Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie [Reprint 2012 ed.] 3110199548, 9783110199543

Römische Agrarhandbücher sind weit mehr als Medien zur Vermittlung von Sachwissen. Sie sind auch literarische Gebilde au

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Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie [Reprint 2012 ed.]
 3110199548, 9783110199543

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Silke Diederich Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie

w G DE

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Gustav-Adolf Lehmann, Heinz-Günther Nesselrath und Otto Zwierlein

Band 88

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie

von

Silke Diederich

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1862-1112 ISBN 978-3-11-019954-3 Bibliografische Information der Deutschen

Nationaibibiiothek

Die Dcutschc Nationaibibiiothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Alikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbindcrischc Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

AVO OPTIMO HENRICO W E Y PIA MEMORIA DEDITUM

Vorwort Bei dieser Arbeit handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommer 2005 am Fachbereich II der Universität Trier angenommen wurde. Ganz besonders danke ich meinem Habilitationsvater Herrn Prof. Dr. Ulrich Eigler, der mir mit seiner ihm eigenen Hilfsbereitschaft und seiner Aufgeschlossenheit die Möglichkeit geboten hat, dieses Projekt in Trier zu verwirklichen. Er hat es, wann immer es nötig war, mit Rat und Tat hilfreich unterstützt, nicht ohne zugleich auch immer den nötigen Freiraum zu gewähren. Mein Dank gilt auch den Gutachtern Frau Prof. Dr. Elisabeth Herrmann-Otto, Herrn Prof. Dr. Johannes Kramer und Herrn Prof. Dr. Georg Wöhrle für ihre Mühe und für die konstruktiven sachlichen Hinweise. Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Otto Zwierlein, für seine vielfältige Unterstützung, mit der er das Entstehen meiner Arbeit begleitet hat, besonders für die Hilfestellung bei den Stipendienanträgen, für die Übernahme des externen Habilitationsgutachtens mit seinen wertvollen Verbesserungsvorschlägen und für das Angebot, meine Schrift in dieser Reihe zu veröffentlichen. Auch den beiden anderen Herausgebern der UaLG, Herrn Prof. Dr. GustavAdolf Lehmann und Herrn Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath bin ich für die Aufnahme in diese Reihe sehr verbunden. Großzügige Förderung hat dieses Projekt erfahren von Seiten der GörresGesellschaft, die mir ein Habilitationsstipendium hat zukommen lassen, sowie von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die mir ein Abschlußstipendium der Kalkhof-Rose-Stiftung bewilligt hat. Mein verbindlichster Dank gilt diesen drei Institutionen und insbesondere dem Präsidenten der Görres Gesellschaft Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Mikat, Frau Sibylle Kalkhof-Rose und dem Präsidenten der Mainzer Akademie Herrn Prof. Dr. Clemens Zintzen. Wärmsten Dank darf ich auch Herrn Prof. Dr. Gerhard Wirth aussprechen, der sich mehrfach der Mühe des Korrekturlesens unterzogen hat und dessen wohlwollenden Rates und Zuspruchs ich immer sicher sein konnte. Herr Oberstudienrat Hartmut Gastens hat mit bewährter Professionalität und Umsicht das Layout gestaltet. Auch ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Mayen, im Januar 2007

Silke Diederich

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

0.

Einleitung

1

0.1. 0.2. 0.3.

Thema Methode Stand der Forschung

4 8 10

1.

D a s A g r a r h a n d b u c h als Fachliteratur

11

1.1. 1.1.1. 1.1.1.1. 1.1.1.2. 1.1.2. 1.1.2.1. 1.1.2.2. 1.1.2.2.1. 1.1.2.2.2. 1.1.2.2.3. 1.1.2.2.4. 1.1.2.3.

Rationale Methodik CATO Technik - Ökonomie - Organisation Archaische Methodik und griechische Wissenschaft . . . . VARRO Praxistauglichkeit? Methodenreflexion: Die Landwirtschaft als ars Die Autorenliste Über Gegenstand und Umfang des Faches Landwirtschaft Ars an quid aliud! Technizität und Telos Grenzen der Technizität Die Disposition: Das Landgut als Mikrokosmos

11 13 15 22 22 25 25 25 28 30 35 36

1.1.3.

COLUMELLA

53

1.1.3.1. 1.1.3.2. 1.1.3.3. 1.1.3.4. 1.1.3.5. 1.1.3.6. 1.1.4. 1.1.4.1. 1.1.4.2. 1.1.4.3. 1.1.4.4. 1.1.5.

Columella und die Fachtradition Methodenreflexion: Zwischen Theorie und Praxis Agrartechnische Innovationen Ökonomie Führungsstil und Arbeitsorganisation Wirkung Ausblick: PALLADIUS Wirtschaftstypus Innovationen Autarkie? Methodik Fazit

55 58 62 62 64 66 69 71 73 73 74 76

1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3.

Zwischen Technik und Paratechnik Die mythische Denkform nach Ernst Cassirer Versuch einer Definition von "Magie" Wissenschaft und Magie in den Agrarhandbüchern

77 79 82 85

X

1.2.3.1. 1.2.3.2. 1.2.3.3. 1.2.3.4. 1.2.3.5. 1.2.4. 1.2.5.

Inhaltsverzeichnis

Kosmische Sympathie, Astrologie und Zeitmessung . . . . Heilkunde Zoologie, Zoogonie und Fortpflanzung Botanik und Pflanzenschutz Animismus Fazit und Auswertung Abschließende Betrachtung über Wissenschaft, Magie und Egozentrismus

87 105 124 143 147 149

2.

Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk . . .

156

2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4.

CATO: Zwischen Mündlichkeit und Literatur Mündlichkeit Sentenziöse Maximen Verhältnis zur Lehrschrifttradition Die Praefatio

156 156 161 163 167

2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.2.1.

172 172 179

2.2.2.2. 2.2.2.3. 2.2.2.4. 2.2.2.5. 2.2.3.

VARRO: Agrarwissenschaft als Inszenierung Sprache und Stil Die literarische Form Die Dialogform in De re rustica und die literarische Tradition Die Rahmenhandlungen Die Dialogschauplätze Die Rollenaufteilung Das Gesprächsklima Das Spiel mit der Fiktionalität

180 182 185 189 191 206

2.3. 2.3.1. 2.3.1.1. 2.3.1.2. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.3.1. 2.3.3.2. 2.3.3.3. 2.3.3.4. 2.3.3.5.

COLUMELLA: Didaktik, Propaganda, Poesie Die Prosa Didaktik und Propaganda Columellas Präsenz als Lehrer Mischung der literarischen Genera Buch X: Columella als Dichter Die literarische Tradition Ein unterschätzter Dichter Der kosmologische Strang Der poetologische Strang Humor

209 209 211 215 222 227 227 230 233 247 251

2.4.

A u s k l a n g : PALLADIUS

258

2.4.1. 2.4.2.

Die Prosa Das Carmen de insitione

258 264

2.5.

Fazit

270

154

Inhaltsverzeichnis

XI

3.

Das Agrarhandbuch als M e d i u m der Initiation in Habitus u n d W e r t e w e l t der landbesitzenden Eliten 272

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4.

CATO: MOS maiorum und Machtpolitik Vom Landedelmann zum Censor Die ethische und soziale Verortung der Landwirtschaft Ideal und Realität Catos gesellschaftspolitische Ziele

3.2. 3.2.1. 3.2.1.1. 3.2.1.2.

VARRO: MOS maiorum und Marktinteressen Der Autor und sein Adressatenkreis Varros Image Die Widmungsprooemien und ihre gesellschaftlichen Implikationen Die soziale Zusammensetzung der Gesprächskreise Der landaristokratische Habitus Stadt und Land - Gegenwart und mos maiorum Landleben und Zeitgeist Das Dekadenzmotiv in De re rustica Viehzucht im Zwielicht Varros Kulturentstehungslehre und ihre Funktion in De re rustica Moral oder Kommerz? Das Problem der pastio villatica Fazit und Ausblick: Varros Programm des mos maiorum

3.2.1.3. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.3.1. 3.2.3.2. 3.2.3.3. 3.2.3.4. 3.2.3.5. 3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.3.5.

. .

273 274 275 282 294 297 298 298 300 307 310 327 327 329 337

.

COLUMELLA: MOS maiorum und Standesdenken Der soziale Status des Autors und seiner Adressaten . . . . Sitten verfall und mos maiorum Altrömische Attitüde Rustikale Einfachheit und urbaner Komfort Columella als "engagierter Autor": Anspruch und Wirklichkeit

340 352 364 368 368 372 380 382 385

3.4.

N a c h k l a n g : PALLADIUS

395

3.4.1. 3.4.2.

Adressatenkreis Der ländliche Lebensstil: Wandel und Kontinuität

395 397

3.5.

Fazit

401

4.

Z u s a m m e n f a s s u n g und Schlußbetrachtung: D a s A g r a r h a n d b u c h als "polyphone" Gattung

404

Anhang:

D a s Dispositionsschema v o n V a r r o s De re rustica

.

410

5.

Literaturverzeichnis

420

6.

Stellenregister

448

0. Einleitung 0.1.

Thema

Wissenschaft ist niemals wirklich autonom und zweckfrei. Sie steckt immer inmitten eines komplexen Geflechts von kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren, die Einfluß nehmen auf die Auswahl ihrer Gegenstände, die Verbreitung ihrer Ergebnisse und oft sogar auf den methodischen Zugriff selbst. Das gilt natürlich auch und gerade für die römischen Handbücher über die Landwirtschaft, über ein Thema also, das höchste gesellschaftliche Relevanz besitzt. Diese hohe soziale Bedeutung läßt sich bereits an dem Befund ablesen, daß alle vier uns erhaltenen hier untersuchte Agrarhandbücher an schicksalhaften Wendepunkten der römischen Geschichte verfaßt worden sind: Catos (234149 v. Chr.) De agri cultura beim Aufstieg Roms zur Weltmacht, Varros (116 - 27 v. Chr.) De re rustica 37 v. Chr. in der Endphase der Republik, Columellas De re rustica unter Nero und Palladius' Opus agriculturae in der Spätantike. 1 Die Landwirtschaft ist damit die einzige naturkundliche Disziplin in Rom, über die uns Darstellungen von den Anfängen der römischen Prosa bis in die Spätantike hinein überliefert sind. Damit bietet sich dieses Fach als schlechthin exemplarisch an für einen diachronischen ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Vergleich, der zu ermitteln versucht, wie die Bearbeitung und Präsentation einer Disziplin - abgesehen vom rein fachtechnischen Fortschritt - von den jeweiligen zeitbedingten geistigen Stömungen und der individuellen Haltung des Autors abhängig ist, 2 bzw. wie wissenschaftlich-objektiv der Zugriff auf einen solchen Gegenstand wirklich ist und sein kann. Denn römische Agrarschriften sind weit mehr als Medien zur Vermittlung von Sachwissen zu einem festumrissenen fachlichen Thema. Sie sind darüberhinaus

Die Untersuchung konzentriert sich auf diese vier Arbeiten. Im Blick behalten werden dabei Vergils Georgica und Plinius' Naturalis historia, die aber nicht eigens Gegenstand dieser Arbeit sein werden. Die Naturalis historia ist eine enzyklopädische Sammelschrift und somit einem anderen Genre zugehörig (s. dazu Conte 1994, 67ff); verwiesen sei hier auf Valerie Naas: Le projet encyclopedique de Pline l'Ancien, Rom 2002 (Collection de l'Ecole Frangaise de Rome 303). Wie umgekehrt die römische Mentalität, Kultur und Politik von der Landwirtschaft geprägt ist, umreißt W. Richter: Der agrarische Hintergrund der römischen Kultur, in: Lebendige Lektüre, hg. v. P. Neukam ( = Klassische Sprachen und Literaturen 10), München 1977, S. 36-95.

2

Einleitung

literarische Gebilde aus der Feder begabter Autoren samt dem damit verbundenen ästhetischen Anspruch und den zugehörigen literarischen Traditionen. Sie sind zugleich Ausdruck der gesellschaftspolitischen Sonderinteressen und des Habitus einer ganz bestimmten Schicht, nämlich der landbesitzenden Senatorenschaft, die sich über die Landwirtschaft definiert. Außerdem streben sie immer wieder über das Banal-Sachliche hinaus nach einer ethischen Wertung und einer philosophisch-religiösen Durchdringung des bäuerlichen Handlungsraumes im Blick auf das Ganze einer Lebens- und Weltordnung. Untersucht wird hier also das Spannungsfeld zwischen fachlichem Gegenstand, literarisch-ästhetischer Form und sozio-kulturellem Umfeld. Dementsprechend siedelt diese Darstellung im Grenzbereich von Philologie/Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Mentalitätsgeschichte/historischer Anthropologie/ Kultursoziologie 3 mit gelegentlichen Seitenblicken auf Archäologie und Religionsphänomenologie. Denn unsere vier Lehrbücher lassen mehrere Ebenen der Lektüre zu, von denen drei hier untersucht werden sollen: Das Agrarhandbuch läßt sich lesen 1. als Sachbuch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Magie 2. als literarisches Werk vor dem Hintergrund einer Gattungs- und Bildungstradition 3. als moralistisch getönte Selbstdarstellung einer Elite, ihrer Werthaltung, ihres Habitus und ihres gesellschaftlichen Anspruchs. Die philosophisch-religiöse Dimension dieser Werke in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit kann hier nur angedeutet werden und wird Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. zu 1. Das Agrarhandbuch als Fachschrift Was in einer Epoche als wissenschaftlich empfunden wird und was nicht, unterliegt dem historischen Wandel. Die Kriterien für Wissenschaftlichkeit werden dabei nicht nur geprägt durch innerfachliche Fortschritte und Paradigmenwechsel sondern auch durch die eingangs genannten außerwissenschaftlichen Rahmenbedingungen. Dieses Spannungsfeld soll im ersten Kapitel näher betrachtet werden. Untersucht werden dabei:

Solche Grenzgänge wurden angeregt von Christian Meier bei Ulrich Raulff: Anthropologie im Kulturvergleich. Programm eines wissenschaftlichen Grenzgängertums. Ein Gespräch mit Christian Meier, in: Raulff 1987, 163-182, hier: 175f.

Thema

3

1. Rationales technisch-ökonomisches Denken zwischen Theorie und Praxis, zwischen Bücherwissen und Pragmatik in Reaktion auf sich wandelnde sozio-ökonomische und politische Rahmenbedingungen und in Auseinandersetzung mit den aktuellen geistigen Strömungen. 2. Magisches Denken samt der Grauzone zwischen Wissenschaft und Paratechnik, das analysiert und von seinen ontologischen Grundlagen her verstanden werden soll. Abschließend sollen einige Schlußfolgerungen gezogen werden über die Rezeptionsbedingungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Irrtümern. zu 2. Die literarische Gestaltung Fachspezialistentum in der Antike, speziell in Rom, ist gesellschaftlich prekär, da ihm das doppelte Odium des Banausenhaften und des Fremdländischen anhaftet. Besonders heikel aber ist die Situation für einen Agrarschriftsteller. Denn er vertritt eine dezidiert kommerziell ausgerichtete Disziplin, die in bedenklicher Nähe zu den artes sordidae steht. 4 Dies alles läßt das Agrarhandbuch zu einem problematischen Genre werden. Diese soziale Randstellung heischt nach Abgrenzung von der Gattung des Sachbuches und nach literarischer Aufwertung des behandelten Gegenstandes. Auf diese Herausforderung reagieren die Autoren nun ganz unterschiedlich, je nach Maßgabe der kulturellen Entwicklung ihrer Epoche und der Erwartung ihrer Leser. Das sich daraus ergebende komplexe Verhältnis zur literarischen Tradition samt den Gattungsimplikationen und den von ihnen evozierten Erwartungshorizonten soll hier untersucht werden. Speziell wird darauf zu achten sein, wie die Möglichkeiten

Für Aristoteles metaph. 1,1 981bl7-982a3 besteht eine Hierarchie der Techniken von denen, die zur Sicherung der primitiven Lebensbedürfnisse dienen, hinauf zu den höheren (s. Meißner 1999, 48f). In dieser Unterteilung nähme die Landwirtschaft, die j a der Nahrungsbeschaffung dient, eine inferiore Stellung ein, auch wenn sie unter den Erwerbsmöglichkeiten immerhin einen privilegierten Rang hat, da sie als einzige mit der natürlichen Ordnung der Dinge im Einklang steht. Gemäß einer extremen stoischen Position, die nur Fächer gelten läßt, die nicht dem Profit dienen (Sen. epist. 88, besonders 21-23), geriete die ganz klar auf Erwerb ausgerichtete Landwirtschaft in die Nähe der artes vulgares. Auch der fortschrittsoptimistische Poseidonios nimmt der Technik gegenüber eine reservierte Haltung ein, insofern er der Auffassung ist, daß der Weise zwar Erfindungen machen könne, es aber unter seiner Würde sei, sie selbst anzuwenden (s. Sen. epist. 90,25). Selbst Archimedes soll seine Geringschätzung gegenüber der Mechanik geäußert haben lt. Plutarch Marcellus 17,6; zur Technikablehnung in der Antike s. auch Olof Gigon: Plinius und der Zerfall der antiken Naturwissenschaft, in: Studien zur antiken Philosophie, Berlin - New York 1972; Gara 1992. Noch Cassiodor inst. l,28,5f empfiehlt die Landwirtschaft (und besonders die Lektüre des Palladius) als Beschäftigung für die Mönche, deren Talent für die Dialektik nicht ausreicht.

4

Einleitung

des gewählten Genres ausgeschöpft werden zur Präsentation des Stoffes, zur Selbstdarstellung, zum Abstecken des Leserkreises und auch zur Leserlenkung. zu 3. Die ethische und soziale Verortung der Landwirtschaft Über seinen fachlichen Inhalt hinaus wird das Agrarhandbuch zum Vehikel einer Ideologie, 5 die eng mit dem Land und der Vätersitte verbunden ist. Diese Weltanschauung prägt einen eigenen Lebensstil aus, der die Gruppe der traditionsbewußten, sich als Landbesitzer definierenden Senatoren und ihrer Sympathisanten kennzeichnet. So gilt das dritte Kapitel der Beschreibung der in diesen Werken sich manifestierenden Weltanschauungen mit ihren inneren Werthaltungen und ihren äußeren Attributen. Deren ideengeschichtliche Herkunft einerseits aus den griechischen Philosophien vom „einfachen Leben" und andererseits aus dem römischem Programm des mos maiorum sowie ihre Entwicklung und Weiterfuhrung soll diachronisch verfolgt werden. Untersucht werden soll aber auch, wie die Autoren die Ideologien für ihre gesellschaftspolitischen und persönlichen Zwecke nutzen, und welche Widersprüche dabei auftreten, einerseits in der inneren Folgerichtigkeit der weltanschaulichen Entwürfe selbst und andererseits im Vergleich von Anspruch und Realität. Auch die Frage, inwieweit den Autoren selbst diese Widersprüche bewußt waren, und welche Versuche zu deren Verschleierung sie gegebenenfalls unternommen haben, wird uns beschäftigen.

0.2. Methode Die vier untersuchten Werke bilden eine Art diachroner Reihe, die es erlaubt, Wandel und Konstanten in Denken und Mentalität 6 der römischen Landaristo-

Der Begriff „Ideologie" wird hier im wertfreien, weiten Sinne verwendet als „System von Denkweisen und Wertvorstellungen über den Menschen und die Gesellschaft". „Mentalität" im weiteren Sinne verstanden als ein System der kollektiven affektiven, rationalen und ethischen Einstellungen und der damit verbundenen Verhaltensweisen einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Nation oder eines Kulturkreises in inhaltlicher (was wird gedacht/geglaubt/gefühlt/getan usw.) wie in struktureller Hinsicht (wie, d. h. in welchen Kategorien, Metaphern und Symbolen manifestiert sich das Denken) betrachtet (vgl. Chartier 1987, speziell 78; Peter Burke: Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Raulff 1987, 127-145, hier: 127). Zur Geschichte des Begriffs und seiner ideologischen Instrumentalisierungen s. Ulrich Raulff: Die Geburt eines Begriffs. Reden von „Mentalität" zur Zeit der Affäre Dreyfuß, in: id. 1987, 5068.

Methode

5

kratie und ihrer literarischen Manifestationen anhand eines konstanten Themas und ein und derselben Gattung zu untersuchen.7 Auch die synchronischen Verflechtungen dieser Texte mit den sozialen, politischen, und kulturellen Gegebenheiten ihrer Zeit sollen, soweit im Rahmen dieser Arbeit möglich, zumindest in großen Zügen dargestellt werden. 8 Nun ist aber natürlich das Denken jeder der untersuchten Autorenpersönlichkeiten mehr als die Summe seiner synchronischen und diachronischen Determinanten. Jeder besitzt trotz aller Prägung durch die gesellschaftlichen Konventionen des Fühlens, Denkens, Sprechens und Handelns ein unverwechselbar eigenes Profil, eine markante Identität. Man erkennt schnell, daß diese von De Man und seinen Epigonen totgesagten Autoren quicklebendig sind: Sie, vor allem Cato und Varro, haben ihre Persönlichkeit, oder besser: ihr idealisiertes Selbstbild, das sie der Nachwelt zu übermitteln trachteten, unauslöschlich in ihre Werke eingeschrieben; sie haben sich selbst literarische Denkmäler gesetzt in einer Weise, die es unmöglich werden läßt, sie zu ignorieren. Diese Selbstdarstellung des Autors, wie sie in den Werken inszeniert wird, ist natürlich nicht zu verwechseln mit seiner „wahren" Persönlichkeit; doch auch die Art, wie jemand gesehen werden möchte, sagt auf einer anderen Ebene viel über seine Mentalität (und die seines Publikums) aus. Diese Arbeit soll also, bei aller Anerkennung der Wichtigkeit von sozialem Kontext und Kommunikationssituation, auch die Person und die persona des Autors nicht vernachlässigen. 9 Aus der Komplexität dieses Themas ergibt sich ein methodischer Eklektizismus, der sich von vielen Seiten inspirieren läßt, aber keiner bestimmten Theorie sklavisch folgt. Der Stoff bestimmt die Auswahl des methodischen Werkzeugs und nicht umgekehrt.

„Sicherlich müssen die herangezogenen Quellen sich chronologisch staffeln, eine Zeitreihe bilden, aber sie müssen derselben Gattung angehören. Denn die Gattung prägt immer die Aussage mit, und diese Mitprägung ist nur dann zu eliminieren, wenn man sie als gleich in allen untersuchten Quellen unterstellen kann." (Rolf Sprandel: Erfahrungen mit der Mentalitätengeschichte, in: Raulff 1987, 97-113, hier: 101). Letztere Aussage wird allerdings noch zu überprüfen sein. Zu diesem Modell in der intellektuellen Geschichte oder Kulturgeschichte s. Chartier 1987, 92. Ungeachtet der alten Gegensätze zwischen dem „soziologischen" Marc Bloch, der vom kollektiven Bewußtsein ausgehend diejenigen Logiken untersuchte, die den Verhaltensformen zugrundeliegen und die am wenigsten bewußt sind, und dem „existentialistischen" Lucien Febvre, der von den bewußten Ausdrucksformen des Menschen ausging und suchte, wo in der Psychologie des Subjekts die Brüche im Gleichgewicht zwischen den geistigen Vorstellungen und den Affekten lagen; s. dazu Andre Burguiere: Der Begriff der „Mentalitäten" bei Marc Bloch und Lucien Febvre: zwei Auffassungen, zwei Wege, in: Raulff 1987, 33-49, hier: 40f; 48.

6

Einleitung

Einige aufgenommene wertvolle Anregungen und Denkanstöße: Für Teil 1 hat die Debatte um Magie und Rationalität vor allem in den 60er und 70er Jahren interessante Aspekte zu Tage gefördert; diese Diskussion ist aber heute teilweise in einer soziologisch-semasiologischen Sackgasse steckengeblieben, in der man zwar die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und einige Sonderfälle der Magie beschreiben kann, aber keinen inhaltlichen Zugang zu den Eigenarten dieses Denkens findet, der für unsere Fragestellung fruchtbar wäre. Einen Ausweg bietet der Rückgriff auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, wo im zweiten Band die mythische Ontologie, die auch hinter den magischen Anweisungen steht, beschrieben wird. 1 0 Sie ermöglicht es, magische und paratechnische Vorstellungen als Manifestationen eines pararationalen Denksystems zu verstehen und zu beschreiben. Als Korrektiv zu Cassirers evolutionistischem Ansatz, den man heute so wohl nicht mehr teilen wird, ist Kurt Hübners wichtige Arbeit Die Wahrheit des Mythos mitzubedenken. Auch Mircea Eliades Religionsphänomenologie bietet wichtige Informationen zum Verständnis der Eigenart dieses Denkens. Für Teil 2 eröffnet die Rezeptionsästhetik wichtige Perspektiven, vor allem Wolfgang Isers Theorie des impliziten Lesers 11 und die gattungstheoretischen Ansätze des an ihn anknüpfenden Gian Biagio Conte (1994) mit dem Konzept des antizipierten Rezipienten. Seit kurzem ist erfreulicherweise speziell die Frage nach den fachwissenschaftlichen Gattungen stärker in den Blick der Forschung gerückt, vor allem in den Sammelbänden von Kulimann/Althoff/Asper 1998, Horster/Reitz 2003 und 2005 sowie Fögen 2005. Allgemeines zur Gattungsfrage trägt auch Conte 1994 bei (in seinen Untersuchungen zu Plinius und Lukrez) mit seiner Sicht auf die literarischen Gattungen als literarische Strategien, vermittels deren die Weltsichten und Weltbilder, stets kulturell vorgeprägt, wie sie sind, in sprachlicher Form dargestellt und vermittelt werden können. 12

10 11

12

S. dazu meine Vorarbeiten in Verf. 2002. Vor allem Wolfgang Iser: Der implizite Leser, München 1972; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, bes. 144-207. „Genres are matrixes of works, to be conceived not as recipes but as strategies; they act in texts not ante rem or post rem but in re. They are like strategies, inasmuch as they are procedures that imply a response, an addressee as an integral part of their own functioning, a precise addressee recognizable in the very form of the text. Every genre is a model of reality which mediates the empirical world" (Conte 1994, 112). „In fact, reality is nothing but a totality of perceptions determined by cultural codes and is therefore itself a construction, even if one at a different level from literature. The empirical world, in order to be perceived, must of necessity be translated into something it is not - into a model of reality, endowed with a meaning and therefore with a form. Genre functions as a mediator, permitting such models of selected reality to enter into the language of literature; it gives them the possiblity of being 'represented'" (Conte 1994, 125).

Methode

7

Zur Lehrdichtung hat Effe 1977 Grundlegendes erarbeitet, insbesondere mit seinem Begriff der „Transparenz" des sachlichen Stoffes für moralische und philosophische Ideen, die hinter der fachtechnischen Oberfläche vermittelt werden, was sich, wie wir sehen werden, auch auf Prosaabhandlungen übertragen läßt. Für die spezielle literarische Situation des Agrarhandbuches hat auch die Oralitätsforschung 13 einige wertvolle Impulse gegeben. Für Teil 3 (wie teilweise auch schon für Teil I) finden sich hilfreiche Kriterien zur Erfassung der mannigfaltigen Einwirkungen des sozialen Umfelds bei dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Aus seinen Untersuchungen werden hier - selbstverständlich mit der gebotenen Behutsamkeit und ideologiekritischen Distanz - einige Gesichtspunkte aufgegriffen, die sich als fruchtbar für unsere Fragestellung erweisen. 14 Obschon Bourdieus Untersuchungen aus Erhebungen in der französischen Gesellschaft der sechziger lahre des 20. Jahrhunderts datieren, ist es ihm gelungen, einige überzeitliche Konstanten herauszuarbeiten, die sich teils in ähnlicher, teils in durch die spezifische historische Situation variierter Form auch in der römischen Gesellschaft feststellen lassen: Einige der Methoden, mit denen sich Machteliten gegenüber anderen, vor allem gegenüber konkurrierenden Aufsteigern, distinguieren, sich dabei aber bemühen, diese Formen der Diskriminierung zu verschleiern und ihnen den Anschein einer moralischen und quasi naturgegebenen Legitimität zu geben, bleiben über lange Zeit hin recht stabil. Daher sollen hier vorab ein paar Grundbegriffe dieser Theorie, die für die folgende Untersuchung durchgängig relevant sind, kurz erläutert werden (weitere Erläuterungen erfolgen, soweit nötig, an Ort und Stelle): Bourdieu unterscheidet das Gesamtkapital eines Individuums bzw. einer sozialen Klasse in ökonomisches, kulturelles (Bildung, Wissen) und soziales Kapital (Prestige, Beziehungen), die jeweils ineinander konvertierbar sind. 15 In ihrer Gesamtheit prägt ihr Besitz bzw. ihr Mangel den kulturellen Geschmack einer sozialen Klasse, wie er sich im Habitus, also dem Erzeugungsprinzip und Klassifikationssystem von Formen sozialer Distinktion, manifestiert, was ein verläßliches Erkennungsmerkmal der Angehörigen der jeweiligen Schicht abgibt, die sich

13 14

15

Basisarbeit leistet für unser Thema Stoll 2001. In der Klassischen Philologie hat bereits etwa Thomas Schmitz diese Theorie, angewandt auf das Phänomen der sogenannten zweiten Sophistik, fruchtbar gemacht, s. Thomas Schmitz: Bildung und Macht: Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997 (Zetemata 97). Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: R. Kreckel (Hg.): Soziale Welt, Göttingen 1983, Sonderbd. 2: Soziale Ungleichheiten, 185-198.

8

Einleitung

damit von anderen Schichten distinguieren. 16 Wir werden sehen, daß die Frage, ob die Autoren diese Strategien bewußt und zynisch als gezielte Propaganda eingesetzt haben, oder aber in naiver Gläubigkeit an die interessenfreie Richtigkeit und unverbrüchliche Gültigkeit der eigenen Weltordnung, bei jedem Autor gesondert und differenziert gestellt werden muß, wobei der jeweilige geistige Horizont und die Fähigkeit zur Selbstreflexion maßgeblich ist, so daß meist keine einfache Antwort gegeben werden kann. Zur Einordnung der Mos-maiorum-ldeo\ogie und den Methoden ihrer Tradierung bietet Assmanns Konzept vom kulturellen Gedächtnis interessante Denkanstöße. 17

0.3. Stand der Forschung Eine derartige diachronisch vergleichende Arbeit zu den Agrarhandbüchern existiert bislang nicht. Martin 1971 kommt dieser Konzeption mit seiner wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Untersuchung der landwirtschaftlichen Autoren von Cato bis Columella am nächsten, verfolgt aber eine andere Fragestellung und einen ganz anderen methodischen Zugriff. Autorenübergreifende Untersuchungen zur römischen Landwirtschaft erfolgten ansonsten bislang überhaupt im wesentlichen unter den Gesichtspunkten der Agrartechnik und -Ökonomie im engeren Sinne, 18 sowie vor allem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 19 Ein systematischer Vergleich der übrigen nichtwissenschaftlichen Implikationen und Hintergründe dieses Faches in ihrem historischen Wandel, gefordert von A.D. Leeman 1987, ist bislang aber noch nicht ausführlich und systematisch erfolgt. Einen kurzen Überblick findet man bei Richter 1977. Griechische und römische Quellentexte zu den verschiedenen Sichtweisen des Landlebens seit Homer haben zusammengestellt Kier 1933 und in englischer Übersetzung Kenneth D. White: Country Life in Classical Times, London 1977. Cossarini geht in einer Reihe von Artikeln die einzelnen Schriften unter ideologiegeschichtlichem Ansatz durch (1976-77 a und b; 1977; 1977-78; 1978; 1979;

16

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19

S. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Übers, v. Bernd Schwibs/Achim Russer), Frankfurt a. Μ 1 0 1998 (original: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979); zur Definition des Begriffes „Habitus" s. d. S. 277ff. Assmann 3 2000. Von der Vielzahl von Arbeiten zu diesem Thema seien hier nur einige wichtige erwähnt: Gummerus 1906; Brockmeyer 1968; White 1970; 1973; Kaltenstadler 1978; Robert 1985; Gabba/Pasquinucci 1979; Flach 1990; Serge 1993; Marcone 1997. Auch hier können nur einige Beispiele angeführt werden Jaczynowska 1962; Martin 1971; Robert 1985; De Martino 1985; Finley 3 1993. S. im übrigen Dieter Flach: Bibliographie zur Agrargeschichte, Paderborn 1991.

Stand der Forschung

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1980). Robert 1985 bezieht kulturgeschichtliche Gedanken in die Darstellung der Landwirtschaft ein, behandelt die Agrarhandbücher aber nur am Rande. Zum ländlichen Lebensstil der römischen Oberschicht, speziell zur Villenkultur, sind archäologisch-kulturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten erschienen, etwa Mielsch 1987, Schneider 1995 und in Form eines Lexikons Weeber 2000. Die Prooemien wurden untersucht in Santini/Scivoletto 1992. Christmann 2003 bietet eine Untersuchung zum Publikum der römischen Agrarschriften. Zu relevanten Einzeluntersuchungen sei auf die Literaturangaben in den jeweiligen Kapiteln verwiesen.

