammenhang mit den vorausgehenden Strophen 1Kanz/2/4–6 stiftet. Vor diesem Hintergrund wird die Klage über die Zustände vor Gericht und die Warnung vor ungerechten Richtern (1Kanz/2/7) noch deutlicher als implizite Handlungsaufforderung an die Herren lesbar, diese Missstände zu beheben beziehungsweise Gerechtigkeit zu üben. Dass die vorangehende sechste Strophe für vorbildliches Verhalten Gottes Huld in Aussicht stellt, sensibilisiert zudem für den Subtext der siebten Strophe, die ungerechten Richtern, wenn sie das Recht, das hier als göttliche Ordnung profiliert wird, verletzten, implizit den Entzug der Gunst Gottes ankündigt und das heißt: den Verlust ihres Seelenheils. Die achte Strophe, deren Aufzählung verschiedener verwerflicher Typen von gernden sich letztlich auch als subtile Hof- und Herrenkritik zu erkennen gibt, steht

 Zugleich greift die achte Strophe im Sinne eines concatenatio-Prinzips (vgl. Holznagel [Wege in die Schriftlichkeit], S. 262–268) den Begriff der herren vom Ende der siebten Strophe (1Kanz/2/7, V. 18) am Anfang auf (Manc herre, 1Kanz/2/8, V. 1).

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2 Analysen

wiederum über ihr einleitendes Manc herren in einem strophenanaphorischen Bezug zu den Herrenlehre-Strophen fünf und sechs (die mit ein herre/eim herren eröffnen). Sie ergänzt mit ihrer Warnung vor Betrügern, Schmeichlern und Lügnern bei Hofe gewissermaßen die in der fünften Strophe ausgesprochene Warnung vor dem schlechten Rat falscher Menschen (also vor dem ebenfalls verwerflichen Typus des falschen Ratgebers). Mit Blick auf die sechste Strophe, die konstatiert, dass einem Mann, der es sich durch sein vorbildliches Verhalten verdiene, zurecht Ansehen zugesprochen werde, wird die in der achten Strophe aufgebaute Opposition von kunst und Schmeichlern intratextuell als Hinweis darauf lesbar, dass es für ein dergestalt zugesprochenes Ansehen auch relevant ist, wer dieses Lob äußert und aus welchem Grund er es tut. Dass die Strophen sieben und acht ihre Herrenkritik nicht dezidiert adressieren (1Kanz/2/7) beziehungsweise eher implizit formulieren (1Kanz/2/8), spiegelt den prekären Status des rechtlosen fahrenden Dichters, der sich hier eine Mitsprache bei Diskursen anmaßt, die seine Kompetenzen deutlich strapazieren (Rechtsprechung, Hofkritik). Diese Indirektheit hebt die Strophengruppierung in C anteilig auf, indem sie die Strophen intratextuell im Kontext von Herrenlehre-Strophen verortet. Die letzten drei Strophen des Tones eröffnen einen neuen Themenkomplex, der sie übergeordnet verbindet: Sie verhandeln auf verschiedenen Ebenen das Verhältnis des Sänger-Ichs zur kunst. Die neunte Strophe rechtfertigt gewissermaßen den in der achten Strophe propagierten Entlohnungsanspruch der kunst, indem sie am Gegenstand des Frauenpreises die Herausforderung und die Schwierigkeiten künstlerischen Schaffens diskutiert. Dabei problematisiert diese Frauenpreisstrophe (1Kanz/2/9) das Verhältnis zur vorgängigen Dichtung und etabliert so bereits das Thema einer Dichterkonkurrenz, das die folgende astronomisch-kosmologische Herausforderungsstrophe (1Kanz/2/10) in besonderem Maße prägt. Mit diesen beiden Strophen – Frauenpreisstrophe (1Kanz/2/9) und Herausforderungsstrophe (1Kanz/2/10) – stehen zwei ganz unterschiedliche Strategien nebeneinander, implizit die eigene künstlerische meisterschaft auszustellen: Die Frauenpreisstrophe (1Kanz/2/9) formuliert mit Demutsformeln die eigene dichterische Unterlegenheit hinsichtlich der vorgängigen meister und deren auserwählten Worten, emanzipiert sich aber kunstvoll, indem sie letztlich eine generelle Unsagbarkeit des Lobes der Frau behauptet und mit diesem hyperbolischen Lob durch die Behauptung der Unsagbarkeit sich (allein) als fähig ausstellt, diesem Gegenstand des Lobes gerecht zu werden – potenziert noch dadurch, dass die Beschreibung dieser Unsagbarkeit ein Selbstzitat ist. Hier werden mithin über die Appropriation verschiedener literarischer und rhetorischer Topoi die eigene Bildung und dichterische Fähigkeit im Vergleich zu den vorhergegangenen meistern ausgestellt und durch die insinuierte Überbietung dieser zuvor Gewesenen implizit meisterschaft beansprucht. Völlig anders setzt sich die folgende zehnte Strophe (die erste astronomischkosmologische) mit der dichterischen Konkurrenz auseinander: Sie nämlich formuliert eine Herausforderung aller Scharfsinnigen (also implizit aller [lebenden] meister), ihr Wissen unter Beweis zu stellen, indem sie eine Reihe gelehrter astronomisch-

2.2.7 Ton II: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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kosmologischer Spezialtermini zur Erläuterung ausgibt. Deutlich offenbart sich auch hier der Anspruch auf meisterschaft, die aber über gelehrte Wissensinhalte verhandelt – geradezu abgeprüft – wird und nicht wie zuvor dadurch, dass das Sänger-Ich augenfällig seine Beherrschung poetischer Mittel ausstellt. Darin wird ein unterschiedlicher Umgang mit verschiedenen Arten der Konkurrenz sichtbar: Das Sich-Messen mit den vorgängigen meistern – also gewissermaßen das Epigonalitätsproblem – wird unter Rekurs auf deren Texte und die ihnen inhärenten rhetorischen Strategien verhandelt, die das Sänger-Ich auf demselben Feld zu überbieten sucht (kunstvolle Beherrschung rhetorischer Topoi und Rekurs auf die eigenen Texte). Die zeitgenössischen Konkurrenten dagegen fordert das Sänger-Ich implizit zu einem Sängerwettstreit heraus, inszeniert damit gewissermaßen eine performativ stattfindende Konfrontation, in der Überlegenheit sich zudem nicht primär über poetische Kompetenz, sondern über eine Wissensprüfung gelehrter Fachkenntnisse zu beweisen hat. Diese unterschiedlichen meisterschafts-Entwürfe der Strophen neun und zehn deuten ein unterschiedliches Verständnis davon an, worin sich meisterschaft beweist (poetische Kompetenz vs. gelehrtes Wissen). Genau diesen angedeuteten Gegensatz synthetisiert die letzte – zweite astronomisch-kosmologische – Strophe des Tones, indem sie das Zusammenspiel von gelehrtem Wissen und kunst als Basis dichterischen Schaffens ausstellt. Dass die elfte Strophe zudem eng an die zehnte anschließt, verhandelt ausführlich Kap. 2.2.6.3. Diese Strophenbindung ist in Handschrift C besonders stark: Hier bindet die elfte Strophe im ersten Stollen die zwei astronomisch-kosmologischen Aspekte zusammen, die in dieser Handschrift Anfang und Ende der vorangehenden zehnten Strophe bilden, nämlich dass die Erde im Zentrum des Kosmos steht und der äußerste Himmel sich um sie dreht. Das Wissen um diese beiden Tatsachen wird in der elften Strophe über die Kenntnis der schrift fundiert. Dadurch, dass diese beiden Phänomene die vorangehende Strophe zehn umrahmen, erscheint ihre Autorisierung durch schriftliche Quellen in der elften Strophe metonymisch auch für alle in der vorangehenden Strophe dazwischenliegend verhandelten Wissensbestände zu gelten. Insofern belegt die elfte Strophe gewissermaßen, dass das Sänger-Ich tatsächlich über die Kenntnisse verfügt, deren Erklärung es in der zehnten Strophe prüfungsfragengleich als Nachweis außergewöhnlicher geistiger Fähigkeiten einfordert, und es macht deutlich, dass sie ihm aufgrund seiner Buchgelehrsamkeit bekannt sind. Zugleich verweisen diese kosmologischen Wissensbestände intratextuell auf die erste Strophe des Tones zurück (nach C), die im Gottespreis den Schöpfer als Beherrscher des Kosmos ausstellt. Gerade die Abgesänge dieser toneröffnenden Gottespreisstrophe (1Kanz/2/1) und der tonabschließenden astronomisch-kosmologischen Strophe (1Kanz/2/11) korrespondieren eng in Motiven und Begriffen, sie beide heben auf die vier Elemente und die kreatürliche Schöpfung ab, deren Vielfalt, Erhabenheit und Wunderhaftigkeit sie betonen. Dass die erste Strophe Gottes meisterliche Schöpfung als wortgeboren inszeniert und so mit der Dichtkunst parallelisiert, korrespondiert zudem mit den poetologischen Reflexionen der letzten Strophe, die das dichterische Selbstverständnis des Kanzlers diskutiert. Die intratextuelle Referenz der

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2 Analysen

beiden Strophen aufeinander schließt damit nach der Redaktion in C geradezu einen Rahmen um diesen Prunkton.

2.3 Ton III (1Kanz/3/1–4) Der dritte Ton des Kanzlers hebt sich in mehrfacher Hinsicht von dessen übrigen Sangspruchtönen ab. Er ist mit vier Strophen ausgesprochen kurz, nähert sich beinahe einem Liedformat an,⁵¹⁶ in formaler Hinsicht sticht er durch die Länge der Verse und die Kürze der Strophen hervor: Mit sieben Versen sind die Strophen weniger als halb so lang wie die Strophen der übrigen Sangspruchtöne des Kanzlers,⁵¹⁷ dafür sind die Verse aber mit sechs bis sieben Hebungen deutlich länger als die sonstigen Drei- bis Fünfheber. Stilistisch zeichnen die Strophen sich durch einen auffällig dichten Gebrauch rhetorischer Stilfiguren aus. Zudem tendieren sie zu einem Gestus katalogartiger Aufzählung, dessen stichwortartiger Charakter die Syntax bisweilen nahezu aufhebt und im Nebeneinander schwach verbundener Sätze eher den Eindruck einer Reihung sentenzhafter Aussagen erzeugt, als differenziert argumentative Strukturen aufzubauen. Aufgrund der geringen Strophenzahl dieses Tones sowie aufgrund der auffällig ähnlichen Anlage seiner Einzelstrophen soll dieser dritte Ton im Folgenden besonders unter der Perspektive intratextueller Verweisstrukturen analysiert werden.

2.3.1 Strophe 1 – Verweltlichte Geistlichkeit (1Kanz/3/1) C Kanz  Die pfaffenfu̍ rsten sint ir wirde[ ] ein teil beroͮ bet: vu̍ r infel helm, vu̍ r krumbe stebe slehte spiesse unde scharpfu̍ sper, vu̍ r stolen swert, vu̍ r albe ein plat sint in erloͮ bet; halsperg, gupfen, gollier, barbel sint ir umbler,  missachel hin, her wapenrok, hin bch, har schilte breit, umb mu̍ nches blat ein kru̍ lle, ein krone umb nunnen hoͮ bt – da umbesweifet waru̍ hohvart valschu̍ heiligheit.

Die erste Strophe des dritten Tones weist – anders als die einleitenden Strophen des ersten und zweiten Tones – keine prologartigen Elemente auf, sondern beginnt in medias res. Sie eröffnet mit der Feststellung, die geistlichen Fürsten seien ihrer Würde

 Vgl. Petzsch (Lied Nr. III des Kanzlers).  Die Strophen des ersten Tons (Ton I) und des Hoftons I (Ton XVI) umfassen 16 Verse, die des Goldenen Tons (Ton II) 19 Verse und die des Minnesang-Sangspruchliedes (Ton XIII) 20 Verse. Überhaupt sind derart kurze Strophen in der Gattung selten, siebenzeilige Sangspruchstrophen finden sich sonst nur beim Marner, Meißner, Rudinger und Herman Damen; daran zeigt sich zugleich, dass dieser Ton des Kanzlers offenbar nicht von Konrad von Würzburg beeinflusst ist, vgl. Brunner (Formgeschichte), S. 82, 84.

2.3.1 Ton III, Strophe 1 – Verweltlichte Geistlichkeit (1Kanz/3/1)

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beraubt (V. 1).⁵¹⁸ Der Begriff des beroͮ bens, der den Verlust des Ansehens als widerrechtlich und unverschuldet inszeniert, verdeckt dabei vorerst, dass die Strophe auf eine Kritik des Klerus abzielt. Die nachfolgenden Verse verdeutlichen aber, dass diese Schmälerung der Würde auf ein Fehlverhalten der Geistlichen selbst zurückgeht, indem sie scharf deren Verweltlichung kritisieren. Zum Ausdruck der falschen inneren Einstellung wird metonymisch deren äußere Erscheinung, nämlich der Tausch ihres geistlichen Ornats gegen ritterliche Attribute (V. 2–6).⁵¹⁹ Dabei zeichnet sich eine gewisse Steigerung ab: Zunächst heißt es, den Geistlichen seien statt ihres bischöflichen Ornats bestimmte Teile der ritterlichen Ausrüstung ‚erloͮ bet‘ (V. 3), nämlich statt der Infel der Helm, statt des Krummstabes Speer und Lanze, statt der Stola das Schwert, statt der Albe der Plattenharnisch.⁵²⁰ Wer diesen Tausch der Attribute erlaubt, wird nicht spezifiziert. Der Begriff der Erlaubnis verweist aber auf das geistliche Oberhaupt. Der zweite Absatz spricht nicht mehr von einer Möglichkeit (erloͮ ben) der Ersetzung von Attributen, sondern von Tatsachen: Die verschiedenen Teile, die im Brust- und Kopfbereich unter dem Helm getragen werden (halsperg, gupfen, gollier, barbel, V. 4), sint den Geistlichen ihr Humerale (umbler, V. 4).⁵²¹ Im Abgesang schließlich wird die Ersetzung der Kleidung und Attribute geradezu zu einer Abstoßung des Geistlichen zugunsten des Weltlichen: ‚Messgewand fort, Waffenrock her; Buch fort, Schild her‘ (missachel hin, her wapenrok, hin bch, har schilte breit, V. 5).⁵²² Zu beobachten ist hier zum einen eine differenzierte Kenntnis der ritterlichen Rüstung und des bischöflichen Ornats – besonders albe, umberal/umbler und missachel finden als Begriffe sonst kaum Anwendung in der volkssprachigen Literatur –, zum anderen zeigt sich, dass die geistlichen und weltlichen Bestandteile der Kleidung einander so zugeordnet werden, dass sie sich funktional entsprechen. Besonders deutlich wird das am Humerale und den diesem zugeordneten Teilen der ritterlichen Rüstung, die gleichermaßen unter dem Hauptkleidungsstück im Brustbereich getragen werden und auch den Kopf bedecken (können).

 Die (einzige) Überlieferung in Handschrift C hat hier grammatisch defekt ir wirden teil beroͮ bet; KLD konjiziert daraus eine Litotes‚ die LDM übernimmt: ir wirde[ ]‘ ein teil (also „‚einigermaßen‘ [ironisch für ‚gänzlich‘]“ der Würde beraubt), vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 256. Denkbar wäre auch die Konjektur ir wirden teiles beroͮ bet (vgl. ebd.), welche die Aussage relativiert (‚eines Teils der Würde beraubt‘); die Interpretation hängt jedoch von dieser Entscheidung nicht wesentlich ab, wie auch schon Zach (Kanzler), S. 133 f., resümiert.  Vgl. dazu auch Ilgner (Scheltstrophen), S. 172 f.  Die Inful ist (entgegen der ursprünglichen Bedeutung des Wortes) die Kopfbedeckung des Bischofs oder Abtes (vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1431), also Synonym zur Mitra (vgl. Kap. 2.2.3, S. 138, Anm. 286); die Albe ist das liturgische Gewand der Geistlichen, vgl. MWb, Bd. 1, Sp. 145.  gupfe ‚Kopfbedeckung unter dem Helm‘, BMZ, Bd. 1, Sp. 915a; gollier ‚Stehkragen, bes. als Teil der Rüstung‘, MWb, Bd. 2, Sp. 846; barbel (barbier) ‚Teil des Helms zum Schutz der unteren Gesichtspartie, auch der Helm selbst‘, MWb, Bd. 1, Sp. 436; umbler (umral/umrâle) ‚humeral, Schultertuch bei der Messkleidung‘, Lexer, Bd. 2, Sp. 1748.  missachel ‚messgewand‘, Lexer, Bd. 1, Sp. 2121.

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2 Analysen

In diesem Sinne sticht das Begriffspaar stole und swert aus der Aufzählung hervor, die sich nicht als Kleidungsstücke, sondern als Insignien der jeweiligen Standesidentität gegenüberstehen.⁵²³ Gerade das dergestalt hervorgehobene Begriffspaar verweist darauf, dass diese metonymische Chiffrierung einer geistlichen Usurpation weltlicher Macht auf eine literarische Tradition referiert, die besonders in der Sangspruchdichtung vorgeprägt ist.⁵²⁴ Das Begriffspaar stole und swert bezieht zuerst Walther in seinem Reichston aufeinander: die pfaffen striten sêre,/ doch wart der leien mêre./ diu swert legten si dâ nider,/ si griffen an die stôle wider,/ si bienen die si wolten/ und niht den si solten (1WaltV/1/3 [L. 9,16], V. 13–18, zit. nach Schweikle). Hier wird den Geistlichen einerseits zum Vorwurf gemacht, dass sie statt der stôle das swert genommen, sich also mit Waffengewalt in weltliche Konflikte eingemischt und damit ihrem Amt zuwidergehandelt hätten. Andererseits werden sie dafür gescholten, dass sie, als sich ihr Misserfolg auf diesem Feld angekündigt habe,⁵²⁵ die Insignien wieder getauscht und unter der stola ihr geistliches Richteramt durch falsche Bannsprüche missbraucht hätten. Bei Reinmar von Zweter (1ReiZw/1/127) wird daraus eine allgemeine Mahnung, keine Bannsprüche aus falschen Motiven zu sprechen. Damit leitet er über zu einer Kritik derer, die mit beiden swerten kämpfen, also sich beide Gerichtsbarkeiten anmaßen wollen, die geistliche und die weltliche, was er metonymisch über geistliche und weltliche Attribute metaphorisiert (Swer under stôle vluochet, schiltet, bennet/ unt under helme roubet unde brennet) und als Verstoß gegen den göttlichen Willen ausweist (1ReiZw/1/127, V. 7–12).⁵²⁶ Der Marner (1Marn/4/2) übernimmt das Motiv eines Tauschs geistlicher gegen weltliche Attribute ebenfalls, blendet aber das Thema falscher Rechtsprechung aus und kritisiert die Teilnahme der Geistlichkeit an weltlich-kriegerischen Auseinandersetzungen, die er durch deren Habgier begründet sieht. Dramatisierend inszeniert er das als Ausweis eines so jammervollen Weltzustands, dass er seinen Kindern wünscht, sie hätten in einer solchen Welt nicht lange zu leben.⁵²⁷ Die Strophe alludiert dabei Walther (die pfaffen striten sêre, 1WaltV/1/3 [L. 9,16], V. 13) in der überbietendalliterierenden Formulierung sit man die pfaffen siht so sere striten (1Marn/4/2, V. 4, zit. nach Willms) und greift mit der Waltherschen Gegenüberstellung von swert und stôle zugleich dessen durch Antithese und Gegensätze geprägte Argumentationsstruktur  Ähnlich auch etwa in 1Alex/20.  Belegstellen bei Roethe (Reinmar von Zweter), S. 602 f. (Kommentar zu Str. 127 und 129); vgl. auch 1 Frau/6/3; 1Marn/6/4.  Vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 337–339, 344 f.  Vgl. dazu auch 1ReiZw/1/129.  Vgl. dazu Haustein (Marner-Studien), S. 167–169, der den Verweis des Sänger-Ichs auf seine persönliche Situation als Vater gegen die autobiographisierende Deutung der älteren Forschung als Fiktion einstuft, als literarisches Mittel zur Steigerung der Dramatik, ebd., S. 168. Eine Nähe zur oben angeführten Reinmar-Strophe stellt neben dem Motiv der in der weltlichen Sphäre mit Waffengewalt operierenden Geistlichen auch eine in beiden Strophen eingesetzte Argumentationsfigur her, welche Aussagen über den göttlichen Willen exemplarisch an Petrus als erstem Papst tätigt.

2.3.1 Ton III, Strophe 1 – Verweltlichte Geistlichkeit (1Kanz/3/1)

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auf. Dabei erweitert die Strophe des Marners die Gegenüberstellung geistlicher und weltlicher Attribute, die gegeneinander ausgespielt werden: nu sint die stole worden swert,/ die vehtent niht nach selen, núwan nach golde./ wer hat úch, bischof, daz geleret,/ daz ir under helme ritent, ⁵²⁸ da dú infel suͤ nen solde?/ úwer krumber stab, der ist gewachsen z’einem langen sper./ die werlt habt ir betwungen gar, úwer mt stet anders niht wan: „gib eht her!“ (1Marn/4/2, V. 9–14). Der Kanzler greift alle diese Attributpaare des Marners auf (stole – swert, infel – helm, sowie krumber stab – langer sper [beim Marner] beziehungsweise slehte spiess und scharpfu̍ sper [beim Kanzler])⁵²⁹ und übernimmt zudem dessen antithetische Strukturierung der Strophe, die über diese gegensätzlichen Attribute hinausgeht. Auch die auffällige s-Alliteration beim Marner hat ein Gegenstück beim Kanzler (stebe slehte spiesse unde scharpfu̍ sper,/ vu̍ r stolen swert, 1Kanz/3/1, V. 2 f.). Zudem könnten die bis zu siebenhebigen Kanzlerschen Verse, die innerhalb seines Œuvres auffallen, auf die mit zwei Siebenhebern beginnende Alment⁵³⁰ der Marner-Strophe verweisen. Auch die Kanzlersche Formulierung, dass den Geistlichen das Eintauschen ihrer Insignien gegen weltliche erloͮ bet sei (1Kanz/3/1, V. 3), ließe sich damit als Referenz auf den Marnerschen Passus ‚wer hat úch, bischof, daz geleret‘ (unter dem Helm zu reiten, statt unter der Inful Frieden zu schaffen, 1Marn/4/2, V. 11 f.) verstehen. Da der Marner damit an seine zuvor geäußerte Papstkritik anschließt, diesen also als Verantwortlichen für den Missstand ausweist, wird mit der Referenz auch die Äußerung des Kanzlers noch deutlicher zu einer Kritik an diesem geistlichen Oberhaupt. Zugleich fällt auf, dass die Strophe des Kanzlers die Aufzählung geistlicher und weltlicher Attribute gegenüber derjenigen des Marners weiter ergänzt. Dass der Kanzler dabei die seltenen Begriffe der albe und des umbeler (1Kanz/3/1,V. 3 f.) aufruft, könnte darauf verweisen, dass er nicht nur auf den Text des Marners zurückgreift, sondern auch auf dessen mutmaßliche lateinische Vorlage,⁵³¹ die eben diese zusätzlichen Attribute nennt. Eine weitere Parallele zu diesem Text stellt das Motiv der falschen Bekrönung dar (1Kanz/3/1, V. 6).⁵³²

 Das Agieren der Geistlichen under helme rügt auch Reinmar, s. o.  Auf die Übereinstimmung der Begriffspaare verweist schon Haustein (Marner-Studien), S. 168 [Anm. 24]; auch Zach (Kanzler), S. 136, führt die Strophe des Marners als Parallelstelle an.  Vgl. dazu RSM (Töne, Bd. 2,1), S. 269 f.  Vgl. Willms (Marner, Kommentar), S. 153.  Episcopi cornuti/ conticuere muti,/ ad predam sunt parati/ et indecenter coronati./ pro uirga ferunt lanceam,/ pro infula galeam,/ clipeum pro stola/ – hec mortis erit mola –,/ loricam pro alba,/ – hec occasio calua –,/ pellem pro humerali/ pro ritu seculari, Carmina Burana 39, Str. 7, zit. nach: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 1987; pellem wird von Vollmann hier mit ‚Pelz‘ übersetzt. Da aber sämtliche sonstigen Attribute in Teilen der ritterlichen Rüstung gespiegelt wären, wäre auch hier wohl eher an ‚Leder‘ und damit unter der Rüstung befindliche Teile der Rüstung zu denken. Interessant ist in diesem Kontext wiederum die suchend-erweiternde ‚Übertragung‘ beim Kanzler mit halsperg, gupfen, gollier, barbel (V. 4).

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Anders als die lateinische Strophe und diejenige des Marners kritisiert der Kanzler aber nicht dezidiert die Habgier oder kriegerische Einmischung der Geistlichen, vielmehr wird die Kleidermetapher bei ihm Ausdruck einer allgemeinen „Verweltlichung der Geistlichkeit“,⁵³³ die er angreift. Dass diese Verweltlichung sich auch in einer unangemessenen kriegerischen Einmischung der Geistlichkeit manifestiert, deutet sich darin an, dass die weltlichen Attribute dezidiert dem Bereich ritterlicher Kampfausrüstung entlehnt sind und dass dies wiederum auch eine Referenz auf jene Gattungstradition ist, die eine solche Einmischung anprangert. Im Fokus der Kanzlerschen Kritik steht aber eigentlich die ‚echte‘ Hoffart, welche die falsche Heiligkeit solcher Geistlicher umschließe.⁵³⁴ Sowohl die Sichtbarkeit als auch die Verfehltheit einer solchen weltlichen Hoffart illustriert das Sänger-Ich, indem es sie bildhaft vergleicht mit Locken um eine Mönchstonsur und einem schmückender Kranz um das Haupt einer Nonne (V. 6 f.).⁵³⁵ In dieser falschen Gleichzeitigkeit weltlicher und geistlicher Attribute⁵³⁶ veranschaulicht er die Unvereinbarkeit von Heiligkeit und Hoffart, als die er die Verweltlichung der Geistlichkeit brandmarkt und die er damit zugleich als etwas ausstellt, was sich auch durch Eitelkeit augenfällig desavouiert. Schließlich etabliert die Strophe des Kanzlers über das Motiv der Ersetzung geistlicher Attribute durch weltliche eine bestimmte Struktur der Gegensätzlichkeit, ein antithetisches Argumentieren, das den gesamten Ton prägt und auf die Pointe der tonabschließenden Strophe hinarbeitet.⁵³⁷ Die Strophe sensibilisiert für dieses Argumentationsmuster durch die dichte Reihung der antithetischen Begriffe in parallelen und chiastischen Satzstrukturen sowie durch die zahlreichen Alliterationen,⁵³⁸ die diese Gegenüberstellungen syntaktisch und klanglich hervorheben. Zugleich zeigt sich an der Reihe von Sangspruchstrophen, die das Motiv der Ersetzung geistlicher Attribute durch weltliche nutzen, wie verschiedene Sangspruchdichter an ein in der Gattung vorgeprägtes Motiv anschließen, es zugleich aber auch im eigenständigen Rekurs auf gattungsexterne Texte ergänzen und (verschieden deutlich) umakzentuieren. Damit partizipieren sie am Vorgängigen und dessen Geltung, festigen aber zugleich eine Gattungstradition, die durch ihre Rückbindung an gattungsexterne Texte abgesichert und ergänzt wird.

 Vgl. Krieger (Kanzler), S. 87.  Vgl. dazu auch Ilgner (Scheltstrophen), S. 172 f.  Vgl. 1Kanz/5/16, V. 9 f., wo das Sänger-Ich argumentiert, dass eine (aus weltlichen Motiven bedingte) scham der Kleriker über ihre Tonsur töricht sei.  Sie klingt schon im ersten Vers mit dem zwar geläufigen, aber doch antithetischen Begriff der pfaffenfu̍ rsten (V. 1) an.  Die erste Strophe fungiert insofern auf einer höheren Ebene doch gewissermaßen als Prologstrophe.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 135 f.

2.3.2 Ton III, Strophe 2 – Falsche Ratgeber (1Kanz/3/2)

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2.3.2 Strophe 2 – Falsche Ratgeber (1Kanz/3/2) C Kanz  Verborgen valsch, heinlich truge, akustig zunge, verschante untru̍ we, verrchte luge, den git[ ] unsteter mt dur laster rat, uf schaden dienst. swer u̍ ch betwunge hin scheiden us der edeln rat, daz wurde im lihte gt.  nu fu̍ rhte ich, daz du̍ meiste menge z u̍ ch hab gesworn: ir gahent an der herren rat mit snellem sprunge. sus wirt des boͤ sen vil getan, des gten vil verborn.

Die zweite Strophe beginnt mit einer asyndetischen Reihe verwerflicher Verhaltensweisen, womit sie strukturell an den Aufzählungscharakter der ersten Strophe anschließt. Auch hier ist die Aufzählung durch extensive Alliterationen klanglich verdichtet, ebenso durch den Binnenreim luge : truge (V. 1 f.), der zugleich die wesentliche Aussage hervorhebt.⁵³⁹ Auch die Paarformeln dieser Aufzählung spiegeln strukturell die erste Strophe, wobei hier keine Gegensatzpaare vorliegen, sondern eine Aufzählung negativer Handlungsweisen, deren betrügerische Absicht durch überwiegend pleonastische Adjektive hervorgehoben wird (verdeckte Unredlichkeit, heimlicher Betrug, hinterhältiges Gerede [zur zunge s. u.], schamlose Treulosigkeit, ruchlose Lüge, V. 1 f.). Allen diesen schändlichen Verhaltensweisen, so resümiert die Strophe am Ende ihrer Aufzählung, helfe eine unbeständige innere Gesinnung, aus Schändlichkeit dem Schaden zu dienen (V. 2 f.).⁵⁴⁰ Die (Vor‐)Bedingung für betrügerisches, treuloses und heimtückisches Verhalten ist also eine falsche innere Einstellung, nämlich eine wankelmütige und unverlässliche, die darauf abzielt, Schaden zu verursachen. In die einleitende Aufzählung negativer Verhaltensweisen fügt sich die Zunge als Körperteil nicht unmittelbar ein, wird aber integriert durch ihre Charakterisierung als akustig (V. 1), was sie zum Organ betrügerischen Fehlverhaltens macht. Diese herausgehobene Stellung der Zunge in der Reihe der Laster verweist bereits darauf, dass die einleitende allgemeine Reflexion über vorsätzliche Falschheit sich im Verlauf der Strophe auf verräterische Redeakte hin zuspitzt. Zudem ist die biblisch fundierte⁵⁴¹ Schelte der schadenbringenden Zunge ein wiederkehrendes Thema in der Sangspruchdichtung,⁵⁴² das nicht selten in Verbindung mit einer Warnung vor falschen

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 137.  Ähnlich Zach (Kanzler), S. 137 f.  Die Dichter referieren meist sehr deutlich auf Jak 3,5–12 (bes. Jak 3,8: linguam autem nullus hominum domare potest/ inquietum malum/ plena veneno mortifero).  Dabei nehmen die Strophen bei Lob und Schelte der Zunge die biblisch vorgegebene Ambivalenz auf, vgl. 1Alex/1–3; 1ReiZw/1/94; 1ReiZw/1/95; 1ReiZw/1/157; 1ReiZw/2/5; 1WaltBr/2/6 und besonders 1Marn/ 7/9; 1Mei/1/3; vgl. auch Freidank V. 164,2–165,20; vgl. zudem Haustein (Marner-Studien), S. 213 f.

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Ratgebern steht.⁵⁴³ Ihre Erwähnung in der vorliegenden Strophe alludiert mithin vor diesem Hintergrund der Gattung bereits unterschwellig das Thema der Strophe. Das Sänger-Ich nämlich apostrophiert im Folgenden die eingangs aufgezählten Untugenden und äußert den Wunsch, jemand bezwänge sie und entferne sie aus dem Rat der Adeligen (V. 3 f.).⁵⁴⁴ Wem dies gelänge, werde das lihte gt (V. 4).⁵⁴⁵ Allerdings, so fährt es fort, stehe zu befürchten, dass die meisten schon den falschen Verhaltensweisen z gesworn, sich ihnen also eidlich verbunden hätten (V. 5). Indem das Sänger-Ich die Verbindung von unstaeten Ratgebern und verschiedenen lasterhaften Spielarten vorsätzlicher Falschheit über einen Rechtsterminus eidlicher Bindung beschreibt,⁵⁴⁶ bereitet die Strophe die Antithese ihrer Schlusspointe bereits vor: Hier nun konstatiert das Sänger-Ich – nicht mehr im Potentialis von Wunsch und Befürchtung, sondern im Realis –, dass die verschiedenen lasterhaften Erscheinungsformen vorsätzlicher Falschheit im schnellen Sprung zum Rat der Herren eilten, weswegen viel Schlechtes getan und viel Gutes unterlassen würde (V. 6 f.). Die Strophe des Kanzlers offenbart sich damit als verdeckte Ratgeberschelte, die nicht die Ratgeber selbst angreift, sondern personifizierte lasterhafte Verhaltensweisen,⁵⁴⁷ die als Ursache falschen verräterischen Rates ausgewiesen werden. Mit diesen Personifikationen inszeniert das Sänger-Ich geradezu eine Herrschaft der Falschheit in der Ratsversammlung, gegen welche es zum Widerstand aufruft. Die abschließende Antithese – boͤ se[s] werde deswegen getan und gte[s] unterlassen (V. 7) – macht diese Missstände im herrscherlichen Rat durch ihre verallgemeinernde Formulierung zugleich zum Signum eines grundsätzlich verkehrten Weltzustands und damit zur Zeitklage. Mit dieser abschließenden Antithese greift die Strophe aber zudem intratextuell die Schlusspointe der ersten Strophe auf, die anhand der verweltlichten Geistlichkeit gleichermaßen antithetisch einen verkehrten Weltzustand problematisiert.

 Vgl. etwa 1Mei/2/19; 1WaltV/8/10 (L. 28,21); implizit 1FriSo/1/36.  Vgl. Walther 1WaltV/9/1 (L. 31,13), wo ebenfalls eine Personifikation unrechtmäßig im Rat des Fürsten sitzt, nämlich Besitz statt êre, V. 6–8.  lihte ließe sich dabei als mhd. Litotes auffassen (‚gewiss‘), erwägenswert wäre aber auch eine einschränkende Übersetzung (‚vielleicht‘). Eine solche Relativierung könnte einerseits bedeuten, dass der Passus auf eine jenseitige Entlohnung anspielt, die somit letztlich unverfügbar ist (insofern führt das gute Verhalten also nur ‚vielleicht‘ zum Guten), es könnte aber auch darauf verweisen, dass der derart vorbildlich Handelnde in einer korrumpierten Welt, in der die meiste menge Falschheit übt (V. 5), für das richtige Verhalten nicht den richtigen Lohn erwarten kann. Zach (Kanzler), S. 138, fasst lîhte als einschränkende Formulierung auf, liest die Stelle aber konjiziert nach KLD (‚daz wurde in lîhte guot‘) und bezieht lîhte guot daher auf die Adeligen: „Auch besteht nicht eindeutige Gewähr, dass damit den Adeligen wirklich etwas Gutes getan wird; Der Dichter setzt die einschränkende Formulierung lîhte“. Auffällig ähnlich schließt bemerkenswerterweise die durchweg aus Antithesen aufgebaute Strophe des „Elbenliedes“ (MF 126,8) Heinrichs von Morungen (daz wirt mir vil übel – oder lîhte guot, Str. 3, V. 8, zit. nach MF).  Vgl. Zach (Kanzler), S. 139.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 138 f.

2.3.3 Ton III, Strophe 3 – Lob des Tugendadels (1Kanz/3/3)

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Auch Petzsch betont den Zusammenhang der beiden Strophen und meint, dass sie in einem Verhältnis von Phänotyp (1Kanz/3/1) und Genotyp (1Kanz/3/2) stünden. Das zeige sich darin, dass die zweite Strophe „das Stichwort valsch(e) des Strophenschlusses aufn[ehme], und in dessen Diärese nun den Genotyp anpranger[e]“.⁵⁴⁸ Im Folgenden spielt die zweite Strophe aber mit dem Thema hinterlistigen falschen Rates auf einen weiteren spezifischen Typus an – und zudem einen anderen als den verweltlichten Geistlichen. Dennoch markiert der Begriff valsch hier eine deutliche Strophenverbindung, durch die sich die stropheneinleitenden Überlegungen der zweiten Strophe, welche die Vorbedingungen und Zielabsichten der Falschheit reflektieren, auch auf die erste Strophe zurückbeziehen lassen. Diese Reflexion steht also gewissermaßen ‚apokoinu‘ und verknüpft die Strophen somit intratextuell. Zudem ließe sich der truge : luge Binnenreim am Anfang der Strophe (V. 1 f.) als Referenz auf Freidank verstehen, der mit dem markanten Schlagreim liegen triegen eine Reihe von Sprüchen eröffnet,⁵⁴⁹ derer einer ebenfalls die Anwesenheit dieser Laster im fürstlichen Rat kritisiert: Liegen triegen dicke gât/ mit fürsten an des rîches rât (V. 165, 23 f., zit. nach Bezzenberger). Freidank insinuiert damit, dass die Fürsten Träger dieser Laster sind. Die Referenz des Kanzlers darauf lässt auch seine Kritik indirekt an die Fürsten adressiert erscheinen: Die Strophe wird damit als Pendant zur ersten Strophe, welche die geistlichen Fürsten schilt, als komplementäre Kritik weltlicher Fürsten erkennbar.⁵⁵⁰

2.3.3 Strophe 3 – Lob des Tugendadels (1Kanz/3/3) C Kanz  So wol dem edeln, der mit zu̍ hten kan enthalten sin adel, so daz ers mit rehter meisterschefte treit. er sol wol reiner ku̍ scher megde sitte walten, unreht, unfr miden gar unde umbescheidenheit.  mit tru̍ wen, manhaft, milt, warhaft unde unstete niht er mag vil selig wol in gotes hulden alten unde in der werlte lob, swen man in rechter vre siht.

Die dritte Strophe des Tones bildet gewissermaßen die Antithese zur zweiten, indem sie sich statt dem Laster nun der Vorbildlichkeit zuwendet und die Schelte durch den Lobpreis ersetzt: Gepriesen sei – so heißt es – der edele, der vermittels vorbildlichen Verhaltens seinen Adel zu bewahren vermöge, so dass er ihn mit wahrer Meisterschaft trage (V. 1 f.). Geschickt verschmilzt das Sänger-Ich hier Lobpreis mit Belehrung und  Vgl. Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 403; in dieser Wiederaufnahme zeigt sich erneut ein concatenatio-Prinzip, vgl. Holznagel (Wege in die Schriftlichkeit), S. 262–268.  Bemerkenswert ist zudem, dass diese Kritik des liegens und triegens bei Freidank unmittelbar an seine ausführliche Schelte der Zunge anschließt.  Vgl. dazu auch 1WaltV/8/10 (L. 28,21).

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aktiviert über die Differenzierung zwischen edel und adel einen Tugendadel-Diskurs: Adel gilt nicht qua Geburt, sondern bedarf beständig wiederholter Bestätigung und Erfüllung durch vorbildliches Verhalten.⁵⁵¹ Mit dem in diesem Kontext ungewöhnlichen Begriff der rehte[n] meisterschefte inszeniert das Sänger-Ich adelswürdiges adelndes Verhalten geradezu als eine erlernbare Kunst, in die man investieren muss, um sie zu perfektionieren, und die durch ihre sichtbaren Hervorbringungen zudem mess- und vergleichbar wird. Zugleich ist meisterschaft aber ein poetologischer Schlüsselbegriff der sangspruchdichterischen Selbstbeschreibung, was indirekt einen Kurzschluss zwischen dem Handeln des Adeligen und des Sängers andeutet: Indem die Eingangsverse die Lobwürdigkeit eines meisterlich Adeligen – auch performativ – andeuten, suggerieren sie ein Korrespondieren von meisterlichem Lob und meisterlichem Adel. Im Folgenden belehrt die Strophe darüber, welches Verhalten der Adelige dafür annehmen soll, nämlich die makellos keusche Lebensführung einer Jungfrau (V. 3).⁵⁵² Im intratextuellen Rekurs auf die Darstellungsmuster der vorangehenden Strophen wird dieses Ideal nun antithetisch alliterierend mit einer asyndetischen Reihe negativer Gegenbegriffe kontrastiert, nämlich unreht, unfr […] unde umbescheidenheit (V. 4), vor denen der Vorbildliche sich zu hüten habe. Der Abgesang stellt diesen Lastern wiederum eine asyndetische Reihe tugendhafter Verhaltensweisen gegenüber: Wer tru̍ we[ ], manhaft, milt und warhaft sei und dabei nicht unstete, der vermöchte Gottes Huld und den Lobpreis der Welt zu erringen, der den man so in rehter vre sehe (V. 5–7, beim Kanzler genauso apokoinu konstruiert). Die Strophe steht thematisch in Beziehung zur vorangehenden Strophe, deren Katalog von lasterhaften Verhaltensweisen sie nun eine Belehrung über vorbildliches Verhalten gegenüberstellt. Diese thematische Beziehung markiert auch eine Reihe intratextueller Korrespondenzen zwischen den beiden Strophen: Auf der Wortebene nimmt die dritte Strophe den Begriff des/der vorbildlichen edeln aus der zweiten wieder auf, hebt wie diese Strophe unstete als zentralen negativen Einfluss auf das Verhalten hervor und referiert mit den anempfohlenen Tugenden der tru̍ we und warhaft[igkeit] auf deren Gegenbegriffe untru̍ we und valsch aus der vorangehenden Strophe. Zudem verbinden die Strophen rhetorisch erneut das Mittel der asyndetischen Aufzählung (von Un‐/Tugenden) sowie der dichte Gebrauch von Alliterationen und Antithesen. Über diese Strophenbindung wird das abschließende Versprechen der dritten Strophe, dass der Vorbildliche in Gottes Huld und Ansehen vor der Welt leben könne, zugleich zur impliziten Drohung für den lasterhaften Typus der zweiten Strophe, dessen gegenteiliges Verhalten ihm damit unterschwellig den gegenteiligen Lohn andeutet, die ewige Verdammnis. Das gt[e], das die zweite Strophe demjenigen in Aussicht stellt, der die Laster aus dem Rat zu verbannen vermöchte (daz wurde im

 Vgl. 1Kanz/1/1 f.; 1Kanz/5/1 und 1Kanz/5/12.  Vgl. dazu Wolframs von Eschenbach Parzival, wo es ähnlich über Isenharts Vorbildlichkeit heißt er was noch kiuscher denne ein wîp, V. 26,15, zit. nach Nellmann.

2.3.3 Ton III, Strophe 3 – Lob des Tugendadels (1Kanz/3/3)

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lihte gt, V. 4), scheint wiederum genau darauf zu verweisen, dass ihm durch solcherart vorbildliches Verhalten innerweltliches Ansehen und transzendente Huld zukommen könne.⁵⁵³ Gerade diese Doppelformel des innerweltlichen Ansehens und der Gnade Gottes ließe sich zugleich als Markierung einer Referenz auf Walther verstehen, der mehrfach die Vereinbarkeit dieser beiden Werte diskutiert.⁵⁵⁴ Fast immer bilden sie dabei eine Trias mit dem (varnden) guot. Einen etwas anderen Akzent setzt aber die Strophe 1 WaltV/15/5 (L. 83,27), weswegen sie hier in besonderem Maße als Anspielungshorizont zu untersuchen wäre. Diese Strophe belehrt die Herren darüber, wie man jeglichen Rat beurteilen könne: Es gebe drei gute Ratschläge, das seien die, die auf frum und gotes hulde und werltlîch êre zielten (V. 7).Wer diesen entsprechend rate, den solle der Kaiser in seinen höchsten Rat aufnehmen. Und es gebe drei schlechte Räte, die heizent schade, sünde und schande (V. 10; schade wird auch in der zweiten Strophe des vorliegenden Kanzler-Tons als Absicht der Untugenden ausgewiesen). Die Strophe schließt mit zwei sentenzhaften Äußerungen, nämlich dass sich aus Worten ablesen lasse, wie es ums Herz stehe (V. 12), und dass der Anfang selten guot sei, der ein bœsez ende habe (V. 13; die strophenbeschließende guot-bœse-Antithese korrespondiert zudem erneut mit der zweiten Strophe von Ton III). Dieser Walther-Strophe geht eine weitere, thematisch eng verbundene voraus,⁵⁵⁵ die davor warnt, nicht die Niederen statt den Hohen in den Rat aufzunehmen,⁵⁵⁶ weil diese ihr triegen und liegen auch die Fürsten lehrten (V. 10 f.).⁵⁵⁷ Damit – hier schlägt die Strophe in die Zeitklage um – störten sie Recht und Gesetz und hätten den besorgniserregenden Zustand von Krone und Kirche verantwortet (V. 12 f.). Nicht nur thematisch stehen diese beiden Strophen denjenigen des Kanzlers nahe, auch stilistisch verbindet sie der zentrale Gebrauch antithetischer Gegenüberstellungen, die reihende Aufzählung von Tugenden und Lastern (teils mit Alliteration), das Spiel mit parallelen und chiastischen Satzstrukturen sowie die lose Sentenzenreihung am Ende der zweiten Strophe. Die Kanzlersche Referenz auf diese beiden zusammengehörigen Walther-Strophen⁵⁵⁸ sensibilisiert damit zum einen für intratextuelle Strophenreihen und somit für die Bezüge der vorliegenden KanzlerStrophen aufeinander. Zum anderen konkretisieren diese Strophen die verheerenden

 Vgl. dazu 1Kanz/2/4 und Kap. 2.2.2.1.  Schon Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 403, verweist hier auf den Reichston 1WaltV/1/1 (L. 8,4); das Thema begegnet bei Walther aber auch im Unmutston 1WaltV/9/1 (L. 31,13) und in mehreren Strophen des Wiener Hoftons 1WaltV/7/1; 1WaltV/7/6 f. (L. 20,16; L. 22,18; L. 22,33).  1WaltV/15/4 (L. 83,14).  Auf dieses Motiv referiert wiederum die Meißner-Strophe 1Mei/2/19, die zudem in der einleitenden Aufzählung, was einen guten Ratgeber ausmache, nahe bei der Aufzählung der Tugenden steht, die der Kanzler wahrem Adel zuschreibt: Ein ratgebe erehaft, menlich, milte, wise,/ erbarmich, truwe, den ratgeben ich prise (1Mei/2/19, V. 1 f., zit. nach Objartel). Die Strophe endet mit einer emphatischen Warnung vor falschem Rat: vliet valschen rat. we dem, der valsche zungen treit (1Mei/2/19, V. 13).  Ganz ähnlich auch 1WaltV/8/10 (L. 28,21).  Vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 500.

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Folgen schlechten Rates für Krone und Kirche. Die Strophenreihe des dritten KanzlerTones entzerrt aber zugleich die Themen, die bei Walther amalgamiert sind, indem der Kanzler sie auf drei einzelne Strophen auseinanderlegt, nämlich die Schelte der Geistlichkeit (1Kanz/3/1), die Warnung vor falschen Ratgebern (1Kanz/3/2) und die belehrende Anleitung zu vorbildlichem Verhalten (1Kanz/3/3).

2.3.4 Strophe 4 – Schlechtes als Bedingung für Gutes (1Kanz/3/4) C Kanz  Was solt erbermde, ob niender su̍ ndic mensche were, was solt oͮ ch milte, het ieder man nah sinem willen gt. bi leide erkenne ich lieb, die froͤ ide bi der swere, die rwe bi der arbeit, bi truren hohen mt.  die kargen gelich ich milten sam die nehte z den tagen. ich ku̍ se oͮ ch herren eren vol unde schanden lere an gar verschamten richen tugendelosen argen zagen.

Die in den ersten drei Strophen des Tones angelegte Häufung rhetorischer Mittel bereitet gewissermaßen deren Kulmination in der vierten Strophe vor: Diese Strophe konstituiert sich ausschließlich aus einer – gewissermaßen asyndetischen – Reihe von vorwiegend antithetischen Gegenüberstellungen, deren Halb‐/Verse vielfältig durch Parallelismen und Chiasmen miteinander korrespondieren. Eröffnet wird diese Reihe von zwei parallel gebauten rhetorischen Fragen, nämlich wozu es, wenn es keine sündigen Menschen gebe, des Erbarmens bedürfte und wozu der milte, wenn jeder so viel Besitz hätte, wie er wünschte (V. 1 f.). Diese beiden Fragen sind formal durch Anapher verbunden, thematisch dadurch, dass sie beide Verhaltensweisen verhandeln (erbermde, milte), die erst durch bestimmte Defizite konstituiert werden (Sünde, Armut). Im Folgenden thematisiert das Sänger-Ich verschiedene emotionale Zustände und stellt fest, dass diese erst jeweils aus ihrem Gegenteil heraus erkennbar würden – und gewissermaßen damit erst ihren Wert erhielten:⁵⁵⁹ erst durch das Leiden das Angenehme, die Freude durch den Kummer, die Ruhe durch die Mühsal und durch die Trauer die Hochgestimmtheit (V. 3 f.). Daran schließt das Sänger-Ich eine Gegenüberstellung gegensätzlicher (Menschen‐)Typen an, nämlich denjenigen des Geizigen und des Freigebigen, die – so heißt es – genauso miteinander vergleichbar seien wie Nacht und Tag (V. 5). Die damit in dieser Strophe zunächst vorgenommene Aneinanderreihung verschiedener komplementärer beziehungsweise gegensätzlicher Phänomene scheint insofern vorerst relativ unzusammenhängend,⁵⁶⁰ stiftet bei genauerer Betrachtung aber auf mehreren Ebenen Sinn.⁵⁶¹

 Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 257.  Vgl. Roethe (Reinmar von Zweter, Kommentar), S. 245.

2.3.4 Ton III, Strophe 4 – Schlechtes als Bedingung für Gutes (1Kanz/3/4)

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Das Sänger-Ich begleitet die Rezipienten hier gewissermaßen durch einen Erkenntnisprozess, aus dem es sein poetisches Verfahren in diesem Ton ableitet: Als erstes stößt es mit den einleitenden rhetorischen Fragen einen Reflexionsprozess an, verweist nämlich darauf, dass erst bestimmte Mängel beziehungsweise Bedürftigkeiten die Tugenden erforderlich machten. Aus dieser Reflexion leitet es über zu der pauschalen Erkenntnis, dass aus dem Schmerzlichen erst das Angenehme und aus dem Unerfreulichen erst das Erfreuliche erkennbar sei. Diese Erkenntnis legt es in einem letzten Schritt als Grundlage (s)eines poetischen Verfahrens offen, nämlich dass der Vergleich einer Sache (geizige Menschen) mit ihrem Gegenteil (freigebige Menschen) diese – gerade mittels ihrer Unvergleichbarkeit – erst in ihrer Gänze zur Anschauung zu bringen vermag. Dabei sichert es das Verständnis dieser Aussage, indem es diesen Vergleich mit einem weiteren Vergleich verdeutlicht, nämlich mit der plakativen Gegenüberstellung der absoluten Gegensätze Tag und Nacht. Mit dieser Thematisierung einer Poetik der Gegensätzlichkeit wird die vierte Strophe des Tones zur Schlüsselstrophe des von Antithesen geprägten dritten Tones. Ihr poetisches Programm, dass die Erkenntnis größerer Wahrheit erst aus der Darstellung einer Sache vor ihrem Gegenteil möglich sei,⁵⁶² betont, dass die zweite und dritte Strophe des Tones – die in einem eben solchen Verhältnis absoluter Gegensätzlichkeit zueinander stehen – erst in ihrer Zusammenstellung ihre volle Aussagekraft entfalten. Erst in der Spiegelung am vortrefflichen Verhalten (1Kanz/3/3) wird die wahre Schlechtigkeit des falschen Verhaltens (1Kanz/3/2) letztgültig deutlich. Die erste Strophe dagegen sensibilisiert mit ihrer dichten Reihung von Antithesen zum einen für diese dem Ton zugrundeliegende Poetik. Zum anderen zeigt die Strophe – gerade dieser Poetik gemäß – dadurch, dass sie den Gegensatz des tatsächlichen Verhaltens der Geistlichen zu den an sie gestellten Anforderungen ausstellt, deren gänzliche Verderbtheit. Die Reihung sentenzhafter Aussagen in der vierten Strophe stiftet aber auch auf einer weiteren Ebene Sinn, nämlich darüber, dass sie verschiedene Aussagen einander zuordnet und damit aufeinander beziehbar macht. So suggeriert etwa der betont parallele Satzbau der einleitenden rhetorischen Fragen eine Relation zwischen erbermde und milte, welche die milte auch als christlichen Akt der Nächstenliebe verstehbar macht.⁵⁶³ Zugleich sensibilisiert sie aber für die Unterschiede, scheint nämlich zu insinuieren, dass Sündigkeit selbstverschuldet ist, materielle Bedürftigkeit aber nicht, womit diese noch deutlicher des Erbarmens (mittels Freigebigkeit) würdig scheint. Stropheninterne Bezüge schafft auch die Wiederaufnahme des Begriffs der

 So auch Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 404–406, der die Anreihung von Sprichwörtern (beziehungsweise „Erfahrungen, aus denen sich Sprichwörter abziehen ließen“) als Figur eines Argumentierens per analogiam interpretiert, das letztlich darauf abzielt, zu zeigen, dass „vollere Wirklichkeit sich auch am Gegensätzlichen konstituiert“.  Vgl. Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 405 f.; vgl. dazu auch Haustein (Gattungsinterferenzen), bes. S. 173 f.  Vgl. 1Kanz/2/2.

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milte im fünften Vers, wo die milten dem Tag verglichen werden und die milte über diese Christusmetapher ebenfalls in eine christologische Perspektive gesetzt wird. Der Einsatz der Strophe mit dem Begriff der erbermde und der kosmische Tag und NachtVergleich bilden aber zugleich eine gewissermaßen heilsgeschichtlich-kosmische Klammer um die aufgeführten Gegensätze und stellen sie als Teil einer größeren göttlichen Weltordnung aus, deren Ausdruck sie sind.⁵⁶⁴ Darin steht die Strophe wiederum einer Strophe Rumelants nahe, die einen mehrstrophigen Marienpreis – der Jesu Opfer als milticheit profiliert – mit der Beobachtung einleitet, dass das Gute am Schlechten und das Schlechte am Guten zu erkennen sei und dass es das eine ohne das andere nicht gebe (1Rum/2/10).⁵⁶⁵ Zudem hat die Figur des Erkennens einer Sache aus ihrem Gegenteil in der sangspruchdichterischen Herrenlehre ihren Platz.⁵⁶⁶ Konrad von Würzburg baut das Motiv in einem Zweierbar aus, dessen zweite Strophe implizit zur milte auffordert: daz arge bi dem gten erger unde boͤ ser lu̍ hten kan/ unde daz gte besser bi dem argen. da von ûz dem kargen/ tugendericher man/ kan vil schines bringen als ûz kiselingen/ schone glîssent edele margariten (1KonrW/6/4, V. 9–13, zit. nach LDM). Eingeleitet wird dieser Passus ebenfalls durch eine rhetorische Frage: ob die lu̍ te umbe ere wurben alle sere,/ wie moͤ hte ieman danne lob erstriten? (V. 7 f.). Deutlich zeigt die Strophe Konrads mithin die Defizienz der anderen als Möglichkeitsraum dafür auf, die eigene Vorbildlichkeit unter Beweis zu stellen, und inszeniert Freigebigkeit als Weg zum Ansehen. Voran geht diesen Ausführungen eine Strophe, die im Modus einer Zeitklage den verkehrten Weltzustand anprangert, dass nämlich der Vorbildliche sich nachgerade verbergen müsse vor den Schändlichen, weil derer so viele seien. Die beiden Strophen stehen dem dritten Ton des Kanzlers damit thematisch nahe. Besonders die rhetorische Strategie der zweiten Konrad-Strophe korrespondiert derjenigen der Kanzlerschen Schlussstrophe, auch in ihrem eher reflexiven als anweisenden Modus des Lehrens. Noch deutlicher profiliert diese Referenz auf Konrad die Strophe des Kanzlers zudem als implizite Heischestrophe, da sie die milte als zentralen Weg ausstellt, Vorbildlichkeit zu beweisen. Das klingt auch in den letzten beiden Versen des Kanzlers unterschwellig an, wenn das Sänger-Ich darauf abhebt, dass es die Vorbildlichkeit ehrenvoller ‚schandenleerer‘ Herren an ihrem Gegenteil erkenne, nämlich schamlosen reichen tugendlosen bösen Feiglingen (V. 6 f.), da der Reichtum aus dieser asyndeti Ähnlich Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 405 f.  Bemerkenswert ist auch, dass diese Rumelant-Strophe dessen Liedcorpus in C eröffnet.  Vielzitiert in diesem Kontext ist eine von Roethe Reinmar von Zweter zugeschriebene Herrenlehre, in der es heißt: man sol den vrumen bî dem bœsen erkennen, V. 10, zit. nach Roethe; es handelt sich dabei aber um eine spätüberlieferte Strophe ungewisser Autorschaft in der Spiegelweise des Ehrenboten 1Ehrb/1/502; die Strophe schließt auffälligerweise mit einer Inszenierung des Tugendadels und steht darin der dritten Strophe des vorliegenden Kanzler-Tons nahe. In der anonymen Strophe im Ton des Ehrenboten wird dieser Tugendadel legitimierend auf Gott zurückgeführt: Got selbe spricht: ‚Swer tugende phligt, den sol man edel nennen.‘/ Ein küneges kint ist edel niht, daz sich untugende vlîzet (V. 11 f.); zu weiteren Belegstellen für das Motiv des Erkennens des Guten aus dem Schlechten, vgl. Roethe (Reinmar von Zweter, Kommentar), S. 628.

2.3.5 Ton III: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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schen Reihe der Untugenden als nicht per se negative Eigenschaft hervorsticht und auf die Interessen des Sängers verweist.⁵⁶⁷

2.3.5 Ton III: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander Die vier Strophen des dritten Tones stehen mit ihren für die Gattung sehr topischen Themen und argumentativen Versatzstücken in Verbindung zu einer Vielzahl vorgängiger Sangspruchstrophen, wobei konkrete Einzeltextreferenzen – eben aufgrund dieser Popularität der Themen und Mittel – kaum zweifelsfrei nachweisbar sind. Daneben aber fällt an diesen Strophen auf, dass sie deutlich intratextuell miteinander verbunden sind, ohne damit ihre Eigenständigkeit als Einzelstrophen zu verlieren. Interessant ist besonders, dass diese intratextuelle Verknüpfung (scheinbar) weniger eine inhaltlich-thematische ist als vielmehr eine, die durch formale Responsionen im Strophenaufbau gestiftet wird.⁵⁶⁸ Sensibilisiert wird der Rezipient für diese formale intratextuelle Referenz wiederum durch die Dichte rhetorischer Stilmittel, welche in gesteigertem Maß auf die alle Strophen durchziehende Anwendung bestimmter argumentativer Muster und die Wiederaufnahme von Schlüsselbegriffen hindeutet. Zugleich verweist die auffällige Verdichtung rhetorischer Figuren in der letzten Strophe auf deren Thematisierung und damit auf die ihr zugrundeliegende poetische Absicht, welche (rückwirkend) tonübergreifend Sinn und Zusammenhang stiftet. Die Strophenfolge erweist sich damit weniger als thematisch-intuitiv, sondern vielmehr als strukturell konzipiert:⁵⁶⁹ Die antithetischen Strophen eins und vier rahmen die

 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der sechste Vers hier – KLD folgend – eine Konjektur enthält. Die Überlieferung hat statt ‚ich ku̍ se oͮ ch herren eren vol unde schanden lere‘ ‚schanden wol unde eren lere‘. Gerechtfertigt wird die Konjektur plausibel damit, dass die Überlieferung die Pointe der Strophe zerstöre, deren Argumentationslogik darauf angelegt sei, dass das Gute aus dem Schlechten erkannt werde und daraus seinen Wert erhalte, vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 257. Aus einer überlieferungstreuen Interpretation heraus erwägenswert wäre aber auch, ob die Pointe der Strophe gerade darin besteht, dass sie ihr eigenes Argumentationsmuster stört: dass sie nämlich in dem Moment, in dem sie das Erkennen einer Sache aus ihrem Gegenteil als poetisches Mittel offenlegt, damit bricht und zeigt, dass das Gute aus dem Schlechten seinen Wert erhält, dass das Schlechte aber immer schlecht ist und auch bei völliger Absenz des Guten als Schlechtes erkennbar bleibt. Möglicherweise spielt die Formulierung zudem mit einem panegyrischen Vers Friedrichs von Sonnenburg, der im Lobpreis desjenigen von Rifenberc (1FriSo/1/40) konstatiert, dieser sei vol tugende unde schanden hol, V. 7, zit. nach Masser.  Auf diese enge formale Verbindung des dennoch aus Einzelstrophen bestehenden dritten Tones verweist auch Zach (Kanzler), S. 145.  Eine inhaltlich klarere Strophenfolge dieses Tones ergäbe sich allerdings durch einen Tausch von Strophe drei und vier: Das in der zweiten Strophe problematisierte Fehlverhalten nähme die vierte Strophe unmittelbar auf und stellte dieses Schlechte als Bedingung für das Gute aus. Damit leitete sie zugleich zur dritten Strophe über, deren Thema sie durch ihren Schluss – wie vorbildliche Herren von Schlechten zu unterscheiden sind – präludierte. Die dritte Strophe böte dann abschließend eine ausführliche Erklärung, worin sich eine solche Gutheit erweist, und machte diese Vorbildlichkeit als

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Strophen zwei und drei, die wiederum in einem antithetischen Verhältnis aufeinander bezogen sind. Dabei exponiert und etabliert die erste Strophe mit ihrem abundanten Gebrauch antithetischer Gegenüberstellungen dieses rhetorische Stilmittel, Strophe zwei stellt ein Negativbeispiel vor, Strophe drei das positive Gegenstück und Strophe vier synthetisiert diese beiden Pole, indem sie deutlich macht, dass der Wert des Guten erst durch die Negativfolie des Schlechten erkennbar wird. Die vierte Strophe inszeniert diese Komplementarität damit als Ganzheit, in der Gottes unergründliches Schaffen sichtbar wird.⁵⁷⁰

2.4 Ton XIII, Strophe 1–3 – Minnesangspruchlied (1Kanz/4/1–3) Die Strophenreihe 1Kanz/4/1–3 ist für intertextuelle Fragestellungen gleich in zweifacher Hinsicht ausgesprochen ertragreich, zum einen, weil dieses dreistrophige Lied offensiv mit der Gattungsgrenze zwischen Sangspruch und Minnesang also einer Gattungsreferenz spielt, zum anderen, weil es dabei seine gesamte Konzeption einem Lied Konrads von Würzburg (1KonrW/3/1–3) verdankt,⁵⁷¹ mithin auch zentral auf einen Einzeltext referiert. Damit ist diese Strophenfolge zugleich einer der augenfälligsten Zeugen für die Bezugnahmen zwischen der Dichtung des Kanzlers und derjenigen Konrads von Würzburg. Im Folgenden steht zuerst die Gattungsreferenz des Kanzlerschen Liedes im Zentrum der Analyse (wobei die dabei getätigten Beobachtungen zu weiten Teilen auch auf Konrads Lied zutreffen), bevor der Prätext Konrads und die Referenz des Kanzlers auf diesen Einzeltext in den Blick rücken.

Pointe der Strophenfolge sowohl zum Ausweis echten Adels als auch zum Weg zu Gottes Huld und innerweltlichem Ansehen.  Unter dem Aspekt der Redaktion nach C ist zudem interessant, dass das auf diesen Spruchton folgende Minnelied (Lied IV) ebenfalls stark durch eine (antithetische) Verhandlung von Gegensätzen geprägt ist: Das Ich beklagt hier, dass es die Männer stets für beständig und die Frauen für unbeständig gehalten habe, nun aber feststellen müsse, dass es sich damit gerade andersherum verhalte, weil seine Dame – dafür wolle er sie schelten und preisen zugleich – ausgesprochen beständig sei, nämlich darin, ihn nicht zu erhören. Zugleich offenbart sich darin freilich ein kunstvolles pointenreiches Spiel mit überkommenen Topoi des Minnesangs. Auch die Anordnung der folgenden Minnelieder in C zeigt deutlich Spuren einer Redaktion, denn nach diesem ersten Minnelied – der einzigen Minneklage des Kanzlers, die als einziges seiner Minnelieder auf den Natureingang verzichtet – lässt die Handschrift systematisch Lieder mit Sommer- und Wintereingang wechseln, bevor sie das Corpus des Kanzlers mit dem umfangreichen Hofton I beschließt.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 275 f.

2.4.1 Ton XIII, Strophe 1 – Natureingang (1Kanz/4/1)

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2.4.1 Strophe 1 – Natureingang (1Kanz/4/1) C Kanz  Leider winter ungestalt, uswert halt. din gewalt sere smalt,  din kraft duldet bruch unde spalt, din mu̍ l niht mer malt.

C Kanz 

C Kanz 

Jarlang sol er sin gemeit, swem ein meit minne treit, du̍ daz meit, dazs us zu̍ hten nie geschreit –

Schande stark als ein helfant us gesant kumt gerant in du̍ lant. si fuͤ ret fu̍ rsten an ir hant,

froͤ id ist im bereit.

die da sint geschant.

sang der vogelin ungezalt din engalt unde der walt.  des dich schalt spruch der werlte manigvalt. nu ist din runs verswalt.

seht, so duld ich arebeit unde leit: sich entseit bi richheit milte gebennes, underscheit erge vor ir heit.

tugenden wert, die sint erblant unde erwant unerkant. gar zertrant tnt die edelen schiltes rant, die da bosheit hant.

wol uf, reigen, jung unde alt, snewe sint versnalt.  werdu̍ jugent, du wesen salt froͤ iden balt. leit verschalt, trostes walt, sit verstossen unde vervalt  sint die rifen kalt.

schande hat uf minen eit wite sich zespreit. lu̍ tzel froͤ id mich heide breit unde ir kleit gruͤ n unde weit, swie sis sneit, sit die herren sint verzeit hu̍ r an miltekeit.

milte sich hinder kerge [ ] want birgt als ein vasant. eren veste sint verbrant, ir gewant stet verpfant. sit gemant, ir, die man bi tugent ie vant, mident schanden bant.

Das Lied des Kanzlers sticht bereits durch seine auffällige formale Gestaltung als Gattungshybrid hervor, was die differenzierte Analyse des Textes im Folgenden auch inhaltlich bestätigt.⁵⁷² Die hochartifizielle Strophenform verweist mit ihren auffällig kurzen Versen (zwei bis seltener vier Hebungen), der Auftaktlosigkeit⁵⁷³ und dem Spiel mit einem zwanzigfachen Tiradenreim, der Syntax und Semantik teils stark strapaziert, auf eine Gattungszugehörigkeit zum Minnesang.⁵⁷⁴ Denn gerade im Minnesang experimentiert der Kanzler mehrfach mit Binnen- und Schlagreimen,⁵⁷⁵ was in seiner Sangspruchdichtung durchweg unterbleibt. Zudem ist sein Minnesang regelhaft

 Vgl. Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 163; Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 180.  Während die Sangsprüche des Kanzlers regelmäßig Auftakt haben, sind seine Minnelieder vorwiegend auftaktlos.  Vgl. Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), bes. S. 156, 160, der darauf verweist, dass kurze Verse und besonders Reimspielereien im Minnesang weitaus häufiger sind als in der Sangspruchdichtung; die Kanzone mit Steg und drittem Stollen begegnet beim Kanzler allerdings in beiden Gattungen, er benutzt sie jedoch in fast allen Minneliedern (außer in Lied VI; in Lied VII ohne Steg; in Lied XV mit verkürztem drittem Stollen), aber wohl in der Nachfolge Konrads auch in zweien seiner vier Sangspruchtöne (Ton I und Goldener Ton [Ton II]), damit aber immerhin ‚nur‘ in knapp der Hälfte seiner Sangspruchstrophen.  Vgl. Lied X, XI, XIV; überhaupt haben die Minnesangstrophen des Kanzlers weniger verschiedene Reimklänge, als seine Sangspruchtöne, was natürlich auch durch die kürzeren Strophen im Minnesang bedingt ist.