1. Das Agrarhandbuch als Fachliteratur Sind die römischen Agrarhandbücher wirklich Fachliteratur und, wenn ja, auf welchem wissenschaftlichen Niveau stehen sie? Das ist eine grundlegende Frage, die vor jeder weiteren Interpretation erst einmal zu klären ist. Zwar stammen alle vier hier zu behandelnden Werke, anders als ihre griechischen Vorläufer, 20 mitten aus der landwirtschaftlichen Praxis, doch die modernen Urteile über deren praktischen Wert sind sehr widersprüchlich. Sie reichen vom Vorwurf weltfremder Stubengelehrsamkeit oder rückwärtsgewandter Utopie bis hin zur Anerkennung einer erstaunlichen Modernität. 21 Diese Divergenzen lassen bereits ahnen, daß es nicht unproblematisch ist, an antike Sachtexte die modernen Vorstellungen von Effektivität, Rationalität und Wissenschaftlichkeit anzulegen. Hier droht zum einen die Gefahr, den alten Texten vorschnell moderne Konzepte von Wissenschaftlichkeit zu unterstellen, zum anderen, die fremdartigen, vom heutigen Wissenschaftsverständnis abweichenden Vorstellungen pauschal als obsolet abzuqualifizieren. Beides hindert daran, das antik-römische Denken aus sich heraus zu verstehen und in seiner Eigenheit zu begreifen. Eine besondere Herausforderung stellt dabei das für heutige Lesererwartungen befremdliche Nebeneinander von profundem Erfahrungswissen und abergläubischen Vorstellungen dar, die sich immer wieder unter die pragmatischen und sachgemäßen Anweisungen mischen. Daher soll in einem ersten diachronischen Durchgang die „helle", rationale Seite bei der Behandlung technischer, ökonomischer und organisatorischer Fragen betrachtet werden. Hierbei soll nach der umstrittenen Praxistauglichkeit 20 21

S. White 1970, 18. Es kann in dieser Arbeit natürlich nicht darum gehen, die alte Streitfrage nach dem „Primitivismus" oder dem „Modernismus" der antiken Landwirtschaft wieder aufzurollen. Eine Übersicht über den Forschungsstreit zwischen „Modernisten" (wie Michael Rostovzev), die keine fundamentalen Unterschiede zwischen antiker und moderner „kapitalistischer" ökonomischer Mentalität und Praxis sehen (mit einem hohen Maß an reinvestiertem Kapital) und „Primitivisten" (wie Carl Bücher und Moses Finley), die eine solche Bedeutung von Rationalität in der antiken Ökonomie hier noch nicht annehmen, sondern von einer „self-sufficiency" der antiken OikosWirtschaft ohne nennenswerten ökonomischen Austausch ausgehen, bieten Andrea Carandini: Columella's Vineyard and the Rationality of the Roman Economy, Opus 2 (1983), 177-204 und knapper Love 1986, lOOff. Man hat sich heute größtenteils auf eine vermittelnde Stellung verständigt (wie auch schon Max Weber).

Rationale Methodik

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der Schriften gefragt werden, sowie nach Innovationsfreudigkeit, Reflexionsniveau und Methodenbewußtsein, nicht zuletzt auch in Auseinandersetzung mit der griechischen und römischen Fachtradition. Die jeweiligen agronomischen Konzepte sollen dabei auch verstanden werden als Reaktion auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen, auf aktuelle wissenschaftliche Diskurse und intellektuelle Strömungen sowie auf die Interessenshorizonte ihrer Zielgruppen. Kontinuität und Wandel des fachlichen Niveaus wie der unternehmerischen Mentalität sollen nachgezeichnet werden. Sodann soll - was bislang systematisch noch kaum erfolgt ist - die „dunkle" Seite der landwirtschaftlichen Lehre ausgeleuchtet werden, die Grauzone zwischen Wissenschaft und Magie, zwischen Technik und Paratechnik mit ihren verschiedenen Abtönungen und Zwischennuancen. Erst beide Seiten zusammen ergeben die Eigenart römischen Denkens.

1.1. Rationale Methodik 1.1.1. Cato Die Punischen Kriege veränderten die ökonomischen Rahmenbedingungen der römischen Landwirtschaft einschneidend: 22 Fruchtbare Gegenden Mittelitaliens mit ehemals guter Infrastruktur waren verwüstet, und die männliche Landbevölkerung um die Hälfte dezimiert. 23 Andererseits profitierte Rom durch Landkonfiskationen, besonders im Süden. Zudem flössen Kapitalströme aus den eroberten Gebieten im Osten, die von Unternehmern in Land investiert werden konnten, und waren zahlreiche Kriegsgefangene als billige Sklaven verfügbar. Der gestiegene Lebensstandard einzelner Kriegsprofiteure führte zu einer erhöhten Nachfrage nach speziellen hochwertigen Agrarprodukten, während Getreide zunehmend aus den eroberten Provinzen bezogen wurde. 2 4 Auf diese veränderten Produktions- und Marktbedingungen reagiert Catos (234-149 v. Chr.) Buch: 25 Als Pionier vollzieht dieser aevi confessione opti-

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S. etwa Rostovzev 1953, 14ff; White 1973, 444ff. S. Castello 1973, 260. S. z.B. Cie. Verr. II 2,5. ille M. Cato Sapiens cellam penariam rei publicae nostrae, nutricem plebis Romanae Siciliam nominabat. Über den Zustand des Werkes und seine Entstehungszeit ist viel spekuliert worden. Es dürfte sich um ein Spätwerk handeln: Arcangeli 1927, 75 vermutet eine Entstehung vor den praeeepta ad filium, Boscherini 1959, 145ff in der Zeit relativer Muße nach der Censur i. J. 184, nach den Komödien des Plautus mit ihren dokumentierten zahlreichen Gräzismen. Recht überzeugend setzt Thielscher 1963, 14f die Schrift präziser auf die Zeit nach 164 an, da Cato selbst betont hat, daß bis zu seinem 70. Lebensjahr keine seiner villae gekalkt sei (Plutarch Cat. ma. 4,5; Gell. 13,24,1),

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Das Agrarhandbuch als Fachliteratur

mus ac sine aemulo agricola26 zumindest im Ansatz den Wandel von der alten Misch- zur modernen Schwerpunktwirtschaft. Was er in De agri cultura beschreibt, ist ein für seine Zeit hochmoderner, dezidiert kommerziell ausgerichteter Betrieb 27 mit deutlichem Schwerpunkt auf Wein- und Ölgewinung, wozu noch die Produktion für den gehobenen Bedarf 28 kommt. Cato wollte mittels der neuen hellenistischen Wirtschaftsform die Konkurrenzfähigkeit der italischen Landwirtschaft auf dem außeritalischen Markt und damit die materielle Basis der senatorischen Führungsschicht sichern. Seine Agrarschrift richtet sich daher nicht an Neulinge, sondern an Personen aus dem Stand der wohlhabenden Landbesitzer, die das Metier von Kindesbeinen an kennen 29 und sich nun auf die neuen Produktionsformen umstellen wollen. Detaillierte landwirtschaftliche Vorkenntnisse, vor allem über den traditionell betriebenen Getreideanbau, werden daher vorausgesetzt. 30

was aber in agr. 128 beschrieben wird (Astin 1978, 190 äußert jedoch Zweifel, ob diese Aussage wörtlich zu nehmen sei). Einige Philologen vermuten in De agri cultura sogar ein unvollendetes, postum veröffentliches Spätwerk (in diesem Sinne interpretierte man Var. rust. 1,2,28 in magni illius Catonis libro qui de agri cultura est editus): So Mazzarino 1952, 55ff; Goujard 1975, XXXIII; A. D. Leeman 1963, 21. Thielscher 1963, 16 vermutet den Herausgeber gar in Catos zweitem Sohn; besonders spitzfindig ist Hörle 1929, 5ff mit seiner inzwischen widerlegten Hypothese über verschiedene Bearbeitungsschichten. Eine Übersicht über die verschiedenen Theorien einer postumen Herausgabe bieten Richter 1978, 10 Anm. 17; Schönberger 1980, 425ff.

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Andere sehen in dem Werk eine Art Notizbuch mit über Jahre hinweg gesammelten und daher vielfach ungeordneten Gedanken und Erfahrungen, z.B. E. Hauler: Zu Catos Schrift über das Landwesen, Progr. Wien 1896; Gummerus 1906, 16f; Birt 1915, 928; Thielscher 1963, 16; weitere Vertreter dieser Theorie s. Richter 1978, 10 Anm. 18. Richter 1978 pass, selbst nimmt weitreichende Interpolationen durch einen späteren, weniger sachkundigen Bearbeiter an (Richters Argumentation überzeugt dabei weitgehend, soweit sie die Doubletten betrifft, doch die radikale Tilgung des letzten Teils dürfte wohl überzogen sein). Astin 1978, 195ff versucht einen Kompromiß zwischen beiden Lagern und sucht den Grund für die lockere Disposition neben dem angeblichen Fehlen einer Gliederungstradition, auf die Cato habe zurückgreifen können, auch in der nicht mehr erfolgten Endredaktion, was wiederum Interpolatoren ermutigt habe; ähnlich Sblendorio Cugusi/Cugusi 1996, 168 mit leichten Modifikationen. Gegen die These von der Unvollendetheit wie gegen die Notizbuchtheorie spricht jedoch das ausgefeilte Prooem, welches das Buch als ein zur Veröffentlichung konzipiertes Werk ausweist. So Plin. nat. 14,44. S. etwa Martin 1971, 85ff; Flach 1990, 192; El Bouzidi 2003. Hühner-, Gänse- und Taubenmast (891); Fischzucht (120). 3,1 Prima adulescentia patrem familiae agrum conserere studere oportet. S. Brehaut 1933, vii; Richter 1978, 149.

Rationale Methodik

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1.1.1.1. Technik - Ökonomie - Organisation Großen Wert legt Cato auf „moderne" Maschinen, wie die torcularia, deren Anschaffung er u. a. das ganze Kapitel 18 widmet. Wie sehr er darin seiner Zeit voraus war, belegt der archäologische Befund. 31 Die Ökonomie ist Catos Hauptaugenmerk: Sparsamkeit und Gewinnmaximierung in Verbindung mit einem höchstmöglichen Grad an Selbstversorgung sind dabei seine Grundprinzipien: Seine Maxime patrem familias vendacem, non emacem esse oportet (2,7) wird zum geflügelten Wort. 3 2 Die Rentabilität einzelner Sparten der Landwirtschaft staffelt er bereits unter Verrechnung von Aufwand und Gewinn. 33 Doch geht es ihm dabei noch vor allem darum, die Investitionsseite möglichst gering zu halten, 34 wohingegen Varro bereits im Falle von sicheren und hohen Gewinnen auch hohe Investitionen befürworten wird. 35 Doch Catos Maxime beweist schon eine „rigorose Ausrichtung auf den Absatzmarkt". 36 Das gilt vor allem für den fundus suburbanus (7,Iff). Aber auch die in 84-86 beschriebenen Kuchen dürften für den Markt bestimmt sein, 37 wie er übrigens erst seit ca. 170 v. Chr. in Rom existiert. 38 Daher ist eine gute Infrastruktur mit nahen Absatzmärkten und günstiger Verkehrslage ein wichtiges Kriterium beim Gutskauf (1,3). Zwecks Beobachtung der Preisentwicklung sorgt Cato für ausreichende Speicherkapazität (3,2). Eine Art „kapitalistisches" unternehmerisches Denken mit einer ausgeprägten Marktorientierung ist also in embryonaler Form bereits erkennbar. 39 Die vermehrten Regierungsaufgaben für Senatoren im nunmehr stark expandierten römischen Reich führten vermehrt zu einer absentistischen Wirtschaftsform, bei welcher der Eigentümer nur gelegentlich zur Inspektion auf seinen Gütern

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Etliche Exemplare aus der Kaiserzeit sind erhalten, aber nur eine aus der Zeit unmittelbar nach Cato, s. Reggi 1999, 137. S. Plin nat. 18,31, Turranius Niger ap. Diom. gramm. I 368, 26f (s. Meißner 1999, 110). Zum Aspekt der Rentabilität bei Cato s. ausführlich Gummerus 1906, 20ff (zu Selbstversorgung und Zukauf ibid. 33ff) und E. Maroti: Zur Frage der Warenproduktion in Catos De agri cultura, AAntHung 11 (1963), 215-234. 1,7 praedium quod primum siet, si me rogabis, sie dicam: de omnibus agris optimoque loco iugera agri centum, vinea est prima, vel si vino multo est; secundo loco hortus irriguus; tertio salictum; quarto oletum; quinto pratum; sexto campus frumentarius; septimo Silva caedua; octavo arbustum; nono glandaria silva. 1,6 scito idem agrum quod hominem, quamvis quaestuosus siet, si sumptuosus erit, relinqui non multum. S. Sabattini 1977, 200. Brockmeyer 1968, 75; s. dazu El Bouzidi 2003, 188ff. So vermutet plausibel Dalby 1998, 21. S. Plin. nat. 18,107. S. Love 1986, 116f.

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erscheint und die Verwaltung einem vilicus überträgt. 40 Dazu bedurfte es einer straffen Betriebsführung. 41 Die Kontrollaufgaben des Gutsbesitzers (cap. 2; 4), die unter dem Motto frons occipitio prior est stehen (4), 42 mit strenger Effizienzprüfung, detaillierter Inspektion und rigider Zeitkalkulation erfordern eine große Sachkompetenz und, mit zunehmender Zahl der Güter, auch immer mehr zeitlichen Aufwand. Da dieser Wirtschaftstypus zudem stark auf Kompetenz und Verläßlichkeit des vilicus gegründet ist, 43 hat man gezweifelt, ob tatsächlich viele römische Landgüter nach Catos Vorstellungen geleitet worden sind. 44 Dem relativ hohen Organisationsgrad seines Betriebes entspricht ein differenzierter Arbeitskräfteeinsatz mit spezialisierten Sklaven. 45 Zur Minimierung der laufenden Betriebskosten empfiehlt Cato einen relativ geringen Grundstock von 13 bzw. 16 gutseigenen Sklaven, daneben für die saisonalen Stoßzeiten diverse Formendes „Outsourcing", wie Anwerbung von Tagelöhnern, Verträge mit redemptores, zeitweise Verpachtung eines Ertragszweiges oder eines gesamten fundus an einen redemptor partiarius auf Zeit, Verkauf der noch nicht eingebrachten Ernte und Werkverdingung von Handwerkern. 46 Für die optimale Auslastung der vorhandenen Sklavenschaft auch an Schlechtwetter- und Feiertagen erstellt er einen ausgeklügelten Plan. 47 Der Sinn für Zeitmanagement ist also bei Cato bereits gut entwickelt.

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S. Rostovzev 1953, 18f. Caprogrossi Colognesi 1999 sieht den Beginn dieses Prozesses bereits in der Mitte des 4. Jh v. Chr. 41 Brockmeyer 1968, 74; s. auch Christmann 2003, 134. Aus diesem Grund solle der Gutsherr gut bauen (cap. 4), damit er sich oft gerne auf dem Landgut aufhalte, was die Fehlerquote senke und den Gewinn steigere. S. Astin 1978, 246. S. Astin 1978, 246. S. Martin 1971, 90; El Bouzidi 1999. Literatur zur ländlichen Sklavenarbeit s. Bibliographie zur antiken Sklaverei, hg. v. Joseph Vogt und Heinz Bellen. Neu bearbeitet von Elisabeth Herrmann in Verbindung mit Norbert Brockmeyer, Bochum 1983, 2 2 I f f ; s. auch Weeber 2000, 105; 107; bei Cato s. Sblendorio Cugusi/Cugusi 1996, 172f (mit Anm. 142 und 149), 177ff. Begriffsanalyse für das diesbezügliche Wortfeld bei Cossarini 1979. S. auch Diederich: Cato, Varro, Columella und Palladius in: Handwörterbuch der antiken Sklaverei (HAS), hrsg. v. Heinz Heinen u.a., Stuttgart 2006, sowie demnächst ead.: Sklaverei in den römischen Agrarhandbüchern, in: Tagungsband zur Konferenz des Trierer Graduiertenkollegs, 2007. S. dazu Oehme 1988, 45ff; auch Brockmeyer 1968, 77ff; Flach 1990, 131ff; El Bouzidi 1997, 147ff; Caprogrossi Colognesi 1999. S. Brockmeyer 1968, 77. So stellt er spezielle Arbeitspläne auf für schlechtes Wetter (2,3; 39), für Feier- (2,4) und Wintertage (37,3), damit möglichst bei weiterlaufenden Personalkosten kein Leerlauf entsteht. Auch die Lebenmittelrationen der Sklaven werden an die Schwere der Arbeit angepaßt (2,4; 56f).

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1.1.1.2. Archaische Methodik und griechische Wissenschaft Cato verbindet Althergebrachtes mit „hochmodernen" technischen Ausstattungselementen und Organisationsformen. 48 So gehören für ihn zum landwirtschaftlichen Wissensrepertoire noch zahlreiche Techniken der Verarbeitung und Konservierung von Produkten (z.B. 23-25; 104ff) bis hin zu medizinalen Weinen (z.B. 114ff) und sogar Koch- und Backrezepten (z.B. 74ff), worüber Varro später spötteln wird {rust. 1,2,28). Catos Ehrgeiz, auf jedem Gebiet etwas Eigenes zu leisten, 49 manifestiert sich in diesem ganzheitlichen Programm, das alle Lebensbereiche umfassen soll. 50 Hier treffen sich archaischpatriarchalische Lebensformen mit philosophischen Konzepten 51 von Autarkie und Überblick: Der Gutsherr als pater familias kontrolliert alles persönlich, vom Säen bis zur Verarbeitung, von der Instandhaltung von Mensch, Vieh und Gerät (was auch medizinisch-magische und kultische Maßnahmen einschließt) bis zum juristischen Verkehr mit der Außenwelt. 52 Dieses weite Verständnis von Landwirtschaft verbindet ihn andererseits aber auch mit dem überragenden punischen Agrarexperten Mago; man hat in De agri cultura geradezu eine römische Antwort auf dieses wichtige ausländische Werk gesehen. 53 Bei seinen Darlegungen wählt Cato im Hinblick auf seine Zielgruppe eine exemplarische Vorgehensweise anhand von modernen Musterbetrieben mit ihrer neuen Schwerpunktlegung auf Öl- und Weinanbau. 54 Doch trotz des modernen Gegenstandes ist die Lehrmethode archaisch. Archaisch ist die weitgehende Beschränkung auf anschauliche und anwendungsnahe Anweisungen unter Verzicht auf Sacherklärungen 55 und auf Reflexionen über Methodik oder

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S. Cossarini 1976-77b, 83f. Plut. Cat. ma. 25,2; gerühmt von Nep. Cato 3,1; Liv. 39,40,4ff; Plin. nat. 7,100. S. dazu Alfonsi 1954, 165ff. Vgl. z.B. Demokrit, der für die Folgezeit maßgeblich wurde (s. Vischer 1965, 47ff) und den Neupythagoreer Bolos von Mendes alias Demokritos mit seiner Verbindung von Landwirtschaft mit Medizin und Diätetik, Kochkunst und Magie (s. Wellmann 1921, 8), einem Widerschein des pythagoreischen, empedokleischen und kynischen Ideals vom Philosophen als Heiler (s. dazu Kingsley 1995, 34Iff). Arbeits-und Dienstleistungsverträge z.B. 144; 145, Kaufverträge für landwirtschaftliche Produkte z.B. 146-148 oder für Land 149, Pachtverträge z.B. 150, s. dazu Castello 1973, 256; s. auch Goujard 1975, 292f; Richter 1978, 136ff. S. dazu und zu weiteren Berührungspunkten Cataudella 2002, 41-46. S. Gummerus 1906, 24. S. Richter, Columella III, 571.

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Terminologie. Cato nennt auch keine schriftlichen Quellen. 56 Seine bevorzugte Methode ist „learning by doing". 5 7 Entsprechend wenig fachbuchgerecht mutet die Disposition des Stoffes an, und zwar nicht nur wegen der Überlieferungsschicksale, die dem Werk als Gebrauchsschrift widerfahren sein mögen. Es herrscht ein ostentativer archaischer, aufs Praktische ausgerichteter Partikularismus. 58 De agri cultura zerfällt in zwei Großteile: 59 1-54 (Das Land und seine Pflege) und 55ff (eine Sammlung nützlicher Vorschriften für das Haus, die auf „nicht ganz systematische, aber durchaus verständliche Weise" verbunden sind mit der Frage: „Was kann man alles mit den anfallenden Produkten des Hofes machen?"). 60 Die Anordnung der einzelnen Kapitel erfolgt meist nach übergeordneten Stichworten (z.B. 10-13 Instrumentenkataloge, 14-22 Bauvorschriften). 61 Nach kurzer Einleitung folgt gleich die „Kasuistik der Einzelvorschriften", die „jeweils nur einen Gegenstand aus nächster Nähe" behandelt. 62 Es fehlen Termini und Methoden der Verdeutlichung von Begriffsbeziehungen und der Subsumierung von Einzelaussagen unter übergeordnete Gesichtspunkte. 63 Richters Analyse von Catos „gegenständlichem Denken und archaischem Ordnen" 6 4 hat allerdings gezeigt, daß die Disposition dennoch klarer ist, als es zunächst scheint (das gilt auch dann, wenn man nicht allen seinen Athetesevorschlägen folgt): Zu manchen Themen wird nur eine Auswahl von Informationen geboten, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung, Intensivierung, Rationalisierung oder Einführung in Besonderheiten. Die ideelle

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Ablehnung gegenüber landwirtschaftlicher Fachliteratur äußerte explizit auch Xenophon (oec. 16,1; s dazu Stoll 2001, 299f), mit dem Cato, wie wir sehen werden, auch sonst Gemeinsamkeiten aufweist. 3,1 conserere cogitare non oportet, sedfacere oportet. S. Astin 1978, 165. Forschungsbericht über Theorien bezüglich der Anlage der Schrift bei Richter 1978, 7-17; Schönberger 1980, 425-465. Nach Helm 1953, 148ff. S. Richter 1978, 157. Feingliederung: Einleitung: Gutskauf (1) - Management (2) Gutsausstattung (3-22) - Arbeitskalender (23-53) mit Beginn im Herbst - Nachträge: De annuo pro instrumenta vocali et semivocali sumptu (54-60) und De oleo parando (61-69) - Rezepte/Verschiedenes (70ff) mit einer Rubrik religionis iurisque formulae (131-150). S. auch das brauchbare und übersichtliche Schema bei White 1973, 448450 mit sechs Großpunkten. Der Vorschlag von Mario Lauria: Cato De agri cultura, SDHI 44 (1978), 9-44, auch in den Kapiteln 57-141 und 142-162 jeweils eine jahreszeitliche Abfolge zu sehen, ist auf den ersten Blick bestechend, birgt aber bei näherem Hinsehen doch zu viele Gewaltsamkeiten (z.B. die Einordnung aller Rezepte von 74-88 unter die Herbstarbeiten). S. Fuhrmann 1960, 158. Fuhrmann 1960, 157f. 34 redeo ad sementim ist der einzige Hinweis darauf, daß Cato sich einer Abweichung vom Thema bewußt ist. S. Fuhrmann 1960, 158. Richter 1978.

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Vollständigkeit der Themen ergibt sich dann sozusagen aus der Addition von konventioneller Praxis und Catos Instruktionen, 65 die der Adressat, der ja in der Landwirtschaft bereits erfahren ist, leisten muß und kann. Wie läßt sich nun diese aristotelischer Systematik ganz abholde Methodik, dieses erratische „Urgestein inmitten einer entwickelten Zivilisation" 66 einordnen? Ist sie wirklich die Folge eines noch unterentwickelten Intellekts 67 oder einer nicht mehr abgeschlossenen Überarbeitung? Hierzu - und auch als wichtige Grundlage für die folgenden Untersuchungen - ist es notwendig, sich Catos (und nicht nur Catos) problematisches Verhältnis zur griechischen Wissenschaft kurz ins Gedächtnis zu rufen: 68 Cato äußerte sich, jedenfalls nach außen hin, mißtrauisch, ja feindselig gegen griechische Wissenschaftler. Berühmt ist seine Warnung an seinen Sohn vor dem verderblichen Einfluß dieses nequissimum et indocile genus, dessen

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S. Richter 1978, 149. So z.B. bei der ablaqueatio in 33,1, die nicht eigens beschrieben und als bekannt vorausgesetzt wird, im Gegensatz zu Colum. 4,8, wo sie ausführlich erklärt wird (s. ibid. 26). Fuhrmann 1960, 158. So z.B. Klingner 1965, 55f. Dieses Spannungsverhältnis untersuchte ausführlich erstmals Klingner 1965, 45ff, der darin eine innere Zerrissenheit Catos gespiegelt sehen will. S. dazu etwa auch Norden s 1958, 168; Boscherini 1970; Astin 1978, 157-181; Kienast 1979, 101-116. Manfred Fuhrmann: Cato - Die altrömische Tradition im Kampf mit der griechischen Aufklärung, in: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 72-92 hat versucht, diese Zwiespältigkeit zu beschreiben mittels der (allerdings sehr ideologielastigen) Dichotomie Aufklärung/Gegenaufklärung; doch lassen sich bei Cato sowohl „aufklärerisch"-innovative als auch „gegenaufklärerisch"-reaktionäre Züge erkennen, s. die treffende Analyse von Gehrke 2000, 147f et pass. Ergiebiger ist Fuhrmanns Verortung des Versuchs Catos, „der allgemeinen Hellenisierung dadurch Widerpart zu bieten, daß er Roms eigene Ursprünge und Voraussetzungen, Anlagen und Wesenszüge zur Anschauung brachte" (S. 81) vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund, namentlich der beiden gegenläufigen Prozesse der (sprachlichen) Latinisierung und der (kulturellen und zivilisatorischen) Hellenisierung Italiens. Gruen 1993 hat (bei aller Tendenz, Catos Abneigung gegen das Griechentum herunterzuspielen) herausgearbeitet, wie Catos Griechenbild als negative Hintergrundfolie dient, vor der sich der römische Nationalcharakter, den er selber entscheidend geprägt hat, positiv abzeichnen soll, wobei griechisches Wissen unter steter Betonung römischer Überlegenheit dienstbar gemacht wird. Wöhrle 1992 arbeitet besonders die sozialpolitischen Hintergründe der Abneigung der römischen Nobilität heraus, die durch die neuen Ideen und kommerziellen Fachleute ihre Werthaltungen bedroht sieht; so neuerdings auch Jehne 1999.

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Schriften man nur einsehen, aber nicht gründlich erlernen dürfe 69 - obschon hier bereits der Kontext Catos intime Kenntnisse verrät. Diese zwiespältige Haltung spiegelt sich in Catos oben umrissener Methodik wider: Hier zeigt er sich zwar als ultrareaktionär und griechenfeindlich, aber in seinem praktischen Sinn für nützliche - auch griechische - Neuerungen durchaus als aufgeschlossen und progressiv, 70 bis hinein in sein Fachvokabular. 7 1 Denn aus griechischen Schriften hat er sich offenbar bedient, wenn auch ohne Quellenangaben: 72 Vereinzelt finden sich sogar Hinweise auf peripatetische Anleihen, etwa bei der Bezeichnung der Wurzel als caput73 und manchmal auch in der Disposition des Stoffes, besonders in 157,1 bei den verschiedenen genera des Kohls mit ihren jeweiligen naturae und vires (δυνάμβις)74 oder in 157, lf bei der Dreiteilung der Sorten der brassica pythagorea.15 Die Rhizotomika-Tradition findet sein besonderes Interesse, 76 vielleicht durch Vermittlung des Neupythagoreers Bolos von Mendes (s. dazu Kap. 1.2., S. 78). Sogar die griechischen Ärzte benutzt er trotz seiner berühmten Verschwörungstheorie, der zufolge diese einen Eid geleistet hätten, alle Barbaren mit ihrer Medizin umzubringen: 77 z.B. wohl in den Rezepten für medizinische Weine (122f; 125ff). 78

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Adfll. frg. 1 Jordan ( = Plin. nat. 29,14) Dicam de istis Graecis suo loco, Marce fill, quid Athenis exquisitum habeam, et quod bonum sit illorum litteras inspicere, non perdiscere. vincam nequissimum et indocile esse genus illorum. et hoc puta vatem dixisse, quandoque ista gens suas litteras dabit, omnia corrumpet. S. z.B. Leeman 1987, 38; Alfonsi 1954, 168ff; Martin 1971, 92f; Boscherini 1970, 122; Goujard 1975, XL; vgl. auch Astin 1978, 174ff; Kienast 1979, 101-115; Reggi 1999, 140. Das zeigt bereits der Umstand, daß er seine Darlegung wie Mago (s. Colum. 1,1,18; Plin. nat. 18,35) und seine Nachfolger mit dem Kauf eines Gutshofes beginnt, s. Wilhelm Enßlin: Der Einfluß Karthagos auf Staatsverwaltung und Wirtschaft der Römer, in: Rom und Karthago, hg. v. Joseph Vogt, Leipzig 1943, 262296, hier: 287). S. Boscherini 1959 und 1970 pass., besonders 93ff. S. auch id.: Termini medici negli scritti di M . Porcio Catone, in: id. (Hg.): Studi di lessicologiamedica antica, Bologna 1993, 31-43. Ausführlich untersucht bei Boscherini 1970. 41,4, weil dort das Wachstum beginnt, s. z.B. Aristot. part. anim. 4,10 686b32ff; IA 1,4 705b6; long. 467b2 το yap ϊχνω του φυτού καΧ κεφαΧή ή ρίζα βστί (s. Reuther 1903, 49f), s. dazu auch u. Vgl. z.B. Theophr. caus. plant. 6,1,2; 6,4,1 (zwei Sorten); nat. plant. l , 5 , 4 f f , s. Boscherini 1970, 29ff; weitere Beispiele ibid. 3 I f f . (wenig überzeugend bezweifelt von Astin 1978, 165). Vgl. Theophr. hist, plant 7,4,4, weitere Stellen bei Reuther 1903, 35; Boscherini 1993, 736. Z.B. 125; 126, s. dazu Boscherini 1970, 36ff. 77 S. Plin. nat. 29,14 Iurarunt inter se barbaros necare omnes medicina; vgl. auch Plut. Cat. ma. 2 3 , l f .

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In 127 und 157 nutzt er Chrysippos von Knidos Περί κράμΐ3ης.19 Überhaupt finden sich einige Parallelen zu Schriften aus dem Corpus Hippocraticumm (s. auch Kap. 1.2.3.2. S. 109ff). Daß Cato im Falle seiner Kohlrezepte, die er allerdings als seit Jahrhunderten in Rom bekannt reklamiert hat, 81 den griechischen Ärzten traut, hängt wohl mit der überwiegend pythagoreischen Provenienz dieser diätetischen Lehren zusammen. 82 Die Römer betrachteten Pythagoras, der auf italischem Boden gewirkt hat, seit den Samnitenkriegen im 4. Jh. als einen der Ihren. 83 Seit dieser Zeit pflegte die römische Elite intensive Kontakte mit dem aristokratisch gesinnten Pythagoreismus eines Archytas von Tarent in Unteritalien, was sich niederschlug in der verbreiteten (chronologisch unmöglichen) Legende, daß König Numa Pompilius ein Schüler des Samiers gewesen sei, 84 oder in der Errichtung einer Pythagorasstatue auf dem Comitium. 85 Vor allem wurde politisches Ideengut übernommen, z.B. die Konzeption der gemischten Konstitution, die auch Cato im vierten Buch seiner Origines favorisiert. 86 M. Fulvius Nobilior, Ennius und Sulpicius Gallus greifen pythagoreisches Gedan-

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S. Boscherini 1993, 733. So schließt etwa Wellmann 1921, 35f aus Plin. nat. 20,93, s. auch Thielscher 1963, 374ff; Wöhrle 1992, 123; mittelbare Benutzung vermutet Astin 1978, 162f. Boscherini 1993, 738ff vermutet zu 157 noch weitere Quellen, darunter ein Pythagoras zugeschriebenes Werk De effectu herbarum des Arztes Kleemporos (erwähnt bei Plin. nat. 24,159). Reuther 1903, 22ff hat z.B. Cato agr. 157,5-8 mit Oreibasios 4 , 4 , I f f p. 100 Raeder verglichen (s. auch Thielscher 1963, 380f ad loc.) und nimmt als gemeinsame Quelle Mnesitheos aus Kyzikos an. Vgl. z.B. 157,1 zu den verschiedenen δυνάμεις und ihrer Mischung etwa mit Ps.Hippokrates De vetere medicina 14, p. 45,26ff (s. Boscherini 1993, 738f; id. 1970, 85 et pass.). S. Plin. nat. 20,78 Brassicae laudes longum est exsequi, cum et Chrysippus medicus privatim volumen ei dicaveritper singula membra hominis digestum et Dieuches, ante omnes autem Pythagoras, et Cato non parcius celebraverit, cuius sententiam vel eo diligentius persequi par est, ut noscatur, qua medicina usus sit annis DC populus Romanus. S. o. Goujard 1975, 311 Anm. 1. Ps.-Epicharmos VS 23 Β 65; Cie. Cato 78 audiebam Pythagoram Pythagoreosque incolas paene nostros, qui essent Italici philosophi quondam nominatr, weitere Stellen s. Burkert 1961, 238 mit Anm. 4. Z.B. Cie. Tusc. 4,2; Dion. Hal. ant. 2,59; Plutarch Numa 7,7ff; s. Ferrero 1955, 205; Burkert 1961, 237 (mit weiteren Quellen in Anm. 3); Jocelyn 1982, 163f. S. Plin. nat. 34,26. Diese wurde bekanntlich auch vertreten von Aristoteles Pol. 4,9, 1294a30-b41, Polybios Buch VI und später Cicero De republica. Zum Ideal der concordia ordinum s. Archytas VS 47 Β 3. S. dazu Humm 1997 mit Literatur S. 29 Anm. 20.

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kengut auf, das jetzt überhaupt ein erhöhtes Interesse in der Nobilität genießt. 87 Auch in Campanien, wo Cato Ländereien besaß, florierte der Pythagoreismus. 88 In Magna Graecia ist das Corpus Archyteum entstanden, zu dem auch eine Schrift Περί γεωργίας gehörte. 89 Einer biographischen Tradition zufolge soll Cato während eines militärischen Aufenthalts in Tarent unter Q. Fabius Maximus (um 209 v. Chr.) dem Pythagoreer Nearchos begegnet sein, an dessen philosophischer Lehre ihm besonders das asketische Element zugesagt habe. 9 0 Selbst wenn diese Episode nur eine künstlerische Fiktion oder eine pythagoreische Legende sein sollte, 91 so dürfte ihre Zählebigkeit doch zumindest cum grano salis auf eine gewisse Affinität Catos zu diesem Gedankengut schließen lassen. 92 Cato lehnt also die griechische Wissenschaft in der Praxis durchaus nicht so dezidiert ab, wie er sich den Anschein gibt. Er wählt vielmehr aus, was ihm mit römischem Denken vereinbar scheint, und greift agrartechnisches, magisches und medizinisches Material vor allem pythagoreischer aber auch selbst peripatetischer Provenienz auf, wenn auch meist ohne es als solches zu deklarieren. Dabei verweigert er sich zwar äußerlich der griechischen fachwissenschaftlichen Methodik, benutzt aber ihre Ergebnisse und läßt immer wieder, gleichsam mit einem Augenzwinkern, durchblicken, daß er ihre Regeln kennt. Wir werden das gleiche Spiel auch auf der Ebene der literarischen Gestaltung beobachten können.

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Zu dieser Zeit waren einige dem Pythagoras zugeschriebene Bücher im Umlauf und gab Herakleides Lembos seinen Katalog von Pythagorasbiichern heraus, s. Burkert 1961, 229; 237. S. auch A. Lehmann 1997, 19ff. S. Humin 1997, 35. S. Boscherini 1970, 89. Cie. Cato 39; 41; Plut. Cat. ma. 2,3f; s. dazu Boscherini 1970, 13ff. S. Gruen 1993, 66f. An der Historizität dieser Begegnung zweifeln etwa D. R. E. Smith, CQ 34 (1940), 106; Geizer 1953, 108f; ältere Vertreter dieser These s. dort, s. außerdem Fraccaro 1956, 153; ferner Marmorale 1949, 32ff; Deila Corte 1949, 107f; 112f; Burkert 1961, 238f; Kienast 1979, 12. Für wahr hält diesen Bericht dagegen mit guten Argumenten Ettore Pais: Questioni catoniane. II filosofo pitagorico Nearco, in: Melanges G. Glotz, Paris 1932, 681-698. Auch J. G. F. Powell: Cicero, Cato Maior De Senectute, Edited with Introduction and Commentary, Cambridge 1988, 182ff entkräftet die Argumente gegen die Glaubwürdigkeit. Weitere Literatur s. Gruen 1993, 66 Anm. 101. Vgl. etwa Pythagoras ap. S t o b . f l o r i l e g . 4,1 79 Meinecke ( = 80 Hense) Π υ θ α γ ό ρ α ς

tl-wev e'ioievoti εις τάς πόλεις πρώτον τρυφήν, β-πβίτα κόρον, βίτα ϋβριν, μετά δε ταϋτα oXeüpov (eine Theorie, die allerdings in der hellenistischen Philosophie sehr verbreitet war) mit Catos Kampf gegen den Luxus, s. Novara 1982-83, 55ff. Zu Catos Affinität zum Pythagoreismus s. etwa auch Cie. Cato 38; 73; 78.

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Dieses Nebeneinander in De agri cultura von ostentativer Verweigerung gegenüber griechischer Methodik einerseits und verkappter Übernahme griechischer wissenschaftlicher Inhalte und Methoden andererseits spiegelt die ambivalente Haltung Catos gegenüber den griechischen Neuerungen wider, wie sie sich in dem Catobild der Antike wie der Moderne findet, ein SpannungsVerhältnis, das man nicht vorschnell relativieren sollte. Es ist die Haltung eines Staatsmannes, der zu intelligent ist, um die Stärken griechischer Wissenschaft zu verkennen, aber zu sehr (aufgestiegener) römischer Aristokrat, um diesem fremden Denken mit all seinem umstürzlerischen Potential zu viel Raum zu geben. Treffend schreibt Gehrke: „Die griechischen Elemente werden nur benutzt, um in der eigenen, der römischen Welt und im eigenen, dem römischen Sinn besser wirken zu können. Man äfft nicht nach, sondern sucht gezielt aus und bleibt sich seiner Überlegenheit über das 'nichtswürdige und unbelehrbare' Volk ... bewußt. So gehört zur Selbststilisierung Catos auch, daß er seine Kenntnisse der griechischen Zivilisation herunterspielte". 93 Damit ist Cato durchaus repräsentativ für die Haltung weiter Teile der römischen Gesellschaft. 94 Denn noch lange gehörten öffentliche Verachtungsbekundungen gegenüber den Frivolitäten der griechischen Kultur zum rhetorischen Standardrepertoire römischer Senatoren, wie sehr sie auch deren Reizen privat bereits erlegen waren. So zeigte man seine Loyalität zum nationalrömischen mos maiorum,95 und man vermied es, das einfache Volk durch die Zurschaustellung intellektueller Überlegenheit zu brüskieren. 96 Ein solch weitgehend konservatives Umfeld in einer Zeit, in der die Begriffe philosophus und philosophia nur in pejorativer Bedeutung nachweisbar sind, 97 hätte an einer zu forciert wissenschaftlichen Darstellungsweise sicherlich Anstoß genommen. So ist es klug, wenn Cato den hohen Innovationsgrad seiner Arbeit hinter einer dezidiert traditionalistischen, ja archaischen Präsentation verbirgt. Daß diese Strategie aufging beweist die Rezeptionsgeschichte: Zwar sind sein patriarchalischer Typus des Hausvaters, der sich um alle Details selber kümmert, und auch seine mangelhafte Systematik bald überholt und werden ersetzt durch die vom Senat veranlaßte Übersetzung von Magos Standardwerk (146 ν.

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Gehrke 2000, 157. S. Astin 1978, 293; Vogt-Spira 2000, 115; Gruen 1993, 61f. 95 Z.B. So etwa auch lt. Cie. de orat. 2,4 die Redner Antonius und Crassus, s. Sblendorio Cugusi/Cugusi 1996, 107. S. Flaig 1993, 212. S. Rosen 1985, 81f.

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Chr.) sowie durch die zahlreichen Agrarschriften des 1. Jahrhunderts. Aber seine Arbeit wurde nicht, wie die der meisten seiner Nachfolger, verdrängt. 98

1.1.2. Varro Das Elternhaus von M. Terentius Varro (116-27 v. Chr.) stand im Sabinerland, zu dessen Tribus (der tribus Quirina) er gehörte. Erzogen wurde er jedoch in R o m . " Prägend für seine intellektuelle Entwicklung war der Unterricht bei Accius und vor allem bei Aelius Stilo, von denen er die Leidenschaft für das Antiquarische übernommen hat. 100 Seit den späten 80er Jahren stand er unter dem Einfluß des eklektizistischen Akademikers Antiochos von Askalon, 101 der sich 88 v. Chr. von seinem skeptizistischen Lehrer Philon von Larisa getrennt hatte und mit seiner dogmatischen Richtung vor allem im konservativen römischen Milieu Anklang fand. 1 0 2 Varro ist also, anders als sein Vorgänger Cato, ein philosophisch hochgebildeter Gelehrter.

1.1.2.1. Praxistauglichkeit? Obgleich Varro mehrfacher Gutsbesitzer war, 1 0 3 wurden daher seine praktischen Kenntnisse als Landwirt lange Zeit in Zweifel gezogen. 104 Immerhin

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Z . B . Marc Aurel (Fronto 62,1 Off. van den Hout) schreibt an Fronto, er habe die halbe Nacht dieses Werk gelesen. Nach dem 3. Jahrhundert geriet es (abgesehen von einzelnen Grammatikerzitaten) in Vergessenheit, wurde im späten 12./frühen 13. Jh. vereinzelt wieder abgeschrieben (Parisinus Latinus 6842 A) und dann im 13. und 14. Jh. (Petrus de Crescentiis, Petrarca) und vor allem im 15. Jh. wieder sehr populär, s. Mazzarinos Prolegomena zu seiner Ausgabe von 1982, XXIIIff.

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Hieronymus in der Chronik z. J. 116 v. Chr. (Corp. Berol. 47 p. 147 Helm) und der Vater des Symmachus in epist. 1,2,2 bezeichnen ihn als Reatinus\ Augustinus civ. 4,1 p. 99,34 Dombart-Kalb dagegen nennt Rom als seinen Geburtsort (Stellen mit Bezügen zur Reatinischen Gegend bei Rösch-Binde 1998, 16 Anm. 6). Var. rust. 3,2,1 bezeichnet den zur tribus Quirina gehörigen Senator Q. Axius als seinen tribulis, s. dazu Flach 1997, 6; Flach 2002, 191 ad 3,2,1; Cardauns 2001, 9. Ausführliche Darstellung der Quellen und der Sekundärliteratur zu Varros Biographie bei RöschBinde 1998, 5f. Zu Varros Leben und intellektuellem Werdegang s. neuerdings auch Ax 2005, 2ff.

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Cie. Brut. 205f; s. dazu Deila Corte 1970, 27ff; Riposati 1949, 254. S. Cie. Att. 13,12,3; 13,16,lf; 13,19,3;/ara. 9,8,1. Aug. civ. 19,3 p. 663,74f Dombart-Kalb. S. Y. Lehmann 1997, 130f. Liste mit Belegstellen bei Rösch-Binde 1998, 44 Anm. 1. Gummerus 1906, 54; noch Flach 1996 hält Cato und Columella für nützlicher und bemängelt Varros Abschweifen ins Gelehrsame. Kurzer Überblick bei Maröti 1970, 118 Anm. 64.

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aber hat er in den letzten Jahren eine gewisse Rehabilitierung erfahren, sowohl als praktischer Kenner der Agrarökonomie als auch als Weiterentwickler der methodischen Klassifizierung. 105 De facto ist der Nutzeffekt seines gegen 37 v. Chr. entstandenen 106 Werks uneinheitlich: Sehr theorielastig ist das erste Buch über Ackerbau, obgleich Varro sich auch hier auf dem neuesten technischen Stand befindet. 1 0 7 Praxisorientierter ist das zweite über Viehzucht, wo er sich trotz aller Bescheidenheit (2,1,3) sehr gut auskennt 108 - und vor allem das äußerst innovative dritte Buch (über pastio villaticä).109 Diese Unterschiede hängen sicherlich damit zusammen, daß sich Varro (wie auch schon Cato) an Mitglieder der landbesitzenden Oberschicht wendet, die

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S. White 1970, 24: „it is not, as might have been expected from an octogenarian encyclopedist, a work of unpractical erudition, but based throughout on practical knowledge and tried experiment"; Maroti 1970, besonders 108; 118ff. Zum zweiten Buch s. auch Pasquinucci: La transumanza nell'Italia romana, in: Gabba/Pasquinucci 1979, 108ff. Eine funktionale Villa, wie sie Varro beschreibt, begegnet z.B. in den Funden von Boscoreale und Russi (s. Mansuelli 1990, 330f). Martin 1971, 219f wollte aus angeblichen formalen und inhaltlichen Widersprüchen auf weit auseinanderliegende Abfassungszeiten der drei Bücher schließen, die erst nachträglich von Varro zusammen veröffentlicht worden seien, was er S. 213-235 zu beweisen versucht. Heurgon 1978, XXIff knüpft daran an und will alle historischen Anspielungen, die nicht auf diese Datierung passen, wie z.B. die Anwendung des Julianischen Kalenders in 1,28-36, als Spuren späterer Überarbeitungen durch den Autor deuten (was reine Spekulation ist; soll Varro vergessen haben, wann seine Dialoge spielen? Oder soll man nicht eher annehmen, daß es ihm, da es sich ja nicht um ein Geschichtswerk handelt, weniger auf die chronologische Präzision ankam als auf pointierte zeitgeschichtliche Seitenhiebe?). Ähnlich Mieczyslaw Brozelc: De Varronis Rerum rusticarum libris logistoricis, in: Munera philologica et historica Mariano Plezia oblata, Wroclaw 1988, 45-47. Schlagend wiederlegt wurde die Überarbeitungshypothese bereits von Bianco 1976, 302; vgl. auch Cossarini 1976-77, 1-21; Boscherini 1986, 105ff; Traglia 1993, 828; Scivoletto 1992, 733; Flach 1996, 9ff und ad 3,1,9, denen sich auch Cardauns 2001, 16 anschließt. Die Werkanalyse wird außerdem zeigen, daß De re rustica eine Einheit bildet, so daß man auf unmethodische Zusatzannahmen bezüglich mehrerer Überarbeitungsstufen verzichten kann. S. etwa Jerzy Kolendo: L'agriculture en Apulie d'apres Varron (R. r., I 29,2), D H A 5 (1979), 267-271. S. auch White 1970, 23. Gummerus 1906, 54 bemerkt mit Recht: „Erst im zweiten und dritten Buch ... verrät Varro grössere praktische Kenntnisse". Maroti 1970, 108 präzisiert: „Denn eben auf dem von Varro systematisch erschlossenen Gebiet der villatica pastio kommen die mit dem behandelten Stoff und mit der römischen Mentalität in vollem Einklang stehenden wichtigsten Zielsetzungen seines Werkes am entschiedensten und vielseitigsten zur Geltung: die Förderung einer rationellen und ertragreichen Wirtschaft und die Erzielung möglichst hoher Gewinne aufgrund wohlüberlegter Ratschläge, neuer Gesichtspunkte und der methodischen Bearbeitung des gesamten Stoffgebietes."

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von Jugend an mit der Materie vertraut sind. 110 Daher kann sich Varro in den ersten beiden Büchern, die von allgemein bekannten Themen handeln, weitgehend darauf konzentrieren, die Materie in einer philosophisch reflektierten und ästhetisch stilisierten Form zur Unterhaltung und Erbauung der Dialogteilnehmer Revue passieren zu lassen. Von höherem praktischen Nutzwert ist das dritte Buch über die neuartige pastio villatica, die noch wenig bekannt war. Ferner hängen die Unterschiede in der Praxisnähe damit zusammen, daß der Ackerbau in Italien - abgesehen von Obstzucht und Gartenbau in Stadtnähe, die bei Varro denn auch entsprechend sorgfältiger behandelt werden - schon lange nicht mehr im Vordergrund des Interesses stand. Denn billigeres Korn aus den Provinzen dominierte den Markt, mit der Folge, daß der Getreideanbau über den Eigenbedarf hinaus in einigen Gebieten Italiens zurückging. 111 Und so liest sich Buch I mehr wie eine Reverenz an die ehrwürdige bäuerliche Tradition denn als eine praxisorientierte Gebrauchsanweisung. Die Viehzucht dagegen war weit weniger arbeitsintensiv und weitaus profitabler, zumal durch die Eroberung des zentralen und südlichen Appenninengebietes passende Sommerweiden für die Transhumanz in großen Ausmaßen zur Verfügung standen. 1 1 2 Eine Wachstumsbranche besonderer Art aber war die pastio villatica, die den gestiegenen Bedarf nach Delikatessen deckte, 113 und die Varro anscheinend als erster Fachschriftsteller als ein eigenes Gebiet systematisch abgehandelt hat. 1 1 4 Je neuartiger und einträglicher also die Branche ist, desto praxisnäher erfolgt ihre Behandlung. Wie bei Cato waltet dementsprechend auch hier ein ausgeprägter Sinn für ökonomische Fragen, wie Wirtschaftlichkeit der Produktion, Berücksichtigung der Infrastruktur und Sondierung der Marktlage, der das ganze Werk und alle Einzelfragen durchdringt. 115 Überraschend modern und ein Fortschritt gegenüber den griechischen und hellenistischen Vorgängern sind auch seine Führungsgrundsätze, etwa bei der Motivierung der Arbeitskräfte, die er bereits in

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S. Cie. de orat. 1,249. S. Deila Corte 1954, 91. S. White 1973, 458f. Zu Varros eigenen Weidegebieten in dieser Gegend s. rust. 2,2,9 (s. auch 2,1,3). Varro selbst weist in 2 pr. 5 auf die ökonomische Bedeutung der Viehwirtschaft zu seiner Zeit hin. Vogelzucht hatte als erster der Ritter M. Laenius Strabo betrieben (Plin. nat. 10,141), Zucht von Krammetsvögeln Lucullus (Plut. Pomp. 2,12), von Fischen in großen Teichen L. Licinius Crassus, alles Zeitgenossen Varros, s. Maroti 1970, 109f. S o j e d e n f a l l s 3,1,8 (pastio villatica) ... neque explicata tota separatim, quod sciam, ab ullo. S. dazu Maroti 1970, besonders 122ff. Zur Modernität von Varros ökonomischem Denken und deren Grenzen s. Love 1986, 117ff.

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einer nach Qualifikationen gegliederten hierarchischen Struktur ordnet, 116 und seine präzisen Arbeitsplatzbeschreibungen. 117 Aber unser Gelehrter beläßt es, anders als Cato, nicht bei der reinen Praxis. Vielmehr ist der Grad der Reflexion über Inhalt, Zweck und Methodik der Landwirtschaft als wissenschaftlicher Disziplin für ein römisches Handbuch sehr hoch, wie sich im Folgenden zeigen wird.

1.1.2.2. Methodenreflexion: Die Landwirtschaft als ars 1.1.2.2.1. Die Autorenliste Bereits im Prooemium demonstriert Varro seinen Überblick über die Materie in der imponierenden Autorenliste in 1,1,8-10. Eine solche Bibliographie stellte in Rom anscheinend ein Novum dar. 1 1 8 Die illustre Autorenschar, die der Gelehrte vor unseren Augen paradieren läßt, wird angeführt von zwei Königen, Hieron II. von Syrakus und Attalos III. von Pergamon, die trotz ihrer allenfalls an der Peripherie des Themas angesiedelten Interessenlage (juristische Fragen bzw. Gift- und Heilpflanzen) 119 in die Reihe einbezogen werden, gefolgt von einer Serie namhafter Philosophen unterschiedlicher Schulen, darunter Größen wie Demokrit, Aristoteles, Theophrast und Archytas von Tarent. Es folgen, jeweils nach Anfangsbuchstaben geordnet, zwei Reihen minder bedeutender Verfasser. Schließlich werden mit Hesiod und Menekrates von Ephesos (Nikander fehlt) zwei Dichter ausdrücklich hervorgehoben, bevor gleichsam zum krönenden Abschluß der Karthager Mago genannt wird. 1 2 0 Varro selbst reiht sich ein in die Tradition des Mago und seiner griechischen Bearbeiter, seiner Hauptquellen, 121 als Schlußpunkt einer Antiklimax in der Kürzung der monumentalen 28 Bücher des Karthagers

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S. Kaltenstadler 1978, 44ff; zur Arbeitsorganisation bei Varro s. auch Brockmeyer 1968, llOff. S. Kaltenstadler 1978, 2; 54. S. Traglia 1993, 830. Allerdings vermuten Gentilli 142; Gummerus 1906, 52; Heurgon 1978, XVIII, daß Varro die Liste aus einer seiner Quellen, etwa Cassius Dionysius, übernommen habe. S. Flach Komm, ad 1,8. 1,1,10 Hos nobilitate Mago Carthaginiensis praeteriit. Zitate aus dem Mago latinus findet man im zweiten und dritten Buch, vor allem zu Krankheiten, s. Heurgon 1978, XXXV). Diophanes wird namentlich nur einmal zitiert in 1,9,7 zur Ermittlung der Bodenqualität (s. dazu Skydsgaard 1968, 14 Anm. 11; Heurgon 1978, XXXV). Cassius Dionysius wird z.B. in l,17,3ff zur Auswahl der Landarbeiter zitiert (zur Frage nach Cassius' Quellen s. Flach ad loc.), in 2,1,27 und 3,2,13 zusammen mit Mago; 1,38,1 und 3 zu Düngerqualitäten. Zu weiteren Zitaten aus Mago und seinen Bearbeitern s. Heurgon 1978, XXXIV.

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über 20 bei Cassius Dionysius und sechs bei Diophanes auf seine eigenen handlichen drei Bände. 122 Aber diese Autorenliste ist kein Quellenverzeichnis, und es ist sehr fraglich, ob Varro alle diese Werke gelesen hat. Von den griechischen Autoren zitiert er jedenfalls mit oder ohne Namensnennung, soweit überprüfbar, nur wenige, und dies oft nachlässig und fehlerhaft, teilweise aus schlechten Exzerpten, 123 darunter vor allem Aristoteles und Theophrast (diese allerdings häufig) 124 . Varros eigener Erklärung nach soll die Liste seiner Frau Fundania als weiterführende Nachschlagebibliographie dienen. 125 Jenseits des praktischen Nutzens soll aber auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattungstradition markiert werden. Dabei soll die Häufung klingender Namen dem Leser eindrucksvoll verdeutlichen, in welch erlauchter Ahnenreihe dieses Agrarhandbuch steht. In die Liste werden nur ausländische Kapazitäten aufgenommen. Die wenigen lateinischen Autoren - die sich neben der Masse griechischer Fachleute auch gar zu dürftig ausgenommen hätten - 126 werden nicht aufgezählt; sie werden aber im Verlauf des Dialogs immer wieder erwähnt (nämlich Cato 127

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S. dazu Flach 1996, 25-27; Christmann 2003, 125f - Lt. Suidas s. v. I I c o W hat Asinius Pollion von Tralles eine weitere Verkürzung auf zwei Bücher vorgenommen (s. Hentz 1979, 155). Z.B. unterscheidet er in 3,16,18 drei Arten von Weiseln, wohl in einer flüchtigen Wiedergabe von Aristot. hist. anim. 9,40 (s. Flach 2002, 277 ad loc.). Die Fehler bei den Theophrastzitaten häufen sich beim Weinbau, der ihn nicht so sehr interessiert (s. Hentz 1979, 159). In Buch II und III die Historia animalium und seltener De generatione animalium (explizit z.B. 2,1,3 für die Urstofflosigkeit der Welt; 2,5,13 für Zeugungstheorien; weitere Stellen bei Martin 1971, 65), und in allen Büchern Theophrasts Historia plantarum und De causis plantarum. S. die Quellenstudien von G. Gentilli: De Varronis in libris rerum rusticarum auctoribus, SIFC 11 (1903), 99-163, der die Zitationsmethode untersucht. O. Hempel: De Varronis rerum rusticarum auctoribus quaestiones selectae, Diss. Leipzig 1908, 38-63 versucht nachzuweisen, daß Varro Theophrast aus zweiter Hand, mutmaßlich aus Diophanes, zitiert habe; das wird bezweifelt von Skydsgaard 1968, 68ff, der bei einzelnen Stellen direkte Benutzung annimmt; auch White 1973, 471f; 475-478 und Flach 1996, 20 nehmen eine direkte, wenn auch flüchtige Theophrastlektüre an. Literatur zur Quellenfrage bei Skydsgaard 1968, 64ff; White 1973, 464-482.; s. auch Flach 1996, 17-27 und 1997, 9-19. 1,1,7 In quis (sc. sermonibus) quae non inerunt et quaeres, indicabo, a quibus scriptoribus repetas et Graecis et nostris. S. White 1973, 468. Catos Origines werden als Quelle für landwirtschaftliche Kuriositäten genutzt (2,3,3; 2,4,11). Aus Catos De agri cultura finden sich 10 explizite Zitate, alle im ersten Buch. Im großen und ganzen respektiert Varro Cato als Autorität, äußert jedoch zuweilen auch Kritik und sogar Spott (z.B. 1,2,28, s. o.) oder nimmt Differenzierungen vor, z.B. zur Lage des Gutes (1,7,1), zu Bodenqualitäten ( l , 7 , 9 f f ) , zur

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und die beiden Sarsenae 128 ) und sind dadurch präsent; Tremellius Scrofa ist sogar persönlich anwesend; 129 er wird als wichtigste Kapazität des Faches gewürdigt 130 und erhält im ersten Dialog den Hauptpart und auch im zweiten eine wichtige Rolle, wobei ihm Varro aber anscheinend stillschweigend seine eigenen Thesen in den Mund legt (und ihn so mit dem ihm eigenen Taktgefühl unauffällig korrigiert). 131 So wird der ehrwürdigen, aber etwas museal anmutenden griechischen Buchgelehrsamkeit selbstbewußt die Lebendigkeit und Aktualität eines römischen Fachgespräches gegenübergestellt.

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Zusammensetzung der familia (1,18), zu Tieren (1,19), zur Ausrüstung (1,22), s. White 1973, 479ff; Heurgon 1978, XXXVI; Flach 1996, 22-24. Im Zuge einer solchen Modernisierung Catos erfolgt auch die stilistische Glättung einiger Zitate (z.B. 1,58, s. Heurgon 1978, XXXVIII). Wieviel er von Sarsena Vater und Sohn, über deren weite Auffassung vom Ackerbau und abergläubische Rezepte er in 1,2,22ff spöttelt, übernommen hat, ist nicht mehr zu ermitteln, abgesehen von 1,16,5 (Präsenzpflicht der Sklaven); 1,18,2 und 1,19,1 (Arbeiter und Arbeitstiere pro Morgen Land); zu den Sarsenae s. Reitzenstein 1884, 3ff; Flach 1996, 24. Es läßt sich aus der Nichterwähnung von Scrofas landwirtschaftlichem Lehrbuch also kein zwingendes Argument für ein späteres Erscheinen dieses Werkes ableiten. Colum. 1,1,12 ... ac deinde Scrofam Tremelium, qui etiam eloquentem reddidit (sc. agricolationem), et M. Terentium, qui expolivit scheint die beiden etwa gleichzeitig anzusetzen. Ob Varro, wie Heurgon 1978, XLIV vermutet, den Scrofa mehr als mündliche Quelle benutzt hat, ist nicht nachweisbar. Die Erklärung von Maröti 1970, 116f, Varro habe einer persönlichen Polemik aus dem Wege gehen wollen, ist plausibler als die Hypothese von P. A. Brunt: Cn. Tremellius Scrofa the Agronomist, CR 86 (1972), 304-308, hier: 307f, der in leichter Variierung von Martins methodisch wenig solider Uberarbeitungshypothese annimmt, daß Varro Scrofas Schrift zur Zeit der ersten Veröffentlichung von De re rustica I noch nicht gekannt habe. S. etwa 1,2,10; 1,2,12; 1,3; 2,1,11. So etwa in 1,7,2, wo er seinen Scrofa den quantitativen und qualitativen Fortschritt in der landwirtschaftlichen Produktion gegenüber den maiores feststellen läßt. Der echte Scrofa ging jedoch, ganz im Gegenteil, laut Colum. 1 pr. 1 und 2,1,Iff von einer nachlassenden Fruchtbarkeit der Erde aus (s. u.). Der Harmonisierungsversuch von Eralda Noe: L'agronomo Cneo Tremellio Scrofa, Numismatica e antichitä classiche 6 (1977), 119-133, 132f, die S. 122 (wie Martin 1995, 86) davon ausgeht, daß Varros literarische Figur mit dem historischen Scrofa weitgehend übereinstimme, will nicht so recht überzeugen; denn wäre Scrofa tatsächlich, wie Noe meint, davon ausgegangen, daß die zunehmende Sterilität der Erde durch technische Innovationen kompensiert und der Ertrag sogar noch gesteigert werden könne, hätte sich Columella diesen Kronzeugen für sein Programm agrartechnischer Verbesserungen sicherlich nicht entgehen lassen. Wieviel genau Varro eventuell aus den verschollenen Werken Scrofas übernommen hat und wieviel bei der künstlerischen Gestaltung der Dialogfigur seine eigene Zutat ist, läßt sich ohne neue Funde jedenfalls nicht entscheiden.

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Das Agrarhandbuch als Fachliteratur

1.1.2.2.2. Über Gegenstand und Umfang des Faches Landwirtschaft Beim Einstieg in die eigentliche Erörterung nach der Schilderung der Rahmenhandlung geht Varro zunächst ganz nach der regula artis vor: So wird, wie bereits in der Vorrede angekündigt, 132 in 1,2,12-28 erläutert, welche Teilbereiche zur agricultura zu zählen sind (partitio), und worin die summa, das τέλος bestehe, d. h. worin Sinn und Zweck der Landwirtschaft liegen. Zunächst werden die beiden Hauptreferenten vorgestellt: zwei Männer der Praxis, nämlich der oben erwähnte Scrofa und der Altmeister Stolo. Ihre herausragende fachliche Kompetenz auf dem Gebiet der Landwirtschaft wird dabei besonders herausgehoben. Ein hohes fachliches Niveau ist damit garantiert. Es ist Scrofa, der die Frage nach einer Eingrenzung des Themas aufwirft: 1 3 3 ob die agri cultura nur das auf dem Felde Ausgesäte umfasse oder auch das auf das Feld getriebene Vieh (1,2,12). Dabei setzt er sich methodenkritisch mit der Fachtradition auseinander, indem er an seinen punischen, griechischen und lateinischen Vorgängern eine zu weite Fassung des Themas moniert (1,2,13). 1 3 4 Dieser Frage nach der Zugehörigkeit der Viehhaltung zur agri cultura mit ihrem Für und Wider gibt Varro breiten Raum, wenn sie auch im scheinbar unernsten Plauderton abgehandelt wird. Denn bei Cato und wohl auch bei den Sarsenae war die Tierhaltung (abgesehen vom Arbeitsvieh) noch kein integraler Teil des Systems. Das wurde sie anscheinend erst bei Scrofa unter dem Einfluß Magos. 1 3 5 So plädiert Stolo für eine Engführung des Themas agricultura. Dabei beruft er sich zur Stützung seiner These auf die Etymologie der Begriffe: Die pastio (Viehwirtschaft) scheine mehr zum pastor als zum agricola zu gehören (1,2,13), und auch die Vorsteher der beiden Bereiche hätten unterschiedliche Namen, magister pecoris und vilicus (abgeleitet von villa, 1,2,14). Fundanius stimmt der Abgrenzung zwischen pastio und agri cultura zwar grundsätzlich zu, jedoch mit der Einschränkung, daß beides zusammengehöre wie die beiden Teile einer Doppelrohrflöte (1,2,15). Varro greift in eigener Person dieses Bild auf und präzisiert das Verhältnis der beiden Bereiche zueinander, indem er die incentiva (die Hauptstimme) mit dem Hirtentum und die

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1,1,11 Quo brevius de ea re conor tribus libris exponere ... hoc libro circumcisis rebus, quae rton arbitror pertinere ad agri culturam. 1,2,12 Emphatischer Einsatz mit Scrofa „Prius", inquit, „discernendum ...". 1,2,13 Video enim, qui de agri cultura scripserunt et Poenice et Graece et Latine, latius vagatos, quam oportuerit\ die polysyndetische Aufzählung unterstreicht die Vielzahl und das Gewicht der hier angezweifelten Autoritäten der verschiedenen Kulturkreise. 135 So Richter 1981, Bd. 3, 606.

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succentiva (die Begleitstimme) mit dem Bauerntum vergleicht, um, mit Berufung auf die Kulturentstehungslehre des Dikaiarch (mehr dazu Kap. 3.2.3.4., S. 341 ff), den Primat der älteren Disziplin Viehzucht herauszustellen. Auf diese gelehrte Anmerkung Varros reagiert Agrius heiter (1,2,17), indem er ihn absichtlich mißversteht und ihm unterstellt, er folge Dikaiarchs Theorie dahingehend, daß der Ackerbau die Viehzucht geradezu verdrängt habe: 1 3 6 Mit einer rigorosen Trennung nehme er nicht nur dem Herrn gleichsam sein Vieh weg, sondern sogar dem Sklaven sein Sondergut an Nutztieren. 1 3 7 Außerdem befördere er das Gesetz, nach dem die coloni ihre Ziegen nicht in Baumschulen weiden lassen dürfen, und das, obschon dieses Tier sogar von der Astrologie mit einem Sternbild geehrt worden sei, nicht weit vom Stier (1,2,17). 1 3 8 Agrius bezieht hier also, wenn auch spielerisch, juristische und sogar astronomische Gesichtspunkte in die fachwissenschaftliche Diskussion ein. Fundanius lenkt das Gespräch wieder ins Ernste zurück, indem er der scherzhaften Deutung des Agrius eine plausible gegenüberstellt: Das Weideverbot für Ziegen bestehe wegen ihrer Schädlichkeit für junge Kulturpflanzen, besonders für Rebstöcke und Ölbäume (1,2,18). Diese These erhärtet er mit Hinweis auf entsprechende religiöse Gepflogenheiten beim Kult von Liber und Minerva in Griechenland. Daran schließt er seine These an (inquam), daß nur diejenigen Tiere zur agri cultura gehören, die unmittelbar zur Bodenbebauung eingesetzt werden. 1 3 9 Dagegen wendet Agrasius ein, daß auch andere Tiere mit ihrem Mist zur Verbesserung des Ackerbodens beitragen (1,2,21), 140 was Agrius ad absurdum führt durch den Hinweis auf die Konsequenzen einer solchen Ausweitung: In diesem Fall müßten auch die Sklaven zur agri cultura gezählt werden; wenn ferner alles, was irgendwie Nutzen für die Landwirtschaft bringe, dazugehöre,

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Flach ad loc. meint, daß Varros Vergleich hinke, da die Viehhaltung nach Dikaiarch nur so lange die wichtigste Rolle gespielt habe, bis sie vom Ackerbau verdrängt worden sei; aber in 2 pr 5 weist Varro selbst auf die ökonomische Bedeutung der Viehwirtschaft zu seiner Zeit hin. Zierlich gestalteter Ausdruck: 1,2,17 non solum adimis domino pecus, sed etiam servis peculium, parallel gebaut mit der Antithese von dominus und servus, sowie pecus und etymologisch verwandtem peculium. Zu diesen pretiösen astrologischen Bildungsreminiszenzen s. die Analyse bei Hübner 1984, 22ff. 1,2,20 quae agrum opere, quod cultior sit, adiuvare ... possunt. 1,2,21 quo modo pecus removeri potest ab agro, cum stercus, quod plurimum prodest, greges pecorum ministrent? Man beachte, wie hier die theoretische Erörterung aufgelockert wird durch die scherzhafte konkret-anschauliche Formulierung removeri ab agro (statt ab agri cultura)·. „Wie kann man das Vieh vom Acker entfernen, wenn es doch den äußerst nützlichen Dung liefert?"