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dreistrophig, wie auch das vorliegende Gebilde drei Strophen in einem Ton umfasst, in dem keine weiteren Strophen vorliegen.⁵⁷⁶ Ungewöhnlich für den Minnesang des Kanzlers ist dagegen die außergewöhnliche Länge der Strophe – mit zwanzig Versen die längste überhaupt in seinem Œuvre. Während seine Minnesangstrophen regelhaft um die zehn Verse umfassen,⁵⁷⁷ sind die Strophen der Sangspruchtöne mit bis zu neunzehn Versen vorwiegend länger, wie bei den meisten Autoren, die in beiden Gattungen produktiv sind.⁵⁷⁸ Insofern stellt die Versanzahl des Liedes es formal trotz der obengenannten Minnesangcharakteristika zugleich in die Gattungstradition des Sangspruchs, womit sich schon seine Hybridität andeutet. Thematisch aber wird das Spiel des Liedes mit der Gattungsgrenze zwischen Minnesang und Sangspruch – oder vielmehr die Tatsache, dass hier ein Sangspruch auf die Gattung des Minnesangs referiert – in der ersten Strophe noch nicht evident. Das Lied hebt mit einem Natureingang an, wodurch es sich klar in die Tradition des Minnesangs⁵⁷⁹ und ‚unverdächtig‘ neben die anderen Minnelieder des Kanzlers stellt, die regelhaft mit Natureingang beginnen.⁵⁸⁰ Dieser Natureingang beschreibt den Niedergang des leide[n] winter[s], der nun uswert bleiben müsse (V. 1 f.), also ausgeschlossen und gebannt ist. Im Bildfeld eines Machtkampfes heißt es, seine gewalt sei geschmälert und seine kraft habe bruch unde spalt zu erleiden, seine Mühle mahle nicht mehr (V. 3–6). Anklagend erinnert die Strophe an die vergangenen Untaten des Winters, unter denen die Vögel und der Wald zu leiden gehabt hätten (V. 7–9), wofür ihn spruch der werlte manigvalt gescholten

 Auch in der Sangspruchdichtung des Kanzlers begegnen vereinzelt Kopplungen von zwei bis drei Strophen, die von der Forschung als Bare aufgefasst werden (1Kanz/1/2 f.; 1Kanz/2/1–3; 1Kanz/2/10 f.; 1 Kanz/5/14–16); diese sind aber dann wiederum Teil vielstrophiger Töne.  Die längsten Minnesangstrophen des Kanzlers umfassen vierzehn Verse (etwa in Lied VII und XI, hier allerdings inklusive Refrain).  Die Strophen des Goldenen Tons (Ton II) umfassen 19 Verse, die von Ton I und Hofton I (Ton XVI) je 16. Eine Ausnahme in der Versanzahl bildet Ton III, der aber in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt: Die Strophen dieses Tones sind mit sieben Versen eher kurz, wobei die Verse mit sechs bis sieben Hebungen wiederum auffällig lang sind; zudem umfasst er nur vier Strophen, weswegen ihn z. B. Petzsch (Lied III des Kanzlers), bes. S. 406, als liedhafte Einheit deutet, vgl. dazu Kap. 2.3. Zur allgemeinen statistischen Nachweisbarkeit generischer Längenunterschiede bei den Tönen vgl. Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 154.  Zur Häufigkeit des Natureingangs im Minnesang besonders des 13. Jahrhunderts vgl. Eder (Natureingang); Katharina Philipowski: die werlt ist ûf den herbest komen. Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. In: Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa (Hg.): Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Berlin/Boston 2011, S. 85–119, bes. S. 92 f.  Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet Lied IV. Diese (einzige) Minneklage des Kanzlers weicht mit der Inszenierung eines affektiv betroffenen Ichs aber auch inhaltlich deutlich von den restlichen zehn Minneliedern des Kanzlers ab, die durchweg eine objektivierende Sprechsituation generieren und in Thematik und Aufbau sehr einheitlich sind (einem Natureingang folgt hier in der Regel ein Lobpreis der Liebe und/oder der Frauen).

2.4.2 Ton XIII, Strophe 2 – Minneklage als milte-Klage (1Kanz/4/2)

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hätten (V. 10 f.). Das Sänger-Ich unterstützt hier insofern seine persönliche Anklage, indem er den Unmut über die Tyrannei des Winters als einen allgemein geäußerten inszeniert. Der erste Vers des Abgesangs nu ist din runs verswalt (V. 12, ‚nun ist dein Quell aufgestaut‘/‚fließt nicht mehr‘) nimmt über das Bildfeld des Wassers und Fließens das einleitende Bild des zweiten Stollens wieder auf (din mu̍ l niht mer malt, V. 6) und verschränkt die Strophenteile damit. Im Folgenden wird diese Niederlage des Winters dem Sänger-Ich zum Anlass, jung unde alt zum reigen und die werdu̍ jugent zur froͤ ide[ ] aufzurufen (V. 13, 15 f.): Sie sollen leit vertreiben und Zuversicht haben, weil der Winter nun endgültig bezwungen ist (snewe sint versnalt [V. 14], verstossen unde vervalt/ sint die rifen kalt [V. 19 f.]).

2.4.2 Strophe 2 – Minneklage als milte-Klage (1Kanz/4/2) Die folgende Strophe schließt direkt an, indem das Sänger-Ich nun objektiv-distanziert die Freude diskutiert, welche die Liebe einer vorbildlichen jungen Frau für einen Mann bereithält: Jarlang sol er sin gemeit,/ swem ein meit/ minne treit,/ du̍ daz meit,/ dazs us zu̍ hten nie geschreit –/ froͤ id ist in bereit (V. 1–6).⁵⁸¹ Die Beschreibung dieser jungen Frau, nämlich dass sie us zu̍ hten nie geschreit (V. 5), alludiert dabei Reinmars überhobenen Frauenpreis (si ist an der stat,/ dâs ûz wîplîchen tugenden nie vuoz getrat, „Ich wirbe umbe alles, daz ein man“ [MF 159,1], V. 7 f.). Mit der Anspielung auf dieses Minnelied Reinmars, das aufgrund seiner breiten Rezeption als ausgesprochen prominent ausgewiesen ist,⁵⁸² betont das vorliegende Lied des Kanzlers erneut die Gattungstradition, in der es steht. Zugleich deutet sich darin eine Aktualisierung des Reinmarschen Minnekonzepts an. Denn dessen ‚Überlob‘ der Dame ist zugleich Ausdruck ihrer absoluten Unerreichbarkeit, während der Kanzler diese Formulierung nutzt, um eine vorbildliche Frau zu profilieren, die gerade nicht unerreichbar ist,

 KLD und LDM konjizieren in V. 6 zu froͤ id ist im bereit. Da hier aber ein Minnekonzept der Gegenseitigkeit entworfen wird (und zwar geradezu programmatisch s. u.), setze ich das in der Handschrift, weil ich meine, dass genau der Aspekt betont werden soll, dass beiden dadurch Freude zukommen möge.  Zur Rezeption dieses Liedes bei Heinrich von Morungen und Wolfram von Eschenbach sowie zu seiner Parodierung bei Walther vgl. Kap. 1.2.1. Auch Neidharts Winterlied R 46 (c 112) referiert – in spielerischer Verkehrung – auf diesen Frauenpreis Reinmars: wolt sie, das man sie lobte,/ sie wer an keusch, an tugenden stett,/ das uß eren nymer fuß getrette,/ und fure nicht als sam sie tobt (Str. 3, V. 7–10, zit. nach: Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler, Bd. 1: Neidhart-Lieder der Pergament-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Berlin/ New York 2007). Diese Neidhart-Strophe ist nur in der späten Hs. c überliefert (Staatsbibliothek Berlin mgf 779; 2. Hälfte 15. Jahrhundert), ihre Echtheit insofern zweifelhaft, was aber umso mehr eine anhaltende intertextuelle Rezeption dieses Reinmar-Liedes belegt.

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sondern dem Mann minne treit (V. 3).⁵⁸³ Er etabliert damit – wie auch sonst in seinem Minnesang⁵⁸⁴ – eine Liebeskonzeption der Gegenseitigkeit, die hier über den Verweis auf Reinmars Hohen Sang programmatisch wirkt. Statt des dominanten Leides bei Reinmar dominiert beim Kanzler die Freude, die eine solche Liebe jarlang verursacht, das heißt ‚jetzt, zu dieser Zeit des Jahres‘, in der sie sich ereignet, aber auch ‚das Jahr hindurch‘, also jahreszeitenunabhängig und damit ebenso auf Dauer gestellt wie der Schmerz im Hohen Minnesang. Im Rahmen dieser unterschwelligen Opposition verschiedener Liebeskonzepte eignet auch dem für die Minnelieder des Kanzlers typischen objektiv-autoritativen Sprechgestus eines nicht emotional affizierten Ichs etwas gewissermaßen Programmatisches.⁵⁸⁵ Der zweite Stollen scheint das nun aber radikal zu widerrufen, denn gänzlich unerwartet tritt hier plötzlich doch ein emotional affiziertes Sänger-Ich hervor, das im Gestus einer Minneklage konstatiert: seht, so duld ich arebeit/ unde leit (V. 7 f.). Das Ich zeichnet sich mithin – ganz Hoher Minnesang – als ein von Mühsal und Kummer gepeinigtes und stellt sich somit topisch in Opposition zur vordem aufgerufenen Freude der Natur und der übrigen Gesellschaft. Der folgende Vers scheint die in diesem Kontext erwartbare Anklage der sich entziehenden Dame vorzubereiten: sich entseit (V. 9). Genau hier jedoch bricht das Lied mit der sorgsam auf Minnesang hin eingestellten Erwartungshaltung des Rezipienten, denn was das Leid des Sänger-Ichs verursacht, ist keineswegs die unerfüllte Liebe zu einer abweisenden Dame, sondern dass sich entseit/ bi richheit/ milte gebennes (V. 9–11). Nicht mangelnde Gegenliebe, sondern mangelnde milte ist es, die den Schmerz des Sängers verschuldet.⁵⁸⁶ Mit

 Auch der in der Minnelyrik seit Neidhart allgemein häufige Begriff meit – statt vrouwe oder wîp wie im Hohen Minnesang – bekommt im Rahmen der Diskussion verschiedener Minnekonzepte eine programmatische Zusatzkonnotation, da er die Geliebte ebenfalls nahbarer erscheinen lässt.  Außer in Lied IV, vgl. S. 208, Anm. 580.  Zum objektiv-unbeteiligten Sprecher, vgl. Haustein (Gattungsinterferenz), S. 179; eine Ausnahme bildet auch in dieser Hinsicht Lied IV, vgl. S. 208, Anm. 580.  Hinsichtlich der Übersetzung nicht ganz klar ist der hier angedeutete Konnex von milte und erge (die Begriffe verweisen aber beide deutlich auf Sangspruchthematik): sich entseit/ bi richheit/ milte gebennes, underscheit/ erge vor ir heit (V. 9–12). KLD konjiziert erge zu kerge, was im Kontext (milte) plausibel ist, andererseits aber der dritten Strophe vorgriffe (milte sich hinter kerge want/ birgt als ein vasant, Str. 3, V. 13 f.) und vor allem nicht zwingend erforderlich scheint. Übersetzungsschwierigkeiten verursacht hier besonders die Mehrdeutigkeit von underscheit und heit. Ich möchte im folgenden einige Vorschläge zur Auflösung bieten (Plausibilität absteigend): 1. underscheit als Substantiv, heit als kontrahierte Form von haben, also etwa ‚Die Freigebigkeit versagt sich trotz Reichtums dem Geben, dieses Sich-Scheiden/‐Trennen [vom Geben] hat ihr die Bosheit voraus‘; 2. underscheit als Substantiv, heit als Form von heien: ‚Die Freigebigkeit versagt sich trotz Reichtums dem Geben, dieses SichScheiden [vom Geben] pflanzt (d. h. verursacht) die Bosheit für sie‘; so auch Kiepe/Willms, die dann – sehr glatt, aber auch sehr frei auflösen mit: „Mitten im Reichtum sagt sich die Freigebigkeit von dem los, was sie auszeichnete, vom Schenken. Statt ihrer gedeiht der Geiz“ (Epochen der deutschen Lyrik 1300–1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, hg. von Eva Willms, Hansjürgen Kiepe. München 1982, hier Bd. 2, S. 16); 3. underscheit als Verb, heit als Substantiv: ‚Die Freigebigkeit versagt sich trotz Reichtum dem Geben, erkenne (also) Bosheit als ihr (neues) Wesen.‘

2.4.2 Ton XIII, Strophe 2 – Minneklage als milte-Klage (1Kanz/4/2)

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diesem topischen Signalwort wechselt das betroffene Ich ins Gattungsregister des Sangspruchs, womit sich radikal eine Fahrendenklage Bahn bricht. Die Verweigerung der milte wird dabei als Signum einer aus den Fugen geratenden Welt interpretiert, in der sich allenthalben die schande verbreite (V. 13 f.). Betrachtet man die Gattungsreferenz als eine wechselseitige, verweist diese nun scheinbar eindeutig sangspruchdichterische Klage am Sich-Entziehen der milte zugleich wiederum auf den Minnesang zurück, kritisiert so auch die sich versagende Minnedame des Hohen Sangs und lanciert darüber erneut ein Minnekonzept der Gegenseitigkeit. In den folgenden Versen spielt das Sänger-Ich erneut mit Topoi der Minneklage: lu̍ tzel froͤ id mich heide breit/ unde ir kleit/ gruͤ n unde weit,/ swie sis sneit (V. 15–18). Konsequent invertiert es auch diesen Minneklage-Topos: Der Grund dafür, dass die Naturschönheit des Frühlings das Ich nicht erfreuen kann, wie wunderbar sie auch sein mag, ist nämlich nicht die unerfüllte Liebe, sondern dass die herren sint verzeit/ hu̍ r an miltekeit (V. 19 f.), also die Tatsache, dass die Herren dieses Jahr geizig sind. Dass die Frühlingsschönheit dabei über eine Kleidermetaphorik ausgedrückt wird (lu̍ tzel froͤ id mich heide breit/ unde ir kleit, V. 15 f.), ist fester Bestandteil des Natureingangsvokabulars im Minnesang.⁵⁸⁷ Vor dem Hintergrund der Transformation der Minneklage in eine Fahrendenklage entfaltet es aber ein weiteres Sinnpotenzial: Kleider sind eine typische Gabe für Sangspruchdichter. Dass die heide sich durch den Frühling gerade mit Kleidern überreich ausstattet, bereitet dem Sänger-Ich mithin nicht nur im übertragenen Sinne Kummer, weil er aufgrund seiner Notsituation an der freudebringenden Schönheit des Frühlings nicht teilhaben kann, sondern stellt diese Notsituation auch kontrastiv aus: Weil die Herren geizig sind, bekommt er – anders als die heide – keine neuen Kleider. Dass das Sänger-Ich in dieser Strophe verschiedene Minnekonzepte gegeneinander aushandelt, transportiert insofern eine Aussage für beide Gattungsfelder, denn das in dieser Strophe thematisierte Minnekonzept einer Gegenseitigkeit wird auch zur Folie für den Sangspruch: So wie die Dame für eine freudebringende Liebe dem Mann ebenfalls minne entgegenbringen muss, so steht es auch zwischen den herren und dem Dichter. Für eine gelingende ‚Beziehung‘ zwischen diesen muss der dargebotene Sang entlohnt werden. Die reziproke Freude, die dem Minner zu Beginn der zweiten Strophe in Aussicht gestellt wurde, gilt auch hier: Die Sänger schenken den herren Freude durch ihren Sang, die herren den Sängern wiederum durch ihre milte – und zwar jarlanc (das heißt hier ebenfalls: ‚jetzt‘, aber eben auch ‚das Jahr hindurch‘, Str. 2,V. 1). Die Strophe öffnet sich damit auf eine Diskussion um Entlohnungsansprüche von kunst.

 Vgl. dazu umfassend Eder (Natureingang), S. 99–128.

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2 Analysen

2.4.3 Strophe 3 – Zeitklage (1Kanz/4/3) Die letzte Strophe leitet der Begriff ‚schande‘ ein, der sich – gerade im Vortrag – auch noch assoziativ auf die abschließenden Verse der vorangehenden Strophe zurückbeziehen lässt (sit die herren sint verzeit/ hu̍ r an miltekeit, Str. 2., V. 19 f.). Die mangelnde Freigebigkeit der Herren wird damit rückwirkend als schändliches Fehlverhalten bewertet. Darin kündigt sich bereits der Wechsel des Sprechgestus von der Fahrenden-Rolle eines bedürftigen, affizierten Ichs zu einer autoritativ-überlegenen Rolle an, der sich in der dritten Strophe vollzieht: Das Sänger-Ich ermächtigt sich und erhebt sich vom Bittsteller zum Mahner. In einer drastischen Zeitklage schildert es die verheerenden Zustände in der Welt und wechselt damit endgültig in das Register der Sangspruchdichtung. Es beschreibt in einem düsteren Szenario der Zerstörung, wie die schande in die Länder einfalle, stark wie ein Elefant,⁵⁸⁸ das heißt übermächtig und riesenhaft, aber auch fremd (V. 1–4). Sie führe Fürsten bei der Hand, leitet sie also vertrauensvoll an und kontaminiere sie dadurch (V. 5 f.).⁵⁸⁹ Gerade die, welche die Welt ordnen müssten, die Herrschenden, sind es mithin, die nicht vorbildhaft handeln und ihrer Funktion nicht nachkommen. Das Sänger-Ich macht sie damit verantwortlich für den Weltverfall, dem entgegenzuwirken ihre Pflicht wäre. Die edle Vorbildlichkeit hat in einer solchen Welt keinen Ort mehr, sie muss geblendet und missachtet zurückstehen (V. 7–9). Die Bösen bekämpfen die Guten und das Gute, die sie in schwere Bedrängnis bringen: gar zertrant/ tnt die edelen schiltes rant,/ die da bosheit hant (V. 10–12), die Freigebigkeit verbirgt sich feige hinter dem Geiz wie ein gejagter Vogel: milte sich hinder kerge want/ birgt als ein vasant (V. 13 f.), das Ansehen ist heimat- und mittellos: eren veste sint verbrant,/ ir gewant/ stet verpfant (V. 15–17). In dieser fast apokalyptisch anmutenden Situation bleibt dem Sänger-Ich nur ein letzter warnender Appell an die verbleibenden Tugendfesten, sich vor den Fesseln der Schande zu schützen: sit gemant,/ ir, die man bi tugent ie vant,/ mident schanden bant (V. 18–20). Mit dieser Bildsprache von Feuer und Verwüstung steht die Strophe in krassem

 KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 259, verweist für den „starken Elefant“ auf den Physiologus. Die Kraft des Elefanten thematisiert allerdings nur der griechische Physiologus, in der deutschen Tradition dagegen wird sie nicht erwähnt, vgl. Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Christian Schröder. Würzburg 2005, hier Kommentar, S. 209.  Für dieses Moment der Verführung und Korruption böte die Auslegung des Elefanten als Teufel in der (später zu datierenden) mitteldeutschen Hiobsdichtung eine fruchtbare Zusatzkonnotation (Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob. Aus Handschriften des königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. von Torsten E. Karsten. Berlin 1910). Berichtet wird dort außerdem ebenfalls von der großen Stärke des Elefanten (V. 14740–14799). Es handelt sich bei diesem Text um eine interpretierende Paraphrase von Hiob 40,15–24, die den Behemoth als Elefant auffasst, vgl. Schröder (Millstätter Physiologus, Kommentar), S. 216; diese Deutschordensdichtung datiert allerdings nach Angabe des Verfassers erst auf 1338, vgl. Achim Masser: [Art.] Hiob. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 45–47; zur Gleichsetzung von Behemoth und Elefant vgl. auch Oskar Rühle: [Art.] Behemoth. In: HdA, Bd. 1, Sp. 1002.

2.4.4 Ton XIII: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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Kontrast zur zuvor aufgerufenen Pracht des Frühlings und vernichtet die geschilderte Naturschönheit gewissermaßen performativ. Trotz aller Sangspruch-Charakteristika, welche die letzte Strophe eindeutig in dieser Gattung verorten, spielt der Kanzler hier aber zugleich weiterhin mit Allusionen an den Minnesang. So erscheint das Bild der Schande, welche die Fürsten an der Hand führt, wie ein negatives Zerrbild des Tanzes, zu dem das Sänger-Ich eingangs Jung und Alt aufgerufen hatte, und einige der Reimwörter dieser Strophe sind topisch im Minnediskurs des Hohen Sangs: Das Blenden (erblant, V. 7), Brennen (verbrant, V. 15) und Binden (bant, V. 20) haben dort einen festen Platz in der Darstellung der übermächtigen minne, die den Betroffenen zu fesseln, zu entflammen und seines Sehvermögens zu berauben vermag. Auffällig ist an der Häufung dieser Reimwörter zudem, dass sie fast identisch in einer Minnesang-Strophe Heinrichs von Morungen begegnen, nämlich: (ge)sant, gepfant, lant, verbrant, (ze)hant, bant, erblant („Ich hôrte ûf der heide“ [MF 139,19], Str. 3). Morungens Lied zeichnet sich dabei übrigens ebenfalls durch eine hochartifizielle Reimstruktur mit insgesamt nur zwei verschiedenen Reimklängen pro Strophe aus. Die klangliche Anspielung jener einprägsamen Reime bindet die Strophe des Kanzlers damit assoziativ an den Minnesang zurück. Über diese verschiedenen Minnesang-Allusionen bleibt somit auch die letzte Strophe des Liedes spielerisch in der Schwebe zwischen den Gattungen, obwohl sie thematisch vollständig ins Register des Sangspruchs wechselt.

2.4.4 Ton XIII: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander Hinsichtlich des Spiels mit einer Systemreferenz des Sangspruchs auf den Minnesang ist aber vor allem die zweite Strophe des Liedes interessant, weil sich dort der Registerwechsel vollzieht. Vorerst konstatiert das Sänger-Ich hier – wie gesagt –, dass Freude dem zukomme, den eine vorbildliche Frau liebe. Damit kontrastiert es im Folgenden seine eigene leidvolle Situation: seht, so duld ich arebeit/ unde leit, ‚seht, ich dagegen‘ (1Kanz/4/2, V. 7 f.), stellt sich also topisch in emotionale Opposition zum glücklich Minnenden. Die Referenz auf den Minnesang überträgt dessen Grundkonstellation auf die nachfolgende Fahrendenklage: Das Leiden des Sängers wird durch die personifizierte Milte ausgelöst, sie ist es, die dem Sänger-Ich Kummer bereitet und insofern das tut, was in der Minneklage die Dame tut. Nach der Logik der Minneklage rückt sie insofern im übertragenen Sinne an die Position der Geliebten des SängerIchs. Über die Gattungsreferenz auf den Minnesang wird also das Verhältnis von Sänger-Ich und Milte mit dem von Minner und Dame parallelisiert. Damit überträgt sich auch die Idee des minnetypischen dienst-lôn-Mechanismus auf das Verhältnis von Sänger-Ich und Milte: Der Sänger dient im Singen, doch die Milte entseit sich

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2 Analysen

gebennes bi richheit (V. 9–11), verwehrt also, obwohl sie vermögend ist, die Gabe, den lôn, auf den der Sänger durch seinen dienst Anspruch hat.⁵⁹⁰ Gerade vor dem Hintergrund des eingangs etablierten Minnekonzepts einer Gegenseitigkeit der Liebe und Freude wird dieser Anspruch deutlich. Wie die Dame sich durch vorbildliches Verhalten auszeichnen und dem Minner Liebe entgegenbringen soll, so soll es auch die Milte tun, doch die erfüllt diese notwendigen Anforderungen nicht. Sie ist dem Ich gegenüber nicht freundlich eingestellt und hat den Pfad vorbildlichen Verhaltens ausdrücklich verlassen. Dass sie die Gabe verweigert, rückt sie in die Nähe der erge. ⁵⁹¹ Die letzten Verse der zweiten Strophe machen dann die Beziehung zwischen milte und herren transparent – die herren sint verzeit/ […] an miltekeit –, wodurch die vorherige Anklage der Milte sich als Herrenschelte entpuppt. Dass das begonnene Minnelied in der zweiten Strophe durch eine sangspruchdichterische Anklage der Milte abgebrochen wird, ließe sich gerade im Kontext der Gattungsüberblendungen vielleicht auch als performatives Spiel mit einer minnesangtypischen dienst-Aufkündigung des Sängers gegenüber der Milte beziehungsweise den herren verstehen: Das Sänger-Ich beginnt ein Minnelied zu singen, um die Freude der Gesellschaft zu mehren (Tanzaufforderung!), bricht diesen dienst dann aber plötzlich zugunsten einer Anklage der Milte, respektive der herren ab und verweigert ihnen so den gesellschaftsbeglückenden Freudensang, weil sie nicht lônen. ⁵⁹²

2.4.5 Ton XIII: Einzeltextreferenz Dieses Sangspruch-Lied des Kanzlers referiert aber nicht nur auf eine Gattung, sondern auch auf einen spezifischen Einzeltext, nämlich Konrads von Würzburg Lied XXIII (1KonrW/3/1–3).⁵⁹³

 Damit entsteht gewissermaßen ein Widerspruch in sich, weil die Milte, die nicht gibt, keine Milte ist, so wie die Minnedame, die nicht liebt, keine Minnedame ist (nach dem Kanzlerschen Konzept einer Gegenseitigkeit).  Die letzte Strophe des Liedes greift dieses artwidrige Verhalten der personifizierten Milte mit dem Vorwurf, sie verstecke sich hinter der Wand des Geizes wie ein Fasan, erneut auf (1Kanz/4/3, V. 13 f.).  Vgl. zu dieser Argumentationsstrategie auch 1WaltV/8/8 (L. 28,1); ähnliches wie hier für den Kanzler zu beobachten ist, konstatiert Hübner für Konrads Lied XXIII (1KonrW/3/1– 3), den Prätext des Kanzlers. Er spricht dabei zwar nicht von einer Dienstaufkündigungs-Drohung, paraphrasiert als Konrads implizite Aussage aber „Minnesang gibt es erst wieder, wenn die Moral der Mäzene – und mit ihr die Kasse – stimmt“, vgl. Gert Hübner: Versuch über Konrad von Würzburg als Minnelyriker. In: Stephan Füssel, Gert Hübner, Joachim Knape (Hg.): Artibvs. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1994, S. 63–94, hier S. 65; vgl. auch Klein (Minnesang), S. 131.  Hier und im Folgenden zit. nach LDM.

2.4.5 Ton XIII: Einzeltextreferenz

C KonrW 

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C KonrW 

C KonrW 

Jarlanc treit heide breit manige not unde arebeit. si was ane leit,  do si froͤ ide erstreit unde rosen willeklichen bar.

Herze min, vogellin unde glanze rosen fin, la nu dulten[ ] pin unde klage din selbes truren michel unde stark.

Schanden gran unde ir zan missezierent richen man, dem ich wirde erban unde im lobes niht gan, dur daz ie sin herze tugende verswr.

gruͤ ne kleit unde weit ir der liehte sumer sneit  ane kunterfeit. die sint nu verseit ir von schedelicher noͤ te gar.

tugende schrin umbe den Rin stet vor dir beslossen in – des torre unde swin! ku̍ nig Salatin gab durh ere wilent manige mark;

eren van von im dan snurret wîsser danne ein swan. er ist milte wan, du̍ von im entran unde z den tugentrichen fr.

si ms horden leides orden,

nu wil schande in maniger hande lande vollekomen sin ku̍ nigin. eren schin blîchet als ein baldegin,

im ze rate gar ze spate

worden ist ir huͤ bescheit  unbereit, wan si sneit rife durh die werdekeit,

daz man in vermeit daz vernezet win. unde maniger streit tugende widergrin  nah ir blmen wunneklich worden ist nu manic herren gevar. karc.

krate des gelu̍ kes han, sit im kan haften an git, der sich nie tugende versan. sit im zerran, da du̍ selde span siner eweklichen wu̍ nne snr.

Schon die formale Gestaltung macht die Referenz deutlich:⁵⁹⁴ Auch Konrads Lied beziehungsweise Ton hat drei Strophen,⁵⁹⁵ die ebenfalls aus zwanzig vorwiegend kurzen Versen mit Tiradenreim bestehen.⁵⁹⁶ Dieser reimt bei Konrad allerdings ‚nur‘ sechzehnfach, kunstvoll unterbrochen vom abweichenden Reimklang der untereinander gereimten Stollenschlussverse und einem binnengereimten Steg.⁵⁹⁷ Indem der Kanzler die charakteristische Häufung gleicher Reime von Konrad übernimmt, markiert er

 Die Nähe der formalen Gestaltung regt Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 164, dazu an, von „Intertonalität“ zu sprechen.  Das generiert auch bei Konrad eine Nähe zu seinem Minnesang, der ebenfalls fast durchweg dreistrophig ist (davon weichen unter seinen 23 Minneliedern nur vier ab, von denen drei zweistrophig [XXII, XVI, XVIII] überliefert sind und eines einstrophig [XXX]).  Auch bei Konrad sind derart lange Strophen im Minnesang nicht der Regelfall (schon gar nicht in den Winterliedern), jedoch übertrifft sein Tagelied XV mit 22 Versen (und 90 Takten) das vorliegende noch; vgl. dazu auch Brunner (Formgeschichte), S. 78 f.  Brunner (Formgeschichte), S. 78 f., verweist hier allerdings darauf, dass derartige Reimkunststücke gerade in den Winterliedern Konrads eher nicht üblich sind; zudem beginnt der Steg mit einer langen Zeile, was für mehrere der Spruchtöne Konrads ein typisches Merkmal ist, nicht für seine Minnelieder. Auffälligerweise ist diese Stegzeile in der Kanzlerschen ‚Version‘ gekürzt und weicht damit formal nicht von der Gestalt seiner Minnelieder ab.

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seine Einzeltextreferenz. Dass er den Tiradenreim darüber hinaus auf alle zwanzig Verse ausweitet, zeigt eine Überbietungsabsicht an.⁵⁹⁸ Neben der formalen übernimmt der Kanzler auch die inhaltliche Konzeption der Strophen von Konrad, nämlich das Umschlagen eines scheinbaren Minnelieds in eine Sangspruchklage. Konrad beginnt allerdings mit einem Wintereingang, der mit der für ihn typischen jarlanc-Formel einsetzt. Die Schrecken der kalten Jahreszeit vergegenwärtigt er topisch über eine Erinnerung an die verlorene Schönheit des vergangenen Sommers.⁵⁹⁹ Er verbildlicht diese über eine Kleidermetaphorik – heide breit/ […]/ gruͤ ne kleit/ unde weit/ ir der liehte sumer sneit (1KonrW/3/1, V. 2–9) –, die der Kanzler fast wörtlich übernimmt (heide breit/ unde ir kleit/ gruͤ n unde weit,/ swie sis sneit, 1Kanz/4/2, V. 15–18). Beim Kanzler steht diese Metapher jedoch in der zweiten Strophe und bereits eindeutig unter dem Vorzeichen des Sangspruchs, was ihr – wie bereits dargelegt – eine neue sangspruchdichterische Sinndimension gibt. In Konrads Natureingang dagegen wirkt sie auf den ersten Blick unauffällig minnesangkonform. Allerdings wird der Natureingang bei Konrad dadurch, dass er den Winter für den Verlust der ‚Höfischkeit‘ der Heide verantwortlich macht (worden ist ir huͤ bescheit/ unbereit, V. 14 f.), rückblickend durchlässig auf eine allegorische Lesart im Sinne einer (sangspruchhaften) Zeitklage über den allgemeinen Verfall der Werte. Die zweite Strophe eröffnet bei Konrad dann sogleich ein leidendes – und damit scheinbar minnendes – Ich: Herze min,/ […] klage din/ selbes truren michel unde stark (1KonrW/3/2, V. 1–6). Anders als beim Kanzler ist dieses affizierte ‚Ich‘ im Rahmen des Konradschen Minnesangs allerdings nicht überraschend, vielmehr im Rahmen seiner Winterlieder genau an dieser Stelle erwartbar und scheint damit die Gattungsidentität des Liedes als Minnesang weiter zu bestätigen.⁶⁰⁰ Gattungsspezifisch ambivalent jedoch scheint der folgende, etwas dunkle passus, in dem das Sänger-Ich beklagt, sein Herz müsse verdorren und dahinschwinden, weil der Schrein der tugenden verschlossen sei (tugende schrin/ umbe den Rin/ stet vor dir beslossen in –/ des torre unde swin, V. 7–10). Dass die Vorbildlichkeit fortgesperrt und unzugänglich ist, könnte die Anklage einer hartherzigen Dame ankündigen, rückblickend bereitet es aber deutlich das Umschlagen in die folgende Sangspruchklage vor. Diese bricht sich in den anschließenden Versen Bahn, wenn Konrad in einer laudatio temporis acti Saladin als exemplum vergangener Freigebigkeit beschwört, der durh ere wilent manige mark gegeben habe (1KonrW/3/2, V. 11 f.). Damit steht der ausgebende, auf sein Ansehen bedachte Sultan dem verschlossenen deutschen Schrein, der nichts gibt, aus dem keine tugent hervordringt, kontrastiv gegenüber. Im Gegensatz zum Kanzler hebt Konrad

 Vgl. auch Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 164; Brunner (Formgeschichte), S. 83.  Diese Inszenierung des Winters lässt sich sowohl in den zehn Winterliedern Konrads (IV,V,VII, XI, XII, XIII, XVII, XXV), als auch in den vieren des Kanzlers (VI, VIII, X, XIV) beobachten.  Vgl. Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 163; Jens Haustein: Grenzgänger. Formexperimente in der Sangspruchdichtung des Marner, Konrads von Würzburg und Frauenlobs. In: Gert Hübner, Dorothea Klein (Hg.): Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November. Hildesheim 2015, S. 248 – 262, hier S. 254 f.

2.4.5 Ton XIII: Einzeltextreferenz

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vordergründig auf die Begriffe der tugent und êre ab, die aber auch bei ihm deutlich mit der beim Kanzler zentralen milte korrelieren. Der Rekurs auf Saladin lässt sich als Einzeltextreferenz verstehen, nämlich auf Walthers „Philippschelte“, die den Sultan (und Richard Löwenherz⁶⁰¹) ebenfalls als Exempel der milte funktionalisiert (1WaltV/6/3 [L. 19,17]). Die Forschung betrachtet es dabei meist als Provokation, dass Walther dem Stauferkönig ausgerechnet zwei seiner politischen Gegner als Exempelfiguren vorhalte.⁶⁰² Die Strophe Konrads zeigt, dass die Sangspruchdichtung Saladin jedoch – zumindest in der Nachfolge – ganz unproblematisch als Exempelfigur der milte übernimmt.⁶⁰³ Auch die Behauptung, dass die Freigebigkeit Saladins strategisch sei (gab durh ere, 1KonrW/3/2, V. 12), übernimmt Konrad von Walther, denn bei Walther heißt es: denke an den milten Salatîn/ der jach, daz küniges hende dürkel solten sîn,/ sô wurden sî erforht und ouch geminnet (V. 7–9, zit. nach Schweikle, Herv. d.Verf.). Überhaupt steht im Fokus der Waltherschen Strophe die Idee, dass der milte ein funktionalisierbares Potential innewohnt: Philippes künig […] dir ist niht kunt,/ wie man mit gâbe erwirbet prîs und êre, V. 1–6. Kontrovers wird in der Forschung diskutiert, was genau Walther hier an König Philipp kritisiere, worin dessen Defizit beim Geben bestehe.⁶⁰⁴ Ortmann und Schweikle verstehen es als ein Ethisches: Philipp sei nicht dankes, also ‚aus freien Stücken‘, milte. Sie werten die Strophe folglich als drastische Schelte seines Geizes.⁶⁰⁵ Bulang verweist allerdings auf interpretatorische Widersprüche dieser Deutung im Kontext der Strophe. Er fasst dankes milte daher nach BMZ als ‚mit gehöriger Überlegung freigebig‘⁶⁰⁶ auf und sieht das Sprecher-Ich damit in einer Ratgeberrolle, aus der heraus es dem Fürsten klug einen (politisch)

 Über diesen heißt es, dass man ihn wegen seiner milte teuer freigekauft habe (V. 10 f.). Walther spielt damit auf die Gefangennahme Richard Löwenherz’ nach dem 3. Kreuzzug und das immense erpresste Lösegeld an, vgl. Tobias Bulang: Die Praxis der Interpretation mittelalterlicher deutscher Texte und die Geschichte der Interpretation – am Beispiel Walthers von der Vogelweide (L 19,17). In: Andrea Albrecht u. a. (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin/Boston 2015, S. 205–235, hier S. 230.  Saladin wird dabei als Feind der Christenheit und mitschuldig an Friedrich Barbarossas Tod interpretiert. Richard Löwenherz steht zum einen als Unterstützer Ottos IV. im Thronstreit nicht auf staufischer Seite, zum anderen war seine Gefangennahme durch die staufische Partei ein rechtswidriger Akt, den zu thematisieren als provokativ gewertet wird, vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 354, zu einer differenzierten Darlegung dieser Positionen vgl. Bulang (Praxis der Interpretation), bes. S. 219–222, 229, der dieser Deutung stichhaltig widerspricht; vgl. ebd. S. 222–234.  Vgl. 1FriSo/2/1; 1Wern/1/21 sowie den Tannhäuser, hier allerdings in einem Lied (Siebert V); vgl. dazu auch Klein (Ethik und Pragmatik), S. 237.  Philippes künig die nâhe spehenden zîhent dich,/ dun sîst niht dankes milte, des bedunket mich,/ wie dû dâ mite verliesest michels mêre./ dû möhtest gerner dankes geben tûsent pfunt/ danne drîzec tûsent âne danc. dir ist niht kunt,/ wie man mit gâbe erwirbet prîs und êre, V. 1–6.  Vgl. Christa Ortmann: Der Spruchdichter am Hof. Zur Funktion der Walther-Rolle in Sangsprüchen mit milte-Thematik. In: Jan-Dirk Müller, Franz Josef Worstbrock (Hg.): Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Bock. Stuttgart 1989, hier S. 29; zudem Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 354.  BMZ, Bd. 1, Sp. 351b.

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sinnvollen Umgang mit Ressourcen (gâbe) empfiehlt.⁶⁰⁷ Möglicherweise ist die Polysemie des Begriffes dankes, die diesen verschiedenen Interpretationen zugrunde liegt, aber bei Walther auch gerade kalkuliert und er nutzt sie spielerisch.⁶⁰⁸ Entsprechend verschränken sich auch in Konrads Referenz diese beiden Aspekte gewissermaßen. Dass Konrad Saladin als Exempel kalkulierter milte ausstellt, wird durch den Prätext Walthers, der ja gerade den Sinn und das (auch politische) Potenzial einer solchen milte hervorhebt, verstärkt und präzisiert. Zugleich wird das Exempel durch den Prätext Walthers auch zu einem unterschwelligen Rat. Unübersehbar ist aber die vordergründige Ethisierung des Diskurses bei Konrad, denn Saladin gibt hier nicht, um geforht und geminnet zu werden, wie bei Walther, sondern um seiner ere willen, und steht damit bei Konrad in Opposition zu den geizigen Herren, die er als tugende widergrin bezeichnet (1KonrW/3/2, V. 19 f.). Dass Konrad gerade dort auf Walther referiert, wo er sein vermeintliches Minnelied in eine Sangspruch(an‐)klage überführt, betont den Gattungswechsel auch auf generischer Ebene, da die Referenz auf eine Sangspruchstrophe ein Gattungswissen aktiviert und es in die scheinbare Minneklage hineinholt.⁶⁰⁹ Mit der Referenz auf Walther übernimmt das Sänger-Ich zudem dessen autoritative Sprechhaltung und wird vom machtlosen, leidenden Minner-Ich zum selbstbewusst konstatierenden Sangspruch-Ich. Als solches stellt Konrad Saladin, dem Exponenten eines vergangenen Glanzes, nun ein korrumpiertes ‚heute‘ entgegen. Während der Sultan seine ere zu mehren be-

 Vgl. Bulang (Praxis der Interpretation), S. 225 f.  Paraphrasiert etwa folgendermaßen: ‚Philipp, die, die genau hinsehen, beschuldigen Dich, dass du nicht freiwillig (dankes) freigebig seist. Aus diesem Grund (weil den Aufmerksamen, den Klugen, auffällt, dass du nicht geben willst) verlierst du allerdings viel mehr (nämlich dein Ansehen). Insofern solltest du lieber aus gründlicher Überlegung und freiwillig (dankes) 1000 Mark geben (an der richtigen Stelle freiwillig verausgaben, so dass diese Menschen das nicht mehr sagen – und das heißt: das Geld in dein [politisches] Ansehen investieren), als 30 000 unfreiwillig. Die Art, wie Du gibst (nämlich unüberlegt und unfreiwillig), bringt kein Lobpreis und Ansehen, du musst klug investieren (und das heißt also auch: Den Richtigen geben [worin sich übrigens auch eine Heische manifestiert]). Schau Dir den freigebigen Saladin an, der hat aus sinnvoller Berechnung gegeben, nämlich weil er wusste, dass man dadurch gefürchtet und geliebt wird. Und der Sinn eines solchen Verhaltens zeigt sich beispielsweise auch an Richard Löwenherz, den man so teuer ausgelöst hat (darin bestätigt sich Saladins Diktum, denn diese Lösegeldsumme zeigt, dass man ihn wegen seiner milte gefürchtet und geliebt hat). Der eine Schaden – nämlich zu geben, auch wenn man es eigentlich nicht will – bringt insofern zwei Nutzen: Wer klug investiert, muss weniger geben (nämlich 1000 Mark statt 30 000) und erwirbt dadurch prîs und êre. Zu erwägen wäre, ob sich Löwenherz auch als Negativexempel verstehen ließe: Der war zwar freigebig, aber an der falschen Stelle, nämlich gegenüber Philipps Gegner Otto, deswegen musste er sich aus staufischer Gefangenschaft für ein Lösegeld freikaufen lassen, das finanziell verheerend für sein Reich war.  Zu berücksichtigen wäre an dieser Stelle zudem, dass Walther selbst mehrfach in Sangspruchstrophen auffällig mit der „Umsemantisierung traditioneller Frauenpreismotivik“ und anderer Minnesangtopoi spielt, vgl. Klein (Minnesang), S. 132. Konrads Referenz auf Walther ließe sich an gerade dieser Stelle des Liedes mithin auch als Huldigung und einen Verweis auf dieses von ihm ebenfalls angewendete poetische Verfahren verstehen.

2.4.5 Ton XIII: Einzeltextreferenz

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strebt war, will heute die schande Königin aller Länder sein, keiner bemüht sich also mehr um sein Ansehen. Der Glanz der ere ist verdorben (1KonrW/3/2, V. 16–18). Die Schande, die deutlich mit Geiz korreliert erscheint (1KonrW/3/2,V. 19 f.; 1KonrW/3/3,V. 1; 10), entstellt die reichen herren, weswegen das Sänger-Ich ihnen die Würde neidet und keinen Lobpreis gönnt (Schanden gran/ unde ir zan/ missezierent richen man,/ dem ich wirde erban/ unde im lobes niht gan, 1KonrW/3/3, V. 1–5). Damit berührt Konrad den schon im Saladin-Exempel angedeuteten Aspekt des guot umbe êre-Nehmens (oder dort vielmehr eines êre umbe guot-Gebens) und weist ex negativo die Verbreitung des Ansehens als sangspruchdichterische Fähigkeit und Aufgabe aus. Das Exempel Saladin stellt diese panegyrische Macht performativ aus, denn durch dessen Lobpreis, der ihm ausschließlich aufgrund seiner geradezu sprichwörtlichen milte zuteilwird, mehrt das Konradsche Sänger-Ich noch immer die ere des längst Verstorbenen. Im Abgesang der letzten Strophe spitzt Konrad seine Schelte noch über das Innerweltliche hinaus zu, denn der Zuchtlose hat nicht nur diesseitige schande zu fürchten, sondern sein Verhalten gefährdet auch seine ewekliche wu̍ nne (im ze rate gar ze spate/ krate des gelu̍ kes han,/ sit im kan/ haften an/ git, der sich nie tugende versan./ sit im zerran,/ da du̍ selde span/ siner eweklichen wu̍ nne snr, 1KonrW/3/3,V. 13–20). Der Mangel an Tugenden und der damit korrelierende Geiz werden als Weg in die ewige Verdammnis ausgewiesen, womit sich die Schelte letztlich auf eine Heilssorge-Thematik hin öffnet. Mit Walthers Strophe als Anspielungshorizont im Hintergrund ließe sich das assoziativ als Reflex auf dessen Pointe beziehen, wo es über das Geben heißt, ein schade ist guot, der zwêne frumen gewinnet (1WaltV/6/3 [L. 19,17], V. 12). Was bei Walther allerdings als ökonomisch-politisches Heil gedacht ist, wird bei Konrad zu einem persönlichen und transzendenten. Denn der scheinbare Verlust (schade) der gâbe führt zum doppelten Nutzen innerweltlicher êre und jenseitiger wunne. Wie dieser Durchgang durch Konrads Lied zeigt, ist das Spiel mit den Gattungsgrenzen, das beim Kanzler zu beobachten war, hier in fast allen seinen Facetten bereits vorgeprägt. Auf das Liedganze gesehen funktioniert die Gattungsreferenz aber doch etwas anders. Bei Konrad nämlich erscheint das Lied gewissermaßen nur vorerst als Minnelied, lässt sich für den wissenden Rezipienten im Rückblick aber als konsequente Sangspruchklage lesen, die sich Topoi der Minneklage borgt. Das spiegelt sich formal auch darin, dass der Ton eine geringere formale Mimikry betreibt als beim Kanzler.⁶¹⁰ Die Pointe liegt insofern gerade darin, dass der Rezipient, sobald er die ‚eigentliche‘ Gattung des Liedes versteht, erkennt, dass sich die Topoi der Minneklage rückblickend konsequent als ambivalent erweisen, nämlich von Anfang an auch als sangspruchdichterische Zeitklage lesen lassen. Die Referenz auf die Minneklage leistet dabei zweierlei: Zum einen verbildlicht sie eine als existenziell empfundene Intensität des Schmerzes, den das Sangspruch-Ich durch den Verfall der Wertewelt erlebt, zum anderen führt das Lied vor, dass in einer derart aus den Fugen geratenen Welt kein Platz

 Vgl. S. 215, Anm. 597; zur Bezeichnung der Minnesangform als „Mimikry“ in diesem Kontext, vgl. Rettelbach (Minnelied und Sangspruch), S. 163.

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für Kunstformen wie den Minnesang mehr ist, sondern nurmehr für Klage und Schelte. Wie beim Kanzler steht hinter dieser Klage freilich die unausgesprochene Verheißung, dass das Sänger-Ich wieder zurück ins Register des Minnesangs wechseln könnte, sobald die Herren sich wieder vorbildlich verhielten, also sich bereit zeigten zu lohnen.⁶¹¹ Der Kanzler dagegen stellt über die Gattungsreferenz den Minnesang und Sangspruch eher in Opposition zueinander. Hier ist und bleibt der Liedeingang Minnesang, der beim Kanzler aber eigentlich Freudensang sein soll. Daher steht ihm das trauernde Sangspruch-Ich – in Anbetracht des beklagenswerten Weltzustandes – ausgeschlossen gegenüber. Zugleich werden die Gattungen konsequent durch alle drei Strophen hindurch verschränkt, überblenden sich gegenseitig und erschaffen neue Deutungsperspektiven, die sich letztlich gerade nicht in eine ‚einsinnige‘ Interpretation fügen. Damit eignet der Einzeltextreferenz des Kanzlers auf Konrad eine gewisse Überbietungsabsicht, wie schon seine formale Gestaltung des Tones andeutet. Ich möchte im Folgenden noch an einigen Detailbeobachtungen genauer darauf eingehen, wie die intertextuellen Bezugnahmen des Kanzlers auf Konrads Lied gemacht sind, nicht zuletzt, weil die Eindeutigkeit und der Umfang dieser Einzeltextreferenz auf Konrad singulär im Kanzlerschen Œuvre sind.⁶¹² Der Fall ermöglicht es insofern, intertextuelle Rezeptionsstrategien des Kanzlers (oder gar mittelalterlicher Dichter im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts) zu analysieren. Dieser Fall belegt einige Vermutungen, die in Kap. 1.2 zu intertextuellen Referenzen in der Sangspruchdichtung angestellt wurden, etwa, dass sie selten explizit markiert sind oder umfangreichere wörtliche Zitate beinhalten. So nennt auch der Kanzler Konrad hier weder namentlich noch gibt er ein längeres einschlägiges Zitat aus diesem Prätext. Eine implizite Markierung dagegen lässt sich durchaus behaupten, nämlich die Übernahme der auffälligen formalen Gestaltung, besonders was das Reimschema angeht. Zudem wird eine Formulierung des Kanzlers vor dem Hintergrund dieser intensiven intertextuellen Referenz auf Konrad hintersinnig, nämlich wenn sein SängerIch dem Winter vorwirft, dass ihn für seine Untaten schalt/ spruch der werlte manigvalt (1Kanz/4/1, V. 10 f.). Vordergründig ist das eine Berufung auf die anklagende Rede aller werlte, die der Position des ‚Ich‘ Allgemeingültigkeit sichert. Als rhetorische Strategie ist das ähnlich schon bei Konrad angelegt (dort heißt es ‚man‘, also jeder, meide den Reif, weil er die Heide ihrer Höfischkeit beraubt habe [1KonrW/3/1, V. 16–18] und dass maniger streit/ nah ir blmen wunneklich gevar, 1KonrW/3/1, V. 19 f.). Die spruch (der werlte) lassen sich beim Kanzler aber gerade im vorliegenden Kontext auch als po-

 Vgl. dazu auch Haustein (Grenzgänger), S. 255; Hübner (Konrad von Würzburg), S. 65; Klein (Minnesang), S. 131.  Abgesehen vielleicht von Lied XIV des Kanzlers, das in seiner (Schlag‐)Reimstruktur auf Konrads Lied XXVI verweist (vgl. Krieger, S. 39 [Anm. 31], 76; KLD, Bd. 2 [Kommentar], S. 260), dabei aber weniger inhaltliche Parallelen herstellt.

2.4.5 Ton XIII: Einzeltextreferenz

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etologischer terminus lesen.⁶¹³ Damit markiert der Begriff implizit eine intertextuelle Referenz, verweist nämlich auf andere vorgängige Texte, die den Winter schelten, also die Natureingänge anderer Dichter – und in diesem Fall zugleich ganz konkret Konrads Wintereingang in Lied XXIII sowie die vorliegende Referenz darauf. Die Strophen des Kanzlers durchzieht darüber hinaus bis ins Detail ein dichtes Geflecht von Bezugnahmen auf Konrads Lied. Diese manifestieren sich in argumentativen Versatzstücken, Motiven, Wendungen und zentralen Begriffen, die bisweilen einfach übernommen (affirmativ), teilweise aber auch zugespitzt, überboten oder spielerisch verkehrt werden. Ich möchte das im Folgenden schlaglichtartig zeigen. Wie bereits dargelegt, leitet der Kanzler das Lied wie Konrad als scheinbares Minnelied mit einem Natureingang ein, verkehrt aber Konrads Wintereingang zu einem Sommereingang. Das verschleiert er jedoch vorerst spielerisch mit dem einleitenden Vers: Leider winter ungestalt (1Kanz/4/1, V. 1),⁶¹⁴ von dem ausgehend er im Folgenden den Sommer gewissermaßen ex negativo schildert, nämlich über die Beschreibung der nun bezwungenen Schrecken des Winters. Damit nimmt er die Faktur des Konradschen Wintereingangs auf, welcher ebenfalls nicht die aktuelle Jahreszeit beschreibt, den Winter, sondern die verlorene Schönheit des Sommers. Der Kanzler verkehrt insofern spielerisch seinen Prätext und markiert zugleich seine Autorschaft, denn während in Konrads Sommereingängen der Winter kaum je mehr als genannt wird, nutzt der Kanzlersche Minnesang auch in anderen Liedern häufig den Kontrast der Jahreszeiten, um sie darzustellen.⁶¹⁵ Zudem überbietet der Sommereingang des Kanzlers den Prätext Konrads gewissermaßen, weil er den Kontrast zum leidenden Ich verschärft. Allein steht es der allgemeinen Freude gegenüber. Wo nicht einmal mehr die Natur mit seiner Affektlage korrespondiert, wird seine Vereinzelung absolut. Zugleich spielt der Sommereingang noch deutlicher mit der Erwartungshaltung der Rezipienten, denn sowohl beim Kanzler als auch bei Konrad korrespondiert er (eigentlich) regelhaft mit unpersönlichem Freudensang. Insofern verstärkt der Kanzler damit den Überraschungseffekt des Liedes mit seinem Umschwung in Leidsang und persönliche Klage. Auch im Detail zeigt sich ein gewisser Überbietungsgestus, etwa wenn der Kanzler, wo bei Konrad lediglich der Reif die sommerliche heide verletzt (si [die heide, Anm. d. Verf.] sneit/ rife durh die werdekeit, 1KonrW/3/1, V. 16 f.), den Jahreszeitenwechsel zu einem gewaltvollen Machtkampf zuspitzt, in dem der Winter vom Frühling bezwungen wird: Leider winter ungestalt,/ uswert halt./ din gewalt/ sere smalt,/ din kraft duldet bruch unde spalt,/ din mu̍ l niht mer malt./ […]/ nu ist din runs verswalt./ […] verstossen unde vervalt/ sint die rifen kalt (1Kanz/4/1, V. 1–6; 12; 19 f.). Eine eher affirmative Bezugnahme zeigt sich dagegen im Zitat der jarlanc-Formel (1Kanz/4/2, V. 1). Diese kann als Chiffre des Konradschen Minnesangs gelten, da mit ihr  Gerade die Sangspruchdichter verwenden den Begriff der spruche im Kontext einer Kunstreflexion und Diskussion vorgängiger (lyrischer) Texte, vgl. S. 127, Anm. 255.  Die Sommereingänge beim Kanzler thematisieren häufiger die Vertreibung des Winters, machen das aber ansonsten durchgehend schon im ersten Vers deutlich.  Besonders in Lied VII, IX und XI.

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fast alle seine Winterlieder beginnen.⁶¹⁶ Der Kanzler setzt sie wie Konrad an den Anfang, nicht jedoch des Liedes, sondern der zweiten Strophe, die neben diesem einleitenden Wort auch den Reim und die Kleidermetaphorik von Konrads entsprechender erster Strophe übernimmt. Anders als bei Konrad bezieht sich jarlanc beim Kanzler aber nicht auf den leidbringenden Winter, sondern referiert auf den Sommer und weist ihn als Jahreszeit potenzieller Liebesfreude aus. Zugleich ruft der Begriff jarlanc als Konrad-Zitat aber auch die negative Konnotation desselben bei Konrad auf (Winterlieder) und weist damit unterschwellig schon auf die Klage des Kanzlerschen Ichs voraus, für das dieses jarlanc – wie für das Ich des Konradschen Winterliedes – eben keine Freude bereithält. Auch den Eingangsbegriff der dritten Strophe (schande) übernimmt der Kanzler von Konrad und zudem (andeutungsweise) den Reimklang dieser Strophe (bei Konrad ‚‐an‘, beim Kanzler ‚‐ant‘).⁶¹⁷ Wo in Konrads Abschlussstrophe aber der einzelne riche man exemplarisch im Zentrum der Schelte steht, dem mangelnde zuht und tugent die ere rauben, so dass die Schande an ihm physisch sichtbar wird (Schanden gran/ unde ir zan/ missezierent richen man, 1KonrW/3/3, V. 1–3), wird beim Kanzler die Gesamtheit solcher schändlicher richer man, nämlich die schändlichen fürsten, als Verursacher eines übergreifenden Welt- und Werteverfalls angeklagt. Dabei übernimmt er zudem die in dieser Strophe besonders bilderreiche Sprache Konrads und bildet deren teilweise etwas dunkle (Tier‐)Vergleichsbilder und Metaphern nach.⁶¹⁸ Auffällig erscheint auch die Modifizierung der abschließenden Metapher Konrads: Dessen Lied schließt mit dem Bild von der Schnur der eweklichen wu̍ nne, die dem geizigen Tugendlosen zerronnen sei (1KonrW/3/3, V. 18–20). Und auch beim Kanzler steht abschließend das Bild eines Bandes, doch wird es bei ihm zu den Fesseln der Schande, vor denen die Tugendreichen sich schützen sollen (1Kanz/4/3, V. 19 f.). Darin wird eine Bearbeitungstendenz sichtbar, die sich häufiger zwischen Konrad und Kanzler beobachten lässt, nämlich eine Kanzlersche Tendenz zur Positivierung der ‚Schlussbotschaft‘. Die Reihe dieser Beispiele von Bezugnahmen des Kanzlerschen Liedes auf dasjenige Konrads ließe sich noch erweitern, die hier aufgeführten Beobachtungen geben aber meines Erachtens eine hinreichende Vorstellung von den genutzten Formen intertextueller Referenzbildung auf verschiedenen Ebenen und unterschiedliche Art und Weise, die an diesem Lied deutlich werden.

 Vgl. Horst Brunner: [Art.] Konrad von Würzburg. In: ²VL, Bd. 5, Sp. 272–304, hier Sp. 280; mit ihr hebt der Großteil seiner Winterlieder an, nämlich sieben von zehn, auf die Gesamtheit seiner Minnelieder gesehen, ist das fast ein Drittel. Die jarlanc-Formel kann somit gewissermaßen als Konradsches Markenzeichen gelten, vgl. dazu auch Hübner (Konrad von Würzburg), S. 73, und hat insofern die Prägnanz, trotz ihrer Kürze als erkennbares Zitat zu fungieren.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 275.  Bei Konrad: Barthaar und Zahn der Schande, das schwanenweiße Banner des Ansehens, der (zu spät) krähende Hahn des gelu̍ kes, die Schnur des Seelenheils; beim Kanzler: Die elefantenstarke Schande, der zerschlagene Schildesrand des/der edelen, die sich wie ein Fasan verbergende Freigebigkeit, die Festung der ere und ihr verpfändetes Gewand, die Fesseln der Schande.

2.5.1 Ton XVI, Strophe 1 – Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1)

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2.5 Ton XVI, Hofton I (1Kanz/5/1–20) 2.5.1 Strophe 1 – Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1) C Kanz 

B Kanz 

So wol dir, hohgeloptes adel, swa man dich vindet unverwert, vrisch ursprinc ganzer selekeit, du schanden widersatz.

So wol du hochgeloptez adel, swa man dich vindet unverwert, frisch ursprinc ...... selikait, du tugende[ ]richer schaz.

 du bist ein hoh gewu̍ rchter wadel, mit dem man sich vor laster [ ]nert. du unversnittens erenkleit, du tugentricher schatz,

 Du bist ain wol geworhter wadel, damit man s.... schanden .... du unversnitenz eren klait, ... schanden widersaz ...

du fru̍ htig froͤ ide gebender stam, [...]  din suͤ ze fruht eht alle tage ist nu̍ we.  [...] husere unde da bi rehtiu scham, [...] bescheidenheit, manheit, zuht, milte, tru̍ we, [...] dis sint die bernden este din, [...] maze unde ku̍ sche sint din ingesinde. [...]  scham sich, swer nu welle edel sin,  [...] ob er dirre aller eins an im niht vinde. [...]

Die erste Strophe des fünften Tons (Hofton I) weist keine unmittelbar erkennbaren prologartigen Elemente auf.⁶¹⁹ Relativ unvermittelt beginnt sie mit einem Segenswunsch an den Adel und stellt dessen Preiswürdigkeit aus, indem sie ihn als hochgelopt apostrophiert. Der zweite Vers aber lässt eine Einschränkung folgen, denn die Vorbedingung für den Lobpreis des Adels ist, dass dieser unverwert (‚unverdorben‘⁶²⁰) sein müsse. Adel, das klingt damit an, kann also auch verderben, das heißt wiederum, er muss durch richtiges Handeln bewahrt werden, worin sich ein Tugendadel-Diskurs andeutet, der aber zunächst nicht ausgespielt wird. Vielmehr entwickelt das SängerIch vor dieser Hintergrundfolie im Folgenden zunächst einen Adelspreis, der im Stil geblümter Sangspruch-Lobstrophen in syntaktisch parallel gebauten Versen Genitivmetaphern aneinanderreiht, die überwiegend anaphorisch mit einer du-Apostrophe anheben.⁶²¹ Diese Metaphern speisen sich dabei aus ganz verschiedenen Bildfeldern, haben im Aufgesang aber ihr tertium darin, dass sie auf die Wirkung wahren Adels abheben: Der erste Stollen profiliert den Adel als frischen Quell vollständigen Glückes und Widerstand (geradezu Antidot) gegen die Schande (V. 1–4). Der zweite Stollen konkretisiert diese Aussagen gewissermaßen: In einer fast kühnen Metapher fasst er den Adel als Weihwasserwedel, der vor Laster zu schützen vermöge (V. 5 f.), schreibt ihm also geradezu transzendente Kräfte zu, die den Menschen vor einer falschen in-

 Anders Ton I und der Goldene Ton.  Vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 1971.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 285.

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neren Einstellung zu schützen vermöchten. Die folgende Metapher des unversnitten[ ] erenkleit (V. 7) betont komplementär dazu, dass der Adel auch äußerlich wahrnehmbar ist, seinen Träger als veredelndes Gewand mit (weltlichem) Ansehen schmückt. Die den Aufgesang beschließende Metaphorisierung des Adels als tugentricher schatz (V. 8) profiliert ihn als Hort vorbildlicher Verhaltensweisen, macht ihn also zu einer Art Kapital. Im Adel kommen damit – fasst man den ersten Stollen mit den Worten Walthers zusammen – Gottes Huld, das Ansehen der Welt und das (immaterielle) gt in einen schrîn. Das Stichwort der Tugenden leitet über zum Abgesang, der diese im Einzelnen aufführt. Er etabliert dafür eine neue Metapher, die er über mehrere Verse zur Allegorie ausbaut: Der Adel wird als fruchtbarer freudespendender Baum dargestellt, der jeden Tag neue süße Früchte bringe (V. 9 f.). Die Zweige, die diese Früchte überreich tragen, sind sieben Tugenden, die katalogartig aufgezählt werden, nämlich Hausehre (das heißt auch Gastlichkeit),⁶²² angemessenes Schamgefühl,⁶²³ Verständigkeit, Tapferkeit, höfischer Anstand, Freigebigkeit und Verlässlichkeit (V. 11–13).⁶²⁴ Diese Allegorisierung als fruchttragende Äste inszeniert die genannten Tugenden zugleich als etwas, von dem Ertrag für die Umstehenden abfällt: Die Tugenden des Adels schenken der Welt täglich ihre süßen, freudebringenden Früchte, was – nicht zuletzt durch den gedoppelten Verweis auf Gastlichkeit und Freigebigkeit (husere und milte, V. 11 f.) – auch eine unterschwellige Heische ist. Die Reihe der Tugenden beschließen in einer letzten Metapher maze und ku̍ sche, die als ingesinde des Adels verbildlicht werden (V. 14).⁶²⁵ Sie erscheinen damit als helfende regulierende Grundverhaltenszüge, die der Balance der Tugenden dienen. Mit dem Abgesang wendet sich die Strophe insofern zum einen der Wirkung des Adels auf die Gesellschaft zu, zum anderen etabliert diese Tugendreihe katalogartig die unabdingbaren Voraussetzungen ‚echten‘ Adels. Die letzten beiden Verse machen das explizit: Wer auch nur einen dieser Vorzüge nicht an sich zu finden vermöchte, aber glaube, dass er edel sei, der solle sich schämen (V. 15 f.). Der Lobpreis des Adels als Abstraktum schlägt mit dieser Aussage in eine konkrete Schelte solcher Adeliger um, die sich nicht dem hohen Standard ‚echten‘ Adels gemäß

 Vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1402; vgl. zur husere auch 1KonrW/2/4; 1Mei/1/4.  Vgl. dazu 1Kanz/5/14–16.  Ähnliche Tugendkataloge als Ausweis echten Adels finden sich in 1Kanz/3/3 und 1Kanz/5/12, wobei letztere Strophe deutlich intratextuelle Beziehungen zur vorliegenden Strophe aufweist, vgl. Kap. 2.5.12.  Krieger (Kanzler), S. 93, fasst die Metapher des ingesinde als Teil der Baumallegorie auf und sieht darin die „Bewohner dieses Baumes“. Auch Zach (Kanzler), S. 91, interpretiert es als die Vögel, die in dem Baum nisten, und verweist dabei auf ein Minnelied des Kanzlers, das die Vögel als geste auf den Ästen der Bäume bezeichnet (Lied V, Str. 1, V. 4); das ist möglich, doch lassen sich geste und ingesinde meines Erachtens nicht gleichermaßen intuitiv auf das Verhältnis von Baum und Vogel beziehen. Ich halte ingesinde daher eher für eine weitere unabhängige Metapher, auch in Anbetracht der unzusammenhängenden Bildspenderbereiche der ersten beiden Stollen. Auch Hübner (Lobblumen), S. 223, 226, verweist darauf, dass sangspruchdichterische Preisstrophen häufig eine Vielzahl von Metaphern aus verschiedenen Bildbereichen bemühen.