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müsse man konsequenterweise auch die auf den Landgütern beschäftigten Handwerker einbeziehen (1,2,21). Scrofa, der die Frage in 1,2,12 aufgeworfen hatte, zieht schließlich das Resume, daß Ackerbau und Viehzucht getrennt zu behandeln seien, 141 womit nunmehr eine erste Großgliederung des Stoffes erarbeitet ist. In 3,1,9 wird Varro diese Zweiteilung dann um die pastio villatica erweitern. Diese seine eigene konsequente systematische Unterteilung der res rusticae in die drei Teildisziplinen Ackerbau, Herdentierhaltung und pastio villatica142 sieht er als erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt an. 1 4 3 Nach der Großgliederung folgt konsequenterweise die Frage nach der Zugehörigkeit bestimmter Randgebiete zur agri cultura (l,2,22ff). Man einigt sich auf das Kriterium id modo, quod ... satione terra sit natura ad fruendum (1,2,23). Ausgeschieden werden damit, gegen die Sarsennae, Töpfereien, Bergbau und ländliche Gastronomie; nur im Scherz erwähnt werden die magischen Rezepte der Sarsenae (s. aber Kap. 1.2.3.) sowie Catos Küchenrezepte. Damit sind die Konturen der in Buch I zu behandelnden agri cultura (als eines Teilbereiches der res rustica) nunmehr klar gezogen.

1.1.2.2.3.

Ars an quid aliud? Technizität und Telos

Nach so erfolgter Eingrenzung des Themas greift Agrasius aus 1,2,12 die Frage nach Wissenschaftlichkeit (ars) und Zweck {summa) der agri cultura auf. 1 4 4 Zunächst soll Scrofa ermitteln, ob die Landwirtschaft eine ars (τέχνη) sei, d. h. ein Theoriensystem, oder quid aliud, womit wohl eine εμπειρία gemeint ist, also ein rein praktisch fundiertes Erfahrungswissen. Damit bezieht er sich

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1,2,21 Scrofa „Diiungamus igitur", inquit, „pastionem α cultura". 3,1,9 ... cumputarem esse rerum rusticarum, quae constituta suntfructus causa, tria genera, unum de agri cultura, alterum de re pecuaria, tertium de villaticis fructibus Vgl. auch zur Unterteilung der Viehhaltung: 3,1,8 Quae ipsa pars duplex est (tametsi ab nullo satis discreta), quod altera est villatica pastio, altera agrestis ... villatica ... a quibusdam adiecta ad agri culturam, cum esset pastio, neque explicata tota separatim, quod sciam, ab ullo. Angedeutet wird die Dreiteilung auch schon in 2 pr. 5. S. dazu Fuhrmann 1960, 70; Cossarini 1976-77a, 186-190. 1,3 ... de iis rebus, quae in scientia sunt in colendo, nos docet, ars id an quid aliud et a quibus carceribus decurrat ad metam. Ähnlich in den ersten beiden Büchern von De lingua latina für die Etymologie.

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auf eine verbreitete, vielleicht auf Piaton zurückgehende Unterscheidung. 145 Bezeichnenderweise wird dabei die Alternative εμπειρία, die bei einem praxisorientierten Fach wie der Landwirtschaft eigentlich am nächsten läge, nicht einmal benamt, geschweige denn ernsthaft erwogen. Scrofa beginnt denn auch seine Ausführungen in 1,3 gleich mit der These, daß die agri cultura nicht nur eine ars sei sondern auch eine notwendige und bedeutende (necessaria et magna). Wie wenig selbstverständlich eine solche Anerkennung der Landwirtschaft als ars war, zeigt Ciceros völlig entgegengesetzte Haltung in De oratore (erschienen wenige Jahre zuvor, 55 v. Chr.): Cicero führte im Gefolge des von ihm übersetzten Xenophon 146 dieses Fach geradezu als ein Musterbeispiel an für die Überflüssigkeit komplizierter theoretischer Erörterungen. 147 Martin interpretiert daher diesen Varro-Passus überzeugend als eine Polemik gegen Cicero 148 (s. auch Kap. 2.2.2.1.). Was nun für Varro das Wesen einer ars ausmacht, definiert er an anderer Stelle: Eine ars besteht für ihn aus zwei Komponenten, einer äußeren, die das Faktenwissen (scientia) vermittelt, und einer inneren, die Ursachenforschung

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Piaton Phaidros 270b5ff (s. Heurgon 1978, 119). Zur Entwicklung des r e x ^ - B e g r i f f s in der Antike bis ins 2. Jh. n. Chr. s. Nesselrath 1985, 123-156. Zur Geschichte speziell des Begriffspaares τβχνη-βμπβιρία s. ibid. 201; Henry Robins: The Initial Section of the Täkhne, in: Pierre Swiggers/Alfons Wouters: Ancient Grammar: Content and Context, Louvain 1996 (Orbis Suppl. 7), S. 3-15, hier: 7ff. Zu Reflexen der Texvri-^Treipia-Oiskussion im Corpus Hippocraticum (z.B. De vet. med. 2) s. Dihle 1998, 269. Xenophon hatte die Landwirtschaft charakterisiert als eine φιλάνθρωπος KOU πραό,α τίχνη (oec. 19,17f, s. auch l,2f; 4,1), die man sich einfach und von Anfang an gewinnbringend durch das Abschauen von Praktikern aneignen könne, so daß sie sich gleichsam selber lehre (19,18 αύτη διδάσκβι ώς αν κάλλιστα τις αύτη χρωτο)·, s. Martin 1995, 85f. Cie. de orat. 1,249 nemo tarn sine oculis, tarn sine mente vivit, ut ... quo tempore anni aut quo modo ea flant, omnino nesciat. num igitur, si cui fundus inspiciendus aut si mandandum aliquid procurator! de agri cultura aut imperandum vilico sit, Magonis Karthaginiensis sunt libri perdiscendi? an hac communi intellegentia contenti esse possumusl Eine noch radikaler antitechnologische Auffassung vertritt er in Verr. II 3,227 res rusticae eiusmodi sunt ut eas non ratio neque labor, sed res incertissimae, venti tempestatesque, moderantur, s. Martin 1995, 82f. Vgl. Cie. de orat. l,105ff, s. Martin 1995, 87. Dazu stimmt die plausible Hypothese von Tarver 1997, 163, daß die varronischen Ordnungssysteme hier und in anderen Werken (s. u.) eine Antwort auf die Griechen darstellen, besonders aber auf die philosophischen Arbeiten seines Konkurrenten Cicero, mit denen er die griechische Philosophie in Rom heimisch machen wollte.

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u n d M e t h o d e n r e f l e x i o n b e t r e i b t . 1 4 9 Eine ars ist f ü r ihn mithin eine spezielle, reflektiertere F o r m v o n scientia, welche die einzelnen gründlich e r f o r s c h t e n F a k t e n zu e i n e m einheitlichen, methodisch strukturierten L e h r g e b ä u d e ordnet.150 Die Z u o r d n u n g d e r L a n d w i r t s c h a f t zu den artes bedeutet natürlich nicht, daß die B e d e u t u n g praktischer E r f a h r u n g geleugnet wird: Drei W e g e des I n f o r m a tionserwerbs hatte V a r r o im P r o ö m i u m genannt (zwei d a v o n k e h r e n in der V o r r e d e z u m zweiten Buch wieder)151, nämlich eigene Beobachtungen, Fachliteratur und mündliche Informationen d u r c h E x p e r t e n . 1 5 2 Das erinnert an die Dreiheit bei den empirischen M e d i z i n e r n nach Galen: αυτοψία (eigene A n s c h a u u n g ) , ιστορία (Überlieferung) und ή κατά το δμοιον μβτάβασίς (Analogieschluß), die auf das demokritische System der induktiven L o g i k z u r ü c k g e h t ; 1 5 3 bei V a r r o fehlt zunächst allerdings der Analogieschluß, d a f ü r w i r d die Ü b e r l i e f e r u n g aufgespalten in schriftliche u n d mündliche. A u f die experientia ( ε μ π ε ι ρ ί α , αυτοψία) geht er besonders in l , 1 8 , 7 f ein mit e i n e m k u r z e n E x k u r s in die Urgeschichte des A c k e r b a u s : Die ersten A c k e r b a u e r n hätten d u r c h A u s p r o b i e r e n ( t e m p t a n d o ) das meiste erreicht, ihre K i n d e r d u r c h N a c h a h m e n ( i m i t a n d o ) . V a r r o s Zeitgenossen aber sollen n u n beide W e g e

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Varro ap. Victorinump. 170,24 Halm Omnis ars duplex est, id est, duplicem faciem habet secundum praeceptum sententiamque Varronis, qui ait esse artem extrinsecus unam, aliam intrinsecus. Ars extrinsecus talis est, quae nobis scientiam solam tradit, intrinsecus, quae ita dat scientiam, ut illud ipsum, quod scientia dat, quibus rationibus faciamus ostendat. Ita illa ad scientiam solam proficit, haec ad scientiam, quae in actu sit, s. Skydsgaard 1968, 89, Anm. 6. Vgl. z.B. Aristoteles Metaphysica 1,1, 981a5 yi-yperm de τέχνη örav en πολλών της ίμτΐίιρίαζ ίννοημάτων μία καΰόλου *γίνηται wepl των ομοίων ύπόληψις (s. Heurgon 1978, 119); Cie. de orat. 1,92 artem vero negabat esse ullam, nisi quae cognitis penitusque perspectis et in unum exitum spectantibus et numquam fallentibus rebus contineretur. ibid. 108 ... ars ita definitur ... ex rebus penitus perspectis planeque cognitis atque ab opinionis arbitrio seiunetis scientiaque comprehensis. Nämlich eigene Erfahrung und Gespräche mit anderen Viehzüchtern (2 pr. 6). In 3,1,10 gibt er sermones, quos de villa perfecta habuissemus an. Eine andere Dreiteilung nach der Art der Informationsquelle unternimmt Varro kurz darauf (1,19,2 im Zusammenhang mit dem Einsatz von Arbeitstieren) in: Vorbesitzer, Nachbarschaft ( = imitari) und eigene experientia. Die Fachliteratur fehlt jeweils. 1,1,11 Ea erunt ex radieibus trinis: et quae ipse in meis fundis colendo animadverti et quae legi et quae aperitis audii. An mündlichen Quellen nennt er z.B. 2,7,1 einen Quintus Modius, einen vir fortissimus, etiam patre militari als Autorität für die Stutenhaltung, ferner den Ritter Marcus Seius für die pastio villatica, z.B. 3,2,7f; 3,2,2ff; 3,10,lf; 3,11,2; 3,16,10. S. Galen Subfiguratio empirica 2-5 p. 36ff Bonnet; bes. 4 p. 40 Bonnet ut mihi videtur et Theudas de eis ita scripsit: partes ... medicativae ... per empiriam nobis adveniunt, quae per ... inspectionem fit et historiam et transitionem earn quae fit secundum conveniens (vgl. 5 p. 41 Bonnet), s. dazu Usener 1892, 274.

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nutzen. Das Ausprobieren solle jedoch nicht mehr aufs Geratewohl geschehen, sondern mit ratio, also systematisch und planmäßig. 154 Hier kommt die demokritische Methode κατά το ομοιον μετάβασις doch noch zu Ehren. Mit der Adelung der agri cultura zur ars initiiert Varro ganz bewußt (1,7,2) einen Fortschritt hin zu einer reflektierten und rationalen Methode (1,18,8 sequentes rationem aliquam). Martin sieht Varro an der Spitze eines Trends zur „Verwissenschaftlichung" der Landwirtschaft im 1. Jh., der ablesbar ist an den Agrarschriften des Scrofa, Hygin, Turannius Niger, Julius Atticus, Julius Graecinus und Cornelius Celsus, einer Entwicklung, die auch in anderen Disziplinen wie Rhetorik, Architektur und Medizin zu verzeichnen ist, und die auch die Dichter, speziell Vergil, aufgegriffen haben. 155 Nachdem der wissenschaftliche Status der Landwirtschaft nunmehr geklärt ist, definiert Scrofa die agri cultura noch einmal, jetzt aber ausführlicher, und zwar als das Wissen (scientia) darüber, was auf jedem Acker zu säen und zu tun ist, und welcher Boden auf Dauer die größten Erträge einbringt. 156 In dieser Definition bezieht er also den Nützlichkeitsaspekt ein, den Varro in Tradition auch sonst als konstitutiven Bestandteil jeder ars postuliert. 157 Varro vereinigt somit in dieser Definition der agri cultura als ars im Gefolge Zenons das (schon von Piaton geforderte) Kriterium der gedanklichen Durchgliederung mit dem (von Aristoteles in den Vordergrund gestellten) der Zielhaftigkeit. 158 Aufschlußreich für Varros Denken ist die folgende Bestimmung der principia (άρχαί) des Ackerbaus: Sie seien dieselben, wie die des ganzen Weltalls, nämlich Wasser, Erde, Luft und Sonne (die wie die Sterne aus Feuer besteht). Für diese alte, auch in Indien und Ägypten bekannte, 159 von Aristoteles übernommene Vierelementenlehre beruft er sich auf Ennius, der pythagoreischempedokleisches Gedankengut verarbeitet hat. 160 Die vier Elemente, die in

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l,18,7f Antiquissimi agricolae temptando pleraque constituerunt, liberi eorum magnam partem imitando. Nos utrumque facere debemus, et imitari alios et aliter ut faciamus experientia temptare quaedam, sequentes non aleam, sed rationem aliquam. S. Martin 1971, 104; s. auch Meißner 1999, 69ff. 1,3 scientia, quae sint in quoque agro serenda ac facienda quaeque terra maximos perpetuo reddat fructus. S. Cassiod. inst. 2 praef. 4 (p. 91,11-13 Mynors) scire autem debemus, sicut Varro dicit, utilitatis alicuius causa omnium artium extitisse principia. S. dazu Nesselrath 1985, 138; zur weiten Rezeption der zenonischen Techne-Definition s. ibid. 148ff; zur Bedeutung des Nützlichkeitsaspektes mit seinen verschiedenen Kriterien für die verschiedenen antiken arj-Konzeptionen s. ibid. 182ff. S. Luck 1986, 365. 1,4,1 Eius principia sunt eadem, quae mundi esse Ennius scribit: aqua, terra, anima et sol; s. Enn. Epicharmus, frg. var. 47, (s. Flach, Komm, ad loc.), vgl. Vitr. 8 pr. 1, der die Vier-Elemente-Lehre als methodologische Grundlage seines achten Buches benutzt.

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Varros Weltbild wie bei Aristoteles übereinandergelagert die vier Schichten des Kosmos bilden (Erde, darüber Wasser, dann Luft und Feuer), seien wegen ihrer Fähigkeit, sich zu bewegen, 161 Lebewesen, und zwar göttlicher Natur. 1 6 2 Denn nach Varros pythagoreisch-empedokleisch-stoischer Theorie durchdringt die Weltseele „Iuppiter" oder „Ianus" die Elemente und macht sie so zu göttlichen Wesen. 1 6 3 In dieses Weltganze sieht Varro die Landwirtschaft eingebettet als einen Mikrokosmos, der aus den selben göttlichen Elementen besteht wie der Makrokosmos (1,4,1), womit diese Disziplin einen geradezu sakralen Status erhält. Dies ist eine Schlüsselstelle für Varros Wissenschaftskonzeption, auf die wir noch mehrmals zurückkommen werden. Diese Konstituierung eines Bezugs zum mundus, zum harmonisch geordneten Weltall, leitet über zu der bereits in der Definition angeklungenen Frage nach dem τέλος der Landwirtschaft. Dieser Zweck bestehe sowohl im Nutzen als auch im Vergnügen (s. auch 3,3,1). In Varros Ästhetik gehören Schönheit und Nutzen eng zusammen in dem Sinne, daß das Nützliche zugleich auch schön ist. Die Dualität uti - frui, die an das prodesse und delectare als Ziele der Dichtung bei Horaz (ars 333f) erinnert, zieht sich, wie Baier herausgearbeitet hat, leitmotivisch durch Varros Gesamtwerk. 164 Diese stoische Zweiheit von συμφέρον und καλόν165 findet auch Cicero in der Landwirtschaft. 166 Martin glaubt, hier eine in dieser Zeit aufkommende Diskussion fassen zu können: Für Cicero 167 und Xenophon als „Amateure" stehe der Aspekt der

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Antiq. frg. 24 Cardauns caelo ...et terrae et sideribus (et igni), quae deos .. credi (proposuit Varro ...) animalia esse caeflum] et astra. animalia ... videntur (elementa) quoniam ... [mojventur ... eo animalia credita, quodper semetipsa moverentur, nullo extrinsecus apparente motatore eorum ut iniatore ... S. Antiq. frgg. 259, 256, 255, 272 Cardauns, s. dazu Y. Lehmann 1997, 149f. Antiq. frg. 227, 12ff Cardauns (...) aethera porro animum eius (sc. dei); cuius vim, quae pervenit in astra, ea quoque facere deos, et per ea quod in terram permanat, deam Tellurem; quod autem inde permanat in mare atque oceanum, deum esse Neptunum. Ähnlich Cicero div. l,17ff; nat. deor. 2,65ff (s. Thornton 1976, 24). Vgl. Neoptolemos von Parion ap. Phld. Po. V 13 = p. 33,4ff Jensen. S. Baier 1997, 31-42; 55 u. ö. In De re rustica erscheint das Motiv z.B. 1,22,2 (Arbeitsgeräte), 1,23,4 (Unterscheidung in Pflanzen, die propter voluptatem und solche, die ab agri Militate gezogen werden), 2,8,5 (Beurteilung von Maultieren), 2,9,3 (Hirtenhunde müssen auch schön aussehen; anders als für Geoponica 19,4, s. Flach ad loc.); s. auch Flach 2002, 209. S. Dahlmann 1935, 1188. Dahlmann 1932, 63f; Novara 1982-83. Cie. de orat. 1,249 cui nostrum non licet fundos nostros obire aut res rusticas vel fruetus causa vel delectationis inviserel Cie. Cato 5 I f f ; zum Doppelaspekt von Nutzen und Vergnügen der Landwirtschaft s. besonders 56 neque solum officio, quod hominum generi universe cultura agrorum est salutaris, sed et delectatione qua dixi, et saturitate copiaque rerum omnium ..., s. Martin 1995, 88ff.

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voluptas im otium im Vordergrund, für Scrofa und Varro als „Manager" dagegen die utilitas, womit diese Disziplin für sie zum negotium werde; bei Columella, dem „Kapitalisten", werde sie dann zur occupatio. Jedoch hatte schon Cato, wie wir sehen konnten, die Landwirtschaft ausschließlich unter dem Rentabilitätsaspekt behandelt. Varro dagegen führt nun das aristokratische, mit Ökonomie und Technik eigentlich inkommensurable Element der voluptas in die Agrarliteratur ein und versucht sie mit den „kapitalistischen" Interessen zu versöhnen (z.B. l , 4 , l f ) . Varro zielt auf eine harmonische, sich gegenseitig tragende Beziehung von Nutzen und Ästhetik. Das Primäre bleibt allerdings der fructus (s. etwa auch die Definition der Viehzucht 2,1,11).

Zur utilitas trägt laut Varro vor allem die salubritas bei, die gesunde (oder ungesunde) Lage des Gutes (1,4,3), die aber teilweise durch scientia und diligentia verbessert werden könne (1,4,4). Varro legt also hier - stärker als Cato und auch Columella 168 - Wert darauf, daß Gegebenheiten der Natur durch menschliches Wissen korrigiert werden können. Zum Beweis führt er zwei Beispiele gelungener Seuchenprophylaxe an, eine von Hippokrates und eine von ihm selber (1,4,5). Damit bezieht er Position in der ars-natura Frage, die seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein Dauerthema der antiken Wissenschaft bildet. 169 Sie zieht sich durch das ganze Werk, in agrartechnischen wie in ästhetischen Zusammenhängen. 170

1.1.2.2.4. Grenzen der Technizität Nach der Bestimmung von Ausgangspunkt und Ziel der Disziplin, 171 also gleichsam ihrer äußeren Umrisse, werden ihre verschiedenen Sparten, also ihre Binnenstruktur dargelegt. Dabei distanziert sich Stolo gegenüber den von Agrius erwähnten diffizilen Einteilungen in den botanischen Werken des Theophrast, 1 7 2 die bei all ihren nützlichen Details doch eher in den Philosophenschulen ihren Platz hätten (1,5,2). Man verwirft mithin die Schriften des großen Naturforschers - deren Kenntnis man so aber durchblicken läßt - als im

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S. Colum. l , 3 , l f (s. auch Richter ad loc.). S. Lloyd 1979, 247. Z.B. zur Züchtung 1,40,2 Primigenia semina dedit natura, reliqua invenit experientia coloni usw; zur Synthese von ars und natura als ästhetischem Ideal s. Kap. 3.2.2., S. 314ff. 1,5,1 Sed quoniam agri culturae quod esset initium acfinis dixi ...: mit initium meint er die principia aus 1,4, Iff, mit finis utilitas und voluptas. 1,5,1 ... cum lego libros Theophrasti complures, qui inscribuntur Φυτών ιστορίας et alteri Φυτικών αιτιών ...

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Das Agrarhandbuch als Fachliteratur

ganzen gesehen zu praxisfremd und akademisch. 1 7 3 Zugleich ordnet man die Botanik der Landwirtschaft klar als Hilfswissenschaft unter 1 7 4 , die zweckfreie „Grundlagenforschung" der angewandten Wissenschaft. Varro intendiert mithin ein mittleres Reflexionsniveau, das zwar auf Ursachenforschung und Systematik nicht verzichtet, sich aber auch nicht zu sehr in praxisferne Theorien versteigen will. Hier zeigt sich, nunmehr auf höherem Niveau und in einer entspannteren Haltung, ein Verhältnis zur griechischen Wissenschaft, wie wir es schon bei Cato kennengelernt haben: Sie wird im großem Umfang rezipiert, aber im Sinne des Grundsatzes inspicere, non perdiscere auf den jeweiligen Gegenstand bezogen selegiert und auf spezifisch römische Interessen hin ausgerichtet. „Ist V. derjenige unter den römischen Gelehrten, der sich am tiefsten in die Gebiete der griechischen Wissenschaften begeben hat ..., so ist er doch auch der am meisten römische unter allen". 1 7 5

1.1.2.3. Disposition: Das Landgut als Mikrokosmos ... άριϋμύ

lucidatione coni. Zwierlein) disseruit, quem vobis inter alios lectitandum Dominopraestante dereliqui. 1376 j j j g o j p r j s c simpl. med. 1,1; Cet. Fav. 1 p. 287 Rose ne longa eorum disertaque facundia humilioribus ingeniis alienum faceret Studium, pauca ex his mediocri licet sermone privatis usibus ornare fuit consilium, s. Martin 1976, XLII Anm. 67; L). 1377 Plin. nat. 18,24 adhuc diligentius ea tractavere, quibusvis potius quam agricolis scripsissepossunt videri. S. auch Plin. nat. pr. 6 (in einem Bescheidenheitstopos gegenüber dem Kaiser) Humiii vulgo scripta sunt, agricolarum, opificum turbae, denique studiorum otiosis (18,323). Plinius d. J. epist. 3,5,17 berichtet, daß sein Onkel 160 commentarii mit Auszügen seiner Werke für 400.000 Sesterzen verkauft habe. 1378 Ähnlich wie auch schon bei Arat, s. Conte 1994, 8.

Ausklang: Palladius

261

gemäß dem stoischen Postulat der praktischen Nützlichkeit mit dem Ideal, selbst für einfache Menschen verständlich zu sein. 1379 Jedenfalls ist Palladius' Charakterisierung der mit agricolae und rusticis bezeichneten Adressatengruppe als einer der rhetorischen Bildung abholden Gesellschaft simpler Bauern nicht wörtlich zu nehmen. Denn selbstverständlich schreibt Palladius ebensowenig für einfache Bauern wie seine Vorgänger 1380 und auch nicht für ein „double public" aus Großgrundbesitzern und kleinen coloni,1381 Denn die Alphabetisierungsquote der einfachen Landbevölkerung war seit der Reichskrise ebenso gesunken wie die Wahrscheinlichkeit, daß der Erwerb eines Werkes in 14 Büchern mit den finanziellen Mitteln eines kleinen Bauern überhaupt möglich war. Man kann vielmehr davon ausgehen, daß Palladius' Leser, Angehörige der gebildeten Eliten des Reiches, über glänzende literarische Kompetenz verfügten. Seine zum Thema passende bäuerlich-antiintellektuelle Pose wird bei Palladius ebensosehr bloße Attitüde sein, wie schon bei Cato. Er spielt das genretypische literarische Spiel mit der bäuerlichen Verkleidung, ebenso wie Columella in seinem Gartenbaugedicht oder wie auch schon Vergil in seinen Georgica.1382 In dieses antirhetorische Programm paßt auch die subliterarische, sehr praxisorientierte Form des Bauernkalenders, wie ihn Columella XI für die Tätigkeiten des vilicus angelegt hat, der ganz im Tone bäuerlicher Einfachheit gehalten ist, wie der von Plinius d. Ä. 1 3 8 3 Auch der Stil ist dieser Konzeption weitgehend angepaßt. Seinen „atticisme tres recherche" 1 3 8 4 sieht Martin im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben des frontonischen Stilideals mit seiner Vorliebe für siccitas, sobrietas und frugalitas . 1 3 8 5 Diese Qualitäten findet er bei Palladius in exzellenter Weise vertreten, sowohl in der kunstprosagerechten variatio der Verbalformen als

1379

So richtig Nikitinski 1998, 348f. Die Mutmaßung von White 1970, 30, er richte sich nicht mehr an seine Standesgenossen, sondern an Pächter wurde von Martin 1976, LIV widerlegt mit Hinweis auf Pallad. l,7ff. wo er die großzügige und komfortable Anlage der Gutsgebäude beschreibt. Christmann 2003, 147 charakterisiert das Opus agriculturae treffend als „Herrenliteratur". 1381 So ζ. B. Frezouls 1980, 207ff. 1382 Ζ. B. Verg. georg. l,100f Umida solstitia atque hiemes orate serenas, / agricolae. 1383 P l i n n a t I8 ; 230ff. Auch Geopon. III ist kalendarisch angelegt. 1384 Martin 1985, 1968; Würdigung von Sprache und Stil in Auseinandersetzung mit Früheren bei Martin 1976, XXXIXff. Zu postklassischen Sprachelementen s. Svennung 1935. 1385 S. Martin 1976, XLVf. 1380

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Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk

auch im Vokabular. 1386 Damit greift der Spätling stilistisch zurück auf den von den Frontonianern so geschätzten 1387 Vorgänger Cato. Wie Cato liebt er den an die mündliche Unterweisung erinnernden, tief in der Tradition verwurzelten sententiösen Stil. 1388 Solchen Gnomen widmet er sogar ein eigenes Kapitel De industria et necessariis ad rura sententiis (1,6). Auch er tritt dabei mit Autorität auf: Seine Schaffensgrundsätze, ein Extrakt aus der gesamten bisherigen Literatur, schärft er seinem Leser, den er in der zweiten Person anspricht, nachdrücklich ein. 1 3 8 9 Ein Satz wie 1,6,3 In rebus agrestibus maxime officio, iuvenum congruunt, imperia seniorum mit ihrem patriarchalischen Gestus, 1390 oder die Faustregel in 1,6,4 Post bonam vindemiam strictius, post exiguam largius puta hätten so ähnlich auch von Cato geäußert werden können, wenn Palladius auch dessen lakonische Prägnanz sonst selten erreicht, außer etwa in seiner griffigen Formulierung des alten Grundsatzes 1,6,8 Fecundior est culta exiguitas quam magnitudo neglecta. Die unaufdringliche Eleganz des palladianischen Stils zeigt z.B. 3,9,2: piano igitur loco statues vitem cuius genus nebulas sustinet et pruinas, collibus quod siccitatem durat et ventos, pingui agro graciles atque infecundas, macro feraces et solidas, denso validas atque frondosas, frigido et nebuloso quae hiemem celeri maturitate praeveniunt aut quae duris acinis inter caligines securius florent, ventoso statui tenaces, calido grani tenerioris et umidi, sicco eas quae pluvias ferre non possunt.

1386

S. Martin 1976, XLVIf. S. etwa die Vielfalt in der Formulierung der Mengenangaben des erforderlichen Saatguts 2,4-8 (s. dazu Martin 1976, 185), ζ. B. im hortativen Konjunktiv, im Gerundiv, sich selbst einbeziehend in der dritten Person plural oder einfach die Vorgänge beschreibend (2,4 seramus; 2,5 und 2,6 seriturpangemus; 2,6 serenda est; seratur, 2,7 seremus). 1387 S. ζ. B. Fronto p. 56 van den Hout. 1388 „The earliest and the latest surviving writers are linked by a common fund of maxims and proverbs, often cast in archaic language, and embodying the accumulated experience of generations of farmers." (White 1970, 15). 1389 1,6,1 cuius (sc. industriae) haec erit cura vel maxima, ut has quas subieci ex omni opere rustico in primis debeas tenere sententias. 1390 Zur Sache vgl. Colum. 1,8,3; Var. rust. 1,17,4; 2,10,2. Palladius' Vorbild könnte ein Hesiod zugeschriebenes, weit verbreitetes (s. die Ausgabe von Merkelbach-West) Sprichwort sein: Hesiod frg. 321 Merkelbach-West epya νιων, βουλαΐ δέ μέσων, ίϋχάί öe Ύβρόντων (s. Martin 1976, 95f;).

Ausklang: Palladius

263

Man beachte die Konzinnität der ersten beiden antithetischen Glieder und die folgenden drei parallel gebauten Kola, gefolgt von einem längeren, das sich in zwei anaphorisch mit quae eingeleitete Nebensätze nach dem Gesetz der wachsenden Glieder unterteilt, gefolgt von drei kürzeren, ebenfalls wieder anwachsenden Kola, so daß die Gleichform der Periodenteile am Ende durchbrochen, und durch den Wechsel von Isokola und Variation der Eindruck von Monotonie vermieden wird. Ein solcher Periodenbau, der ein Höchstmaß an perspicuitas mit einem hohen Sinn für syntaktische Ausgewogenheit verbindet, verrät den Könner. Bei aller Schlichtheit verzichtet Palladius nicht ganz auf rhetorischen Schmuck. 1 3 9 1 Vor allem die Personifikation unbelebter Dinge und abstrakter Begriffe hat er von Varro und Columella übernommen, ζ. B. 1,17,2 aquae praebeatur hospitium\ 1,29,2 tricesimus dies maturos pullos in lumen emittet-, 1,6,9 Longius adminiculum vitis incrementa producit.1392 Speziell die Metaphorik des Gebärens und Nährens hat ihn angeregt. 1393 Beim Kohl (caulis), den schon Cato und Columella gepriesen hatten, wird er geradezu lyrisch, indem er dieser Pflanze eine ganze Reihe von menschlichen Regungen unterstellt. 1394 In einigen wenigen Fällen verfällt er auch in fast manieristische Wendungen mit einer gewissen „coquetterie", 1395 die sich entweder als absichtliche Durchbrechung der stilistischen Strenge durch Schmuckelemente interpretieren lassen oder als Versehen eines rhetorisch geschulten Verfassers, dessen Bildung hin und wieder durchbricht. 1396 Alles in allem spiegelt sich aber in der Wahl der Sprachebene wie auch in der subliterarischen Form des Kalenders die veränderte Interessenlage des Adressatenkreises und die andersartige Entstehungssituation des Werkes wider: Während Columella sich noch vor die Aufgabe gestellt sah, für sein Fach lautstark die Werbetrommel zu rühren, und dementsprechend eine elaborierte Form der Darstellung wählen mußte, sieht sich Palladius nicht mehr unter diesem Druck. Er ist sich seiner Leser, auf die er nur selten persönlich eingeht, 1397 offenbar sicher (mehr dazu im nächsten Kapitel).

1391 1392 1393

1394 1395

1396 1397

Zahlreiche Beispiele bei Svennung 1935, 86f. S. Martin 1976, XLVIII. Zahlreiche Beispiele bei Svennung 1935, 74ff. Ζ. B. 10,14,1 (tubur): cuius tenera diligenter nutriri debet infantia; 11,2 vom Lein: terrae über exhaurit. 3,24,5 (caules) diligunt, ... timent, ... non delectantur. Ζ. B. 1,33,2 ... limus, quem scaturiens aqua velfluvii incrementa respuerint, weitere Beispiele bei Martin 1976, XLVII. S. Martin 1976, XLVIIIf. Ζ. B. 3,10,1 Quod si arbustum te habere delectat ...