2.5.1 Ton XVI, Strophe 1 – Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1)

225

verhalten. Zum einen wird Adel damit – wie so oft beim Kanzler – als Tugendadel profiliert und bedarf mithin der Bestätigung und Aktualisierung durch vorbildliches Verhalten, wie das Sänger-Ich schon am Anfang der Strophe andeutete (V. 2), zum anderen wird jenen, die nicht diesen Tugenden gemäß handeln, implizit der Adel abgesprochen.⁶²⁶ Mit dieser Schelte wird die Begriffslob-Strophe letztlich zu einer moralisierenden Aufforderung derjenigen, die sich für edel halten, ihre tatsächliche Vorbildlichkeit am Spiegel der vorgegebenen Werte zu prüfen.⁶²⁷ Im Verhältnis zu anderen Begriffslobstrophen innerhalb der Sangspruchdichtung fällt auf, dass der Kanzler die Strophe nicht darüber strukturiert, dass er ihren zentralen Begriff (adel) anaphorisch wiederholt, sondern dass er eine anaphorische duApostrophe setzt. Dieses tu(‐es)-Schema ist im Marienpreis vorgeprägt.⁶²⁸ Indem der Kanzler dieses Strukturmuster für seinen Lobpreis des Adels übernimmt, referiert er mithin auf einen religiösen Gebrauchszusammenhang und transzendiert damit den (profanen) Gegenstand seines Lobes.⁶²⁹ Zudem sticht die Strophe unter den Sangsprüchen des Kanzlers dadurch hervor, dass sie als einzige in nennenswertem Umfang die Techniken des blüemens einsetzt: Neben dem ostentativen Gebrauch von Genitivmetaphern und metaphorischen Kennzeichnungen manifestiert sich das besonders augenfällig in der „laudative[n] Allegorie“ (Baumallegorie) des Abgesangs.⁶³⁰ Die Sangspruchdichter des 13. Jahrhunderts und besonders Konrad von Würzburg⁶³¹ nutzen ein derartiges blüemen umfangreich in ihren Lobstrophen und zwar sowohl im Gottes- und Marienlob als auch im Fürstenpreis sowie – wie der Kanzler hier – im Begriffslob.⁶³² Auf diese vorgängigen Begriffslobstrophen – das zeigte schon die Strukturierung der Strophe – referiert die vorliegende Kanzler-Strophe allerdings kaum, vielmehr lässt sich bei ihr eine Einzeltextreferenz auf zwei bestimmte Fürstenpreisstrophen beobachten: Sowohl im Fürstenlob Bruder Wernhers⁶³³ als auch Friedrichs von Sonnenburg⁶³⁴ ist die  Vgl. Krieger (Kanzler), S. 88 f.  Vgl. Krieger (Kanzler), S. 52; Zach (Kanzler), S. 93 f.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 285.  Hübner (Lobblumen), S. 285 f., verweist allerdings darauf, dass Friedrich von Sonnenburg das tuSchema „in der hymnentypischen Kombination mit metaphorischen Kennzeichnungen für eine Begriffsschelte benutzt“ (1FriSo/2/5); jene Strophe referiert mit du-Apostrophe, der Interjektion ‚pfî‘ und einigen ihrer Scheltbegriffe meines Erachtens aber zugleich dezidiert auf die Bußpredigt (Ähnliches findet sich immerhin etwa bei Berthold von Regensburg, auf dessen Predigten Friedrich auch andernorts zu referieren scheint, vgl. Kap. 2.2.4) und verschränkt damit kunstvoll zwei verschiedene inkongruente Diskurse.  Hübner (Lobblumen), S. 285; auch die Durchbrechung des strengen ‚Nominalstils‘ der parallel angelegten Metaphernreihen durch die syntaktische Ausführung von Vergleichen ist dabei gebräuchlich, vgl. Hübner (Lobblumen), S. 235.  Das verdient hier besonderer Erwähnung, da Konrad vorbildhaft für das dichterische Schaffen des Kanzlers und das blüemen zugleich charakteristisch für Konrads Werk ist.  Vgl. umfassend dazu Hübner (Lobblumen).  1Wern/5/3.  1FriSo/1/40.

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2 Analysen

Baumallegorie vorgeprägt, die beim Kanzler als einzige zur Allegorie ausgebaute Metapher dieser Strophe eine zentrale Stellung einnimmt.⁶³⁵ Bruder Wernher preist den König⁶³⁶ als reine bernde[n] boum,/ der obez mit willen rêret (1Wern/5/3, V. 7 f.)⁶³⁷ und konstatiert: ein walt von tugenden unde von rehter milte blüete,/ der künde halbes niht getragen die tugent, die er begât (V. 5 f.). Die Baummetapher veranschaulicht damit auch hier die Tugendhaftigkeit (des Königs), zugleich verweist das Obst, das ‚freiwillig‘ von diesem Baum herabfällt, auf die Freigebigkeit, welche die Strophe in den letzten Versen schließlich explizit thematisiert (V. 9–12). Hier nämlich preist das Sänger-Ich dezidiert die Freigebigkeit des Herrschers gegenüber jedermann, äußert aber zugleich Bedauern darüber, dass sie ihm selbst noch nie zugutekam – nicht ohne zugleich zu betonen, dass dies nicht die Schuld des Gepriesenen sei.⁶³⁸ Trotz dieser Behauptung erfährt das Lob damit eine Einschränkung,⁶³⁹ die zum Handeln auffordert.⁶⁴⁰ Friedrich von Sonnenburg nutzt im panegyrischen Lobpreis des Herrn von Rifenberc ebenfalls eine Baumallegorie. Hier aber wird diese zugleich explizit thematisiert,⁶⁴¹ denn die Strophe eröffnet agonal damit, dass das Sänger-Ich äußert, es müsse denjenigen korrigieren, der die Tugenden des Reifenbergers mit einem Zweig verglichen habe: Sie seien mindestens einem Ast zu vergleichen, und wenn seine Tugenden Ästen zu vergleichen seien, so der Mann selbst mit einem ganzen êren boume wol/ vol tugende unde schanden hol,/ […] noch groezer den ein zederboum, daz ist mir worden kunt,/ mit zwin und esten ane zal, mit wurzeln wol gesunt,/ […]/ er rilich

 Darauf verweist schon Hübner (Lobblumen), S. 185.  Zur problematischen Identifizierung des Gemeinten, vgl. Bruder Wernher: Sangsprüche, transliteriert, normalisiert, kommentiert und übersetzt von Ulrike Zuckschwerdt. Berlin/Boston 2014, hier Kommentar, S. 583.  Hier und im Folgenden zit. nach Zuckschwerdt.  Vgl. zur Metapher des Obsts als Freigebigkeit, die den Sänger nicht erreicht, auch 1SpervA/1/21.  Vgl. Zuckschwerdt (Bruder Wernher), S. 537.  Wernher referiert hier wiederum deutlich auf Walthers „Einlassbitte“, in welcher dieser die Freigebigkeit Leopolds VI. von Österreich in einer Reihe verschiedener Naturbilder rühmt, jedoch ebenso wie Wernher konstatiert, dass sie ihn selbst wundersam verfehle: wie möht ein wunder grœzer sîn?/ ez regent beidenthalben mîn,/ daz mir des alles niht enwirt ein tropfe!/ des fürsten milte ûz Oesterrîche/ fröit, dem süezen regen gelîche,/ beide liute und daz lant, 1WaltV/7/2 (L. 20,31), V. 4–9; deutlich thematisiert Walther das guot umbe êre-nehmen, wenn er dem Fürsten seinen Lobpreis im Gegenzug für dessen milte in Aussicht stellt (sô möhte ich loben die süezen ougen weide [den milten Herrscher, Anm. d. Verf.]./ hier bî sî er an mich gemant, V. 14 f.). Die Strophe bietet die erste überlieferte ‚Blumenreihe‘ in der Sangspruchdichtung, womit Walther seine außergewöhnliche panegyrische Kunstfertigkeit herausstreicht und damit zugleich die „angestrebte finanzielle Zuwendung […] in die Höhe treibt“, da „Lobpreis und Entlohnung in einem gleichwertigen Verhältnis stehen sollen“, vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 469; diese zu jenem Zeitpunkt noch nicht breit etablierte Geblümtheit lässt die Strophe noch deutlicher als Referenzgrund Wernhers erkennbar werden und macht insofern die Logik des Austauschverhältnisses zwischen Sänger und Herrscher offenbar, die Wernher auf der Textoberfläche gerade nicht thematisiert, auf diesem Weg aber subkutan einspielt.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 237 f.

2.5.1 Ton XVI, Strophe 1 – Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1)

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reret riche vruht den gernden naht und tac (1FriSo/1/40, V. 6–12).⁶⁴² Ob die Strophe tatsächlich, wie sie einleitend behauptet, auf ein vorgängiges Lob des Reifenbergers reagiert, ist unklar, da ein solcher Prätext nicht überliefert ist.⁶⁴³ Der agonale Einstieg und die dezidierte Thematisierung richtigen Lobens reflektieren aber auch davon abgesehen eine vorgängige Gattungstradition. Insofern ließe sich die Baum-Allegorie – gerade im ausgesprochen selbstbezüglichen Genre des Fürstenpreises⁶⁴⁴ – als Markierung einer Referenz auf Wernhers Fürstenlob verstehen. Die Überbietungsabsicht manifestiert sich sowohl in der Ausdifferenzierung der Allegorie bei Friedrich als auch darin, dass er die milte seines Herren in diesem Bild noch hyperbolischer preist: Wo bei Wernher die Früchte des Baumes zwar mit willen rêre[n], aber den Sänger verfehlen, fallen sie bei Friedrichs Reifenberger Tag und Nacht in Fülle. Friedrich qualifiziert sich insofern als ‚besserer‘ Dichter, weil er die Allegorie noch weiter auszuführen vermag,⁶⁴⁵ und inszeniert im Rekurs auf Wernhers zwîvellob auch den von ihm Gepriesenen als den besseren Herrscher, weil dieser uneingeschränkt zu geben vermöchte. Darin manifestiert sich bei Friedrich zugleich ein Korrespondieren von herausragendem Sänger und außergewöhnlich rühmenswertem Herren, das deutlich auf den Sänger selbst zurückverweist, der sein Lob nur einem makellosen Herrscher zukommen lässt.⁶⁴⁶ Auffällig ist nun darüber hinaus, dass Konrad von Würzburg im Fürstenpreis des Lichtenbergers wiederum auf den Herrscherpreis Friedrichs referiert und die eigene Überlegenheit verdeutlicht, indem er auf dessen Allegorie des Zedernbaums anspielt und sie implizit als unzureichenden Vergleichsgegenstand geradezu beiseite wischt (1KonrW/7/25):⁶⁴⁷ Eyn lob geblmet vert in hoher werdicheite solde,/ ez wesset of tz birge sam des tzederboumes tolde./ sam gesteyne uz golde kan ez vil wunnichlichen bren (V. 1–3).⁶⁴⁸ Dass der Kanzler nun seine Begriffslobstrophe – für ihn ungewöhnlich – blüemt und dabei seinen Gegenstand als Baum mit fruchttragenden Ästen allegorisiert, markiert eine Referenz auf diese Gattungstradition des Fürstenpreises. Damit positioniert sich der Kanzler selbst in diesem agonalen Feld und überbietet gleichermaßen

 Vgl. auch Friedrichs Lob auf Herzog Otto II. von Bayern (1FriSo/4/1), der als wuocherboum der saelicheit (V. 9) und dessen Kinder als balsamrebe, diu sich lat so schoene bernde vinden (V. 12), apostrophiert werden.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 238.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 277–279.  Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 278; Haustein (Autopoietische Freiheit), S. 103 f.; diskursiv verhandelt wird das besonders im Fürstenlob des sogenannten Wartburgkrieges, vgl. dazu auch Kellner/ Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 350–352.  Das ist ebenfalls implizit Thema des Fürstenlobes, vgl. dazu Kellner/Strohschneider (Poetik des Krieges), S. 346 f.  Vgl. dazu auch Hübner (Lobblumen), S. 278.  Vgl. dazu auch Haustein (Autopoietische Freiheit), S. 104 f.; vgl. zu Konrads Strophe zudem Walthers „Otto-Friedrich-Vergleich“ (1WaltV/8/4 [L. 26,33]), wo das Spiel mit Bildern der Größe und des Wachsens im Herrscherlob vorgeprägt ist.

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2 Analysen

die Vorgänger dadurch, dass er nicht einen Adeligen, sondern den vorbildlichen Adel selbst preist, der gewissermaßen außer Konkurrenz steht – und damit implizit auch der ihn rühmende Sänger. Zugleich wird die Strophe so auch unterschwellig zum Versprechen an denjenigen, der sich mittels des Kanzlerschen Tugendkatalogs als wahrhaft adelig erweist, dass dieser Sänger sein Lob angemessen zu formulieren wüsste. Darüber hinaus ruft die Referenz auf die vorgängigen Baumallegorien aber auch deren Pointen auf, die dezidiert auf milte abzielen. Die Referenz erläutert damit gewissermaßen, was die Allegorie des Kanzlers nur andeutet, nämlich dass sich die vom Kanzlerschen Sänger-Ich abschließend ausgesprochene Aufforderung, die eigene Tugendhaftigkeit zu überprüfen, sichtbar besonders im ostentativen Ausstellen von milte unter Beweis stellen ließe. Indem die Strophe dergestalt auf mehreren Ebenen das Verhältnis von Sänger und Gönner thematisiert und problematisiert, bekommt sie letztlich doch stärker den Charakter einer toneröffnenden Prologstrophe, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das gilt umso mehr, als sie zentrale Themen des fünften Tones präludiert, der sich immer wieder mit einer – nicht selten begriffsanalytischen – Erörterung verschiedener Tugenden und Laster befasst.

2.5.2 Strophe 2 – Phönix (1Kanz/5/2) C Kanz 

B Kanz 

Fenix ein vogel ist genant, der wunderlicher art enpfligt: er lebt alleine, sunderpar, dekeine fruht er birt;

Fenix ain vogel ist genant, gar wunderlich ...... art . si ...: .. im ... bek ..., er lebt allaine, ... kain fruhte er nie birt;

 swenne sin nature im tt bekant, daz im daz alter an gesigt, du̍ schrift betu̍ tet uns vu̍ r war, wie er gejunget wirt: in vu̍ re er sich verbrinnen lat,  ze selker not in sin nature twinget. der sunen kraft, der vu̍ hte rat den fenix us dem pulver wider bringet. sus genaturet, daz wolt ich, die biderben edeln unde die boͤ sen weren:  die biderben, daz si jungeten sich, die boͤ sen, das si niemer fruht geberen.

 swenne sin nature im tt bekant, ... sin alter an gesigt, du̍ schrift betutet uns fur war, wie er gejunget wirt: in fu̍ r er sich verbrennen lat,  z solcher not in sin nature zwinget. des sunnen kraft, der fu̍ hte rat den fenix wider uz dem pulver bringet. alsus genaturet, so wolt ich, die edelen ........ boͤ sen weren:  die biderben, daz sie jungeten sich, die boͤ sen, dz sie niemer fruht geberen.

Die Strophe hebt an mit einer Beschreibung des Vogels Phönix, dessen wundersame Art sie in belehrendem Gestus naturkundlich versifiziert. Sie berichtet davon, dass dieser Vogel alleine lebe, einzigartig sei und keine Nachkommen hervorbringe (V. 3 f.). Die erstaunliche Eigenheit, dass dieser Vogel sich, wenn er alt werde, wieder verjünge, kündigt der zweite Stollen unter Berufung auf die schrift zu erklären an (V. 5–8). Auf der Basis dieser Autorität führt der Abgesang aus, dass der Phönix sich im Feuer

2.5.2 Ton XVI, Strophe 2 – Phönix (1Kanz/5/2)

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verbrennen lasse – eine Qual, zu der ihn seine Natur zwinge – und dass ihn dann die Kraft der Sonne und die Hilfe der Feuchtigkeit aus seiner Asche wieder hervorbrächten (V. 9–12). Schon die stropheneröffnende Nennung des Phönix deutet eine Referenz auf den Physiologus an, dessen Beschreibungsmuster der erste Vers deutlich benutzt. Auf diese Quelle verweist auch die Nennung einer schrift, die zur Legitimation der wunderhaften Transformation des Vogels herangezogen wird. Damit ist die Strophe – neben der Prologstrophe 1Kanz/1/1 und der astronomisch-kosmologischen Strophe 1 Kanz/2/11 – die einzige im Œuvre des Kanzlers, die explizit den Bezug auf einen schriftlichen Prätext thematisiert. Erstaunlich nimmt es sich insofern aber aus, dass die ‚naturkundliche‘ Beschreibung des Vogels zwar in der Sache traditionskonform ist, im Detail und den Formulierungen jedoch keine unmittelbare Kenntnis des Prätextes verrät.Weder verweist der Physiologus explizit auf die einsame Lebensweise des Phönix und seine Einzigartigkeit, die der Kanzler hier dezidiert hervorhebt (alleine, sunderpar,V. 3),⁶⁴⁹ noch greift der Kanzler wiederum die Details über die Herkunft des Vogels sowie dessen Verbrennungs- und Verjüngungsprozess auf, die die Darstellung des Phönix im Physiologus maßgeblich bestimmen.⁶⁵⁰ Am meisten überrascht die vorbildlose Erklärung des Kanzlers, dass der Phönix durch der sunen kraft und der vu̍ hte rat aus der Asche wieder auferstehe (V. 11). Die Kraft der Sonne hat ihren Platz in der Tradition als Entfacherin des Scheiterhaufens, den der Phönix sich aufschichtet, und damit nur sehr vermittelt als Ursache des Neuentstehens, ein Zusammenspiel mit der konträren vu̍ hte thematisiert die klassische Phönix-Tradition nicht.⁶⁵¹ Die Schriftberufung erweist sich aufgrund dieser Details als nur bedingt belastbare Quellenreferenz und somit eher als Legitimationsfigur für die Erzählung unwahrscheinlicher Tatsachen und als Gelehrsamkeitsprätention. Vor allem aber lenkt sie als betonte Physiologus-Referenz maßgeblich die Erwartungshaltung der Rezipienten: Mit dem Begriff des betu̍ te[ns] (V. 7), also des Erklärens, des Auslegens, durch die schrift (Physiologus) scheint sie nämlich auch die typische heilsgeschichtliche Auslegung anzukündigen, die die Verjüngung des Phönix auf Christi Auferstehung bezieht. Die Pointe der Strophe besteht insofern darin, dass sie dieses Muster aktiviert, die erwartete Auslegung aber ersetzt durch eine moralisierend-profanisierende Umdeutung: Statt den christologischen Bezug offenzulegen, äußert das Sänger-Ich den  Das findet sich aber etwa bei Isidor von Sevilla (Etymologiae, lib. XII, cap. 7, 22) und begegnet auch in der volkssprachigen Rezeption, etwa in den Altdeutschen Predigten (56, 296 f. Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, gesammelt und zur Herausgabe vorbereitet von Wilhelm Wackernagel, hg. mit einem Vorwort von Max Rieger. Basel 1876), in Lamprechts Alexander (V. 5152–5155) und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (V. 38 f.).  Wesentliche Elemente sind die Herkunft aus Indien, das Sammeln duftender Kräuter für die Verbrennung, der Bau des eigenen Scheiterhaufens und die in der Tradition kontrovers diskutierte Entzündung desselben (vgl. dazu Schröder [Millstätter Physiologus, Kommentar], S. 341) sowie die prozessuale dreitägige Wiedergeburt über die Stadien der Asche und des Wurmes bis hin zum vollständig erneuerten prächtigen Vogel, vgl. Millstätter Physiologus, Str. 178 f. (hg. Schröder).  Vgl. Schröder (Millstätter Physiologus, Kommentar), S. 341.

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2 Analysen

Wunschgedanken, die staunenswerte Natur des Phönix möge sich gleichermaßen auf die Wesenhaftigkeit der rechtschaffenen Adeligen wie auf diejenige der schlechten übertragen (V. 13 f.).⁶⁵² Auch wenn die allegoretische Tradition mit dem Prinzip der Deutung in utramque partem eine zweifache und gegensätzliche Auslegung durchaus kennt, irritiert dieser Wunsch vorerst, denn warum sollen die boͤ sen dem Phönix gleichen, der doch sonst mit dem Gottessohn selbst identifiziert wird? Das Sänger-Ich löst diese wohl beabsichtigte Irritation schließlich auf, indem es die Logik des zugrundeliegenden Auslegungsmusters spielerisch durchbricht und die zwei proprietates des Phönix nicht auf zwei Aspekte (significationes) einer gemeinten Sache, sondern getrennt voneinander auf zwei verschiedene Objekte beziehungsweise Figuren überträgt: Wie der Phönix sollen sich die Guten verjüngen und die Schlechten sollen wie er keine Nachkommen haben (V. 15 f.).Von dieser Pointe aus erklärt sich rückblickend zugleich, warum die vorangegangene Phönixbeschreibung dessen Unfähigkeit sich fortzupflanzen so eigenwillig betont. Diese Strophe des Kanzlers vereint in sich – jenseits ihrer intertextuellen Bezugnahme auf den Physiologus – auch eine Reihe gattungsinterner Referenzen auf verschiedenen Ebenen. Zum einen steht sie mit der Phönix-Physiologus-Thematik in einer agonal geprägten Textreihe, denn die Beschreibung der nature des Phönix ist Teilgegenstand einer Kontroverse zwischen dem Marner und dem Meißner:⁶⁵³ Der Marner referiert hier eine Reihe verschiedener Tiereigenschaften aus dem Physiologus, unter anderem – sehr knapp – diejenige des fenix (der verbrennet sich und wirt lebende nach dem vúre wider, 1Marn/7/15,V. 14, zit. nach Willms). Die abschließende Auslegung aller aufgezählten Tiereigenschaften beschränkt sich hier auf die pauschale Feststellung, dass ‚wir‘ mit der bezeichenunge von der Hölle erlöst seien (V. 20). Der Meißner kritisiert den Marner im Folgenden polemisch wegen dessen angeblich fehlerhafter Darstellung der Tiereigenschaften und ‚korrigiert‘ ihn unter Berufung auf die bch (1Mei/12/1, V. 8). Dieser buchgelehrten Selbstinszenierung entsprechend bietet der Meißner dabei für die meisten im Anschluss verhandelten Tiereigenschaften entlegenere, gelehrtere Physiologus-Traditionen.⁶⁵⁴ Hinsichtlich des Phönix’ aber erscheint seine ‚Korrektur‘ eher als präzisierende Ausführung der knappen Marnerschen Darstellung:⁶⁵⁵ Von dem fenix tn ich ouch die warheit schin./ swen der wirt alt, so merket, tumme diet,/ Der vurbrinnet sich unde wirt z aschen, sagent die pfaffen,/ uz der aschen ein ander, daz hat got geschaffen (Str. 2, V. 9–12). Mit dem Kampfbegriff der warheit grenzt er sich vom Marner ab, legitimiert seine Darstellung durch die Berufung auf die

 Die Wortstellung die biderben edeln unde die boͤ sen (V. 14) vermeidet hier – im Sinne der Kanzlerschen Tugendadel-Ideologie – indirekt, die boͤ sen als edele (Adelige) anzusprechen.  1Marn/7/15; 1Mei/12/1–4; vgl. dazu Wachinger (Sängerkrieg), S. 153–157; Objartel (Meißner), S. 42– 44, 292–294; Haustein (Marner-Studien), S. 226–228; Willms (Marner), S. 253–257.  Der Marner dagegen scheint sich an die volkssprachigen Traditionen anzulehnen, vgl. Haustein (Marner-Studien), S. 38 f.  Hinweise zur diesbezüglichen Forschungsdiskussion, vgl. Willms (Marner), S. 256 f.

2.5.2 Ton XVI, Strophe 2 – Phönix (1Kanz/5/2)

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(schriftgelehrten) pfaffen und überhebt sich zudem mittels seiner Gelehrtheit, was die Abqualifizierung der Rezipienten als tumme diet verdeutlicht. Er exklusiviert hier insofern deutlich das Wissen über den Physiologus und macht es gleichermaßen zum Unterweisungsgegenstand wie zum Ausweis einer meisterschaft, die sich im Verfügen über gelehrtes Buchwissen manifestiert und vergleichend unter Beweis stellen lässt. Wenn der Kanzler nun – ebenfalls unter Berufung auf eine (gelehrte) Schrifttradition – eine gegenüber diesen vorhergehenden Strophen deutlich ausführlichere Darstellung der nature des Phönix bietet, die sich womöglich noch aus weiteren Quellen als dem Physiologus speist, deutet sich darin eine gewisse Überbietungsabsicht an.⁶⁵⁶ Diese drückt sich auch darin aus, dass der Kanzler seine meisterschaft nicht mehr im Referieren der Wahrheit des Physiologus allein unter Beweis stellt, sondern dass diese meisterschaft sich gerade darin beweist, dass dieses gelehrte Wissen für ihn verfügbar wird, um es zur exemplarischen Veranschaulichung eigener Interessen zu nutzen – wobei er zugleich wiederum die Geltung seines Prätextes einkalkuliert. Eine solche Funktionalisierung des Physiologus, welche die naturkundlichen Wahrheiten moralisierend auf profane Sachverhalte bezieht, findet sich allerdings bereits bei Stolle⁶⁵⁷ und Konrad von Würzburg,⁶⁵⁸ später dann besonders ausführlich bei Boppe.⁶⁵⁹ Im Zuge der weltlichen Umfunktionalisierung des Physiologus für die Herrenlehre ist gerade bei Konrad zu beobachten, dass er spezifische Tiereigenschaften gegen die Physiologus-Tradition umwertet, was der Kanzler hier übernimmt.⁶⁶⁰ Dabei findet keine neue Auslegung gegen die christliche Tradition statt, vielmehr dienen die Naturphänomene als Vergleichsgegenstände, als Analogien, die ihre Autorität jedoch aus ihrer Tradition beziehen und an deren Geltung partizipieren.⁶⁶¹ Auch gegenüber Konrad besteht bei der Ausführung des Kanzlers die Pointe darin, dass er – wie oben ausgeführt – die verschiedenen proprietates des Phönix fruchtbar macht, um zugleich die Guten zu erhöhen und die Schlechten zu verfluchen. Gerade der abschließende Fluch, dass die boͤ sen ohne Nachkommen bleiben sollen, ist wiederum in der Gattung vorgeprägt.⁶⁶² So wünscht sich schon Walther von der Vogelweide in einer Zeitklage, die den Traum Nebukadnezars als Hinweis auf eine

 Interessant ist, dass der Kanzler damit – nach der Strophenfolge in C – in zwei aufeinanderfolgenden Strophen auf agonal geprägte Strophenzusammenhänge Bezug nimmt und sich damit zugleich selbst in diesem Feld positioniert.  1Stol/12.  1KonrW/5/2 (vgl. dazu Kap. 2.2.2.2), 1KonrW/7/23; die beim Kanzler gewählte Strukturierung der vorliegenden Strophe – eine Zweiteilung in naturkundliche Beschreibung und analogisierende Übertragung – ist hier bei Konrad deutlich vorgeprägt (aber freilich auch im Physiologus angelegt).  1Bop/1/5–7; 1Bop/1/25.  Vgl. dazu Brandt (Menschen, Tiere, Irritationen), S. 40–44.  Vgl. dazu auch Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 189 f.; zum Exempelgebrauch des Physiologus in der Sangspruchdichtung vgl. außerdem Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung vom späten 12. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts. Würzburg 2006, bes. S. 100–112.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 111 f.; zu weiteren bösen Wünschen gegen die boͤ sen vgl. Roethe (Reinmar von Zweter), S. 201.

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2 Analysen

Ausbreitung der Schlechten in der Welt umdeutet, dass die bœsen ân erben müezen […] vervarn (1WaltV/7/8 [L. 23,11], V. 13, zit. nach Schweikle). Konrad von Würzburg nimmt das Motiv auf und macht es zu einem Teil einer Schelte gegen die hoveschalk[e], denen er wünscht, dass sie – gleich dem Bastard von Wolf und Fuchs – unfruchtbar sein möchten (daz selbe tier unfru̍ htig ist, von arte es niht enkindet, 1KonrW/7/15, V. 4, zit. nach LDM). Sowohl thematisch als auch in der Vergegenwärtigung des Gemeinten über die Analogie zur Eigenschaft eines Tieres steht die Strophe derjenigen des Kanzlers nahe, so dass der Kanzler mit dieser Referenz seine Kritik vielleicht auch implizit an die verwerflichen Höflinge adressiert.⁶⁶³ Die Strophe des Kanzlers verweist allerdings noch in einem weiteren Punkt auf Konrads von Würzburg Werk und zwar in ihrer Eingangsformulierung. In Konrads Partonopier und Meliur heißt es nämlich genau so: fênix ein vogel ist genant (der in dem viure brennet sich, V. 1144 f.).⁶⁶⁴ Noch prominenter ist die Erwähnung des Phönix im Prolog des Trojanerkriegs: diu schrift von einem vogele seit,/ der fênix ist genennet:/ ze pulver sich der brennet,/ dar ûz er lebende wider wirt,/ sô daz kein ander vogel birt/ sîn fleisch und sîn gebeine;/ jô lebt er alterseine/ und wart nie sîn genôz erkant (V. 32–39).⁶⁶⁵ Konrad fokussiert hier also besonders die Einzigartigkeit des mythischen Vogels, auf die allein seine Erwähnung abzielt: Wenn dieser nun nämlich auf die Hand eines Herren flöge, so imaginiert Konrad, müsse er diesem Herren gerade wegen seiner Seltenheit und Kostbarkeit lieber sein als jeder andere Vogel (V. 40–45). Diese Exzeptionalität des Phönix macht Konrad im Folgenden zum Analogon (meisterlicher) Dichtkunst: ich wil den spaehen orden/ getihtes ime gelîchen,/ der schiere in tiutschen rîchen/ sô faste wil verswinden (V. 46–49). Der Phönixvergleich thematisiert hier also auf kunstvolle Weise an prominenter Stelle den Wert echter Dichtkunst und zugleich die herrscherliche Wertschätzung, die ihr deswegen zukommen sollte.⁶⁶⁶

 Vgl. dazu auch 1Kanz/2/8, Kap. 2.2.4.  Zit. nach: Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur, aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hg. von Karl Bartsch. Berlin/New York 1970 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1871).  Zit. nach: Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg, nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Franz Roths, hg. von Adelbert von Keller. Amsterdam 1965 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858). Daneben findet der Phönix auch Erwähnung in Konrads Goldener Schmiede: dû bist ein fiur des lebetagen,/ dâ sich der Fênix inne/ von altem ungewinne/ ze vröuden wider muzete:/ wie sanfte er bi dir luzete/ biz daz er wart erjunget wol (V. 364–369, zit. nach: Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hg. Edward Schröder. Göttingen 1926). Der auffallend andere Wortlaut könnte sich hier Wolframs Parzival verdanken, der ebenfalls den Begriff der Mauser verwendet: von des steines kraft [des lapsit exillis, d. h. des Grals, Anm. d. Verf.] der fênix/ verbrinnet, daz er zaschen wirt:/ diu asche im aber leben birt./ sus rêrt der fênix mûze sîn/ unt gît dar nâch vil liehten schîn,/ daz er schœne wirt als ê (V. 469,8–13, zit. nach Nellmann).  Schnyder bemerkt, dass die Dichtkunst hier gerade „nicht mit raffiniert bearbeiteten kostbaren Materialien verglichen wird, sondern mit Schöpfungswundern, deren seltene Schönheit und wunderbare Kräfte letztlich auf Gott zurückgeh[en]“, womit die Dichtkunst selbst transzendiert werde, vgl. Mireille Schnyder: Heidnisches Können in christlicher Kunst. In: Susanne Köbele, Bruno Quast (Hg.): Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Berlin/Boston 2014, S. 159–173, hier S. 166.

2.5.3 Ton XVI, Strophe 3 – leozephena (1Kanz/5/3)

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Auch wenn die Kanzlerstrophe den Phönixvergleich ganz anders funktionalisiert, fällt doch auf, dass er sowohl die Schriftberufung mit Konrad teilt als auch ebenfalls gegen die Physiologus-Tradition und ihre Rezeption im Sangspruch die Einzigartigkeit des Vogels pointiert hervorhebt; letzteres sticht umso mehr hervor, als er diese Einzigartigkeit für seinen abschließenden Vergleich nicht explizit in Anspruch nimmt. Die Pointe des Kanzlers, die grundsätzlich unspezifisch darin bleibt, was die boͤ sen und was die biderben auszeichnet, zielt mittels dieser Anspielung auf Konrad möglicherweise also darauf ab, dass sich die Qualität der edelen auch im Erkennen und Würdigen wahrer Kunst manifestiert.⁶⁶⁷

2.5.3 Strophe 3 – leozephena (1Kanz/5/3) C Kanz  Ein tier ist wunderlicher art, genennet leozephena. us dem ein pulver wirt gebrant, daz birt dem lewen not:  der wildener des lewen vart ervert. uf sine vrische sla, da sêt ers pulver al zehant, so lit der loͤ we tot. wolt got, het richer karger man  des loͤ wen art hin gegen dem selben tiere! solt ich es schen z’Endian, in tu̍ tschu̍ lant wolt ich es bringen schiere. des pulvers sâte ich uf die wasen, swa riche karge giengen in den landen,  die gegen den eren schinent hasen unde sam die loͤ wen kreftig in den schanden.

Die dritte Strophe des fünften Tones steht der vorangehenden strukturell auffällig nahe: Auch sie eröffnet mit der naturkundlichen Beschreibung eines Tieres und bezieht diese in einem zweiten Teil auf die Herren. Die ersten beiden Verse spiegeln diejenigen der vorangehenden Strophe in umgekehrter Reihenfolge: Erst kündigt das Sänger-Ich aufmerksamkeitsheischend an, von einem Tier zu berichten, das wunderlicher art sei, und teilt dann mit, wie es genannt werde, nämlich leozephena (V. 1 f.). Zum einen variiert das den Stropheneingang gegenüber der Phönix-Strophe, zum anderen deutet sich darin möglicherweise an, dass das Leozephena zeitgenössisch weniger bekannt war als der Phönix und als einleitender Signalbegriff insofern eher dysfunktional wäre. Die Erstaunlichkeit dieses Tieres liegt, wie im Folgenden ausge-

 Dass die in Hs. C folgende ostentative Heischestrophe ebenfalls und sehr ähnlich mit einem Tiervergleich eröffnet, unterstützt diese Lesart.

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2 Analysen

führt wird, nicht wie beim Phönix in seinen Verhaltenseigenschaften, sondern darin, dass es, wenn man es zu Asche verbrenne, für den Löwen tödlich sei (V. 3 f.). Der zweite Stollen schildert den Anwendungsbereich dieses Pulvers: Die Jäger nämlich streuten es auf die frische Fährte des Löwen, wodurch der Löwe sterbe (V. 5–10). Wie dies genau geschieht, führt die Strophe allerdings nicht aus.⁶⁶⁸ Anders als der Phönix ist das Leozephena nicht aus der Physiologus-Tradition bekannt und scheint in der mittelhochdeutschen Literatur vor dem Kanzler auch sonst nicht zu begegnen.⁶⁶⁹ Wie Krieger bereits feststellte, referiert die Beschreibung offenbar auf den Leontophonon, den ‚Löwentöter‘, dessen Eigenschaften bei Aristoteles und Plinius beschrieben werden.⁶⁷⁰ Dort heißt es über das Tier, dass es klein sei und in der Nähe der Löwen geboren werde. Der Verzehr und der Urin des Tieres seien tödlich für den Löwen, weswegen er es zu zerfetzen versuche, ohne es zu beißen. Außerdem, so schreibt Plinius, nutzten die Jäger die Asche des Tieres, um damit ihre Fleischköder zu bestreuen und so den Löwen zu töten.⁶⁷¹ Bei Solinus heißt es dann, dass die Fleischstücke an der Fährte des Löwen abgelegt würden, damit er sie fräße, und dass sie ihn töteten, auch wenn sie noch so klein seien.⁶⁷² Bei Thomas von Cantimpré schließlich verschwinden die Fleischstücke – auch wenn er sich auf Solinus und Jacob von Vitry⁶⁷³ beruft – und es wird (wie später beim Kanzler) nurmehr die Asche auf die Spur der Löwen gestreut.⁶⁷⁴ Hier wird die Wirkungsweise dieser Praktik nun aber – anders als beim Kanzler – genauer ausgeführt: Thomas erklärt nämlich, dass der Löwe durch die Berührung mit dem Pulver sterbe, wenn er wieder auf derselben Fährte gehe.

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 113 f., der meint, daraus seien zwei mögliche Interpretationen ableitbar, erstens, dass das Pulver die Spur deutlicher sichtbar zu machen vermöge, zweitens, dass das Pulver wie ein Jagdzauber wirke und den Löwen niederstrecke, wobei er dieser letzteren Variante den Vorzug gibt.  In Konrads von Megenberg Buch der Natur findet es sich dann jedoch als ‚leocophana‘/‚leocoffana‘ (in der Überschrift eingedeutscht zu ‚leocoffe[ ]‘ ‘), zit. nach: Konrad von Megenberg: Buch der Natur, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Robert Luff, Georg Steer. Tübingen 2003.  Vgl. Krieger (Kanzler), S. 78 f.  Naturalis historiae, lib. VIII, cap. 57: Urinae et duobus aliis animalibus ratio mira. leontophonon accipimus vocari parvum nec aliubi nascens quam ubi leo gignitur. quo gustato tanta illi vis, ut ceteris quadripedum imperitans ilico exspiret. ergo corpus eius exustum adspergunt aliis carnibus polentae modo insidiantes ferae necantque etiam cinere: tam contraria est pestis. haud inmerito igitur odit leo visumque frangit et citra morsum exanimat. ille contra urinam spargit, prudens hanc quoque leoni exitialem, zit. nach König.  De mirabilibus mundi, cap. XXVII, 21 f.: Leontophonos vocari accipimus bestias modicas, quae captae exuruntur, ut earum cineris aspergine carnes pollutae iactaeque per conpita concurrentium semitarum leones necent, si quantulumcumque ex illis sumpserint. Propterea leones naturali eas premunt odio atque ubi facultas data est, morsu quidem abstinent, sed dilancinatas exanimant pedum nisibus, zit. nach: Gaius Iulius Solinus: Wunder der Welt. Lateinisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Kai Brodersen. Darmstadt 2014.  Dessen knappe Schilderung des leontophonos (Orientalis et occidentalis historia, lib. I, cap. 88) steht derjenigen des Solinus sehr nahe.  Vgl. Thomas von Cantimpré De natura rerum, lib. IV, cap. 63.

2.5.3 Ton XVI, Strophe 3 – leozephena (1Kanz/5/3)

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Besonders interessant ist im Kontext der Kanzler-Strophe, dass Thomas der Beschreibung des Tieres eine christliche Deutung beigibt: Hoc animal signat humiles animas, que capte vinculis religionis ardent caritate dei et proximi. Quarum cinere, id est recordatione et exemplis operum, respergi debent semite superborum, ut compuncti eorum imitatione moriantur mundo. Sed illi e contrario reddentes malum pro bono auditam eorum famam infamia et invidia lacerant. Sciant quoque quod in ipsa laceratione mortaliter peccantes sua malitia et invidia pereunt.⁶⁷⁵

Entgegen der primär positiven Auslegung des Löwen in der Physiologus-Tradition steht er hier für die Hoffärtigen, während der Leontophonon die Demütigen meint, die mit ihrem Vorbild die Schlechten zerknirschen sollen, von diesen aber aus Neid zerfleischt werden. Die Deutung schließt daran eine Drohung gegenüber den Hoffärtigen an, indem sie deren Boshaftigkeit und Neid als Todsünde brandmarkt und damit die Verderblichkeit dieser Eigenschaften betont, die in die ewige Verdammnis führten. Auch für den Leontophonon ist mithin – wie im Physiologus – eine religiöse Übertragung des naturkundlichen Sachverhalts vorgeprägt. Und auch der Kanzler macht dieses naturkundliche Phänomen – wie zuvor die Unfruchtbarkeit und Wiedergeburt des Phönix – für eine Übertragung nutzbar. Erneut leitet das Sänger-Ich diese nicht als Auslegung ein, sondern als indirekten Wunsch an Gott, dass doch die reichen Geizigen auf das Leozephena so reagierten möchten, wie der Löwe (V. 9 f.). Indem er dergestalt wünscht, dass das Leozephena für die Geizigen ebenso tödlich sei wie für den Löwen, durchbricht er die Trennung zwischen naturkundlichem Phänomen und Übertragungsebene, so dass gleichsam eine allegoria permixta entsteht. Das Sänger-Ich entwickelt den Gedanken im Folgenden weiter und kündigt an, es würde persönlich bis nach Indien reisen, um das wunderhafte Pulver zu erlangen (V. 11). Damit betont es sowohl den Exotismus des Gegenstands, als auch seine Be-

 Zit. nach: Thomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos. Teil I: Text, hg. von Helmut Boese. Berlin/New York 1973, hier lib. IV, cap. 63. Bei Konrad von Megenberg – der Thomas hier sonst sehr eng folgt – ist die Auslegung deutlich verkürzt: Alſo ſchol man gtev werch vnd diemuͤ tichait der becherten lauͤ t ſtrauͤ wen an die ſtrazz der hochvertigen, daz ſie ſich da von bechern, III.A.44, 15 f., zit. nach Luff/Steer. In der bei Konrad zugrundeliegenden dritten Redaktion des Liber de natura rerum fehlt die Auslegung allerdings vollständig, Konrad muss sie insofern aus einer zusätzlichen Handschrift ergänzt haben. Zu den ThomasHandschriften, die Konrads Buch der Natur zugrunde liegen, vgl. Georg Steer: [Art.] Konrad von Megenberg. In: ²VL, Bd. 5, Sp. 221–236, hier Sp. 232–234, vgl. dazu auch: Thomas von Cantimpré: Liber de naturis rerum, hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Bd. 1: Kritische Ausgabe der Redaktion III (Thomas III) eines Anonymus. Wiesbaden 2017. Auch Ulrichs von Lilienfeld Concordantiae caritatis berichtet wohl auf Basis Thomas’ von Cantimpré vom leocophana, vgl. Rudolf Suntrup: [Art.] Ulrich von Lilienfeld. In: ²VL, Bd. 10, Sp. 1–8, hier Sp. 5; Rudolf Suntrup: Die Widersacher des allmächtigen Gottes: Teufel und Dämonen in den Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld. In: Karin E. Olsen, Jan R. Veenstra (Hg.): Airy nothings: imagining the otherworld of Faerie from the Middle Ages to the Age of Reason: Essays in Honour to Alasdair A. MacDonald. Leiden 2014, S. 113–138, hier S. 136.

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reitschaft für dessen Erwerb jede Anstrengung in Kauf zu nehmen.⁶⁷⁶ Dieses Pulver, so imaginiert das Sänger-Ich, wolle es dann zuhause auf die Wiesen streuen, dort, wo die reichen Geizigen zu finden seien, jene Hasen hinsichtlich des Ansehens, die stark wie Löwen in Bezug auf schändliches Verhalten seien (V. 13–16). Mit diesen Tiervergleichen zeigt das Sänger-Ich die Fähigkeit über argumentationsunterstützende Analogiebildungen zu verfügen und sie umzuwerten: Es ruft hier einen gängigen Topos der Panegyrik auf, den positiven Vergleich herrscherlicher Kraft und Macht mit der des Löwen, wertet diesen aber um, indem es die Kraft auf einen negativen Bereich bezieht, nämlich den Erwerb von Schande. Der Geiz wird dabei indirekt als Ausweis umfassender Ehrlosigkeit und verwerflichen Verhaltens profiliert.⁶⁷⁷ Dass dieses Szenario mithin unverblümt eine körperliche Vernichtung der Geizigen herbeisehnt, überrascht in seiner Drastik,⁶⁷⁸ umso mehr als das Sänger-Ich andeutet, keine Kosten und Mühen scheuen zu wollen, um sich persönlich zum Vollstrecker dieser Ausrottung zu machen.⁶⁷⁹ Indem das Sänger-Ich sich für sein Anliegen an Gott wendet und die Geizigen als grundsätzlich verwerfliche Menschen darstellt, verleiht er diesem Rachefeldzug geradezu eine religiöse Dimension. Diese imaginierte Gewalt gegenüber den geizigen Herren erinnert in ihrem Wunsch nach einer Verkehrung der Machtverhältnisse an die imaginierte Gewalt im Minnesang (welche freilich keine solche Drastik erreicht), die – wie hier beim Kanzler – aus dem Zwang einer Aporie erwächst.⁶⁸⁰ Wie im Minnesang erweist sich diese Gewaltphantasie auch hier zugleich als eigentümliche Form der Bitte um Erfüllung und das heißt im Sangspruch: um milte. Anderseits wird diese Drastik überblendet durch die Auslegungstradition des Leontophonon, wie sie bei Thomas von Cantimpré vorgeprägt ist, nach der nämlich (s. o.) das Pulver eine Zerknirschung der Hoffärtigen erwirken soll. Diese intertextuelle Referenz suggeriert eine geradezu poetologische Deutung der Strophe, nach der das Sänger-Ich, welches das Pulver zur Bekehrung der Geizigen durch seinen zum richtigen Verhalten anleitenden Sang ausstreut, eine Veränderung ihrer Haltung und eine Wendung zum Guten zu erwirken hofft. Zugleich steht dahinter die Thomassche Drohung, dass demjenigen, der von seinen verwerflichen Verhaltensweisen nicht ablässt, die ewige Verdammnis bevorsteht. Die Strophe zeigt mithin erneut eine Funktionalisierung naturkundlicher Wissensbestände für die Herrenlehre beziehungsweise -schelte. Noch deutlicher als in der

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 116.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 117.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 117, der hier zu Recht betont, dass es um Vernichtung geht und nicht – wie Roethe vorsichtig formuliert – darum, dass das Pulver „gegen die Kargen schütz[e]“, vgl. Roethe (Reinmar von Zweter, Kommentar), S. 201.  Möglicherweise eignet den merkwürdig konträren und überraschenden Tiervergleichen der Schlusspointe auch eine heute nicht mehr nachweisbare Komik.  Vgl. Beate Kellner: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen. In: PBB 119 (1997), S. 33–66.

2.5.3 Ton XVI, Strophe 3 – leozephena (1Kanz/5/3)

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Phönix-Strophe nutzt sie dabei aber kein allegoretisches Verfahren, sondern partizipiert nur indirekt an der Geltung dieses Diskurses, der die Richtigkeit und Wichtigkeit der naturkundlichen Phänomene bestätigt, die damit zu einem evidenzschaffenden Vergleichsobjekt werden. Diese evidenzschaffende Kraft nutzt der Kanzler, um einem eigentlich unerfüllbaren Wunsch Ausdruck zu verleihen, an dem unterschwellig die Missstände der Welt deutlich werden. Zugleich aber kalkuliert er hier die Auslegungstradition mit ein, die diesen Diskurs mit einer weiteren Sinnebene überblendet. Die beim Kanzler ausgespielte Funktionalisierung der Leozephena-Geschichte für die Herrenlehre hat darüber hinaus noch eine überraschende Parallele in der mittelniederländischen Literatur, nämlich in Jacobs van Maerlant Der Naturen Bloeme, einer um 1270 abgefassten flämischen Übertragung des Liber de natura rerum Thomas’ von Cantimpré.⁶⁸¹ Dieser ausgesprochen breit überlieferte Text⁶⁸² zeigt mehrfach Bearbeitungstendenzen, welche die verhandelten naturkundlichen Gegenstände didaktisch umdeuten oder auslegen, um sie für Herrenlehre und Ständekritik zu funktionalisieren.⁶⁸³ Besonders auffällig ist das gerade beim „Leocophena“:⁶⁸⁴ Jacob folgt seiner Vorlage hier in der Beschreibung des Tieres weitestgehend,⁶⁸⁵ ersetzt aber Thomas’ Deutung des Tieres durch die knappe Bemerkung: Ontsiet die clenen, ghi grote heren:/ Misselijc hoe die saken keren (V. 2555 f., zit. nach Verwijs). Die Schilderung des Leocophena endet also mit einem sentenzhaften Aufruf an die großen Herren, die Kleinen zu verschonen, und mit einer Zeitklage, welche die Verschlechterung des Weltzustandes bedauernd hervorhebt. Wie genau dieser moralisierende Schluss sich aus der Beschreibung des Leocophena ableitet, wird dabei nicht differenziert erläutert, dezidiert verzichtet Jacob auf die ‚hoc signat‘-Formel des Thomas.⁶⁸⁶ Wie der Kanzler beansprucht also auch er keine mit der religiösen Tradition konkurrierende

 Vgl. Ingrid E. Biesheuvel, Nigel Palmer: [Art.] Jacob van Maerlant. In: ²VL, Nachtragsbd., Sp. 748– 755, hier Sp. 749, 751.  Im Gegensatz zu einigen anderen Werken Jacobs sind von Der Naturen Bloeme allerdings keine Übersetzungen ins Mnd. oder Mhd. überliefert, vgl. Biesheuvel/Palmer ([Art.] Jacob van Maerlant), Sp. 751 f.  Vgl. dazu Traude-Marie Nischik: ‚nutscap ende waer‘. Zu Übertragungstechnik und Belehrungsintention in Maerlands Der Naturen Bloeme. In: De Nieuwe Taalgids 82 (1989), S. 226–238.  Die Form leoncephena ist dem Kanzlerschen leozephena übrigens noch näher als Megenbergs leocoffana; jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass die Form in den verschiedenen Handschriften nicht stabil ist, andere Lesarten in der Überlieferung von Der Naturen Bloeme sind leocophona und lentofona.  Leocophena, scrivet Solijn,/ Es een luttel beestekijn,/ Datmen te asschen verbernen pleghet,/ Ende die assche dan so leghet/ In die pade, daer die liebaerde/ Wandelen souden hare vaerde;/ Want die lewe blivet doet,/ Coemt hiere an clene of groet./ Daer die lewe dit dier oec vint,/ Hine spaerts niet een twint,/ Hine bitet doet: dan moet hi mede/ Selve sterven daer ter stede./ Oec dotet met sire orine/ Den liebaert, sonder ander pine, V. 2541–2545, zit. nach: Jacob von Maerland: Der naturen bloeme, hg. von Eelco Verwijs. Groningen 1878.  Vgl. Nischik (‚nutscap ende waer‘), S. 233.

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2 Analysen

Umdeutung, sondern macht das naturkundliche Phänomen vielmehr nutzbar, um seine Ermahnung der Herren argumentativ zu illustrieren.⁶⁸⁷

2.5.4 Strophe 4 – Gold und Palme (1Kanz/5/4) C Kanz  Swa golt gelu̍ tert wirt also, daz es niht mere gunters hat, da minret sich sin tugende niht von keiner bru̍ nste schaden.  al durh des argen winters droͮ des palmen loͮ b in gruͤ ne stat, swie das man in in snewe siht mit rifen uberladen. dem golde geliche ich wol den man,  des herze ist so gelu̍ tert unde so reine, daz in der bôsheit hitze enkan niht brennen, so daz er iht arges meine. der palmen gelichet sich ein wib, du̍ an sich reiner tugende varwe strichet,  so daz mit niht ir werder lib durh arge lust in schanden kleit erblichet.

Die Strophe schließt an die vorhergehenden an, indem sie erneut die naturkundliche Eigenart (zweier) Dinge erläutert und diese ebenfalls in einem zweiten Teil auf den Menschen überträgt. Im ersten Stollen verhandelt die Strophe die Goldraffination: Wenn das Gold so geläutert werde, dass es keinen gunter, also nichts Falsches mehr enthalte, könne seine Makellosigkeit von keiner Feuersbrunst mehr vermindert werden (V. 1–4). Dass die Reinheit des Goldes mit dem anthropomorphisierenden Begriff der tugent umschrieben wird (da minret sich sin tugende niht,V. 3), verweist bereits voraus auf die im Abgesang folgende Auslegung. Der zweite Stollen bringt im Anschluss ein Beispiel aus der Botanik, nämlich das erstaunliche Phänomen, dass die Palme ihre grünen Blätter auch in winterlichem Reif und Schnee behalte (V. 5–8). Der Stollen schließt bildlogisch an das Ende des ersten an, indem er mit der schädigenden Macht des Winters einsetzt, wo der erste Stollen mit der Schädigung durch die Feuerbrunst schließt. Die Naturkräfte werden damit in ihrer Verderblichkeit parallelisiert, stehen sich aber zugleich hinsichtlich ihrer gegensätzlichen Wesenheit antithetisch gegenüber. Außerdem spielt der Aufgesang mit einem Gegensatz, dass nämlich Gold und Palme sich diesen Mächten gegenüber

 Eine detaillierte Analyse auch im Kontext des gesamten Werkes bietet Nischik (‚nutscap ende waer‘), bes. S. 230–234.

2.5.4 Ton XVI, Strophe 4 – Gold und Palme (1Kanz/5/4)

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entgegengesetzt zu dem verhalten, was zu erwarten wäre. Damit bereitet die Strophe bereits einen zentralen Gedanken des Abgesangs vor, nämlich dass Tugend sich erst aus ihrem Gegenteil konstituiert. Der Abgesang funktionalisiert nun diese naturkundlichen Phänomene – anders als die vorangehenden Strophen den Phönix und das Leozephena – explizit als Exempel, indem er sie über den Begriff des gelichens auf den Menschen bezieht (dem golde geliche ich wol den man, V. 9; der palmen gelichet sich ein wib, V. 13). Dezidiert wird hier eine Vergleichsrelation behauptet, die auch auf lexikalischer Ebene deutlich betont wird. Begriff für Begriff überträgt der erste Teil des Abgesangs die ExempelGeschichte des Goldes gleichnishaft auf den Mann:⁶⁸⁸ Wenn dessen Herz ebenso gelu̍ tert und so reine sei wie das unverfälschte Gold, dann vermöchte ihn die hitze der bôsheit niemals so zu brennen, dass auch nur einer seiner Gedanken sich dem Laster zuwende (V. 9–12). Die bôsheit kann seine tugent also ebenso wenig mindern (V. 3) wie die Feuersbrunst diejenige des Goldes. Die Läuterung und Prüfung des Goldes als Bild für die Läuterung und Prüfung des Menschen ist ein weit verbreiteter Topos: Das Motiv begegnet in der antiken lateinischen Literatur, ganz besonders aber (mehrfach) in der Bibel und ist entsprechend auch in den volkssprachigen europäischen Literaturen des Mittelalters geläufig.⁶⁸⁹ Die Logiken des ‚Prüfens‘ – das heißt: den wahren Wert einer Sache festzustellen – und des ‚Läuterns‘ – also des Verfeinerns dieser Sache – verschränken sich dabei partiell, nicht zuletzt deswegen, weil der Akt der Prüfung auch zur Verfeinerung beitragen kann. Beim Kanzler wird dieses sonst meist in sentenzhafter Kürze begegnende Motiv zu einer Exempelgeschichte mit differenziertem Auslegungsteil ausgeweitet. In dieser Auslegung akzentuiert er das bekannte Motiv des Prüfens und Läuterns um. Das Brennen des Goldes ist hier nur noch implizit als Prüfverfahren zu erkennen, im Vordergrund steht vielmehr die Erstaunlichkeit seiner Beständigkeit: Selbst das verderblichste Feuer kann das reine Gold nicht verfälschen. Gerade dieser Aspekt des Wunderhaften macht das Phänomen nutzbar, um es in ein Analogieverhältnis zu einem anderen erstaunlichen Faktum zu setzen, dessen Wahrhaftigkeit wiederum durch diese Analogie bestätigt werden soll, nämlich dass die Tugend des wahrhaft Vorbildlichen auch inmitten einer zuchtlosen Umgebung und trotz der Bedrängnis durch das Böse nicht beschädigt werde. Dass das Feuer mit niederem tugendlosem Fehlverhalten gleichgesetzt wird und nicht wie in der religiös geprägten Auslegungstra-

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 120.  Zahllose Belegstellen bietet hier das TMPA (Gold 4.2), S. 124–128; vgl. auch etwa Hartmann von Aue Erec (V. 6783–6791), Wolfram von Eschenbach Parzival (V. 614, 12–14), Gottfried von Straßburg Tristan (V. 4889–4895 und bes. 12935–12941; vgl. dazu die Erläuterungen und zahlreichen [alttestamentarischen] Belegstellen bei Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. Bd. 1. Amsterdam 1984–1988, hier S. 269–275), Konrad von Würzburg Trojanerkrieg (V. 15506 f.), 1Rum/4/2.

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dition mit Erniedrigung oder Demütigung,⁶⁹⁰ zeigt die Richtung der Kanzlerschen Umfunktionalisierung dieses Exempels an, das hier für den Kontext allgemeiner Moral- und Tugendlehre nutzbar gemacht wird.⁶⁹¹ Indem das Kanzlersche Sänger-Ich das Geläutert-Sein als Vorbedingung für die hier gepriesene Unverfälschbarkeit ausstellt, zeigt es implizit, dass Makellosigkeit etwas ist, was durch einen Läuterungsprozess, nämlich eine bestimmte Art vorbildlichen Handelns erreicht werden kann (und soll). Auf das Gold bezogen geschieht eine solche Läuterung – zumindest der Motivtradition gemäß – durch das Feuer. Auf das Vergleichsobjekt der Tugendhaftigkeit bezogen bedeutet das pointiert gesagt, dass der Gute erst durch die Präsenz des Schlechten und mittels der Anfechtung durch das Böse geläutert wird. Erst indem er sich von niederem falschem Verhalten abgrenzt, kann er seine eigene Qualität beweisen und festigen. Erst die negative Kontrastfolie des Fehlverhaltens adelt seine Tugend. Noch weiter abstrahiert könnte man sagen, dass das Gute seinen Wert erst aus dem Schlechten gewinnt – ein Gedanke, der die Strophe eng mit 1Kanz/3/4 verknüpft, die dieses Ausspielen von dichotomischen und komplementären Gegensätzen zugleich zum poetischen Prinzip macht.⁶⁹² Ansätze einer solchen Poetik der Gegensätzlichkeit zeigt auch die vorliegende Strophe, indem sie – komplementär zur Auslegung vom Gold in der Feuersglut auf den Mann – im zweiten Teil des Abgesangs die Palme in der Winterkälte auf die Frau ausdeutet. Die streng zweigeteilte Struktur des Abgesangs nimmt dabei symmetrisch diejenige des Aufgesangs wieder auf,⁶⁹³ zudem ist die zweite Auslegung dezidiert parallel zur ersten aufgebaut: Auch sie betont explizit die Vergleichsrelation (der palmen gelichet, V. 13) und überträgt dann Punkt für Punkt das Exempel. Der grünen Farbe der Palme setzt sie die Farbe der reinen tugent gleich, wenn die Frau sie an sich striche[ ] und sich damit davor bewahre, durch böses Begehren im Kleid der Schande zu erbleichen (V. 14–16). Das schandebringende Fehlverhalten wird damit dem Winter gleichgesetzt, welcher der Palme ebenso wenig das Grün ihrer Blätter zu rauben vermag.⁶⁹⁴ Gleichermaßen wie im vorangehenden Exempel insinuiert die Exempel-

 Diese vielfach begegnende Deutung (vgl. S. 239, Anm. 689) ist bei Iesus Sirach 2,5 angelegt: quoniam in igne probatur aurum et argentum/ homines vero receptibiles in camino humiliationis; vgl. auch Minucius: Ut aurum ignibus, sic nos discriminibus arguimur (36,9); aber auch Seneca: Ignis aurum probat, miseria fortes viros (De Proverbiorum, 1, 5, 9), beide zit. nach TPMA, Bd. 5, S. 125, Nr. 78 f.  Im Anspielungshorizont mag zudem auch Prov 27,21 liegen: quomodo probatur in conflatorio argentum et in fornace aurum sic probatur homo ore laudantis, womit das Gleichnis auch einer impliziten Selbstthematisierung des Lobgesanges diente.  Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 405 f., führt zu Strophe 1Kanz/3/4 aus (vgl. Kap. 2.3.4, bes. S. 203, Anm. 561 ff.), dass die Gedankenführung darauf angelegt sei, zu zeigen, dass „vollere Wirklichkeit sich auch am Gegensätzlichen konstituier[e], das Eine seine vollere Realität erst im Hinblick auf das Andere (verkehrten Vorzeichens) gewinnen“ könne. Dass diese Art eines Argumentierens per analogiam auch für die vorliegende Strophe zu beobachten ist, betont schon Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 173 f.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 121.  Vgl. dazu auch Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 173.

2.5.4 Ton XVI, Strophe 4 – Gold und Palme (1Kanz/5/4)

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erzählung – die Palme ist umgeben von Schnee und Reif – auch hier, dass die Tugend sich gerade in der Abgrenzung vom umgebenden Übel bewährt. Die arge lust, das falsche Verlangen als Laster der Frau, alludiert den Sündenfall und spielt so ihre Eva-Tochterschaft aus. Konsequent erklärt sich von diesem Gegenpol aus der Vergleich der tugendhaften Frau mit der Palme, die als Symbol Mariens begegnet, also als Symbol des typologischen Antitypus Evas.⁶⁹⁵ Die Palme ist dabei „ein Bild ihres [Mariens, Anm. d. Verf.] Sieges über die Welt und deren Versuchungen“ und „ihrer immerwährenden Tugendliebe“.⁶⁹⁶ Entsprechend preist Konrad von Würzburg Maria in der Goldenen Schmiede mit den Worten: dîn tugend hôhe ûf reichet,/ ſam in Cades der palmen rîs (V. 186 f.).⁶⁹⁷ Indem der Kanzler die makellose Frau mit einem mariologischen Vergleich umschreibt, transzendiert er geradezu ihre Tugendhaftigkeit. Zugleich aber bleibt festzustellen, dass für die eigenwillige Ausweitung dieser Symbolik der Palme zu einer Exempelgeschichte ihrer Beständigkeit im Schnee sowie für deren ebenfalls nicht „unbedenklich[e]“⁶⁹⁸ Auslegung keine vorgängige Tradition zu fassen ist. Es könnte sich dabei also um eine Eigenschöpfung des Kanzlers handeln. Besonders interessant ist das in Hinblick auf den Aufbau der Strophe und ihre Verschränkung der beiden Exempel: Das Motiv des ersten Gleichnisses, das die Unverfälschbarkeit des reinen Goldes mit derjenigen des makellosen Mannes parallelisiert, ist nämlich – wie oben dargelegt – traditionsreich und geradezu sprichwörtlich, kann also offenbar als bekannt vorausgesetzt werden. Dass der Kanzler dieses kleine Motiv zu einer Exempelgeschichte ausbaut, entspricht seiner didaktischen Absicht, es

 Vgl. Genoveva Nitz: [Art.] Bäume. In: Marienlexikon, hg. im Auftrag des Institutum Marianum Regensburg e. V. von Remigius Bäumer, Leo Scheffczyk. St. Ottilien 1988. Bd. 1, S. 328 f., hier S. 329; angeregt möglicherweise durch den Vergleich der Braut mit der Palme im Hohelied: statura tua adsimilata est palmae et ubera tua botris, Cant 7,7.  Vgl. Anselm Salzer: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literarhistorische Studie. Linz 1898, hier S. 182; Salzer (ebd. [Anm. 4]) zitiert dafür Richard von St. Laurent: arbor victoriosa et designans victoriam: quia mundum paupertate, carnem virginitate, diabolum vicit humilitate. Nec solum signum, sed et causa victoriae: quia et pugnat pro nobis contra hostes invisibiles et eius adiutorio de ipsis triumphamus. Item ante ipsam nunquam apparuit victoria, sed omnes tanquam devicti in carcerem trudebantur (de laud. M. l. 12, c. 6 § 5 [opp. Albert. M. t. 20, p. 409]) und Jacobus de Voragine (ebd. [Anm. 5]): palma semper est virens: sic Maria semper habuit virides cogitationes, quia fuerunt sanctae. Virides intentiones, quia mundae fuerunt, et virides cogitationes, quia fuerunt valde sollicitae (Mar. serm. 1 P [p. 131]).  Zit. nach: Konrad von Würzburg: Die Goldene Schmiede, hg. von Wilhelm Grimm. Berlin 1840. Später begegnet das Motiv mehrfach beim Mönch von Salzburg (G 5, Str. 2, V. 9; Str. 5, V. 33 f. [hier eindeutig als Hohelied-Zitat]; G 7, Str. 8, V. 43; G 8, Str. 8, V. 1, zit. nach: Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg, hg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin 1972). Besonders auffällig ist dann auch die Auslegung der (weiblichen) Palme auf Maria bei Konrad von Megenberg (Buch der Natur, IV.A.35), die sich zwar nicht bei Thomas von Cantimpré findet, aber dennoch auf eine vorgängige Tradition verweisen könnte.  Vgl. Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 173.

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für die Morallehre nutzbar zu machen. Mit diesem ersten Exempel nun, das sich dem Rezipienten über das bekannte Motiv leicht erschließt, bereitet er das zweite – unbekannte – Exempel vor. Indem er dieses dabei argumentationslogisch und strukturell streng parallel zum ersten aufbaut, verknüpft er die Gleichnisse intratextuell. Damit sichert er zum einen das Verständnis des neugebildeten Beispiels und erlaubt ihm zum anderen, an der Autorität des bekannten Exempels zu partizipieren. Zudem verweist – gerade durch die Parallelisierung der beiden Exempel – der biblische Hintergrund des ersten Exempels auf die mariologische Ebene des Palmenvergleichs.

2.5.5 Strophe 5 – Lebensabschnitte (1Kanz/5/5) C Kanz  Swelh leben ein gt ende hat, daz ms von schulden heissen gt, wie krank sin mittel si gewesen, wie swach sin urhab si.  swa mittel gt vor ende stat mit im vor arger tat beht, ich hoͤ re die wisen meister lesen, da ste daz besser bi. swa man ms arges ende spehen,  gt urhab unde gt mittel des engildet, swaz gtes bi den ist beschehen, mit argem ende man si beide schildet. mag gt urhab gt mittel han, ist nach den zwein ein ende gt unde veste,  daz sol wol unbeschulten stan – es ist hie gt unde heisset dort das beste.