264

Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk

Palladius greift also in seinem schlichten, rustikal angehauchten, aber gleichwohl kunstvollen Stil und in seiner patriarchalischen Attitüde (wenn auch nicht im veralteten Inhalt) zurück auf den Alten Cato. Der letzte der römischen Agrarschriftsteller schlägt den Bogen zurück zu den Anfängen.

2.4.2. Das Carmen De insitione Wie Columella krönt Palladius seine Prosaschrift mit einem Lehrgedicht, dem Carmen de insitione, dem ebenfalls eine Widmungsepistel in Prosa vorausgeht. 1 3 9 8 Daß dieses Gedicht (es versifiziert ein Thema, das schon 3,17 behandelt wurde) in enger Verbindung mit dem Opus agriculturae geschaffen worden ist, geht bereits aus der Praefatio hervor. Denn es ist gedacht als ein Vorabgeschenk an seinen Adressaten (Pasiphilus) zur Überbrückung für die Wartezeit, in der die Prosabücher von den Schreibern kopiert werden, als eine Art Verzugszins (pr. 1 pro usura temporis) für die verzögerte Übersendung (pr. 1 serius quam iusseras scripta sunt), wie Palladius in Anlehnung an Columella betont. 1 3 9 9 Eine ausgiebige Klage über das antike Buchwesen stützt die Entschuldigung: Die Kopisten arbeiteten entweder langsam und sorgfältig oder rasch und nachlässig, wobei ersteres nach Palladius' Meinung entschieden vorzuziehen ist (pr. 1 malo opera eius expectare quam timere). Diesen Gedanken weitet er aus zu einer Betrachtung über das Wesen der Sklaven im allgemeinen, denen es seiner Ansicht nach an temperies gebricht, da die Natur bei ihnen oft die wünschenswerten Eigenschaften mit den gegenteiligen mische. Wir vernehmen hier das moralisierende Lamento eines Hausherren über das ewig mangelhafte Personal, mit dem er das Verständnis seines Standesgenossen erheischt, dessen er sich schon mit der rhetorischen Frage nescio utrum commune sit dominis (pr. 2) versichern will.

1398

1399

Die Echtheit des Gedichtes ist zu Unrecht bestritten worden, ζ. B. von H. Widstrand: Palladius och Carmen de insitione, Eranos 27 (1929), 129-139, überzeugend widerlegt von Svennung 1935, 46ff. Zur Überlieferungslage s. R. H. Rodgers: An Introduction to Palladius, BullICISt Suppl. 35), London 1975, 59ff., der das Gedicht wie Svennung für echt hält. Forschungsübersicht bei Maggiulli 1992b, die S. 854ff. die Widmungsepistel, die schon Svennung 1935, 4f als merkwürdige Doppelung empfunden hatte, aus Gründen der Überlieferungslage und der Lexik (fiducia ist in pr. 1 in einem anderen Sinne verwendet als in V. 9) dem Palladius absprechen will. Colum. 10 pr. 1 Faenoris tui, Silvine, quod stipulanti spoponderam tibi, reliquam pensiunculam percipe. nam superioribus novem libris hac minus parte debitum, quod nunc persolvo, reddideram.

Ausklang: Palladius

265

Auch im Gedicht selbst wird noch einmal auf die zweimal sieben Prosabücher Bezug genommen. 1 4 0 0 Die Formulierung legt, will man sie nicht einfach als eine poetische Zahlenangabe hinnehmen, die Vermutung nahe, daß das Werk symmetrisch angelegt ist, wobei das Gedicht eine Zugabe bildet. Und in der Tat: Zwischen zwei Büchern allgemeinen und übergreifenden Inhalts sind die 12 Bücher des Bauernkalenders eingebettet. Gleich am Beginn von De insitione steht eine weitere Widmung an Pasiphilus, der das Gesamtwerk in Auftrag gegeben hat. Sein Name fällt erst hier. Hier, außerhalb der sachlichen Darstellung, bietet sich die Gelegenheit, die Wertschätzung und die Zuneigung zu diesem Adressaten (Nomen est omen) zum Ausdruck zu bringen: 1

5

Pasiphile, ornatus fidei, cui iure fatemur, si quid in arcano pectoris umbra tegit, bis Septem parvos, opus agricolare, libellos1401 quos manus haec scripsit parte silente pedum, nec strictos numeris nec Apollinis amne fluentes sedpura tantum rusticitate rüdes, ...

In diesen ersten Distichen charakterisiert Palladius, über die Formelhaftigkeit der Praeordialtopik hinausgehend, 1402 seine Beziehung zu Pasiphilus als ein enges Vertrauensverhältnis (lf). Das Lehrgedicht ist, wie er auch schon im Widmungsschreiben erklärt (pr. 1 indultae fiduciae testimonium), eine Freundschaftsgabe und ein Zeichen treuer Ergebenheit. Erst die Anerkennung durch den Freund mache für ihn den Wert seiner Arbeit aus, der Prosaschrift wie des Gedichtchens, das er nun mit wachsendem Selbstbewußtsein beifügt: pr. 3 grande erit et par desiderio suo quod studii tui quaerat adfectio, et licet de his nugis favorabiliter sentias, ego meas opes aestimare non differo. Dieser Gedanke wird im Gedicht noch einmal aufgegriffen, wobei Palladius an die Freundschaft appelliert, die Pasiphilus veranlassen soll, diese Verse wohlwollend aufzunehmen (7ff.):

10

1400

1401

1402

... commendas, dignaris, amas et vilia dicta adfectu socii sollicitante colis. nunc ideo modicum crescens fiducia carmen obtulit arbitrio laetificanda tuo.

parv0St agricolare, libellos / quos manus haec scripsit parte septem 0pUS silente pedum, / nec strictos numeris nec Apollinis amne fluentes. Das Buch De veterinaria medicina gehört also als 14. Buch zum Werkplan des Opus agriculturae dazu. Eine Reminiszenz an Ovid ars 3,206 parvus, sed cura grande, libellus, opus (s. Maggiulli 1992b, 847). S. dazu Maggiulli 1992b, 845.

266

Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk

Denn er gibt vor, sich der Würdigkeit seines Gelegenheitsgedichtes, das er selbst in topischer Bescheidenheit als minutiae (pr. 2), nugae und minuta conpendia (pr. 3), als modicum carmen (9) bezeichnet, nicht sicher zu sein (pr. 2 verum nescio si tuum modo ad has minutias inclinetur ingenium)}403 Die Bitte, das Gedicht zu lesen (170 leges) bildet dementsprechend das letzte Wort des Gedichtes. Die erwartete Aufnahme durch den Widmungsadressaten beansprucht hier einen breiten Raum. Die Rahmung betont den ungewöhnlich starken persönlichen Bezug dieser Schrift. Erst die Lektüre durch den Freund mache die Verse zur Literatur. Hier greift Palladius sein Bekenntnis zum schlichten Stil aus der Vorrede zu Buch I wieder auf, zu dem diese Bescheidenheitstopik stimmt. Er blickt auf die Prosabücher seines opus agricolare zurück 1404 mit der Charakterisierung pura tantum rusticitate rüdes (6), und er bezeichnet sie in bescheidener Untertreibung als vilia dicta (7), im Einklang mit dem oben erwähnten antirhetorischen Programm. So demonstriert er den Wert, den er auf die Erfordernis des decorum legt, speziell auf die Angemessenheit des Stils für das behandelte Thema. Entsprechend reizvoll ist es, die Baumveredelung als bäuerliches Thema in elegante Verse zu bringen, eine Aufgabenstellung, die er in dem Oxymoron urbanumfari rusticitatis opus formuliert (12). Dieses Unterfangen bezeichnet er in seiner crescens fiducia (9) als ein nostrae Studium non condemnabile Musae (11). Damit distanziert er sich ein wenig von der didaktischen Pose des Lehrers und verschiebt den Akzent auf die ästhetische Form. Auch in der Abbruchformel am Ende bekennt er sich noch einmal wie am Anfang zum genus tenue, und empfiehlt seine carmina der Lektüre als aspera sed miti rusticitate, analog zu der pura rusticitas seiner Prosabücher (6). In 167ff. schreibt sich Palladius ganz stilecht selbst in die Rolle des hart arbeitenden altrömischen Bauern, so daß das Gedicht, wie das Columellas, gleichsam mitten unter der ländlichen Tätigkeit entstanden zu sein vorgibt:

170

haec sat erit tenuem versu memorasse poetam quem iuvat effossi terga movere soli, carmina tu duros inter formata bidentes aspera sed miti rusticitate leges.

Dabei läßt er die Sphragis der letzten vergilischen Ekloge anklingen: Zeichnet sich Vergil selbst als einen Hirten, der ein Körbchen aus zartem Eibisch flicht (ecl. 10,71), so stellt sich Palladius als einen Bauern dar, der die Erde umgräbt. Dabei entspricht die erneute Empfehlung an Pasiphilus Vergils Hommage

1403

1404

Insit. pr. 3 non est magni loci assibus intuendis oculos duxisse per pulverem, quia nescio quomodo notae quaedam sunt maximarumpersonarum minuta conpendia. Z u diesem autoreferenziellen Moment s. Formisano 2005, 298ff.

Ausklang: Palladius

267

an Gallus (ecl. 10,72ff.). Stellte sich also Columella durch seine intertextuellen Anspielungen vor allem in die Tradition der vergilischen Georgica, so wählt sein Nachfolger die Bucolica zu seinem Modell. 1405 Daß Palladius in seinem Gedicht, dem genus tenue, anders als Columella, auch tatsächlich treu bleiben will, zeigt er schon in der Wahl des Metrums, des elegischen Distichons, das zu dichterischen Kleinformen besser paßt als der „heroische" Hexameter, und das etwa an die ländliche Elegie eines Tibull erinnert. Nichthexametrische Lehrdichtungen, die schon Ovid liebte (Ars amatoria, Remedia amoris, Medicaminä), sind in der Spätantike beliebt, wie etwa Ausonius und Terentianus Maurus zeigen. 1406 Mit der Entscheidung für das elegische Versmaß setzt sich Palladius von Columella ab und tritt respektvoll einen Schritt zurück hinter Vergil. Einen etwas höheren, fast hymnischen Ton schlägt er allerdings in 21-26 an, wo er gattungsgerecht den kulturellen Wert der von ihm behandelten ars herausstellt, indem er die religiöse Dimension der Baumveredlung erläutert (21ff.): ipse poli rector, quo lucida sidera currunt, quo fixa est tellus, quo fluit unda maris, cum posset mixtos ramis inducere flores et varia gravidum pingere fronde nemus, dignatus nostros hoc insignire Labores, naturam fieri sanxit ab arte novam.

25

Wie Vergil sieht auch Palladius die ländliche Arbeit als etwas Gottgewolltes an. Ein signifikanter Unterschied zum Vorbild 1407 besteht in dem Gedanken, daß Palladius' poli rector die Kunst des Veredeins der Natur als schöpferische Tätigkeit den Menschen überlassen hat, was natürlich dem dargestellten Thema eine besondere Dignität verleiht. 1408 Denn an dieser Arbeit teilhaben zu dürfen ist für den Menschen eine Ehre (dignatus); der Aspekt des labor improbus, der Mühsal, die Vergils Juppiter den Menschen aus pädagogischen Gründen auferlegt hat, fehlt hier völlig. Wie bei Columella wird der labor positiv gesehen, arbeiten Gottheit und Mensch gleichsam Hand in Hand, wobei allerdings stärker das Gefalle zwischen dem erhabenen poli rector und den Sterblichen betont wird. Durch diese religiöse Dimension erhalten auch die alterwürdigen Vorgänger, denen Palladius seine Reverenz erweist, eine geradezu sakrale Geltung: V. 35 incipiam: quicquid veteres scripsere coloni / sacra-

1405

Zu den kunstvollen Reminiszenzen an Vergil, vor allem an die Eklogen, aber auch den Georgica und der Appendix Vergiliana und an Ovid s. Maggiulli 1992b, 849ff.; di Lorenzo 2000.

1406

s

1407

Verg

1408

E f f e

1 9 7 7 ;

1 0 4

A n m

5

i > i 2 l f f . , s. Effe 1977, 105 Anm. 6. georg S. Effe 1977, 105.

268 que priscorum stilisiert er so unscheinbar es es eine Brücke Ahnen. 1 4 0 9

Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk

verba labore sequar. Die Anweisungen zur Baumveredlung zu einem heiligen Vermächtnis der Ahnen. Dieses Sujet, so auch sein mag, erhält hier eine fast kultische Bedeutung, indem schlägt sowohl zur göttlichen Sphäre als auch zu den verehrten

Doch ansonsten verbleibt er im Rahmen des genus tenue. Gemäß diesem Programm ist die Sprache gepflegt, aber nicht maniriert. Stilistisch bilden (wie schon bei Vergil und ausgiebiger bei Columella) die zahlreichen Personifikationen der anthropomorph dargestellten Pflanzen den auffälligsten Zug. Sie beleben den an sich trockenen Stoff und ermöglichen eine emotionale Identifikation des Lesers mit dem dargestellten Gegenstand. Dabei wird das Verhältnis der gepfropften Pflanzen gerne im Bild von Liebesverbindungen und Hochzeiten dargestellt, was zum Distichon als dem traditionellen Metram der Liebeselegie gut paßt. Columellas sublimes ίερός-γάμος-Μοίίν ist hier ins Kleine und Bescheidene zurückgestutzt, so wie das heroische Metrum auf das elegische reduziert wird. Diese Bildlichkeit kündigt er programmatisch zu Anfang des Gedichtes in seiner Themenangabe an, 1 4 1 0 und er variiert dieses Motiv immer wieder in den unterschiedlichsten Formulierungen, 1411 was etwas an die Progymnasmata des Grammatikunterrichts erinnert. Die mythologischen Anspielungen sind sparsam gesetzt und bleiben ganz im Rahmen des bukolischen Genres, ζ. B. stehen Apolls Helikon-Quell und die Muse bzw. ihr italisches Pendant, die Camena, als konventionelle Metaphern für Palladius' Dichtung (V. 5, 11 und 27). Der Lar wird in einer verblaßten Metonymie erwähnt. 1 4 1 2 Bacchus, der das erlesene Epitheton Echionius erhält, tritt als Urheber des Weins auf 1 4 1 3 oder als dessen Metonymie, 1414 und Pallas Athene wird als Stifterin des Ölbaums beiläufig genannt. 1415 Der

1409

S. auch 27f, am Abschluß der religiösen Digression, non segne officium nostrae reor esse Camenae / aut operis parvi gratia fiet inops. 1410 jgff thalami specie felices lungere silvas, / ut suboli mixtus crescat utrimque decor, / connexumque nemus vestire adfinibus umbris / at gemina partum nobilitare coma ... 1411 Ζ . Β. 55f Germine cana pirus niveos haud invidaflores / commodat et varium nectit amore nemus. 77ff. Insitaproceris pergit concrescere ramis / et sociam mutat malus amica pirum / seque feros silvis hortatur linquere mores / et partu gaudet nobliliore frui. 1412 116 castaneae prunus iussa tenere larem. 1413 Primus Echionii palmes se lungere Bacchi / novit. 1414 50 pampinus et pingui curvat onusta deo (man beachte das humoristische, geradezu despektierliche Attribut pingui)·, 87 robora thyrsigero platani concordia Baccho. 1415 51 Robora Palladii decorant silvestria rami.

Ausklang: Palladius

269

Mandelbaum heißt Phyllis und wird wie ein liebendes Mädchen dargestellt, 1416 was nicht nur an die aitiologische Metamorphosensage von der gleichnamigen unglücklich liebenden thrakischen Königstochter erinnert, 1417 sondern auch, da Phyllis häufig als Name von Hirtinnen und Geliebten in der Dichtung vorkommt, 1 4 1 8 bei einem literarisch gebildeten Publikum bukolische Szenarien evoziert. Natürlich dürfen auch die Nymphen nicht fehlen. 1 4 1 9 Palladius' Verse sind mithin, in deutlichem Gegensatz zu Columellas zehntem Buch, mit einem weit sparsameren und weniger bildhaft ausgestalteten mythologischen Personal ausgestattet. 1420 Im Vordergrund der Darstellung stehen einerseits die göttliche Sendung der Baumveredlung und anderseits die liebevoll geschilderten „Hochzeiten" der Pflanzen selbst, die nicht von zu üppigen mythologischen Schnörkeln überlagert werden sollen. Mit seiner eleganten, zurückhaltenden Ästhetik stimmt das carmen gut zum Duktus des Gesamtwerkes. Palladius' nugae, verfaßt in elegischen Distichen, sind also deutlich weniger prätentiös als Columellas Gartengedicht. Und das müssen sie auch sein, denn nachdem der Spanier in dem Bestreben, Vergil zu überbieten, bis hart an die Grenzen des decorum gegangen war, hätte eine weitere Steigerung der Ausdrucksformen unweigerlich zum Schwulst, zum ψυχρόν, geführt. So konnte Palladius nur noch nach rückwärts ausweichen, noch hinter Vergils klassische Eleganz, in ein anmutiges, der Bukolik und der ländlichen Liebeselegie verpflichtetes, zum Thema passendes Understatement. Palladius' literarische Gestaltung führt also in der Prosa wie in der Dichtung, abgesehen von wenigen Ausflügen in die Nähe des genus grande, das Programm einer mitis rusticitas (170) konsequent durch, gemäß den rhetorischen Erfordernissen des decorum im Bezug auf Inhalt, Verfasser und Publikum. Der gebildete Landedelmann verbindet die Liebe zur altehrwürdigen Rustizität mit einer gepflegten Kultiviertheit, die seine Verbundenheit mit der Scholle zeigt, ihn aber zugleich auch von der einfachen Landbevölkerung distinguiert. Auch bei Palladius dient der Stil also der Selbstcharakterisierung seines Verfassers.

1416 giff phyllida quin etiam grandi mitescere fructu / instituens durae dat sua membra cuti, / et steriles spinos et inertem fetibus ornum / dotat et ignotum cogit amare decus\ 148 in Verbindung mit einer Metaphorik des Schmückens und Bekleidens; blasser in 97f inponitque leves in stipite Phyllidis umbras / et tali discit fortior esse gradu. 1417 S. ζ. Β. Ov. epist. 2; auch Verg. ecl. 5,10 spielt auf diese Liebesgeschichte an; s. auch Culex 132. 1418 Ζ. B. Verg. ecl. 3,76; 78; 7,14 u. ö.; Hör. carm. 2,4,14; 4,11,3. 1419 86 et gratum Nymphis spargere flore nemus. 1420 S. auch Effe 1977, 105f.

270

Das Agrarhandbuch als literarisches Kunstwerk

So bleibt sein anmutiges Gelegenheitsgedicht vielleicht doch wenig mehr als eine von der Rhetorikschule beeinflußte Fingerübung, einen trockenen und abgelegenen Stoff in elegante Verse zu bringen. Was ihm fehlt ist die über das Sachthema hinausgehende übergreifende poetische Vision, die Columellas Gedicht ganz durchdrungen hatte, die aber bei Palladius als eine schöne Arabeske punktuell begrenzt ist (21-36), so daß ein gewisser Bruch bleibt zwischen dem hohen Anspruch und dem etwas banalen Gegenstand. Eine poetische Höchstleistung lag allerdings auch nicht in der erklärten Absicht des Verfassers. Sein selbstgestecktes Ziel, seinem Leser einen angenehmen Zeitvertreib zu bieten, hat dieser Bukoliker unter den Lehrdichtern jedenfalls bravourös erreicht.

2.5. Fazit Das Agrarhandbuch steht im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zudem nimmt es oft Elemente verschiedener anderer literarischer und subliterarischer Gattungen in sich auf. So pflegt Cato, der als erster in Rom agrarisches Wissen verschriftlicht hat, gezielt einen an die traditionelle mündliche Unterweisungen vom Vater an den Sohn angenäherten sentenziösen Stil. Damit wirkt er stilbildend für das Fach. In der lockeren Reihung seiner Vorschriften verweigerte er sich ostentativ den formalen und methodischen Merkmalen fachwissenschaftlicher Literatur (bei gleichzeitiger Übernahme ihrer Inhalte). Um seinen Anweisungen Autorität zu verleihen, läßt er zuweilen den Ton der Gesetzestexte und altrömischer Carmina anklingen, wie er auch Vertragsformulare und Anweisungen zu religiösen Riten in sein Hausbuch aufnimmt. Mündlichkeit wahrt auch noch Varro in seinen Dialogen, mit denen er eine Darstellungsform gewählt hat, die sich als ein Kompromiß zwischen mündlicher und schriftlicher Unterweisung verstehen läßt. Sein kantiger, archaisierendsalopper Stil unterstreicht seinen altrömisch-rustikalen Habitus und dient einer doppelten Abgrenzung einerseits von den Ungebildeten, andererseits von der peniblen Schulgrammatik. Doch schlägt bei ihm bereits die „mentalitä classicista" 1 4 2 1 einer dominierenden Schicht durch, für die Bildung in erster Linie literarische Bildung war. So verwendet er zur Aufwertung des Themas das prestigeträchtige literarische Genus des aristotelisch-herakleidischen Dialogs. Dabei schaffen seine Rahmenhandlungen samt ihren Schauplätzen nicht nur römisches Kolorit und Anknüpfungspunkte für das Thema, sie situieren auch die handelnden Personen, nämlich Angehörige der konservativen landaristokratischen Eliten, programmatisch in ihrer Lebenswelt. Die Dialogform wird so genutzt für die Selbstinszenierung einer politischen Klasse. Diese spielerische

1421

Gara 1992, 374.

Fazit

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Inszenierung wird von Varro selbst ironisch gebrochen. Die moralisierenden Passagen erinnern an die Diatribe, und Züge der Menippeischen Satire sorgen für Auflockerung im Sinne des airovomoyeXoiov. Bei Columella treten die Merkmale der Mündlichkeit zurück, ζ. B. die direkte Anrede des Lesers im Vergleich zu Cato, die dialogische Form, das Einstreuen von Anekdote, Witz und Wortspiel gegenüber Varro. Columella bekennt sich erstmals offen zur Gattung des inzwischen im gesellschaftlichen Ansehen gestiegenen Fachbuches. Doch er greift in den argumentierenden Passagen seines Werkes gerne Züge der Suasorie und der Invektive auf, da er als Apologet und Werber für die Landwirtschaft auftritt. Daher ist seine elegante Diktion nicht nur didaktisch auf den Adressaten bezogen, sondern auch stark rhetorisiert. Zahlreiche Dichterzitate, vor allem aus Vergil, sollen die intellektuelle Akzeptabilität seines Faches betonen. In ausdrücklicher Nachfolge und aemulatio Vergils (und Hesiods) gestaltet er sein zehntes Buch über den Gartenbau sogar als hexametrisches Lehrgedicht mit einer kosmologisch-philosophischen Botschaft. Am Ende einer Entwicklung, die auf eine zunehmende literarische Stilisierung hinausläuft, deren Möglichkeiten seit Columella ausgereizt sind, erfolgt dann bei Palladius der Umschwung in einen neuen selbstbewußten Purismus. Er greift zurück auf das subliterarische Genre des Bauernkalenders. In seiner kunstvollen Kunstlosigkeit mit stilistischen Anklängen an Cato, besonders in seiner Sentenzensammlung in 1,6, betont er seine Verhaftung in der Tradition. Auch im Gedicht De insitione am Werkende, das er in Abgrenzung zu Columellas Hexametern in den weniger prätentiösen elegischen Distichen verfaßt, bekennt er sich selbstbewußt zum themengerechten genus tenue, speziell zu seiner mitis rusticitas.

3. Das Agrarhandbuch als Inititation in Habitus und Wertewelt der landbesitzenden Eliten Aus den bisherigen Untersuchungen ist bereits deutlich geworden, wie sehr nicht nur die rein objektiven Gegebenheiten die Wahrnehmung und Beschreibung des fachtechnischen Gegenstandes bestimmen, sondern auch soziale und kulturelle Faktoren. Sie alle können den „exaktwissenschaftlichen" Zugriff durchkreuzen. Denn die Landwirtschaft ist ein höchst sensibler Bereich des sozialen Lebens in Rom, aufgeladen mit hoher Emotionalität - und mit massiven Standesinteressen. Daher soll nun untersucht werden, wie die Landwirtschaft als Existenzgrundlage und als Lebensform dargestellt, affektiv und moralisch aufgeladen und als Medium der Selbstvergewisserung einer bestimmten Schicht in ihrem spezifischen Habitus und ihren Werthaltungen genutzt wird. Daß die Römer ein besonderes Verhältnis zum Landleben hatten, ist allgemein bekannt. In besonderem Maße gilt das für die römische Senatorenschaft, für welche die Landwirtschaft gemäß der Lex Claudia de quaestu senatorum aus dem Jahre 218 v. Chr. die einzige legitime Einnahmequelle darstellte, 1422 und welche folglich ihren sozialen Status und ihre gesellschaftliche Identität über den Landbesitz definierte. Dementsprechend hatte diese Schicht ein natürliches Interesse daran, diese Lebensweise als besonders wertvoll darzustellen. Nun ist die Bewertung des Landlebens als moralisch bester Lebensform aber keine so spezifisch römische Angelegenheit, wie unsere Autoren es gerne darstellen. Auch in der griechischen Kultur finden sich von Hesiod an Vorbilder, wie Aristoteles, Xenophon und die attische Komödie, welche unisono die Natürlichkeit, Gerechtigkeit, Wehrhaftigkeit, Autarkie und Sozialverträglichkeit des Landlebens preisen. 1423 Und so haben die Römer von den tech1422 1423

S. dazu Baltrusch 1989, 30ff. Aristoteles Politika 6,4, 1318b9ff hält Ackerbauern und Viehzüchter für die besten demokratischen Staatsbürger; für Aristoteles Oikonomikos 1,2, 1343a25ff steht der Landbau im Einklang mit der Natur, ist gerecht, macht unabhängig vom Wohlwollen anderer, stark und kriegstüchtig. Sokrates in Xenophons Oikonomikos (in einer Zeit der Krise und der Rückbesinnung, s. Eigler 1996, 143) betont die Werthaftigkeit des Landlebens: Die Erde, die ja eine Göttin sei, lehre Gerechtigkeit, da sie denen, die sie am besten bebauen, als Gegenleistung auch die meisten Güter spende (Xen. oec. 5,12 tri öe ή -γη ϋβος ούσα τους δυναμένους καταμανΰάνβιν και δικαιοσύνην διδάσκει' τους yap άριστα ΰίραιτίύοντας αυτήν πΧβΐστα ά-γαΰά άντιποιβϊ), s. auch 5,1 und 17; s. dazu Kier 1933.

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nisch überlegenen Griechen nicht nur viel Fachliches übernommen, sondern auch die Liebe zum Land 1 4 2 4 und manch andere Motive, aus denen sich die Ideologie des römischen mos maiorum konstituiert. Allerdings weist die Beziehung der Römer zum Land eine gewisse Ambivalenz auf: In der Zeit der Punischen Kriege, als die politische und geistige Führerrolle der landbesitzenden Senatsaristokratie zunehmend in Konkurrenz zu anderen Lebens- und Erwerbszweigen geriet, wurden unter der zunehmend urbanisierten Bevölkerung Roms die ersten geringschätzigen Bemerkungen über das Landleben laut. 1425 In republikanischer Zeit wird rusticus allerdings nur selten mit abwertendem Unterton gebraucht, und zwar meist dort, wo griechischer Einfluß vermutet werden kann, nämlich in Rhetorik und Komödie. 1426 Just zur selben Zeit tritt in Rom mit Cato aber auch einer der ersten Lobredner des Landlebens auf. Dieser Konflikt wird, wie wir unten zu Varro noch sehen werden, in der ausgehenden Republik verschärft wieder aufleben. Doch ungeachtet aller Kritik wurde die Idealisierung des Landes und seiner Bebauer zu einem Kernelement der Konzeption vom traditionellen Römertum, wurde die italische Scholle zu einem geradezu mythischen Ort, einem Kristallisationspunkt alter römischer Werte. Wir wollen entlang unserer vier Agrarschriften verfolgen, wie es dazu kam; denn nicht von Ungefähr waren zwei der wichtigsten Vordenker dieser traditionalistischen Romidee, nämlich Cato d. Ä. und Varro, auch Verfasser von vielgelesenen Agrarhandbüchern. Auch die komplexe Frage nach dem Verhältnis dieses Ideals zur Realität soll nicht vergessen werden.

3.1. Cato: Mos maiorum und Machtpolitik; Durch die militärische Expansion im 3. und 2. Jh. erlebte die römische Republik einen rasanten Wandel. So führte der Zustrom von Beutegut, Sklaven und griechischem Fachwissen in der Landwirtschaft einen Umschwung herbei, der eine Landkonzentration in größere Höfe nach sich zog. Von den neuen Verhältnissen nach dem zweiten Punischen Krieg profitierten die Ritter, etwa als Handelsherren, Land- und Steuerpächter, die ständig an Einfluß zunahmen, worin die senatorische Führungsschicht eine bedrohliche Konkurrenz erkannt haben dürfte, zumal die Lex Claudia von 218 v. Chr. den Senatoren die einträglichen Handelsgeschäfte außer der Vermarktung ihrer landwirtschaftlichen Produkte

1424 1425

1426

S. Martin 1971, 71f. S. Robert 1985, 32ff; Weeber 2000, Art. „Du Bauer", 43-45 mit Belegstellen und weiterführender Literatur. z

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37

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verbot. 1 4 2 7 Zugleich geraten die alten Eliten in Legitimationsdruck durch den Kontakt mit neuen Philosophien, welche die tradierten gesellschaftlichen Muster in Frage stellten. 1428

3.1.1. Vom Landedelmann zum Censor Alle diese Tendenzen arbeiteten Cato zu. Der clevere Politiker hatte die Zeichen der Zeit klar erkannt. Mit siebzehn Jahren (also um 216) begann seine erfolgreiche Militärlaufbahn. 1429 Vermögen, Leistung und Protektion öffneten dem homo novwi 1430 in den schwierigen Zeitläuften den Weg zu einem klassischen cursus honorum1431 (204 wurde er Quaestor, 198 Praetor, 195 Consul, 184 Censor). Dabei dürften ihm, neben seinen militärischen Meriten und seinem Redetalent in Prozessen, nicht zuletzt auch seine Erfahrungen bei der Leitung eines Gutshofes empfohlen haben. 1 4 3 2 Denn Kompetenz in der Gutsverwaltung galt als Schlüsselqualifikation für die Verwaltung öffentlicher Ämter. 1 4 3 3 Der Abkömmling aus einer tusculanischen Familie mit römischem Bürgerrecht legte großen Wert auf die militärischen Verdienste und Tugenden seiner aus dem Sabinischen stammenden Familie, 1434 namentlich seines Vaters und seines Urgroßvaters, der offenbar begütert war, und dem der Staat fünf Pferde, die er im Kampf verloren hatte, ersetzt hatte. 1435 Dort im Sabinerland, wo Cato von seinem Vater Besitzungen geerbt hatte, hielt er sich bereits als adulescentulus auf. 1 4 3 6 Wahrscheinlich entstammt er gerade jenem „italischen Landadel, aus dem sich auch in späterer Zeit noch die römische Nobilität zu

1427

S. Kienast 1979, 27; 71-80; Baltrusch 1989, 30ff. S. Meißner 1999, 170. 1429 Plutarch Cat. ma. 1,8; Nep. Cato 1,2. 1430 S. ζ. B. Veil. 2,128,2; Val. Max. 3,4,6; Plutarch Cat. ma. 1,2. 1431 Gehrke 2000, 149. 1432 S. Kienast 1979, 37. 1433 S. Kienast 1979, 76. 1434 g Plutarch Cat. ma. 1,2 αύτος 6\eye καινός eivai προς αρχήν και δόζαν, ep-γοις öe προγόνων καϊ άρβταϊς παμπάλαιος. 1435 S. Plutarch Cat. ma. 1,If. 1436 Nep. Cato 1,1 ortus municipio Tusculo, adulescentulus ... versatus est in Sabinis, quod ibi heredium a patre relictum habebat; Plutarch Cat. ma. 1,1). Laut Plutarch Cat. ma. 21,3 soll Cato aus bescheidenen Verhältnissen stammen, was Kienast 1979, 33ff und Astin 1978, Iff mit guten Argumenten für eine künstlerische Übertreibung halten (über potentielle Verwandte, die selber Karriere gemacht haben und ihn möglicherweise unterstützt haben könnten, spekuliert Astin ibid. 9f). 1428

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ergänzen pflegte". 1 4 3 7 Jedenfalls stellt er heraus, daß seine Vorfahren, wenn auch politisch nicht bedeutend, stets nach den Idealen der alten Geschlechter gelebt hätten. Diese seine ländliche Herkunft und seine Verwurzelung mit der Scholle betonte Cato stets mit größtem Nachdruck. Schon als junger Mann beeindruckte er, orientiert am Beispiel des Curius Dentatus, 1438 durch seine Arbeitsamkeit und Härte seine patrizischen Gutsnachbarn, indem er im Winter leicht und im Sommer unbekleidet auf dem Feld arbeitete und ganz nach patriarchalischer Sitte gemeinsam mit seinen Knechten die gleichen bescheidenen Mahlzeiten einnahm. 1439 Namentlich imponierte er seinem aus einflußreicher Familie stammenden Nachbarn L. Valerius Flaccus, 1440 der sein Förderer wurde und ihm den Weg in die Politik bahnte. 1441 Angesichts dieser wichtigen Rolle, welche die Landwirtschaft in Catos Laufbahn spielte, ist es nur konsequent, daß er ihr eigene Werke widmete. Erhalten ist uns bekanntlich nur De agri cultura, leider nicht das Buch über die Landwirtschaft an seinen Sohn Marcus. Cato gilt zwar in erster Linie als Staatsmann und erst in zweiter Linie als Landwirt oder Schriftsteller, 1442 aber seine allseits gepriesene Vielseitigkeit, seine Kompetenz und Sorgfalt in allen Lebensbereichen eines römischen Senators 1443 bewährten sich auch hier in diesem für das Gemeinwesen so zentralen Thema.