Wie die vorangehende Strophe zeichnet sich auch die vorliegende durch eine auffällig klare argumentationslogische Strukturierung aus, die den Text ebenfalls in vier gleich lange Passagen teilt. Ihr übergreifendes Thema ist die Frage, welches Leben rückblickend als gut zu bewerten sei. Um das zu erörtern, segmentiert sie die Lebensspanne des Menschen in Anfang (urhab, V. 4), Mitte und Ende und diskutiert, wie wichtig vorbildliches Verhalten in welchem dieser Lebensabschnitte ist. Dabei spielt sie in den vier Abschnitten der Strophe – erster und zweiter Stollen, erster und zweiter Teil des Abgesangs – vier verschiedene Konstellationen durch und bewertet sie. Zuerst thematisiert das Sänger-Ich ein Leben, das einen armseligen Anfang und eine kraftlose Mitte hat, und konstatiert, dass ein solches dennoch rechtmäßig als gutes Leben zu bewerten sei, wenn es ein gutes Ende habe (V. 1–4). Diese Vorstellung, dass zu jedem Zeitpunkt noch eine conversio möglich sei, die selbst ein ‚schlechtes‘ Leben am Ende noch zum Guten wenden könne, offenbart eine geistliche Perspekti-

2.5.5 Ton XVI, Strophe 5 – Lebensabschnitte (1Kanz/5/5)

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ve.⁶⁹⁹ Die unspezifizierten Wertbegriffe ‚gt‘ und ‚krank/swach‘ erweisen sich insofern implizit als religiös fundiert. Der zweite Stollen verhandelt als zweite Konstellation den Fall, dass – weiterhin bei schlechtem Lebensanfang – dem guten Lebensende zudem eine gute Lebensmitte vorangehe (V. 5 f.). Ein solches Leben wertet das Sänger-Ich – im Verhältnis zur vorherigen ‚guten‘ Konstellation – als ‚besser‘ (V. 8). Für diese Bewertung beruft es sich darauf, was es die wisen meister lesen höre (V. 7), legitimiert mit dieser Autoritätsberufung die Wahrheit seiner Aussage, aber auch die Relevanz und Gelehrsamkeit dieses Themas. Zudem konkretisiert die Strophe hier, worin sich eine gte Lebensführung beweise, nämlich darin, keine bösen Taten zu begehen (V. 6). Das Prinzip einer sich steigernden Reihe, das sich im Aufgesang andeutet (gt, besser), unterläuft der Abgesang im Folgenden vorerst:⁷⁰⁰ Die dritte Konstellation nämlich führt nicht die ‚beste‘ Lebensvariante vor, sondern erklärt, dass ein in Vorbildlichkeit gelebter Lebensanfang und eine ebensolche Mitte des Lebens ein abschließendes Ende in Schändlichkeit nicht aufwiegen können (V. 9 f.). Das schlechte Ende wirke in seiner Verderblichkeit sogar zerstörerisch auf die in der Vergangenheit erbrachten guten Taten zurück (V. 11 f.) – ein Gedanke, der sich ähnlich bei Reinmar von Zweter findet (‚[…] ist guot‘, daz ist guot; ‚was guot‘, daz ist mêre danne halp verlorn./ Swer guot sî, der belîbe ouch guot, 1ReiZw/1/70, V. 3 f., zit. nach Roethe).⁷⁰¹ Die letztendliche Abkehr von der Vorbildlichkeit entehrt mithin das vorige Leben sowie die Erinnerung daran und zerstört zudem die Hoffnung auf Erlösung. Die ehedem geleisteten guten Taten werden durch die Abkehr zum Schlechten in beiden Bezugssystemen entwertet. Der letzte Teil des Abgesangs bringt schließlich den Superlativ, auf den die Steigerung des Aufgesangs hinzielt: Mit der vierten Konstellation, nämlich einem Leben, dessen Anfang, Mitte und Ende von Vorbildlichkeit geprägt sind, stellt er den Lebensentwurf vor, der gänzlich frei von Tadel ist und mithin gleich zweifach ausgezeichnet erscheint, denn ein solches Leben gelte hie (innerweltlich) als gt und dort (vor Gott) als das beste (V. 13–16). Indem die Strophe hier ausdrücklich zwei Perspektiven für die Bewertung des menschlichen Lebens ansetzt, spielt sie erneut auf das – besonders seit Walther – in der Gattung breit verhandelte Thema an, wie der Mensch weltliches Ansehen und göttliche Gnade auf sich vereinen könne. Mit der programmatischen Verhandlung einer In‐/Kongruenz der Qualität von Anfang und Ende des Lebens steht die Strophe dabei dem Sentenzhaften nahe: Der Thesaurus proverbiorum medii aevi bietet eine breite Sammlung von Belegstellen, die sprichworthafte Reflexionen über eine solche In‐/Kongruenz von gutem beziehungsweise schlechtem Anfang und Ende zeigen,⁷⁰² wobei hier, wenn diese auf die Le Vgl. Zach (Kanzler), S. 244.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 245.  Vgl. dazu auch Roethe (Reinmar von Zweter), S. 590 f.  Guter Anfang hat auch gutes Ende, vgl. TPMA ‚Anfang‘, S. 137 f. [Kap. 2.3.2]; schlechter Anfang hat schlechtes Ende, vgl. TPMA ‚Anfang‘, S. 138 f. [Kap. 2.3.3]; guter Anfang hat schlechtes Ende, vgl. TPMA

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bensführung bezogen sind, die Vorstellung einer Übereinstimmung dominiert: Ein gutes Leben zeitigt ein gutes Ende, ein übles Leben ein übles Ende.⁷⁰³ Das Ende ist in diesen Sentenzen in der Regel der Tod, der gut oder ehrlos beziehungsweise gewaltsam sein kann. Der Kanzler alludiert mit seinen sentenzhaften Formulierungen diese Vorstellungen, setzt das Ende aber nicht mit dem Tod gleich, den der Mensch passiv annehmen muss, sondern profiliert das Ende des Lebens als Zeitspanne, in welcher der Mensch handlungsfähig ist, und verweist auf die Möglichkeit, diesem sprichwörtlichen Diktum entgegenzuwirken (im Guten wie im Schlechten). Er betont also die Chance sich auch am Ende des Lebens noch zum Guten zu wenden sowie die Gefahr, das gut gelebte Leben zu verspielen, und hält damit nachdrücklich dazu an, unermüdlich nach Vorbildlichkeit zu streben. Zudem rückt er die Bewertung des Lebens dezidiert in eine geistliche Perspektive, womit die Frage nach einem guten oder schlechten Ende zu einer Entscheidung über das Seelenheil wird. Darüber hinaus referiert die Strophe auf einen gattungsinternen Diskurs zu vorbildlichem Verhalten in verschiedenen Lebensaltern. Reinmar von Zweter (1ReiZw/1/ 200) etwa mahnt den jungen Mann, sich mit zwölf Jahren vorbildlich zu verhalten, dass er mit zwanzig ehrenvoll sei, mit vierundzwanzig weitere Tugenden anzunehmen, ebenso mit dreißig, um es gegebenenfalls wiedergutzumachen, sollte er sich in der Jugend vergâhet haben (V. 9) – so könne er sich schließlich im Vollbesitz der Vorbildlichkeit den fünfzig Jahren nähern. Der Meißner nimmt das in einer Begriffslobstrophe über die bescheidenheit auf (1Mei/15/3), in der er den jungen Mann ebenso auffordert, sich schon vor seinem zwanzigsten Lebensjahr in vorbildlichem Verhalten zu üben (V. 7 f.). Wer nämlich tugendlos über dreißig werde, um dessen Zukunft stehe es schlecht, und mit fünfzig schließlich, sei die beste Zeit dahin (V. 9–12). Wohl dem – so schließt die Strophe sentenzhaft –, der seine Jugend ehrenvoll ins Alter überführe (V. 12 f.). Beide Strophen rekurrieren dominant auf innerweltliches Ansehen und betonen daher die Notwendigkeit einer frühzeitigen Hinwendung zu vorbildlichem Verhalten. Implizit bewerten sie entsprechend ein Leben, dessen Anfang oder zumindest dessen Mitte sich nicht durch einen vorbildlichen Lebenswandel auszeichnen, als wertlos. Die Strophe des Kanzlers greift genau dieses Thema auf, propagiert aber den Wert auch einer späten Umkehr und betont damit, dass der ‚wahre‘ Wert vorbildlichen Verhaltens nicht im Erringen innerweltlichen Ansehens liege, sondern darin, sich um Gottes Gnade verdient zu machen.⁷⁰⁴ Indem die Kanzlersche Strophe die Trias von

‚Anfang‘, S. 146 [Kap. 4.2.1]; schlechter Anfang kann gutes Ende haben, vgl. TPMA ‚Anfang‘, S. 146 f. [Kap. 4.2.2].  TPMA ‚Leben‘, S. 314 f. [Kap. 4.1.2.1 f.].  Auch der Junge Meißner betont den Aspekt der Heilssorge, problematisiert aber gerade eine zu späte Reue in hohem Alter und ruft daher – wie Reinmar und der Meißner – den Dreißigjährigen zur unbedingten Umkehr auf (1JungMei/1/14); im Zuge einer Heilssorgethematik erörtert auch Rumelant verschiedene Lebensalter, wobei er – verbildlicht über die Statue aus Nebukadnezars Traum, deren Materialien vom Kopf zu den Füßen zunehmend an Wert verlieren – die verschiedenen Lebensalter des

2.5.5 Ton XVI, Strophe 5 – Lebensabschnitte (1Kanz/5/5)

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Anfang, Mitte und Schluss wiederholt hervorhebt, betont sie die Notwendigkeit, die Dinge unter einer Perspektive der Gesamtheit zu betrachten. Dem arbeitet auch die Gegenüberstellung der vier verschiedenen Konstellationen zu, die suggeriert, dass hier eine causa unter Berücksichtigung aller relevanten Beispielfälle verhandelt und damit umfassend erschlossen wird und dass erst damit eine letztgültige Bewertung möglich ist, die gerade aus diesem rhetorisch-argumentativen Verfahren ihre Gültigkeit bezieht. Diesen Aspekt greift eine Strophe Frauenlobs wieder auf (1Frau/7/102,3), die sich durch eine Vielzahl von Wort- und Argumentationsresponsionen als dezidierter Rekurs auf die Strophe des Kanzlers verstehen ließe. Sie abstrahiert dessen Reflexionen aber, indem sie das Thema der Lebensalter tilgt und grundsätzlich das Verhältnis von Anfang, Mitte und Ende reflektiert. Dabei betont sie besonders die Bedeutung des guten Endes, das allein erst Vollkommenheit ermögliche: Swie gut daz anbeginne si,/ swie rich daz mittel ouch dabi,/ so saget ouch daz ende/ die ganzen vollekomenheit an aller schicht./ swer siner tat ein gutez ende schicket nicht,/ des tat wirt nimmer wol behut (V. 9–14, zit. nach GA [X, 6]). Dieser Rekurs Frauenlobs auf die Strophe des Kanzlers zeigt, dass dessen betont reflektierte Verhandlung seines Gegenstands sowohl als solche wahrgenommen wurde als auch Anreiz zu einer Weiterführung und Überbietung gegeben hat. Jene überbietende Absicht beweist sich sowohl in der fortgeführten Abstraktion, die noch stärker auf eine definitorische Verhandlung abzielt, als auch darin, dass diese Erörterung unterschwellig zugleich als poetologische Reflexion über das Verfassen von Texten lesbar ist: Man muss sein Leben, seine Taten, seine Texte zu einem guten Ende führen.

Menschen ausgehend vom reinen Zustand der Taufe als Stufen zunehmender Versündigung profiliert (1Rum/4/1–3), vgl. dazu Kern (Rumelant, Kommentar), S. 367–374 (dabei reflektiert und verortet Kern auch die ungewöhnliche Funktionalisierung des Nebukadnezarschen Traumes).

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2 Analysen

2.5.6 Strophe 6 – Geiz der Herren (1Kanz/5/6) C Kanz  Mich vraget manig edel man: ›her Kanzler, ir ku̍ ndet mir, man seit, ir ku̍ nnet ku̍ nste vil – waz tt u̍ ch gtes bar?‹  des antwu̍ rte ich im, ob ich kan, dur waz ich gtes ofte enbir: die herren kargent ane zil, swar ich der lande var. het ich gelu̍ ke unde da bi kunst  unde oͮ ch die herren milte bi ir gte, erwurb ich danne der edelen gunst, armt, so schiede ich gar von diner hte. sus hat gelu̍ ke von mir pfliht – ob ich iht kan, waz sol mich daz genu̍ tzen?  mir sint die herren milte niht, mich schu̍ het ir gt sam wildu̍ kra den schu̍ tzen.

Der Anfang der vorliegenden Strophe stimmt fast wortwörtlich mit demjenigen von Strophe 1Kanz/2/8 überein.⁷⁰⁵ In beiden Strophen berichtet das Sänger-Ich, dass es eine Frage gebe, die ihm viele Adelige stellten. Diese Frage wird hier in direkter Rede wiedergegeben, wobei das Sänger-Ich den Adeligen eine Anrede seiner selbst als ‚her Kanzler‘ in den Mund legt. Damit schließt es Sänger-Ich, Dichter und Vortragenden kurz und schafft – zumindest scheinbar – einen autobiographischen Realitätsbezug. Die Frage der Herren selbst, nämlich warum das Sänger-Ich nicht über gt verfüge, wo es ihnen doch erzähle, dass man sage, es sei so außerordentlich kunstreich (V. 2–4), verschränkt eine Vielzahl von Aussagen und Unterstellungen. Wie schon die Frage in 1 Kanz/2/8 (warum es so viele gernde gebe) zielt auch diese Frage nur scheinbar auf Antwort ab. Zunächst impliziert sie die Feststellung, dass der Kanzler, der Sänger, tatsächlich bedürftig sei. Sodann lässt sie die Adeligen vordergründig – beinahe empathisch – die Erstaunlichkeit und Ungerechtigkeit ausstellen, dass ein so gerühmter Dichter so mittellos ist.⁷⁰⁶ Indem die Frage diese Inkongruenz von reicher Kunst und materieller Mittellosigkeit betont, zieht sie aber indirekt zugleich die Aussage des Sänger-Ichs – dass man sage, er sei kunstreich – in Zweifel.⁷⁰⁷ Diesen Zweifel unterstreicht die seltsame Distanzierungsform ir ku̍ ndet mir,/ man seit, ir ku̍ nnet (V. 2 f.), womit das Sänger-Ich die Herren sagen lässt, dass sie weder selbst die Kunst des Kanzlers zu beurteilen in der Lage seien noch wenigstens selbst davon gehört hätten, dass andere diese Kunst positiv beurteilten, sondern dass dies nur der

 Manig herre mich des vraget, 1Kanz/2/8, V. 1; vgl. dazu auch Kap. 2.2.4.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 54.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 55.

2.5.6 Ton XVI, Strophe 6 – Geiz der Herren (1Kanz/5/6)

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Kanzler ihnen gegenüber geäußert habe.⁷⁰⁸ Wäre dem tatsächlich so – das suggeriert diese Frage –, müssten doch die, die seine Kunst rühmen, ihn dafür auch entsprechend mit Almosen bedenken und dann dürfte er gar nicht so bedürftig sein, wie er es (offenbar) zu sein vorgibt. Die Adeligen behaupten mithin eine Zusammengehörigkeit von reichen Almosen und guter Kunst und damit im Umkehrschluss implizit auch einen Konnex von Armut und kunstlosigkeit. Damit bringen sie das Sänger-Ich gewissermaßen in eine dilemmatische Situation, denn entweder es verteidigt seinen Kunstreichtum und zieht seine Heische zurück beziehungsweise muss zugestehen, dass seine Kunstfertigkeit nicht durch angemessenen Lohn bestätigt wird, oder es verteidigt seine Bedürftigkeit und zieht damit – zumindest nach dieser Setzung – implizit sein künstlerisches Vermögen in Zweifel. Geschickt erscheint die ‚Frage‘ der Herren damit erneut (vgl. 1Kanz/2/8) als Abwehr der sängerischen Heische. Beflissen wie in 1Kanz/2/8 kündigt das Sänger-Ich aber auch hier – ebenfalls unter Aufbietung einer Demutsformel (ob ichs kan, 1Kanz/2/8, V. 5) – an, zu erklären, warum es oft des Besitzes entbehre (1Kanz/2/8, V. 5 f.). Das Sänger-Ich profiliert die Frage insofern um, indem es darauf abhebt, nicht immer mittellos zu sein, womit es andeutet, dass seine Kunst durchaus bisweilen angemessen entlohnt werde. Dadurch entzieht es sich bereits anteilig der provokativen Frage, ohne sich zu kompromittieren. Die Ursache seiner Mittellosigkeit, so erklärt das Sänger-Ich im Folgenden, sei der Geiz der Herren: Wohin auch immer es komme, würden sie kargen[ ] ane zil (V. 7 f.). Mit dem k‐Anlaut der ungewöhnlichen Verbbildung kargen verweist das Sänger-Ich auf die Alliteration des zugehörigen Reimverses aus der Rede der Herren im ersten Stollen zurück (man seit, ir ku̍ nnet ku̍ nste vil,V. 3) und stellt damit indirekt sein Tun und seine Fähigkeit kontrastiv dem Tun der Adeligen gegenüber. Die vom Kanzler angeklagte Diskrepanz zwischen pekuniärer Wertschätzung und künstlerischem Vermögen ist bei Walther vorgeprägt (1WaltV/8/8 [L. 28,1]).⁷⁰⁹ Im Rahmen einer an Friedrich II. adressierten Heischestrophe beklagt er, dass man ihn bî rîcher kunst […] lât alsus armen (V. 2). Die Diskrepanz von Bedürftigkeit und künstlerischer Fähigkeit wird hier geradezu als „Unrechtsverhältnis[ ]“ profiliert, dessen Berichtigung gefordert wird.⁷¹⁰ Zugleich stellt das Walthersche Sänger-Ich in Aussicht, gegen angemessene Entlohnung seine Klage zu unterlassen und wieder wie früher von den vogellînen, der heide und den bluomen zu singen – also Minnesang darzubieten – und zudem den König von seiner nôt zu befreien (V. 4–7, 10).⁷¹¹ Deutlich profiliert

 Die Herren stellen die Kunstfertigkeit des Kanzlers damit zwar in Frage, zugleich aber lanciert das Sänger-Ich seinen Anspruch hier implizit, indem es sie davon berichten lässt, dass es sage, dass ‚man‘ ihm großes künstlerisches Vermögen zuspreche. Rhetorisch geschickt schreibt es sich seine Fähigkeiten damit nicht selbst zu, sondern macht sie, indem es sie sich durch andere attestieren lässt, zu einer objektiv anerkannten Tatsache.  Darauf verweist schon Zach (Kanzler), S. 54.  Vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 384.  Dieser Vers hat zu Versuchen geführt, die Strophe auf konkrete politische Ereignisse zu beziehen, zu dieser Diskussion und einschlägiger Literatur vgl. Schweikle (Walther, Kommentar), Bd. 1, S. 384.

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Walther die Beziehung zwischen Gönner und Sänger damit als gegenseitige Austauschrelation, womit die Forderung um angemessene Vergütung seiner Kunst Drohung und Versprechen zugleich beinhaltet.⁷¹² Auf diese Walther-Strophe reagiert Ulrich von Singenberg mit einer Kontrafaktur (1UlrS/2/1), was auf eine gewisse Verbreitung und kontroverse Wirkung verweist. Auf sie referiert aber auch der Meißner (1Mei/16/4), der dieselbe Diskrepanz beklagt wie Walther: sol ich sus bi richer kunst vurarmen und vurterben? (V. 3, zit. nach Objartel; wobei das fast wörtliche Walther-Zitat dezidiert die Referenz markiert).⁷¹³ Walthers auch als Versprechen politischer Propaganda und Panegyrik lesbare Schlusswendung⁷¹⁴ greift der Meißner in seiner Strophe auf, indem er verspricht, diejenigen, die ihm helfebere seien, mit spruchen unde mit sange zu gewirden wol (V. 4 f.). Dass das keinen Opportunismus bedeutet, kein unwahres Lob, rechtfertigt er mit der Behauptung, dass ihm grundsätzlich nur die Tugendreichen Almosen gäben (V. 8). Auf den ersten Blick wirkt das wie eine zu offensichtliche Heischestrategie. Das Sänger-Ich rechtfertigt diese Behauptung aber dadurch, dass es erklärt, von lasterhaften erelosen grundsätzlich keine Gaben zu erbitten noch zu begehren (V. 7), vielmehr wünsche er allen tugendlosen den Tod (V. 6). Er wisse mit den Almosen eines schalkes nichts anzufangen, einen solchen Menschen könne er vielmehr nur schelten, daz er stinke[ ] wirs dan ein vuler rabe (V. 9–11). Die Strophe behauptet insofern implizit einen Konnex von gutem, wahrem Sang und tugendhaften Herren. Wie bei Walther wird das Verhältnis von Herr und Sänger als Austauschrelation profiliert, wobei hier als Gegenwert – ganz Sangspruch – nurmehr Panegyrik (keine konkrete politische Unterstützung qua Poesie) in Aussicht gestellt wird. Die subtile Drohung Walthers, die bei ihm eher darauf abzielt, Freudensang zu verwehren, wird beim Meißner sehr konkret, indem das Sänger-Ich mit seiner abschließenden polemischen Schelte der tugendlosen die sängerische Macht ausstellt, Ansehen auch zu vernichten. Diesen intertextuellen Hintergrund macht das Kanzlersche Sänger-Ich mit seinem Aufgesang präsent, indem er auf die Diskrepanz von Entlohnung und künstlerischem Vermögen verweist. Dabei formt er das Motiv aber vielschichtig um, indem er diese Diskrepanz nicht selbst beklagt, sondern den Herren als – zudem unterschwellig provokative – Frage an den Sänger in den Mund legt. Damit schafft er sich einen Rahmen, dieses Thema diskursiv zu erörtern, und legitimiert diese Erörterung zugleich, indem er sie als Antwort auf eine Frage der Herren inszeniert. Wo Walther und der Meißner den Missstand fordernd im Modus der Anklage ausstellen, verhandelt der Kanzler ihn also vielmehr diskursiv und diskutiert im Stil einer causa im Abgesang konjunktivisch die notwendigen Bedingungen, die gegeben sein müssten, um den Sänger von seiner Bedürftigkeit zu befreien.

 Vgl. auch S. 226, Anm. 640.  Auch auf diese Strophe verweist schon Zach (Kanzler), S. 54.  die nôt [des Sänger-Ichs, Anm. d. Verf.] bedenkent, milter künic, daz iuwer nôt zergê, 1WaltV/8/8 (L. 28,1), V. 10.

2.5.6 Ton XVI, Strophe 6 – Geiz der Herren (1Kanz/5/6)

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Der einfache Konnex von guter Kunst und Freigebigkeit wird damit implizit als vereinfachende Formel verabschiedet. Vielmehr, das erläutert das Sänger-Ich nun, sei es so, dass es nicht nur der Kunst bedürfe, sondern auch des gelu̍ kes, und die Herren nicht nur des Besitzes, sondern auch der milte – gewönne dann das Sänger-Ich zudem die gunst der Herren, vermöchte es für immer aus der hte der Armut zu scheiden (V. 9– 12).⁷¹⁵ Vorbereitet durch die Parallelisierung des Tuns der Herren und desjenigen des Sängers im Aufgesang, stellen die ersten beiden Verse des Abgesangs mittels des Parallelismus ihrer Satzstruktur das Verhältnis des Sängers zu gelu̍ ke und kunst dem Verhältnis der Herren zu milte und gt gegenüber. Das gt der Herren korrespondiert dadurch der kunst des Sängers, wodurch Besitz und Kunst als deren jeweiliges Vermögen ausgestellt werden. Dass das Sänger-Ich sein künstlerisches Können hier – im Modus eines Bescheidenheitstopos – nur unter Vorbehalt äußert (het ich […] kunst, V. 9), wird assoziativ durch diese Parallelisierung mit dem Vermögen der Herren aufgehoben, das explizit als gegeben ausgewiesen wird. Auf diese Weise vermeidet das Sänger-Ich zugleich, seinen Kunstanspruch der Anfechtbarkeit preiszugeben, indem es ihn selbst behauptet. Das erscheint umso unproblematischer, als es ihn im Aufgesang mit der mehrfach indirekten Behauptung, man spreche ihm große Kunstfertigkeit zu, ja bereits als objektiv anerkannte Tatsache eingespeist hat. Das andere Begriffspaar, das hier aufeinander bezogen wird, sind gelu̍ ke und milte. Während gelu̍ ke definitionsgemäß etwas Unverfügbares ist, ist die milte ein verfügbares menschliches Handlungsmuster. Mit der Gegenüberstellung dieser Begriffe verweist die Strophe nun aber darauf, dass für das Sänger-Ich die milte der Herren ganz genau so unverfügbar ist, wie das gelu̍ ke – und zugleich darauf, dass das gelu̍ ke des Sängers für die Herren ebenso verfügbar sein könnte wie die milte, nämlich wenn sie ihm diese zugutekommen ließen. Die gunst – die letzte Bedingung für eine Befreiung des Dichters aus der Armut (V. 11) – ist dabei gewissermaßen die vermittelnde Instanz zwischen der milte der vermögenden Herren und dem (prinzipiell) glück- und kunstbegabten Sänger. Selbst wenn die Herren also milte sind, ist zudem ihr konkretes, auf die eine Person bezogenes Wohlwollen (gunst) notwendig, damit diese von deren Freigebigkeit bedacht wird. Wenn die Entlohnung des Sängers mithin nicht von der Kunst allein abhängt, sondern von der Gunst der Herren, eignet ihr etwas Willkürliches. Dass das Sänger-Ich insofern neben der Kunst auch des gelu̍ kes bedarf, verweist gleichermaßen auf diese Kontingenz.

 Der Begriff der hte changiert hier: Zum einen stellt das Sänger-Ich mit dieser Formulierung ironisch aus, dass die einzige Obhut und Fürsorge, die er genießt, diejenige der Armut ist, statt etwa derjenigen eines Gönners. Zum anderen spielt das Sänger-Ich mit der hte auf einen Zentralbegriff des Minnesangs an, auf die Instanz, die den Liebenden im Weg steht, und stellt diese ‚Beaufsichtigung‘ durch die Armut damit auch als Hindernis aus, das ihn von Glück und Erfüllung fernhält. Zugleich ließe sich dieser Gebrauch eines Minnesang-Signalbegriffs auch als Markierung der Referenz auf Walthers Strophe verstehen, die – wie ausgeführt – zentral mit einer Referenz auf den Minnesang spielt.

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Gerade dieses gelu̍ ke aber – so stellt das Sänger-Ich nun wieder im Modus der Realität fest – fühlt sich ihm gegenüber leider nicht verpflichtet (V. 13).⁷¹⁶ Selbst wenn also das Sänger-Ich über Kunst verfügte, so konstatiert es mithin pessimistisch, würde ihm das nichts nützen (V. 14). Die Herren seien ihm gegenüber nicht milte, vielmehr fliehe ihr gt vor ihm wie eine wilde Krähe vor dem Schützen (V. 15 f.).⁷¹⁷ Den Herren wird damit kein genereller Mangel an milte vorgeworfen, sondern einer, der sich ganz konkret gegen das Sänger-Ich richtet. Von den vorgenannten Bedingungen für eine Entlohnung des Sängers sind mithin drei erfüllt: Das Sänger-Ich verfügt über Kunst und die Herren über gt und milte. Weil das Sänger-Ich jedoch kein gelu̍ ke hat, fehlt ihm die vermittelnde Instanz, nämlich die Gunst der Herren. Vordergründig macht das Sänger-Ich hier also das gelu̍ ke und damit eine unverfügbare Macht für seine prekäre Situation verantwortlich, womit es Entlohnung grundsätzlich als etwas Kontingentes ausstellt und die Herren so – anders als Walther und der Meißner – scheinbar entlastet. Zugleich sensibilisiert es über rhetorische Parallelisierungen jedoch dafür, dass die Herren Verfügungsgewalt über dieses für das Sänger-Ich unverfügbare gelu̍ ke haben, nämlich wenn sie ihm ihre Gunst in Form ihrer milte erwiesen. Interessant an dieser Strophe ist auch, dass das Sänger-Ich hier den Herren einleitend in den Mund legt, dass es einen Konnex von guter Kunst und angemessener Entlohnung gebe. Genau das ist schließlich die als Forderung vorgetragene Kernaussage der Strophen Walthers und des Meißners, auf die der Kanzler rekurriert. Beim Kanzler wird diese Formel von den Herren als provokatives Argument gegenüber dem bedürftigen Sänger funktionalisiert. Das ermöglicht dem Kanzler, auf die Kontingenz der Entlohnung zu verweisen, deren Abhängigkeit vom gelu̍ ke er deutlich mit der Willkür und Unverfügbarkeit adeliger Gunst kurzschließt. Vor diesem Hintergrund entfaltet die deutlich markierte intratextuelle Referenz auf 1Kanz/2/8 (gernden-Schelte) ihr Sinnpotential, in welcher das Sänger-Ich das falsche Gebeverhalten der Herren  Dem läge die Auffassung zugrunde, dass ‚sus hat gelu̍ ke von mir pfliht‘ gewissermaßen als räumliche Umkehrung der idiomatischen Äußerung ‚zuo jemandem/etwas phliht haben‘ (jemandem gegenüber zu etwas verpflichtet sein) zu verstehen wäre; das gelu̍ cke ist dem Sänger also nicht verpflichtet, d. h. er hat kein Glück, so auch Zach (Kanzler), S. 60; Seidl (LDM, Kommentar).Vielleicht ließe sich der Passus aber auch umgekehrt verstehen, also etwa: ‚Weil das so ist, hat das Glück eigentlich geradezu eine Verpflichtung mir gegenüber, wenn ich über Kunst verfüge, aber was bringt mir das? Die Herren sind geizig…‘. In diesem Fall läge die Pointe darin, dass, selbst wenn das unverfügbare Glück dem Sänger gegenüber verpflichtet wäre, also nicht kontingent, wenn also beide Bedingungen von Sänger-Seite aus erfüllt wären, das noch immer nichts nützte, weil die Herren ihm gegenüber einfach nicht milte sind.  Dieses auffällige Schlussbild lässt sich auch als unterschwellige Referenz auf die Strophe des Meißners lesen, die ebenso unvermittelt bildhaft mit einem Vogelvergleich, nämlich dem verwesenden Raben endet, dessen Gestank er dem der lasterhaften Herren gleichsetzt.Wenn die Tugendreichen beim Meißner diejenigen sind, die dem Sänger Almosen geben, und die Krähe beim Kanzler Ausdruck für den Besitz der Herren ist, die dem Sänger ihre Gabe verweigern, dann suggeriert er vermittels der bildlichen Referenz implizit, dass die Herren mit einer Verweigerung der Gabe in die Nähe derart stinkender schalke rücken.

2.5.7 Ton XVI, Strophe 7 – Das gelu̍ cke (1Kanz/5/7)

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anprangert, die den Schmeichlern, Lügnern und Speichelleckern gäben – also genau solchen, die sich professionell darauf verstehen, die gunst der Herren zu erwerben –, ihre Gaben für Kunst aber nicht aufwendeten. Die vorliegende Strophe verweist über diesen intratextuellen Bezug mithin auf die bedauerliche Realität einer von falschen Interessen geleiteten Gebepolitik der Herren, die sich nicht an das hält, was diese doch selbst vorgeblich als geradezu naturgegebene Ordnung erkennen, nämlich große Kunstfertigkeit um ihrer selbst willen angemessen zu entlohnen – und stellt damit aus, dass es gerade an ihnen, den Herren selbst, läge, diese Ordnung zu restituieren.

2.5.7 Strophe 7 – Das gelu̍ cke (1Kanz/5/7) C Kanz  Gelu̍ ke, wol man din bedarf bi fu̍ re, in luft, uf erde unde in dem mer. swaz kunst ein man gelernet hat, du̍ frumt im an dich niht.  suͤ z ist din kunft, din scheiden scharf, du richest, ermest sunder wer, du leistes ungeheissen tat, du tru̍ gest zversiht. din wildes welzen wunderlich  verre us menschlich gedenken ist gestrichen. mit sinnen unbegrifeklich ist der ursprung, us dem du kumst geslichen. du stest den argen ofte bi, din wirt gefroͤ it der boͤ se unde oͮ ch der gte;  ich wên, es nieman wissende si, mit welhem dienste man an dich helfe mte.

Diese Strophe nimmt den zentralen Begriff des gelu̍ kes aus der (nach C) vorangehenden Strophe auf, spricht das Abstraktum personifiziert an und beschreibt dessen Wirken und Wesen. Mit der einleitenden Behauptung, dass der Mensch des Glückes bedürfe, wo immer er sei – bi fu̍ re, in luft, uf erde unde in dem mer (V. 2) –, verweist die Strophe auf die Abhängigkeit des Menschen von dieser Gewalt, deren Allmacht sich zugleich darin offenbart, dass sie in allen diesen vier Elementen zu wirken vermag.⁷¹⁸ Mit der folgenden Aussage, dass dem Menschen ohne Glück nichts nutze, was immer

 Unterstützt wird das durch die intratextuelle Referenz auf Strophe 1Kanz/2/1, in der die vier Elemente im Rahmen des Schöpferpreises aufgezählt werden und Gottes Herrschaft über sie gepriesen wird (vier element in diner hant/ sint eigenlich betwungen:/ luft, wasser, vu̍ r, erteriche, V. 13–15); Zach (Kanzler), S. 198, verweist zudem auf die Strophe 1Kanz/5/9, die Gottes Macht über Himmel, Luft, Erde, Meer und Hölle hervorhebt, und sieht dem Glück über diese Parallelisierung den Status einer göttlichen Macht zugedacht.

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2 Analysen

er an Kunst gelernt habe (V. 3 f.), greift das Sänger-Ich den zentralen Gedanken der vorangehenden Strophe auf und stellt damit eine intratextuelle Verknüpfung her.⁷¹⁹ Der zweite Stollen profiliert dieses gelu̍ ke im Folgenden, indem er Vers für Vers dessen verschiedene Eigenarten aufzäht und seine Wechselhaftigkeit rhetorisch durch (teils chiastisch angeordnete) Antithesen unterstreicht: Lieblich sei seine Ankunft, schmerzlich sein Abschied; es mache reich und arm, ohne dass man sich dagegen erwehren könne; unerbetene Taten leiste es und betrüge die Hoffnung (V. 5–9), leistet also gerade nicht das, was erbeten, gefordert, erhofft wurde. Mittels der intratextuellen Referenz auf die vorangehende Strophe verweist seine Fähigkeit zu richen und zu ermen auch spezifisch auf die Entlohnung des Sänger-Ichs zurück und erinnert subtil daran, dass das gelu̍ ke des Fahrenden auch durch die Gunst der Herren bestimmt wird, die sie durch milte bezeigen können. Alle diese Wechselfälle des Glücks fasst der Abgesang im Folgenden prägnant zusammen: din wildes welzen wunderlich/ verre us menschlich gedenken ist gestrichen (V. 9 f.). Mit dem welzen des Glückes spielt die Strophe auf das Bild der rota fortunae an, des sich drehenden Glücksrades, das die Veränderlichkeit des Glücks symbolisiert.⁷²⁰ Das Bild begegnet schon in der Antike und wird im Mittelalter durch seine christliche Interpretation bei Boethius zu einem sehr verbreiteten Topos⁷²¹ auch in der volkssprachigen Literatur.⁷²² Die alliterierende Umschreibung als wilt und wunderlich betont die vollständige Ungerichtetheit, Unkontrollierbarkeit und Unabsehbarkeit dieser Bewegung. Die angespielte Vorstellung vom Rad, dessen Umwälzen letztlich doch noch eine gewisse Richtung, Ordnung und Zyklizität eignet, erscheint damit hier noch überboten, die ausgestellte Kontingenz ist absolut: Das Glück wälzt sich beim Kanzler in alle Richtungen wie ein Ball. Das menschlich gedenken (V. 10) kann diese Bewegung, das Handeln des Glücks, mithin weder verstehen noch einkalkulieren. Entsprechend unbegreiflich ist für den Verstand des Menschen auch der Ursprung des Glückes, aus dem es geslichen kommt, dem Menschen also heimlich und unbemerkt zukommt (V. 11 f.). Die Formulierung erinnert geradezu an Inkarnationsbeschreibungen, womit das Glück fast wie eine göttliche Macht erscheint. Auch sein unbegreifliches Handeln stützt diese Konnotation; die gleichzeitige Attribuierung des gelu̍ kes als wilt und wunderlich verleiht ihm dabei aber etwas Unheimliches und Dämonisches.

 Dort: het ich gelu̍ ke unde da bi kunst/ […] sus hat gelu̍ ke von mir phliht –/ ob ich iht kan, waz sol mich daz genu̍ tzen?, 1Kanz/5/7, V. 9–14.  Darauf verweist schon Zach (Kanzler), S. 200.  Vgl. Adriaan Miltenburg: [Art.] Fortuna II. Fortuna im religiös-literarisch-historischen Kontext. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 665 f., hier Sp. 665; vgl. auch etwa Carmina Burana Lied 14 und 16 f.  Im Sangspruch etwa bei Reinmar von Zweter (1ReiZw/1/91), der dieses Bild mit fortuna-Topoi aus der gelücke-Strophe Gottfrieds (1Gotfr/1/2) kombiniert (wobei diese Topoi sich wiederum Publilius Syrus verdanken, vgl. KLD, Bd. 2 [Kommentar], S. 163), bei Dietmar dem Setzer (1Dietm/3, V. 7–11), der es religiös-moralisierend funktionalisiert, und bei Johann von Ringgenberg (1JohR/13). Auch 1Frau/2/110,3 spielt deutlich auf dieses Bild an; vgl. zudem Freidank: Daz stât an des glückes rade,/ êst als lîhte guot als schade (V. 110, 17 f., zit. nach Bezzenberger).

2.5.7 Ton XVI, Strophe 7 – Das gelu̍ cke (1Kanz/5/7)

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Diesen Aspekt betont auch der zweite Teil des Abgesangs, der – nicht frei von unterschwelliger Anklage – die Gleichgültigkeit des Glücks gegenüber moralischen Kategorien hervorhebt: Oft helfe es den Bösen, die Guten und die Schlechten erfreue es gleichermaßen (V. 13 f.). Ähnlich thematisiert Konrad von Würzburg, dass das gelu̍ ke auch dem argen under oͮ ge […] ssse lache[ ] (1KonrW/7/11, V. 5). Konrad zielt dabei aber auf den Gegensatz von gelu̍ ke und selde ab und stellt den Tugendreichen in Aussicht, dass dem Bösen das gelu̍ ke nur vorübergehend hold sei, um ihn dann umso härter zu strafen, während auf den Vorbildlichen – auch im Jenseits – das Heil (selde) warte (V. 10). In der Drohung, dass das gelu̍ ke dem Bösen letztlich innerweltlich das verlässlich wieder nimmt, was es ihm gibt, manifestiert sich mithin die Vorstellung einer gewissen Gerechtigkeit. Derartige Vorstellungen suspendiert die vorliegende Strophe des Kanzlers vollständig: Sie stellt es als für alle Menschen unabdingbar notwendig aus, vom Glück innerweltlich bedacht zu werden, und betont damit – abseits aller Reflexionen über das Jenseits – die vollständige Abhängigkeit des Menschen vom Glück. Entsprechend konstatiert das Sänger-Ich abschließend nicht ohne Bedauern, dass wohl niemand wisse, durch welchen Dienst man von diesem Glück Unterstützung begehren könne (V. 15 f.). Mit den Begriffen dienst[ ] und helfe rekurriert das Sänger-Ich auf ein Vasallenverhältnis, ersehnt mithin ein – hier aber nicht gegebenes – geregeltes triuweVerhältnis gegenüber dem Glück, eine geregelte Austauschrelation, die seiner Unverfügbarkeit und Kontingenz wehrt. Die intratextuelle Referenz auf die vorangehende Strophe sensibilisiert in besonderem Maß dafür, dass das Sänger-Ich mit diesem feudalrechtlichen Bildfeld indirekt auch auf die Herren abzielt: Indem es mit dienst und helfe Austauschrelationen thematisiert, verweist es – im Licht der vorangehenden Strophen und der in der vorliegenden Strophe aktualisierten Klage darüber, dass Kunst allein einem Menschen nichts nütze – unterschwellig darauf, dass der Sang als dienst für die Herren (und die Gesellschaft) deren helfe in Form der milte verdiene. Das Glück als übermenschliche unverlässliche unbeständige Macht entzieht sich der Logik gerechter Austauschverhältnisse. Die Herren aber sollten eben nicht wie das gelu̍ cke handeln, das heißt die Bösen belohnen sowie Gute und Schlechte gleichermaßen erfreuen, sondern abwägen, wer ihre helfe, ihre finanzielle Zuwendung, verdient habe. Sie sind es damit, die das Potenzial haben, dem Wüten des gelu̍ kes als ordnende Macht entgegenzuwirken und damit zugleich das gelu̍ ke des Sänger-Ichs zum Guten zu wenden. Das Glück verhandelt innerhalb der Gattung auch der Meißner in zwei Strophen. Die Strophe 1Mei/16/9 steht der Kanzlerstrophe als ebenfalls direkte Anrede an das Glück nahe.⁷²³ Die Strophe ist allerdings als Anklage an das Glück konzipiert, in der das Sänger-Ich letztlich mit dem Glück rechtet, indem es konstatiert, dass es – wäre das Machtverhältnis zwischen ihnen umgekehrt – das Glück nicht so behandelte wie dieses ihn. Die Strophe des Kanzlers stellt gewissermaßen die Fruchtlosigkeit dieser

 Eine solche Apostrophierung zeigt sich auch in den Carmina Burana Lied 14 und bes. 17 f.

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Meißnerschen Anklage aus, indem sie mit der verworfenen Wunschvorstellung eines Vasallenverhältnisses gegenüber dem Glück auf die Unmöglichkeit verweist, diesem etwas abzurechten, und überlegen objektiv dessen völlige Unverfügbarkeit ausstellt.⁷²⁴ Die Strophe 1Mei/1/6 teilt mit der Strophe des Kanzlers das Bild des unkontrollierbar sich herumwälzenden Glückes⁷²⁵ und den Gedanken, dass dem Menschen, wenn er des Glückes entbehre, auch seine Vorzüge nichts helfen würden, weder kunheit noch sterke, schone oder wisheit (V. 4–6). Indem der Kanzler alle diese Vorzüge allein durch die kunst ersetzt (swaz kunst ein man gelernet hat,/ du̍ frumt im an dich nicht, V. 3 f.), adelt er diese und verweist zugleich auf die oben ausgeführte Selbstthematisierung.

2.5.8 Strophe 8 – Zeitklage mit Kleruskritik (1Kanz/5/8) C Kanz  In stetten, uf bu̍ rgen widerpart, geislicher lu̍ te nît unde has, bi wiser lere unwisu̍ tat, bi krefte ein zager mt,  roͮ b unde brant uf gotes vart, an valsche snel, an rehte las, adel ane tugent, jugent ane rat, ane ere grozes gt – sus ist gestalt der argen vlis.  irdenscher schatz ist rêsse ir aller minne, die orden sin swarz oder wis. doch riht niht got wan nach des herzen sinne: weltlichu̍ diet ist gotte kunt, geislicher lu̍ te betten unde wachen.  ich wene, ez gulte tusent pfunt ein grawer rok, unde meht er heilig machen.

Ohne explizite Klagerufe oder wertende Interjektionen beschreibt die vorliegende Strophe einen allgemeinen Verfall der Sitten und Gesinnung. Katalogartig reiht der Aufgesang Vers für Vers negative Zustände aneinander, die in der Welt zu beobachten seien. Die elliptische Satzkonstruktion betont den asyndetischen Charakter dieser umfassenden Aufzählung. Die fehlende syntaktische Verbindung der Einzelbe-

 Wie in der beim Kanzler vorangehenden Strophe (waz sol mich daz genu̍ tzen?, 1Kanz/5/6, V. 14) formuliert auch der Meißner das als rhetorische Frage (Hette ein man alle kunheit unde ouch alle sterke,/ alle schone unde alle wisheit, klcher man, nu merke,/ hette er geluckes nicht, waz hulfe daz?, 1Mei/1/6, V. 4–6, zit. nach Objartel).  Vgl. dazu Objartel (Meißner, Kommentar), S. 243, der auf die hier wohl zugrundeliegende Vorstellung einer Kugel verweist sowie auf die ikonographische Tradition einer personifizierten Fortuna, die auf einer Kugel steht.

2.5.8 Ton XVI, Strophe 8 – Zeitklage mit Kleruskritik (1Kanz/5/8)

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obachtungen erzeugt Dichte,⁷²⁶ spiegelt aber auch die fehlende Ordnung der Welt und ermöglicht, die verschiedenen Missstände vielfältig aufeinander zu beziehen. Einleitend beklagt das Sänger-Ich die Feindschaft auf den Burgen und in den Städten (V. 1), womit es vorerst auf den weltlichen Adel, aber auch das Stadtbürgertum abzielt. Die im Sangspruch des 13. Jahrhunderts seltene Thematisierung der Stadtbevölkerung verstärkt den Eindruck,⁷²⁷ dass die Feindlichkeit sich umfassend auf der Welt ausbreitet. Mit dem nächsten Vers rücken die Geistlichen in den Blick, denen ebenfalls eine feindselige Gesinnung und Missgunst vorgeworfen werden (V. 2). Implizit betont die Strophe mithin einen Gegensatz zwischen dem Verhalten, das (auch standesbedingt) geübt werden sollte, und demjenigen, das tatsächlich vorherrscht; die folgenden Antithesen äußern das explizit: Trotz kluger Lehre werde unwise gehandelt, trotz körperlicher Kraft und Macht herrsche eine feige innere Einstellung vor (V. 3 f.). Diese Monita scheinen assoziativ auf die beiden gescholtenen Stände bezogen: Die Kleriker verbreiten weise Lehre, aber handeln selbst nicht danach; die Adeligen verfügen über körperliche Stärke, setzen aber das Recht nicht durch. Die Verwerflichkeit beider Stände kulminiert im folgenden Vorwurf, sie übten roͮ b unde brant uf gotes vart (V. 5), also darin, dass sie den heiligen Kreuzzug pervertieren: Statt den Andersgläubigen den christlichen Glauben zu bringen und dadurch auch für ihr eigenes Seelenheil zu sorgen, verwüsten sie deren Länder und missbrauchen den Auftrag Gottes, um sich selbst unrechtmäßig zu bereichern.⁷²⁸ Überhaupt seien die Menschen – eine erneute Antithese – schnell bei der Falschheit und nachlässig hinsichtlich der Gerechtigkeit sowie richtigen Verhaltens (V. 6). Dem Adel fehle die Tugend, den Jungen der Rat und ‚dem Reichtum‘ das ehrenhafte Verhalten und Ansehen (V. 7 f.). Die drei Themen (Tugend des Adels, Beratung junger Herren, Unvereinbarkeit von Besitz und Ansehen) verhandelt der Kanzler in anderen Strophen ausführlich, besonders auffällig ist die Referenz auf die intratextuell verbundene Strophenreihe 1 Kanz/2/4–6,⁷²⁹ die ausstellt, dass der Mensch wahrlich adelig erst durch die Tugend wird,⁷³⁰ dass die jungen Herren durch guten Rat zu Ansehen gelangen können und dass Besitz ohne ere verderblich für das Seelenheil ist.

 Zach (Kanzler), S. 146, verweist auf den ungewöhnlichen Umfang dieser Ellipse, vgl. dazu auch Roethe (Reinmar von Zweter), S. 291 f., der auf diese Ellipse des Kanzlers im Kontext der (allerdings knapperen) elliptischen Konstruktionen Reinmars hinweist und betont, dass dieses rhetorische Mittel die Schärfe der Antithesen verstärke.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 146.  Unklar muss bleiben, ob dieser Vorwurf auf ein konkretes historisches Ereignis verweist; wiederholt wurde hier auf die Kreuzfahrten des Deutschordens in Preußen verwiesen und die Strophe anhand dessen auf 1261–1283 datiert, vgl. dazu Krieger (Kanzler), S. 25 f.; Müller (Untersuchungen zur politischen Lyrik), S. 159 f., hebt aber hervor, dass der Text nicht eindeutig auf die „Preußenfahrten“ verweise und dass diese zudem zeitlich nicht so klar zu fassen seien; vgl. dazu auch Zach (Kanzler), S. 147.  Vgl. Kap. 2.2.2; ähnlich aber auch in 1Kanz/3/1–3, vgl. dazu Kap. 2.3.1– 3.  Vgl. auch besonders 1Kanz/1/1 f. (Kap. 2.1.1 f.) und 1Kanz/5/1 (Kap. 2.5.1).

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Die umfassende Aufzählung der Strophe, die sich in einem Satz und Gedanken über den gesamten Aufgesang zieht, schließt der erste Vers des Abgesangs letztlich ab, indem er resümiert, dass auf all diese falschen Verhaltensweisen die Bösen ihren Eifer richteten (V. 9).⁷³¹ Der folgende Vers, der behauptet, der irdische Schatz sei verderblich für ir aller minne (im Sinne der Nächstenliebe), lässt sich apokoinu auch auf diese Bösen und ihr Fehlverhalten zurückbeziehen. Primär leitet er aber die folgende Invektive gegenüber den Mönchsorden ein: Der irdische Besitz, so heißt es, sei bitter für die minne aller Orden, gleich ob diese weiß oder schwarz seien. Egal welchem Orden also die Mönche angehören, sie haben sich alle gleichermaßen dem irdischen Gut verschrieben und zwar auf Kosten ihrer caritas und Gottesliebe.⁷³² Die Adressierung der Mönchsorden über die Farbe ihres Gewands hat einen festen Platz in lateinischen polemischen Gedichten.⁷³³ Auffälligerweise begegnet sie in den Carmina Burana gerade in jenem Lied (CB 39), auf das die extensive Kanzlersche Invektive gegen die Geistlichkeit, 1Kanz/3/1, zu referieren scheint:⁷³⁴ In der zehnten und letzten Strophe dieses carmen buranum nämlich wird den ‚schwarzen Mönchen‘ eine nachlässige Befolgung der Regel und den ‚weißen‘ ihre Gottlosigkeit vorgeworfen; das Lied als Ganzes zielt auf eine Schelte klerikaler Habgier, im Speziellen auch auf den Ablasshandel. Das Lied kritisiert die Verweltlichung des Klerus, an der (auch) der Kaiser Schuld trage, und wirft den Geistlichen vor, das Recht entthront zu haben.⁷³⁵ Auch hier manifestiert sich mithin deutlich ein Gestus der Zeitklage. Daneben hat die Kritik an verschiedenen Mönchsorden (teils aufgerufen über die Farbe ihres Habits) einen Platz in Ständesatiren, die seit dem 13. Jahrhundert vermehrt begegnen.⁷³⁶ Auf diese Tradition referiert etwa eine Strophe des Hardeggers, die einleitend die tugendlose gitekeit schilt und beschreibt, wie sie die Vertreter aller Stände verderbe, vom König bis zu den freien Herren. Auch swarziu kloster unt diu wizen,/ welnt sich uf ir hulde vlizen,/ unt diu grawen, so man jiht (1Hardg/4/1, V. 11–13, zit. nach  Ebenso führt schon der Anfang des zweiten Stollens zunächst die Gedanken des ersten zusammen. Die Argumentationslogik korrespondiert in dieser Strophe mithin – anders als in den sonstigen Strophen des Tones – dezidiert nicht mit den Stollengrenzen, womit die Aufzählung an Dringlichkeit gewinnt und zugleich auf formal-logischer Ebene die Unordnung des Weltzustandes abgebildet erscheint.  Schwarz sind vor allem die Benediktiner (und Cluniazenser), weiß die Dominikaner (aber auch die Zisterzienser, wobei diese auch einen grauen Habit tragen können), vgl. Krieger (Kanzler), S. 26.  Besonders in der monastischen Literatur markieren polemische Invektiven gegen bestimmte Ordensgemeinschaften ihr Ziel häufig auf diese Weise, vgl. dazu umfassend: Helga Schüppert: Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1972, hier bes. S. 108–111; vgl. dazu die Sammlung der Walter Map zugeschriebenen Lieder (The latin poems commonly attributed to Walter Mapes, coll. and ed. Thomas Wright. London 1841).  Vgl. Kap. 2.3.1.  Vgl. dazu Vollmann (Carmina Burana, Kommentar), S. 966–969.  Vgl. Schüppert (Kirchenkritik), S. 110, die hier auf „Licet mundus varia sit sorde pollutus“ verweist, vgl. zu diesem Lied auch: Satiren des Mittelalters. Lateinisch und deutsch, hg. von Udo Kindermann. Darmstadt 2013, hier S. 140, 198 (mit Verweis auf und Abdruck von Zudichtungen und Erweiterungen des Liedes).

2.5.8 Ton XVI, Strophe 8 – Zeitklage mit Kleruskritik (1Kanz/5/8)

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HMS), aber auch die Kaufleute und Bauern verfielen ihr. Indem der Kanzler in der vorliegenden Strophe auffälligerweise neben den Burgen (Adelige) und Mönchsorden (Geistliche) auch die Städte thematisiert, spielt er auf diese Tradition einer ständeübergreifenden Schelte an. Dabei stellt seine Strophe aber nicht einfach die Missstände aus, sondern wendet das Thema zu einer unterschwelligen Mahnung. Indem das Kanzlersche Sänger-Ich den Mönchen vorwirft, nur nach dem irdensche[n] schatz zu streben (V. 10), ruft es assoziativ implizit den Gegenbegriff des ‚himmlischen Schatzes‘ auf, das Seelenheil, und betont damit deutlich, dass die falsche Ausrichtung der Geistlichen auf weltlichen Besitz nicht nur ihre Grundsätze verletze, sondern vor allem das ewige Leben verspiele. Der nächste Vers macht das explizit, indem er auf Gottes Richteramt hinweist und konstatiert, dass für dessen Urteil allein die Einstellung des Herzens zähle (V. 12). Wenn es weiter heißt, Gott seien die weltlichen Leute ebenso bekannt wie das Beten und Wachen der Geistlichen (V. 13 f.), macht die Strophe klar, dass Gott jenseits von Habit und Stand zu entscheiden wisse, ob der Mensch sich eines weltlichen oder eines geistlichen Lebens befleißige. Die Zeitklage, die zunächst den sichtbaren Missstand der Welt in allen Ständen thematisiert, wandelt sich also im Abgesang zu einer Schelte der Mönchsorden im Besonderen. Gerade im Fehlverhalten derjenigen, die Gott dienen sollten, manifestiert sich in besonderem Maße die Verderbtheit der Welt (das präludiert schon die Kreuzzugs-Kritik im zweiten Stollen). Diejenigen, welche die Hüter der Ordnung sein und die Menschen – auch durch ihr Vorbild – zum rechten Weg anleiten sollen, versagen in ihren Taten. Die Position, die durch dieses Versagen der eigentlich Verantwortlichen gewissermaßen frei wird, füllt nun das Sänger-Ich aus; es macht sich deren eigentliche Aufgabe performativ zu eigen und ‚predigt‘ die Notwendigkeit, statt nach dem irdischen nach dem himmlischen Schatz zu streben. Schwer verständlich bleibt bei all dem das Ende der Strophe, dass offenbar eine Pointe darstellt: ich wene, ez gulte tusent pfunt/ ein grawer rok, unde meht er heilig machen (V. 15 f.). Problematisch ist besonders die Vieldeutigkeit des ‚grauen Rocks‘. Da die Mönchsorden zuvor über die Farben weiß und schwarz aufgerufen wurden, lässt sich der Begriff als Weiterführung dieses Gedankens verstehen und es ließe sich erwägen, ob damit ein weiterer Orden adressiert wird. Grau kann die Farbe der Zisterzienser sein (neben weiß), aber auch diejenige der Bettelmönche (neben braun). Die Kritik an letzteren setzt im späten 13. Jahrhundert ein und erreicht ihren Höhepunkt im frühen 14. Jahrhundert.⁷³⁷ Die Pointe ließe sich dann als Verweis darauf verstehen, dass selbst unter diesen neueren Mönchsorden, die sich einem strengen Armutsideal und heiligenmäßigen Leben verschrieben haben (seien es Zisterzienser

 Vgl. Schüppert (Kirchenkritik), S. 110; vgl. dazu Marner CB 9* (Nachträge), 1Mei/17/13 und 1Frau/4/17; vgl. dazu auch Kästner (Sermo vulgaris), bes. S. 237 f.

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oder Bettelmönche), kaum noch einer zu finden sei, der eine Lebensführung pflege, die ihn heilig machen könnte.⁷³⁸ Der ‚graue Rock‘ muss allerdings keinen Habit meinen.⁷³⁹ Denn die Strophe spricht dort, wo sie Mönche meint, von weißen und schwarzen Orden, nicht von Röcken; auch die erwähnten lateinischen Lieder nennen nicht die Kleidung, sondern die Mönche weiß und schwarz (Monachi sunt nigri, CB 39, Str. 10,V. 1),⁷⁴⁰ der Hardegger die Klöster (weiß, schwarz und grau). Der grawe roc dagegen begegnet in der mittelhochdeutschen Literatur vielfach als Gewand von besonderer Einfachheit.⁷⁴¹ Da Gott – wie es zuvor heißt – nach dem Herzen richtet und nicht nach dem Äußeren, könnte der Passus mithin darauf zielen, dass ein unscheinbares graues Gewand dennoch den höchsten Wert haben könnte, wenn es heilig zu machen vermöchte. Die Strophe spielt damit verschiedene Formen von Wert gegeneinander aus, nämlich den materiellen Wert irdischen Gutes gegen den immateriellen Wert der göttlichen Gnade.⁷⁴² Das präludiert schon die Erwähnung des irdensche[n] schatz[es] (V. 10), die implizit auf dessen Gegenstück verweist, den himmlischen Schatz des ewigen Lebens. Eine zusätzliche Pointe dieser Interpretation läge darin, dass das Sänger-Ich den Wert des Seelenheiles mittels einer irdischen Geldsumme beschreibt und damit in die Sprache übersetzt, welche die habgierige Menschheit versteht. Allerdings insinuiert die Strophe zugleich, dass die Menschen so auf Geld fixiert seien, dass sie selbst das Heil als etwas käuflich Erwerbbares betrachteten⁷⁴³ – der immense Preis des heiligmachenden Gewandes spiegelt also zugleich das Ausmaß der Verderbtheit der Menschen. Vielleicht steckt in dieser Pointe aber auch – gerade falls sich in der vorliegenden Strophe eine Referenz auf CB 39 verbirgt, welche offensiv Idolatrie und die Käuflichkeit von Gnadengaben anprangert (In huius Mundi patria/ regnat ydolatria,/ ubique sunt uenalia/ dona spiritalia, CB 39, Str. 1,V. 1–4) – ein Verweis auf Ablasshandel und Reliquienkult. Also etwa: Ein grawer roc wäre den Geistlichen heutzutage tausend Pfund wert, (selbst) wenn er heilig machen könnte, das heißt, sie würden ihn für tausend Pfund verkaufen, weil ihnen das Geld wichtiger ist, als ihr Seelenheil. Der eigentliche Witz dieser Lesart bestünde nun zusätzlich darin, dass der grawe roc auch eine Anspielung auf den ungenähten heiligen Rock Christi beinhalten könnte, der im Orendel als der ‚graue Rock‘ firmiert (und zeitgenössisch namensge-

 Ähnlich (jedoch unter Vorbehalt) Zach (Kanzler), S. 150: „Viel Geld müsste man wohl geben, wollte man einen Geistlichen im Ordenskleid treffen, der noch Beten und Wachen, also eine heiligmachende Lebensweise, dem Streben nach Besitz und Gold vorzieht“.  Der Begriff selbst ist unspezifisch und kann grundsätzlich das Gewand von Mann und Frau bezeichnen.  Vgl. Marner CB 9* (Nachträge): ordo Griseorum (Lied *11, Str. 6, V. 1, zit. nach Willms).  Vgl. etwa Wolfram von Eschenbach Parzival (V. 437,25; 446,15), Gottfried von Straßburg Tristan (V. 2508), Jans Enikel Weltchronik (V. 26805).  Vgl. dazu auch 1Kanz/2/4, Kap. 2.2.2.1.  Ohne freilich, dass sie eine solche Investition zu diesem Preis tätigen würden, da für sie nur Besitz zählt und ihnen das Heil gleichgültig ist.

2.5.9 Ton XVI, Strophe 9 – Schifffahrt des Lebens (1Kanz/5/9)

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bend für den Text war).⁷⁴⁴ Die Schelte würde damit im hyperbolischen Bild kulminieren, dass die Geistlichen derart habgierig sind, dass sie sogar eine der allerheiligsten Reliquien der Christenheit – zudem auf Kosten ihres Seelenheils – zu Geld machen würden, wenn ihnen dafür nur genug geboten würde.

2.5.9 Strophe 9 – Schifffahrt des Lebens (1Kanz/5/9) C Kanz  Ob himel ku̍ nig, in himel vogt, gewaltig vu̍ rste in lu̍ ften gar, herre uf der erde unde in dem se, got, meister in abgru̍ nde:  der kiel ist uf daz mer gezogt, unde vert gegen leben ein zwivelvar[ ], da manigen schrien tnt ›owe‹ die winde unde oͮ ch die u̍ nde. zerslichen ist des segels kraft,  ich wen, die marner mit uns wen ertrinken. sich, suͤ zer Krist, an din geschaft, wie wir von tage ze tage gen grunde sinken; hilf, herre, diner hantgetat: din alt erbermde werde an uns erzeiget.  gedenke, daz an dem kru̍ ze hat din guͤ tlich hoͮ bt sich gegen uns geneiget.

Die gebethafte Strophe eröffnet mit einer kompakten Beschreibung der Allmacht Gottes, die genau den ersten Stollen umfasst. Gott wird apostrophiert als König über den Himmeln, Herrscher im Himmel, mächtiger Fürst in der Luft, Herr über Erde und Meer und gewalthabend über den Abgrund, also die Hölle⁷⁴⁵ (V. 1–4).⁷⁴⁶ Der Lobpreis

 Am 1. Mai 1196 fand die depositio des ungenähten Rockes Christi im Trierer Hochaltar statt, womit das Episkopat Trier seine Vormachtstellung unter den Bischofssitzen des Nordens zu begründen versuchte; der um 1190 verfasste Orendel, der vorgeblich die Authentizität des grauen Rockes und seinen Weg nach Trier dokumentiert, steht vermutlich in Zusammenhang mit diesen Trierer Bemühungen, vgl. Michael Curschmann: [Art.] ‚Orendel‘ (‚Der graue Rock‘). In: ²VL, Bd. 7, Sp. 43–48, hier Sp. 44.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 152.  Die Formulierung spielt zudem auf eine Strophe Ulrichs von Singenberg an (1UlrS/2/1): Der werlte vogt, des himels künig, ich lob iuch gerne (zit. nach: Schweizer Minnesänger, nach der Ausgabe von Karl Bartsch, neu bearbeitet und hg. von Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tübingen 1990), wobei diese Strophe Ulrichs wiederum eine Kontrafaktur von Walthers „Lehnsbitte“ an Friedrich II. ist: Von Rôme voget, von Pülle künic, lât iuch erbarmen, 1WaltV/8/8 (L. 28,1), V. 1 (zit. nach Schweikle), vgl. dazu Thomas Bein: „Mit fremden Pegasusen pflügen“. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998, hier S. 179–182. Ulrich dankt in dieser Strophe Gott dafür, dass ihm als Adeligem das missliche Fahrendenlos erspart bleibe (zugleich ließe sich fragen, ob hier unterschwellig auch eine ständische Diskussion darüber ausagiert wird, wer in

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durchläuft damit nach der Logik eines kosmographischen Sphärenmodells verschiedene konzentrische Schalen von oben (außen) nach unten (innen) und stellt Gott so als Herr über den gesamten Kosmos aus.⁷⁴⁷ Die ihm attribuierten Herrschertitel folgen dieser absteigenden Sphärenreihe (König, Landesherr, Fürst, Herr, Oberhaupt),⁷⁴⁸ womit sie offenbar nicht etwa einen Machtverlust Gottes behaupten wollen, sondern vielmehr den abnehmenden Wert der jeweiligen Sphäre vergegenwärtigen, je erdennäher und ferner vom höchsten Himmel sie ist. Indem die Strophe Gottes Gewalt selbst über die Hölle hervorhebt,⁷⁴⁹ illustriert sie seine Allmacht und verweist zugleich voraus auf die strophenbeschließende Fürbitte an Christus, den Zerbrecher der Höllentore. Der zweite Stollen schließt an diese Anrufung Gottes ein neues Thema an, nämlich die traditionsreiche Allegorie von der ‚Schifffahrt des Lebens‘:⁷⁵⁰ Das Schiff – hier pars pro toto chiffriert über den Kiel – ist aufs Meer hinausgezogen worden und seine vart gegen leben, seine Reise ‚gen Leben‘ (gemeint ist wohl das Lebensziel, das ewige Leben), ist eine zwivelvar, eine Fahrt ins Ungewisse, wie das Ad-hoc-Kompositum verdeutlicht (V. 5 f.). Klar wird die Allegorie hier mithin als solche markiert und die Auslegungsebene (Schifffahrt = irdisches Leben) vorgegeben. Die Strophe baut im Folgenden die Bedrohlichkeit dieser ungewissen Reise aus: Die Winde und Wellen verursachen Klagerufe der Gepeinigten (V. 7 f.), das Schiff läuft offenbar steuerungsund führungslos auf seinen Untergang zu, denn die Segel sind zerfallen und die marner, die Schiffsleute und -lenker, drohen mit den anderen zu ertrinken (V. 9 f.). Eine intertextuell aufschlussreiche Parallelstrophe in diesem Kontext findet sich bei Reinmar von Zweter, der ebenfalls das Leben als Schifffahrt allegorisiert (1ReiZw/1/ 170).⁷⁵¹ Er stellt über Begriffe des Vergleichens explizit das allegorische Verfahren aus: Die Welt gelîche sich dem Meer, das unkontrollierbar und übermächtig tobe und

Sangspruch und Minnesang produktiv werden sollte, was eine implizite Invektive gegen Walthers Minnesang darstellte). Der Kanzler bezieht sich hier also auf eine agonal geprägte intertextuelle Strophenreihe und überbietet Ulrichs Gotteslob durch die Weiterführung seiner Reihe von Gottesapostrophen.  Ähnlich modelliert der Kanzler den Gottespreis in 1Kanz/2/1, vgl. dazu Kap. 2.2.1.1; zum Sphärenmodell vgl. Kap. 2.2.6.1.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 152.  Die Formulierung meister in abgru̍ nde (V. 4) hebt hier zum einen darauf ab, dass Gott auch in diesem Bereich übermächtig ist, vermeidet dabei aber zugleich dem Teufel attribuierte und daher missverständliche Bezeichnungen wie Höllenfürst (o. ä.).  Die Schifffahrt als Allegorie für das Leben und die Welt, aber auch für das Dichten ist seit der Antike topisch, vgl. dazu Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Zweite, durchgesehene Auflage. Berlin 1954, hier S. 136–141; Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979 (zur Arbeit an der Metapher von der Antike bis zur Neuzeit jedoch ohne Blick auf das Mittelalter); mittelhochdeutsche Belegstellen bietet etwa Roethe (Reinmar von Zweter, Kommentar), S. 613; vgl. dazu auch Nowak (Gebetslyrik), S. 251 [Anm. 9].  Auf diese Strophe verweist schon Zach (Kanzler), S. 153.

2.5.9 Ton XVI, Strophe 9 – Schifffahrt des Lebens (1Kanz/5/9)

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brande, genauso wie (alsô) das weltliche Leben (1ReiZw/1/170, V. 1–3).⁷⁵² Die Christen litten daher Not und drohten, Schiffbruch zu erleiden, wenn Gott ihnen nicht helfe und sie aus den Wogen der Sünde befreie (1ReiZw/1/170, V. 5–9). Die Strophe schließt mit einer harschen Kritik gegenüber den Kirchenfürsten (prîmâten), die mit ihren Krummstäben nur nach Gaben fischten und die Seelen der Gläubigen in ihrer Sündhaftigkeit beließen (1ReiZw/1/170, V. 10–12). Mit Blick auf diesen intertextuellen Bezug wird deutlich, dass der Kanzler seine Rezipienten weit weniger durch seine Allegorie führt. Er nennt zwar die Reise des Schiffes eine Fahrt ‚gen Leben‘ (V. 6), bemüht aber keinen expliziten Begriff des Vergleichens und löst vor allem im Folgenden die einzelnen Bestandteile der Allegorie nicht auf. Durch die starke intertextuelle Referenz auf die ganze Tradition dieses Topos’ – und möglicherweise auch auf die Strophe Reinmars im Speziellen – aber lassen sich die allegorischen Bestandteile für die Rezipienten erschließen, fordern jedoch implizit eigenes Mitdenken und Nachvollziehen. Die Winde und Wellen werden deutbar als Zumutungen und Versuchungen, welche die Menschen peinigen und in die Meereswogen der Sünde ziehen wollen; die marner, die das Schiff sicher lenken sollen, als Geistliche, die in ihrem göttlichen Auftrag versagen, den Laien die notwendige Führung zu geben, weil sie ebenfalls vom Weltleben und seiner Sündhaftigkeit verschlungen zu werden drohen. Mit dem kollektivierenden ‚uns‘ (ich wen, die marner mit uns wen ertrinken, V. 10) grenzt das Sänger-Ich sich und die Laien von den Klerikern ab, mit denen sie jedoch gemeinsam zu ertrinken drohen. Diese kollektivierende Sprechhaltung präludiert zugleich den gebethaften Schluss der Strophe, die Apostrophe an Christus. Wo Reinmars autoritatives Ich sachlich hervorhebt, dass nur Gott die Katastrophe abwenden könnte, schließt das Kanzlersche Sänger-Ich mit einer flehentlichen, emotionalen Anrufung Christi. Eindringlich fordert es den Sohn Gottes auf, seine Geschöpfe (geschaft) anzusehen, wie diese – statt ‚gen Leben‘ zu fahren – von tage ze tage gen grunde sinken (V. 11 f.). Die horizontale Bewegung der Schifffahrt wird in die Vertikale überführt und suggeriert den Schiffbruch, das Scheitern. Die vertikale Bewegung nimmt dabei diejenige des einleitenden Gottespreises wieder auf und verweist somit auf deren Zielpunkt, die Tiefe der abgru̍ nde (V. 4), die Hölle, in die den Menschen sein Absinken in die Sünde führt, und aus der nur Christus sie erretten kann, weil er auch meister der Hölle ist. In Anbetracht dieser Bedrohung bittet das Sänger-Ich Christus emphatisch, seiner hantgetat zu helfen und ihr seine alt erbermde zu erzeigen (V. 13 f.). Dieses Gemahnen an Christi Erbarmen im Angesicht der selbstverschuldeten Sündigkeit der Menschen lässt an die im „Streit der Töchter Gottes“ geführte Diskussion denken, wo Gerechtigkeit, Wahrheit, Erbarmen und Frieden um die Frage streiten, ob dem Menschen nach dem Sündenfall noch eine Chance gegeben werden soll, ein Dilemma, das durch

 Diu werlt gelîchet sich dem mer,/ daz immer tobt unt ündet über mâze unt âne wer:/ alsô tobt unt ündet der werlte leben, 1ReiZw/1/170, V. 1–3 zit. nach Roethe.