3.1.2. Die ethische und soziale Verortung der Landwirtschaft In der Praefatio von De agri cultura nimmt Cato eine Verortung der Landwirtschaft im moralischen und sozialen Wertgefüge vor, die unsere Beachtung verdient: Hier stellt er in seiner priamelähnlichen Darstellung möglicher Erwerbsquellen die Landwirtschaft als den einzig zugleich sicheren und ehrenwerten Erwerbszweig vor, in Absetzung von den konkurrierenden (urbanen) Branchen Handel und Zinswucher. Dazu beruft er sich auf den Wertekanon der Vorfahren: Mit ihnen verwirft er den Handel als zu riskant und den Wucher, den

1437

1438 1439

1440 1441 1442 1443

Kienast 1979, 33; s. auch Friedrich Münzer: Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920, 49. Cie. Cato 55; Plutarch Cat. ma. 2,1-3, s. Geizer 1953, 109. Plutarch Cat. ma. 3,2; vgl. Cato orat. frg. 128 Malcovati. = 93 Sblendorio Cugusi. Ganz wie Laertes bei Homer Od. 16,140f. S. auch Nep. Cato 1,1, s. Gelzer 1953, 109. S. Astin 1978, 6; Kienast 1979, 27 und 37. Kienast 1979, 9. Nep. Cato 3,1 In omnibus rebus singulari fuit industria: nam et agricola sollers et peritus iuris consultus et magnus imperator et probabilis orator et cupidissimus litterarumfuit. Liv. 39,40,4 Nulla ars nequeprivatae nequepublicae rei gerendae ei defuit; urbanas rusticasque res pariter callebat.

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er auch sonst aufs heftigste verurteilt, 1444 mit harten Worten als unehrenhaft und schlimmer denn Diebstahl. Dagegen sei das Lob schlechthin für einen wackeren Mann gewesen, ein guter Bauer und ein guter Siedler zu sein 1445 (so wie er auch in einer Ermahnung an seinen Sohn den tüchtigen Landwirt als den Inbegriff eines vir bonus definiert). 1446 Die Landwirtschaft als ein pius quaestus nehme einen äußerst günstigen Einfluß auf die Charakterbildung: Aus den Bauern rekrutierten sich die tapfersten Männer und die motiviertesten Soldaten (dabei denkt er sicher auch an seine eigene Person und Herkunft); aus der Landwirtschaft komme der rechtschaffenste und der beständigste Erwerb, und auch der am wenigsten neidbehaftete, und die Leute, die sich mit ihr beschäftigen, seien fern von übler Gesinnung. 1447 Bäuerliche Tüchtigkeit und charakterliche Integrität werden hier also in eins gesetzt: Die bäuerliche Erwerbsart bringt römische Werte, wie Tapferkeit, Wehrtüchtigkeit und pietas hervor und provoziert am wenigsten Ressentiments. 1 4 4 8 Cato schreibt der Landwirtschaft somit eine hochgradig sozialintegrative Funktion zu: Sie sichert die Wehrhaftigkeit nach außen (durch die viri fortissimi et milites strenuissimi),1449 die gute Beziehung nach „oben" zu den Göttern (als pius quaestus) und den sozialen Frieden im inneren (minimeque invidiosus, minimeque male cogitantes), und das alles auf eine Weise, die

1444 g 2,89 überlieferte Bonmot, in dem er Geldverleihen mit Mord von q c gleichsetzt et cum ille qui quaesierat, dixisset: „Quid fenerari?" tum Cato: „Quid hominem, inquit, occidere?" Auch während seiner Praetur in Sardinien i. J. 198 soll er scharf gegen Wucherer vorgegangen sein (s. Liv. 32,27,3f). Unklar ist seine Rolle bei der Dissuasio legis Iuniae de feneratione (frg. 57 Male. = 41 Sblend.) Tertio autem pedato item ex fenore discordia excrescebat, s. etwa Kienast 1979, 35f und dagegen Astin 1978, 323. 1445 P r ι ßst interdum praestare mercaturis rem quaerere, nisi tarn periculosum sit, et item f[o]enerari, si tarn honestum sit. maiores nostri sie habuerunt et ita in legibus posiverunt: furem dupli condemnari, ffojeneratorem quadrupli. quantopeiorem civem existimarint ffojeneratorem quam furem, hinc licet existimare. 2 et virum bonum quom laudabant, ita laudabant: bonum agricolam bonumque colonum-, 3 amplissime laudari existimabatur qui ita laudabatur. mercatorem autem strenuum studiosumque rei quaerendae existimo, verum, ut supra dixi, periculosum et calamitosum. 1446 p r g 6 Jordan Vir bonus, Marce fill, colendi peritus, cuius ferramenta splendent. 1447 Pr. 4 At ex agricolis et viri fortissimi et milites strenuissimi gignuntur, maximeque pius quaestus stabilissimusque consequitur minimeque invidiosus, minimeque male cogitantes sunt qui in eo studio occupati sunt. 1448 S. dazu Flores 1978, 73ff. 1449 Cato rühmt die Tapferkeit und Todesverachtung der veteres bei Cie. Cato 75, vgl. orig. 4 frg. 83. Zu diesem Topos s. etwa auch Veg. mil. 1,3,1 numquam credo potuisse dubitari aptiorem armis rusticam plebem, quae sub divo et in labore nutritur, solis patiens, umbrae neglegens, balnearum nescia, deliciarum ignara, simplicis animi, parvo contenta, duratis ad omnem laborum tolerantiam membris ... ; vgl. auch Verg. georg. 2,532-534.

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Beständigkeit garantiert (stabilissimusque). 1450 Die entscheidende Instanz bei der Positionierung der Landwirtschaft im gesellschaftlichen Wertesystem bilden die maiores (die als syntaktisches Subjekt im größten Teil der Praefatio bis pr. 3 präsent bleiben). Gleich zu Anfang stellt er dabei sein Werk in den Rahmen des 300 Jahre alten Zwölftafelgesetzes und der darin kodifizierten Werthaltungen der Ahnen; 1451 so verbindet er seinen strengen gesellschaftspolitischen Konservativismus mit dem Pathos der moralischen Überlegenheit einer früheren, besseren Zeit. Die Formulierung gignuntur (pr. 4) bezieht den Aspekt der gesunden bäuerlichen Abstammung ein, welcher der Landedelmann Cato eine wesentliche Bedeutung für die Wehrtüchtigkeit der Römer zuschreibt, was in der Folgezeit ein Topos werden sollte. 1452 Diese Betonung der Herkunft verweist auf die Kontinuität, mit der auf dem Lande (wo es keine konkurrierenden und korrumpierenden fremden Einflüsse gibt) die ererbten römischen Tugenden des mos maiorum von Generation zu Generation weitergegeben, gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen werden. Auch die Anweisungen im Verlauf des Werkes thematisieren des öfteren die persönlichen Tugenden und die Lebenseinstellung des Landwirts: Da Cato in einer ökonomisch gesicherten, finanziell unabhängigen Landbesitzerschicht die Garanten der politischen Ordnung sah, richten sich seine Regeln ebenso auf das Ethos wie auf die finanzielle Tüchtigkeit seiner Adressaten. 1453 Diese beiden Komponenten sind für ihn nicht voneinander zu trennen; das zeigt sich besonders in 3,2, wonach das vorausschauende Planen zur Erzielung möglichst hoher Verkaufszahlen die virtus und den Ruhm des Investors erhöhen soll. 1454 Die sozialen Werte virtus und gloria ergeben sich demnach für Cato unmittelbar aus klugem agrarischen Wirtschaften; materielle, charakterliche und soziale Güter sind eng miteinander gekoppelt. Daher ist Sparsamkeit oberstes Gebot. 1455 So soll der Gutskäufer das rechte Maß bei seinen Investitionen wahren, d. h. weder zu gierig noch zu sparsam kaufen (1,1) und nicht über seine Verhältnisse bauen. 1456 Auch seinen Sohn Marcus hält er in dem Ackerbau-Buch seines enzyklopädischen Werkes zur Beschränkung seines Landeigentums und zur Sparsamkeit an. 1457

1450

Zur Wichtigkeit des Stabilitätsfaktors s. Cossarini 1976-77b, 73ff. S. Fuhrmann 1960, 158. 1452 S. ζ. B. Hör. carm. 3,6,33 non his inventus ortaparentibus / infecit aequor sanguine Punico ... / 37 sed rusticorum mascula militum /proles ... 1453 S. Meißner 1999, 172; Kienast 1979, 76; Astin 1978, 259ff. 1454 3,2 et rei et virtuti et gloriae erit. 1455 1 0 Ernas non quod opus est, sed quod necesse est; quod non opus est asse carum est. 1456 4 viHam urbanampro copia aediflcato. 3,1 ita aedifices, ne villa fundum quaerat. 1457 p f g 9 Jordan ( = Serv. georg. 2,412 Laudato ingentia rura exiguum colito); 367 ( = Plutarch Cat. ma. 4,6) ( Ώ ι ε τ ο belv) κτάσΰαι τά σπβιρόμβνα κάί νεμόμβνα μάλλον ή τά ραινόμενα καΐ σαιρόμβνα. 1451

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Außer Sparsamkeit und Mäßigung ist auch Sorgfalt eine wesentliche Eigenschaft des Gutsbesitzers, definiert er doch in dem bereits erwähnten Dictum an seinen Sohn Marcus den agricola als einen vir bonus colendi peritus, cuius ferramenta splendent, also als jemanden, der seinen Betrieb in tadellosem Zustand erhält. Als solide und anständig soll er sich auch nach außen zeigen: Zur Nachbarschaft soll er aus praktischen Gründen gute Beziehungen pflegen (4 vicinis bonus esto) und beim Hausbau ein reelles Geschäftsgebaren zeigen. 1458 Sogar die gesamte Lebensplanung soll unter dem Zeichen der Landwirtschaft stehen: Der angehende paterfamilias sich von früher Jugend an mit dem Ackerbau beschäftigen. Das Errichten von Gebäuden aber soll er sich reiflich überlegen und erst dann in die Tat umsetzen, wenn er das 36. Lebensjahr erreicht hat, und nur dann, wenn seine Felder wohlbestellt sind. 1459 Gutsbesitz ist auch für einen absentistischen Politiker-Landwirt nicht nur einfach eine Investitionsgelegenheit, sondern eine Lebensform. Solche über das Werk verstreuten Maximen ergeben zusammen fast eine Art Tugendspiegel für den angehenden Landwirt, in dem ökonomische und ethische Gesichtspunkte eine enge Synthese bilden. Es ist nicht die Beschaulichkeit des Landlebens, die Cato propagiert, sondern die gesellschaftliche Pflicht zu einem Leben mit berechenbaren Risiken, das die Voraussetzung darstellt für die Funktionsfähigkeit der politischen Klasse in Rom. 1 4 6 0 Denn das Landleben mit dem darin konservierten Wertekanon

1458 14^3 ( s c vmae aedificandae) pretium ab domino bono, qui benepraebeat 0peri quae opus sunt et nummos fide bona solvat in tegulas singulas II. Man beachte die emphatische dreifache Epanalepse von bonus/bene\ 1459 Agr. 3,1 (s. auch ο. Kap. 1.1.1.2. Warum gerade mit 36 Jahren ist unklar: Thielscher 1963, 9f deutet diese Angabe etwas spekulativ als autobiographisch: Mit 36 Jahren, also i. J. 198, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges, habe Cato, der als Soldat zu Macht, Ansehen und Geld gekommen sei, begonnen, infolge des Krieges verfallene Höfe aufzukaufen, dann zunächst die verödeten Äcker wieder instand zu setzen, das komplette Inventar neu anzuschaffen (lOf) und schließlich die Gebäude wiederzuerrichten. Fabio Stok: Catone e le etä della vita, Rivista di cultura classica e medioevale, 33 (1991), 29-35 vermutet dahinter die Einteilung des menschlichen Lebens in Hebdomaden des in Rom bereits populären Solon (frg. 2 7 , l l f West τη δ' 'έκτη irepl -πάντα καταρτύβται νόος ανδρός, / ούδ' epbeiv ed' όμως epy' άπάλαμνα de\a), der das sechste Septennium der Lebenszeit, also das Alter von 36-42 Jahren, für dasjenige hält, in dem der Charaker gefestigt ist. A. D. Leeman: Cato, De Agricultura 3,1, Helikon 5 (1965), 534ff. zieht dabei etruskische Vermittlung in Betracht. (Brehaut 1933, 8 Anm. 2 verweist auf Polybius 6,19,2, der bezeugt, daß ein Römer bis zu diesem Alter wehrdienstpflichtig gewesen sei, gefolgt von Goujard 1975, 129 Anm. 3; doch Polybios schreibt von 46 Jahren). 1460 S. Meißner 1999, 109.

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dient als gesellschaftlicher Stabilitätsfaktor, der hilft, die neuen Gegebenheiten einer sich rapide wandelnden politischen und ökonomischen Umwelt aufzufangen und zu integrieren. 1461 Das Landgut bildet als hierarchisch strukturierte Institution in Catos Weltanschauung geradezu die Keimzelle der staatlichen Ordnung. 1 4 6 2 Daher läßt sich konsequenterweise auch in Catos Handeln als Staatsmann allenthalben seine hohe Meinung vom Landleben erkennen: Besonders in seiner politischen Funktion als Censor achtete er streng darauf, daß kein Grundbesitzer seine Anbauflächen verkommen ließ, und er ahndete eine derartige Nachlässigkeit rigoros mit der Deklassierung zum Aerarier. 1463 Unsoziale Eigenmächtigkeiten wurden verfolgt: So ging er gegen Gutsbesitzer vor, die Wasser aus den öffentlichen Leitungen auf ihr Land ableiteten oder öffentlichen Boden überbauten. 1464 Auch die Existenz einer Rede De fundo oleario dokumentiert sein gesellschaftspolitisches Interesse an diesem Fach. 1 4 6 5 Sein stets wacher Blick für agrarpolitische Belange zeigt sich selbst in den Origines, wo er immer wieder auf bemerkenswerte landwirtschaftliche Details aus den einzelnen Regionen hinweist. 1 4 6 6 Mit Recht kann daher Castello Catos agrarpolitisches Programm, mit dem er, in Reaktion auf die sozialen Probleme nach dem hannibalischen Krieg, seine Mitbürger zum Investieren in den Landbau bewegen will, als sein politisches Testament bezeichnen. 1467 Der ländliche frugale Habitus bildet auch deshalb bei der gesamten öffentlichen Präsentation seiner eigenen Person einen herausragenden Zug: Schon seine frühste Jugend stellt er als von Sparsamkeit und Härte geprägt dar, ausgefüllt mit anstrengender Bauernarbeit. 1468 Auch später rühmt er sich seiner sparsamen Lebensweise mit schlichten, schmucklosen Gebäuden ohne teure Gefäße, Kleider oder Sklaven und verteidigt sich mit einem Gegenangriff gegen diejenigen, die ihm daraus einen Vorwurf machen (was darauf schließen läßt, daß diese Haltung zu Catos Zeit keineswegs mehr selbstverständlich und unumstrit-

1461

S. Cossarini 1976-77b, 80. Marmorale 1949, 185f. 1463 p r g 2 p. 52 Jordan = 92 Sblend. ( = Gell. 4,12,Iff) Siquis agrum suum passus fuerat sordescere eumque indiligenter curabat ac neque araverat neque purgaverat, sive quis arborem suam vineamque habuerat derelictui, non id sine poena fuit, sed erat opus censorium. ... M. Cato id saepenumero adtestatus est. 1464 S. ζ. B. Plutarch Cat. ma. 19,1 (s. Geizer 1953, 128). 1465 Frg. 107 Malcovati, Rede Nr. LVIII Sblend. 1466 Ζ. B. frgg. 43; 39; 52 Peters; s. Deila Corte 1949, 43. 1467 Castello 1973, 259. 1468 Q m t f r g 128 Male. = 93 Sblend. ego iam a prineipio in parsimonia atque in duritia atque industria omnem adulescentiam meam abstinui agro colendo, saxis Sabinis, silieibus repastinandis atque conserendis (s.o.). 1462

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ten war). 1 4 6 9 In einer Zeit, in der sich eine immer glänzendere und komfortablere Villenkultur einzubürgern begann, 1470 betonte Cato ausdrücklich, daß seine Gehöfte, all dem öffentlichen und privaten Wohlstand seiner Zeit zum Trotz, bis zu seinem 70. Lebensjahr schmucklos und roh und nicht einmal getüncht gewesen seien. 1471 Auch sein Biograph Plutarch schildert immer wieder seine spartanische Genügsamkeit, seinen Verzicht auf jeden überflüssigen Luxus als einen seiner herausragenden Charakterzüge. 1472 Diese ostentative Bescheidenheit versucht er unter den römischen Nobiles durchzusetzen, auf der Grundlage der leges sumptuariae,

die seit dem späten 3.

Jh. erlassen und nun als Maßnahmen zum Erhalt des mos maiorum verstanden wurden. 1 4 7 3 Denn für Cato gilt es als ausgemachte Tatsache, daß glückliche Verhältnisse bei den meisten Menschen moralische Deformationen bewirken. 1 4 7 4 Und in der Tat führten die enormen Finanzmittel, die infolge der gewonnenen Kriege nach Rom flössen, nebst den Verlockungen des eleganten griechischen Lebensstils manch einen Angehörigen der besitzenden Schicht dazu, „seinen Rang und seine soziale Position besonders ostentativ zur Schau zu stellen und die neuen Reichtümer dafür zu verwenden und zu verschwenden". 1 4 7 5 So erklärt sich Catos Engagement für die Lex Orchia und für die Lex Fannia (181 und 161 v. Chr.), die den Tafelluxus einschränkte. Darin konstruiert er einen Gegensatz von virtus und Ruhm auf der einen, voluptas

und

Schande auf der anderen Seite, 1476 der sich offenbar leitmotivisch durch die

1469

1470 1471

1472

1473 1474

1475 1476

Orat. frg. 174 Male. = 218 Sblend. ( = Gell. 13,24,1) Neque mihi aedificatio neque vasum neque vestimentum ullum est manupretiosum neque pretiosus servus neque ancilla. si quid est quod utar, utor; si non est, egeo. suum cuique per me uti atque frui licet, vitio vertunt, quia multa egeo; at ego Ulis, quia nequeunt egere. S. D'Arms 1970, 9ff Gell. 13,24,1 M. Cato consularis et censorius publicis iam privatisque opulentis rebus villas suas inexcultas et rüdes ne tectorio quidem praelitas fuisse dicit ad annum usque aetatis suae septuagesimum. Plutarch Cat. ma. 4,5. Ζ. Β. Plutarch Cat. ma. 4,2ff (einfache Kleidung und Kost, wenig Wein; er verkaufte einen ererbten kostbaren babylonischen Teppich; er kaufte keine teuren Luxussklaven, sondern handfeste Pferde- und Ochsenknechte, die er verkaufte, sobald sie nicht mehr von Nutzen waren). Diod. 31,24; 37,3,2ff. Zu deren Entwicklung s. Baltrusch 1989, 40ff. Orat. frg. 163 Male. = 118 Sblend. ( = Gell. 6,3,14f) scio solereplerisque hominibus rebus secundis atque prolixis atque prosperis animum excellere atque superbiam atque ferociam augescere atque crescere. Zur Rezeption dieses Gedankens bei Varro, Sallust und anderen römischen Autoren s. Elsie Lewis Leeman: Cato the Elder: An Interpretation, Diss. Columbia University 1952, 150ff. Zur Kritik Catos am Luxus als Ursache und Symptom des Niedergangs s. etwa auch Diod. 31,24; 37,3. Gehrke 2000, 153. Orat. frg. 141 Male. = 130 Sblend. ... M. Cato in legem Orchiam, conferens ea quae virtus ***, ut summae gloriae sint a virtute proficiscentia, dedecoris vero praeeipui existimentur quae voluptas suadeat non sine labe vitiorum.

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Rede zog: Er beklagt in einer konzisen sentenziösen Wendung die große Sorge um das Essen in Verbindung mit der Sorglosigkeit um die virtus1477 und stellt die Üppigkeit als eine Bedrohung des Gemeinwesens dar. 1 4 7 8 Dabei verweist er auf das vorbildliche Verhalten der antiqui mit ihren bescheidenen Gastmählern. 1479 Auch bei anderen Gelegenheiten geißelt er den Luxus seiner Zeitgenossen, ζ. B. in der Rede De vestitu et vehiculisl4S0 und in seinem Eintreten für die Lex Oppia gegen weiblichen Luxus, 1 4 8 1 speziell auch gegen den Aufwand bei der Ausstattung von Land- und Stadthäusern. 1482 Sogar Fragmente eines Carmen de moribus sind von ihm überliefert, in dem er offenbar die altrömische Frugalität mit ihrer Ablehnung von Habgier, Verschwendung und Geckenhaftigkeit der Sittenverderbnis und Trägheit seiner Zeit mahnend gegenüberstellt. 1483 Und er beläßt es nicht beim Reden: Als Censor schreitet er immer wieder drakonisch gegen übertriebenen Aufwand ein und verhängt hohe Steuern auf Luxusgüter. 1484 Cato stilisiert sich also zu einem frugalen altrömischen Bauernkrieger nach dem Vorbild eines Cincinnatus und eines Curius Dentatus, 1485 mit seiner Liebe zur Landwirtschaft und seiner ostentativen Einfachheit der Lebensführung. Zur Wahrung der gesellschaftlichen Stabilität Roms versuchte er in seiner politischen Tätigkeit, diesen Habitus unter Berufung auf den mos maiorum als verbindliche Lebensnorm der Senatsaristokratie zu erzwingen.

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Qrat f r g 145 ]y[ a i c = 131 sblend. magna cura eibi, magna virtutis ineuria. Orat. frg. 145 Male. = 235 Sblend. ( = Plutarch Cat. ma. 8,2) κατηγορών eirI ναυτικοις τον τρόπον τούτον. e/ceXeue τους δαι'βιξομίνους επί κοινωνία ποΧΚούς παρακάΚίΐν γενομένων δ( πεντήκοντα και π\οίων τοσούτων, αύτος elxe μίαν μερίδα δια Κουϊντίωνος άπβΧβυϋβρου, τοις δανβιζομένοις συμπρα-γματβνομίνου και αυμπ\ίοντος. ην ουν ουκ 6ΐς απαν δ κίνδυνος, άλλ' εις μίρος μικρόν ext κβρδβσι μεγάλοις. Es besteht kein triftiger Grund, dieses Zeugnis anzuzweifeln und auf eine Tradition catofeindlicher Pamphlete zurückzuführen. Ulrich von Lübtow: Catos Seedarlehen, in: Gesammelte Schriften, Abteilung I: Römisches Recht, Rheinfelden u. a. 1989 (Berliner Rechtswissenschaftliche Untersuchungen, Recht-WirtschaftGesellschaft: Recht 17), 163-185 legt die Stelle sehr frei zu Catos Gunsten aus, indem er davon ausgeht, daß dieser nicht noch zusätzlich zu dem genannten Gewinnanteil Zinsen berechnet habe; detaillierte rechtshistorische Informationen zu dieser in Rom wohl frisch aus dem hellenistischen Osten übernommenen Form von Seehandelsgeschäften, der pecunia traiecticia, s. dort. 1525 n v 21,63,3 ne quis senator cuive senator pater fuisset maritimam navem, quae plus quam trecentarum amphorarum esset, haberet. Id satis habitum ad fruetus ex agris vectandos; quaestus omnis patribus indecorus visus. 1526 S. Liv. 21,63,3f; s. dazu Baltrusch 1989, 33ff.

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gewordene Gruppe von Financiers aus dem Ritterstand, die der Vormachtstellung der alten Aristokratie gefährlich zu werden drohte. 1 5 2 7 Catos markige Selbstaussage jedenfalls, er habe nur zwei Erwerbsquellen genutzt, nämlich Landwirtschaft und Sparsamkeit, trifft allenfalls auf seine Jugendzeit zu. 1 5 2 8 Hat Cato diese Widersprüche selbst gar nicht gesehen, weil er seine im großen Stil betriebenen Seehandelsgeschäfte für etwas prinzipiell anderes gehalten hat als die schmutzigen Geschäfte professioneller Geldverleiher? Dies vermutet Astin 1529 im Blick auf Cicero, der eine solche Doppelmoral philosophisch zu rechtfertigen versucht, 1530 nach der nur Handel in kleinem Ausmaß als schmutzig und unehrlich gilt, der Handel im großen Stil jedoch lobenswert sei, wenn der daraus gezogene Gewinn in Landbesitz investiert werde, womit der geschworene Optimat versucht, einen (reichlich faulen, aber für einen römischen Senator sicherlich sehr ansprechenden) Kompromiß zu konstruieren zwischen dem genus utile der Handelsgeschäfte und dem honestum der Landwirtschaft. 1531 Auch Cossarini will Cato nicht als Heuchler sehen und gibt zu bedenken, daß die römische Nobilität keine Gewissensbisse hatte, die Tätigkeiten, die man für sich selbst als non honestum erachtete, von Menschen niederen Standes für sich ausführen zu lassen. 1532 Beides ist sicherlich wahr. Aber gerade dies zeigt doch, daß in der römischen Gesellschaft die Doppelmoral, die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit, eine feste Institution war, und wie man Rechtfertigungsstrategien ausklügelte, um diese Widersprüche vor den anderen - und sogar vor sich selber - zu verschleiern. Trotzdem sind Catos „double standards" der antiken Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben: nicht der annalistischen Tradition, die in Livius und Plutarch greifbar ist, und möglicherweise nicht der römischen Komödie, wie Andeutungen vor allem in Plautus Trinummus vielleicht zeigen. 1533 Deila Corte geht sogar so weit, in der politischen Stoßrichtung von De agri cultura die Absicht Catos zu sehen, sein Image als Landwirt wiederherzustellen, nachdem er durch seine „kapitalistischen" Geschäfte seinen Ruf eingebüßt

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So verhinderte er als Censor ζ. Β. Monopolbildungen bei der Ausschreibung von öffentlichen Bauaufträgen (s. Plutarch Cat. ma. 19,1). Zu Catos weiteren politischen Maßnahmen gegen eine Machtkumulation in dieser Schicht s. Kienast 1979, 71-80. Plutarch Cat. ma. 25,1. Astin 1978, 251 und 320. S. dazu Niquet 2000, 126. Cie. o f f . l,150f; s. auch Niquet 2000, 128f. Literatur zur sich wandelnden Einstellung der Nobilität trotz des plebiscitum Claudium d. J. 219/18 s. Sblendorio Cugusi/ Cugusi 1996, 182. Cossarini 1976-77, 75. S. dazu Vogt-Spira 2000, 116ff. Der Versuch, diese Tradition als reine Diffamierungskampagne von Catos Gegnern abzutun, den die ältere Forschung gelegentlich zur Ehrenrettung des Censoriers versucht hat, entbehrt der Grundlage.

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habe, was sich aus den Angriffen schließen lasse, die er in De sumptu suo abgewehrt hat. 1534 Wie man es auch drehen und wenden mag: Die Widersprüchlichkeit bleibt, wie sehr auch verschleiert durch frommen (Selbst-)Betrug: Der von Cato im Vorwort so gepriesene hart arbeitende vir bonus der Vorzeit auf seinem wenige iugera kleinen, mit eigenen Händen bewirtschafteten Gütchen, der Handelsgeschäften mißtraute und Wucher verabscheute, hatte nicht sehr viel gemeinsam mit dem in Rom lebenden geriebenen Geschäftsmann Cato, für den seine nach hellenistischen Prinzipien bewirtschafteten modernen Agrarbetriebe von mehreren 100 iugera in Wirklichkeit nur eine Einnahmequelle unter vielen waren, die er nur zur Inspektion besuchte. 1535 Ein wenig fühlt man sich an Horazens faenerator Alfius erinnert. Die Form des Bauerntums, die im Proöm so gepriesen wird, ist jedenfalls keineswegs diejenige, die im Traktat selbst beschrieben wird. 1536 „Den mos maiorum für seine intensive Gutbewirtschaftung als Kronzeugen anzurufen, ist also ein ausgesprochener Sophismus Catos". 1537 Dieser rhetorische Kunstgriff ermöglicht es ihm, die Respektabilität, die das in der praefatio heraufbeschworene traditionelle Bauerntum und, von dort ausgehend, die Landwirtschaft allgemein genießt, 1538 in einem geschickten Etikettenschwindel auf seine neue, hellenistische Form des Gutsbetriebes zu übertragen und sich so deren hohe gesellschaftliche Akzeptanz geschickt zunutze zu machen. 1539 Diese Taktik ist klug gewählt angesichts der vorherrschenden politischen Ideologie der Nobilität, die sie daran hinderte, die Landwirtschaft als einen rein ökonomischen Faktor zu betrachten. 1540 Es ist daher geschickt von Cato, sein neuartiges ökonomisches Konzept in ein tradiertes Wertesystem zu stellen und sich dabei auf die maiores zu berufen, 1541 da Herkommen und Überlieferung, „die vergegenwärtigten Vorfahren", für das römische Empfinden unbe-

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Deila Corte 1949, 52; 2 1969, 99ff. Ibid. 32f spekuliert er, allerdings ohne Anhaltspunkte in den Quellen, daß Cato erst spät vom frugalen Altrömer zum Kapitalisten geworden sei, und zwar aus Vaterliebe zu seinem relativ spät geborenen Sohn Marcus, und damit seine alten Bauernfreunde vor den Kopf gestoßen habe. S. Janson 1964, 85ff; White 1970, 34. Zur geringen Größe der altrömischen Güter s. Pasquale Rosafio: Sur quelques aspects du travail en Italie rurale, in: Annequinu. a. (Hgg.) 1999, 77-86, hier: 79. S. White 1973, 456f. Weitere Literatur bei Sblendorio Cugusi/Cugusi 1996, 176; s. auch Cataudella 2002, 45. S. Kienast 1979, 88f. S. Astin 1978, 256. Daher will der Erklärungsversuch von Astin 1978, 253 nicht befriedigen, daß die Vorrede nur eine Gelegenheitserfindung sei, die nicht notwendigerweise konsequent durchdacht oder tief empfunden sein müsse. S. Cossarini 1976-77b, 74. S. Flores 1978, 72.

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dingten und fraglosen Anspruch auf Nachfolge haben. 1 5 4 2 Wer also, wie Cato, eine Neuerung einführen wollte, tat sehr gut daran, sie als etwas Altüberkommenes zu tarnen, 1 5 4 3 zumal in einer Zeit, da als Gegenbewegung zu den expansionsbedingten Auflösungserscheinungen in der Oberschicht seit Ende des dritten Jahrhunderts eine Idealisierung des mos maiorum als gemeinsamer Wertebasis aufkam. 1 5 4 4 Und so war es Catos Erfolg auch nicht abträglich, daß sein Konzept vom ländlichen Rom, das in Wirklichkeit schon zur Königszeit ein urbanes Zentrum war, streng genommen eine anachronistische Konstruktion ist. 1 5 4 5 Wir können also nicht umhin, in Catos Werk De agri cultura und in Catos Erwerbsverhalten allgemein Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu konstatieren: Hinter der sorgfältig gepflegten Attitüde des einfachen, ehrlichen, frugalen Altrömers, der nichts für sich und alles für das Gemeinwesen will, steckt ein scharf kalkulierender, streng profitorientierter Geschäftsmann, für den die Steigerung des ererbten Vermögens geradezu ein Wert an sich zu sein scheint, und der in seinen Mitteln nicht immer sehr wählerisch ist. Ähnliches gilt für sein Vorgehen als Politiker: Schließlich war auch sein Einschreiten gegen mißliebige Personen nicht immer frei von persönlichen Interessen und machtpolitischem Kalkül, wie sehr er auch nach außen immer wieder betont hat, daß er nur aus sachlichen Gründen und um der Res publica willen Feindschaften auf sich gezogen habe. 1 5 4 6 So schaltete er unter dem Deckmantel des Erhaltes der öffentlichen Moral politisch mißliebige Personen und potentielle Konkurrenten aus, etwa einen Manilius unter dem Vorwand, daß er unsittlicherweise seine Frau in Gegenwart seiner Tochter geküßt habe. 1 5 4 7 Man hat daher auch hinter den strengen Maßnahmen gegen Luxus weniger moralische Erwägungen vermutet als das Bestreben der Erhaltung des Einflusses und der Stärke der Senatsaristokratie. 1548 De facto diente Catos ostentativ konservativ-altrömische Haltung jedenfalls weniger der Res publica, deren Verfall seine Maßnahmen auf lange Sicht nicht abwenden konnten, als ihm selbst, dem homo novus ländlicher Provenienz, bei seinem persönlichen Aufstieg in die höchsten Ämter des Senats. Denn in einer

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S. Klingner 1965, 53. „The ancestors - the old Roman farmers - are mobilized as revered ghosts to give prestige to an economic investment." (Janson 1964, 87). S. Baltrusch 1989, 6. S. Reischl 1976, 106. S. Gehrke 2000, 152. Plutarch Cat. ma. 17,7 (s. Vogt-Spira 2002, 109f). Zu politischen und persönlichen Motivationen hinter solchen Maßnahmen generell s. etwa auch Baltrusch 1989, 21; 29. So Kienast 1979, 100.