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die Inkarnation Gottes und seine Selbstopferung am Kreuz gelöst wird.⁷⁵³ Dementsprechend betont das Sänger-Ich hier die grundsätzliche Sündhaftigkeit der Menschheit, die eine Erlösung nach Maßgabe der Gerechtigkeit gar nicht verdient hat und sie insofern nur als Akt der erbermde erflehen kann, als unbegreifliche Gnade Gottes.⁷⁵⁴ Darauf verweisen auch die Abschlussverse, die die Heilstat Christi aktualisierend in Erinnerung rufen und symbolisch sein geneigtes Haupt am Kreuz als Geste der Zuwendung interpretieren.⁷⁵⁵ Angesichts der unumgänglichen Sündenverfallenheit der Welt, die selbst die Geistlichkeit so korrumpiert, dass sie den Laien kein Beistand mehr zu geben vermag, liegt die einzige Hoffnung in Christi Erbarmen, an das die Strophe über eindringliche Imperative appelliert (sich,V. 11; hilf,V. 13; gedenke, V. 15).⁷⁵⁶ Die Strophe hebt dabei zweifach hervor, dass der Mensch Gottes Schöpfungswerk ist (geschaft, V. 11; hantgetat, V. 13), womit sie die Abhängigkeit des Menschen von Gott betont und implizit dessen Verantwortung gegenüber seinen Kreaturen hervorhebt.⁷⁵⁷ Sehr nahe steht dieser Strophe des Kanzlers eine Strophenfolge des Wilden Alexander (1Alex/5–6).⁷⁵⁸ Das Bild der Schifffahrt tritt hier erst in der zweiten Strophe hinzu, die erste spricht zunächst nur von einem Sturm, der die Festung Zion von Babylon⁷⁵⁹ her scharf anwehe und erzittern lasse (1Alex/5, V. 1–6).⁷⁶⁰ Das Sänger-Ich bittet in dieser Situation Gott, der Wind und Meer befehlige (eine deutliche Bibelre-

 Vgl. dazu Eduard Mäder: Der Streit der „Töchter Gottes“. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs. Bern 1971.  Das unterstreicht auch die Tatsache, dass der Aufgesang Gottvater apostrophiert, die Bitte um Erbarmen im Abgesang aber an die „zweite göttliche Person“ (Christus) gerichtet ist, vgl. Seidl (LDM, Kommentar).  Das ungewöhnliche Bild findet sich auch bei Rumelant, der die Haltung des Gekreuzigten ebenfalls als Hinwendung zum Menschen interpretiert: Her stet z vange mit den armen,/ im zur axlen ist sin houbet geneiget;/ Als her sich wil uber uns irbarmen,/ umbevanc und kus her uns irzeiget (1Rum/6/1, V. 7–10, zit. nach Kern) – und mithin daran erinnert, dass das Opfer Christi das Versprechen birgt, dass selbst der Sünder durch wahre contritio cordis noch Gottes Gnade finden kann, vgl. dazu auch Kern (Rumelant, Kommentar), S. 507–510, der hier zudem auf Joh 19,30 verweist: Cum ergo accepisset Iesus acetum dixit/ consummatum est/ et inclinato capite tradidit spiritum.  Vgl. dazu auch Zach (Kanzler), S. 154 f.  Vgl. auch Walthers von der Vogelweide Leich (L. 3,1): nû stiure uns got an beiden [wort und werke],/ Und gebe uns rât,/ sît er uns hât sîn hantgetât/ geheizen offenbâre, 8,3a–9a (V. 144–147), zit. nach Schweikle.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 154; Kragl stellt diesen Strophen des Wilden Alexanders in der Neuedition in LDM noch die ihnen in der Jenaer Liederhandschrift (J) vorausgehende Strophe 1Alex/4 (dort J WAlex 7) voran, die chiffriert auf tagespolitische Geschehnisse referiert, betont aber, dass diese nur lose mit den engverbundenen nachfolgenden Strophen (1Alex/5 f.; J WAlex 8 f.) verknüpft sei und möglicherweise auch eine Einzelstrophe sein könne, vgl. Kragl (LDM, Kommentar).  Vgl. dazu auch Carmina Burana Lied 4.  Wiewohl die Strophen eher allgemein gehalten sind, haben sie Diskussionen darüber angefacht, ob hier ein Verweis auf ein spezifisches politisches Ereignis vorliege, vgl. dazu Müller (Untersuchungen zur politischen Lyrik), S. 158; vgl. dazu auch KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 5.

2.5.9 Ton XVI, Strophe 9 – Schifffahrt des Lebens (1Kanz/5/9)

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ferenz),⁷⁶¹ dass er den Sturm beruhigen möge (1Alex/5, V. 7–10). Zudem werden die Menschen aufgerufen, fest im Glauben zu verharren (Syon, laz den tzwibel din,/ wend Krist, der ist din steter trm, 1Alex/5, V. 11 f., zit. nach LDM). Wind und Meer leiten im Folgenden zur zweiten Strophe über, die, indem sie die Fährleute preist, welche sich den Wogen mit Kraft und beständiger meisterscaft entgegenstellten, die Schifffahrtsallegorie aufruft (1Alex/6,V. 1–5). Mit dem emphatischen Ausruf: nu merket, wie si [die Fährleute, Anm. d.Verf.] ringen/ of dem mere umme unser heil (1Alex/6, V. 6 f.) werden diese – wie beim Kanzler – als die Geistlichen erkennbar. Zugleich werden sie – genau entgegengesetzt zum Kanzler – als unermüdliche Kämpfer für das Seelenheil der Laien ausgestellt. Dennoch, so heißt es, drängen aber Wellen ins Schiff ein und jeder einzelne müsse helfen, es auszuschöpfen, damit es sich nicht mit Wasser fülle und untergehe, weil der sunden hort so groß sei (1Alex/6, V. 8– 12). Auch der Wilde Alexander legt die Allegorie nicht detailliert aus,⁷⁶² gibt hier aber das Meer als Sündenflut zu erkennen, die die Menschen bedrängt. Die Sündhaftigkeit der Welt macht mithin ein kollektives Handeln der Christenheit erforderlich, um das Schiff vor dem Untergang zu bewahren. Anders als beim Kanzler sind die Menschen diesem Untergang also nicht gänzlich hilflos ausgeliefert, sondern werden zum Handeln aufgerufen. Das Schiff lässt sich dabei gleichermaßen als Chiffre für das vorbildlich-gläubige Leben jedes Einzelnen verstehen wie auch für den Glauben und die Kirche, welche die Ordnung der Welt aufrechterhalten. Der Kanzler scheint auf diese Strophe des Wilden Alexanders zu reagieren und mit seiner deutlich pessimistischeren Perspektive eine Verschlechterung des Weltzustands auszustellen.⁷⁶³ Besonders auffällig ist, dass die marner das Schiff beim Kanzler gerade nicht zu lenken vermögen, anders als beim Wilden Alexander, wo sie mit gantzer kraft und steter meisterscaft den unden zu trotzen versuchen (1Alex/6,V. 2–

 Mt 8,23–27: Et ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius 24et ecce motus magnus factus est in mari/ ita ut navicula operiretur fluctibus/ ipse vero dormiebat 25et accesserunt et suscitaverunt eum dicentes/ Domine salva nos perimus 26et dicit eis/ quid timidi estis modicae fidei/ tunc surgens imperavit ventis et mari/ et facta est tranquillitas magna 27porro homines mirati sunt dicentes/ qualis est hic quia et venti et mare oboediunt ei; vgl. Mk 4,35–40: Et ait illis illa die cum sero esset factum/ transeamus contra 36et dimittentes turbam adsumunt eum ita ut erat in navi/ et aliae naves erant cum illo 37 et facta est procella magna venti et fluctus mittebat in navem/ ita ut impleretur navis 38et erat ipse in puppi supra cervical dormiens/ et excitant eum et dicunt ei/ magister non ad te pertinet quia perimus 39et exsurgens comminatus est vento/ et dixit mari tace obmutesce/ et cessavit ventus et facta est tranquillitas magna 40et ait illis/ quid timidi estis/ necdum habetis fidem/ et timuerunt magno timore/ et dicebant ad alterutrum/ quis putas est iste quia et ventus et mare oboediunt ei.  Die erste Strophe bleibt sogar gänzlich ohne Auslegung, wobei die Signalbegriffe Zion und Babylon freilich Symbolcharakter haben. Dennoch erscheint es als Teil einer intratextuellen Strategie, dass die erste Strophe sich durch die auflösenden Hinweise aus der zweiten klarer deuten lässt.  Da sich in dieser Rezeption des Topos doch auch eine Konkurrenz und Überbietungsabsicht abzeichnet, scheint es besonders interessant, dass Rumelant das Bild der Schifffahrt auf das Dichten und im Besonderen auf die Sängerkonkurrenz ummünzt (1Rum/6/3). Kern (Rumelant, Kommentar), S. 516, verweist jedoch darauf, dass die Auslegung der Schiffsallegorie auf das Dichten schon in der Antike begegnet (vgl. dazu S. 260, Anm. 750).

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5). Wo beim Wilden Alexander also Hoffnung besteht, weil die Geistlichen für das Seelenheil der Laien kämpfen, insinuiert der Kanzler, dass die Geistlichen (nun) selbst durch die Versuchungen der Welt korrumpiert wurden und damit den Untergang aller herbeiführen. Eine gewisse Konkretisierung erfährt das noch durch die intratextuelle Verknüpfung dieser Kanzler-Strophe mit der ihr vorangehenden Strophe 1Kanz/5/8 (nach C).⁷⁶⁴ Die Zusammenschau der Strophen verweist zum einen konkret darauf, worin das – in der vorliegenden Strophe unbestimmt bleibende – Fehlverhalten der Geistlichen besteht, nämlich etwa in haz, nit und Habgier. Zum anderen zeichnet die vorliegende Strophe überdeutlich nach, welche verheerenden Folgen das in 1Kanz/5/8 angeprangerte Fehlverhalten zeitigt, nämlich dass es ursächlich für den Untergang aller ist.

2.5.10 Strophe 10 – septem artes liberales (1Kanz/5/10) C Kanz  Menschlich vernunft gar sunder var prise ich, sit si erkennen kan mit sinnen, ob ein rede si gezeme unde vollekomen  unde ob si si valsch alder war, gezieret, ungezieret. [ ] dan si hat der siben ku̍ nste dri von rede also genomen; die ander vier uns maze geben  mit zal: du̍ erst uns ellu̍ ding wol misset, du̍ ander sleht, ruch, krumb unde eben, kurz, lang, breit, smal, hoh, tief mit maze wisset; du̍ dritte menschen stimme keret ze sange uf, abe, nu mite, nu oben, nu unden.  der himel ordenunge uns leret du̍ leste – also sint siben ku̍ nste funden.

Die Strophe wendet sich den septem artes liberales zu, gibt das aber nicht sogleich zu erkennen. Vielmehr hebt sie mit einem Lobpreis des menschlichen Verstandes an,⁷⁶⁵ der durch seine sinne zu erkennen vermöchte, ob eine rede angemessen und voll-

 Für diese intratextuelle Verknüpfung sensibilisiert auch die oben genannte Reinmar-Strophe ReiZw/1/170, die wie ein Prätext beider Strophen in ihrer Zusammenschau wirkt: Schifffahrtsallegorie (wie in 1Kanz/5/9) und konkrete Schelte der Bereicherung und Habgier der Geistlichen (wie in 1Kanz/5/ 8).  Der hier nicht ganz erwartbare Begriff der vernunft verdankt sich offenbar der Tradition und versucht den Begriff der ratio zu fassen, der bei Augustinus schon im Kontext der septem artes liberales steht (vgl. Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. 2 Bde. Tübingen/Basel 2004, hier S. 10) und ebenso in Thomasins von Zerklære Welschem Gast (V. 8800, 8841).

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2.5.10 Ton XVI, Strophe 10 – septem artes liberales (1Kanz/5/10)

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kommen, wahr oder falsch, geschmückt oder ungeschmückt sei (V. 1–6). Vorerst thematisiert das Sänger-Ich also die Urteilsfähigkeit über und damit zugleich die Qualität von Rede und stellt aus, dass diese Qualität für einen (klugen) Verstand an bestimmten Merkmalen erkennbar sei, nämlich Richtigkeit,Wahrheit und Schönheit. Als Aussage eines Sangspruchdichters lässt sich das auch als Unterweisung der Rezipienten verstehen, die durch die Belehrung über die Merkmale guter rede, auch dafür sensibilisiert werden, was gute Dichtung auszeichnet. Indem das Sänger-Ich sich als fähig ausstellt, über Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit des Menschen zu reflektieren, artikuliert es performativ seinen eigenen Kunstanspruch. Das Ende des Aufgesangs verortet die eingangs aufgerufenen Eigenschaften von Rede schließlich als Zuständigkeitsbereich der sieben freien Künste (V. 7 f.), genauerhin des Triviums. Das ‚richtige‘ Sprechen zielt insofern auf die Grammatik, das Unterscheiden von wahrer und falscher Rede auf die Dialektik, die Differenzierung zwischen geschmückter und ungeschmückter Rede auf die Rhetorik. Der Abgesang vervollständigt die Aufzählung der septem artes liberales, indem er den rede-Künsten (V. 8) des Triviums die ander vir folgen lässt, die maze geben mit zal, also das Quadrivium, dessen vier Künste sich nicht mit dem Wort, sondern der Zahl befassen (V. 9 f.). Auch diese artes werden nicht mit ihren Fachbegriffen genannt, sondern durch Umschreibungen identifiziert:⁷⁶⁶ Die erste dieser Künste verstehe alles zu messen (V. 10; Arithmetik), die zweite vermöge räumliche Maße zu bestimmen (V. 11 f.; Geometrie), die dritte bringe die menschliche Stimme zum Gesang (V. 13 f.; Musik) und die vierte lehre die Ordnung der Himmel (V. 15 f.; Astronomie). Das SängerIch beschließt die Strophe mit der Äußerung: also sint siben ku̍ nste funden (V. 16) und spielt damit (funden) eine Rätselauflösungsformel an, wodurch die Umschreibung der dezidiert unbenannten artes gewissermaßen als beabsichtigte Änigmatisierungsstrategie erscheint. Diese gewollte Sinnverdunklung fordert die Rezipienten – ähnlich wie in der vorangehenden Schifffahrts-Allegorie – zum eigenen Mitdenken und Nachvollzug auf und inszeniert hier darüber hinaus eine gewisse Eingeschworenheit all derer, die gebildet genug sind, diesen Umschreibungen die verschiedenen Künste zuzuordnen. Die aus der Antike stammenden septem artes liberales werden – kanonisiert und vermittelt durch Martianus Capella und Augustinus (auch über Cassiodor und Isidor) – im Mittelalter zur Basis jeder gelehrten Ausbildung.⁷⁶⁷ Wenn der Kanzler also die sieben freien Künste in einem Sangspruch aufzählt, stellt er seine Kenntnis des ge-

 Vgl. Zach (Kanzler), S. 237.  Vgl. dazu Curtius (Europäische Literatur), S. 46–52; Stolz (Artes-liberales-Zyklen), S. 6–57; in der höfischen volkssprachigen Literatur begegnen Verweise auf diesen Fächerkanon in der Epik (etwa im Rahmen der Ausbildung des Protagonisten, so in Lamprechts Alexander, in Hartmanns von Aue Gregorius und Gottfrieds von Straßburg Tristan; auch Cundrîe la sorciere in Wolframs von Eschenbach Parzival verfügt über entsprechende Kenntnisse, vgl. dazu auch Stolz [Artes-liberales-Zyklen], S. 77–83), aber auch im Rahmen der Lehrdichtung, etwa in Thomasins von Zerklære Welschem Gast (V. 8899– 9062), vgl. dazu Stolz (Artes-liberales-Zyklen), S. 160–186.

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lehrten Fächerkanons aus und insinuiert damit, selbst über eine solche gelehrte Ausbildung zu verfügen. Diesen Eindruck verstärkt er dadurch, dass er die Künste nicht benennt, sondern umschreibt und damit seine Kenntnis auch der Inhalte dieser Disziplinen andeutet.⁷⁶⁸ Mit seiner Kurzbeschreibung der einzelnen artes steht er zudem lateinischen und mittelhochdeutschen Merkversen nahe, welche die verschiedenen artes nennen und knapp umschreiben.⁷⁶⁹ Bezeichnend ist, dass er damit auf erlernbare gelehrte Bildung verweist und diese Buchgelehrsamkeit – anders als die Sangspruchdichter des 12. und früheren 13. Jahrhunderts – als Grundlage seiner Dichtkunst ausweist.⁷⁷⁰ Dass – wie Grubmüller beobachtete – die Sangspruchdichter sich zunehmend in Konkurrenz zu den Gelehrten begeben, bestätigt sich hier insofern auch am Kanzler.⁷⁷¹ Überhaupt ist gerade das Thema der septem artes liberales ein gutes Beispiel dafür, denn dieses wird so in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung erstmals beim Kanzler greifbar.⁷⁷² Das einzige deutlich frühere Zeugnis wäre eine lateinische Strophe des Marners 1Marn/7/19,⁷⁷³ für die dessen Autorschaft allerdings umstritten ist, da, wie Haustein gezeigt hat, eine Datierung ins erste Drittel des 14. Jahrhunderts um einiges wahrscheinlicher wäre.⁷⁷⁴ In dieser Strophe 1Marn/7/19 werden die septem artes liberales um eine Aufzählung zahlreicher weiterer Wissenschaften auch der höheren Fakultäten ergänzt, und der Spruch kulminiert je nach Handschrift in einer Invektive gegen die Rechtswissenschaften oder gegen die Simonie.⁷⁷⁵

 Dennoch überrascht, dass der Kanzler im Rahmen einer solchen Bildungsostentation oder -prätention darauf verzichtet, sich mit den lateinischen Fachbegriffen zu schmücken – umso mehr, als sie im späten Sangspruch beziehungsweise frühen Meistergesang, als das Thema der septem artes liberales vielfach begegnet (s. u.), mitunter gerade aufgrund ihres gelehrten Klanges aufgezählt zu werden scheinen.  Vgl. dazu Stolz (Artes-liberales-Zyklen), u. a. S. 676–684; ähnlich in Priester Arnolds Loblied auf den Heiligen Geist, vgl. dazu Stolz (Artes-liberales-Zyklen), S. 73–75.  Vgl. Hübner (Rhetorische Verfahren), S. 202; das lässt sich beim Kanzler mehrfach beobachten, besonders in der Prologstrophe 1Kanz/1/1, vgl. dazu Kap. 1.1.  Vgl. Grubmüller (Autorität), S. 709–711.  Anders als in der volkssprachigen Dichtung gelehrter Autoren, vgl. etwa bei Priester Arnold (Loblied auf den Heiligen Geist, vgl. dazu Stolz [Artes-liberales-Zyklen], S. 73–75) und Thomasin von Zerkl#re; ob sich daraus auch Rückschlüsse auf eine (spätere) Datierung des Kanzlers ergeben könnten, bliebe zu erwägen.  Auf diese verweist bereits Zach (Kanzler), S. 238.  Die Strophe ist dreimal überliefert, einmal als Nachtrag jüngerer Hand (Ks) in C (möglicherweise um 1330/1340), daneben auch in der Sterzinger Miszellaneen-Handschrift und in der Augsburger Cantiones-Sammlung. Sowohl aufgrund der Überlieferungsgemeinschaften als auch aus metrischen und inhaltlichen Gründen argumentiert Haustein (Marner-Studien), S. 117–121, gegen die bis dahin generell angenommene Autorschaft des Marners und datiert die Strophe auf das 14. Jahrhundert; Willms (Marner), S. 22–25, dagegen hält trotz dieser Argumente Hausteins eine Autorschaft des Marners für möglich.  Vgl. Willms (Marner), S. 265 f.

2.5.10 Ton XVI, Strophe 10 – septem artes liberales (1Kanz/5/10)

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Ab dem Anfang des 14. Jahrhunderts findet sich das Thema der artes dann breit in der volkssprachlichen Sangspruchdichtung. So rühmt etwa ein Dreierbar Regenbogens die sieben freien Künste (1Regb/1/2– 4; in C überliefert),⁷⁷⁶ wobei er der Rhetorik und der Musik je eine eigene Strophe widmet. Er deutet damit eine hierarchisierende Wertung der verschiedenen Künste an und hebt im eigenen Interesse die für die Dichtkunst zentralen artes prominent hervor. Auch bei Frauenlob⁷⁷⁷ und besonders bei Heinrich von Mügeln⁷⁷⁸ werden die artes zu einem wiederkehrenden Thema, das schließlich auch im frühen anonymen Meistergesang populär bleibt.⁷⁷⁹ Den artes werden dabei häufig antike Autoritäten zur Seite gestellt und sie werden – wie schon in der Strophe des Marners – bisweilen durch weitere Wissenschaften zu umfassenderen Zyklen aufgeschwellt.⁷⁸⁰ Abgesehen von vereinzelten skeptischen Strophen findet dabei meist eine poetologische Indienstnahme statt und die artes werden zum legitimatorischen grunt der Kunst erklärt.⁷⁸¹ Beim Kanzler ist auffällig, dass er die Gestaltung dieses poetologischen Themas, mit dem er sich offenbar als gelehrt ausstellen will, auch durch eine avancierte Form zu schmücken zu suchen scheint: Gänzlich gegen die bei ihm sonst übliche klare Übereinstimmung von Vers- und Satzgrenzen setzt er hier vier Enjambements (je am Übergang von Hinführung beziehungsweise Zusammenfassung zu Aufzählung der einzelnen Künste),⁷⁸² womit er offenbar einen speziellen formalen Kunstanspruch unter Beweis stellen will. Daneben fällt innerhalb der Beschreibungen der artes ein Spiel mit antithetischen Umschreibungen auf.⁷⁸³ Eingeleitet werden diese durch den Gegensatz von wahr und falsch in der Beschreibung der Dialektik (V. 5), der hier jedoch traditionskonform ist und darauf verweist, dass die Logik diese Gegensätze argumentativ gegeneinander aushandelt.⁷⁸⁴ Dass die Strophe im Folgenden aber gezieret und ungezieret nebeneinander stellt, ist für die Beschreibung der Rhetorik zwar einleuchtend, aber die Opposition ist nicht topisch. Das Sänger-Ich überträgt mithin die Idee der antithetischen Beschreibung dieser Kunst, die seiner Poetik der Gegensätzlichkeit entspricht, auch auf die nächste ars, die Rhetorik, und insinuiert damit, dass gezierte rede sich auch aus ihrem Gegenteil konstituiert und erst von diesem her erkennbar wird. Mit einer weiteren Häufung von Antithesen umschreibt das Sänger-Ich schließlich die Geometrie, die sleht, ruch, krumb unde eben,/ kurz, lang, breit, smal,

 Auf diese verweist auch Zach (Kanzler), S. 238; bei Boppe werden die artes beiläufig zum Ausdruck großer Gelehrtheit, vgl. 1Bop/1/22, V. 4; 1Bop/1/30, V. 16.  Marienleich Versikel 16–18, nach GA.  1HeiMü/281–287, 1HeiMü/500, „Der meide kranz“, V. 169–518 (hg. Stackmann) und in der lateinischen Strophe 1HeiMü/411, vgl. Kibelka (Der ware meister), bes. S. 19–37.  Vgl. dazu Bulang/Knapp (Artes und Wissen), S. 250–259.  Vgl. dazu Bulang/Knapp (Artes und Wissen), S. 253–255.  Vgl. dazu Bulang/Knapp (Artes und Wissen), S. 253 f.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 239.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 238.  So schon bei Isidor: Etymologiae, lib. I, cap. 2, 1: Tertia dialectica cognomento logica, quae disputationibus subtilissimis vera secernit a falsis, zit. nach Lindsay.

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hoh, tief (V. 11 f.) auszumessen vermöge, und nutzt die Antithesen hier, um die umfassende Fähigkeit dieser Wissenschaft auszustellen, die alles Räumliche zu erfassen vermag. Die letzte von Antithesen geprägte Reihe umschreibt die Fähigkeit der Musik, die die menschliche Stimme uf, abe, nu mite, nu oben, nu unden (V. 13 f.) zu führen verstünde. Mit der mite bricht die Strophe die streng antithetischen Umschreibungen der vorangehenden Künste auf und inszeniert die Musik damit auch als Vermittlerin. Im Verbund mit der einleitenden impliziten Belehrung darüber, was Merkmale guter rede seien, wird daran eine poetologische Funktionalisierung dieser Aufzählung der Künste sichtbar, die über das reine Ausstellen von Wissen und die gelehrte Fundierung der eigenen Kunst hinausgeht.

2.5.11 Strophe 11 – Freundschaft gegen Verwandtschaft (1Kanz/5/11) C Kanz  Mag, ob mich liebet dir min gt vil mere danne du̍ magschaft, so pfligst du kranker neve sitte, wilde ist dir fru̍ ndes name.  entfru̍ ndet uns min armt, so ist an dir swach der sippe haft; da hoͤ nest du dich sere mitte, des du dich selber scham. fru̍ nt, du bist gt unde haldest mich.  hab im der mag die magschaft z dem gte, min gt ist lieber im danne ich, im wont ein kranku̍ fru̍ ntschaft in dem mte. mag, ich wirt dir sam du bist mir, unde merke es rehte: ob du werest selb nu̍ nde,  uf dich verkoufen stet min gir. ich gebe u̍ ch alle umbe zwen rehte fru̍ nde.

Das zentrale Thema der Strophe ist eine Gegenüberstellung von Verwandtschaft und Freundschaft. Das Sänger-Ich apostrophiert einleitend den Verwandten (mag) und diskutiert im Potentialis,⁷⁸⁵ dass, wenn der Verwandte das Ich nur um seines Besitzes willen liebe und nicht wegen der Verwandtschaft zu ihm, dieser die schlechte Gewohnheit entfernter Verwandter übe und der Begriff ‚Freund‘ ihm offenkundig fremd sei (V. 1–4). Der zweite Stollen erörtert weiter, dass der Verwandte eine armselige verwandtschaftliche Bindung pflege, wenn die Besitzlosigkeit des Ich dazu führe, dass

 „Der Spruch ist ein Gedankenspiel des Ich (V. 1 stellt die gesamte Strophe unter den Vorbehalt ob sich libet)“, vgl. Seeber (Freundschaft), S. 349; vgl. auch Zach (Kanzler), S. 83.

2.5.11 Ton XVI, Strophe 11 – Freundschaft gegen Verwandtschaft (1Kanz/5/11)

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er sich ihm entfru̍ nde[ ]; mit dieser Haltung entehre er sich selbst und solle sich dafür schämen (V. 5–9).⁷⁸⁶ Indem der Aufgesang dergestalt solchen Verwandten, die sich nur aus materiellen Interessen freundschaftlich geben beziehungsweise die Freundschaft im Fall einer (finanziellen) Not des anderen aufkündigen, ein Versagen nicht nur als Freunde, sondern auch als Verwandte vorwirft, propagiert er implizit eine naturgemäße Verbindung von Freundschaft und Verwandtschaft. Zugleich aber macht die Strophe deutlich, dass diese Freundschaft durch ein derartiges Fehlverhalten aufgehoben werden kann, während das Verwandtschaftsverhältnis dadurch zwar entehrt, nicht aber beendet wird. Der Abgesang spielt folgerichtig Freundschaft gegen Verwandtschaft aus. In einer emphatischen Apostrophe wendet sich das Ich an den (wahren) Freund und umreißt, was einen solchen auszeichnet: du bist gt unde haldest mich (V. 9). Wenn der Verwandte dagegen nur mit dem gt des Ich verwandt sei, den Besitz also mehr liebe als dessen Besitzer, pflege er eine kranku̍ fru̍ ntschaft (V. 10–12).⁷⁸⁷ Deutlich stellt das Sänger-Ich damit Freundschaft über Verwandtschaft und führt im Spiel mit der Polysemie des Wortes gt vor,⁷⁸⁸ was den echten Freund auszeichnet: Dieser nämlich begehre nicht das gt des Ich, sondern sei gt zu ihm (dem Ich). Mit der Schlusspointe wendet sich das Sänger-Ich im Folgenden erneut an den habgierigen Verwandten und kündigt ihm – jetzt im Realis – an, sich künftig so zu verhalten, wie er:⁷⁸⁹ Es begehre nämlich, ihn zu verkaufen – und selbst wenn dieser eine neun Verwandte wäre, so wolle er sie alle zusammen für zwei wahre Freunde hergeben (V. 13–16). Das Sänger-Ich nimmt damit seine angekündigte Vergeltung (ich wirt dir sam du bist mir, V. 13) spielerisch wörtlich und stellt die Verwerflichkeit der Tatsache, dass die Verwandten nur seinen Besitz begehren, überspitzt aus,⁷⁹⁰ indem er nun seinerseits – wenn er sich so verhält wie diese – sie selbst zu verkäuflichem gt degradiert. Mit dem Begriff der gir, die er danach habe, sie zu verkaufen, verweist er spiegelbildlich auf die negative (Besitz‐)Gier der Verwandten. Zugleich nutzt er damit eine diesen Besitzverfallenen verständliche Sprache: Er fasst den Wert der Freundschaft als materiellen Tauschwert und rechnet ihn gegen den Wert der Verwandtschaft auf, wenn er neun mage um zwei Freunde verkaufen will.

 Zach (Kanzler), S. 84, hebt hier zudem hervor, dass das Sänger-Ich durch die vielen Apostrophen (dir, du dich, du dich selber) eine klare Schuldzuweisung vornimmt und damit zugleich bezeigt, dass es selbst im Zustand der Freundschaft mit dem Verwandten bleiben wolle.  Das nimmt den Vorwurf der kranke[n] neve sitte (V. 3) wieder auf, vgl. Zach (Kanzler), S. 85.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 85; zum Umspielen der Polysemie von gt, vgl. bes. 1Kanz/2/4 und dazu Kap. 2.2.2.1.  Vgl. 1Wern/6/1; ohne Freundschaftsthematik auch in Walther von der Vogelweide L. 49,12.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 86.

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2 Analysen

Seeber hat diese Strophe im zeitgenössischen Freundschaftsdiskurs und dessen Rezeption in der Sangspruchdichtung situiert.⁷⁹¹ Er verweist hier vorerst auf die Anknüpfung an antike Traditionen, etwa Ciceros Laelius, der (auch im Mittelalter) geradezu als ‚Handbuch des Adels für die Freundschaft‘⁷⁹² gelten könne und in welchem der Freundschaft der Vorrang vor der Verwandtschaft zugestanden wird.⁷⁹³ Zudem weist er darauf hin, dass die Verwandtenbeziehung in der Strophe des Kanzlers im Sinne der amicitia mundialis lesbar sei,⁷⁹⁴ die bei Aelred von Rievaulx der idealen bedingungslosen amicitia spiritalis gegenübergestellt wird.⁷⁹⁵ Dass diese Hintergrundfolie beim Kanzler aber zugleich aufgerufen wird, um ihre Ideale zu modifizieren, zeigt Seeber eindrücklich am Vergleich mit Walther von der Vogelweide, dessen Freundschafts-Strophen der antik fundierte, bei Aelred vergeistlichte Freundschaftsbegriff unverändert zugrunde liegt.⁷⁹⁶ Walther profiliert Freundschaft als etwas, was gewonnen werden muss und nur bestehen kann, wenn beide sich in tugent mit gegenseitiger Beständigkeit verbunden sind (1WaltV/14/6 [L. 79,25]). Genau darin bestehe auch der Vorzug der Freundschaft gegenüber der verwandtschaftlichen Bindung, wie die in C vorangehende Strophe ausführt (1WaltV/14/5 [L. 79,17]):⁷⁹⁷ Verwandtschaft sei eine selbwahsen êre, Freundschaft aber müsse man sich sêre verdienen, entsprechend helfe sie aber auch verre baz als Verwandtschaft (V. 6–8, zit. nach Schweikle); gleich wie hochgeboren ein Mensch sei, nütze ihm das nichts, wenn er keine Freunde habe (V. 1–4). Seeber resümiert, dass Walther hier „die klassische Definition der Freundschaft als durch tugendhafte Handlungen verdiente Verbindung im Sinne Ciceros in gnomischer Form aus[stelle]“, wobei „die bekannte Vorstellung von virtus als grundlegender Kraft der amicitia […] ebenso an[klinge] wie die Unbedingtheit der Freundschaftsbindung, wenn die Helferqualitäten des Freundes über die des Verwandten gestellt werden“.⁷⁹⁸ Gerade im Kontrast dazu, so arbeitet er heraus, falle auf,

 Vgl. Seeber (Freundschaft); die folgenden Ausführungen stützen sich insofern zentral auf diese ausgesprochen gründliche intertextuelle Erschließung; ausgewählte Literaturhinweise zum mittelalterlichen Freundschaftsdiskurs, vgl. ebd. S. 348 [Anm. 5].  Vgl. C. Stephen Jaeger: Ennobling love: in search of a lost sensibility. Philadelphia 1999, S. 29.  Laelius de amicitia, cap. 19: namque hoc praestat amicitia propinquitati, quod ex propinquitate benevolentia tolli potest, ex amicitia non potest; sublata enim benevolentia amicitiae nomen tollitur, propinquitatis manet, zit. nach M. Tullius Cicero: Laelius de amicitia. Ad. T. Pomponium Atticum. Laelius. Über die Freundschaft. T. Pomponius Atticus gewidmet, lateinisch – deutsch, hg. und übersetzt von Max Faltner. München 1980; vgl. auch Freidank: Gemachet friunt ze nôt bestât,/ dâ lîhte ein mâc den andern lât, 95,16 f.  Vgl. dazu die Strophe Walthers von der Vogelweide (1WaltV/8/18 f. [L. 30,19]), die das Thema Besitz und Freundschaft diskutiert und darauf verweist, dass echte Freunde in der Not beständig bleiben.  Vgl. dazu Seeber (Freundschaft), S. 350, der hier auch auf die grundsätzliche Bedeutung von Aelreds von Rievaulx: De spiritali amicitia hinweist, „dessen geistliche Lesart von Ciceros ‚Laelius‘ die Freundschaftstheorie im 12. Jahrhundert mit neuer Fundierung versah“.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 350.  Auf diese Strophe Walthers verweist schon Zach (Kanzler), S. 86 f.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 350; zu Freundschaftskonzeptionen bei Walther allgemein, vgl. ebd. S. 355–357; vgl. auch die Marner-Strophe 1Marn/2/2, die Bedingungen der Freundschaft verhandelt und

2.5.11 Ton XVI, Strophe 11 – Freundschaft gegen Verwandtschaft (1Kanz/5/11)

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dass der Kanzler sein Verhältnis zu den Verwandten und zum Freund dezidiert vom Ich aus bestimme; dabei nutze der Kanzler diese Individualisierung aber nicht, „um den Innenraum der Freundschaftsbeziehung von Alter und Ego auszugestalten“, sondern reduziere vielmehr den Innenraum der Beziehung „auf das Ego, das Spekulationen über Freundschaft und Verwandtschaft anstell[e], hierarchisier[e] und sich als Zentrum des Geschehens begreif[e]“.⁷⁹⁹ So ist der Freund für das Kanzlersche Sänger-Ich derjenige, der ihn nicht zu übervorteilen sucht, nicht auf dessen Besitz fixiert ist und ihn als denjenigen achtet, der er ist. In dieser Zentrierung auf das Ich unterbleiben aber Überlegungen zu Gegenseitigkeit und Vervollkommnung, was der klassischen Freundschaftstheorie zuwiderläuft.⁸⁰⁰ Freundschaft wird hier mithin nicht als gegenseitige und vor allem nicht als einzigartige Personenbindung beschrieben (cor unum et anima una), was sich auch darin manifestiert, dass das SängerIch seine habgierigen Verwandten nicht etwa für einen, sondern für zwei Freunde verkaufen würde.⁸⁰¹ Dieses hervorgehobene Ich in der Zweierbeziehung der Freundschaft steht beim Kanzler im Kontrast zur gänzlichen Atrophie des Ich in seinem Minnesang, worin Seeber ein Ausspielen verschiedener Ich-Konzeptionen sieht, die einmal mehr die Kanzlersche „Lust an der diskursiven Begriffsentfaltung“ (Haustein) zeigten.⁸⁰² Anders als in der vorgängigen Verhandlung von Freundschaft in der Sangspruchdichtung gewinne der Freund damit zugleich seine Identität nicht mehr aus der Zweierbeziehung,⁸⁰³ sondern reflektiere sie als Einzelperson, womit der Kanzler den Freundschaftsdiskurs nutzbar mache, um den Blick auf das im 13. Jahrhundert virulent werdende Thema einer Identitätsbildung des Ich zu richten (ähnliches zeigt Seeber hier auch für Walther von Breisach 1WaltBr/1/5).⁸⁰⁴ Daneben funktionalisiert die Strophe des Kanzlers den Freundschaftsdiskurs aber zugleich, um über Verwandtschaft zu reflektieren,⁸⁰⁵ was sich nicht darin erschöpft, das ciceronische Postulat eines Vorranges der Freundschaft vor der Verwandtschaft aufzurufen.⁸⁰⁶ Der Kanzler nämlich behauptet nicht von Beginn an eine harte Oppo-

dabei ebenfalls hervorhebt, dass Freunde sich durch Beständigkeit in der Not auszeichnen; vgl. dazu Haustein (Marner-Studien), S. 160 f.; Willms (Marner), S. 142 f.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 350 f.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 351.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 349 f.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 351 f.; sowie Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 173.  Seeber entfaltet hier einen kursorischen Überblick über die Behandlung des Themas von Spervogel und Walther über den Marner, Reinmar von Zweter, Hermann der Damen bis zum Ehrenboten, vgl. Seeber (Freundschaft), S. 355–359.  Vgl. Seeber (Freundschaft), S. 361 f.; zu Walther von Breisach: Ebd., S. 352–355.  Vgl. dazu auch 1Wern/1/15.  Zugleich bedeutet diese Vorrangstellung schon bei Cicero einerseits eine Abwertung der Verwandten, die man sich nicht aussuchen kann und zu denen die Bindung bestehen bleibt, auch wenn das Wohlwollen erlischt, andererseits betont diese Hierarchisierung aber auch die ausgesprochene Nähe zwischen Freunden, welche selbst diejenige zu Blutsverwandten übertrifft.

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sition von Freundschaft und Verwandtschaft, vielmehr insinuiert er im Aufgesang, dass Freundschaft und Verwandtschaft in eins gehen sollten. Eine solche Gleichordnung von Freund und Verwandtem zeichnet auch Aelreds Freundschaftstheorie aus, hier jedoch ist die weltliche Verwandtschaft durch die geistliche substituiert (Ordensbrüder).⁸⁰⁷ Die Strophe des Kanzlers verweltlicht diesen Gedanken gewissermaßen wieder, problematisiert aber den verderblichen Einfluss der Habgier und Besitzfixierung, die diese Identität von mage und fru̍ nt zugrunde richteten (besonders deutlich in V. 5 f.: entfru̍ ndet uns min armt,/ so ist an dir swach der sippe haft). Dieses betrogene Ideal einer Einheit von Freund und Verwandtem ruft auch eine Strophe in einem Ton Reinmars des Fiedlers auf (1ReiFi/3/3),⁸⁰⁸ die konstatiert, heute könne man froh sein, unter zwanzig Verwandten noch einen Freund zu finden, früher seien es bei fünfen noch drei gewesen. Das Sänger-Ich dort schließt an diese Beobachtung aber keine Reflexion über Freundschaft an, sondern eine Klage über den allgemeinen Verfall der Welt.⁸⁰⁹ Die Identität von Freund und Verwandtem erscheint in jener Strophe damit als verlorener idealer Urzustand und macht die ‚heute‘ einkehrende Diskrepanz zwischen ihnen zum Signum einer aus den Fugen geratenen Welt. Die auffällige ‚Rechnung‘ am Anfang dieser Strophe nimmt das Kanzlersche Sänger-Ich gewissermaßen mit seiner Schlussabrechnung auf, neun Verwandte für zwei Freunde geben zu wollen. Er überbietet die Reinmar-Strophe (und den dort beschriebenen bedenklichen Zustand der Welt) insofern damit, dass er seine Verwandten um Freunde sogar verkaufen muss, weil er unter ihnen keine mehr finden kann. Auch Konrad von Würzburg (1KonrW/7/10) problematisiert, dass sich derjenige, der viele Verwandte habe, leider nicht automatisch darauf verlassen könne, auch Freunde zu haben.⁸¹⁰ Er überführt damit insofern ebenfalls eine vorerst allgemein angenommene Identität von Freund und Verwandtem in eine Opposition, wenn es schließlich heißt, ein trutgeselle ist besser danne vil unholder mâge (1KonrW/7/10, V. 4, zit. nach LDM). Hier aber wird diese Diskrepanz zum Anlass, in der Nachfolge Ciceronischer und Aelredscher Ideale gnomisch darüber zu belehren, was Freundschaft auszeichnet. Was Walther nur andeutet, differenziert Konrad hier insofern gewissermaßen aus, indem er umfassend darlegt, wo man Freundschaft suchen solle, wie sie

 Vgl. dazu Andreas Kraß: Im Namen des Bruders. Fraternalität in Freundschaftsdiskursen der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Behemoth. A Journal on Civilisation (2011), S. 4–22, hier S. 14.  Die Handschrift schreibt die Strophe bezeichnenderweise Walther von der Vogelweide zu. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 397 f., weist sie – wie unter Zweifel auch Lachmann – aufgrund des Tones Reinmar dem Fiedler zu. RSM Bd. 5, S. 224, gibt den Verfasser als unbekannt an. Auf diese Strophe verweist auch Zach (Kanzler), S. 87.  So heißt es hier, wer der Welt und ihren Verlockungen bis zum Schluss folge, verspiele sein Seelenheil (V. 4–6). Man beklage, dass die Alten stürben und gestorben seien, bald aber gelte es, zu beklagen, dass triuwe, zuht und êre in der Welt tot seien und – anders als die (sündigen) Menschen – keine Erben hinterlassen hätten (V. 7–10).  Auf diese Strophe verweist auch Zach (Kanzler), S. 87.

2.5.12 Ton XVI, Strophe 12 – Zeitklage mit Adelsschelte (1Kanz/5/12)

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zu gewinnen sei und wodurch sie sich auszeichne (gegenseitiger Beistand auch in Not und Sorge; triuwe, minne, absolute Ehrlichkeit gegeneinander; völlige Freiheit von persönlichen [niederen] Interessen, 1KonrW/7/10, V. 5–8; 11). Dieser Erwerb wahrer Freundschaft – und auch sie zu erhalten – wird dabei als mühsames und investitionsreiches Unterfangen ausgewiesen (1KonrW/7/10, 9–11), die damit betonte Seltenheit und Exzeptionalität einer solchen Freundschaft illustriert mithin ihren außergewöhnlichen Wert. Noch deutlicher als auf die Freundschaftsstrophen Walthers scheint der Kanzler auf diese Strophe Konrads zu referieren und noch klarer tritt vor deren Aufruf zum freundschaftlichen dienen und helfen die Kanzlersche Profilierung der Freundschaft ausschließlich als Aktion von Alter gegenüber Ego hervor. Zugleich aber macht das Kanzlersche Sänger-Ich Konrads Freundschaftsdiskurs nutzbar, um an dessen Handlungsmaßstab das Versagen des Verwandten als Freund zu beschreiben, weil er beim Kanzler gerade nicht frei von Eigeninteressen ist und eben nicht in der Not hilft. Zur Pointe dieses invertierten Freundschaftsdiskurses beim Kanzler wird schließlich, dass das Sänger-Ich solchen Verwandten – nicht dem als Gegenfigur aufgerufenen Freund – die freundschaftskonstitutive Gegenseitigkeit verspricht, die damit freilich zu einer Gegenseitigkeit der amicitia mundialis wird und darin kulminiert, dass das Ich den Verwandten selbst zu verkaufen trachtet.

2.5.12 Strophe 12 – Zeitklage mit Adelsschelte (1Kanz/5/12) C Kanz  Mich wundert, ob verdorben si milte, tru̍ we, steter mt, husere unde da bi rehtu̍ tugent unde gt bescheidenheit.  ich sch eht adel schanden vri; wa vinde ich ere unde da bi gt, wa vinde ich alter oder jugent an argen kunterpfeit? die da die besten solten wesen,  die wen uns leider werden gar die boͤ sten. wie sol du̍ varndu̍ diet genesen, wes sol sich kunstricher gernder trosten, sit richer herren alte wat wib, vischer, scherer, murer went verslissen?  min mt gegen in uf strafen stat, ich wil den argen missetat verwissen.

Indem das Sänger-Ich die Strophe mit der Formel ‚Mich wundert, ob‘ eröffnet (V. 1), heischt es nach Aufmerksamkeit und inszeniert seinen Gegenstand als überraschend und relevant. Im Folgenden entpuppt dieser sich als Zeitklage, denn das Sänger-Ich räsoniert darüber, dass ihm alle Tugenden vernichtet scheinen: Freigebigkeit, Ver-

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lässlichkeit, beständige innere Einstellung, Gastlichkeit, wahre Vorbildlichkeit, echte Klugheit (V. 1–4). Diese Aufzählung stellt eine intratextuelle Referenz zu 1Kanz/5/1 her, die fast wortwörtlich denselben Katalog an Tugenden als Ausweis echten Adels aufruft und sie als fruchttragende Äste des Adelsbaums allegorisiert (husere unde da bi rehtiu scham,/ bescheidenheit, manheit, zuht, milte, tru̍ we,/ dis sint die bernden este din, 1 Kanz/5/1, V. 11–13).⁸¹¹ Diese Referenz präludiert damit bereits das Thema des zweiten Stollens dieser Strophe, in welchem das Sänger-Ich äußert, wahren Adel zu suchen, der frei von Schande sei (V. 5).⁸¹² Dass dieses Unterfangen aber geradezu aussichtslos erscheint, verdeutlichen im Folgenden zwei rhetorische Fragen, die anaphorisch verbunden sind:⁸¹³ Das Sänger-Ich klagt nämlich, wo überhaupt noch Besitz und Ansehen und wo alter oder jugent ohne böse Falschheit (kunterpfeit, V. 6–8) beieinander zu vinde[n] seien, womit es das Motiv des suochens im vinden-wollen fortführt. Diese Unmöglichkeit, makellose Adelige zu finden, korreliert – besonders durch die aufgezeigte intratextuelle Referenz der Strophe auf 1Kanz/5/1, die echten Adel und Tugendhaftigkeit kurzschließt – mit dem eingangs beklagten Schwund der Tugenden, der damit nicht mehr allgemeine Zeitklage ist, sondern ursächlich durch den Verfall wahren Adels begründet scheint. Darüber hinaus stiftet das Sänger-Ich mit den impliziten Vorwürfen der beiden rhetorischen Fragen weitere intratextuelle Bezüge. Indem es die scheinbare Unvereinbarkeit von gt und ere zum Ausweis des Weltverfalls macht, greift es das zentrale Thema der Strophe 1Kanz/2/4 auf.⁸¹⁴ Dass jene Strophe diese Reflexionen ebenfalls einleitet mit ‚Mich wundert‘ (V. 1),⁸¹⁵ lässt sich als Markierung dieser Bezugnahme verstehen. Indirekt speist das Sänger-Ich über diese Referenz die Verhaltensmaxime jener Strophe (1Kanz/2/4) in die vorliegende ein, nämlich ere unde gt, swer die wil han,/ der sol gt unde erhaft sin (1Kanz/2/4, V. 9 f., gt vor Gott und erhaft vor der Welt, V. 11 f.).⁸¹⁶ Zugleich projiziert die vorliegende Strophe in diese Referenzstrophe zurück, dass die Vereinbarkeit von gt und ere ein Merkmal wahren Adels ist. Eine weitere Referenz birgt die Formulierung wa vinde ich alter oder jugent/ an argen kunterpfeit (V. 7 f.), die mit dem seltenen Begriff des (argen) kunterfeit in intratextueller Beziehung zu 1Kanz/5/4 steht, welche das geläuterte Gold ohne gunter dem Mann ohne arg vergleicht (1Kanz/5/4, V. 2; 12).⁸¹⁷ Wie das Feuer dem Gold, so heißt es dort, schade auch dem Vorbildlichen die Lasterhaftigkeit nicht, die ihn umgebe, ja sie  Vgl. Kap. 2.5.1; auf die Nähe der Strophen zueinander verweist auch Zach (Kanzler), S. 97 f.  Damit referiert die Strophe ebenfalls auf 1Kanz/5/1, in der makelloser adel als schanden widersatz bezeichnet wird, vgl. Zach (Kanzler), S. 98.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 98.  Vgl. Kap. 2.2.2.1.  Auf diese Übereinstimmung verweist auch Zach (Kanzler), S. 97.  Zugleich ruft die Referenz die Polysemie von gt auf, die vielleicht auch in dieser Strophe ein Sinnpotenzial entfalten kann: Indem sie den in äußere und innere ere unterteilten Ehrbegriff aktiviert, zeigt sie an, dass, selbst wenn dem Adeligen allein aufgrund seines status äußeres Ansehen zukomme, dieses ohne innere Güte wertlos sei.  Vgl. Kap. 2.5.4.

2.5.12 Ton XVI, Strophe 12 – Zeitklage mit Adelsschelte (1Kanz/5/12)

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trägt – so lässt die Strophe schließen – sogar zu seiner Läuterung bei, womit auch die beklagte Tugendlosigkeit der Welt in dieser Strophe implizit als Ort möglicher Bewährung gerade durch diese Herausforderung inszeniert wird.⁸¹⁸ Der Abgesang der Strophe bringt die Verkehrtheit des im Aufgesang umrissenen Weltzustandes über eine plakative Antithese auf den Punkt: Diejenigen, welche die (moralisch) besten sein sollten, die drohten die boͤ sten zu werden (V. 9 f.).⁸¹⁹ Gerade über den intratextuellen Bezug auf den Lobpreis des Adels (1Kanz/5/1) ist dies als Tugendadel-Diskurs ex negativo zu erkennen.⁸²⁰ Dort heißt es, der Adel sei zu preisen, wo man ihn unverwert finde, was deutlich ausstellt, dass Adel angeboren ist, aber durch vorbildliches Verhalten bewahrt werden und sich bewähren muss, um ‚erhalten‘ zu bleiben.⁸²¹ Genau darauf zielen auch die vorliegenden Verse ab: Aufgrund ihres angeborenen status sollten die Adeligen die besten sein, das heißt, sie haben durch diesen Geburtsadel eine Verpflichtung zur Vorbildlichkeit. Diese Verpflichtung, sich ihrem Adel gemäß zu verhalten, drohen sie jedoch zu verraten und werden damit nicht nur schlecht, sondern superlativisch sogar die boͤ sten. Mit dem ‚uns‘ (die wen uns werden leider gar die boͤ sten, V. 10)⁸²² stellt das Sänger-Ich zum einen die Verantwortung der nobilitas gegenüber der Gesellschaft aus, gemahnt sie also an ihre Herrscherpflichten, zum anderen verweist es bereits darauf voraus, dass unter dieser Schlechtigkeit nicht alle gleichermaßen zu leiden hätten. Besonders leidtragend nämlich – das geben die folgenden rhetorischen Fragen zu erkennen – ist die varndu̍ diet, die unter diesen Umständen nicht genesen kann (V. 11). Die kunstriche[n] gernde[n] wüssten nicht, worauf sie ihre Zuversicht setzen sollten, weil die alte Kleidung der Reichen heute Frauen, Fischer, Barbiere und Maurer auftrügen (V. 12–14). Deutlich verengt sich die Kritik am Verfall der adeligen Tugenden damit auf den Aspekt der Almosen, also auf die milte, die nicht mehr den Fahrenden zukomme (speziell den über Kunst verfügenden gernden), sondern einer Reihe von Leuten, die sie – das wird aus der Gegenüberstellung deutlich – nicht verdient hätten. Mit der katalogartigen Aufzählung der Unwürdigen und dem korrelierten Vorwurf, dass es falsch sei, diesen Almosen zu geben und den Kunstreichen nicht, steht die

 Die im Aufgesang aufgebaute Reihe von Adel ohne Tugend, Besitz ohne Ansehen und der Verweis auf das Fehlverhalten der Jugend stellt auch die Strophe 1Kanz/5/8 im Kontext einer Zeitklage zusammen (adel ane tugent, jugent ane rat,/ ane ere grozes gt, 1Kanz/5/8, V. 7 f.) und leitet im Folgenden über zu einer Schelte der Geistlichen (vgl. dazu Kap. 2.5.8). Komplementär dazu fokussiert die Strophe 1 Kanz/5/12 gewissermaßen den weltlichen Adel.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 98; zu weiteren Belegstellen für diese vielgebrauchte Antithese: Roethe (Reinmar von Zweter), S. 595 [Kommentar zu 90,4].  Seidl (LDM, Kommentar) nennt diese gesamte Strophe eine „[a]delige Tugendlehre ex negativo“.  unverwert ‚wol erhalten, unverwest‘, Lexer: Bd. 2, Sp. 1971.  wen ist eine vor allem im Alemannischen gebräuchliche Kontraktion von wellent, vgl. Mittelhochdeutsche Grammatik, hg. Hermann Paul, neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera, mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neu bearbeitet und erweitert von HeinzPeter Prell. Tübingen 2007, hier § M 111.

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Strophe wiederum in intratextueller Beziehung zu 1Kanz/2/8.⁸²³ Dort hält das SängerIch den Herren, die implizit beklagen, es gebe zu viele gernde, entgegen, dass dies daran liege, dass sie ihre Gaben den Falschen gäben, nämlich allerlei Betrügern, Lügnern und Schmeichlern, nicht aber für die Kunst. Damit profiliert das Sänger-Ich auch die Höflinge als unwürdige gernde (vgl. Kap. 2.2.4). Die wechselseitige intratextuelle Beziehung dieser Strophe zur vorliegenden macht noch deutlicher, dass diese Hofkritik auch eine Herrscherkritik ist, weil die Herren den Adel durch ihre unreflektierte falsche milte entehren, was geradezu als Ursache für den Verfall der Welt ausgewiesen wird. Dass die Strophe aber als ‚falsche Adressaten‘ für die Almosen der Herren nicht Taugenichtse und Höflinge, sondern verschiedene Handwerker hervorhebt – eine soziale Gruppe, die aus der höfischen Literatur sonst beinahe vollständig exkludiert erscheint⁸²⁴ – irritiert zunächst.⁸²⁵ Indem das Sänger-Ich sie pointiert den kunstrichen gernden gegenüberstellt, wird deutlich, dass er die beiden Gruppen ständisch weit entfernt voneinander verortet. Das Handwerk von vischer, scherer und murer im Speziellen steht dabei offenbar für besonders ärmliche Vertreter jenes Standes.⁸²⁶ Dass ausgerechnet diese durch die Adeligen mit deren prächtigen Gewändern bedacht werden und mithin in diesen herumlaufen, stellt insofern geradezu sinnbildlich die verkehrte Weltordnung aus. Unpassend wirkt aber, dass dieser Katalog handwerklicher Berufe durch die wib ergänzt beziehungsweise eröffnet wird (V. 14). Die Kleidergabe an die wib scheint nämlich vielmehr einen Hinweis auf amouröse Ausschweifungen darzustellen und gibt insofern zu denken, ob damit signalisiert werden soll, dass auch die Handwerker auf verschiedene Laster der Herren hindeuten wollen, so etwa der scherer auf die Eitelkeit der Herren, der Maurer auf ausschweifendes Bauen – ein Vorwurf, der etwa auch in der hofkritischen Tugendlehre Wernhers von Elmendorf begegnet⁸²⁷ – und die  Vgl. Kap. 2.2.4.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 99 f.  Auch im Aufgreifen des Handwerkermilieus steht die Strophe in Verbindung zu 1Kanz/5/8, die einleitend die Zustände nicht nur auf den Burgen, sondern zudem in den Städten angreift; auch damit scheint die Strophe als komplementäre Zeitklage zu dieser Strophe markiert (vgl. S. 275, Anm. 818).  Vgl. Sabine von Heusinger: Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg. Stuttgart 2009, hier S. 154–159, die zeigt, dass diese Zünfte – zumindest im 14. Jahrhundert – offenbar am unteren Ende der Zunfthierarchie standen. Die Barbiere sahen sich zudem nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, ein ‚unehrliches‘ Handwerk zu pflegen, vgl. Robert Jütte: Bader, Barbiere und Hebammen. Heilkundige als Randgruppen? In: Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 2., neu bearbeitete Auflage. Warendorf 1994, S. 90–121, hier S. 96–103. Die Fischer müssen allerdings nicht als Personen in Abhängigkeit vom städtischen Rat gedacht sein, im 13. Jahrhundert sind sie häufig Leibeigene der Klöster und Adeligen, also unfrei, scheinen aber teilweise aufgrund ihrer Spezialisierung einen gewissen Sonderstatus zu besitzen, vgl. Angelika Lampen: Fischerei und Fischhandel im Mittelalter. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen nach urkundlichen und archäologischen Quellen des 6. bis 14. Jahrhunderts im Gebiet des Deutschen Reiches. Husum 2000, hier S. 118–124.  Vgl. S. 157, Anm. 372.

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Fischer darauf, dass die Herren besonders auf eine gefüllte Tafel achten.⁸²⁸ Dass die Fischerei aber geradezu topisch als armes Handwerk gilt,⁸²⁹ legt wiederum nahe, die ausgesprochene Niedrigkeit dieser sozialen Gruppe in Opposition zu den kunstreichen Fahrenden zu stellen und damit die Ungeheuerlichkeit zu verdeutlichen, den Kunstreichen die Gabe zu verweigern. Angesichts dieser Tatsache, so schließt das Sänger-Ich kämpferisch, stehe ihm der Sinn danach, zu strafen und den argen (Herren) ihre missetat zu verwissen (V. 15 f.). Die Tugendlosigkeit der Herren manifestiert sich also im Zurückhalten der Almosen beziehungsweise in einer falschen milte, welche die soziale Ordnung der Gesellschaft gefährdet.⁸³⁰ Dieses Verhalten wird als missetat bewertet, also geradezu als Verbrechen stilisiert und die Verantwortlichen als bösartig (arge) moralisch disqualifiziert. Das Sänger-Ich ermächtigt sich selbst, indem es sich mit der zweifachen Ankündigung, dieses Verhalten verbal zu ahnden, zum Richter erhebt (strafen, verwissen). Auch die Referenzstrophe 1Kanz/5/1, der panegyrische Lobpreis des Tugendadels, schließt mit einer Schelte, nämlich derer, die sich edel nennen, ohne vorbildlich zu sein.⁸³¹ Gerade im intratextuellen Zusammenspiel der beiden Strophen betonen diese abschließenden Drohungen komplementär zur Panegyrik die Befähigung des Sängers zum strafenden Scheltgesang, der das Ansehen unwürdiger Herren so zu zerstören vermag, wie der panegyrische, es zu vermehren.⁸³² Die vorliegende Strophe erscheint durch die Dichte der intratextuellen Verweise auf eine Vielzahl von Strophen geradezu als Mosaik aus Selbstzitaten, das direkt oder indirekt alle zentralen Aspekte der Kanzlerschen Herrenlehre und Tugendadelsideologie zusammenlaufen lässt, und wird damit gewissermaßen ihr Kulminationspunkt. Übergeordnet referiert sie aber besonders auf die toneröffnende Tugendadelspreisstrophe 1Kanz/5/1 und komplementiert deren Lobpreis wahren Adels durch eine pessimistische Einschätzung der adeligen Realität, in welcher ein solch rühmenswerter Tugendadel gesucht, aber nicht mehr gefunden werden könne. Dass die Strophe die milte gegenüber den kunstreichen Fahrenden – zu denen das Sänger-Ich sich fraglos zählt – zum Ausweis echten Adels macht, spielt auf das wiederkehrende Motiv einer Zusammengehörigkeit von gutem Sänger und vorbildlichem Adeligen an und überformt damit ihre unüberhörbare Heische ideologisch.

 Sofern es sich nicht um Hering oder Stockfisch handelt, ist Fisch ‚Herrenspeise‘ und Statussymbol, vgl. Lampen (Fischerei), S. 38.  Ingrid Haug: [Art.] Fischer, Fischfang. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, begr. von Otto Schmitt, hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Redaktion Karl-August Wirth. Bd. 9. München 2003, Sp. 187–278, hier Abschn. II. D. 1.  Zu erwägen wäre allerdings auch, ob hier eine Kritik daran mitschwingt, dass die Gabe an die Handwerker eigentlich kein Almosen, sondern eine Entlohnung ist, die aber, wenn sie über Kleidung erfolgt, das mittels eines Guts tut, das aus sangspruchdichterischer Sicht traditionell als Almosen aus milte gegeben werden sollte.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 100.  Vgl. zu dieser Figur auch 1Kanz/5/3, Kap. 2.5.3.

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2.5.13 Strophe 13 – Fuchs und Rabe (Herrenschelte) (1Kanz/5/13) C Kanz  Ein vuhs zeinem rappen sprach, der hoh uf einem boͮ me sas unde trg einen kese in sinem snabele: ›her rappe, ir sint gar klg,  so schoͤ nen vogel ich nie gesach. nie lerke noh galander bas gesang danne ir. sus ich niht zabel, ich hort es gerne geng.‹ der rappe dur den valschen pris  mit luter stimme im sinen sang erborte; des viel der kese im unders ris. in krift der vuhs, den sang er gerne horte. sus gebent gt toͤ rscher herren vil dur valsches lop, dur smeichen, liegen, triegen.  wol fuͤ get dem affen toren spil, es gebent die narren gerne ir gt den giegen.

Wie in der Fabelstrophe 1Kanz/1/5 markiert auch hier bereits der eröffnende Vers der Strophe – Ein vuhs zeinem rappen sprach –, dass und auf welche Fabel sie referiert. Anders als in 1Kanz/1/5 wird der Prätext aber nicht nur in sprichworthafter Verkürzung anzitiert, sondern bis in den Abgesang hinein narrativ entfaltet.⁸³³ Die antike und auch im Mittelalter breit belegte Fabel von „Fuchs und Rabe“⁸³⁴ wird dabei cum grano salis traditionskonform wiedergegeben, eine spezifische Vorlage lässt sich allerdings nicht bestimmen.⁸³⁵ Das Sänger-Ich leitet die Fabel mit einer epischen Exposition der Situation ein, die im Vergleich zu den lateinischen Fassungen stark gerafft ist: Ein Fuchs spricht einen Raben an, der mit einem Stück Käse im Schnabel auf einem Baum sitzt.⁸³⁶ Die folgende Schmeichelei des Fuchses gibt der Kanzler in direkter Rede

 Obermaier (Fabel), S. 246 f., 257 zeigt, dass das Auserzählen einer Fabel in der Sangspruchdichtung tendenziell der seltenere Fall ist, was sie auch darauf zurückführt, dass die Fabel als epischdramatische Gattung sowohl aufgrund ihres Umfangs als auch wegen ihres Sprechmodus für die Kürze der lyrischen Strophe und die spezifische Sprechsituation der Sangspruchdichtung nicht ohne weiteres kompatibel ist; häufiger begegneten Fabeln hier insofern in sprichworthafter Verkürzung. Letzteres ist allerdings nicht nur ein Merkmal der Fabelrezeption in der Sangspruchdichtung, sondern auch für die Predigt zu beobachten, wo Fabeln bisweilen sogar auf Tiervergleiche reduziert werden, so etwa bei Odo von Cheriton, vgl. dazu Grubmüller (Meister Esopus), bes. S. 103.  Dicke/Grubmüller (Fabel), K 205, S. 236–243; vgl. dazu auch Max Ewert: Über die Fabel ‚Der Rabe und der Fuchs‘. Berlin 1892.  Vgl. Richard Rodenwaldt: Die Fabeln in der Spruchdichtung des XII. und XIII. Jahrhunderts. Berlin 1885, hier S. 19; Krieger (Kanzler), S. 84 f.  Phaedrus und in der Nachfolge Romulus leiten damit ein, dass der Rabe den Käse aus einem Fenster geraubt hat und auf einem Baum essen will, wobei er von einem Fuchs bemerkt wird, der ihn anspricht: Phaedrus, Nr. I, 13: Qui se laudari gaudet verbis subdolis,/ Sera dat pœnas turpes pœnitentia./

2.5.13 Ton XVI, Strophe 13 – Fuchs und Rabe (Herrenschelte) (1Kanz/5/13)

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wieder.⁸³⁷ Er lässt ihn dabei die Klugheit und Schönheit des Raben preisen sowie seinen Gesang, dessen Schönheit selbst den Gesang von Lerche und Kalanderlerche übertreffe, weswegen der Fuchs vorgibt, ihn gerne hören zu wollen (V. 4–8). Der Rabe, geschmeichelt vom valschen pris, hebt laut zu singen an; dabei fällt ihm der Käse aus dem Schnabel und der Fuchs schnappt sich diesen; lakonisch beschließt das SängerIch die Fabelerzählung damit, dass der Fuchs diesen Gesang gerne hörte (V. 9–12). Im Verhältnis zur lateinischen Phaedrus-Tradition, wie sie etwa bei Romulus oder dem Anonymus Neveleti zu greifen ist, sind beim Kanzler einige Umakzentuierungen zu beobachten. Er erweitert die Schmeichelrede des Fuchses, indem er den Gesang des Raben spezifisch über den als schön geltenden Gesang anderer Vögel erhebt,⁸³⁸ zudem rühmt er neben der Schönheit des Raben auch dessen Klugheit. Die Schmeichelrede etabliert damit zwei zentrale Themen der Sangspruchdichtung, nämlich die Verhandlung von Sangeskunst und diejenige von Klugheit.Vorerst scheint die Strophe damit auf eine Konkurrentenschelte zuzulaufen – umso mehr, als Fabelreferenzen im Sangspruch häufig diesem Zweck dienen,⁸³⁹ so etwa auch in 1Kanz/1/5, wo der Esel in

Cum de fenestra Corvus raptum caseum/ Comesse vellet, celsa residens arbore,/ Vulpes hunc vidit, deinde sic cœpit loqui:/ O qui tuarum, Corve, pennarum est nitor!/ Quantum decoris corpore et vultu geris!/ Si vocem haberes, nulla prior ales foret./ At ille stultus, dum vult vocem ostendere,/ Emisit ore caseum, quem celeriter/ Dolosa Vulpes avidis rapuit dentibus./ Tunc demum ingemuit Corvi deceptus stupor, zit. nach: Les Fabulistes latin depuis le siècle de Auguste jusqu’à la fin du moyen âge, hg. von Léopold Hervieux, Bd. 2: Phèdre et ses anciens imitateurs directs et indirects. Paris 1883, hier S. 9; Romulus vulgaris, Nr. I,14: Cum de fenestra Corvus caseum raperet, alta consedit in arbore. Vulpis ut hæc vidit, contra sic ait: O Corve, quis similis tibi, et pennarum tuarum quam magnus est nitor! Qualis decor tuus esset, si vocem habuisses claram. Nulla prior avis esset. At ille, dum vult placere et vocam suam ostendere, validius sursum clamavit, et ore patefacto oblitus caseum dejecit, quem celeriter Vulpis dolosa avidis rapuit dentibus. Tunc Corvus ingemuit, et stupore detentus, deceptum se pœnituit; sed post inrecuperabile factum damnum quid juvat pœnitere?, zit. nach Hervieux (Les Fabulistes), Bd. 2, S. 184.  So auch bei Phaedrus und Romulus, anders beim Anonymus Neveleti, Hervieux (Les Fabulistes), Bd. 2, S. 391, Nr. 15. Nach Obermaier (Fabel), S. 256 f., sind häufig gerade diejenigen Sangspruchdichter, welche die episch-dramatische Textsorte der Fabel intensiv und ausformuliert nutzen, zugleich auch diejenigen, die „solche Gattungen pflegen, die eine deutliche Affinität zum Epischen oder auch zum Dramatischen“ oder zum Tierbild haben (vgl. dazu auch Wolfram, der als Epiker in der Lyrik besonders das narrative Genre des Tagelieds bedient). Der Kanzler ist zwar kein Epiker oder Dramatiker und rezipiert die Fabel auch nicht „intensiv“, dennoch wäre hier darauf hinzuweisen, dass eine Dramatisierung im Sinne eines Spiels mit (referierter) direkter Rede und Gegenrede in seinem Sangspruch auch sonst begegnet (vgl. 1Kanz/1/1; 1Kanz/2/8; 1Kanz/5/6).  Die gemeinsame Nennung von lerche und galander als Exponenten schönen Vogelgesangs begegnet mehrfach in der mittelhochdeutschen Literatur, bisweilen ergänzt um die (Sing‐)Drossel und auch die Nachtigall mit ihrem topisch als schön geltenden Gesang; vgl. dazu etwa Marner Lied 4, Str. 2, V. 9 f. (zit. nach Willms); Konrad von Würzburg Partonopier und Meliur, V. 5588; Trojanerkrieg, V. 10032, 16489; Oswald von Wolkenstein Lied 16, Str. 1, V. 8, sowie Lied 50, Str. 1, V. 6 (zit. nach: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, hg. von Karl Kurt Klein, 4., grundlegend neu bearbeitete Auflage von Burghart Wachinger. Berlin/Boston 2015).  Vgl. Obermaier (Fabel), S. 246; Gerd Dicke: Kap. IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 3. Fabel. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 142–153, hier S. 146.