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gesellschaftlichen Situation, in der immer mehr Vertreter der römischen Nobilität von einem übertriebenen Philhellenismus und einem unrömischen Hang zum Luxus angekränkelt waren, wie etwa Aulus Postumius Albinus, C. Acilius oder wie Catos Lieblingsfeind Scipio Africanus mit seinen hellenistischen Herrscherallüren, und in der überhaupt immer mehr Nobiles aus der traditionellen Linie des senatorischen Habitus auszuscheren drohten, schlug sich der ehrgeizige Aufsteiger Cato auf die Seite des konservativen Flügels der Aristokratie, und das mit dem ganzen Eifer eines homo novus, der sich mit Hilfe dieser alten Tugenden in der Führungsschicht etabliert hatte. 1 5 4 9 Seine ländliche Herkunft und seine Wurzeln im biederen Sabinerland, 1550 deren Werte er so stolz gegenüber den Dekadenztendenzen seiner hyperurbanen Gegner betonte, 1 5 5 1 gereichte ihm in dieser Gruppe keineswegs zum Nachteil, da sich die Aristokratie traditionell, ganz wie Cato selbst, nicht zuletzt als einen Land- und Kriegeradel definierte. In den hellenisierten urbaneren Kreisen hätte der italische Landedelmann dagegen weniger leicht reüssiert. Das entschiedene Bekenntnis Catos zu der Lebensweise und Werthaltung der maiores, die durch deviantes Verhalten einzelner Senatoren zunehmend bedroht war, bildete für ihn den Schlüssel für den Eintritt in die führenden Kreise. Zugleich konnte dieser moralische Ansprach als Waffe geschleudert werden gegen adlige politische Gegner, die von dieser Norm, auf die sie doch eigentlich von Geburts wegen verpflichtet waren, 1 5 5 2 abwichen, was Cato denn auch immer wieder tat, nicht ohne die eigenen Verdienste in der Verfechtung eben dieser Werte hervorzuheben. 1553 Cato war also mitnichten ein proto-proletarischer Klassenkämpfer für das kleine und mittlere Bauerntum wider die Nobilität; 1554 sein Ziel war es viel-

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S. Matthias Geizer: Die Nobilität der römischen Republik, Leipzig - Berlin 1912. Etwas zu weit geht Marmorale 1949, der unter dem Eindruck des Faschismus Cato zum einsamen Freiheitskämpfer gegen „cäsaristische" Tendenzen stilisiert. 1550 N e p Cat0 P l ü s c h cat. ma. 1,1. Lt. Cato orig. frg. 51 Peter leiteten die Sabiner ihre Herkunft von einem Spartaner namens Sabus her, der seine strengen Sitten mitgebracht habe, die dann von den Römern teilweise übernommen worden seien. 1551 Ζ. B. frg. 25 und 26 Malcovati = 9 und 10 Sblend., s. Deila Corte 1949, 3f. 1552 S. dazu Blösel 2000, 52f. 1553 S. Liv. 34,15,9 haud sane detractor laudum suarum; Cato orat. frg. 173 Male. = 169 Sblend. iussi caudicem proferri, ubi mea oratio scripta erat de ea re, quod sponsonemfeceram cum M. Cornelio. tabulae prolatae: maiorum benefacta perlecta: deinde quae ego pro re p. fecissem leguntur. Plutarch Cat. ma. 10,5; 11,3f; orat. frg. 178 Male. = 135 Sblend., wo er seine hochgeborenen Gegner zu beschämen sucht, indem er sich selbst als den wahren nobilis darstellt, der deren Werte eigentlich viel besser vertritt. 1554 A s t ; n 1978 und Kienast 1979 nachgewiesen haben, dürfte diese Einschätzung zu weit gehen, die Liv. 39,40,9ff vornimmt, der unter dem Eindruck der Parteienstrei-

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mehr, die alte Nobilität (oder was er dafür ansah) wiederherzustellen - und natürlich selbst dazu zu gehören. Wie sehr Cato dabei allen Widerständen zum Trotz 1 5 5 5 den rechten Ton getroffen hat, zeigen seine gesellschaftlichen Erfolge, vor allem die Protektion, die Cato aus den konservativen Senatskreisen zuteil wurde, besonders durch seinen Gönner L. Valerius Flaccus, aber auch seine Heirat mit einer Frau aus der bedeutenden Gens Licinia und die Vermählung seines ersten Sohnes mit einer Tochter des L. Aemlius Paulus. Auch seine politische Wirkung spricht für sich, etwa in den drei Censuren nach der seinigen, die sein restauratives Programm mit ähnlicher Strenge fortsetzten, und in den Maßnahmen, die ganz in Catos Sinne gegen die griechischen Philosophen im Jahre 155 erfolgten. 1556

tigkeiten und Bürgerkriege des 1. Jh.s v. Chr. schrieb (diese Liviuspassage enthält auch sonst Fehlinformationen über Cato), oder wie etwa Theodor Mommsen: Römische Geschichte Berlin 6 1874, Bd. 1, 815ff; Deila Corte 1949, 11; 19; 22 et pass.; Marmorale 1949, 3ff; 112f et pass.; oder differenzierter Blösel 2000, 54ff. Wenn Cato einzelne deviante Aristokraten attackierte oder in seinen Origines die Namen der patrizischen Helden verschwieg, so zielt dies doch wohl mehr auf die Konstituierung eines Gemeinschaftsgefühls, in das er (als Italiker) auch die italischen Gemeinden einbeziehen wollte, als auf antiaristokratisches Ressentiment. Wenn er in den o. a. Redefragmenten immer wieder auf seine Verdienste pocht, die ihn so manchen altadligen Konkurrenten übertrumpfen lassen, so greift er damit keineswegs das Wertesystem der Nobilität als solches an, als dessen herausragenden Vertreter er sich j a gerade darstellt, im Gegenteil, er affirmiert es sogar indirekt. Er will also keineswegs die Legitimationsbasis der Aristokratie unterminieren, sondern sich vielmehr selbst als den aristokratischeren Aristokraten präsentieren und damit seinen legitimen Platz innerhalb dieser Führungselite behaupten, indem er deren Werte rigider vertritt als viele der alteingesessenen Mitglieder, und auch indem er sich auf die militärische Tüchtigkeit (und damit sozusagen auf den charakterlichen Adel) seines eigenen Vaters und Urgroßvaters beruft, womit er ja gerade die Berufung auf die Verdienste der Ahnen als Legitimation eigener Machtansprüche implizit anerkennt. Allerdings verpflichtet er zugleich die Nobilität auf die Einhaltung ihrer eigenen traditionellen Normen und verurteilt diejenigen Mitglieder dieses Standes, die diesem Anspruch nicht gerecht werden. Daß damit nur scheinbar eine Demokratisierung dieser Werte verbunden war (schließlich verfocht auch der erklärte Optimat Cicero eine ähnliche Strategie, s. Blösel 2000, 68-84), zeigt der Befund, daß „bis weit in das erste Jahrhundert hinein mos maiorum nur als Norm für die Nobilität angesehen wurde" (Blösel 2000, 67). Denn dieser Wertekanon mit seiner Verbindung von Wohlhabenheit, Kriegsruhm, landwirtschaftlicher Tüchtigkeit, rednerischer Gewandtheit, juristischen und administrativen Fertigkeiten und vielen anderen Eigenschaften mehr bleibt naturgemäß exklusiv, und man mußte schon das Format eines Cato besitzen, um als Selfmademan ohne entsprechenden familiären Hintergrund dieses Ideal zu erfüllen. 1555 1556

S. Liv. 3 9 , 4 1 , I f f ; Plutarch Cat. ma. 16,4f. S. Kienast 1979, bes. 87 und 98f (zu Catos Politik für die Interessen der Senatsherrschaft und gegen die Emanzipationstendenzen einzelner mächtiger nobiles s. ibid. 91ff); s. auch Astin 1978, 178ff; Gualterio Calboli: Zur Hellenisierung Roms: Cato

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Darüberhinaus traf er mit seinem politischen Kurs aber durchaus auch das Ressentiment der ärmeren Schichten, die an dem neuen luxuriösen Lifestyle und an der griechischen Bildung keinen Anteil hatten, und die daher mit Argwohn verfolgen mußten, wie sich Teile der Elite immer weiter von ihnen entfernten. Das war sozialer Sprengstoff in einer Gesellschaft, die traditionell sehr auf Konformität und Egalität achtete und allzu offensichtliche Divergenzen in der Lebensweise der verschiedenen Stande aus Gründen des sozialen Friedens klüglich zu vermeiden trachtete, und die folglich extravaganten Elegants wenig Sympathie entgegenbrachte. 1557 Daher muß bei den einfachen Menschen Catos Bekenntnis zu volkstümlicher Bescheidenheit und Schlichtheit auf große Resonanz gestoßen sein. Diese Strategie Catos, ob bewußt durchgeplant oder intuitiv aus seinem ausgeprägten Machtinstinkt heraus angewandt, mit der er einen beträchtlichen Teil der konservativen Aristokratie wie der einfachen Bevölkerung hinter sich brachte und dazu beitrug, eine gemeinsame „römische" Ideologie der Härte und Genügsamkeit gegenüber den dekadenten Griechen zu konstituieren - so wie man in Rom auch schon früher die eigene severitas von der Weichlichkeit der Etruskern abgegrenzt hatte - 1 5 5 8 erwies sich daher als immens erfolgreich für den sozialen Aufstieg und die Sicherung seiner persönlichen Machtstellung. Es wäre nun aber zu einseitig, in Cato nur einen macchiavellistischen Machtmenschen zu sehen, der das Konstrukt eines altrömischen Wertesystems skrupellos für seine Machenschaften mißbrauchte. Das Catobild, wie es sich uns heute darbietet, zeigt vielmehr ein eigenartiges Changieren zwischen Authentizität und Attitüde, zwischen Egoismus und Gemeinsinn, dem eine eindimensionale Charakterisierung nicht gerecht würde. Catos Attitüde, oder vorsichtiger formuliert: Selbststilisierung zu einem frugalen Altrömer schließt ja eine echte Anhänglichkeit an diese Werte nicht aus, selbst dann nicht, wenn Cato nicht in allen Fällen konsequent nach ihnen gelebt hat. 1 5 5 9 Hätte diese Haltung nicht seinem Temperament weitestgehend entsprochen, 1560 hätte er schwerlich so überzeugend auftreten können,

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und Terenz, WS 106 (1993), 69-83, hier: 72f; Jehne 1999, 133f; Gehrke 2000, 150; 153. S. dazu Bleicken 1981. S. Scarborough 1993, 5. S. Cossarini 1976-77b, 82 vermutet hinsichtlich Catos Liebe zum Land sehr plausibel, daß er auf seinem praedium ein Höchstmaß an Erfüllung fand als dominus mit den priesterlichen und rechtlichen Kompetenzen „di un piccolo re". Auch Gehrke 2000, 152 glaubt prinzipiell an eine echte Neigung Catos; ibid. 155 verweist er für das politische Handeln auf Catos Einsatz als Praetor für die Provinzialen von Sardinien, sein Vorgehen gegen mehrere Willkürakte römischer Amtsträger gegenüber ihren Untertanen und seine Rede zugunsten der Rhodier nach dem Sieg bei Pydna. S. Astin 1978, 87.

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daß er noch für die Nachwelt zum Inbegriff des Altrömers und zur schlechthinigen Verkörperung der Guten Alten Zeit wurde. 1561 Auch seine Selbstrechtfertigung, offenbar gegen den Vorwurf der Bereicherung gerichtet, pecunia mea rei publicae profuit quam isti modi uti tu es (frg. 57 Sblend.) kann durchaus aufrichtig gemeint sein. Das Standbild, das man ihm im Tempel der Salus als Anerkennung für seine Verdienste als Censor um das ins Wanken geratene Gemeinwesen errichtet hat, zeigt jedenfalls, daß das römische Volk dies genauso sah. 1562

3.1.4. Catos gesellschaftspolitische Ziele Denn in Catos politischem Handeln läßt sich durchaus ein auf das Allgemeinwohl ausgerichtetes Programm erkennen, das über den eigenen Aufstieg und über den ständischen Machterhalt hinausgeht. Man könnte es als eine Politik des Ausgleichs charakterisieren, denn es zielt darauf, zur Sicherung des sozialen Friedens eine zumindest äußerliche Homogenität des Lebensstils zu wahren bzw. zu schaffen, und zwar auf drei Ebenen: Erstens sollte die Bindung innerhalb der Nobilität gestärkt werden. Denn diese drohte sich zunehmend aufzulösen durch innerständische Konkurrenzkämpfe, und zwar sowohl auf politischem Gebiet als auch in den neu erschlossenen ökonomischen Sektoren des Geld- und Handelsmarktes. 1 5 6 3 Man steckt mitten in einer Phase der immer stärkeren Abkehr vom mos maiorum:1564 „II tradizionale regime aristocratico romano, fondato su un esercito di contadini-proprietari, a mano a mano degenerö in un' oligarchia di opulente famiglie nobili, mentre scompariva il nerbo militare dell'Italia, fondato sull'elemento contadescino". 1565 Dies ging einher mit einem immer weiter divergierenden Lebensstil, 1566 bis hin zu den Allüren von Feldherren wie Scipio Africanus und Fulvius Nobilior, die ihrer Egomanie bis zur Selbstvergötterung frönten. 1567 Anders als Ennius unterstützte Cato diesen Personenkult, dessen Gefährlichkeit er klar erkannte, nicht. Bezeichnenderweise nennt er in den Origines keine Namen von Helden und Feldherren, sondern stellt den Aufstieg Roms als eine große anonyme Gemeinschaftsleistung des ganzen Volkes dar, wie er auch die Überlegenheit der römischen Verfassung darauf zurückführt,

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Stellen zur Wirkung Catos als moralisches exemplum, als intellektuelle Autorität und als politisches Vorbild bei Agache 1980. Zur Wirkung des Catobildes in Rom bis zur Spätantike s. auch Lopez 1998, 29ff. S. Plutarch Cat. ma. 19,4. S. Baltrusch 1989, 30. S. Balrusch 1989, 30. Rostovzev 1953, 24. S. Gehrke 2000, 153f; Nicolet 2000, 126f. S. dazu Rosen 1985, 83ff.

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daß sie eine Gemeinschaftsleistung sei und nicht, wie bei den Griechen, das Erzeugnis einzelner Gesetzgeber. 1568 Durch zunehmend aufwendige Repräsentation beim Wahlkampf drohte zudem eine Wettbewerbsverzerrung in der Bewerbung um politische Ämter. 1569 Gegenüber einem ausufernden Partikularismus unter griechischem Einfluß sollte ein einheitlicher Lebensstil auf landwirtschaftlicher Basis die alte Homogenität und Schlagkraft der senatorischen Schicht wiederherstellen. Der mos maiorum sollte dafür die Richtschnur bieten. Darüber herrscht in der Nobilität noch weitgehend Konsens. Daher erlebt das Amt des Censors nun seine Blütezeit, der für die Verbindlichkeit des mos maiorum gegenüber den neuen Einfüssen Sorge tragen sollte. 1570 Für den Archegeten der landwirtschaftlichen Lehrschrift in Rom gilt daher Ähnliches, wie für sein griechisches Pendant Hesiod: Sein Werk dient nicht nur der Vermittlung fachlicher Kenntnisse, sondern auch „der unterstützenden Bewahrung eines nicht mehr selbstverständlichen und als gefährdet betrachteten Habitus." 1571 Zweitens sollten, wie bereits angedeutet, die zunehmenden Unterschiede im Lebensstil zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten nivelliert, Sozialneid vermieden und die traditionelle Gemeinschaft zwischen den Klassen wiedergewonnen werden, die durch die Egozentrik, die Prunksucht 1572 und die Graecomanie einiger Nobiles immer weiter auseinanderdrifteten. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund läßt sich sein Eintreten für die altrömische Frugalität und die Ablehnung des hellenistischen Luxus nicht einfach abtun als blinder „Systemerhaltungsreflex" oder gar als das zwanghafte Abwehrverhalten eines blindwütigen Reaktionärs gegen jegliche Neuerungen. 1573 Jüngst hat schließlich Jehne 1574 die Bedeutung gerade der Jovialität für den Zusammenhalt und die Basissolidarität des römischen Gemeinwesens herausgearbeitet, d. h. der Bereitschaft der Mächtigen, die „Asymmetrie" in Kommunikationssituationen mit weniger mächtigen Mitbürgern zu kaschieren. Genau diese Jovialität aber drohte nun zunichte gemacht zu werden durch die Extravaganzen reicher Snobs, welche ihre bevorzugte soziale und finanzielle Stellung nebst ihrer griechischen Bildung immer auffälliger herauskehrten. 1568 1569 1570 1571 1572 1573

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S. Cie. rep. 2,lf. S. Baltrusch 1989, 80f; 82; 123; 129 u. ö. S. Baltrusch 1989, 25ff; 30; 39. Meißner 1999, 147. S. Liv. 34,4,14f, s. Novara 1982-83, 60f. Mit Recht vermutet Kienast 1979, 30f: „Ein Mann, der die menschlichen Verhältnisse so nüchtern und illusionslos beurteilte, wird auch im politischen Leben weniger nach ideologischen Grundsätzen als vielmehr nach praktischen Erfordernissen gehandelt haben." Martin Jehne: Jovialität und Freiheit. Zur Institutionalität der Beziehungen zwischen Ober- und Unterschichten in der römischen Republik, in: Linke/Stemmler 2000, 207235.

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Catos Programm, das diese Tendenzen bekämpfte, bezweckte also nicht zuletzt den Erhalt des römischen Gemeinschaftsgefühls und des sozialen Friedens, die sich in Roms Vergangenheit als so starke Triebfedern des gemeinsamen Handelns bewährt hatten. Drittens schließlich sollte zwischen Rom und dem italischen Umland, dessen Geschichte er in den Büchern II und III seiner Origines erstmals ein Denkmal gesetzt hat, ein Interessenausgleich geschaffen werden durch eine Aufwertung des ländlichen Raumes. 1575 In dieser Politik des sozialen und regionalen Ausgleichs hat gerade auch die Landwirtschaft ihren Platz als integrierende Kraft und als ein Erwerbszweig, der minime invidiosus ist (pr. 4), da er wegen seines Arbeitsreichtums und seiner Einfachheit am wenigsten Sozialneid provoziert, und der dem Lebensideal des mos maiorum am nächsten steht. Diesen mos maiorum will Cato als gemeinsames Fundament des Gesellschaftsgebäudes etablieren, als eine verbindende Lebens- und Werteordnung. Dieses gemeinitalische Wir-Gefühl soll die Stammlande zusammenschmieden, nicht zuletzt auch zur Schärfung des nationalen Profils und des Selbstbewußtseins gegenüber dem kulturell übermächtigen Griechentum, 1576 auf dessen zwiespältige Aufnahme wir oben bereits mehrfach eingegangen sind. Denn bekanntlich hält nichts eine Gruppe so sehr zusammen wie ein gemeinsames Feindbild. An der Entwicklung dieser Ideologie war Cato maßgeblich beteiligt. Ennius prägte zwar den Slogan Moribus antiquis res stat Romana virisque,1577 doch er propagiert als sein Ideal (auch offen) eine Synthese von alten und neuen Elementen. 1578 Cato geht weiter als Ennius: Er idealisiert den mos maiorum als das alleingültige Leitbild. Es handelt sich dabei in Wirklichkeit allerdings weniger um ein authentisches Bild der Vergangenheit als um eine Art „spiegelverkehrte Projek-

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Zu Catos Italienpolitik s. Hantos 1998. Lt. Hantos ging es Cato darum, einerseits der auf Rom und allenfalls noch auf Griechenland konzentrierten Nobilität die Bedeutung der italischen Völkerschaften in ihrer Mannigfaltigkeit als Basis der römischen Herrschaft zu Bewußtsein zu bringen (S. 326) und andererseits das Selbstwertgefühl der italischen Führungsschichten zu heben durch die Anerkennung von deren societas und fides gegenüber Rom als „Gewähr für die Stabilität der Ordnung in Italien" (S. 327). Hantos wertet dies zwar als eine rückwärtsgewandte Politik, die „ausschließlich auf den Systemerhalt ohne Änderung ausgerichtet" gewesen sei (S. 331), sieht darin aber auch einen „soliden Realismus", der den Lauf der republikanischen Geschichte nicht dauerhaft verändern, aber die politische Ordnung mittelfristig stabilisieren konnte (S. 333). S. Gruen 1993, 66. Enn. fr. 500 Vahlen = 156 Skutsch. S. besonders das sog. Servilius-Fragment (234 V. = 282 Sk.) ... multa tenens antiqua, sepulta vetustas / quae facit, et mores veteresque novosque tenentem, / multorum veterum leges divomque hominumque ...

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tion": Staatstragende Eigenschaften, wie Bescheidenheit und Zurückhaltung, Strenge und Sparsamkeit, Rechtlichkeit und Götterfurcht werden den Altvorderen zugeschrieben - also genau diejenigen Werte, die gerade im Begriff sind, verloren zu gehen. 1579 Allein, das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen und schon gar nicht von Personen, die ihre Glaubwürdigkeit dadurch unterminieren, daß sie selbst nicht konsequent nach den von ihnen propagierten Regeln leben. Denn in seiner Person verkörpert Cato die ganze Widersprüchlichkeit der senatorischen Schicht mit der Diskrepanz zwischen ihrem idealisierten Selbstbild und der gelebten Realität, und zwar nicht nur zu seiner Epoche, sondern, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zeigen wird, auch in der folgenden Zeit. 1580 Und so konnte dieses Programm politisch nur begrenzt Wirkung entfalten und war auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt. Allerdings gab es auch immer wieder Versuche, es wiederzubeleben. Die Idee jedenfalls lebt weiter. Und als Strategie für den sozialen Aufstieg hat der Bauernsohn aus Tusculum ein Erfolgsmodell kreiert, nämlich den Typus des cincinnatisch-altrömischen, auf den mos maiorum pochenden Bauernkriegers, das so prominente (mehr oder weniger geschickte) Nachahmer finden sollte, wie die Politiker Cicero und Cato Uticensis1581 oder unsere Agrarschriftsteller Varro und Columella. Dieses Image war so suggestiv und traf so sehr ins Herz römischer Idealvorstellungen, daß Livius und sogar der Grieche Plutarch, die doch selbst die Schattenseiten und Widersprüchlichkeiten in Catos Wesen konstatierten, ihm erlegen sind. Rom hatte sich so sehr in dieses „Bild von einem Römer" 1582 verliebt, daß sie seine dunklen Seiten gerne übersah, vielleicht, weil Cato sich so darstellte, wie Rom gerne erscheinen wollte - und weil er in seiner ganzen Widersprüchlichkeit so war, wie Rom selbst

3.2. Varro: Mos maiorum und Marktinteressen In seinem Landsmann Varro findet Cato ein Jahrhundert später einen kongenialen Nachfolger: Der Reatiner führt die Etablierung des mos maiorum als moralischer Instanz weiter und baut ihn zu einem regelrechten System aus. Auch er reagiert damit auf einschneidende gesellschaftliche Veränderungen:

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S. Gehrke 2000, 155. S. dazu Niquet 2000. Zur Selbstidentifikation Ciceros und Catos d. J. mit dem großen Vorbild s. Agache 1980, 98ff. So Gehrke 2000. S. Gehrke 2000, 158.

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Seiner chaotischen, von den Gräueln des Bürgerkriegs gezeichneten Epoche hält er sein Idealbild der Vergangenheit entgegen, 1584 wozu er, wie schon Cato in seinen Origines, historische Studien betreibt. Wie sein berühmter Vorgänger widmet er sich im Zuge dieses sozialpolitischen Programms auch der Landwirtschaft und adaptiert hier, wie auch in anderen Bereichen, griechisches Wissen pietätvoll an römische Verhältnisse, 1585 zwar aufgeschlossener als Cato, aber ebenfalls nicht sklavisch nachahmend, sondern mit einem ausgesprochenen Sinn für das spezifisch Römische und seine Leistungen. 1586 Auch er nutzt das Medium Agrarhandbuch, und zwar noch weit ausgiebiger, um Stellung zu nehmen zu den gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit und um sein konservatives Programm zu formulieren.

3.2.1. Der Autor und sein Adressatenkreis 3.2.1.1. Varros Image Diese Gemeinsamkeiten mit Cato hängen sicherlich damit zusammen, daß der Reatiner ebenfalls seine Wurzeln in der sabinischen Provinz hat, wo er sich zutiefst beheimatet fühlte (s. auch Kap. 1.1.2., S. 22 und Kap. 2.2.1., S. 175f). Varro selbst sieht sich als Nachfahre eines C. Terentius, der sich den Beinamen durch eine Heldentat im Illyrischen Krieg verdient habe (229/228 v. Chr.), 1587 und der vielleicht identisch war mit dem bei Cannae gescheiterten plebeischen Consul von 2 1 6. 1588 Die Terentii Varrones waren also wohl eine plebeische Nobilitätsfamilie.1589 Nach 216 hat allerdings, vielleicht we-

„Indeed, much of the work of the Roman antiquarians has been seen, rightly, as a literature of crisis trying to place against what the antiquarian sees a chaotic and dangerous world ... an idealized picture of the way things were and should be again in order to correct that process of deleterious change. ... But, as far as our evidence goes, it was Varro who then refashioned this general tendency of getting it right into a full-fledged programme ..." (Tarver 1997, 135). 1585 S. Serv. Aen. 7,176, s. Baier 1997, 28. 1586 Entsprechendes gilt für die etruskischen Ursprünge, s. Baier 1997, 28f. 1587 Serv. auct. Aen. 11,743 (GRF frg. 368 p. 342 Funaioli) Varro cum de suo cognomine disputaret, ait eum qui primus Varro sit appellatus, in Illyrico hostem Varronem nomine quod rapuerat et ad suos portaverat, ex insigni facto vocabulum meruisse\ „riuscirä a escogitare una spiegazione onorifica" (Delia Corte 1970, 24). 1588 In diesem Sinne argumentiert Cichorius 1922, 190; skeptisch Garzetti 1976, 101. Degradierung durch den Censor vermutet Rösch-Binde 1998, 17. Seine Zugehörigkeit zum ordo equester läßt sich jedenfalls nicht beweisen; Forschungsübersicht bei Rösch-Binde 1998, 17f und 43-52. 1589 S. Rösch-Binde 1998, 17.

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gen des bösen Omens, keiner der Familie mehr ein Consulat bekleidet, sondern nur noch maximal eine Praetor. 1590 Politisch war der vorsichtige Gelehrte eher zurückhaltend; er tat seine Pflicht im cursus honorum bis zur Praetur und beim Militär bis zum Jahre 59 v. Chr. Ciceros Charakterisierung nach mischte er sich in die Ereignisse des Bürgerkrieges weniger aus Enthusiasmus ein - ganz anders als der homo novus aus Axpinum - denn aus Freundschaft zu Pompeius. 1591 Zwischen seine politischen und militärischen Ämter traten immer wieder Schaffensperioden ohne aktive Einmischung in die Politik, besonders in den Jahren 59-49 1592 und ab 46 v. Chr., in denen er viel auf seinen Landgütern in Italien weilte. Seine gesellschaftlichen Beziehungen waren glänzend: Sein Schwiegervater Gaius Fundanius war Senator. Mit der Gens Licinia, einem der bedeutendsten plebeischen Geschlechter Roms, war Varros Familie verwandtschaftlich verbunden durch die Adoption des M. Licinius Lucullus, des Consuls des Jahres 73, durch einen M. Terentius Varro. 1 5 9 3 Mit dem Finanzmagnaten Atticus verband ihn eine enge Freundschaft. „Cosi poteva dirsi al centro di quell'ambiente plutocratico, che riuniva nelle mani di pochi uomini le maggiori fortune di R o m a . " 1 5 9 4 Dank seines großen Freundeskreises 1 5 9 5 konnte er die Bürgerkriege einschließlich der Proskriptionen des Antonius überleben und wurde sogar von seinem ehemaligen Gegner Caesar in die hochgeachtete Stellung eines Leiters der öffentlichen Bibliothek eingesetzt. 1596 In den Dialogen über die Landwirtschaft, in denen Varro als Erzähler und als Dialogfigur sehr präsent ist, 1597 läßt er uns beiläufig einige charakteristische Details aus seinem Leben wissen: Der Grundbesitzer erwähnt natürlich vor allem seine landwirtschaftlichen Aktivitäten, etwa seine ehemaligen umfangreichen Schaf- und Pferdeherden in Apulien bzw. Reate (2 pr. 6), seine Herden, die er in Apulien überwintern und in den reatischen Bergen sommern ließ (2,2,9), ferner seine Stuten- und Maultierherden in Reate (2,8,6). Erfahrung in der Agrarpolitik erwarb er im Jahre 59 v. Chr. in der von Caesar einberufenen Agrarkommission als vigintivir ad agros dividendos Campanos im Zuge der Lex Iulia agraria zum Zwecke u. a. der Veteranenansiedlung. 1598

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S. Deila Corte 1970, 24. S. D'Agostino 1955, 24f. S. Rösch-Binde 1998, 37ff. S. Deila Corte 1970, 18. Deila Corte 1970, 18. S. etwa Flach 1996, 5f; Deila Corte 1970, 202ff. Suet. Iul. 44,2. S. Deila Corte 1970, 214. S. Varro rust. 1,2,10; Plin. nat. 7,176.

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Das Agrarhandbuch als Initiation

Varro erinnert aber auch an seinen militärischen Einsatz im Seeräuberkrieg zwischen Delos und Sizilien (2 pr. 6) und an einen Aufenthalt in Liburnien (2,10,8), 1 5 9 9 ferner an seine langjährige kriegsbedingte Anwesenheit in Spanien unter Pompeius (3,12,7; 3,16,10). Nicht ohne Stolz läßt er Scrofa seinen Erfolg bei der Vermeidung einer Infektion seiner Leute bei einer Epidemie auf Korkyra lobend erwähnen 1600 und sich dabei in einem Atemzug mit Hippokrates nennen (1,4,5); so kann er in der schmählichen Niederlage der pompeianischen Partei, in die er damals verwickelt war, dank seines medizinischen Wissens doch noch einen persönlichen Sieg verbuchen. Varro betont also in seinen Selbstaussagen seine Erfahrung und Kompetenz als Landwirt, aber er streicht auch seine militärischen Verdienste heraus. Dagegen erwähnt er klugerweise keine politischen Ambitionen. Dieser Befund deckt sich mit der Einschätzung Rösch-Bindes: Varro sei es anscheinend nicht, wie dem ehrgeizigen und fanatischen, aber von den Optimaten gleichwohl gering geschätzten Cicero, auf politischer Ebene um eine persönliche Profilierung in Kreisen der 'boni' gegangen. Vielmehr „mögen ihm gerade seine reichausgestatteten Landgüter ..., seine Freundschaften sowie ... seine Gelehrsamkeit eine gesellschaftliche Hochachtung unter den Aristokraten verliehen haben". 1 6 0 1 Selbst wenn Varro also wirklich ein homo novus gewesen sein sollte, so hat er mit seiner rustikal-traditionsbewußten Attitüde, bei der er auch den militärischen Aspekt nicht vergißt, den gesellschaftlichen Ton wesentlich besser getroffen als Cicero. Dieses Gespür für gesellschaftlichen Takt und sein Geschick für soziale Beziehungen werden wir auch in der folgenden Untersuchung immer wieder festzustellen die Gelegenheit haben.

3.2.1.2. Die Widmungsprooemien und ihre gesellschaftlichen Implikationen Bereits die Widmungsadressen der Bücher verraten uns viel über Varros Selbstbild und über den gesellschaftlichen Rahmen, in dem seine Bücher stehen, namentlich über den Kreis seiner Adressaten und ihre Lebenswelt, sowie über den Platz, den die Landwirtschaft und das Wissen über sie bei ihnen einnimmt. Varro widmet im Prooemium sein Sachbuch ungewöhnlicherweise seiner Frau Fundania, der er De re rustica als eine Art geistiges Vermächtnis überantwortet.

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Entweder der 84 v. Chr. unter Cinna gegen Sulla oder 78/77 v. Chr. unter C. Cosconius gegen Dalmatien (s. Flach 1997, 331 ad loc.). S. dazu Flach 1996 ad loc. Rösch-Binde 1998, 52, s. auch ibid. 40.