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der Löwenhaut und die Trappe mit den Pfauenfedern den Typus des kunstlosen Blenders chiffrieren. Die im zweiten Teil des Abgesangs gebotene Auslegung identifiziert den Raben aber nicht mit kunstlosen Sängern,⁸⁴⁰ sondern mit den toͤ rsche[n] herren, die vil gt für falsches Lob gäben (V. 13 f.). Zum tertium comparationis der sangspruchdichterischen Auslegung wird also nicht der (rabenartig) schlechte Gesang, sondern das (füchsisch) geheuchelte Lob (V. 9; 14), dem die Herren aufsitzen, worin sich implizit freilich auch ein Angriff auf heuchlerische Konkurrenten verbirgt. Auf deren Unverfrorenheit verweist auch die Freude des Fuchses am ‚Gesang‘ der Herren. Dass hier nun unverblümt die Dummheit der Betrogenen (toͤ rsche[ ] herren,V. 13) und die Arglist der Betrüger (dur smeichen, liegen, triegen,V. 14) angeprangert wird, erzeugt Dynamik und Härte. Das gilt umso mehr, als der Kanzler in der Fabelerzählung selbst – bis auf den Schlüsselbegriff des valschen pris[es] (V. 9) – keine Wertung und Kommentierung des Geschehens vornimmt, anders als die Texte der lateinischen Phaedrus-Tradition, die bereits in der narratio die Hinterlistigkeit des Fuchses und die Dummheit des Raben hervorheben. Die Schärfe des Kanzlerschen Angriffs kulminiert in den Schlussversen der Strophe: wol fuͤ get dem affen toren spil,/ es gebent die narren gerne ir gt den giegen (V. 15 f.). Die für den Kanzler ungewöhnlich beleidigende Polemik (Gleichsetzung der Herren mit Affen und Narren) erscheint hier nur dadurch etwas abgemildert, dass diese Schlussverse sich als allgemeiner sentenzhafter Kommentar gerieren und damit die herabwürdigende Gleichsetzung der Herren nicht explizit aussprechen. Dennoch wird die Korrelation deutlich. Klar stellt das Sänger-Ich aus, dass die Gabe, die für falsche Schmeichelei (abqualifiziert als toren spil der giegen) gegeben wird, den Gebenden entehrt, ihn zum affen und narren macht. Zugleich prangert es damit – in der Fluchtlinie der Moral des Prätextes – auch die Eitelkeit der Herren an.⁸⁴¹ Dass die Fabelerzählung beim Kanzler das von Phaedrus stammende Motiv der abschließenden reuevollen Selbsterkenntnis des Raben ausklammert,⁸⁴² macht den Angriff noch drastischer, da somit den betrogenen Herren noch nicht

 Vgl. Dicke (Fabel), S. 149.  Vgl. dazu Obermaier (Fabel), S. 258, die darauf verweist, dass die „Integration der Fabel in den Sangspruch […] offenbar nur dann gut möglich [sei], wenn es geling[e], die Fabel dem Sangspruch entgegenzuführen, wohingegen der Sangspruch der Fabel nur in den Elementen entgegenkomm[e], die für ihn nicht gattungskonstitutiv [seien]. Offenbar gehör[e] […] ein gutes Gespür für die eigene Gattungsidentität, ein deutliches Bewusstsein der eigenen Gattungsgrenzen, aber auch Angst vor dem Verlust der eigenen Gattungsidentität (welche dann anscheinend leicht zu gefährden [sei], jedenfalls leichter als die der Fabel) zu den zentralen Gattungskonstituenten des Sangspruchs.“ Zugleich spiegelt sich darin aber auch einfach die Funktionalisierung der Fabel für den eigenen Zweck, wie es die Sangspruchdichter etwa in der Predigt vorgeprägt fanden (zur Fabel in der Predigt, vgl. Grubmüller (Meister Esopus), bes. S. 97–111). Der Gebrauch und die Funktionalisierung der Fabel dient mithin nicht einfach nur der Illustration, sondern steht auch in einer gelehrten Tradition, an der (und an deren Geltung) die Sangspruchdichter mit Fabelreferenzen ebenfalls partizipieren.  Diese fehlt auch etwa bei Odo von Cheriton Nr. 70, vgl. Hervieux (Les Fabulistes), Bd. 4: Eudes de Cheriton et ses dérivés. Paris 1896, hier S. 242.

2.5.13 Ton XVI, Strophe 13 – Fuchs und Rabe (Herrenschelte) (1Kanz/5/13)

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einmal der Erkenntnisprozess zugestanden wird: Sie merken gar nicht, dass sie betrogen wurden. Zugleich nimmt das Sänger-Ich dadurch aber auch die Rolle des Vermittlers ein, der diese Erkenntnis durch seine Belehrung bewirken will. Mit ihrer Kritik steht die Strophe in Verbindung zur Schelte der lieger, trieger und smeicher in 1Kanz/2/8⁸⁴³ und expliziert, was in jener Scheltstrophe, die sich vordergründig gegen die gernden richtet, dabei aber sowohl kunstlose Fahrende als auch Höflinge angreift, nur angedeutet wird, nämlich dass herrscherliche milte gegenüber Unwürdigen das Ansehen der Herren vernichte.⁸⁴⁴ Damit insinuieren diese Strophen – wie auch die Fabelstrophe 1Kanz/1/5 – in ihrer Bezogenheit aufeinander die Idee einer Zusammengehörigkeit von gutem Sänger und vorbildlichen Herren, die durch das Geben am richtigen Platz, durch die richtige milte, ihre moralische Vorbildlichkeit und wahre Herrschaftsfähigkeit unter Beweis stellen. Die Fabel vom Fuchs und vom Raben ist für diese sangspruchdichterische Funktionalisierung besonders gut gewählt:⁸⁴⁵ Zum einen unterstreicht ihre Bildlichkeit die folgende Deutung, da der Rabe oben auf dem Baum, der seinen Bissen fallen lässt, treffend das hierarchische Gefälle zwischen Herr und gerendem symbolisiert. Zum anderen hat sie den Gesang zum Thema⁸⁴⁶ und verweist damit implizit darauf, dass ihre Schelte sich auch gegen heuchlerische Sängerkonkurrenten richtet. Hervorgehoben wird das erstens dadurch, dass sie explizit eine Hierarchisierung von Gesangsqualität thematisiert, was sie durch die Einführung konkreter Exponenten (lerke und galander) betont, andererseits dadurch, dass das Handeln des Fuchses im vorletzten Vers mit spil bezeichnet wird.⁸⁴⁷ Dass der Rabe respektive Herr – den betrügerischen Worten des Fuchses zum Trotz – nicht zu erkennen vermag, dass sein ‚Gesang‘ sich dem der Kalander‐/Lerche nicht vergleichen kann, stellt die mangelnde Selbsterkenntnis der Raben/Herren aus, insinuiert aber zugleich, dass solche Herren kein Urteilsvermögen hinsichtlich der Kunst besitzen. Diese Stoßrichtung unterstützt auch die Nähe zur einer Fabelstrophe Konrads von Würzburg (1KonrW/7/12), die ebenfalls Herren, die unüberlegt milte sind, und kunstlose Konkurrenten gleichermaßen angreift und das Thema dabei deutlich in eine „künstlerische Qualitätsdiskussion“ überführt.⁸⁴⁸ Konrad funktionalisiert dafür die – auch bei ihm (knapp) auserzählte – Fabel vom Esel, der sich seinem Herren gegenüber wie dessen Hund verhält, um ebenfalls gestreichelt zu werden, dafür allerdings Prügel

 Auch die dabei in beiden Strophen zusammengestellten Vorwürfe des liegens, triegens und Schmeichelns generieren eine intratextuelle Verbindung.  Vgl. Kap. 2.2.4.  Obermaier (Fabel), S. 257, weist allgemein als Merkmal der im Sangspruch rezipierten Fabeln aus, dass sie entweder durch ihre thematischen Kerne anschlussfähig für die Gattung waren (so hier) oder dadurch, dass sie in sprichworthafter Verkürzung umliefen (so etwa bei 1Kanz/1/5).  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 249.  Auch das Spiel mit der klanglichen Nähe von giegen (‚Narren‘) und gîgen (‚Geigen‘) arbeitet dem zu.  Vgl. Grubmüller (Meister Esopus), S. 248.

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bezieht.⁸⁴⁹ Konrad stellt dieser Geschichte das falsche Verhalten der edlen gegenüber, die den kunstelosen schalk/ tru̍ tet[en], wo sie ihm den balg mit steken solte[n] weichen, während sie dem gefuͤ ge[n] man dagegen durh kunst enheine gabe reichen wollten (1KonrW/7/12a, V. 7 f.; 10, zit. nach LDM). Abschließend wäre hier aber auch noch auf die Rezeption der Fabel vom „Fuchs und Raben“ bei Odo von Cheriton zu verweisen, der ihr ebenfalls eine neue Auslegung gibt: In seiner geistlichen Deutung wird der Käse zur Nahrung der Seele, derer diese zum Leben bedarf (nämlich pacienciam, graciam, caritatem) und die sie durch die Einflüsterung des Teufels verliert, der dazu anstachelt, sich um nichtigen weltlichen Ruhm zu bemühen, statt nach Gott zu streben.⁸⁵⁰ Diese Auslegung lässt sich zwar nicht direkt als weitere Deutungsebene auf die Auslegung des Kanzlers übertragen, dennoch könnte sie peripher im Anspielungshorizont seiner Fabelreferenz liegen und das falsche Handeln sowie die falsche Eitelkeit der Herren assoziativ als verderblich auch für das Seelenheil ausweisen.

2.5.14 Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16) Die in Handschrift C aufeinanderfolgenden Strophen 14–16 im Hofton I stehen thematisch und formal in sehr enger intratextueller Beziehung zueinander und werden daher von der Forschung durchweg als Dreierbar wahrgenommen, sind aber zugleich je soweit in sich geschlossen, dass sie prinzipiell auch Eigenständigkeit als Einzelstrophen beanspruchen können.⁸⁵¹ Sie verhandeln das in der Morallehre zentrale Thema der schame, die hier als zweigesichtiger Begriff eingeführt und ausdifferenziert wird. Das Sänger-Ich stellt dabei zunächst in einer Expositionsstrophe das Thema in seiner Breite aus (1Kanz/5/14) und verhandelt im Anschluss strophenweise die positive (1Kanz/5/15) und negative (1Kanz/5/16) Wirkweise dieses Abstraktums.

2.5.14.1 Strophe 14 – Exposition des Begriffs (1Kanz/5/14) Kanz  Er bit ku̍ nste unde sinnes rat, swer singen welle von der scham, wa von si wirt, waz von ir kam, wazs an den lu̍ ten tt.  gar manicvaltig ist ir tat, wie daz doch eine si ir name.

 Dicke/Grubmüller (Fabel), K 96, S. 98–104.  Odo von Cheriton Nr. 70, vgl. Hervieux (Les Fabulistes), Bd. 4, S. 242; vgl. dazu auch Grubmüller (Meister Esopus), bes. S. 38 f.  Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 262; RSM, Bd. 4, S. 164.

2.5.14 Ton XVI, Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16)

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si ist wilent schade unde wilent vrom, nu boͤ se unde danne gt. scham ist vor argen werken gt,  ist daz si missetat dar inne wendet; geschicht des niht, reht als ein blt nach arger tat schame roͤ tet unde schendet. scham ist niht gt gegen gter tat, si senket so den in der helle gru̍ nde,  der hie dur sine schame lat, daz er niht bihten wil die sine su̍ nde.

Die erste der drei Strophen eröffnet prologartig mit der Feststellung, dass derjenige ku̍ nste unde sinnes rat erbitten müsse, der von der scham singen und sie dabei umfassend in ihrem Wesen erschließen wolle (nämlich ihren Ursprung, ihre Folgen und ihre Wirkung auf die Menschen erfassen, V. 1–4). Das Sänger-Ich inszeniert das sangspruchdichterische Sprechen über die Scham damit als dichterische Herausforderung, die bestimmter künstlerischer Vorbedingungen bedarf. Dass es einleitend heißt, diese Vorbedingungen, nämlich kunst und sin, müssten dafür um Hilfe gebeten werden, wirkt wie eine invocatio, die sich aber nicht etwa an Gott oder die Musen richtet, sondern an die Kernkompetenzen der Dichtkunst selbst. Darin offenbart sich eine explizite poetologische Selbstthematisierung. Zugleich werden diese Fähigkeiten gewissermaßen transzendiert, indem sie an die Stelle höherer Mächte treten, worin sich eine Autonomie der Dichtkunst andeutet. In der Koppelung dieser poetologischen Zentralbegriffe verweist kunst auf die erlernbare ars,⁸⁵² ist aber auch umfassender Ausdruck sängerischer Qualifikation im Vergleich mit anderen Sängern,⁸⁵³ während sin auf die „Erkenntniskompetenz des einzelnen“ abzielt,⁸⁵⁴ was beim Kanzler auch die dichterische Fähigkeit zur poetischen Umsetzung der Erkenntnis einschließt.⁸⁵⁵ Indem das Sänger-Ich hier einerseits in unpersönlichem Sprechmodus die Notwendigkeit äußert, über kunst und sin zu verfügen, um über die Scham zu singen, und dies andererseits im Folgenden selbst tut, reklamiert es diese dichterischen Kompetenzen für sich und inszeniert zugleich seinen Gegenstand als intellektuell anspruchsvoll. Das Sänger-Ich begegnet diesem selbstgenerierten Anspruch des Themas, indem es sich der Abhandlung über die Scham betont analytisch nähert. Es will sie umfassend erschließen, nämlich wa von si wirt, waz von ir kam,/ wazs an den lu̍ ten tt (V. 3 f.). Dabei stellt das Sänger-Ich – vom Begriff aus denkend – antithetisch heraus, dass trotz ihres einfachen Namens ihr Tun vielfältig sei.⁸⁵⁶ Zum einen zeigt sich darin, dass die Dar-

 Vgl. 1Kanz/5/7, V. 3; 1Kanz/5/10; auch 1Kanz/2/11, V. 10.  Vgl. 1Kanz/2/9, vgl. dazu Kap. 2.2.5.  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 53.  Bes. 1Kanz/1/5, V. 14; 1Kanz/1/6, V. 15; in Abgrenzung von anderen gernden auch in 1Kanz/2/8, V. 19; 1 Kanz/5/12, V. 11.  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 55.

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stellung dieses ethischen Wertbegriffs auch als Sprachproblem erkannt wird.⁸⁵⁷ Zum anderen bereitet der antithetische Gegensatz von einfachem Begriff und vielfältiger Erscheinungsform die antithetische Wesenheit dieses Phänomens vor, denn die Scham, so heißt es, sei manchmal schädlich und manchmal nützlich, mal schlecht und mal gut (V. 5–10). Hinsichtlich des angekündigten Dreischrittes der Begriffsexplikation (Ursprung der Scham, allgemeine Wirkung, Einfluss auf den Menschen) umreißt diese antithetische Kurzbeschreibung zunächst Punkt zwei, ihre allgemeinen Wirkung (waz von ir kam, V. 3).⁸⁵⁸ Allerdings verrätselt diese ‚Explikation‘ vorerst mehr, als sie erklärt, spielt also rhetorisch mit einer beabsichtigten Sinnverdunkelung, was rezipientenseitig Interesse für den Gegenstand der Strophe generiert und ihn zugleich mit Geltung ausstattet.⁸⁵⁹ Diese scheinbare Widersprüchlichkeit löst der Abgesang auf, der sich dem dritten Punkt der angekündigten Begriffsexplikation zuwendet, nämlich der spezifischen Wirkung der Scham auf die Menschen, und dabei erklärt, dass es eine gute und eine schlechte Wirkungsweise der Scham gebe, welche je in vier Versen ausgeführt wird. Erneut im Spiel mit antithetischen Formulierungen heißt es dort, gt sei die Scham, wenn sie vor argen werken schütze, also zeitlich vor der bösen Tat auftrete und den Menschen davon abhalte, sie zu begehen (V. 9 f.). Als nicht durchweg gute, aber doch zumindest nützliche (vrom) Wirkungsweise der Scham erscheint ihre zweite positive Qualität, nämlich dass sie – wenn es ihr nicht gelingt, die böse Tat zu verhindern – nach der bösen Tat diese doch zumindest anzuzeigen vermag, indem sie den Menschen darüber erröten lässt und damit seine Schande offenbart (V. 11 f.). Zwischen den beiden positiven Wirkweisen der Scham besteht mithin ein gradueller Qualitätsunterschied, der sich temporal äußert und die zuvor getätigte Unterscheidung ihrer allgemeinen Wirkung zwischen gut und nützlich (V. 7 f.) aufgreift. Komplementär dazu stellt der zweite Teil des Abgesangs die negativen Wirkungen der Scham aus, weil sie auch niht gt sein könne, nämlich schlecht gegen gter tat (V. 13), wenn einer sich schäme, das Gute zu tun. Das Sänger-Ich erläutert dies abschließend am Beispiel solcher Menschen, die ihre Sünden aus Scham nicht beichten wollten und mithin durch die Scham in die ewige Verdammnis geführt würden (V. 13– 16). Die ‚allgemeine Wirkweise‘ der Scham, dass sie nu boͤ se unde danne gt sein kann (V. 8), besteht also, wie der Abgesang ausführt, darin, dass sie gleichermaßen böses wie gutes Handeln verhindern kann. Die zweite sie prägende Opposition, dass sie wilent schade unde wilent vrom sei (V. 7), wird im Abgesang der ersten Strophe allerdings vorerst nur einseitig ausgeführt: Nicht durchweg gt aber zumindest vrom wirkt die Scham, wenn sie die begangene böse Tat wenigstens (durch Erröten) anzeigt. Das ne-

 Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 53; vgl. dazu auch Haustein (Gattungsinterferenzen), S. 174.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 202; Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 55.  Vgl. Bulang (wie ich die gotes tougen), S. 44.

2.5.14 Ton XVI, Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16)

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gative Pendant dazu, nämlich eine falsche Scham über die gute Tat, führt erst die dritte Strophe der Strophenreihe aus.⁸⁶⁰

2.5.14.2 Strophe 15 – positive Scham (1Kanz/5/15) C Kanz  Swar der verschamten schanden ham sich senken wil in menschen mt, dur daz vro Ere dannen var mit maniger reiner tugent,  da zwischen mischet sich ein scham: ir rat den eren helfe tt, du̍ widerstritet schanden schar mit maniger tugent mugent. du̍ scham dem mte sa benimt  der schanden tat us eregerndem willen; swaz hohen eren missezimt, daz kan du̍ scham in menschen herzen stillen. du̍ scham ist gter eren hort: die kunsterichen meister hant gepriset  du̍ reinen werk unde ku̍ schen wort – ir volge[ ] beide leret unde wiset.

Die zweite Strophe greift nun erneut das Thema der ‚guten‘ Scham auf und führt es diskursiv aus. Sie steht damit nicht nur thematisch in intratextueller Beziehung zur vorangehenden Strophe, sondern markiert diese Referenz darüber hinaus durch Wortund Reimresponsionen. Zum einen verweist ihr eröffnendes (eher ungewöhnliches) Reimwort ham (V. 1)⁸⁶¹ klanglich auf den Zentralbegriff der Strophenreihe (scham – auf den er hier auch reimt, V. 5), zum anderen greift die Strophe damit den Reimklang scham : name aus dem Aufgesang der ersten Strophe auf (1Kanz/5/14, V. 2; 6). Daneben bespielt sie mit mt : tt (1Kanz/5/15, V. 2; 6) im Aufgesang auch den Reimklang gt : blt aus dem Abgesang der ersten Strophe (1Kanz/5/14, V. 9; 11).⁸⁶² Zugleich greift die zweite Strophe im Sinne des concatenatio-Prinzips⁸⁶³ einleitend das Bild vom ‚Hineinsenken‘ aus dem Schluss der ersten Strophe auf: Während die schlechte Scham dort den Menschen in die Verdammnis senket (1Kanz/5/14,V. 14), ist es hier die gute Scham, die verhindert, dass sich das Fischernetz schamloser Schändlichkeit in die Gesinnung des Menschen senke[t] (1Kanz/5/15, V. 2). Strophenübergreifend führt das Sänger-Ich damit die poetische Gegenüberstellung des Gegensätzlichen  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 57.  ‚Fangnetz [übertr.], Angelrute, -haken‘, vgl. MWb, Bd. 2, Sp. 1150; vgl. auch Haug ([Art.] Fisch, Fischfang), II. B.  Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 262.  Vgl. Holznagel (Wege in die Schriftlichkeit), S. 262–268.

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fort, welche die Antithesen der ersten Strophe als Wesen der scham ausweisen (darauf verweist auch die paronomastische Gegenüberstellung verschamt[ ] – scham, 1Kanz/5/ 15, V. 1; 5). Zum anderen nimmt die zweite Strophe mit diesem Bild vom Fischernetz implizit das abschließende Thema der ewigen Verdammnis aus der ersten Strophe auf, denn der ham referiert auf die christliche Ikonographie des Seelenfischers. Ursprünglich ist dieser Fischer Christus beziehungsweise sind es seine Stellvertreter auf Erden.⁸⁶⁴ Wenn es hier aber die verschamten schanden sind (1Kanz/5/15,V. 1), die in der inneren Gesinnung des Menschen fischen, um ihn vom Weg der Tugend abzubringen, nutzt der Kanzler die Auslegung der Allegorie in malam partem, wonach sie das Wirken des Teufels versinnbildlicht.⁸⁶⁵ Die gute Scham jedoch kann diese Anfechtung verhüten, indem sie ‚Frau Ehre‘ und die makellosen Tugenden dazu bringt zu intervenieren. Es ist der Rat der Scham, welcher der Ehre hilft, mit den Tugenden gegen die Schar der Schande zu kämpfen (V. 6–8). Die Personifikation der Ehre, die im Kampf gegen die Scharen des Bösen von den Tugenden wie von einem Gefolge begleitet wird, ist eine deutliche Anspielung auf die Psychomachie-Tradition.⁸⁶⁶ Geradezu psychologisch führt die Strophe diese Erörterungen fort: Die schanden tat, die im mt[ ] des Menschen (V. 9 f.), in seinem herzen ihren Ursprung nehmen will (V. 12), wird von der Scham dann getilgt beziehungsweise zum Schweigen gebracht, wenn der Mensch zugleich über eregernde[n] willen verfügt (V. 9–12).⁸⁶⁷ Wichtig ist mithin die richtige Grundeinstellung des Menschen für das positive Wirken der Scham, er muss nämlich nach Ehre streben, wobei diese beim Kanzler immer wieder als innerlicher und äußerlicher Wert bestimmt wird. Die Strophe erkennt damit zugleich an, dass auch derjenige, der nach Vorbildlichkeit strebt, angefochten wird, und macht die Scham zur Kontrollinstanz, die sowohl verhindert, dass aus dem falschen Gedanken die falsche Tat wird, als auch die falschen Wünsche, die der Ehre entgegenlaufen, im Innersten des Menschen zum Schweigen zu bringen vermag. Auf die Explikation dieser außergewöhnlichen Fähigkeit der Scham lässt das Sänger-Ich im letzten Teil des Abgesangs konsequent ein knappes geblümtes Lob der Scham folgen, dass ihre Beziehung zur ere in einer topischen Genitivkonstruktion schillernd erfasst und überhöht: du̍ scham ist gter eren hort (V. 13). Das Sänger-Ich schließt damit, dass die kunsterichen meister […] du̍ reinen werk unde ku̍ schen wort lobgepriesen hätten und dass die Menschen dadurch, dass sie der Scham folgten, diese makellosen Werke und vorbildlichen Worte gelehrt und zu ihnen angeleitet würden (V. 14–16). Der Kanzler „umreißt hier“ insofern „den Funktionsrahmen der Moraldidaxe, der die Darstellung von Begriffen motiviert und rechtfertigt“.⁸⁶⁸ Zugleich legitimiert das Sänger-Ich über die Autoritätsberufung auf die kunstreichen meister

    

Vgl. Haug ([Art.] Fisch, Fischfang), XIII.A.2.a. Vgl. Haug ([Art.] Fisch, Fischfang), XIII.A.2.d. Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 56. Vgl. dazu auch Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 55 f. Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 56.

2.5.14 Ton XVI, Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16)

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sein eigenes Tun und reklamiert, indem er sich in deren Reihe stellt, implizit auch für sich selbst solche meisterschaft. Deutlich steht die Strophe inhaltlich in intratextuellem Bezug zur vorangehenden, deren Behauptung, dass die Scham böse Taten zu verhindern vermöge, sie differenziert ausführt und bestätigt. Dabei analysiert sie diesen Prozess geradezu psychologisch, erklärt aber auch, dass die Grundbedingung für ein positives Wirken der Scham vom Streben des Menschen abhängt, das auf das Gute, nämlich den Erwerb von ere, ausgerichtet sein muss.

2.5.14.3 Strophe 16 – negative Scham (1Kanz/5/16) C Kanz  Swa scham us toͤ rschen herzen kumt, du̍ n ist bi tugenden niht gezamt, wan mag si wol z schanden zelen: unfru̍ htig ist ir stam.  du̍ scham eht niender zeren vrumt, swa sich der man des gten schamt. swelh schame lert daz erger weln, daz ist niht rehtu̍ scham. wen pfaffen sich der blatten schamen  unde grawe mu̍ nche schrotes ob den oren unde hirten oͮ ch ir amtes namen, des si da lebent, da bi so kiesent toren. die pflegent alle tumber sitte, die sich des schament, des si doh sint geret.  da ist du̍ schame unschuldig mitte; scham ist ein tugent, der si z rehte keret.

Die dritte Strophe dieser Strophenfolge steht inhaltlich ebenfalls in deutlicher intratextueller Beziehung zu den beiden vorangehenden Strophen. Wie schon die zweite Strophe markiert auch die dritte diese Referenz unter anderem durch Reim- und Wortresponsionen. Schon einleitend greift sie den Leitbegriff der scham auf und macht ihn im Folgenden – wie die vorangehenden Strophen – zudem zum Reimwort (stam : scham, 1Kanz/5/16, V. 4; 8).⁸⁶⁹ Daneben nimmt sie mit ihrem einleitenden Reim kumt : vrumt (1Kanz/5/16, V. 1; 5) paronomastisch den kom : vrom-Reim der ersten Strophe wieder auf (1Kanz/5/14, V. 3, 7).⁸⁷⁰ Inhaltlich schließt die Strophe an die Unterscheidung zwischen der guten und schlechten Wirkungsweise der Scham in der ersten Strophe an und führt komplementär zur zweiten Strophe die negative Scham differenziert aus. Deutlich nimmt sie

 Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 262.  Vgl. KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 262.

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dabei die in der Beschreibung der positiven Wirkungsweise der Scham etablierten Beobachtungen auf und diagnostiziert für die schlechte Scham gewissermaßen deren Umkehrung. Wenn die Scham nämlich nicht in einem mt wirke, der von einem eregernden willen beherrscht wird (1Kanz/5/15, V. 9 f.), sondern aus toͤ rsche[m] herzen komme (1Kanz/5/16,V. 1), führe sie nicht zu einem Sieg der tugenden über die schanden schar (1Kanz/5/15, V. 6–8), sondern sei vielmehr selbst den schanden zuzurechnen (1Kanz/5/16, V. 3). Parallel zur vorhergehenden Strophe schließt das Sänger-Ich diese Überlegungen zur schlechten Scham resümierend ab: unfru̍ htig ist ir stam (1Kanz/5/16, V. 4). Diese negative ‚geblümte‘ Metapher spiegelt die ‚Lobblume‘ der guten Scham in der vorangehenden Strophe gewissermaßen mit einer vituperativen ‚Scheltblume‘.⁸⁷¹ Wo die gute Scham dort als ‚Schatz‘ an vorbildlichem Ansehen gewertet wird, wird die negative Scham hier als fruchtlos und unproduktiv ausgestellt. Das Bild generiert dabei auch einen intratextuellen Bezug auf den toneröffnenden Lobpreis wahren Adels, welcher diesen ebenfalls als stam metaphorisiert, jedoch als einen, der fru̍ htig froͤ ide gibt und dessen fruchttragende Zweige die Tugenden sind (1Kanz/5/1, V. 9). Der Gegensatz hebt zum einen die Tugendferne der schlechten Scham hervor, die Referenz verweist aber auch auf das intertextuelle Potenzial der Metapher, die in jener Strophe die Überbietung vorgängiger Herrscherpreisstrophen markiert und lässt sich damit auch als Verweis auf die Positionierung der vorliegenden Strophe im Feld vorgängiger Strophen zum Thema verstehen (s. u.). Der zweite Stollen greift indirekt die Differenzierung der Scham aus der ersten Strophe wieder auf (si ist wilent schade unde wilent vrom,/ nu boͤ se unde danne gt, 1 Kanz/5/14, V. 7 f.), indem er nun die zwei negativen Wirkweisen der Scham profiliert. Zum einen, dass du̍ scham eht niender zeren vrumt,/ swa sich der man des gten schamt (1Kanz/5/16, V. 5 f.). Der Begriff vrumen markiert, dass es sich bei dieser ‚Scham über das Gute‘ um den schädlichen, aber nicht verderblichen ersten Typus handelt (nach der Klassifizierung in 1Kanz/5/14, V. 7). Der andere, nämlich der verderbliche Typus wird im Folgenden bündig umrissen: swelh schame lert daz erger weln,/ daz ist niht rehtu̍ scham (1Kanz/5/16, V. 7 f.). Unschwer ist darin ist die negative Wirkweise der Scham wiederzuerkennen, die bereits in der ersten Strophe ausgeführt wird, nämlich eine solche Scham, die zum Unterlassen der guten Tat anleitet und damit potenziell in die ewige Verdammnis führt (1Kanz/5/14, V. 13–16). Indem diese Scham als ‚niht reht‘ klassifiziert wird, etabliert die Strophe zudem implizit eine Dichotomie von rehter und valscher Scham. Nachdem dieser zweite Typus schon im Abgesang der ersten Strophe ausgeführt wird, erläutert der Abgesang dieser Strophe, worin der erste Typus einer negativen Scham sich manifestiere: Sie sei zu beobachten, etwa wenn die Geistlichen sich ihrer Tonsur, die grauen Mönche⁸⁷² sich ihres Haarschnitts und überhaupt die ‚Hirten‘⁸⁷³

 Vgl. Hübner (Lobblumen), S. 442.  Wohl die Zisterzienser, vgl. dazu S. 256, Anm. 732.  Auch das adressiert in diesem Kontext wohl metaphorisch die Geistlichen.

2.5.14 Ton XVI, Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16)

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sich des Namens ihres Amtes schämten; eine solche Scham über den eigenen Stand wird im Folgenden normativ als töricht abqualifiziert (1Kanz/5/16, V. 9–12). Überraschend funktionalisiert die Strophe das Thema der Scham insofern zugleich für eine Kleruskritik. Dass diese gerade über die Haartracht verhandelt wird, stellt eine intratextuelle Beziehung zur kleruskritischen Strophe 1Kanz/3/1 her (umb mu̍ nches blat ein kru̍ lle, ein krone umb nunnen hoͮ bt, 1Kanz/3/1, V. 6). Die Referenz aktiviert damit sowohl diese Kritik an der Verweltlichung der Geistlichkeit als auch die dort prominent exponierte Poetik der Gegensätzlichkeit und sensibilisiert dafür, wie diese auch die vorliegenden Strophen prägt (s. u.).⁸⁷⁴ Auf der Textoberfläche aber überführt die vorliegende Strophe diese spezifische Schelte am Klerus im Folgenden in eine verallgemeinernde Kritik. Alle, so heißt es, verhielten sich dumm, die sich für etwas schämten, was sie eigentlich ehre (1Kanz/5/ 16, V. 13 f.). Das Sänger-Ich beschließt diese Invektive mit einer Rehabilitation der Scham, die an solchem Fehlverhalten keine Schuld trage und eine Tugend sei, wenn einer sie ‚zum Rechten‘ wende (1Kanz/5/16, V. 15 f.). Erneut scheint damit die schon zuvor implizit thematisierte Unterscheidung zwischen rechter und valscher scham auf (1Kanz/5/16, V. 7 f.). Daneben betont die Strophe hier noch einmal ihren zentralen Gedanken, dass es von der Einstellung des Menschen abhänge – von seinem eregernde[n] willen oder toͤ rschen herzen –, was er aus der Scham mache.

2.5.14.4 Strophe 14 – 16: Intratextueller Bezug Auffällig ist an dieser Strophenreihe die besondere Dichte der antithetischen Gegenüberstellungen, die in der ersten Strophe exponiert werden und die das Verhältnis der zweiten Strophe zur dritten prägen. Wo derartige antithetische Gegenüberstellungen in anderen Strophen des Kanzlers als eine Art Poetik fungieren,⁸⁷⁵ welche die Dinge von ihrem Gegenteil aus zu bestimmen sucht und dabei zeigt, dass „vollere Wirklichkeit sich auch am Gegensätzlichen konstituiert“⁸⁷⁶, bemächtigt sich diese Gegensätzlichkeit hier des gesamten Gegenstandes, sie ist ihm eingeschrieben und macht seine Wirkweisen aus. Gerade darin manifestiert sich mithin die vom SängerIch eingangs geäußerte gesteigerte Schwierigkeit, diesem Gegenstand im Dichten gerecht zu werden, der sich aufgrund seiner gegensätzlichen Wirkweisen als Ganzer gerade nicht von seinem Gegenteil aus profilieren lässt. Dem begegnet das Kanzlersche Sänger-Ich, indem es die Scham auffächert in die Vielfalt ihrer gegensätzlichen Wirkungsweisen und diese je einzeln bestimmt. In der Fähigkeit, dem Gegenstand somit analytisch gerecht zu werden, zeigt das Sänger-Ich, dass es über die eingangs geforderten dichterischen Kernkompetenzen sin und kunst verfügt. Der sin beweist sich darin, dass das Sänger-Ich durchdringt (und auch seinen Rezipienten zeigt), dass

 Vgl. Kap. 2.3.1 und 2.3.5.  Vgl. bes. 1Kanz/3/1–4, vgl. dazu Kap. 2.3.  Vgl. Petzsch (Lied III des Kanzlers), S. 405 f.

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dieser Gegenstand ein-fach ist, immer derselbe, wie sein einer name anzeigt,⁸⁷⁷ dass er jedoch situativ vielfältige und vor allem gegensätzliche Wirkungsweisen entfalten kann.⁸⁷⁸ Die kunst manifestiert sich darin, dass das Ich diesen schillernden Gegenstand in seiner paradoxen Einheit und gleichzeitigen Vielfältigkeit auszustellen vermag, indem es ihn fragmentiert und seine einzelnen Wirkungsweisen mittels rhetorischer Mittel (etwa Personifikationen, Antithesen, Exempel) darzustellen weiß. Zugleich aber unterläuft das Sänger-Ich abschließend diese behauptete Vielfältigkeit der scham, indem es die axiologische boͤ se-gt-Dichotomie, die ihre Wirkweise vervielfältigt, mit dem Begriff der rehten scham in der letzten Strophe implizit überführt in einen Gegensatz von rehter und unrehter Scham. Es insinuiert somit, dass nur die rehte (nämlich die gte) Scham auch wahre und echte Scham sei, während die boͤ se Scham den Namen zu Unrecht trage und damit gewissermaßen aus dem Begriffsspektrum der ‚eigentlichen‘ Scham ausgeschlossen wird. Damit schließt der Kanzler hier letztlich doch wieder an die sangspruchdichterische Tradition an, die den Begriff als zentralen Wert in ihrer Moraldidaxe rein positiv darstellt: Bei Walther von der Vogelweide korreliert das siechen ⁸⁷⁹ oder Fehlen⁸⁸⁰ der schame mit dem verwerflichen Zustand der Welt, daneben stellt er sie in seinem Katalog von Fürstentugenden der triuwe und der êrebernde[n] zuht zur Seite.⁸⁸¹ Die nachfolgenden Sangspruchdichter machen die Scham zum Gegenstand ganzer Strophen, wobei sie diskursiv ihren Wert verhandeln⁸⁸² und sie in anaphorischem Begriffslob preisen.⁸⁸³ Der Kanzler nimmt vielfältige Impulse aus dieser Gattungstradition auf und markiert seine Referenz darauf sogar explizit, indem er mit der Berufung auf die ku̍ nsterichen meister diese vorgängige Dichtung thematisiert. Zugleich spielt er mit dieser Tradition, weil er ebendiese Autorisierungsstrategie gewissermaßen aus der schame-Begriffslobstrophe des Marners borgt, die sich abschließend genauso auf die Autorität der meister beruft (scham ist ein dú hohste tugent, sagent uns die meister und

 Auf dieses Denken vom Begriff aus verweist zudem die abundante Wiederholung dieses Begriffs – auch mittels der Paronomasie schame/schamen –, die in der dritten Strophe kulminiert (hier bilden der Begriff und seine Derivationen drei verschiedene Reime innerhalb von nur vier Versen: gezamt : schamt; stam : scham; schamen : namen, V. 2/6, 4/8, 9/11).  Vgl. Haustein (Gattungsinterferenz), S. 174: „In jedem Fall deutet der Eingang der schame-Strophe auf ein Denken vom Begriff aus hin, das nicht leugnen will und kann, daß sich der Begriff, wenn er sich im Geflecht gesellschaftlicher Bezüge materialisiert, vervielfältigen kann. Diese Vervielfältigung macht die Kunst anschaulich, der sin hingegen zeigt den Weg zum Begriff zurück. Und das heißt auch: In der Vielfalt der dichterischen Ausgestaltung kann, wenn sie richtig gefügt ist, die Einheit des sins aufscheinen.“  1WaltV/17/3 (L. 102,15), V. 13.  1WaltV/7/3 (L. 21,10), V. 4.  1WaltV/10/1 (L. 36,11), V. 7.  Vgl. etwa 1FriSo/1/34; 1KonrW/5/1; 1Leut/2/1; 1ReiZw/1/198; 1ReiZw/2/17.  Vgl. besonders 1Marn/7/10; 1Mei/4/6; weitere Belegstellen zur Erörterung der schame, vgl.: Der Marner, hg. von Philipp Strauch. Straßburg 1876, hier S. 178.

2.5.14 Ton XVI, Strophe 14–16 – Scham: Begriffsexplikation (1Kanz/5/14–16)

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dú bch, 1Marn/7/10, V. 20, zit. nach Willms).⁸⁸⁴ Zudem spielt er mit der Bildlichkeit dieser geblümten Lobstrophe: Wo die Scham beim Marner ein blühender Zweig im Garten des Ansehens ist (1Marn/7/10, V. 12), macht der Kanzler ihre negative Ausprägung zum unfru̍ chtig[en] stam (1Kanz/5/16,V. 4; zugleich verweist diese Metapher – wie gesagt – intratextuell auf die agonale Strophe 1Kanz/5/1 und artikuliert auch damit eine Überbietungsabsicht). Darüber hinaus schreibt der Kanzler seine Strophe dem sangspruchdichterischen Scham-Diskurs ein, indem er aus den vorgängigen Strophen sowohl rhetorische Figuren übernimmt – etwa das paronomastische Ausspielen der Begriffe schame – schamen – verschamt ⁸⁸⁵ – als auch argumentative Muster. Bei Friedrich von Sonnenburg (1FriSo/1/34), der die Scham vom negativen Gegenbegriff der erge aus profiliert, ist etwa die dichotomische Verhandlung des Begriffes vorgeprägt, die der Kanzler in den Begriff selbst verlagert. Verschiedene Wertigkeiten von Scham diskutieren dagegen Walther und in seiner Nachfolge Reinmar von Zweter, die darauf abheben, dass schame, die nur vor den gesten zur Schau getragen werde, keinen Bestand und damit keinen Wert habe, wobei sie jedoch nicht so weit gehen, einen schädlichen Schambegriff zu etablieren.⁸⁸⁶ Bei Konrad ist die Kanzlersche Idee eines Intervenierens der Scham um des Ansehens willen angelegt, wenn er erläutert, die Scham verhindere, dass der Mensch sich entehre, und daraus ihre allgemeine Fähigkeit ableitet, innerweltliches Ansehen zu stiften (1KonrW/5/1). Geradezu wie eine Replik auf diese Strophe Konrads hebt der Meißner komplementär dazu die Bedeutung der Scham für das jenseitige Heil hervor (1Mei/4/6), denn die Scham, deren nam […] ein ganz tugende vaz sei (V. 1, zit. nach Objartel), könne die sunde leiden (V. 9) und Gott damit den Menschen gewogen machen (V. 11). Diese Relevanz der Scham für das Seelenheil thematisiert der Kanzler vordergründig hinsichtlich der negativen Scham, spielt sie implizit aber mittels seiner Referenz auf die christliche Bildtradition der Seelenfischerei auch als Wirkziel der guten Scham an. Die Erörterung des Kanzlers schließt also dicht an die vorgängige Tradition an und sucht diese auf mehreren Ebenen zu überbieten. Schon mit dem einleitenden Hinweis auf die Notwendigkeit, über kunst und sin zu verfügen, stellt das Sänger-Ich den dichterischen Anspruch des Themas aus und übertrumpft seine Vorgänger im Folgenden dadurch, dass es die Scham nicht einfach als positive Tugend darstellt und preist, sondern differenziert und reflektiert ihrer vielfältigen Wirkung auf den Menschen nachgeht, die es geradezu psychologisch analysiert. Indem die Scham dabei – entgegen der Gattungstradition – auch als potenziell negative Macht ausgestellt wird, erfasst das Sänger-Ich eine weitere, neue Seite dieses Gegenstandes und umreißt ihn so erstmalig in seiner Gänze. Gerade mit dieser Vollständigkeit der Betrachtung, die einleitend auch programmatisch beansprucht wird (1Kanz/5/14, V. 3 f.), behauptet das  Vgl. dazu Haustein (Marner-Studien), S. 215 f.; Hübner (Lobblumen), S. 284; Willms (Marner), S. 241–243.  Vgl. bes. 1Leut/2/1; 1ReiZw/1/198.  Vgl. 1ReiZw/2/17; 1WaltV/14/13 (L. 81,7).

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Sänger-Ich implizit größere Wahrheit und überbietet damit die vorgängigen Darstellungen. Dieser Idee einer Wahrheit durch Vollständigkeit arbeitet auch die Erörterung des Themas über drei Strophen zu. Mit der zu diesem Zweck entwickelten Darstellung einer negativen Scham referiert das Sänger-Ich zugleich auf die Predigt und markiert das geradezu, indem es diese negative Scham am predigtnahen Thema der Beichte exemplifiziert: scham ist niht gt gegen gter tat,/ si senket so den in der helle gru̍ nde,/ der hie dur sine schame lat,/ daz er niht bihten wil die sine su̍ nde (1Kanz/5/14, V. 13–16). Fast genau so nennt etwa Berthold von Regensburg, die schame in der bîhte als fünftes Schloss, mit dem der Teufel die Menschen irren wolle, damit Gott nicht zu ihren Herzen kommen könne (Daz fünfte sloz daz ist gar ein schedelich sloz, dâ irret der tiuvel vil manigen menschen mite daz er sich gein dem almehtigen gote niemer bereiten mac als er ze rehte solte. Und daz selbe sloz heizet scham in der bîhte. Owê daz sô manigem menschen sîne guoten sinne mit disem slozze beslozzen werden, „Von den siben insigeln der bîchte“, Bd. 1, S. 570, zit. nach Pfeiffer).⁸⁸⁷ Zum einen öffnet der Kanzler seine Erörterung der Scham mittels dieser Referenz noch deutlicher auch auf eine Heilssorge-Thematik hin. Zum anderen partizipiert er, indem er die Argumente dieser stark institutionalisierten Gattung in den Sangspruch integriert, an ihrer Geltung. Zugleich bereitet diese Anleihe an der Predigt aber gewissermaßen die abschließende Schelte solcher Geistlicher und Mönche vor, die sich ihres Amtes und Standes schämen, welche der Kanzler hier zu Beispielfiguren einer falschen Scham macht, die radikal als töricht abqualifiziert wird. Das Sänger-Ich borgt sich mithin gewissermaßen die Autorität der Predigt, um sie letztlich gegen die Vertreter ihres eigenen Standes zu richten.

2.5.15 Strophe 17 – milte als höchstes Gut (1Kanz/5/17) C Kanz  Rich arger man, der scham sich, des mt enheiner tugende gert. er wirt dur gt hie gottes dieb, dar umbe er dort enbrinnet.  hoh edel man, ich warne dich: wilt du lob haben wit unde wert, so habe die rehten milte lieb, wan si got selber minnet. du̍ rehte milte misset eben,  waz, wie, wa, wenne unde weme si gabe bu̍ tet; swer also git, da wirt gegeben ein gabe im, der vro Ere wirt getru̍ tet. du̍ milte unrehtes niht enpfliget,

 Vgl. dazu auch die Predigt „Von bîhte und buoze“, Bd. 2, hier S. 224 (hg. Pfeiffer).

2.5.15 Ton XVI, Strophe 17 – milte als höchstes Gut (1Kanz/5/17)

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si ist vol erbermde unde ander tugende mere.  du̍ milte schanden an gesiget, von ir so kumt du̍ hohgelobt husere.

Die siebzehnte Strophe des Hofton I verhandelt das in der Sangspruchdichtung zentrale Thema der milte. Sie eröffnet mit einer unpersönlich-konstatierenden Schelte des reichen bösen Menschen,⁸⁸⁸ der sich schämen solle, wenn er in seinem Inneren keinerlei Tugend anstrebe (der scham sich/ des mt enheiner tugende gert, V. 1 f.). Wie schon in den (in C) vorangehenden schame-Strophen (1Kanz/5/14– 16) wird auch hier die falsche innere Einstellung als Weg in die ewige Verdammnis profiliert, denn – so führt die vorliegende Strophe aus – diese reichen bösen Tugendlosen würden wegen des Besitzes (dur gt) zum Dieb an Gott, wofür sie dort (in der Hölle) brennen müssten (V. 3 f.). Die vorerst allgemein konstatierte Tugendlosigkeit des Reichen wird damit exemplifiziert an seinem Verhältnis zum Besitz, durch welches er sich gegenüber Gott versündigt.⁸⁸⁹ Der zweite Stollen stellt der unpersönlichen Anrede des rich argen man nun eine direkte Apostrophe an den hoh edel man gegenüber, der nicht gescholten, sondern warnend belehrt wird (hoh edel man, ich warne dich, V. 5). Der Parallelismus der Anredeformeln unterstreicht die kontrastive Gegenüberstellung und verdeutlicht, dass die unpersönliche Adressierung des richen argen man, der nicht gewarnt, sondern nur aufgefordert wird, sich zu schämen, jenen in seiner Verderbtheit als unempfänglich für kluge Belehrung ausweist und als unrettbar abqualifiziert. Indem der hoh edel man als Gegenbild des bösen Reichen aufgebaut wird, schreibt ihm die Strophe implizit zu, was dem Bösen fehlt, nämlich das Bemühen um ein vorbildliches Verhalten. Er wird folglich angehalten, wenn er weitreichendes und dauerhaftes lop erringen wolle, die rehte milte zu lieben, weil Gott selbst diese liebe (V. 5–8). Die milte wird damit zum einen als Ursache innerweltlichen Ansehens profiliert, was implizit auch auf die panegyrische Tätigkeit der Sangspruchdichter verweist, die dieses Lob in die Welt tragen. Zum anderen wird sie transzendiert, indem sie als von Gott geliebte

 arc kann auch ‚geizig‘ heißen (vgl. MWb, Bd. 1, Sp. 347 f.: „1 Bei Personen: 1.1 ‚bösartig, verdorben, übel‘; 1.2 im Zusammenhang mit Reichtum oft verengt auf ‚geizig‘“), und darauf läuft die Strophe letztlich auch hinaus. Da der rich arge man hier aber dezidiert als negatives Pendant zum hoh edel man (V. 5; s. u.) aufgebaut wird, würde ich den Begriff hier vorerst nicht auf die Bedeutung des Geizes verengen.  Die Strophe könnte damit auf 1Wern/6/4 referieren, was schon der erste Vers markiert, der bei Wernher lautet: Wie wirt der rîchen argen rât? (1Wern/6/4,V. 1, zit. nach Zuckschwerdt). Gescholten wird der reiche Böse, der nicht zurück- noch vorausschaue, mit seinem Verhalten weder vor Gott noch der Welt bestehen könne und weder im Dies- noch im Jenseits vorsorge (sô hânt si weder hie noch dort vergulten,V. 6). Metaphorisch kunstvoll wird das hier über ein Bildfeld des Geldwesens verhandelt: wie triuget den sîn kranker sin,/ der sich den tiuvel lât alsô beschrenken,/ daz er zesamen hordet guot,/ daz ûf in wuochert sünde und dâ bî schande, V. 7–9; vgl. dazu auch Zuckschwerdt (Bruder Wernher, Kommentar), S. 616–621.

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Tugend stilisiert wird,⁸⁹⁰ worin sich zugleich das implizite Versprechen verbirgt, dass der Freigebige durch seine milte Gottes Huld und damit das Seelenheil erwerben könne.⁸⁹¹ Der zweite Stollen lässt insofern die eigenwillige Metapher des Diebstahls an Gott, den der böse Geizige verübe (V. 3) klarer werden: Dessen Liebe zum Besitz unterbindet die milte und macht ihn damit zum Dieb an Gott. Die Metapher erscheint gewissermaßen logisch verdreht, denn als Dieb wird hier derjenige profiliert, der nichts hergibt, nicht derjenige, der jemandem etwas wegnimmt. Die Logik ergibt sich aber auf einer höheren Ebene, denn gerade dadurch, dass der Böse den Menschen die Gabe verweigert, nimmt er Gott etwas weg, enthält diesem nämlich die Ausübung seiner ‚Lieblingstugend‘ vor und beraubt ihn so der guten Tat, für die Gott ihn mit Reichtum ausgestattet hat. Im Anspielungshorizont liegt hier wohl auch die Dichotomie von irdischem und himmlischem Schatz, wie sie aus der Bergpredigt bekannt ist:⁸⁹² Vor diesem Hintergrund würde der reiche Böse nicht nur keinen Schatz im Himmel sammeln, den kein Dieb stehlen könnte, sondern machte sich an sich selbst zum Dieb solcher himmlischen Schätze.⁸⁹³ Intertextuell lässt sich die Strophe mit dieser Metapher zudem als Referenz auf eine Strophe Bruder Wernhers verstehen, die in einem dunklen und im Detail nicht klar auflösbaren Gleichnis ebenfalls die unterlassene milte als Diebstahl an Gott und sich selbst inszeniert: dem dinge tuot ein schalc gelîch, der gote und ouch sich selben stilt/ unde ist dar umbe nieman holt, wan der mit im die diube hilt (1Wern/2/9,V. 11 f., zit. nach Zuckschwerdt).⁸⁹⁴ Schönbach interpretiert hier – und das trifft auch den Gedanken der Kanzlerschen Strophe – folgendermaßen: „Gott hat dem reichen, vornehmen Herren viel Gut anvertraut, aber nur zum zweckmäßigen Verwalten und Genießen.Wer Gottes Absichten damit nicht erfüllt, verfährt wie ein Dieb und wird des

 Diese Strategie einer ultimativen Legitimation findet sich auch bei Friedrich von Sonnenburg diu milte quam von gote erst (1FriSo/1/24,V. 2, zit. nach Masser), die Sangspruchdichter nutzen sie aber auch für andere Tugenden oder die Tugend selbst, ähnlich etwa beim Meißner: Scham ist so wert,/ daz ir got gert (1Mei/4/6, V. 9 f.); tugent unde gte site minnet got (1Mei/4/7, V. 1), ähnlich legitimiert auch Eike von Repgow im Sachsenspiegel das Recht: Got is selve reht, dar umme is em recht lef, Prolog, zit. nach Eckhardt, vgl. dazu Schmidt-Wiegand ([Art.] Eike von Repgow), Sp. 402.  Dass milte in den Himmel und kerge in die Hölle führt, thematisieren zahlreiche Sangspruchstrophen, besonders deutlich etwa 1Dietm/4; 1Fegf/1/8; 1KonrW/4/1; 1Marn/5/4; 1Marn/6/5; 1Wern/1/24; 1 Wern/2/8; vgl. dazu auch Kern (Rumelant, Kommentar), S. 264; Krause (milte-Thematik), S. 140–162, 172–177.  Mt 6,19 f.: Nolite thesaurizare vobis thesauros in terra/ ubi erugo et tinea demolitur/ ubi fures effodiunt et furantur 20Thesaurizate autem vobis thesauros in caelo/ ubi neque erugo neque tinea demolitur/ et ubi fures non effodiunt nec furantur; Lk 12,33 f.: Vendite quae possidetis et date/ elemosynam/ Facite vobis sacculos qui non veterescunt/ thesaurum non deficientem in caelis/ quo fur non adpropiat/ neque tinea corrumpit 34ubi enim thesaurus vester est ibi et cor vestrum erit; vgl. auch Krause (milteThematik), S. 150 f.  Vgl. zum Motiv vom Diebstahl des Schatzes im Himmel auch Walthers Invektive gegen Innozenz III., den er als kamerære bezeichnet, der Gott sînen himelhort stehle (1WaltV/9/9 [L. 33,21], V. 8).  Vgl. dazu Zuckschwerdt (Bruder Wernher, Kommentar), S. 474–479.

2.5.15 Ton XVI, Strophe 17 – milte als höchstes Gut (1Kanz/5/17)

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Diebes Strafe leiden“⁸⁹⁵ – wobei der Diebstahl ‚an sich selbst‘ auch bei Wernher offenbar auf die ewige Verdammnis abzielt. Der Abgesang erläutert nun dem Tugendreichen, wodurch sich die rehte milte auszeichne, zu der die Strophe ihn zuvor angehalten hat: Ihr Wesen sei, dass sie misse[ ] eben,/ waz, wie, wa, wenne unde weme si gabe bu̍ tet (V. 9 f.).⁸⁹⁶ Sie misst also gleichmäßig aus,⁸⁹⁷ wägt gerecht ab, wem sie wo, wann und was gibt. Die auffällige wAlliteration hebt diese modale Bestimmung aus dem Fluss der Verse hervor, womit sie betont, dass es relevant ist, ‚richtig‘ zu geben, nämlich überlegt, gerecht und angemessen.⁸⁹⁸ Wer nach dieser Maßgabe gebe, das stellt die Strophe aus, dem werde ebenfalls eine Gabe gegeben, ihm, dem Frau Ehre dadurch gewogen werde (V. 11 f.). Erneut verweist das auf den Konnex von milte und innerweltlichem Ansehen, das über die Personifikation der Frau Ehre chiffriert wird. Dabei umschreibt die Austauschrelation von innerweltlichem Ansehen gegen Almosen die topische sangspruchdichterische Formel des guot umb êre-Nehmens und zielt damit auf das spezifische Interesse des Sänger-Ichs. Zugleich lenken das auffällige Enjambement und die figura etymologica die Aufmerksamkeit auf den ersten Teil der Aussage: swer also git, da wirt gegeben/ ein gabe im (V. 11 f.), der durch seine sentenzhafte Prägnanz hervorsticht. Er lässt sich als Allusion des Bibelwortes Omni enim habenti dabitur (Mt 25,29) verstehen, welches die Auslegung des Gleichnisses von den fünf Talenten einleitet.⁸⁹⁹ Dass das biblische ‚wer hat, dem wird gegeben‘ modifiziert wird zu ‚wer gibt, dem wird gegeben‘, zeigt zum einen die sangspruchdichterische Umkontextualisierung und Funktionalisierung an. Zum anderen wird die Kanzlersche Formulierung da wirt gegeben/ ein gabe (V. 11 f.) durch die biblische Referenz durchsichtig auf eine transzendente Ebene, lässt sich

 Die Sprüche des Bruder Wernher II, Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichterwerke, viertes Stück, hg. von Anton Schönbach. Wien 1904, hier S. 91.  Vgl. zur rehten milte auch 1ReiZw/1/120.  Zum ebenen mezzen vgl. die Strophe des Meißners zur mittelmaze (1Mei/10/4).  Diese Forderung – darauf verweist auch Zach (Kanzler), S. 186 – präzisieren besonders die Strophen 1Kanz/2/8, 1Kanz/5/12 und 1Kanz/5/13.  Mt 25, 14–30: Sicut enim homo proficiscens vocavit servos suos/ et tradidit illis bona sua. 15Et uni dedit quinque talenta/ alii autem duo/ alii vero unum/ unicuique secundum propriam virtutem/ et profectus est statim […] 19post multum vero temporis venit dominus servorum illorum/ et posuit rationem cum eis 20et accedens qui quinque talenta acceperat/ obtulit alia quinque talenta dicens/ domine quinque talenta mihi tradidisti/ ecce alia quinque superlucratus sum 21ait illi dominus eius/ euge bone serve et fidelis/ quia super pauca fuisti fidelis super multa te constituam/ intra in gaudium domini tui […] 24accedens autem et qui unum talentum acceperat ait/ domine scio quia homo durus es/ metis ubi non seminasti/ et congregas ubi non sparsisti 25et timens abii et abscondi talentum tuum in terra/ ecce habes quod tuum est 26respondens autem dominus eius dixit ei/ serve male et piger/ sciebas quia meto ubi non semino/ et congrego ubi non sparsi 27oportuit ergo te mittere pecuniam meam nummulariis/ et veniens ego recepissem utique quod meum est cum usura 28tollite itaque ab eo talentum et date ei qui habet decem talenta 29Omni enim habenti dabitur et abundabit/ ei autem qui non habet et quod videtur habere auferetur ab eo 30Et inutilem servum eicite in tenebras exteriores/ illic erit fletus et stridor dentium.

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nämlich als die ‚eine‘ spezifische Gabe des Seelenheils ‚dort‘, im Himmelreich, lesen.⁹⁰⁰ Sowohl mit dieser Auslegung als auch mit der Funktionalisierung des Gleichnisses überhaupt referiert das Sänger-Ich wiederum auf die Predigt. So verhandelt das Gleichnis von den fünf Talenten etwa Berthold von Regensburg („Von den fünf pfunden“) und deutet die Talente beziehungsweise Pfunde dabei als das, was Gott den Menschen bevolhen hat, nämlich lîp, amt, zît, guot und daz dû dînen næhsten minnen solt alse dich selben (Bd. 1, S. 12–27, zit. nach Pfeiffer). diu selben fünf pfunt, so erläutert die Predigt, müezent [‚wir‘] eht alle unserm herren […] widergeben unde widerreiten am jüngsten Tag (Bd. 1, S. 12), und wer dies vermöchte, dem gäbe der Herr dafür das Seelenheil. Dass es auch hier heißt, dass das Bewahren und Vermehren dieser ‚fünf Pfunde‘ unter anderem durch das Geben von Almosen gewährleistet wird,⁹⁰¹ bereitet gewissermaßen die argumentative Figur des Kanzlers vor, dass für das Geben gegeben werde. Hier lassen sich aber noch weitere Parallelen ziehen: So heißt es bei Berthold über das ‚vierte Pfund‘ (das guot), dieses solle der Mensch für das nützen, was er zum Leben brauche (nicht jedoch für Luxus oder Ausschweifung), müsse es aber – um es nach der Logik des Gleichnisses zu vermehren – auch mit Gott, der es ihm zur klugen Verwaltung gegeben habe, teilen, indem er almuosen gebe[ ], die hungrigen etze[ ], die durstigen trenke[ ], die nacketen kleide[ ], die elenden herberge[ ] (Bd. 1, S. 25). Wiewohl der Kanzler diese Werke der Barmherzigkeit nicht aufzählt, so verweist er doch strophenabschließend in seiner Kurzbeschreibung der milte darauf, dass sie sich durch erbermde unde ander tugende mere auszeichne und dass von ihr die hohgelobt husere (‚Haus-Ehre‘ = ‚Gastfreundschaft‘) komme (V. 14; 16), hebt also ebenfalls auf die Barmherzigkeit und das Beherbergen ab. Dem stellt der Kanzler allerdings eine Aussage zur Seite, die eher zu einer höfischen Tugend- und Herrenlehre passt, dass nämlich die milte sich nicht mit dem Unrecht abgebe und über die Schande siege (V. 13; 15). Gerade durch die Predigtreferenz wird deutlich, wie sich hier das Geistliche mit dem Höfisch-Weltlichen verschränkt. Das zeigt sich besonders am Begriff der husere, auf den die Strophe zuläuft. Dieser erhält durch seine Verschaltung mit der erbermde und durch die Referenz auf die Predigt eine religiöse Dimension, wird hier aber zugleich von Elementen der Tugendlehre flankiert, die auf seine topische Nennung im Bereich höfisch-weltlich orientierter Herrenlehre verweisen.⁹⁰²

 Vgl. dazu auch Freidank 87,14 f.: Den milten nieman kan gedrôn,/ sie hânt hie lop, vor gote ir lôn; vgl. auch etwa Friedrich von Sonnenburg: Diu milte git hie herren ere und dort daz himelrich, 1FriSo/1/24,V. 5, zit. nach Masser.  Diese Aufforderung wird einmal getätigt im Rahmen der guten Werke, die zum Erhalt des lîbes dienten (Bd. 1, S. 13), und einmal im Hinblick auf das, was den richtigen Umgang mit dem ‚Pfund‘ des guotes angeht (Bd. 1, S. 25).  Die Bedeutung der husere in diesem Feld zeigt sich etwa daran, dass Konrad von Würzburg und der Meißner ihr eine eigene Preisstrophe widmen (1KonrW/2/4; 1Mei/1/4; auf diese Strophen verweist

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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Dass der Kanzler neben der thematischen Referenz auch argumentative und rhetorische Muster aus der Predigt übernimmt,⁹⁰³ zeigt sich in dieser Strophe etwa an der parallelen Gegenüberstellung des guten und schlechten Menschen und daran, dass letzterer gescholten und ersterer zum Streben nach Tugend angeleitet wird (wobei sich darin etablierte Muster der Predigt und der Sangspruchdichtung überschneiden).⁹⁰⁴ Besonders predigthaft erscheint die Selbstermächtigung des SängerIchs, die sich in der geradezu drohenden Formel ich warne dich (V. 5) artikuliert, mit der es den ständisch weit über ihm stehenden hoh edel man ⁹⁰⁵ anspricht.⁹⁰⁶ Das Sänger-Ich borgt sich die autoritative Sprecherrolle der Predigt und damit auch deren Autorität für ein Thema, das in Predigt und Sangspruchdichtung gleichermaßen virulent ist, nämlich die Verderblichkeit des Geizes und die heilbringende Macht der milte (caritas), die es gegeneinander ausspielt. Dabei weist das Sänger-Ich aber die milte nicht nur als Schlüsseltugend aus, um die Huld Gottes, sondern auch um Ansehen vor der Welt zu erwerben. Diese sangspruchdichterische Funktionalisierung des Themas lässt das Sänger-Ich schließlich im Lob der husere kulminieren, in dem sich gleichermaßen die Heische und das panegyrische Versprechen des Fahrenden offenbaren. Gerade hier aber wird die intertextuelle Referenz auf die Predigt konfliktreich, denn bei Berthold gibt es in der Predigt „Von den fünf pfunden“ eine Sache, für die Almosen zu geben Sünde sei: Gîst aber dû ez den lotern unde den gumpelliuten durch lop oder durch ruom, dar umbe muostû gote antwürten (Bd. 1, S. 25, zit. nach Pfeiffer).⁹⁰⁷ Gauklern und Spielleuten Almosen zu geben, damit sie einen loben, bezeichnet Berthold also als Sünde, für die man sich vor Gott verantworten müsse. Genau darin gründet hier jedoch möglicherweise zugleich die Appropriation des Predigerhabitus, die es dem Sänger-Ich ermöglicht, an der Autorität der geistlichen Setzungen zu partizipieren, aber diese auch subtil zu unterlaufen, umzuinterpretieren und alternative Inhalte mit der gleichen Autorität auszustatten.

2.5.16 Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20) Diese drei Strophen beschließen das Œuvre des Kanzlers. Besonders durch ihre parallele Konzeption erscheinen sie deutlich intratextuell aufeinander bezogen: Alle drei

hier auch Zach (Kanzler), S. 187), beim Kanzler ist die husere auch Teil der Tugendkataloge seiner Lobbeziehungsweise Scheltstrophen auf den Adel (1Kanz/5/1; 1Kanz/5/12).  Vgl. dazu auch Haustein (Marner-Studien), S. 25–31, der hier für den Marner Referenzen auf Inhalte, Strategien und rhetorische Verfahren der Predigt zeigt.  Zur Sangspruchdichtung vgl. Kern (Rumelant, Kommentar), S. 264.  Zach (Kanzler), S. 185, betrachtet diese Anrede wegen der ständischen Differenz als Ausdruck der „maßlose[n] Selbsteinschätzung und typische[n] Überbewertung des Einflusses eines Spruchdichters“.  Daneben auch ‚der schame sich‘, V. 1.  Vgl. dazu auch die Vorwürfe gegen die Fahrenden in der Predigt „Von den zehen kœren der engele unde der kristenheit“, Bd. 1, S. 155; vgl. Kap. 2.2.4.

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sind Begriffsexplikationsstrophen, die ihren Leitbegriff anaphorisch wiederholen.⁹⁰⁸ Die ersten zwei Strophen sind als milte- und kerge-Strophe antithetisch aufeinander bezogen; die letzte Strophe befasst sich mit dem Wesen des nîdes. ⁹⁰⁹ Besonders die ersten beiden Strophen stehen deutlich in der sangspruchdichterischen Gattungstradition: Die oppositionelle Gegenüberstellung von milte und kerge ist hier topisch⁹¹⁰ und auch der Typus der anaphorischen Begriffsexplikationsstrophe⁹¹¹ (häufiger noch Begriffslobstrophe)⁹¹² erfreut sich in der Nachfolge Bruder Wernhers und Reinmars von Zweter zunehmender Beliebtheit und wird auch im Meistergesang reich rezipiert.⁹¹³ Thematisch ist die anaphorische milte-Strophe bei Friedrich von Sonnenburg und Konrad von Würzburg vorgeprägt,⁹¹⁴ die oppositionelle Gegenüberstellung anaphorischer milte- und kerge-Strophen findet sich außer beim Kanzler auch bei Boppe und dem wohl späteren Johann von Ringgenberg.⁹¹⁵

2.5.16.1 Strophe 18 – milte (1Kanz/5/18) C Kanz  Du̍ milte dem adel wol an stat, du̍ milte wol bi gu̍ lte zimt, du̍ milte man, megde unde wib wol zieret unde tu̍ ret;  du̍ milte loͤ schet missetat, du̍ milte schanden vil benimt, du̍ milte werdes herren lib mit hohem prise stu̍ ret. du̍ milte reines herzen grunt  mit maniger tugent durflanzet unde durzwîet, du̍ milte vant der gaben vunt,

 Eine ähnliche Zusammenstellung anaphorischer Begriffsexplikationsstrophen findet sich in der Überlieferung des Œuvres Friedrichs von Sonnenburg in der Jenaer Liederhandschrift (J 18–23; 1FriSo/ 1/19–24), wobei die Strophen hier kaum inhaltlich aufeinander bezogen erscheinen.  Schon Krieger (Kanzler), S. 43 f., betrachtet die Strophen als zusammengehörig, auch wenn sie keine gedankliche Einheit bildeten; KLD, Bd. 2 (Kommentar), S. 262, verweist allerdings darauf, dass „die dürftige Responsion“ zwischen der ersten und der dritten Strophe wohl „kaum beabsichtigt“ sein dürfte.  Belegstellen und Literaturhinweise bietet Kern (Rumelant, Kommentar), S. 264.  Vgl. dazu Huber (Wort sint der dinge zeichen), bes. S. 63–66.  Vgl. dazu Hübner (Lobblumen), S. 280–288.  Vgl. dazu Roethe (Reinmar von Zweter), S. 309–313; Zach (Kanzler), S. 188 f.; Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 66.  Friedrich von Sonnenburg bespielt das Muster der anaphorischen Begriffslob- beziehungsweise Begriffsexplikationsstrophe vielfach (vgl. oben, Anm. 908), von Konrad dagegen ist nur diese eine derartige Strophe überliefert.  1Bop/1/3 f.; 1FriSo/1/34; 1JohR/14 f.; 1KonrW/1/1; auch Zach (Kanzler), S. 192 f., verweist auf diese Parallelen.

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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du̍ milte werdes lob mit riche vriet, bis milte, mensche, sit dir hat die gotes milte also undertan gemachet  swaz flu̍ get, flu̍ zet, swebt unde gat. dst du des niht, din ere wirt geswachet!

Die erste Strophe der Strophenfolge widmet sich dem Begriff der milte und expliziert selbigen, ohne ausdrücklich ins Begriffslob überzugehen. Im Duktus eines reihenden Strophentyps⁹¹⁶ ordnet sie die milte einerseits bestimmten sozialen Gruppen beziehungsweise Zuständen zu und beschreibt andererseits ihre veredelnde Wirkung auf den Menschen. Indem die Strophe diese Aufzählung mit der Behauptung beginnen lässt, die milte stehe dem Adel gut an (V. 1), adressiert sie diesen implizit und exponiert so zugleich die Heische des Sänger-Ichs. Daneben aber, so fährt die Strophe fort, passe die milte auch gut bi gu̍ lte – also zu reichen Einnahmen,⁹¹⁷ womit diese Tugend nicht allein einem Stand zugedacht, sondern auch als vom Vermögen abhängig ausgewiesen wird. Der Schluss des ersten Stollens erklärt die milte schließlich als unabhängig von allen Parametern, wenn er konstatiert, sie schmücke und veredle man, megde unde wip, also jeden Menschen, gleich welchem Stand er angehört oder wie vermögend er ist (V. 3 f.). Der materielle Begriff des tu̍ rens (V. 4), des ‚kostbar-Machens‘, spielt mit einem scheinbaren Widerspruch, den auch die vorangehende Strophe ausagiert, dass nämlich das Weggeben einer Gabe den Menschen bereichere, weil er dafür ‚etwas‘ bekomme. Diese Veredelung ist hier ins Ethische gewendet. Der Kanzler nimmt damit Impulse aus den anaphorischen milte-Strophen Friedrichs und Konrads auf und macht sie für seinen Modus der Unterweisung nutzbar. So ist etwa die implizite Anrede der Adeligen zu Beginn der Strophe bei Friedrich von Sonnenburg vorgeprägt, bei dem die Adressaten aber explizit genannt werden und eine Handlungsanweisung formuliert wird: Die vürsten und die herren möhten gerne milte wesen (1FriSo/1/24, V. 1, zit. nach Masser). Im Gegensatz zum Kanzler hält Friedrichs Strophe die Adeligen explizit dazu an, freigebig zu sein: der milte solten pflegen die wol gebornen – daz waere edellich (1FriSo/1/24, V. 6). Mit dieser Formulierung – daz waere edellich – macht Friedrich die Freigebigkeit zum adelsgemäßen (edellich) Verhalten, erst durch sie beweise der wol geborene seinen Adel. Bei Konrad von Würzburg verkehrt sich das ins Gegenteil, seine laudative Strophe beschreibt die milte objektiv-konstatierend. Dabei nimmt er aber Friedrichs Diktum, dass die milte Adel bezeige, auf und invertiert den Gedanken, wenn er behauptet: milte hoͤ het nidern man (1KonrW/1/1, V. 5, zit. nach LDM). Die milte wird damit zur erhöhenden, veredelnden Tugend auch für den ständisch Niederen, was gerade im Rekurs auf Friedrichs Strophe als Tugendadel-Konzept lesbar wird. Der Kanzler nimmt nun beide Gedanken auf und macht sie zu zwei getrennten Argumenten: Die deutliche Adressierung des Adels bei Friedrich und die damit unüberhörbar verbundene Heische

 Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 63–66.  BMZ, Bd. 1, Sp. 525a, gibt für ebendiese Stelle an: „wer viel einnimmt sei auch freigebig“.

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werden bei ihm subtiler, indem er statt Friedrichs appellativem Sprechgestus den objektiv-konstatierenden Konrads übernimmt und entsprechend keine Handlungsanweisung tätigt, sondern einfach eine Zusammengehörigkeit von Adel und milte behauptet, aus welcher der adelige Rezipient selbst seinen Schluss ziehen muss. Zudem übernimmt der Kanzler das Konradsche Motiv der Veredelung durch die milte, die er noch expliziter als für jeden Menschen wirksam profiliert. Die damit schon thematisierten Wirkungen der milte auf die Menschen führt der zweite Stollen weiter aus, der der milte die Fähigkeit zuspricht, Vergehen zu löschen und Schande zu tilgen (V. 5 f.). Dass der Kanzler die milte damit zur Sühnerin macht, die – geradezu wie ein Ablass – selbst begangenes Fehlverhalten wiedergutmachen kann, wirkt fast provokant. Die Kanzlersche Strophe modifiziert dabei die Konzeption, die bei Friedrich angelegt und bei Konrad weitergeführt ist: Friedrich nämlich profiliert die milte als Schutz vor laster, schanden, sünden und maniger missetat (1FriSo/1/ 24, V. 9 f.). Topisch wird die Tugend der milte damit als fähig inszeniert, zu verhindern, dass der Mensch von der Sünde überhaupt erst angefochten werde. Bei Konrad dagegen heißt es, dass die milte laster unde su̍ nde stille[ ] (1KonrW/1/1, V. 3), also zum Schweigen bringe, was impliziert, dass diese Verfehlungen vorerst vorhanden waren oder gedacht, aber nicht ausgeführt wurden und dass ihre bösen Einflüsterungen durch die Freigebigkeit ihren Einfluss verlören. Nimmt man die Kanzlersche Version noch dazu, spitzt die Reihe sukzessive einen Gedanken zu: Wo bei Friedrich die milte die böse Tat von vornherein grundsätzlich abwehrt, bevor sie irgendeine Wirkung auf den Menschen hat, schreibt Konrad ihr die Fähigkeit zu, auch eine potenziell vorhandene böse Absicht zum Schweigen zu bringen. Der Kanzler überbietet das nun noch, indem er ihr darüber hinaus die Fähigkeit zuschreibt, sogar die begangene Verfehlung wiedergutmachen zu können. Indem er dabei aus Friedrichs Aufzählung der Verfehlungen die schande und die missetat übernimmt, nicht aber wie Konrad die religiös geprägten des lasters und der sünde, vermeidet er zugleich behutsam, seine Kompetenzen zu überschreiten: Explizit eine Kompensation von Verfehlungen gegenüber Gott durch die milte zu behaupten, wäre religiös anmaßend. Zum anderen würde diese geistliche Perspektive den Spannungsbogen der Strophe stören, welche die milte vorerst als rein weltlichen Begriff etabliert. Diese Perspektive unterstreicht das Ende des Aufgesangs, das die milte als verlässliche Lenkerin des Edlen ausweist, die zu hohem Lobpreis führe (V. 7 f.). Der Abgesang differenziert diese Wirkung der milte weiter aus: Den reine[n] herzen grunt vermöchte sie mit Tugenden zu durflanze[n] und zu durzwîe[n] (V. 9 f.), sie verstehe also wie eine bedächtige Gärtnerin auf geeignetem Boden, nämlich makellosem Herzensgrund, Vorzüge anzupflanzen und zu veredeln. Wie schon in 1Kanz/5/14–16 und 1Kanz/5/17⁹¹⁸ hebt die Strophe damit die Relevanz einer vorbildlichen inneren Einstellung hervor, auf der allein die Tugenden wachsen können, und macht die milte zur übergeordneten Tugend, die alle anderen Tugenden verursacht und verbessert.

 Vgl. dazu Kap. 2.5.14 f.

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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Rhetorisch bemerkenswert sind die Metaphern durflanzen und durzwîen (‚durchzweigen‘), die offensichtlich aus der Gartenkunst stammen, aber beide hapax legomena sind.⁹¹⁹ Sie markieren als gesuchte organische Metaphern das Besondere, nämlich das Potenzial der Veredelung, Verflechtung und des Wachstums dieses inneren Prozesses. Zudem spielen sie signalhaft das Bildfeld geblümten Lobes an, funktionieren aber nicht laudativ, sondern begriffsexplikatorisch-deskriptiv und betonen damit den analytischen Charakter der Strophe. Die milte, so fährt das Sänger-Ich fort, vant der gaben vunt und werbe mit Reichtum um werthaftes Lob (V. 11 f.). Die milte wird damit als Instanz stilisiert, die den ‚Kunstgriff‘ des Schenkens erfunden hat, das Sänger-Ich erklärt sie mithin als Ursprung des Almosens. Diese Fähigkeit, den Ursprung einer Sache zu erklären, weist 1 Kanz/5/14 als Grundvoraussetzung dafür aus, eine Sache explikatorisch in ihrer Gänze zu erfassen: wa von si wirt, waz von ir kam,/ wazs an den lu̍ ten tt (1Kanz/5/14, V. 3 f.). Die milte-Strophe verweist mithin noch einmal auf diese Bedingungen für die Begriffsexplikation zurück und sensibilisiert dafür, dass sie in ihrer Beschreibung der milte erfüllt werden, wie der Abgesang zeigen wird. Zudem deutet die auffällige figura etymologica vant – vunt (V. 11) auf die poetologische Dimension dieser Begriffe hin und bewirkt durch diese Selbstthematisierung, dass das nachfolgend beschriebene Verhalten der milte, nämlich dass sie durch Reichtum um würdiges Lob zu werben verstünde (du̍ milte werdes lob mit riche vriet, V. 12), sich auch als Umschreibung des sangspruchdichterischen Prinzips des guot umb êre-Nehmens lesen lässt. Die getätigte Klassifikation des Lobes als werde deutet dabei zudem die Kongruenz eines auch künstlerisch wertvollen Lobpreises und reicher Gabe an.⁹²⁰ Der zweite Teil des Abgesangs, der die Pointe einleitet, macht die du̍ milte-Anapher zur Apostrophe: bis milte (V. 13), womit die Strophe erneut auf Friedrich und Konrad referiert, die in ihren milte-Strophen ebenfalls abschließend die Rezipienten apostrophieren. Friedrich fordert sie auf, wegen Gott milte zu sein, um für ihr Seelenheil zu sorgen (durch got sit milte, so ist iu dort sin himelrich bereit, 1FriSo/1/24,V. 12), Konrad leitet dagegen mit der Apostrophe keinen mahnenden Appell ein, sondern ein abschließendes allgemeines Lob der milte (wissent, daz du̍ miltekeit/ hoher eren spiegel treit:/ milte ist aller tugende ein ubergulde, 1KonrW/1/1, V. 8–10). Der Kanzler bewahrt – wie Konrad – auch in der Apostrophe einen allgemein-objektiven Sprechgestus (bis milte, mensch, 1Kanz/5/18, V. 13), wie Friedrich leitet er aber damit einen Schlussappell ein, nämlich freigebig zu sein. Diesen verknüpft er mit einem neuen Argument und zwar, dass milte eine (Ur‐)Eigenschaft Gottes sei und der Mensch sich dementsprechend wie Gott verhalten und freigebig sein solle (V. 13–16). Ihre Legitimation bezieht diese Argumentationsfigur implizit aus dem (ersten) Schöpfungsbericht (Gen 1,28 f.), der erzählt, dass Gott den Menschen seine Schöpfung gegeben habe (dixitque Deus/

 Vgl. MWb, Bd. 1, Sp. 1424 (durchphlanzen); Sp. 1451 (durchzwîen).  Das insinuiert zugleich erneut, dass wahre milte und gutes Lob – und das heißt vorbildlich (milte) handelnder Herr und guter Sänger – zusammengehören.

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2 Analysen

ecce dedi vobis […], Gen 1,29). Erst mit diesem Schluss öffnet der Kanzler die Strophe auf eine geistliche Dimension hin, wie sie auch den milte-Strophen Friedrichs und Konrads eingeschrieben ist, die beide die Freigebigkeit als Weg zu innerweltlichem Ruhm und jenseitigem Heil inszenieren.⁹²¹ Zu erwarten stünde mithin, dass die Pointe des Kanzlers, wenn sie Gott aufruft und zudem Friedrichs Logik eines do ut des aus dessen Pointe borgt, auch diese Stoßrichtung übernimmt, zumal diese auch die vorhergehende milte-Strophe 1Kanz/5/17 beherrscht. Die Kanzlersche Strophe überrascht insofern umso mehr mit ihrer abschließenden Argumentationsfigur, denn diese deutet die Herrschaft des Menschen über die Welt als Produkt der milte Gottes und leitet daraus eine menschliche Verpflichtung zur Gegengabe ab, die sich in seiner (des Menschen) milte beweise (V. 13–15). Der Kanzler kehrt damit Friedrichs Logik der Austauschrelation um, denn wo es dort dem Menschen freigestellt ist, im eigenen Interesse milte zu sein, um von Gott das Seelenheil zu erwerben, macht der Kanzler es implizit zur Pflicht des Menschen, sich der bereits erfolgten Freigebigkeit Gottes durch seine eigene Freigebigkeit würdig zu erweisen. Der vorerst etwas kraftlose scheinende Schlussvers dst du des niht, din ere wirt geswachet (V. 16), ist also nicht nur eine Drohung, sondern profiliert die Austauschrelation zwischen Gott und Mensch als triuwe-Verhältnis, das den Menschen zur Gegengabe verpflichtet, wenn er sein Ansehen wahren will. Diese Figur steht in signifikantem Widerspruch dazu, dass die milte ihrem Wesen nach eigentlich gerade eine bedingungslose Gabe ist, also eine, die dezidiert keine Gegengabe einfordert – anders wiederum fasst das die Logik der Sangspruchdichter, die qua Beruf für die Gabe ihren Lobpreis als Gegengabe in Aussicht stellen.

2.5.16.2 Strophe 19 – kerge (1Kanz/5/19) C Kanz  Du̍ kerge ist hoher eren gram, du̍ kerge tugenden vil verirt, du̍ kerge ist nides gitekeit, ein uberflu̍ ssig vas;  du̍ kerge winket sunder scham, du̍ kerge symonie birt, du̍ kerge gegen der milte treit

 Die Schlusswendung Konrads – milte ist aller tugende ein ubergulde (1KonrW/1/1,V. 10) – spielt, wie schon Seidl (vgl. LDM, Kommentar) unter Vorbehalt anmerkt, wohl auf den Reichston Walthers an (1WaltV/1/1; L. 8,4). Indem Konrad hier behauptet, dass die milte die gu̍ lte meren könne und außerdem der lu̍ te gunst […] koͮ fet unde gotes hulde (1KonrW/1/1, V. 4; 7, zit. nach LDM), macht er die milte zur Lösung des Waltherschen Dilemmas, wie Besitz, Ansehen und Gottes Gunst in einen ‚Schrein‘ kommen könnten. Die Pointe besteht darin, dass das gu̍ lte hier ein immaterielles ist – eine Pointe, die auch der Kanzler (vielleicht in der Nachfolge Konrads) mehrfach ausspielt (etwa in 1Kanz/2/4, vgl. dazu Kap. 2.2.2.1).

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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den iemer wernden has. du̍ kerge jugent unde alter gris  hoh unde nider entwirdet unde uneret, [...] [...] du̍ kerge ist als unreiner art unde alse gar von gotes gunst gewendet,  swaz kerge in laster lange spart, daz wirt snelle ofte lasterlich verswendet.

Die zweite Strophe der Reihe verhandelt den Gegenbegriff der kerge. Die Strophe ist zwei Verse kürzer als die restlichen des Tones, scheint also defekt überliefert zu sein, ohne dass die Handschrift das markieren würde. Dieses Schreiberversehen lässt sich wohl durch einen Augensprung erklären, den die anaphorischen Versanfänge begünstigt haben könnten.⁹²² Aus dem Reimschema lässt sich erschließen, dass die fehlenden Verse im Abgesang gestanden haben müssen (V. 11 f.). Die Verständlichkeit und Interpretation der Strophe werden durch diese Lücke nicht wesentlich beeinflusst, da die fehlenden Verse – auch nach dem Aufbau der vorangehenden und nachfolgenden anaphorischen Begriffsexplikationsstrophen zu urteilen – nicht Teil der Pointe zu sein scheinen, sondern vermutlich weitere Eigenschaften oder Wirkweisen der kerge geboten haben dürften. Konzeptionell-formal spiegelt die Strophe die vorangehende, auch hier wird – soweit sich das in Anbetracht der defekten Überlieferung bestimmen lässt – die konsequente du̍ kerge-Anapher regelhaft durch den abweichenden Beginn der Stollenschlussverse sowie der drei strophenbeschließenden Verse der Pointe durchbrochen. Die Strophe eröffnet mit der Aussage, dass der Geiz hoher eren gram, also der Feind großen Ansehens sei (V. 1). Indem sie den Geiz derart vom Ansehen aus bestimmt, zeigt sie, dass er als Gegenbegriff zur milte auch genau das Gegenteil von dem verursacht, was diese bewirkt. Die folgenden Verse differenzieren das weiter aus: Der Geiz, so heißt es, bringe den Menschen von der Tugend ab – auch das verkehrt die geschilderte Qualität der milte, die die Tugenden ins Herz pflanzt und veredelt – und sei ein überfließendes Gefäß missgünstiger Habgier (nides gitekeit,/ ein uberflu̍ ssig vas, V. 3 f.). Diese bildhafte Umschreibung – die einzige der Strophe – kontrastiert antithetisch die dem Geiz eigene Verweigerung der Gabe mit dem großzügigen Überfluss an Lastern, den er dadurch produziert. Zugleich ruft das Sänger-Ich hier den Leitbegriff der letzten Strophe, den nît, auf und setzt ihn in Beziehung zur kerge. Der zweite Stollen schreibt dem Geiz zu, dass er wankelmütig sei, ohne sich dessen zu schämen (V. 5), und dass er die Simonie hervorbringe (V. 6).Wie schon in der Beschreibung der negativen Scham (1Kanz/5/16) wird mithin auch hier die Begriffsexplikation eines Lasters überraschend für eine Invektive gegen die Geistlichkeit genutzt, baut diese im Folgenden aber nicht weiter aus. Der Verweis auf den Ämter(ver‐) kauf unter den Geistlichen öffnet das semantische Spektrum der kerge jedoch auf die  Ähnlich Zach (Kanzler), S. 192.

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Habgier hin. Der Stollen schließt im Folgenden sehr allgemein, indem er die kerge personifiziert als ewigen Feind der milte ausweist: du̍ kerge gegen der milte treit/ den iemer wernden has,V. 7 f. (vgl. dazu die Psychomachie-Anspielungen in 1Kanz/5/15,V. 6– 8). Will man diese Strophe intertextuell in der Sangspruchdichtung situieren, fällt als erstes Boppes anaphorische kerge-Strophe ins Auge, die fast identisch formuliert: diu kerge treit der milte haz (1Bop/1/4, V. 9, hier und im Folgenden zit. nach Alex). Eine intertextuelle Bezugnahme in eine von beiden Richtungen scheint hier auch durch die gleiche Konzeption der korrespondierenden anaphorischen milte- und kerge-Strophen indiziert. Im Gegensatz zur Kanzlerschen milte-Strophe ist diejenige Boppes aber nicht nur Begriffsexplikations-, sondern auch Begriffslobstrophe und aufgrund dieser anderen, laudativen Zielrichtung entsprechend bildhaft-geblümt, im Gegensatz zur der des Kanzlers.⁹²³ Dennoch zeigen die Strophen Boppes in Formulierungen und Motivik mehrfach Übereinstimmungen mit denjenigen des Kanzlers: So zählt auch Boppe etwa die – freilich auch sonst geläufige – Trias man, megde und wîp auf (1Bop/1/3, V. 4 f.),⁹²⁴ die milte-Strophe Boppes kennt ebenfalls eine Garten-Metapher (1Bop/1/3, V. 8) und teilt mit der kerge-Strophe des Kanzlers die Formulierung jugent unde alter grîs, wobei die Betreffenden beim Kanzler durch die kerge entwürdigt, bei Boppe durch die milte erhöht werden (1Bop/1/3, V. 2; 1Kanz/5/19, V. 9 f.). Die Strophen Boppes münden jedoch beide in die Affirmation der Bedeutung, die milte beziehungsweise kerge für das Seelenheil haben. Entsprechend profiliert Boppe die milte – wie auch etwa Friedrich von Sonnenburg und Konrad von Würzburg – als Gewinn im Dies- und Jenseits: diu milte ist beide hie und dort/ ein werder hort:/ nû wizzet, daz diu milte himel und erde hât gezieret (1Bop/1/4, V. 16–18).⁹²⁵ Der letzte Vers weist insofern abschließend den Freigebigen als Zierde fürs Dies- (erde) und Jenseits (himel) aus. Zugleich liegt darin aber auch eine Parallele zur Pointe der Kanzlerschen milte-Strophe, in welcher es als Akt göttlicher milte interpretiert wurde, dass Gott seine Schöpfung und Geschöpfe dem  Vgl. dazu Hübner (Lobblumen), S. 284 f.; auffälliger ist aber vielmehr, dass der Kanzler hier dezidiert das Begriffslob meidet, umso mehr als dieses, wie Hübner (Lobblumen), S. 288, bemerkt, sonst in Begriffsstrophen ausgesprochen verbreitet ist, weil es den Sangspruchdichtern die Möglichkeit zur artistischen Entfaltung in der Didaxe bietet. Eine Verschiebung vom Lob zur Explikation finde sich – nach Hübner – erst bei Frauenlob in dessen einziger anaphorischer Begriffsstrophe 1Frau/2/113,7 (GA V,93). Frauenlob stelle hier die verhandelte Tugend (triuwe) nicht mehr über alle anderen und verzichte auf sprachliche Hyperbeln, welche die Kostbarkeit des Gegenstandes ausdrücken sollen (Hübner [Lobblumen], S. 287). Eine ähnliche Tendenz zeichnet aber auch die Strophen des Kanzlers aus, worin sich – gerade vor dem Hintergrund der Gattung – die ihm eigene Fokussierung auf die differenzierend-analytische Durchdringung seiner Gegenstände bestätigt.  Boppe nennt die Begriffe allerdings nicht unmittelbar in Folge; mit Blick auf die relative Dichte von Parallelen zwischen den beiden Strophenreihen ist die Responsion dennoch auffällig.  Die wizzet-Apostrophe alludiert hier wiederum Konrad, mit dessen milte-Strophe sie eben diese Vorstellung teilt, dass die milte für den Menschen im Dies- und Jenseits gut ist.Wie Konrad thematisiert auch Boppe die milte im Verhältnis von Mann und Frau. Auch der ungewöhnliche Reimklang billet : quillet bei Boppe könnte eine Referenz auf Konrads stillet : hillet sein, umso mehr, als bei beiden diese Reime in Vers 3 und 6 stehen.

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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Menschen untertan gemacht hat. Im Rekurs darauf ließe sich Boppes Behauptung, die milte habe Himmel und Erde geschmückt, gleichermaßen auf die göttliche Schöpfung beziehen, die so auch hier als Akt der Freigebigkeit interpretiert würde. Damit liefe Boppes Strophe ebenfalls auf eine Logik der Gegengabe hinaus, die implizit dazu auffordert, sich durch milte dieses Schöpfungsgeschenks würdig zu erweisen,⁹²⁶ zugleich stellt sie den lebensspendenden und ästhetisch veredelnden Wert der milte aus (diu milte himel und erde hât gezieret, V. 18). Die kerge-Strophe Boppes steht derjenigen des Kanzlers stilistisch näher als seine milte-Strophe, weil sie weniger geblümt ist und stärker die Wirkweisen des Lasters in den Blick nimmt, als es vituperativ zu verhandeln. Eine direkte Parallele zwischen den Strophen bildet die Behauptung, dass der Geiz Junge und Alte gleichermaßen ihres Wertes beraube und sie entehre (1Kanz/5/19, V. 9 f.). Dass es bei Boppe heißt diu kerge nidert alter und unwirdet jugent (1Bop/1/4, V. 2), stellt zudem über ‚nider‘ eine Wortresponsion zur Strophe des Kanzlers her: du̍ kerge jugent unde alter gris/ hoh und nider entwirdet unde uneret (1Kanz/5/19, V. 9 f.). Der Kanzler verwendet den Begriff explizit ständisch, hebt hervor, dass die kerge nicht nur unabhängig vom Alter, sondern auch unabhängig von der gesellschaftlichen Position das (äußere) Ansehen und den inneren Wert des Menschen zerstöre (uneret und entwirdet),⁹²⁷ und kehrt damit um, was über die milte gesagt wird, die standesunabhängig zieret unde tu̍ ret (1Kanz/5/18,V. 3 f.). Die ständische Komponente überträgt sich über die Begriffsresponsion auch auf das nidern bei Boppe, womit es dort über diese Referenz neben dem moralischen auch einen ständischen Wertverlust beschreibt. Beim Kanzler schließt an diese Schilderung der umfassend verderblichen Wirkung der kerge aufgrund der überlieferungsbedingten Lücke nun unmittelbar der resümierende Schlussgedanke der Strophe an, nämlich dass der Geiz von so unreiner art und so fortgewandt von Gottes Gunst sei, dass das, was der Geizige sich durch sein Laster über lange Zeit anspare, oft schnell auf lasterhafte Art verschwendet werde (V. 13–16). Wie schon die milte-Strophe deutet auch die kerge-Strophe damit abschließend eine religiöse Dimension des verhandelten Begriffs an (du̍ kerge ist […] alse gar von gotes gunst gewendet, V. 13 f.). Zugleich unterläuft sie aber die vor dem Hintergrund der Gattungstradition hier zu erwartende Pointe, dass der Geiz in die ewige Verdammnis führe, wie es auch bei Boppe erwartungsgemäß heißt (diu kerge hât/ vil mangen dort in werndez ach versenket, 1Bop/1/4, V. 17 f.). Die Strophe des Kanzlers nämlich formuliert abschließend weder eine Warnung über die negativen dies- oder jenseitigen Folgen des Geizes noch spricht sie eine moralische Mahnung aus, sondern stellt vielmehr eine sprichworthafte Weisheit ans Ende: swaz kerge in laster lange spart,/ daz wirt snelle ofte lasterlich verswendet (V. 15 f.). Dem Geizigen wird insofern  Damit wäre die Kanzler-Strophe die vorgängige. Freilich ließe sich aus dem Befund auch andersherum argumentieren, dass der Kanzler aus der mehrdeutigen Schlussformulierung Boppes seine Pointe gewonnen habe.  Erneut betont der Kanzler damit, dass innerer Wert und äußeres Ansehen eine gelungene (innerweltliche) Existenz ausmachen, vgl. 1Kanz/2/4–6, Kap. 2.2.2.

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implizit mit dem gedroht, wovor er am meisten Angst hat, nämlich dass sein geliebter gehorteter Besitz Gefahr laufe, rasch verschwendet zu werden, weil der Geiz eine unlautere Eigenschaft ist und deswegen nicht Gottes Gunst und Segen genieße (V. 13 f.). Diese ersten beiden anaphorischen Strophen sind insofern nicht nur über ihre generelle Konzeption als anaphorische Begriffsexplikation und die grundsätzliche Antonymie von milte und kerge aufeinander bezogen, sondern spielen ihre intratextuelle Referenz auch im Detail vertiefend aus, indem sie parallel zueinander gegensätzliche Wirkweisen der Antonyme ausstellen. Zudem verläuft ihr Spannungsbogen ähnlich, da beide Strophen sich erst in der Pointe auf eine geistliche Dimension der Begriffe hin öffnen, dabei aber geradezu im Spiel mit der Gattungstradition die zu erwartende Heilssorge-Thematik ausklammern und auf einer innerweltlichen Perspektive insistieren.

2.5.16.3 Strophe 20 – nît (1Kanz/5/20) C Kanz  Nît su̍ nde stiftet ane zal, nît wu̍ rset wirs danne gift bekort, nît loͤ schet vride unde weket zorn, nît wendet manig gt.  nît schf des ersten engels val, sich hb dur nit der erste mort, dur nit wirt meines vil gesworn, nit vuͤ get ubermt. bi nide lat sich valscher rat  mit gitekeit unde mit untru̍ we vinden; roͮ b unde brant unde manige untat mit hasse wellent zuo nide sich gesinden. nit lies sich eine vinden nie, nît stet geschart mit maniger hoͮ betsu̍ nde;  nit pinet dort unde krenket hie, nit fuͤ rt die nider in der helle gru̍ nde.

Die dritte anaphorische Begriffsexplikationsstrophe des Kanzlers steht thematisch in einem weniger klaren Bezug zu den vorhergehenden Strophen als diese zueinander, denn sie befasst sich mit dem Laster des nîdes. ⁹²⁸ Gerade dadurch, dass die drei Strophen aber konzeptionell so deutlich parallel aufgebaut sind, und auch dadurch, dass die ersten beiden Strophen als etablierte Antonyme inhaltlich klar aufeinander  Eine weitere Begriffsexplikationsstrophe zu diesem Thema gibt es in der Sangspruchdichtung nicht, eine lateinische Parallele bieten jedoch die Carmina Burana mit Lied 13, das allerdings eher wie eine durch die Anapher zusammengebundene Aneinanderreihung geradezu aphorismenhafter kleiner Lehrsprüche wirkt.

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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verweisen, profiliert die Zusammenstellung der Strophen intratextuell auch den nît als Gegenbegriff zur milte. Die drei Begriffsexplikationen werden damit nicht nur innerhalb der jeweiligen Strophen für jeden Begriff einzeln und aus diesem heraus geleistet, sondern – ganz der Kanzlerschen Poetik der Gegensätzlichkeit entsprechend⁹²⁹ – gerade durch die Kontrastierung mit Gegenbegriffen umfassend erhellt. Die Begriffsexplikationsstrophe des nîdes beschreibt dieses Laster eröffnend als Verursacher unzähliger Sünden (V. 1), womit sie im Gegensatz zu den vorhergehenden Strophen sogleich eine religiöse Dimension stark macht. In drei weiteren allgemeinen Feststellungen über das Wesen des nît heißt es dann, dass er übler als Gift sei, dass er Frieden ‚lösche‘ und Zorn wecke⁹³⁰ und dass er viel Gutes verkehre (V. 2–4). Mit dem auffälligen metaphorischen Begriff des löschens verweist die Strophe zugleich zurück auf die milte, von der es umgekehrt hieß, sie vermöchte die böse Tat zu löschen (1Kanz/ 5/18, V. 5), und setzt die Tugend der milte und das Laster des nîdes über diese intratextuelle Referenz in ein oppositionelles Verhältnis zueinander. Anders als in den vorhergehenden Begriffsexplikationsstrophen bietet der zweite Stollen dieser Strophe Exempel für die negativen Folgen der Missgunst, setzt also eine ‚neue‘ Explikationsstrategie ein, die von derjenigen der anderen beiden Strophen abweicht. Beide Exempel referieren in sehr verknappter Form auf die Bibel: Zum einen wird der nît als Verursacher des Engelssturzes ausgewiesen (V. 5),⁹³¹ zum anderen für den erste[n] mort (V. 6), also den Brudermord Kains an Abel, verantwortlich gemacht.⁹³² Der Sturz Luzifers fungiert in der mittelhochdeutschen Literatur meist als Exempel der superbia, bei Wolfram von Eschenbach etwa wird er aber auch zum Ausweis des nît (jâ hêr, wâ nâmen si den nît,/ dâ von ir endeloser strît/ zer helle enpfâhet sûren lôn?/ […]/ diu liehte himelische schar/ wart durch nît nâch helle var./ dô Lucifer fuor die hellevart/ mit schar […], Parzival, V. 463, 7–16, zit. nach Nellmann). Auffälligerweise schließt auch Wolfram daran unmittelbar die Erzählung vom Brudermord Kains an, der ebenfalls auf den nît zurückgeführt und als Aitiologie dieses Lasters unter den Menschen inszeniert wird (Kâins vater was Adâm:/ er sluoc Abeln umb krankez guot./ […]/ dô huop sich êrst der menschen nît, V. 464, 14–21). Bemerkenswert sind aber auch die anaphorischen laudativen beziehungsweise vituperativen Begriffsexplikationsstrophen Johanns von Ringgenberg zu milte und kerge, die sich als Referenz auf die intertextuelle Strophenreihe des Kanzlers und

 Vgl. 1Kanz/3/1–4, Kap. 2.3; 1Kanz/5/4, Kap. 2.5.4; 1Kanz/5/14–16, Kap. 2.5.14.  Vgl. 1ReiZw/1/151.  Vgl. Jes 14,12–14; Ez 28,12–18; auch Lk 10,18; das Motiv ist in der mittelhochdeutschen Dichtung weit verbreitet; vgl. grundsätzlich Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Teil I, Bd. 2: II. Die materielle Schöpfung: Kosmos und Welt, III. Die Welt als Heilsgeschehen. Berlin 2012, hier S. 176–185; Bd. 3: IV. Die Geschöpfe: Engel, Teufel, Menschen. Göttingen 2016, hier S. 200–212.  Vgl. Gen 4,1–16.

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Boppes verstehen lassen.⁹³³ In diesen Strophen lassen sich vielfach Anklänge an die vorgängigen anaphorischen milte- und kerge-Strophen beobachten (bei der Darstellung der milte auch auf Friedrich von Sonnenburg und Konrad von Würzburg). Besonders auffällig ist jedoch, dass Johann das Motiv des Brudermords aus der nîtStrophe des Kanzlers übernimmt und zur Pointe seiner kerge-Strophe macht: dú kerge schf den ersten mort, der manigen braht hat in der helle búnde (1JohR/15, V. 13).⁹³⁴ Fast wörtlich zitiert er damit den Kanzler und stellt den Brudermord an Abel zugleich wie Wolfram aitiologisch als Entstehung des Verbrechens auf Erden aus, wie besonders mit Kenntnis der Parzival-Stelle deutlich wird.⁹³⁵ Beim Kanzler dagegen dienen die Exempel weniger einer Aitiologie des nîdes, sondern sie weisen die Missgunst vielmehr als Verursacherin vieler Sünden (V. 1) aus, ja geradezu als deren ‚Erfinderin‘,⁹³⁶ wie die hervorgehobene Erstmaligkeit in den Exempeln betont: nît schf des ersten engels val,/ sich hb dur nit der erste mort, V. 5 f.).⁹³⁷ Darüber hinaus, so fährt die Strophe fort, stifte der nît zum Meineid an und führe zu Hochmut (V. 7 f.), was wiederum auf den traditionell mit superbia verbundenen Sturz Luzifers zurückverweist. Der Abgesang beschreibt den nît dann nicht mehr nur als Verursacher, sondern auch als personifizierten Gefährten sündigen und schändlichen Verhaltens: Er stellt den nît zum falschen Rat, der durch Habgier oder Treulosigkeit gegeben werde (V. 9 f.). Zudem gesellten sich Raub, Brandschatzung und zahlreiche andere Verbrechen mit Feindseligkeit zu ihm (V. 11 f.). Nie sei der nît allein zu finden, sondern stets im Verbund mit vielen schweren Sünden (V. 13 f.). Erneut profiliert ihn das als Gegenbegriff zur milte, welche die Tugenden ins reine Herz pflanzt (1Kanz/5/18, V. 9 f.), wohingegen der nît mit vielfältigen Verbrechen und Sünden vergesellschaftet ist, die er nach sich zieht. Im Rekurs auf die gärtnernde milte erscheint der nît damit als Ursache und Nährboden der Laster, als die ‚falsche‘ Einstellung des Herzens, aus der böse Taten geboren werden. Hier lohnt erneut ein Blick auf die Strophenreihe Johanns von Ringgenberg, bei dem keine nît-Strophe wie beim Kanzler, sondern eine über den gt mt, also die ‚richtige‘ innere Einstellung, die dritte anaphorische Begriffsexplikationsstrophe bildet (auch konzeptionell referiert er mit dieser dreistrophigen Reihe von anaphorischen Begriffsexplikationsstrophen auf den Kanzler). Wenn es bei Johann nun heißt, dass gt mt untrúwe und arge sinne und valsche rete von manigem

 Zu datieren ist das Werk Johanns von Ringgenberg – der als adeliger Verfasser von Sangspruchstrophen in der Gattung eine Sonderstellung einnimmt – wohl um 1300 beziehungsweise in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts, vgl. Klaus Grubmüller: [Art.] Johann von Ringgenberg. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 721 f.  Hier und im Folgenden zit. nach: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Thomas Cramer. 4 Bde., hier Bd. 2: Heseloher – Peter von Sachsen. München 1979.  Dass sich darin tatsächlich eine Referenz auf Wolfram verbirgt, wird umso wahrscheinlicher, als die Schöpfungspreisstrophe Johanns intertextuell auf den Prolog des Willehalm referiert, vgl. Grubmüller ([Art.] Johann von Ringgenberg), Sp. 722.  Parallel dazu ist die milte die Erfinderin des Almosens, vgl. 1Kanz/5/18, V. 11.  Vgl. Zach (Kanzler), S. 195. Die Erstmaligkeit der Sünde im Engelssturz ist zugleich auch die Sünde des ‚ersten‘, d. h. obersten Engels.

2.5.16 Ton XVI, Strophe 18–20 – anaphorische Begriffsexplikationen (1Kanz/5/18–20)

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herzen wende[ ] (1JohR/16, V. 13), so bewirkt der gt mt gerade das Gegenteil dessen, was beim Kanzler der nît verursacht. Wo der Kanzler mithin seine Reihe durch die nîtStrophe pessimistisch mit einer impliziten Warnung vor dem Laster beschließt, überführt Johann sie gegenläufig dazu durch die optimistische gt mt-Strophe in einen Appell zur Tugend. Die negative Teleologie der Kanzler-Strophe und -Strophenreihe wird besonders am Schluss seiner letzten Strophe deutlich, die genau mit der Pointe schließt, die gemäß der Gattungstradition die vorherigen Strophen zu milte und kerge hätten vermuten lassen, nämlich mit dem Verweis auf die negative Wirkung des nît im Diesseits und Jenseits: Hier entehre er, dort bringe er Peinigung und führe – so schließt die Strophe sentenzhaft – den nîder direkt in die Hölle hinab (V. 15 f.). Dass die letzte Strophe dergestalt die Pointe bringt, auf welche die vorhergehenden Strophen mittels ihrer Referenz auf die Gattungstradition verweisen, verfestigt sowohl den intratextuellen Zusammenhang der Strophenreihe als auch den Rekurs auf die Gattungstradition. Zugleich zeigt sich darin, dass der Kanzler genau die Strophe, die er offenbar eigenständig nach dem rekurrenten Muster bildet,⁹³⁸ stärker an die vorgängige Tradition anbindet.

2.5.16.4 Strophe 18 – 20: Intratextueller Bezug Die vorliegende Strophenreihe zeichnet auf den ersten Blick das aus, was Huber grundsätzlich für Begriffsexplikationsstrophen in der Sangspruchdichtung beobachtet hat, nämlich dass sie eine unsystematische Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen bieten, die besonders am Strophenschluss Pointierungen aufweisen.⁹³⁹ Beim Kanzler lässt sich jedoch darüber hinaus eine gewisse Systematisierung erkennen, die ähnliche Aussagen oder Eigenschaften innerhalb der Strophen zusammenstellt. Zudem eröffnen alle drei Strophen dezidiert mit einer Aussage zur jeweiligen Tugend beziehungsweise dem jeweiligen Laster, die sich als Motto der folgenden Explikationen oder implizite Adressierung verstehen lassen. Die stärkste Verbindung der Aussagen bildet aber auch hier die formale Bindung über die Anapher, die zudem zeigt, dass „Ausgangs- und Integrationspunkt […] der name [ist], der thematische Begriff, zu dessen Illustrierung alle möglichen Einzelaussagen beigeschafft werden“.⁹⁴⁰ Auch beim Kanzler bleiben diese Strophen jedoch insgesamt relativ allgemein, einerseits weil die verhandelten Tugenden und Laster relational über ihr Verhältnis zu anderen abstrakten Tugenden/Lastern bestimmt und damit im „ethischen Koordinatensystem“ verortet werden,⁹⁴¹ andererseits weil sie ebenso allgemein und abstrakt die Wirkung dieser Tugenden und Laster auf den Menschen ausstellen und die Be   

Vgl. S. 306, Anm. 928. Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 63. Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 63. Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 65 f.

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schreibungen nicht selten von allgemeinen Wertaussagen „überwuchert“ werden.⁹⁴² Umso mehr fällt vor diesem Hintergrund die einzige Konkretisierung auf, nämlich die Behauptung, dass die kerge die Simonie hervorbringe (1Kanz/5/19, V. 6), was die Invektive trotz ihrer Kürze scharf hervortreten lässt. Bemerkenswert ist in Anbetracht des üblichen Schemas auch, dass der Kanzler auf die in diesem Kontext topische moraltheologische Ausrichtung in seinen ersten beiden Strophen dezidiert anspielt,⁹⁴³ sie aber nicht ausführt – sie sind also gewissermaßen ‚abgewiesene Alternativen‘ –, sondern stattdessen eigene und gerade vor dem Hintergrund dieser Gattungstradition überraschende Pointen bildet. Das wirkt letztlich wie eine Figur des Aufschubs, die auf die letzte Strophe hinarbeitet, in der sich das Erwartbare dann doch erfüllt. Zugleich zeichnet die Strophenreihe damit den nît – auch in der performativen Abfolge – gegenüber milte und kerge als Kapitalsünde aus, sozusagen als ‚der Sünde ubergulde‘.⁹⁴⁴

2.5.17 Ton XVI: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander Der Hofton I ist der mit Abstand längste Ton des Kanzlers. Mit 20 Strophen ist er fast doppelt so umfangreich wie sein zweitlängster, der Goldene Ton. Die Strophen des Tones sind thematisch entsprechend vielfältig, wobei im Verhältnis zum ebenfalls breit gefächerten Goldenen Ton auffällt, dass das vermittelte Wissen in den meisten Strophen nicht gleichermaßen avanciert ist wie in jenem Prunkton. Der Hofton I scheint weniger gattungsexterne gelehrte Wissensinhalte ausstellen zu wollen, als vielmehr vorwiegend auf moralische Unterweisung abzuzielen. Wo doch wenig geläufige gelehrte Wissensinhalte aufgerufen werden (z. B. leozephena), scheinen sie diesem Ziel untergeordnet. Zudem lässt sich entsprechend beobachten, dass sich die Strophen dieses Tones intertextuell stärker in der eigenen Gattungstradition verorten. Auffällig ist auch, dass viele Strophen sich durch eine betont analytische Verhandlung ihrer Gegenstände auszeichnen, die sie präzise zu bestimmen suchen. Besonders deutlich wird das an den Begriffsexplikationsstrophen, die als Eigenart dieses Tones gelten können.⁹⁴⁵ Die Anordnung der Strophen in C führt – wie auch bei den vorhergehenden Tönen – dazu, dass gewisse Gruppierungen thematisch oder motivlich verwandter Strophen erkennbar werden, die teilweise für intratextuelle Beziehungen zwischen den betreffenden Strophen sensibilisieren. Im Vergleich zu den anderen, kürzeren und thematisch weniger disparaten Sangspruchtönen des Kanzlers sind Gruppierungen hier aber oftmals schwächer ausgeprägt, bilden kleinere Einheiten und binden zudem  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 66.  Vgl. Huber (Wort sint der dinge zeichen), S. 66 [Anm. 64].  milte ist aller tugende ein ubergulde, 1KonrW/1/1, V. 10.  Vgl. dazu Haustein (Gattungsinterferenzen), bes. S. 173 f.; Huber (Wort sint der dinge zeichen), bes. S. 53–57; Petzsch (Lied III des Kanzlers), bes. S. 405 f.

2.5.17 Ton XVI: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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nicht alle Strophen erkennbar ein. Auch lassen sie nicht immer einen intratextuellen Mehrwert erkennen. Ich möchte die Zusammenhänge nach der Strophenreihenfolge in C kurz skizzieren. Schon eine gewissermaßen prologhafte Eröffnung, wie sie in den ersten beiden Tönen zu beobachten war, ist im Hofton I nicht im gleichen Maß feststellbar. Jedoch eignet der einleitenden Strophe (Lob des Tugendadels, 1Kanz/5/1) durch ihre poetologische Dimension etwas autoreflexives, ihr ostentativ geblümtes Lob offenbart eine gewisse Selbstthematisierung und verweist auf das panegyrische Potenzial der Sangspruchdichtung. Sie insinuiert einen Konnex von kunstvollem Lobpreis und vorbildlichem Adeligen und diskutiert damit toneröffnend das grundlegende Verhältnis von Sänger und (idealem) Rezipienten, worin sich auch eine implizite Heische manifestiert. Die zweite Strophe, die aus der Natur des Phönix den Wunsch ableitet, wie er möchten sich die guten Herren verjüngen und die schlechten keine Nachkommen haben, ist nur lose mit der ersten Strophe verbunden, nämlich in weiterem Sinne unter einem übergreifenden Aspekt der Herrenlehre. Die Umschreibung der herrscherlichen Almosen als sich immer erneuernde ‚fruht‘ in der ersten Strophe (1Kanz/5/1,V. 10) stellt eine gewisse Wort- beziehungsweise Motiv-Responsion zum sich erneuernden, aber keine ‚fruht‘ hervorbringenden Phönix der zweiten Strophe her. Dass das Sänger-Ich den schlechten Herren diese Unfruchtbarkeit wünscht, ließe sich im Nebeneinander der Strophen jedoch höchstens assoziativ darauf übertragen, dass von den Schlechten auch keine ‚Almosen-Frucht‘ zu erwarten ist und sie daher selbst mit unfrüchtecheit bestraft sein möchten.⁹⁴⁶ Konzeptionell in sehr enger Verbindung zur zweiten Strophe steht dagegen die dritte Strophe, die ebenfalls mit der naturkundlichen Beschreibung eines Tieres einsetzt, nämlich des für den Löwen verderblichen leozephena, und damit gleichermaßen auf gelehrtes Wissen (jedoch jenseits der Physiologus-Tradition) referiert. Die Stropheneingänge weisen zudem sehr ähnliche Formulierungen auf. Genauso wie das Wesen des Phönix wird hier dasjenige des leozephena für die Herrenlehre funktionalisiert: Das Sänger-Ich wünscht, die Asche des Tieres hätte auf geizige Herren dieselbe tödliche Wirkung wie auf den Löwen, damit er sie dorthin streuen könnte, wo die Geizigen sich aufhielten. Wo die vorherige Strophe gute und schlechte Herren gegeneinander ausspielt, wendet sich die dritte nun ausschließlich den schlechten zu. Dass sie diese Schlechtigkeit auf den Aspekt des Geizes verengt, wird über die intratextuelle Verbindung der Strophen auch zum Subtext der vorangehenden PhönixStrophe. Beide Strophen spielen im Übrigen auf die gleiche Art und Weise mit Modi

 Verschieden sind auch die komplementären Referenzstrategien dieser beiden Strophen: Während die erste Strophe des Hoftons I auf vorgängige Sangspruchstrophen referiert und so die Kanzlersche Kenntnis der literarischen Gattungstradition ausstellt, betont die explizite Berufung auf die schrift (V. 7) in der zweiten Strophe eine Kenntnis gelehrten Buchwissens. Darin spiegelt sich die doppelte Fundierung, die der Kanzler als komplementäre Grundlage seines dichterischen Schaffens in der Prologstrophe 1Kanz/1/1 und den poetologischen Reflexionen in 1Kanz/2/11 aufruft.

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der Auslegung, da sie den naturkundlichen Sachverhalt nicht tatsächlich ausdeuten, sondern vielmehr als Vergleichsgegenstand nutzbar machen, wobei sie dennoch an der Geltung der im Hintergrund stehenden gelehrten Tradition partizipieren. Die vierte Strophe verschiebt den Fokus von Herrenlehre zu allgemeiner Verhaltenslehre und weist damit eine schwächere Beziehung zu den vorhergehenden Strophen auf. Ein Grund für eine Kombination mit diesen Tierexempel-Strophen ließe sich vielleicht darin sehen, dass sie die einzige andere Strophe des Tones ist, die naturkundliche Phänomene im weiteren Sinne beschreibt (die Unveränderlichkeit des Goldes im Feuer und der Palme im Winter) und diese – ebenso wie Strophe zwei und drei – als Vergleichsgegenstand für eine moralische Unterweisung funktionalisiert. Komplementär zur vorhergehenden leozephena-Strophe wendet sich die vierte Strophe nicht den Schlechten zu, sondern den vorbildlichen Männern und makellosen Frauen und ergänzt so in gewisser Hinsicht die dritte Strophe. Wie schon die beiden vorhergehenden Strophen (Phönix, leozephena) vermittelt auch diese Strophe ihre Unterweisung uneigentlich: Alle drei Strophen fordern nicht appellativ zu vorbildlichem Verhalten auf,⁹⁴⁷ vielmehr zeigt der Kanzler in Strophe zwei und drei, wenn er den Bösen wünscht, dass sie sich nicht vermehren (Phönix-Strophe) oder – noch besser – alle sterben sollten (leozephena-Strophe), dass Schlechtigkeit und Geiz eine Existenz so entehren, dass die Desintegration der Betroffenen aus der Gesellschaft zu wünschen wäre. Dem setzt die vierte Strophe den Wert der Vorbildlichkeit entgegen. Die fünfte Strophe reflektiert analytisch und abstrakt darüber, welcher Lebensabschnitt (Anfang, Mitte, Ende) wie gelebt werden müsse, um im Dies- und Jenseits zu bestehen, und steht insofern nicht in thematischer oder intratextueller Beziehung zu den naturkundlich-bildhaften Exempeln der Vorgängerstrophen. Vielmehr etabliert sie eine neue Strategie analytischer Reflexion, nämlich ein abstraktes Abwägen verschiedener Möglichkeiten und Fälle gegeneinander, um eine Sache als Ganzes zu erfassen. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Strophen eignet ihr deutlicher ein Modus anleitender Unterweisung, auch wenn sie ihre Abwägungen unpersönlichobjektiv formuliert. Der vorausgehenden Strophe vier (Gold und Palme) steht die fünfte Strophe höchstens insofern nahe, als sie ebenfalls eine allgemeine Verhaltenslehre gibt, die sie gleichermaßen sentenzhaft einleitet (‚swelch‘ [1Kanz/5/5, V. 1], ‚swa‘ [1Kanz/5/4, V. 1]). In der Sangspruchdichtung stellt das allerdings keine Besonderheit dar. Auch für die sechste Strophe lassen sich kaum Verbindungslinien zu den Vorgängerstrophen ziehen. Hier wendet sich das Sänger-Ich seinem Verhältnis zu den Herren zu und erörtert dieses in einer umfassenden analytischen Reflexion. Die Frage der Herren an den Kanzler, warum er trotz seiner vorgeblichen Kunstfertigkeit materiell so bedürftig sei, verhandelt die Strophe gewissermaßen als causa, bestimmt

 In dieser Hinsicht ergibt sich eine intratextuelle Querverbindung zur Herrenlehre der ersten Strophe des Tons (1Kanz/5/1), die sehr differenziert aufzählt, welches Handeln eine adelige Existenz ausmacht.

2.5.17 Ton XVI: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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systematisch verschiedene Einflussfaktoren und spielt – eine ähnliche argumentative Strategie wie in Strophe fünf – potenzielle Beispielfälle durch. In der dabei geäußerten Kritik am Geiz der Herren ließe sich eine thematische Verbindung zur dritten Strophe (leozephena) sehen. Eine intratextuelle Responsion bilden hier auch die erratischen bildhaften (Tier‐)Schlussvergleiche dieser beiden Strophen (die geizigen Herren als Hasen hinsichtlich des Ansehens und Löwen in Bezug auf die Schande, 1Kanz/5/3, V. 14–16; der Besitz der Herren, der den Sänger flieht, wie die wilde Krähe den Schützen, 1Kanz/5/6, V. 16). Die verhaltene Kritik, welche die sechste Strophe am Geiz der Herren formuliert, bezöge aus einer solchen Referenz auf die dritte Strophe, in welcher das Sänger-Ich sich selbst zum Vollstrecker einer Ausrottung der Geizigen zu machen wünscht, eine implizite Zuspitzung. In redaktioneller Hinsicht besonders interessant ist die Zusammenstellung der sechsten Strophe mit der siebten: In der sechsten Strophe macht das Ich letztlich eine komplizierte Verquickung von gelu̍ cke und mangelnder milte für seine Bedürftigkeit verantwortlich, während die siebte das Stichwort des gelu̍ ckes aufnimmt und umfassend dessen Wesen verhandelt. Dabei greift sie das Argument der sechsten Strophe auf, dass dem Menschen alle kunst, die er gelernt habe, nichts nütze, wenn ihm das gelu̍ cke fehle, und macht das zum Ausweis der Übermacht dieser kontingenten Gewalt. Mit der umfassenden Beschreibung des gelu̍ ckes als Inbegriff der Kontingenz steht die siebte Strophe zudem in intratextueller Beziehung zu den restlichen Begriffsexplikationsstrophen des Tones. Diese Referenz macht deutlich, dass sie ihren Gegenstand dezidiert nach den Prämissen verhandelt, die später in der ersten schameStrophe als notwendig reflektiert werden, um eine Sache vollumfänglich zu erfassen, nämlich wa von si wirt, waz von ir kam,/ wazs an den lu̍ ten tt (1Kanz/5/14, V. 3 f.). Dass der Ursprung des gelu̍ ckes hier als für den sin des Menschen unergründlich ausgestellt wird (mit sinnen unbegrifeklich/ ist der ursprung, us dem du kumst geslichen, 1Kanz/5/7, V. 11 f.), exponiert gerade vor diesem Hintergrund die Unbegreiflichkeit jener absolut kontingenten Macht. Die Strophe stellt die völlige Abhängigkeit des Menschen von dieser Gewalt aus und schließt pessimistisch damit, dass sie in ihrer Kontingenz ebenso den Bösen wie den Guten helfe und dass keiner wisse, wie man sie sich gewogen machen könne. Diese pessimistische Grundhaltung verbindet die Strophe im Tenor mit den folgenden beiden Strophen. Die achte Strophe schildert die völlige Verderbnis der Welt, was im Abgesang zu einer Invektive gegen die Geistlichen im Speziellen wird, denen Besitzgier und Verweltlichung vorgeworfen werden. Dies erzeugt einerseits einen intratextuellen Bezug zur tonfremden Strophe 1Kanz/3/1 (verweltlichte Geistlichkeit). Andererseits greift diese Kritik am Klerus tonintern die folgende neunte Strophe mit ihrer Allegorie von der Schifffahrt des Lebens auf. Sie aktualisiert die pessimistische Sicht auf den Zustand der Welt und der Geistlichkeit aus der achten Strophe, indem sie die Aussichtslosigkeit dieser Schiffreise illustriert, bei der die Segel zerschlissen sind und die Seeleute mit den Passagieren unterzugehen drohen. Gerade die Zusammenstellung mit der vorangehenden Klerikerschelte der achten Strophe trägt dazu bei, die nicht im Detail aufgelöste Allegorie der neunten Strophe auszulegen, nämlich in den

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Seeleuten die Geistlichen, in den Passagieren die Laien zu erkennen. Der Weltverfall, den die achte Strophe der Lasterhaftigkeit der Bösen zuschreibt, wird in der neunten Strophe zur Gefahr für alle (wie wir von tage ze tage ze grunde sinken, 1Kanz/5/9, V. 12). Gebethaft – und versöhnlich im Gegensatz zur achten Strophe – schließt die neunte mit der Erkenntnis, dass nur Gottes Gnade dem sündigen Menschen in dieser Welt helfen könne. Sie gibt insofern auch mit Blick auf die achte Strophe eine Handlungsund Hoffnungsanweisung für den Einzelnen in einer solchen verderbten Welt. Während die Strophen eins bis neun im weitesten Sinne nach dem Thema der Herren- beziehungsweise Verhaltenslehre gruppiert sind und sich teilweise intratextuelle Bezüge zwischen ihnen herstellen lassen, setzt die zehnte Strophe thematisch eine Zäsur, indem sie dominant ein poetologisches Thema verhandelt. Ihr einleitendes Lob der menschlichen vernunft mündet in eine Aufzählung der septem artes liberales, die knapp in ihren Kompetenzen umrissen werden. Dass der menschliche Verstand hier gepriesen wird, weil er sich gelehrtes Wissen aneignen könne, wirkt dabei programmatisch, denn indem das Sänger-Ich die Erlernbarkeit der ku̍ nste und den Wert von Gelehrsamkeit betont, verortet es zugleich seine eigene Dichtkunst in diesem Regelwerk und legt deren Quellen offen. Auch die elfte Strophe (Freundschaft gegen Verwandtschaft) steht im Ton thematisch für sich. Mit den nachfolgenden beiden Strophen (Schelte des Adels beziehungsweise der Herren, 1Kanz/5/12 f.) verbindet sie jedoch immerhin ihre vituperative Grundhaltung, die sich bei allen drei Strophen in einer kritischen Schlussanklage zuspitzt. Das Nebeneinander von Strophe elf und zwölf lässt zudem parallele argumentative Linien sehen, wenn den Gemeinten (Verwandten/Adeligen) in beiden Fällen vorgeworfen wird, durch ihr Fehlverhalten gewissermaßen ihre Identität zu verraten. Daneben verbinden diese zwölfte Strophe jedoch Wort- und Formulierungsresponsionen vor allem mit der ersten Strophe des Tons, ihrer Komplementärstrophe, dem Lobpreis des Tugendadels (vgl. dazu Kap. 2.5.12). Zugleich teilt die zwölfte Strophe aber auch Formulierungsanklänge und spezifische Schlüsselbegriffe mit der achten Strophe (Zeitklage mit Kleruskritik) und ergänzt durch diese intratextuelle Responsion auch jene Strophe komplementär, indem sie deren Schelte der Geistlichkeit eine Schelte des weltlichen Adels zur Seite stellt. An den vituperativen Charakter der elften und zwölften Strophe schließt die folgende, dreizehnte Strophe an: Sie funktionalisiert die Fabel vom Fuchs und Raben, um die falsche Freigebigkeit der Herren gegenüber den Schmeichlern zu schelten, und gleitet dabei in drastische Polemik ab. Dass auch die dreizehnte Strophe eine falsche milte problematisiert, verstärkt ihre Beziehung zur zwölften Strophe. Wo in Strophe zwölf beklagt wird, dass die Adeligen für kunst nichts gäben, aber wib, vischer, scherer und murer mit ihren Almosen bedächten (1Kanz/5/12, V. 11–14), kritisiert Strophe dreizehn die Gabe dur valsches lop, dur smeichen liegen triegen (1Kanz/5/13,V. 13 f.). Die polemische Schelte, die daran in Strophe dreizehn anschließt, referiert intratextuell gewissermaßen darauf, dass die vorhergehende Strophe abschließend droht, diejenigen zu strafen, die den Falschen gegenüber freigebig seien: min mt gegen in uf

2.5.17 Ton XVI: Intratextuelle Bezüge der Strophen untereinander

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strafen stat,/ ich wil den argen missetat verwissen (1Kanz/5/12, V. 15 f.). Zugleich beschreibt die dreizehnte Strophe, wenn sie die Entlohnung der Schmeichler verurteilt, implizit ein Problem, das aus Strophen wie der zwölften, die das Fehlverhalten des Adels kritisiert, hervorzugehen droht, dass nämlich die Herren geheucheltes Lob entlohnen, während sie aufrichtige Sänger, die ihren Auftrag als Mahner zur Tugend ernst nehmen und daher auch Kritik äußern, womöglich nicht mit Almosen bedenken, ungeachtet der Tatsache, dass nur deren kunstriches Lob eigentlich eine Auszeichnung wäre. Gerade die intratextuelle Verbindung der Strophen lässt die dieser Gedankenfigur inhärente Heische noch deutlicher hervortreten. Mit der folgenden vierzehnten Strophe eröffnet in der Handschrift C ein Komplex von Strophen, der dadurch lose konzeptionell verbunden scheint, dass hier durchgehend bestimmte Abstrakta analytisch-explizierend umkreist werden. In der ersten dieser Strophen (1Kanz/5/14), mit der die dreistrophige Begriffsexplikation der schame anhebt, reflektiert das Sänger-Ich vorerst darüber, wie Abstrakta in ihrem Wesen durch Sprache erschöpfend erfasst werden könnten. Diese poetologische Reflexion und die Inszenierung des Themas als dichterische Herausforderung, für die man k[u]nst[ ] und sinnes rat (1Kanz/5/14, V. 1) bedürfe, heben gerade vor dem Hintergrund der vorangehenden Strophe, die das falsche Lob der Heuchler und Schmeichler abqualifiziert hatte, den Anspruch des Sänger-Ichs an die Dichtkunst hervor. Die Strophe verweist damit tonintern zugleich zurück auf die Exposition der septem artes liberales (1Kanz/5/ 10) und stellt den Akt des Dichtens als anspruchsvolle Aufgabe aus. Während die eröffnende, vierzehnte Strophe die Scham als potenziell gute, aber auch potenziell schlechte Eigenschaft ausweist, differenzieren die folgenden Strophen diese Wirkweisen komplementär aus (vgl. Kap. 2.5.14). Die fünfzehnte Strophe entwirft die Scham als eine positive Kontrollinstanz, welche die Ausführung böser Taten verhindern und begangene Verfehlungen durch Erröten anzeigen kann. Die dritte Strophe dieser Scham-Strophenreihe, die sechzehnte Strophe des Tones, wendet sich dagegen den negativen Auswirkungen der Scham auf den Menschen zu. Dass sie dabei erneut eine Invektive gegen die Geistlichkeit lanciert, deren Verfehlungen sie als Exempel funktionalisiert, schafft intratextuelle Querverbindungen zur Kleruskritik in der Weltverfall-Strophe (1Kanz/5/8), wodurch die mangelnde Scham auch als Bedrohung der Weltordnung erscheint. Zudem stellt die Invektive der sechzehnten Strophe einen intratextuellen Bezug zur Klerusschelte im dritten Ton her (1Kanz/3/1) und referiert damit zugleich auf die Antithetik jener Strophe (und jenes Tones). Das könnte zum Nachdenken darüber anregen, ob und wie die vorliegende, antithetisch strukturierte Strophenfolge zur Scham die dort etablierte Poetik der Gegensätzlichkeit reflektiert. Interessant innerhalb der Anordnung der Strophen des Hoftons I in C ist besonders die Integration der folgenden, der siebzehnten Strophe, denn sie schließt sowohl an die vorausgehende Scham-Strophenfolge an als auch an die Begriffsexplikationsstrophe zur milte, die auf sie folgt (1Kanz/5/18), und bildet damit sozusagen eine Brücke zwischen den beiden Strophenblöcken. Mit ihren eröffnenden Versen – [r]ich arger man, der scham sich,/ des mt enheiner tugende gert (1Kanz/5/17,V. 1 f.) – greift sie nach dem concatenatio-Prinzip den Leitbegriff der vorangehenden Scham-Strophen-

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2 Analysen

reihe auf (scham). Indem sie ebenfalls die innere Einstellung thematisiert, die dort dafür verantwortlich gemacht wird, ob die Scham einen positiven oder einen negativen Effekt auf das Handeln des Menschen hat, erscheint ihre Aufforderung des Bösen sich zu schämen keine Aussicht auf Erfolg zu haben. Denn gemeint ist hier in der siebzehnten Strophe offenbar der zuvor profilierte Typus der ‚nützlichen‘ Scham (1Kanz/5/14, V. 11 f.), also die Scham, welche die böse Tat – den Mangel an Tugendstreben und den Geiz – zwar nicht zu verhindern vermag, aber zumindest durch Zeichen der Beschämung anzeigt. Konzeptionell übernimmt die siebzehnte Strophe – wie schon die siebte Strophe (gelu̍ cke, s. o.) – die Prämissen zur Begriffsexplikation aus der ersten schame-Strophe (1Kanz/5/14), beschreibt nämlich die milte danach wa von si wirt, waz von ir kam,/ wazs an den lu̍ ten tt (1Kanz/5/14,V. 3 f.). Dabei weist sie die Tugend der milte als Weg aus, Gott zu gefallen und Ansehen in der Welt zu erringen. Thematisch passend, aber gleichermaßen gedoppelt folgt auf diese Strophe eine anaphorische Begriffsexplikationsstrophe zur milte, die konzeptionell wiederum eng mit den auf sie folgenden Strophen zu kerge und nît verbunden ist (1Kanz/5/18–20; vgl. Kap. 2.5.16.4). Die Zusammenstellung dieser anaphorischen Strophen mit der vorangehenden, ebenfalls der milte gewidmeten siebzehnten Strophe und den SchamStrophen (1Kanz/5/14–16) schafft aber auch Bezüge jenseits der Koppelung der anaphorischen Begriffsexplikationsstrophen: In der Kombination mit der siebzehnten Strophe, die Geiz und milte einander gegenüberstellt, spiegelt ihre Ergänzung durch die beiden anaphorischen Strophen zu milte und kerge nämlich auch den konzeptionellen Aufbau der Scham-Strophenreihe. Wo dort die erste Strophe der Reihe gute und schlechte Scham thematisiert und dann komplementär in einer Strophe die gute und in einer die schlechte Scham ausgeführt wird, thematisiert bei den Strophen zur Freigebigkeit die siebzehnte Strophe Geiz und milte, woraufhin komplementär die erste nachfolgende, achtzehnte Strophe die milte und die zweite, neunzehnte, antithetisch dazu die kerge ausführt. Dass in den anaphorischen Explikationsstrophen zu milte und kerge überraschend die sangspruchtypische Profilierung der milte als Weg zu weltlichem Ansehen und zur Huld Gottes beziehungsweise diejenige der kerge als Weg in die Hölle unterbleibt, ist mithin in der vorangehenden, siebzehnten Strophe, die das Thema exponiert, bereits aufgehoben. Zugleich bilden die anaphorischen Strophen zur milte (1Kanz/5/18) und kerge 1 ( Kanz/5/19) freilich ebenfalls eine sinnstiftend aufeinander bezogene Strophenreihe mit der anaphorischen Explikation des nît, welche die milte als positiven Begriff den negativen Gegenbegriffen kerge und nît gegenüberstellt und die Begriffe damit alle drei auch aus ihrem Gegenteil voller und umfassender darzulegen vermag. Die Explikationsstrophe zum nît ist die letzte Strophe des Kanzler-Œuvres in C und in der heutigen Gestalt der Handschrift auch die letzte dieses Codex. Indem sie abschließend nicht nur vor der Missgunst warnt, sondern dem Rezipienten auch die ewige Verdammnis vor Augen hält, in die ihn die Sünde führt, schließt sie paränetisch den Rahmen um Ton,Werk und Handschrift. Die didaktische Stoßrichtung erinnert an bildliche Darstellungen des Jüngsten Gerichtes, die häufig an der Westwand von Kirchen platziert sind, um diejenigen, die das Gebäude verlassen, noch einmal, bevor

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sie sich ihrer Einflusssphäre entziehen, an die letzten Dinge zu gemahnen, um ihnen die Relevanz der getätigten Unterweisung und ihre zentralen Aussagen eindrücklich vor Augen zu halten.

3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick Nach dieser umfassenden intertextuellen Analyse der Sangspruchstrophen des Kanzlers möchte ich im Folgenden die Ergebnisse rekapitulieren, sie zu übergreifenden Beobachtungen zusammenfassen und im Kontext der Gattung verorten. Ich rufe dafür noch einmal drei zentrale Fragen in Erinnerung, die einleitend in Bezug auf eine Intertextualität in der Sangspruchdichtung aufgeworfen wurden, nämlich die Frage nach: (1) ihren Prätexten, das heißt welche Einzeltexte, Gattungen und Diskurse intertextuelle Referenzen in der Sangspruchdichtung aufrufen und was sie aus diesen übernehmen; (2) den Möglichkeiten ihrer Identifizierung, das heißt worin sich diese intertextuellen Bezugnahmen manifestieren und wodurch sie markiert sind; (3) ihren Funktionen, das heißt ob sich übergreifend bestimmte Funktionen/Funktionalisierungen dieser Intertextualität feststellen lassen und ob sich daraus übergreifende Aussagen über die Gattung tätigen lassen. (1) Bei der Untersuchung des Kanzlerschen Sangspruchœuvres haben sich diese Fragen als ausgesprochen produktiv erwiesen. Gezeigt hat sich hier, dass seine Sangspruchstrophen durchweg auf eine Vielzahl verschiedener gattungsin- und externer Prätexte zurückgreifen (Einzeltexte, Gattungen und Diskurse). Einzeltextreferenzen beziehen sich im Œuvre des Kanzlers sowohl intratextuell auf eigene Strophen zurück als auch auf spezifische Strophen anderer Sangspruchdichter und gattungsexterne Texte. In der eigenen Gattung spielen Einzeltextreferenzen beim Kanzler besonders häufig auf Strophen Konrads von Würzburg an, aber wiederholt auch auf Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter, den Marner, den Meißner, gelegentlich auf Rumelant von Sachsen und daneben punktuell auf weitere Autoren. Zudem zeichnen sich bisweilen Parallelen zum wohl etwa gleichzeitigen Œuvre Walthers von Breisach und Boppes ab. Die vermutlich späteren anaphorischen Begriffslobstrophen Johanns von Ringgenberg könnten sich wiederum unter anderem einer Referenz auf den Kanzler verdanken.¹ Als Einzeltexte jenseits der Sangspruchdichtung sind greifbar: die Bibel, drei antike Fabeln (diejenige vom „Esel in der Löwenhaut“, vom „Rabe mit fremden Federn“ und von „Fuchs und Rabe“), der Physiologus und die naturkundlich-allegorische Erörterung des leozephena. Zudem scheint der Kanzler an zwei Punkten das überhöhte und in der Literatur resonanzreiche Frauenlob Reinmars aufzugreifen („Ich wirbe umbe alles daz ein man“, MF 159,1). Bei seiner Referenz auf Gattungen sind verschiedene Modi zu differenzieren. Zum einen gibt es das dezidierte Spiel mit spezifisch-generischen Mustern anderer Gattungen. Im Sangspruchœuvre des Kanzlers manifestiert sich das in Rekursen auf den  Vielleicht auch 1Frau/7/102,3; daneben vermutlich weiteres, Ziel der Arbeit ist aber nicht, die Rezeption des Kanzlers zu erforschen. https://doi.org/10.1515/9783110712889-004

3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

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Minnesang, die verschieden deutlich und umfangreich sind (besonders 1Kanz/2/9, Kanz/4/1–3), daneben lässt sich sein dreistrophiger trinitarischer Gottespreis (1Kanz/ 2/1–3) möglicherweise als Referenz auf eine Tradition geistlicher Lieddichtung verstehen. Seine Referenzen auf die eigene Gattungstradition und die Predigt dagegen bewegen sich an der Grenze zur Diskursreferenz, da hier nicht offensiv Gattungsmuster als solche bespielt werden. Die Referenz auf die eigene Gattungstradition stellt vielmehr meist einen inhaltlichen Rekurs auf gattungsintern topisch verhandelte Themen dar. Im Fall der Predigt wiederum kann in der Sangspruchdichtung ganz grundsätzlich eine Appropriation ihrer rhetorischen Strategien, ihrer Unterweisungsabsicht und ihrer Themen beobachtet werden (s. u.). Nicht immer klar zu trennen sind aber auch Einzeltextreferenzen von generischen und solchen auf die eigene Gattungstradition beziehungsweise auf bestimmte Diskurse. Fast immer rufen derartige intertextuelle Anspielungen nämlich nicht nur einen spezifischen Einzeltext auf, sondern auch die Tradition, in der diese Texte stehen. Diese Überlagerung liegt freilich auch darin begründet, dass zwar häufig das Narrativ eines Einzeltextes erkennbar ist (Noahs Fluch, Phönix, Fabeln, leozephena), die tatsächlich zugrundeliegende Version allerdings kaum je identifizierbar ist; es hat sich jedoch auch gezeigt, dass diese referenzielle Unklarheit das intertextuelle Potenzial der Anspielung nicht schwächt. Zugleich aber legt diese Unklarheit nahe, auch die sonstige Rezeption dieser Einzeltexte und das Verhältnis dieser Rezeption zur Referenz auf die jeweiligen Einzeltexte beim Kanzler zu untersuchen. Für die Beschreibung hat es sich als sinnvoll erwiesen, die Ebenen (Einzeltext vs. eigene Gattungstradition vs. Diskursreferenz) analytisch zu trennen, um das Potenzial und die unterschiedliche Funktion dieser Referenzebenen der jeweiligen Anspielungen differenziert zu erfassen, das heißt: sowohl die Modifikationen am Narrativ des Einzeltextes zu reflektieren als auch vergleichend zu untersuchen, wie diese Einzeltexte sonst in der Sangspruchdichtung oder in ihrer jeweiligen Gattung beziehungsweise ihrem jeweiligen angestammten Diskurs rezipiert werden. Daneben sind aber auch reine Diskursreferenzen zu verzeichnen. Die Diskurse, auf die dabei referiert wird, haben sich erwartungsgemäß als solche erwiesen, die mit mehr Geltung ausgestattet und stärker institutionalisiert sind als die Sangspruchdichtung. Zum einen sind das gelehrt-theologische Diskurse, zu nennen wäre hier der Kanzlersche Rekurs auf die memento mori- und contemptus mundi-Literatur, auf die Sieben Gaben des Heiligen Geistes, die Hofkritik, die Ständesatire und die Polemik gegen (verschiedene) Mönchsorden sowie auf bestimmte theologisch fundierte Argumente, die etwa aus dem Predigtkontext bekannt sind. Daneben zeigen sich aber auch Referenzen auf gelehrte Spezialdiskurse, wie den juristischen, den astronomisch-kosmologischen und – etwas weniger avanciert – die septem artes liberales. Sowohl was den juristischen als auch was den astronomisch-kosmologischen Diskurs angeht, konnte nachgewiesen werden, dass entsprechende Diskurselemente auch in den Predigten Bertholds von Regensburg zu finden sind, was erwägen ließe, ob sie dem Kanzler auch auf einem solchen Weg zur Kenntnis gelangt sein könnten. Als alleiniger konkreter Prätext allerdings können die Predigten Bertholds in ihrer über-

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3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

lieferten Gestalt für den astronomisch-kosmologischen Exkurs des Kanzlers wiederum nicht gelten, da er umfangreicher auf avancierte Fachtermini referiert als diese. (2) Die Frage, was diese Referenzen genau aus ihren Prätexten übernehmen, ist eng mit der Frage verknüpft, wie diese sich überhaupt identifizieren lassen. Wie in der Einleitung diskutiert wurde, ist eine explizite Markierung oder gar Thematisierung intertextueller Referenzen in mittelhochdeutschen Texten selten. Das hat sich auch am Sangspruchœuvre des Kanzlers bestätigt. Als explizite Markierung von Intertextualität ließen sich hier zwar seine Autoritätsberufungen verstehen – auf die buoche, die schrift, die meister und die sprüche –, doch benennen diese wiederum keine spezifischen Prätexte, sondern lassen sich nur grundsätzlich als Hinweis auf intertextuelle Bezugnahmen verstehen. Meistens sind die intertextuellen Referenzen beim Kanzler also implizit markiert, wobei verschiedene Arten impliziter Markierung begegnen, die unterschiedlich deutlich sind.² Eindeutig sind etwa Namensnennung (Noah, Jesus, Phönix, leozephena), wobei die Referenz in allen diesen Fällen zugleich durch eine Paraphrase des Prätextes indiziert ist. Daneben können auch die Namen bestimmter Gegenstände und Phänomene aufgerufen werden, die – etwas weniger konkret als die Einzeltextreferenzen – auf die Diskurse verweisen, denen sie entnommen sind (Sieben Gaben des Heiligen Geistes, astronomisch-kosmologische Fachtermini, septem artes liberales). Deutlich markiert, nämlich durch Paraphrase, ist auch die Referenz auf die Fabel von „Fuchs und Rabe“. Die Fabelreferenzen auf den „Esel in der Löwenhaut“ und den „Raben mit fremden Federn“ sind ebenso eindeutig markiert, doch rufen sie die Fabeln nur in sprichworthafter Verkürzung je über ihr zentrales Motiv auf. Eine weitere, relativ klare Form der Markierung manifestiert sich in Codewechseln durch den Rekurs auf bestimmte Gattungskonventionen, etwa des Minnesangs, vager ist diese Markierung bei der Referenz auf die Gattung des (lateinischen) geistlichen Lieds oder der Predigt. In der Einleitung wurde zudem die These aufgestellt, dass es auch eine Markierung von Anspielungen durch einen spezifischen Typus des Zitats geben könne, der sich nicht durch die wortwörtliche Wiedergabe längerer Passagen auszeichne, sondern oft nicht aus mehr bestehe als der spezifischen Kopplung zweier Wörter oder gar aus spezifischen Einzelwörtern. Als Bedingung dafür, dass solche ‚Zitate‘ als intertextuelle Referenzen gelten könnten, wurde formuliert, dass die betreffenden Wörter – sei es inhaltlich, sei es formal, sei es dadurch, dass sie thematisiert werden – entweder eine Schlüsselposition einnehmen müssten (im Idealfall in beiden Texten) oder dass sie sich dadurch auszeichnen müssten, dass sie selten oder speziell seien be-

 Vgl. zu Möglichkeiten impliziter, auch nicht re-linearisierender Markierung die bereits einleitend zitierten Typen nach Perri (Allusion), S. 304 f.: 1. ‚proper naming‘ als „term for a marker of direct quotation or the actual occurence of a proper name“, 2. ‚definite description‘ im Sinne eines „significant word, or it may inhere in the repetition of a well-known rhythmical phrasing“, 3. „allusion marker of paraphrase“ und 4. „topical or historical allusions to persons or events“, wobei dieser letzte Typus unter alle vorgenannten Markierungsformen 1–3 fallen könne; ausführlich dazu Kap. 1.2.2.2.

3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

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ziehungsweise dass sie in einer ungewöhnlichen metaphorischen Funktionalisierung vorlägen (je kühner und unerwartbarer, desto wahrscheinlicher seien sie dann als Hinweis auf eine Referenz verstehbar). Außerdem wurde ein Kriterium der Plausibilität eingeführt, das eine über diese Zitate hinausgehende Verdichtung von Hinweisen auf eine intertextuelle Referenz erfordert. Die intertextuelle Analyse des Kanzlerschen Sangspruchœuvres hat gezeigt, dass ein zentrales Grundkriterium für eine solche Plausibilität bei weniger eindeutigen intertextuellen Verweisen eine klare thematische Übereinstimmung der betreffenden Texte sein kann. Eine weitere Verdichtung von Hinweisen generieren zusätzliche Parallelen auf verbaler oder motivlicher Ebene oder eine Übereinstimmung distinkter rhetorischer Strategien, etwa ein anaphorischer Strophenbeginn, eine Annominatio/ Paronomasie mit bestimmten Begriffen oder die Anwendung spezifischer Topoi. Das ‚Zitat‘ selbst fungiert in diesen Fällen als markierender Indikator der Anspielung. Bisweilen hat sich eine solche Markierung durch Schlüsselwörter nachweisen lassen, ein Beispiel wäre die Übernahme der prägnanten Konradschen jârlanc-Formel im Minnesangspruchlied des Kanzlers (1Kanz/4/1–3). Daneben hat sich auch der Fall einer Markierung durch die Kopplung bestimmter Begriffe bestätigt. Als Beispiel sei hier die Strophe über die Unvereinbarkeit von gt und ere genannt (1Kanz/2/4), wobei im Fall dieses in der Sangspruchdichtung geradezu topisch gemeinsam verhandelten Begriffspaars eine solche Markierung freilich besonders dicht durch weitere Indizien gestützt werden muss, um auch tatsächlich als beabsichtigte Referenz gelten zu können (in diesem Fall durch den übereinstimmenden Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel und Argumente). Zudem indizieren im Sangspruchœuvre des Kanzlers Einzelbegriffe eine Referenzbildung, wenn sie ungewöhnliche Fachbegriffe sind, so etwa die Aufzählung liturgischer Kleidungsstücke in 1Kanz/3/1. Mit ihrer katalogartigen Aufzählung und ihrer antithetischen Gegenüberstellung zu ritterlichen Attributen, die hier partiell derjenigen der Prätexte entspricht (CB 39, 1Marn/4/2), ließe sich dieser Fall aber auch als umfangreicheres modifiziertes Zitat klassifizieren. Zumeist jedoch, das hat die intertextuelle Analyse des Kanzlerschen Sangspruchœuvres gezeigt, rufen solche markierenden Zitate weniger Schlüsselbegriffe als vielmehr Schlüsselmotive aus ihren Prätexten auf. Sie zitieren also nicht immer wörtlich, sondern verfahren manchmal auch primär inhaltlich-bildlich. Bisweilen gehen solche Motivzitate mit Codewechseln einher, etwa bei einem bildhaften Sprechen, das sich ans Gleichnis anlehnt (Gold und Palme, Weizen und Distel, entartete Weinrebe, Spreu und Weizen). Daneben manifestieren sich derartige Motivzitate aber auch in spezifischen Vergleichen (etwa spezifische Tiervergleiche in der Konkurrenten- oder Herrenschelte), durch die Übernahme spezifischer Metaphern (beispielsweise die bildlich ausagierte Vorstellung vom Verschließen der Ohren, das Tugendkleid), Personifikationen (die Falschheit im Fürstenrat) oder spezifischer ‚Lobblumen‘ (die Frau als eren van und selden hort, der Adel als früchtetragender Baum). Solche Motivzitate markieren vorwiegend Referenzen auf Einzeltexte (auch intratextuell) oder auf die Gattungstradition der Sangspruchdichtung. Aber auch Diskursreferenzen können durch das Zitat bestimmter Motive markiert werden, wenn diese in spezifi-

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schen gattungsfremden Diskursen topisch sind (das Weinen des Neugeborenen als Klagelaut, die ‚Würmerzerfressung‘ des toten Körpers, die Aufzählung verachtenswerter gernder, die Distinktion von Mönchsorden über die Farbe ihres Habits in der Schelte, ungerechte Richter). Nicht klar zu trennen von solchen Motivzitaten ist die Übernahme bestimmter Argumente (man soll den gernden keine Gaben geben, Verderblichkeit der scham in der Beichte). (3) Die intertextuellen Analysen der Kanzlerschen Sangspruchdichtung und ihre zahlreichen interpretatorischen Zugewinne haben dabei insgesamt deutlich gemacht, wie dicht seine Strophen in (vorwiegend affirmative) intertextuelle Bezüge eingebettet sind und dass diese in ihrer Potenzialität erst durch die umfassende Erschließung ihrer intertextuellen Kontexte – bisweilen auf mehreren Referenzebenen – in vollem Umfang erkennbar werden. Die Frage nach der spezifischen Funktion dieser intertextuellen Referenzen muss auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden, zum einen auf einer konkreten text- und werkspezifischen, zum anderen auf einer übergreifend gattungstheoretischen. Die textspezifischen Funktionen der intertextuellen Bezugnahmen lassen sich nur je strophenspezifisch nachzeichnen, was die vorliegende Analyse für das Sangspruchcorpus des Kanzlers umfassend unternommen hat. So etwa, wenn die Geschichte von Noahs Fluch zu einer Aitiologie des Tugendadels umakzentuiert wird, wenn die Fabelreferenzen auf den „Esel in der Löwenhaut“ und den „Raben mit fremden Federn“ (den Missklang ihrer Stimme einkalkulierend) für eine sangspruchdichterische Konkurrentenschelte funktionalisiert werden oder wenn der Kanzler seinen Adelspreis durch die Metapher des früchtetragenden Baums in ein agonal besetztes Feld panegyrischer Sangspruchstrophen einschreibt. Hinsichtlich einer übergreifenden werkspezifischen Funktionalisierung von Intertextualität zeigen diese Einzelanalysen einige gemeinsame Tendenzen: Neben der Tatsache, dass sie ganz grundsätzlich die Bildung und Gelehrsamkeit des Verfassers auszustellen bestrebt sind und bisweilen didaktisch das Gemeinte illustrieren, lassen sich beim Kanzler übergreifend zwei verschiedene wiederkehrende Funktionalisierungsabsichten beobachten, eine geistliche und eine poetologisch-selbstthematisierende. Die geistliche Funktionalisierung ist besonders deswegen interessant, weil die Sangspruchstrophen des Kanzlers innerhalb der Gattung dadurch auffallen, dass sie auf der Textoberfläche außergewöhnlich selten dezidiert religiöse Themen verhandeln (außer 1Kanz/2/1–3; 1Kanz/5/9). Sogar bei solchen Themen, die eine religiöse Thematisierung geradezu aufdrängen, deutet sich diese im Text nur unterschwellig an, wie besonders die Strophe zur Unentrinnbarkeit des Todes zeigt (nur im knapp-pointierten Schluss: unde wie er dort gevar, 1Kanz/1/4, V. 16, scheint auf der Textoberfläche eine religiöse Perspektive auf). Durch subtile intratextuelle Bezüge aber schreibt sich einer Vielzahl seiner Sangspruchstrophen eine geistliche Dimension ein. Diese Bezugnahmen können, müssen aber nicht auf einen geistlichen Prätext referieren, häufig spielt auch eine Referenz auf vorgängige Sangspruchstrophen die religiöse Dimension hinein. Beinahe alle diese Referenzen zielen auf die Notwendigkeit der Heilssorge ab. Fast immer ist diese Heilssorge-Thematik wiederum mit einer anderen Funktion ge-

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koppelt, nämlich mit einer unterschwelligen Heische, also auch einer Form impliziter Selbstthematisierung. Die zweite übergreifende Funktion von intertextuellen Verweisen beim Kanzler betrifft vordergründig solche Selbstthematisierungen. Häufig thematisieren sie indirekt das Verhältnis von Sangspruchdichtern und Herren, indem sie eine Zusammengehörigkeit von gutem Sänger und vorbildlichen Herren insinuieren und damit zugleich implizit auf die panegyrische Aufgabe des Sängers verweisen (aber auch auf dessen Fähigkeit, das Ansehen der Herren durch seinen Scheltgesang zu beschädigen). Daneben zielen auch die Rekurse auf die eigene Gattungstradition auf eine poetologische Selbstthematisierung ab, da sie zum einen teils explizit poetologische Strategien ausstellen und zum anderen ihrer produktiven Rezeption des Vorgewesenen – trotz des meist affirmativen Charakters – mitunter auch subkutan ein Gestus der Überbietung eignet. Vom Rezipienten erfordern die intertextuellen Referenzen des Kanzlers die Bereitschaft zum Mitvollzug und zur lebenspraktischen Ergänzung. Darin entsprechen seine Referenzbildungen einer grundsätzlichen Eigentümlichkeit seiner Dichtung, die sich durch ein analytisches Denken von den Begriffen her auszeichnet und die verhandelten Gegenstände umfassend darzustellen sucht. Dies unterstützt besonders die Bestimmung der Dinge und Sachverhalte auch von ihrem Gegenteil her, die zu einem abundanten Gebrauch antithetischer Konstruktionen führt, sich aber auch in seinen vielen katalogartigen Aufzählungen und der Illustration des Gemeinten durch – häufig intertextuell aufgeladene – Vergleichsbilder zeigt. In all dem spiegelt sich zugleich die Absicht, eine umfassende Gelehrsamkeit auszustellen, was in der wiederkehrenden Autoritätsberufung auf das Geschriebene auch darauf verweisen könnte, dass der Name dieses Dichters, der ‚Kanzler‘, also cancellarius, ein selbstgewählter ist, der diesen Anspruch formulieren will. Was die umfassende intertextuelle Analyse des Kanzlerschen Sangspruchœuvres meines Erachtens aber ganz besonders leistet, ist den Blick dafür zu schärfen, wie sich die Gattung selbst konsolidiert. Die Sangspruchdichtung erfährt in der Forschung unter dem nachhaltigen Einfluss eines Originalitäts- und Autonomiepostulats des 19. Jahrhunderts noch immer eine gewisse Abwertung, weil ihre Texte – abgesehen von denen der großen Neuerer Walther und Frauenlob – die Innovativität und Heterodoxie vermissen lassen, die hier als Bewertungsmaßstab gesetzt werden. Stattdessen zeichnet sich der Großteil der überlieferten Sangspruchstrophen durch eine gewisse Konsensfixierung aus, scheint geprägt von Konservativität und Orthodoxie. Die Wiederholung des Immergleichen hat zum einen dazu beigetragen, dass den Sangspruchdichtern Epigonentum unterstellt wurde, zum anderen hat sie dazu geführt, dass die Texte im höchsten Maß als konventionell gelten, die Gattung als berechenbar. Diese Konventionalität ist aber eine Zuschreibung, die auch dem Blick auf die Gattung als ganze und ihren erstarrenden Formen- und Themenkanon im Meistergesang geschuldet ist. Die intertextuelle Analyse dagegen zeigt, dass diese Berechenbarkeit Teil eines gattungsgeschichtlichen Prozesses ist. Die Sangspruchdichter behaupten – ge-

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rade aufgrund des prekären status dieser Dichtung von varenden – von Anfang an eine Geltung und Relevanz ihrer Inhalte. Diese suchen sie zugleich dadurch abzusichern, dass sie intertextuell an gattungsfremden, stärker institutionalisierten Diskursen partizipieren, deren Geltung und Autorität sie sich damit erborgen, etwa indem sie sich die Rolle des Bußpredigers aneignen. Diese erborgten Versatzstücke aus fremden Traditionen und Diskursen werden in der intertextuellen Rezeption der eigenen Gattung anverwandelt und innerhalb dieser in der Folge wiederum – gewissermaßen als Eigengut – weiter rezipiert. Es findet also eine Transformation statt, in welcher erborgte rhetorische Strategien, Motive, Argumente, Diskursversatzstücke zu gattungseigenen gemacht werden. Exemplarisch lässt sich das etwa an der Strophenreihe zur Schlange, die ihr Ohr mit dem Schwanz verschließt, beobachten: Friedrich von Sonnenburg spielt auf dieses biblische Bild an, nutzt es – dem Prätext gemäß –, um die Unempfänglichkeit des verstockten Sünders für das göttliche Wort zu illustrieren, und funktionalisiert es damit für eine paränetische Belehrung. Deutlich appropriiert er damit die Rolle des Bußpredigers und partizipiert gleichermaßen an deren Autorität wie an der Geltung des biblischen Prätextes. Konrad von Würzburg nun referiert offenbar auf diese Strophe Friedrichs, indem er ebenfalls die ohrenverschließende Schlange zum Exempel macht und an der Geltung dieser (nun doppelten) Tradition partizipiert, Friedrich aber gattungsintern zugleich in zweifacher Hinsicht überbietet: Zum einen schwellt er das Motiv naturkundlich auf, beweist also größere Gelehrsamkeit, zum anderen deutet er es gegen Friedrich und die ursprüngliche Tradition um und funktionalisiert es für ein spezifisches Sangspruchthema (Herrenlehre). Der Kanzler schließlich übernimmt nurmehr diese spezifische Herrenlehre mit dem Bild des Ohrenverschließens ohne das konkrete Bild der Schlange. Daneben zeigt dieses Beispiel noch eine weitere Eigenart intertextueller Referenzbildung in der Sangspruchdichtung: Der hier bei Konrad zu beobachtende doppelte Rekurs auf die eigene Gattung und die ‚ursprüngliche‘ Tradition des betreffenden Motivs ist nämlich etwas, was sich beim Kanzler fast durchgehend beobachten lässt. Als Beispiel sei an seine gernden-Schelte erinnert: Zum einen nimmt diese den gattungsinternen Diskurs auf, der – bedingt durch die kirchliche Verdammung der Spielleute als ministri Satanae – aus der gefühlten Notwendigkeit hervorgeht, sich als Sangspruchdichter von den Spielleuten und sonstigen Fahrenden abzugrenzen. Zum anderen greift die Strophe des Kanzlers erneut auf den gattungsfremden theologischen Diskurs zurück, der diese Abgrenzungsbestrebungen verursacht hat, und appropriiert dessen argumentative Strategien, um sie im Interesse der eigenen Gattung umzudeuten. Überformt wird das darüber hinaus, indem der Kanzler dieses Thema mit einem weiteren gelehrt-theologischen Diskurs überblendet, nämlich demjenigen der Hofkritik (der zugleich wiederum auch in der Sangspruchdichtung schon seine Spuren hinterlassen hat). Es ist daran also zu beobachten, dass intertextuelle Referenzen in der Sangspruchdichtung auf gattungsexterne Texte, Gattungen, Diskurse referieren, die stärker institutionalisiert sind, wobei die daraus hervorgehenden Sangsprüche wiederum

3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

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zum Traditionsgrund und Referenzfeld weiterer Rezeption werden. Die darauf aufbauenden Strophen greifen ihrerseits aber zugleich auch immer neu auf gattungsexterne stärker institutionalisierte Referenzgründe zurück (nicht selten auf diejenigen, die den gattungsinternen Referenzstrophen ebenfalls zugrunde liegen) und speisen so fortwährend neue gattungsexterne Versatzstücke in die eigene Gattung ein, die ihr dabei wiederum anverwandelt werden. Die Gattung wird damit in zweifacher Hinsicht konsolidiert: Zum einen wird sie durch immer neue Referenzen auf gattungsexterne geltungsstarke Prätexte fortwährend mit deren Geltung aufgeladen, zum anderen arbeitet der gleichzeitige beständige Rekurs auf die eigene Gattungstradition einer Institutionalisierung selbiger zu. Die der Sangspruchdichtung unterstellte ‚Konventionalität‘ erweist sich damit als Produkt bewusster Bestrebungen zur Konsolidierung einer eigenen Gattungstradition und Überwindung ihres prekären Status, an denen intertextuelle Verfahren zentral Anteil haben. Bei genauerer Betrachtung löst sich diese ‚Konventionalität‘ insofern auf und sichtbar wird eine sich immer verändernde und auf vielfältige Weise nach Legitimierung strebende Umkreisung zentraler Themen. Unter dieser Perspektive lässt sich der Sangspruch geradezu als Variationskunst begreifen.

4 Literaturverzeichnis 4.1 Primärliteratur Aelred von Rieval [Rievaulx]: Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch – deutsch, ins Deutsche übertragen von Rhaban Haake, eingeleitet von Wilhelm Nyssen. Trier 1978 (Occidens 3). Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, gesammelt und zur Herausgabe vorbereitet von Wilhelm Wackernagel, hg. mit einem Vorwort von Max Rieger. Basel 1876. Altdeutsche Predigten, hg. von Anton Schönbach. 3 Bde. Graz 1891. Analecta Hymnica medii aevi, hg. Guido Maria Dreves und Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886– 1922. Das Anegenge, hg. von Dietrich Neuschäfer. München 1969 (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 1). Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten, mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer, mit einem Vorwort von Kurt Ruh. 2 Bde. Berlin 1964 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1862). Biblia sacra. Iuxta vulgatam versionem, durchgesehen und mit einem kritischen Apparat erläutert von Robert Weber. 5. verb. Aufl. bearbeitet von Roger Gryson. Stuttgart 2007. Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch – Deutsch, nach Hieronymus hg. von Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers, Michael Fieger. 5 Bde. Berlin/Boston 2018 (Sammlung Tusculum). [Boppe] Der Spruchdichter Boppe. Edition – Übersetzung – Kommentar, hg. von Heidrun Alex. Tübingen 1998 (Hermaea N.F. 82). Briefsteller und Formelbücher des eilften bis vierzehnten Jahrhunderts, bearbeitet von Ludwig Rockinger. Erste Abteilung. München 1863 (Quellen und Erörterungen zur bayrischen und deutschen Geschichte 9; Nachdruck New York 1961). [Bruder Wernher] Die Sprüche des Bruder Wernher II, Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichterwerke, viertes Stück, hg. von Anton Schönbach. Wien 1904 (Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, historisch-philosophische Klasse 150). Bruder Wernher: Sangsprüche, transliteriert, normalisiert, kommentiert und übersetzt von Ulrike Zuckschwerdt. Berlin/Boston 2014 (Hermaea N.F. 134). Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13). Cicero, M. Tullius: Laelius de amicitia. Ad. T. Pomponium Atticum. Laelius. Über die Freundschaft. T. Pomponius Atticus gewidmet, lateinisch – deutsch, hg. und übersetzt von Max Faltner. München 1980 (Tusculum). Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII–XII Jahrhundert, hg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, dritte Ausgabe von Elias von Steinmeyer. 2 Bde., Bd. 1: Texte, Bd. 2: Anmerkungen. Berlin 1892. Deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhunderts, hg. von Joseph Diemer. Darmstadt 1968 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1849). Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, durchgesehen von Gisela Kornrumpf. 2 Bde. Tübingen 1978. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn. Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 129). Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger. Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek deutscher Klassiker 191).

https://doi.org/10.1515/9783110712889-005

4.1 Primärliteratur

327

Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel, zweite neubearbeitete Ausgabe hg. von Karl August Eckardt, Alfred Hübner. Hannover 1933 (Monumenta Germania Historica, Leges, Fontes iuris Germanici antiqui, nova series 3). Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel, hg. von Clausdieter Schott, Übertragung des Landrechts von Ruth Schmidt-Wiegand, Übertragung des Lehnsrechts von Clausdieter Schott, mit 18 farbigen und 11 schwarzweißen Illustrationen. Zürich 1984. Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Landrecht, hg. von Karl August Eckhardt. Berlin/Frankfurt 1955 (Germanenrechte, Land- und Lehnrechtbücher 1,1). Epochen der deutschen Lyrik 1300–1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, hg. von Eva Willms, Hansjürgen Kiepe. München 1982 (Epochen der deutschen Lyrik in 10 Bänden, hg. von Walther Killy; Bd. 2). Les Fabulistes latin depuis le siècle de Auguste jusqu’à la fin du moyen âge, hg. von Léopold Hervieux. Bd. 2: Phèdre et ses anciens imitateurs directs et indirects. Paris 1883. Les Fabulistes latin depuis le siècle de Auguste jusqu’à la fin du moyen âge, hg. von Léopold Hervieux. Bd. 4: Eudes de Cheriton et ses dérivés. Paris 1896. Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas, hg. von Karl Stackmann, Karl Bertau. 2 Tle., 1. Teil: Einleitungen, Texte, 2. Teil: Apparate, Erläuterungen. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 119 f.). [Frauenlob-Supplement] Sangsprüche in den Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, auf Grund der Vorarbeiten von Helmut Thomas unter Mitarbeit von Thomas Riebe und Christoph Fassbender hg. von Jens Haustein und Karl Stackmann. 2 Bde., Bd. 1: Einleitungen, Texte, Bd. 2: Apparate, Erläuterungen, Anhänge, Register. Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 232). Fridankes Bescheidenheit, hg. von H. E. Bezzenberger. Aalen 1962 (Nachdruck der Ausgabe 1872). [Friedrich von Sonnenburg] Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg, hg. von Achim Masser. Tübingen 1979 (Altdeutsche Textbibliothek 86). Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift, hg. von Akihiro Hamano. Berlin/Boston 2016 (Hermaea N.F. 138). Gessner, Conrad: Vogelbuͦ ch. Darin[n] die art, natur vnd eigenschafft aller vöglen, sampt irer waren Contrafactur, angezeigt wirt; allen Liebhaberen der künsten, Artzeten, Maleren, Goldschmiden, Bildschnitzeren, Seydenstickern, Weydleüten vnd Köchen, nit allein lustig zu erfaren, sunder gantz nutzlich vnd dienstlich zebrauchen. Erstlich durch Doctor Conradt Geßner in Latin beschriben, neüwlich aber durch Rudolff Heüßlin mit fleyß in das Teütsch gebracht, vnd in ein kurtze ordnung gestelt. Zürich (Froschouer) 1557. Gottfried von Straßburg: Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1980. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 18., unv. Auflage. Berlin/New York 2010 (Altdeutsche Textbibliothek 3). Hartmann von Aue: Erec, hg. von Günther Scholz, übersetzt von Susanne Held. Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5). Hartmann von Aue: Iwein, Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann, L. Wolff, Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, 4., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin/New York 2001. Heinrich von Freiberg: Tristan und Isolde (Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg). Originaltext (nach der Florenzer Handschrift ms. B.R.226) hg. von Danielle Buschinger, Versübersetzung von Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993 (Wodan 16).

328

4 Literaturverzeichnis

Heinrich von Melk, hg. von Richard Heinzel. Hildesheim/Zürich/New York 1983 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1867). [Heinrich von Melk] Der sogenannte Heinrich von Melk. Nach R. Heinzels Ausgabe von 1867 neu hg. von Richard Kienast. Heidelberg 1946. [Heinrich von Mügeln] Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, hg. von Karl Stackmann, mit Beiträgen von Michael Stolz. Zweite Abteilung. Berlin 2003 (Texte des Mittelalters 51). Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Handschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. von Hans Fromm, mit Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4). Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986. [Hiob] Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob. Aus Handschriften des königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. von Torsten E. Karsten. Berlin 1910 (Deutsche Texte des Mittelalters 10). Hugo von Langenstein: Martina, hg. durch Adelbert von Keller. Hildesheim/New York 1978 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1856). Hugo von Trimberg: Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. 4 Bde. Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters; Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1909). [Isidor von Sevilla] Isidori Hispalensis Episcopi: Etymologiarvm sive originvm. Libri XX, recognovit brevique adnotatione critica instrvxit Wallace M. Lindsay. 2 Bde. Oxford 1957. Jacob von Maerland: Der naturen bloeme, hg. von Eelco Verwijs. Groningen 1878. [Jacobus de Cessolis] Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis O.P., in mittelhochdeutscher Prosa-Übersetzung, nach den Handschriften hg. von Gerhard F. Schmidt. Berlin 1961 (Texte des späten Mittelalters 13). Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Goldene Legende, Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. 2 Bde. Freiburg i. Br. 2014 (Fontes Christiana Sonderband). Johannes de Sacrobosco: The Sphere of Sacrobosco and its Commentators, hg. von Lynn Thorndike. Chicago 1949 (Corpus of medieval scientific texts 2). Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, hg., eingeleitet und übertragen von Arno Buschmann. München 1984. Der Kanzler, hg. von Manuel Braun, Stephanie Seidl. In: Lyrik des deutschen Mittelalters, online, hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch, Florian Kragl, URL: http://www.ldm-digital.de, abgerufen am . Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Thomas Cramer. 4 Bde., Bd. 2: Heseloher – Peter von Sachsen. München 1979. Konrad von Megenberg: Buch der Natur, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Robert Luff, Georg Steer. Tübingen 2003 (Texte und Textgeschichte 54). Konrad von Megenberg: Die Deutsche Sphaera, hg. von Francis B. Brévart. Tübingen 1980 (Altdeutsche Textbibliothek 90). Konrad von Würzburg, hg. von Manuel Braun, Stephanie Seidl. In: Lyrik des deutschen Mittelalters, online, hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch, Florian Kragl, URL: http://www.ldm-digital.de, abgerufen am . Konrad von Würzburg: Die Goldene Schmiede, hg. von Wilhelm Grimm. Berlin 1840. [Konrad von Würzburg] Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hg. Edward Schröder. Göttingen 1926.

4.1 Primärliteratur

329

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330

4 Literaturverzeichnis

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4.2 Nachschlagewerke und Wörterbücher

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Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle, mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9).

4.2 Nachschlagewerke und Wörterbücher Adam, Bernd: [Art.] Heinrich von Kröllwitz. In: ²VL, Bd. 3, S. 761 f. Althochdeutsches Wörterbuch, auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, bearb. und hg. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Leipzig 1952–2015 ff. Auer, Johann: [Art.] Barmherzigkeit. I. Theologie. In: LexMA, Bd. 1, Sp. 1471 f. Bauer, Julia, Franz Josef Worstbrock: [Art.] ‚Veni, creator spiritus‘. In: 2VL, Bd. 10, Sp. 214–224. Beckers, Hartmut: [Art.] Buch Sidrach. In: ²VL, Bd. 1, Sp. 1097–1099. Bernt, Günther: [Art.] Memento mori. A. Begriff. Mittellateinische‘ Literatur. In: LexMA, Bd. 6, Sp. 505 f. Biesheuvel, Ingrid E., Nigel Palmer: [Art.] Jacob von Maerlant. In: ²VL, Nachtragsbd., Sp. 748–755. Braun, Manuel: Kap. V. Thematische Kerne 5. Kunst. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 260–283. Brévart, Francis B., Menso Folkerts: [Art.] Johannes de Sacrobosco. In: ²VL, Bd. 4, Sp. 731–736. Brunner, Horst: [Art.] Konrad von Würzburg. In: ²VL, Bd. 5, Sp. 272–304. Brunner, Horst: [Art.] Meistergesang. In: RLW, Bd. 2, S. 554–557. Brunner, Horst: Kap. VI. Formen 2. Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 317–328. Bulang, Tobias, Sophie Knapp: Kap. V. Thematische Kerne 4. Artes und Wissen. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 250–259. Bumke, Joachim: [Art.] Wernher von Elmendorf. In: ²VL, Bd. 10, Sp. 925–927. Carlen, Louis: [Art.] Fürsprecher. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1029. Curschmann, Michael: [Art.] ‚Orendel‘ (‚Der graue Rock‘). In: ²VL, Bd. 7, Sp. 43–48. Dalby, David: Lexicon of the Medieval German Hunt. A Lexicon of Middle High German terms (1050– 1500), associated with the Chase, Hunting with Bows, Falconry, Trapping and Fowling. Berlin 1965. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch, 2. völlig neu bearbeitete Auflage hg. von Kurt Ruh, Burghart Wachinger u. a. 14. Bde. Berlin/New York 1978–2008. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, bearbeitet von Heino Speer, Andreas Deutsch, unter Mitarbeit von Almut Bedenbender u. a. 13 Bde. Weimar 1932–2018 ff. Dicke, Gerd, Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60). Dicke, Gerd: [Art.] Exempel. In: RLW, Bd. 1, S. 534–537. Dicke, Gerd: [Art.] Quelle. In: RLW, Bd. 3, S. 203–205. Dicke, Gerd: Kap. IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 3. Fabel. In: Sangspruch/Spruchsang, S. 142–153. Drüppel, Hubert: [Art.] Gericht. Gerichtsbarkeit. I. Allgemein und deutsches Recht. In: LexMA, Bd. 4, Sp. 1322–1324. Drüppel, Hubert: [Art.] Richter. In: LexMA, Bd. 7, Sp. 833–837.

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4.2 Nachschlagewerke und Wörterbücher

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4.3 Sekundärliteratur

341

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342

4 Literaturverzeichnis

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5

Register

Aelred von Rievaulx – De spiritali amicitia 41, 270 – 273 Albrecht von Halberstadt siehe Metamorphosen Alexander Neckam 73 Anegenge 47 – 49 Augustinus von Hippo 47, 123 f., 152, 264 f. Beheim, Michel – 1Beh/100 48 Bernhard von Clairvaux 73, 123 Bernhard von der Geist – Palpanista 157 f. Bernhard von Morlay 73 Berthold von Regensburg 17, 58, 121, 143, 151 – 153, 172, 175, 182, 185, 225, 292, 296, 319 – Sælic sint die reines herzen sint 172, 182 – Von bîhte und buoze 292 – Von den fremeden sünden 121, 143, 156 – Von dem fride 172 – Von den fünf pfunden 143, 296 f. – Von den siben planêten 172, 179, 182 – Von den siben insigeln der bîchte 292 – Von den zehen kœren der engele unde der kristenheit 152 f., 297 – Von siben übergrôzen sünden 143 – Von zwein wegen, der marter und erbermde 172, 182, 185 – Von zwelf scharn hern Josûê 58 Bescheidenheit siehe Freidank Bibelstellen – Gen 1,28 f. 301 – Gen 4,1 – 16 307 – Gen 9,18 – 27 46 – Jer 2,21 59 – Jer 6,15; 8,12 61 – Jes 5,2 – 7 59 – Jes 11,1 – 3 106 – Jes 51,8 71 – Job 7,7 70 – Job 13,18 71 – Job 17,14 71 – Job 21,26 71 – Job 25,6 71 – Joh 19,30 262 – Lk 3,17 64 – Lk 8,4 – 8, 11 – 15 54 f. https://doi.org/10.1515/9783110712889-006

– Lk 12,33 f. 294 – Lk 22,38 141 – Mk 4,3 – 9,14 – 20 54 – Mk 4,35 – 40 263 – Mt 6,19 f. 294 – Mt 8,23 – 27 263 – Mt 13,3 – 9, 14 – 23 54, 56 f. – Mt 13,24 – 30, 36 – 43 54 f. – Mt 25,14 – 30 58, 295 – Mt 25,35 – 46 58 – Mt 25,36 50 – 1 Petr 1,18 f. 103 – Prov 27,21 240 – Ps 57,5 f. 123 – Ps 146,4 101 – Sir 2,5 240 – Tob 1,20 58 Boppe 6, 298, 318 – 1Bop/1/3 f. 298 f., 304 f. – 1Bop/1/5 – 7 231 – 1Bop/1/22 267 – 1Bop/1/25 231 – 1Bop/1/30 267 – 1Bop/7/1 – 4 6, 98 Bruder Wernher 3, 225 f., 293 – 295, 298 – 1Wern/1/1 121 – 1Wern/1/15 271 – 1Wern/1/17 69, 72 – 1Wern/1/21 217 – 1Wern/1/24 69, 294 – 1Wern/1/28 82 – 1Wern/2/8 294 – 1Wern/2/9 294 – 1Wern/4/3 69 – 1Wern/5/3 225 f. – 1Wern/6/1 269 – 1Wern/6/4 293 Buch Sidrach 179 Carmina Burana – CB 4 262 – CB 9* 257 f. – CB 13 306 – CB 14/16 – 18 252 f. – CB 39 195, 256, 258, 321 Cicero, M. Tullius – Laelius 41, 270 f.

344

5 Register

Deutschenspiegel 144 f. Dietmar der Setzer – 1Dietm/3 252 – 1Dietm/4 294 Ehrenbote – 1Ehrb/1/502 204 Eike von Repgow – Sachsenspiegel 141 – 144, 294 Etymologiae siehe Isidor von Sevilla Fabeln 20, 37 f., 94, 318 – 320, 322 – „Esel in der Löwenhaut“ 75 – 83, 318, 320, 322 – „Fuchs und Rabe“ 278 – 282, 314, 318, 320 – „Rabe mit fremden Federn“ 75 – 83, 318, 320, 322 Fegefiur – 1Fegf/1/8 294 Frauenlob 5, 9, 182, 184, 267 – 1Frau/2/34 6 f. – 1Frau/2/61 116 – 1Frau/2/110,2 116 – 1Frau/2/110,3 252 – 1Frau/2/113,7 304 – 1Frau/4/17 257 – 1Frau/5/2 14, 18 – 1Frau/5/5c 167 – 1Frau/6/3 194 – 1Frau/7/102,3 245, 318 – 1Frau/8/100,4 182, 184 f. – Marienleich 182, 267 Freidank 58, 68, 79, 88, 114, 141, 157, 197, 199, 252, 270, 296 Friedrich von Sonnenburg 3, 298, 324 – 1FriSo/1/19–24 298 – 1FriSo/1/20 69 – 1FriSo/1/24 294, 296, 299 – 302 – 1FriSo/1/34 290 f., 298 – 1FriSo/1/35 122 – 1FriSo/1/36 122 – 126, 136, 198, 324 – 1FriSo/1/37 156 – 1FriSo/1/40 205, 225 – 227 – 1FriSo/2/1 217 – 1FriSo/2/5 225 – 1FriSo/3/2 – 5 153 – 1FriSo/4/1 227 Frühmittelhochdeutsche (Wiener) Genesis 47, 50

Gessner, Conrad 80 Der Goldener – 1Gold/1–2 82 Gottfried von Straßburg – 1Gotfr/1/2 252 – Tristan 2, 8, 156 f., 239, 258, 265 Der Guter 134 – 1Gut/1/1–5 69 – 1Gut/2/3 134 Der Hardegger – 1Hardg/4/1 256 Hartmann von Aue 2, 13, 239, 265 Heinrich von Melk 70 – 73, 103 Heinrich von Morungen 15 f. – MF 126,8 198 – MF 139,19 213 – MF 141,37 15, 209 Heinrich von Mügeln 5, 82, 182, 184, 267 – 1HeiMü/281 – 287 267 – 1HeiMü/411 267 – 1HeiMü/500 170, 174, 182, 184 f., 267 Heinrich von Veldeke 2, 13, 81 Der Henneberger – 1Henb/1 131 ‚Herger‘ siehe Spervogel (‚Herger‘) Hermann Damen – 1Dam/3/9 69 Honorius Augustodunensis 17, 152, 170 – 172, 174 Hugo von Langenstein – Martina 70 – 73, 125 Hugo von Trimberg 157 f. Isidor von Sevilla

59, 124, 229, 265, 267

Jacob von Maerlant – Der naturen bloeme 237 f. Jacobus de Cessolis siehe Schachzabelbuch Jacobus de Voragine 185, 241 Johann von Ringgenberg 318 – 1JohR/13 252 – 1JohR/14 104, 298 – 1JohR/15 298, 307 f. – 1JohR/16 308 f. Johannes von Sacrobosco – De Sphaera Mundi 170 f., 173 – 178 Johannes von Salisbury – Policraticus 150, 152, 157 f.

5 Register

Junger Meißner – 1JungMei/1/14 244 – 1JungMei/1/100, 1 – 3

48

Der Kanzler 33–44 – 1Kanz/1/1 1 f., 6, 8, 45–52, 60, 65, 94 f., 119, 160, 169, 180, 200, 229, 255, 266, 279, 311 – 1Kanz/1/2 52–60, 65, 74, 93, 95, 169, 208 – 1Kanz/1/3 61–67, 93–95, 169 – 1Kanz/1/4 67–75, 95, 97, 322 – 1Kanz/1/5 2, 75–83, 93–96, 278 f., 281, 283 – 1Kanz/1/6 84–96, 283 – 1Kanz/2/1 35, 96–100, 100–102, 109 f., 160, 167, 169, 181, 186, 188, 191, 208, 251, 260, 319, 322 – 1Kanz/2/2 35, 96–100, 102–104, 109 f., 160, 167, 169, 188, 203, 208, 319, 322 – 1Kanz/2/3 35, 96–100, 104–109, 109 f., 160, 167, 169, 188, 208, 319, 322 – 1Kanz/2/4 35, 110–118, 120, 123, 129, 133– 137, 161, 167, 188 f., 201, 255, 258, 269, 274, 302, 305, 321 – 1Kanz/2/5 110, 118–128, 134–137, 156, 161, 170, 188 f., 255, 305 – 1Kanz/2/6 110, 128–137, 161, 188 f., 255, 305 – 1Kanz/2/7 35, 138–148, 189–191 – 1Kanz/2/8 148–159, 168, 189–191, 233, 247 f., 251, 277, 280, 282, 284, 296 – 1Kanz/2/9 35, 127, 159–167, 188, 190 f., 283, 319 – 1Kanz/2/10 35, 42, 101, 167–177, 179–188, 190 f., 208 – 1Kanz/2/11 35, 42, 101, 167–173, 176–178, 179–188, 191, 208, 229, 283, 311 – 1Kanz/3/1 192–196, 199, 202, 205 f., 255 f., 289, 307, 313, 315, 321 – 1Kanz/3/2 197–199, 202 f., 205 f., 255, 289, 307 – 1Kanz/3/3 199–206, 255, 289, 307 – 1Kanz/3/4 202–206, 240, 289, 307 – 1Kanz/4/1–3 34 f., 92, 98, 122, 126, 162, 169, 187, 206–222, 319, 321 – 1Kanz/5/1 35, 120, 201, 223–228, 255, 274 f., 277, 288, 291, 297, 311 f., 314 – 1Kanz/5/2 228–233, 311 f. – 1Kanz/5/3 233–238, 277, 311 f., 313 – 1Kanz/5/4 238–242, 274, 307, 312 – 1Kanz/5/5 97, 242–245, 312 – 1Kanz/5/6 33, 149, 246–251, 254, 279, 312 f.

345

– 1Kanz/5/7 251–254, 283, 313, 316 – 1Kanz/5/8 254–259, 264, 275 f., 313 f., 315 – 1Kanz/5/9 97, 251, 259–264, 313 f., 322 – 1Kanz/5/10 3, 160, 264–268, 283, 314 f. – 1Kanz/5/11 41, 268–273, 314 – 1Kanz/5/12 119, 200, 224, 273–277, 283, 295, 297, 314 f. – 1Kanz/5/13 82, 278–282, 295, 314 – 1Kanz/5/14 35, 97, 169, 208, 224, 282–285, 287–293, 300 f., 307, 313, 315 f. – 1Kanz/5/15 35, 97, 169, 208, 224, 282, 285– 293, 300, 304, 307, 315 f. – 1Kanz/5/16 35, 97, 169, 196, 208, 224, 282, 287–293, 300, 303, 307, 315 f. – 1Kanz/5/17 292–297, 300, 302, 315 f. – 1Kanz/5/18 297–302, 305, 307 f., 309 f. 315 f. – 1Kanz/5/19 297 f., 302–306, 309 f., 316 – 1Kanz/5/20 297 f., 306–310, 316 – 1Kanz/5/21 34 f., 82, 97 – Lied IV 206, 208, 210 – Lied V 165 f., 224 Kelin – 1Kel/3/1 121 – 1Kel/3/5 77, 82 Klagspiegel 144 Konrad von Ammenhausen siehe Schachzabelbuch Konrad von Megenberg – Buch der Natur 234 f., 241 – Deutsche Sphaera 171, 174 Konrad von Mure 152 Konrad von Würzburg 4, 34, 70, 82, 87, 122, 192, 225, 231, 298, 318, 324 – Goldene Schmiede 71, 162, 232, 241 – 1KonrW/1/1 298 – 302, 310 – 1KonrW/1/3 f. 82 – 1KonrW/2/1 – 3 92 – 1KonrW/2/2 59 – 1KonrW/2/4 224, 296 – 1KonrW/3/1 – 3 92, 126, 162, 206, 214 – 223 – 1KonrW/4/1 294 – 1KonrW/5/1 290 f. – 1KonrW/5/2 122 – 128, 156, 231 – 1KonrW/6/4 204 – 1KonrW/7/10 272 f. – 1KonrW/7/11 253 – 1KonrW/7/12 82, 281 f. – 1KonrW/7/14 131 – 134 – 1KonrW/7/15 232 – 1KonrW/7/18 72

346

5 Register

– 1KonrW/7/21 4 – 1KonrW/7/23 231 – 1KonrW/7/24 69 – 1KonrW/7/25 227 – Leich 3 – Lied III 166 – Partonopier und Meliur 4, 156, 162, 232, 279 – Silvester 162 – Trojanerkrieg 4, 156, 162, 229, 232, 239, 279 Leuthold von Seven – 1Leut/2/1 290 f. Litschauer – 1Lit/2/1 117 Lothar von Segni (Innozenz III.) 294 – De miseria humane conditionis 70 – 74 Lucidarius 47 f., 170 f., 175, 179 Der Marner 3, 7 f., 318 – CB 9* 257 f. – 1Marn/2/2 270 f. – 1Marn/3/1 – 3 6, 156 – 1Marn/4/2 194 – 196, 321 – 1Marn/5/3 4 – 1Marn/5/4 294 – 1Marn/6/2 69 – 1Marn/6/4 194 – 1Marn/6/5 294 – 1Marn/6/6 82 – 1Marn/6/13 82 – 1Marn/6/16 181, 183 – 1Marn/6/17 6 – 8, 127, 160 – 1Marn/7/3 116 – 1Marn/7/7 82 – 1Marn/7/9 197 – 1Marn/7/10 290 f. – 1Marn/7/13 70 – 1Marn/7/15 14, 230 – 1Marn/7/19 7, 266 Martianus Capella 265 Mechthild von Magdeburg 12 Der Meißner 6, 14, 192, 318 – 1Mei/1/2 181, 183 – 1Mei/1/3 197 – 1Mei/1/4 224, 296 – 1Mei/1/6 254 – 1Mei/1/10 119 – 1Mei/1/12 77

– 1Mei/2/5 131 – 1Mei/2/17 156 – 1Mei/2/19 198, 201 – 1Mei/2/20 120 – 1Mei/4/6 290 f., 294 – 1Mei/4/7 294 – 1Mei/6/5 156 – 1Mei/10/4 295 – 1Mei/12/1 4, 6, 14, 230 – 1Mei/12/1–4 14, 230 – 1Mei/15/3 244 – 1Mei/16/4 248 – 1Mei/16/9 253 f. – 1Mei/17/5 69 – 1Mei/17/13 126, 257 – 1Mei/17/14 116 f. – 1Mei/20/1 f. 156 Metamorphosen 80 Missale Ambrosianum 54 Der Mönch von Salzburg 99, 241 Neidhart 13, 38, 209 f. Nibelungenlied 12 – 14 Odo von Cheriton 76, 278, 280, 282 Orendel 258 f. Ovid siehe Metamorphosen De palpone et assentatore 157 f. Petruslied 99 Perikopenhandschriften 54 f., 103, 106 Pfaffe Konrad 2 Pfaffe Lamprecht 2 Pfarrer zu dem Hechte siehe Schachzabelbuch Phaedrus siehe Fabeln, „Fuchs und Rabe“ Physiologus 6, 14, 37 f., 124, 212, 228 – 235, 311, 318 Plinius, Caius Secundus – Naturalis historiae 59, 80, 234 Policraticus siehe Johannes von Salisbury Priester Arnold 266 Priester Konrad 17, 55 Regenbogen – 1Regb/1/2 267 Reinmar der Alte 318 – MF 159,1 15 f., 27 f., 209 f., 318 – MF 165,28 166 – MF 170,1 15

5 Register

Reinmar der Fiedler 8 – 1ReiFi/3/3 272 Reinmar von Zweter 6, 8, 82, 204, 318 – 1ReiZw/1/34 166 – 1ReiZw/1/35 166 – 1ReiZw/1/41 131 – 1ReiZw/1/52 77, 82 – 1ReiZw/1/70 120, 243 – 1ReiZw/1/91 252 – 1ReiZw/1/94 197 – 1ReiZw/1/95 197 – 1ReiZw/1/120 295 – 1ReiZw/1/127 194 f. – 1ReiZw/1/129 194 – 1ReiZw/1/151 307 – 1ReiZw/1/157 197 – 1ReiZw/1/170 260 f., 264 – 1ReiZw/1/190 69, 71 – 1ReiZw/1/198 290 f. – 1ReiZw/1/200 244 – 1ReiZw/1/201 82, 88, 91 – 1ReiZw/2/5 197 – 1ReiZw/2/17 290 f. – 1ReiZw/5/1 – 3 131 Der Renner siehe Hugo von Trimberg Romulus siehe Fabeln, „Fuchs und Rabe“ Rudolf von Ems 4 Rumelant von Sachsen 6, 42 f., 318 – 1Rum/1/5 4, 181 – 1Rum/2/10 204 – 1Rum/2/11 100 – 1Rum/3/3 181 f. – 1Rum/4/1 – 3 245 – 1Rum/4/2 239 – 1Rum/4/18 90 – 93 – 1Rum/4/20 121 – 1Rum/4/24 158 – 1Rum/6/1 262 – 1Rum/6/3 263 – 1Rum/7/3 146 f. – 1Rum/8/3 6 – 1Rum/10/1 88 Sachsenspiegel siehe Eike von Repgow Schachzabelbuch 143, 154 f. Schwabenspiegel 142 – 145, 188 Singûf 6 – 1Singuf/1 131 Solinus, Gaius Iulius – De mirabilibus mundi 234

347

Spervogel – 1Sperv/8 114 – 1Sperv/9 114 – 1Sperv/18 131 Spervogel (‚Herger‘) – 1SpervA/1/6 – 10 76 f., 82 – 1SpervA/1/11 – 15 76 f., 82 – 1SpervA/1/16 – 20 97 – 1SpervA/1/20 105 – 1SpervA/1/21 226 – 1SpervA/1/26 – 30 97 De Sphaera Mundi siehe Johannes von Sacrobosco St. Galler Perikopen siehe Perikopenhandschriften Stolle – 1Stol/12 231 – 1Stol/26 f. 77 Stuttgarter Perikopen siehe Perikopenhandschriften Süßkind von Trimberg – 1Süßk/1/3 69 – 71 – 1Süßk/1/4 70 Tannhäuser 217 Thomas von Aquin 38, 58, 107 f., 154 Thomas von Cantimpré 234 – 237, 241 Thomas von Chabham 154 Thomasin von Zerklære 112, 157 f., 172, 174, 264 – 266 Traugemundslied 80 Ulrich von Lilienfeld 235 Ulrich von Singenberg – 1UlrS/1/3 146 – 1UlrS/2/1 248 f., 259 – 1UlrS/3/1 – 7 69 – 1UlrS/4/4 147 Der Unverzagte – 1Unv/1/3 116 – 1Unv/1/5 69 – 1Unv/2/3 156 Veni, creator spiritus 99, 105 f. Veni, lumen cordium 105 Veni, sanctus spiritus 105 Vincent von Beauvais 179 Walter Map

157, 256

348

5 Register

Walther von Breisach 41 f., 318 – 1WaltBr/1/1 – 2 181, 183, 187 – 1WaltBr/1/5 271 – 1WaltBr/2/6 197 Walther von der Vogelweide 2, 9, 13, 97, 115, 118, 123, 135, 201, 318 – L. 45,37 166 – L. 53,25 15 f. – L. 111,22 15 f., 27 f. – Leich (L. 3,1) 262 – 1WaltV/1/1 (L. 8,4) 7, 115, 146, 201, 302 – 1WaltV/1/2 (L. 8,28) 86 – 1WaltV/1/3 (L. 9,16) 194 f. – 1WaltV/4/1 – 4 (L. 13,5) 82 – 1WaltV/5/2 (L. 17,11) 13 – 1WaltV/6/3 (L. 19,17) 217 – 219 – 1WaltV/6/5 (L. 20,4) 13 – 1WaltV/7/1 (L. 20,16) 115 – 117, 201 – 1WaltV/7/2 (L. 20,31) 226 – 1WaltV/7/3 (L. 21,10) 290 – 1WaltV/7/5 (L. 22,3) 72 – 1WaltV/7/6 f. (L. 22,18, L. 22,33) 201 – 1WaltV/7/8 (L. 23,11) 232 – 1WaltV/8/4 (L. 26,33) 227 – 1WaltV/8/8 (L. 28,1) 214, 247 f., 259 – 1WaltV/8/10 (L. 28,21) 156, 198 f., 201 – 1WaltV/8/12 (L. 29,4). 156 – 1WaltV/8/16 (L. 30,9) 156 – 1WaltV/8/18 f. (L. 30,29) 270 – 1WaltV/9/1 (L. 31,13) 115 f., 198, 201 – 1WaltV/9/6 (L. 32,27) 150, 156 – 1WaltV/9/9 (L. 33,21) 294

– 1WaltV/10/1 (L. 36,11) 290 – 1WaltV/14/1 f. (L. 78,24) 97 – 1WaltV/14/5 (L. 79,17) 270 – 1WaltV/14/6 (L. 79,25) 270 – 1WaltV/14/13 (L. 81,7) 291 – 1WaltV/15/4 (L. 83,14) 201 – 1WaltV/15/5 (L. 83,27) 201 – 1WaltV/17/3 (L. 102,15) 290 – 1WaltV/19/2 (L. 103,29) 150 Wartburgkrieg 31, 172, 186 – Fürstenlob 81, 83, 93, 227 – Rätselspiel 4 f., 14, 49, 81, 93, 98, 173, 184 – 186 Welscher Gast siehe Thomasin von Zerklære Wernher von Elmendorf 157, 276 Der Wilde Alexander – 1Alex/1–3 197 – 1Alex/4 262 – 1Alex/5 262 f. – 1Alex/6 262–264 – 1Alex/12 2 – 1Alex/14 f. 157 – 1Alex/20 194 Wiener Plenar siehe Perikopenhandschriften Wittenwiler, Heinrich 87 Wizlav von Rügen – 1Wizl/2/1 69 Wolfram von Eschenbach 5 f., 13 f., 184 – 186, 209, 279 – Parzival 2, 13 f., 27 f., 172, 200, 232, 239, 258, 265, 307 f. – Willehalm 13, 55, 308

Erratum

349

Sophie Knapp

Erratum zur gedruckten Ausgabe: Kapitel 2: Analysen Publiziert in: Intertextualität in der Sangspruchdichtung. Der Kanzler im Kontext Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Band 43, ISBN 978-3-11-071285-8.

Erratum ursprünglicher Text:

richtig ist:

und die Fabel vom „Rabe mit fremden Federn“

und die Fabel vom „Raben mit fremden Federn“

S. 

In der Fabel vom Rabe (Dohle, Häher, Krähe)

In der Fabel vom Raben (Dohle, Häher, Krähe)

S. 

in der Geschichte vom „Rabe mit fremden Federn“

in der Geschichte vom „Raben mit fremden Federn“

Kapitel .... S. , V.  in C Kanz 

din ist der sunne. Schone

din ist der sunne. schone

S. , V.  in C Kanz 

die sternen sint dir gar bekannt die sternen sint dir gar bekant

Kapitel ... S. , V.  in B Kanz 

diz leben mag im fromen wol

diz leben mag im fromen wol

S. , V.  in B Kanz 

dz er sin gůt durch ere hat

dz er sin gůt durch ere hat

Kapitel .. S. , V.  in B Kanz 

mit sch… unde ane schulde

mit schulde unde ane schulde

Kapitel .. S. , V.  in C Kanz 

owe, daz ich niht vinden kann

owe, daz ich niht vinden kan

Kapitel .. S. , V.  in C Kanz 

des

des

S. , V.  in b Kanz 

uracentren

uracentran

Kapitel .. S. 

S. , Str. , V.  in der Rekon- der tiut ouch, wie zodiacus struktion nach Siebert

Der tiute ouch, wie zodiacus

S. , V.  in C Kanz 

zwefvalt die sunnen halte

zwefvalt die sunnen halte

S. , V.  in C Kanz 

stat

stat,

S. , V.  in C Kanz 

enist

enist,

S. , V.  in C Kanz 

vergiht

vergiht:

Das angepasste Originalkapitel ist verfügbar unter der DOI: https://doi.org/10.1515/9783110712889-003 https://doi.org/10.1515/9783110712889-007

350

Erratum

Fortsetzung ursprünglicher Text:

richtig ist:

S. , V.  in C Kanz 

sunnenblig

sunnenblig,

S. , V.  in C Kanz 

des manen kelte des regens sprat

des manen kelte, des regens sprat,

S. , V.  in C Kanz 

erkiket

erkiket.

S. , V.  in C Kanz 

planeten kraft ir loͮ fes vriste[ ]

planeten kraft, ir loͮ fes vrist[ ]

S. , V.  in C Kanz 

niht

niht –

S. , V.  in C Kanz 

himel

himel,

S. , V.  in C Kanz 

bringet

bringet,

S. , V.  in C Kanz 

dringet

dringet,

S. , V.  in C Kanz 

ruͤ rent

ruͤ rent,

S. , V.  in C Kanz 

wa swer wa liht, wa heis wa kalt was swer, wa liht, wa heis, wa kalt,

S. , V.  in C Kanz 

gestalt

gestalt.

S. , V.  in b Kanz 

süssu maisterschafft

süssu maisterschafft

S. , Str. , V.  in der Rekon- walte struktion nach Siebert

walte,

S. , Str. , V.  in der Rekonstruktion nach Siebert

blicket;

blicket,

S. , Str. , V.  in der Rekon- swær: fehlerhafter Schrifttyp bei Ligatur struktion nach Siebert S. , Str. , V.  in der Rekon- manigvalt struktion nach Siebert

manigvalt,

S. 

Fußnote  wurde am Ende um den folgenden Zusatz ergänzt: „Die Strophen sind hier – behutsam normalisiert – nach der Handschrift zitiert.“

Kapitel .. S. , V.  in C Kanz 

din mu̍ l niht mer malt

S. , V.  in C Kanz 

dazs us zu̍ hten nie geschreit – dazs us zu̍ hten nie geschreit –

S. , V.  in C Kanz 

da bosheit hant

die da bosheit hant

Kapitel .. S. , V.  in C KonrW 

diu sint nu verseit

die sint nu verseit

S. , V.  in C KonrW 

la nu dulten [ ] pin

la nu dulten[ ] pin

S. , V.  in C KonrW 

blîchet als ein baldegin

blîchet als ein baldegin

S. , V.  in C KonrW 

git, der sich nie tugende versan.

git, der sich nie tugende versan.

din mu̍ l niht mer malt

Erratum

Fortsetzung ursprünglicher Text:

richtig ist:

S. 

(WaltV// [L.,])

(WaltV// [L. ,]).

Kapitel .. S. , V.  in C Kanz 

des palmen

des palmen

Kapitel .. S. , V.  in C Kanz 

sit richer herren alte wat

sit richer herren alte wat

Kapitel ... S. , V.  in C Kanz 

ku̍ schen wort

ku̍ schen wort

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