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Zum Einstieg führt er als (topische) Entschuldigung für den Mangel an gefälligerer Gestaltung des Werkes 1 6 0 2 seine rastlose Tätigkeit an, aber auch die Eile, die ihm angesichts seines nahendes Endes ratsam scheint. 1603 Das Motiv der Vergänglichkeit als Bestandteils der condicio humana, die er in einem Vergleich des Menschen mit einer Wasserblase illustriert, 1604 bringt eine Wendung ins allgemein Menschliche. Dieses Gedenken an den nahen Tod und die Fürsorge über den Tod hinaus, 1605 die der fast achtzigjährige Greis 1606 in den vermeintlich letzten Tagen seines Lebens für das Wohlergehen seiner zukünftigen Witwe an den Tag legt, geben seinen Worten etwas Anrührendes und verleihen seinen Ausführungen zugleich ein besonderes Gewicht, da sie gleichsam schon vom Rande des Grabes zu kommen scheinen. Dieser Autoritätsanspruch wird verstärkt durch den halbernsten Vergleich mit den Sibyllinischen Büchern: Wie die Magistrate in Zweifelsfällen die Orakelschriften befragen, so soll Fundania sein Agrarhandbuch konsultieren k ö n n e n . 1 6 0 7 Spielerisch eine Attitüde des alten Cato n a c h a h m e n d 1 6 0 8 schreibt er seinen Worten damit eine geradezu orakelähnliche Bedeutung zu. Mit seinem Verweis auf die Sibyllinischen Bücher, auf die der Staat in Krisensituationen zurückgriff, zieht er aber auch eine Analogie zwischen dem Gemeinwesen als ganzem und der Familie als seiner kleinsten Einheit, die beide unter göttlichem Schutz stehen. Diese fast sakrale Weihe seiner schriftstellerischen Mission führt er fort in dem folgenden umfangreichen Götteranruf: Tatkraft stehe allgemein unter dem besonderen Schutz der Gottheit (1,1,4 dei facientes adiuvant). Daher genieße

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1,1,1 otiu s essem consecutus, Fundania, commodius tibi haecscriberem. 1,1,1 ... quae nunc, ut potero, exponam cogitans esse properandum, quod, ut dicitur, si est homo bulla, eo magis senex, s. Scivoletto 1992, 734. Zum Nachleben dieses Motivs s. N. van der Blom: Vita Bulla, Hermeneus 34 (1962), 75-77. 1,1,2 et non solum ... quoad vivam, quid fieri oporteat, ut te moneam, sed etiam post mortem. 1,1,1 annus enim octogesimus admonet me, ut sarcinas conligam, antequam proficiscar e vita. 1,1,3 Neque patiar Sibyllam non solum cecinisse quae, dum viveret, prodessent hominibus, sed etiam quae, cum perisset ipsa, et id etiam ignotissimis quoque hominibus. Ad cuius libros tot annis post publice solemus redire, cum desideramus, quid faciendum sit nobis ex aliquo portento - me, ne dum vivo quidem, necessariis meis quod prosit facere! Zu der politischen Bedeutung der sibyllinischen Orakel s. Linke 2000, 279ff (mit weiterführender Literatur). S. Cato adfil. frg. 1 p. 77 Jordan ( = Plin. nat. 29,14) ... et hocputa vatem dixisse ... (s. o.), wo Cato ebenfalls zu einem Familienangehörigen, nämlich seinem Sohn Marcus, und ebenfalls über die Weitergabe von wissenschaftlichem Fachwissen (allerdings in stark skeptischer Haltung) spricht. Plinius d. Ä. bezeichnet Cato ebenfalls häufig ehrfurchtsvoll als oraculum (s. Kap. 2.1.2.).

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Das Agrarhandbuch als Initiation

speziell die agrarische Tätigkeit die Protektion einer Schar von nicht weniger als zwölf göttlichen Mächten. Varro gibt in dieser Praefatio sozusagen gleich am Eingang seine Visitenkarte ab: Er gibt sich zu erkennen als verantwortungsbewußter römischer Hausvater, 1 6 0 9 als Soldat durch seine militärische Metaphorik (1,1,1 sarcinas colligere, proficisci),1610 als Staatsmann durch den Verweis auf die Konsultation der Sibyllinischen Bücher 1611 , als religiöser Denker im Götteranruf (1,1,4, auf dessen Bedeutung und philosophischen Hintergrund noch in einer eigenen Untersuchung ausführlich eingegangen werden wird), und natürlich als gelehrter Agrarexperte in dem voluminösen Literaturverzeichnis in 1,1,8ff, kurz: als ein gebildeter traditionsbewußter Römer, der sich trotz seines hohen Alters unermüdlich engagiert. Wir sehen also, daß Varro in diesem Prooemium, das er gekonnt zur Selbstdarstellung nutzt, als Persönlichkeit ganz außerordentlich präsent ist. Zugleich geht er aber auch sehr auf seine Frau als Adressatin ein. 1 6 1 2 Bei aller gebührenden Zurückhaltung eines traditionsbewußten römischen Ehemannes bei öffentlichen Zärtlichkeitsbekundungen an seine matrona (die Cato als peinlich genug empfunden hatte, um deswegen Senatoren zu deklassieren, s.o. S. 290), ist der Ton doch fürsorglich und vertraut, wie auch der familiäre halb scherzende, etwas selbstironische und doch von leiser Wehmut durchzogene kolloquiale Ton zeigt, der den Beginn der Praefatio prägt. 1613 Skydsgaard geht sogar so weit, die ungewöhnliche Adressatin, der das Buch anstelle eines professionellen Landwirtes gewidmet ist, als Ursache für die besondere Anlage des ganzen Werkes zu vermuten: „What she needs, of course, is a general outline rather than specific technical instructions, which her vilicus knows far better anyway," 1614 weshalb Varro diese Bücher auch

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1,1,3 necessariis meis quod prosit facere. S. Cardauns 2001, 15. In der zweiten Person Plural (1,1,3 solemus ... desideramus). Was in Wendungen zum Ausdruck kommt, wie 1,1,2 cum facere velis; 1,1,4 ad quos revertare, siqua in re quaeres·, 1,1,7 animadvertere poteris-, 1,1,8 Hi sunt, quos tu habere in consilio poteris. Während der ganzen Vorrede, insgesamt sechsmal, redet er sie mit einer Form von tu und neunmal mit einem Verb in der zweiten Person singular an, so daß er sozusagen ständig mit ihr in Kontakt bleibt. Wie stark diese Hinwendung ist, zeigt der Vergleich mit der Anrede an die Adressaten der beiden anderen Bücher: Obgleich auch dort der Ton vertraulich und herzlich ist, erfolgt die persönliche Anrede (abgesehen von einer rhetorischen Frage in 3,1,1) erst relativ weit hinten im Prooem (ab 2 pr. 6 bzw. ab 3,1,9) nach ausgiebigen Erörterungen zu allgemeinen moralischen und gesellschaftlichen Fragen. Etwa in 1,1,1 die umgangssprachliche Wendung si est homo bulla oder in 1,1,3 der nicht ganz ernste Vergleich seines Buches mit den Sibyllinischen Orakeln. Skydsgaard 1968, 90.

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selbst in 1,1,4 als indices (s. dazu Kap. 2.2.2., S. 179f) bezeichne. Jedoch konnten wir bereits feststellen, daß es sich bei diesem Werk keineswegs um eine „popularization" handelt, sondern daß sich die Methodenreflexion auf einem für Rom durchaus anspruchsvollen Niveau bewegt, wenn auch der Eindruck von fachspezialistischer Schulmeisterei peinlich vermieden wird. Außerdem zeigt die lange Autorenliste, die Varro Fundania persönlich anempfiehlt, daß er seiner Frau genug intellektuelle Kapazität zutraut, selbst anspruchsvollste griechische Fachliteratur, wie Aristoteles und Theophrast, zu rezipieren. 1615 Darin äußerst sich seine Wertschätzung gegenüber der Tochter des Fundanius, den er mit einer Dialogrolle in Buch I ehrt. Fundania wird überhaupt als eine recht selbständige Dame vorgestellt, da sie sich ein Gut gekauft hat und dieses nun offenbar eigenständig mit Hilfe des von Varro vermittelten Fachwissen zu leiten gedenkt. 1616 Im Gegensatz zu Catos agrarischem Konzept, wo die Gutsherrin fast überhaupt nicht vorkommt, 1 6 1 7 und im scharfem Kontrast zu den später von Columella geschmähten dekadenten römischen Gutsbesitzersgattinnen, die schon den bloßen Aufenthalt auf dem Lande verabscheuen, wird Fundania hier also einiges zugetraut. Sie wird als eine tüchtige mater familiae präsentiert, deren Interesse für die Landwirtschaft als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Mit wenigen Zügen wird sie somit als traditionsverhaftet genug dargestellt, um die Erfordernisse des Landlebens tatkräftig anzugehen - damit verkörpert sie den energischen, handfesten italischen Frauentypus, der im Zuge der nostalgischen Verklärung des bäuerlichen Altitaliens von Varro selbst und von den augusteischen Dichtern gepriesen wurde, 1 6 1 8 und dessen Aussterben Columella so bitterlich beklagen wird; 1 6 1 9 aber zugleich erscheint sie als modern genug, um sich auf der Höhe der Zeit wissenschaftlich zu informieren und ein Gut auf dem neuesten technischen und ökonomischen Standard zu managen. Kurz: Fundania (nomen est omen) wird präsentiert als die ideale Gutsherrin für das ideale Landgut, das Varro im Begriff ist zu entwerfen.

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1,1,8 Hi sunt, quos tu habere in consiliopoteris, cum quid consulere voles\ 1,1,7 ... indicabo, a quibus scriptoribus reper[t]as et Graecis et nostris. 1616 1,1,2 ... quoniam emistifimdum, quem bene colendo fructuosum cumfacere velis ... Daß sie (u. a.) ein Gut im Westen Sardiniens besessen habe, schließt Cichorius 1922, 206f aus CIL 10,7893; ihm folgt Flach 1997, 221 ad 1,2. 1617 Lediglich in dem (möglicherweise unechten) Kapitel [143,1] wird sie im Zusammenhang mit dem Hauskult kurz erwähnt, wie A. D. Leeman 1987, 40 (s. auch 41f) aufgefallen ist. 1618 2 b . als Gegenbild zur zeitgenössischen Dekadenz bei Hör. carm. 3,6,39f; als Wunschvorstellung bei Hör. epod. 2,39ff und Tib. l,5,21ff; ironisch bei Ov. med. 1 Iff. Zu Varros Beiträgen zur Festigung eines „altrömischen" Frauenideals s. Reischl 1976, 119f. 1619 Col. 12 pr. 10.

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Zu Anfang wird also bereits klargestellt, daß das Konzept von ländlichem Leben, das Varro hier entwirft, einen stark familiären Aspekt besitzt, den des necessariis meis quodprosit facere (1,1,3). Das von ihm vermittelte Fachwissen, so wird klar, ist kein autonomes, sachzentriertes, entpersonalisiertes, von allen sozialen und emotionalen Bindungen abstrahierendes Lehrgebäude, wie es die moderne Wissenschaft (jedenfalls ihrem Anspruch nach) darstellt, sondern es ist ausdrücklich eingebettet in ein gesellschaftliches Milieu, innerhalb dessen es weitergegeben wird von Familienmitglied zu Familienmitglied, oder, wie in den anderen beiden Prooemien deutlich wird, von Nachbar zu Nachbar und von Freund zu Freund. 1 6 2 0 Seine Vertrautheit mit den beiden anderen Adressaten und seine Anteilnahme an ihren Interessen tritt zu Tage in Varros Geschick, mit wenigen kurzen Bemerkungen auf ihre speziellen Lebenssituationen und Neigungen einzugehen und individuelle Züge an ihnen herauszustellen, die in Beziehung stehen zu den Buchinhalten. So wird auch die Abfassung der beiden übrigen Bücher als durch die Bedürfnisse der Empfänger veranlaßt dargestellt: 1621 Niger Turranius, an den Buch II adressiert ist, lernen wir als passionierten Viehzüchter kennen. Varro zieht ihn mit seinem Faible für den Ankauf von Viehherden freundschaftlich auf, was seinen familiären Umgang mit ihm zeigt; 1622 auch die Juxtaposition mit der Erinnerung an die Widmung des ersten Buches an seine Frau 1 6 2 3 betont die enge Freundschaft des Turranius mit der Familie. Indem Varro auf seine eigenen früheren Erfahrungen mit der Schaf- und Pferdehaltung, 1624 aber auch auf Gespräche mit anderen Inhabern großer Viehherden verweist, 1625 stellt er die Gemeinsamkeit der Interessen heraus, verleiht seinen Aussagen aber auch Glaubwürdigkeit und Autorität. Buch III gilt dem Pinnius, dessen enge Nachbarschaft und Freundschaft Varro zur Dedikation veranlaßt hat, 1 6 2 6 und dessen Name zudem noch einen

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2 pr. 6 Niger Turrani noster; 3,1,9 pro nostra vicinitate et amore. S. Rösch-Binde 1998, 341. 1622 2 pr. 6 ... tibi, Niger Turrani noster, qui vehementer delectaris pecore, propterea quod te empturientem in campos Macros ad mercatum adducunt crebro pedes, quo facilius sumptibus multa poscentibus ministres, ... pecuaria breviter ac summatim percurram .... 1623 2 pr. 6 Ε quis quoniam de agri cultura librum Fundaniae uxori propter eius fundum feci, tibi, Niger Turrani noster ... 1624 2 pr. 6 quod eo facilius faciam, quod et ipse pecuarias habui grandes, in Apulia oviarias et in Reatino equarias. 1625 2 p r . 6 pecuaria breviter ... percurram ex sermonibus nostris collatis cum iis, qui pecuarias habuerunt in Epiro magnas ... 1626 3,1,9 in hoc ad te mitto, quod visus sum debere pro nostra vicinitate et amore scribere potissimum ad te. 1621

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B e z u g z u m T h e m a h e r s t e l l t . 1 6 2 7 Die W i d m u n g wird im Schlußsatz r i n g k o m positorisch wiederholt u n d d e m Pinnius damit ans H e r z g e l e g t . 1 6 2 8 W i r lern e n ihn als d e n Besitzer eines prächtigen L a n d h a u s e s k e n n e n , als einen M a n n v o n Kultur u n d schöngeistigen Ambitionen, der seine Villa auch mit literaris c h e n E r z e u g n i s s e n g e s c h m ü c k t sehen will. V a r r o geht auf das B e d ü r f n i s des Pinnius ein, die W ä n d e seines eleganten L a n d h a u s e s auch mit B ü c h e r n zu zier e n . 1 6 2 9 V a r r o vollzieht die W i d m u n g , wie er betont, in E r i n n e r u n g an Ges p r ä c h e , die er (mit Pinnius?) ü b e r das v o l l k o m m e n e L a n d g u t gehalten habe.1630 W i r k o n n t e n sehen, daß in allen drei P r o o e m i e n auf G e s p r ä c h e Bezug g e n o m m e n w i r d , die, jedenfalls d e r Fiktion nach, den Stoff f ü r die Dialoge lief e r n . 1 6 3 1 M a n spricht o f f e n b a r in diesen Kreisen oft und ausgiebig ü b e r das T h e m a L a n d w i r t s c h a f t . D a s Wissen, das V a r r o übermittelt, wird dargestellt als F r u c h t des D i a l o g s , 1 6 3 2 als Schatz v o n Informationen u n d E r f a h r u n g e n , die im Kreise v o n Gleichgesinnten a u s g e t a u s c h t 1 6 3 3 u n d im g e m e i n s a m e n Gespräch erarbeitet w o r d e n sind, w o b e i sich unser A u t o r bei all seiner praktischen

1627

Green 1997, 444f deutet vielleicht doch etwas zu kühn vor dem Subtext der Aves des Aristophanes den Pinnius als „Everybird as Everyman" in dem politischen Vogelhaus, in das die bevorstehende Diktatur den Staat zu verwandeln im Begriff war, mit den vogelnamigen Dialogteilnehmern als Repräsentanten der republikanischen Nobilität, die wie gefangene Vögel ihre Freiheit zu verlieren drohten, wie auch Varro selbst. Recht willkürlich vermutet er hier ein Pseudonym für Asinius Pollio (S. 446). 1628 3 i7 i o me ifxie endo suam domum, nos nostram, ο Pin[io]ni noster, sermone de pastione villatica, summatim hoc, quem exposui, habito. 1629 3,1,10 Cum enim villam haberes opere tectorio ... spectandam, parumputasses esse, ni tuis quoque litteris exornati parietes essent, ego quoque, quo ornatior esse posset fructu quo facto, quod facere possem, haec ad te misi .... ; so insinuiert Varro in scherzhafter Doppeldeutigkeit, daß wohl auch sein Buch als eine Art Wanddekor fungieren könne, weist aber zugleich auf den Nutzen hin, den dieses Buch für den Ertrag der Güter bringen kann, durch den Pinnius sein Domizil noch prächtiger gestalten könne, s. Flach ad loc. 1630 3,1,10 haec ad te misi, recordatus de ea re sermones, quos de villa perfecta habuissemus. De quibus exponendis initium capiam hinc. 1631 1,1,7 ego referam sermones eos, quos de agri cultura habuimus nuper\ 2 pr. 6 ... percurram ex sermonibus nostris collatis cum iis, qui pecuarias habuerunt in Epiro magnas ...; 3,1,10 recordatus de ea re sermones, quos de villa perfecta habuissemus. 1632 Vgl. 1,1,11 quae aperitis audii; 2,5,2 Quare dicam ... quam acceperim scientiam, ut, siquis quid ignorat, discat; siquis seit, nuneubi labar observet. 1633 S. auch 2,1,2 „Sed haec ita a nobis aeeipietis", inquit Scrofa, „ut vos, qui estis Epirotici pecuariae athletae, remuneremini nos ac quae scitis proferatis in medium. Nemo enim omnia potest scire. " Auch schon Xenophon oec. 15,11 betont, daß die Landwirte, anders als andere Fachleute, ihre Kenntnisse gerne mitteilen.

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Beschlagenheit und weiten Belesenheit 1634 weitgehend mit der Rolle eines Protokollanten der gemeinschaftlich erarbeiteten Kenntnisse bescheidet. Mit dieser sehr personenbezogenen Art und Weise der Wissensvermittlung ist auch leicht zu erklären, warum Buch II und III zwei weiteren Personen neben seiner Frau Fundania gewidmet sind, was in der Forschung gelegentlich Anstoß erregt und zu weitreichenden Hypothesen hinsichtlich späterer Überarbeitung(en) geführt hat. 1 6 3 5 Doch einmal abgesehen von Varros genereller Nonchalance in den Widmungen (etwa auch in De lingua Latina)1636 waren Buchdedikationen in Roms literarischer Welt natürlich ein wichtiges Mittel, soziale Kontakte innerhalb der Bildungsgemeinschaft anzuknüpfen oder zu festigen. Man ehrte damit den Buchadressaten, verschaffte seinem Namen unter Umständen sogar so etwas wie Unsterblichkeit, womit man sich diesen wiederum verpflichtete. Daß ein kluger „Networker" wie Varro, der schon seine Logistorici wichtigen Persönlichkeiten gewidmet hatte, diese Gelegenheit der Beziehungspflege nach Möglichkeit ausschöpft und möglichst viele Adressaten anspricht, ist verständlich. Wie gefragt Varro als Buchdedikator in der gebildeten römischen Gesellschaft war, und mit welchem Aufwand an Diplomatie solche Verfahren betrieben wurden, illustrieren etwa die zähen über Atticus abgewickelten Verhandlungen zwischen Varro und Cicero um die Widmung einiger Bücher von De lingua Latina,1637 Abgesehen von solcher Beziehungspflege innerhalb des Bekanntenkreises dienen die Widmungen zusätzlich der Repräsentation nach außen: Man zeigt gleichsam „Stallgeruch", indem man signalisiert, mit wem man sich wie gut versteht und zu welchem Kreis man gehört, aber auch welchen Typus von Adressaten man bei der Abfassung im Sinn hatte.

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1,1,11 quae ipse in meis fundis colendo animadverti et quae legi. Zu den verschiedenen Adressaten der drei Bücher s. Cossarini 1976-77a, 184ff. 1636 j ) a r a u f weist Skydsgaard 1968, 90 Anm. 9 hin. Skydsgaard lehnt dabei mit Recht den Emendationsversuch von Hirzel 1895, 555 Anm. 1 ab (Athetese von tres libros in 1,1,4 als vermeintliche Glosse zu indices), ebenso wie die Hypothese, Fundania sei zwischenzeitlich verstorben. - Die von Martin, 1971, 223ff versuchte Erklärung, es handle sich um eine unvollständige spätere Bearbeitung, muß hier nicht bemüht werden, wie auch Cardauns 2001, 15 erkannt hat. Bianco 1976, 304, der mit Recht einen einheitlichen Werkplan annimmt, äußert die plausible Vermutung, daß mit der 1,1,4 scribam tibi tres libros indices nicht eine Widmung des ganzen Buches gemeint sei, sondern daß Fundania damit nur auf den praktischen Nutzen der Bücher für sie hingewiesen werden solle; an seine Frau dediziert sei nur Buch I, wie aus der Präzisierung 3,1,9 hervorgehe: tres libros institui. Ε quis duo scripsi, primum ad Fundaniam uxorem de agri cultura, secundum de pecuaria ad Turranium Nigrum, (vgl. auch 2 pr. 6) Qui reliquus est, tertius de villaticis fructibus ... ad te mitto. 1635

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Ausführlich dargestellt bei Deila Corte 1970, 155ff.

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Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß für Varro agrartechnisches Wissen einen starken Gruppenbezug hat und ein „Insiderwissen" ist, das in einem ausgewählten Zirkel kursiert, von dieser Wissensgemeinschaft gespeist wird und diese Gemeinschaft zusammenschmiedet. 1638 Varro stellt seine Adressaten, ebenso wie seine Gesprächspartner, als hochmotivierte Landwirte dar, welche die Bücher von ihm erbitten. So stellt sich Varro uns in seinen Prooemien nicht nur selber vor, sondern er fuhrt uns auch ganz beiläufig ein in die Schicht seiner Adressaten, nämlich in den Kreis der wohlhabenden römischen und italischen Großgrundbesitzer. Dies geschieht noch ausführlicher in den Dialogen selbst, die sich als die ideale literarische Form anbieten für diese dialogische und persönliche Art des Wissensaustausches. Dabei verrät uns die Darstellung der Gesprächskreise in den drei Dialogen viel über die gesellschaftliche Lage, den Habitus und die Werthaltung der Schicht von Varros Adressaten.

3.2.1.3. Die soziale Zusammensetzung der Gesprächskreise Wir konnten schon in Teil I sehen, wie Varro mit seinen Gesprächskreisen ein Idealbild von einer harmonischen landaristokratischen Elite entwirft. Hier soll nun deren sozialer Hintergrund näher beleuchtet werden. Varro, der, wie oben bereits angedeutet, über ausgezeichnete gesellschaftliche Beziehungen verfügte, legt auch in De re rustica Wert darauf, die distinguierte Herkunft einiger Mitglieder seines Kreises und die Anciennität ihrer Geschlechter herauszustellen: Im ersten Buch tritt Varros Schwiegervater, der Senator Fundanius auf. Licinius Stolo, neben Tremelius Scrofa eine weitere landwirtschaftliche Koryphäe, wird (historisch wohl nicht einmal zutreffend) 1639 als ein Nachfahre des Magistrats vorgestellt, der die nach ihm benannte bauernfreundliche Lex Licinia über die Beschränkung des Grundbesitzes durchgesetzt habe (1,2,9). Im zweiten Buch legt Scrofa großen Wert darauf, klarzustellen, daß seine Familie keinesfalls einen „säuischen Beinamen" (suillum cognomen) führt, der von einer Hirtentätigkeit seiner Vorfahren herrühre (obwohl dies in Wirklichkeit der Fall gewesen sein dürfte) 1640 - ein Verdacht, dem sich Scrofa nicht

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So wird auch innerhalb der Dialoge, wie Heisterhagen 1952, 56f bemerkt hat, häufig ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die einzelnen Vorträge als Beiträge zu einem gemeinsamen Werk zu verstehen sind, ζ. B. 2,1,2 (Scrofa spricht:) remuneremini nos ac quae scitis proferatis in medium. Nemo enim omnia potest scire, wobei die Beiträge für die einzelnen geradezu eine Verpflichtung darstellen, ζ. B. 2,2,1 Sed quoniam nos nostrumpensum absolvimus ... nunc rursus vos reddite nobis ..., ähnlich 2,8,1. S. dazu Flach 1996 ad loc. mit Literatur. S. dazu Flach 1997 ad loc.

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einmal im Spaß aussetzen will - und daß er auch nicht von dem homerischen Eumaios abstamme (ein Seitenhieb auf die modische Unsitte emporgekommener Familien, sich einen mythischen Ahnherren zuzulegen) 1641 . Er beeilt sich daher, die „wahre" Geschichte dieses Beinamens zu erzählen, 1642 der seiner Darstellung nach von einem schneidigen Husarenstück seines Großvaters herrührt, der in einer Schlacht in Makedonien als Quaestor den Feind so energisch auseinandergetrieben habe wie eine Muttersau ihre Ferkel. Mit Stolz fügt er hinzu, daß er in seiner Familie bereits der siebte praetorius in Serie sei (2,4,lf). Varros Freund, der berühmte T. Pomponius Atticus, Widmungsadressat von De vita populi Romani, ist in diesem Buch ebenfalls mit von der Partie. Auch das dritte Buch scheint in einem hand verlesenen Kreis stattzufinden: Schon zu Anfang werden die Hauptpersonen Q. Axius als Senator (3,2,1), Appius als Augur (er war einer der wenigen, die dieses Amt noch ernst nahmen!) 1643 und Merula als consulari familia ortus vorgestellt (3,2,2). Allerdings ist die Figur des Axius, der den wesentlichen Motor im Gespräch über die moralisch fragwürdige pastio villatica darstellt, etwas zwielichtig: Er ist, obgleich Senator, auch Geldverleiher, 1644 wenn er auch immerhin seine Gewinne in Landgüter investiert, was laut Cicero eine an sich bedenkliche Einnahmequelle gleichsam heiligen kann. 1645 Wir werden auf die Funktion dieser Figur, die eine von Varros subtilen ironischen Brechungen darstellt, unten noch näher eingehen. Nicht ganz so vornehme Teilnehmer, wie der Ritter C. Agrius und der Steuerpächter P. Agrasius (1,2,1) haben nur eine untergeordnete Stellung als Schülerfiguren. Sie bedürfen noch der Einführung, sowohl in die Kunst der Landwirtschaft als auch in den Habitus der Landaristokratie (s. Kap. 2.2.2.4., S. 190). Landbesitz, gute Herkunft und Vermögen, über welche die Teilnehmer verfügen, stellen aber nicht so sehr einen Wert an sich dar, sondern bedürfen vor allem der Verbindung mit praktischer Kompetenz, gemäß dem gutrömischen Selbstverständnis einer Elite, die stets den Aspekt der Mühe und Anstrengung im Dienst an der res publica stolz betont (im Gegensatz etwa zur Leichtigkeit der griechischen Aristokratie) und die sich mit diesem Ethos erfolgreich Anse1641 1642

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Über die geringe Durchsetzungskraft dieser Mode s. Flaig 1993, 205ff. Eine ganz andere (weit weniger heroische) Version bietet Macr. Sat. 1,6,30 (s. Flach 1997 ad loc.). S. Cie. div. 1,105. Darauf wird angespielt in 3,5,8, weitere Quellen bei Flach 2002, 220 ad loc. Cie. o f f . 1,151; s. Niquet 2000, 128f. Petrons Trimalchio (76,8f) geht bezeichnenderweise genau umgekehrt vor: Er schafft sich eine gesellschaftliche und finanzielle Basis durch den Aufkauf der Güter seines Herren und investiert die enormen Gewinne dann über seine Freigelassenen als Geldverleiher.

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hen und Sympathie beim einfachen Volk sicherte. 1646 Schon die sprechenden Namen signalisieren die enge Verbundenheit der Dialogteilnehmer mit der Landwirtschaft. Durch diese Häufung der durchweg historisch nachweisbaren Namensträger wird dem Leser überdeutlich vor Augen geführt, wie sehr deren Familien schon von Alters her mit dem Land und seiner Bestellung verbunden sind. 1 6 4 7 Die Referenten machen ihren Namen denn auch alle Ehre mit ihrer großen Erfahrung in landwirtschaftlichen Fragen: Der Agrarschriftsteller Scrofa war mit Varro einer der vigintiviri der von Caesar eingesetzten Ackerbaukommission. Er selbst betont, nachdem er die Dignität seiner Abstammung hervorgehoben hat, seine frühe Liebe zur Landwirtschaft: Agri enim culturae ab initio fui studiosus (2,4,3), ganz so, wie Cato es gewünscht hatte. 1 6 4 8 Stolo wird als ein berühmter Agrarfachmann hervorgehoben, der seinen Namen propter diligentiam culturae zum Programm gemacht habe (1,2,9 quod nullus in eius fundo reperiri poterat stolo, eine wie bei Scrofa, euphemistische Etymologisierung des wenig schmeichelhaften Namens, der neben „Wurzelschoß" auch „Tölpel" bedeuten kann). Im zweiten Buch werden die Gesprächsteilnehmer als Besitzer großer Viehbestände in Epirus vorgestellt (2 pr. 6; 2,1,2). Murrius beruft sich zum Ausweis seiner Kompetenz, über Eselhaltung zu referieren, auf seine Herkunft aus Reate, dem Herkunftsort der besten dieser Tiere, und er erinnert an seine eigenen Zuchterfolge in Epirus (2,6,1). Die Teilnehmer rechnen wirtschaftlich in großen Dimensionen: Es ist von Schafherden in Einheiten ä 700, 800 oder gar 1000 Stück die Rede (2,10,11), wobei man vermuten kann, daß jeder der Viehzüchter mehrere solcher Großherden besitzt. Denn Viehbesitz gilt in diesen Kreisen nach wie vor als Inbegriff und Grundlage des Reichtums: 2,1,11 omnis pecuniae pecus fimdamentum. Bei den Gesprächsteilnehmern handelt es sich somit um Persönlichkeiten von politischer, kultureller und ökonomischer Macht, was den verbindlichen und taktvollen Ton des Werkes erklärt. 1649 Dennoch ist der Gesprächskreis Varros, wie Linderski bemerkt hat, 1 6 5 0 nicht so exklusiv wie die Gruppen hochrangiger Aristokraten, die Cicero in seinen philosophischen Dialogen auftreten läßt, unter denen sich nicht weniger als 19 (d. h. mehr als die Hälfte) gegenwärtige oder künftige Consulare, sechs Praetorier und fünf sonstige Senatoren befanden. 1651 Cicero zeigt sich auch hierin peinlich auf

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S. Flaig 1993, 212. S. Traglia 1985, 91; s. auch Varro selbst in 2,1,10. Cato agr. 3,1 Prima adulescentia patrem familiae agrum corner ere studere S. Deschamps 1987, 71. S. Linderski 1989, 117. So hat Linderski 1989, 108f gezählt.

oportet.

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soziales Prestige und auf Anschluß an die optimi bedacht, denn „deep in his heart Cicero the philosopher remained a homo novus".1652 Varro zeigt dagegen eine breitere soziale Streuung: Linderski geht die Personen unter diesem Gesichtspunkt durch: 1653 Appius Claudius sei der einzige echte Aristokrat. Varro und Scrofa Praetorier, Fundanius ehemaliger Quaestor, Axius (3,2,1), Q. Lucienus (2,5,1), Merula und Stolo Senatoren, die letzteren aus vornehmen Familien (3,2,2; 1,2,9), Atticus, Cossinius und Agrius Ritter. 1 6 5 4 Von den übrigen vermutet Linderski sehr plausibel: „They were the domi nobiles, as Cicero calls them, the backbone of Italy", also Angehörige der Munizipalaristokratie, die sorgfältig ein Netzwerk von vicinitates pflegten, das großen Einfluß bei den Consul- und Praetorwahlen ausübte, was namentlich die Handlung von Buch III zeigt. 1655 Bei der Vermeidung allzu prominenter Namen bei der Personenwahl mag auch politische Vorsicht Varro geleitet haben. Denn in derart unsicheren Zeiten, in denen gerade die exponiertesten politischen Persönlichkeiten zur Zielscheibe werden konnten, wäre es nicht sehr geschickt gewesen, durch die Nennung solcher Politiker aufzufallen. Varro, seinem Rivalen Cicero an politischem Gespür weit überlegen, war zweifellos zu klug, um sich aus bloßer Renommiersucht auf ein solches Glatteis zu begeben. Der Zusammenhalt dieser Gemeinschaft beruht nicht zuletzt auf der gemeinsamen Lebensform die Varro in De re rustica immer wieder beschwört:

3.2.2. Der landaristokratische Habitus Bereits zu Beginn des ersten Dialogs präsentieren sich die Mitwirkenden mit ihren typischen Einstellungen und Werthaltungen (1,2): So fühlt man sich in diesem Kreis, wenn auch nur in einem vagen Gefühl traditions verhafteter Anhänglichkeit, immer noch der alten römischen Religion verpflichtet, was sich im Treffpunkt, dem Tellusheiligtum zeigt. Man ist weltläufig und in seinem militärischen und zivilen Einsatz für Rom weit herumgekommen, 1656 aber gleichwohl glühender italischer Patriot. 1657 Man verfügt über griechische literarische und wissenschaftliche Bildung, 1658 knüpft jedoch auch an den äl-

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Linderski 1989, 108. S. Linderski 1989, 116f. Appius Claudius Pulcher und der von Q. Caecilius zur Zeit der Abfassung adoptierte (s. 2,2,2) Atticus gehören außerdem auch zum ciceronischen Kreis. S. Linderski 1989, 117. 1,2,3 Vos, qui multasperambulastis terras ... 1,2,3-7 Italienlob. 1,2,4 Zonenlehre; 1,2,7 Homerzitat.

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teren Cato an. 1659 Und vor allem: Man liebt das Land. Doch dabei ergeht man sich nicht in hellenisierender bukolischer Sentimentalität, sondern behält, dem römischen Pragmatismus getreu, stets den ökonomischen Aspekt im Auge. 1660 Varro läßt also schon in der Eingangsszene einige der zentralen Wertvorstellungen der römischen Nobilität anklingen. Der Leser wußte spätestens hier, mit wem er es zu tun hatte, und konnte sich, falls er zu Varros intendierter Zielgruppe gehörte, gleich mit den handelnden Personen identifizieren. Diese gemeinsame Werthaltung der Landaristokratie findet ihre äußerliche Manifestation in einem gemeinsamen „Lifestyle", der in Varros Dialogen immer wieder zum Gesprächsgegenstand wird. Denn dieses Thema war in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs höchst aktuell. Als Reaktion auf eine zunehmende Verstädterung setzt nämlich wieder einmal eine Rückbesinnung ein auf das gute alte „echte" Rom mit seiner bäuerlichen Lebensweise, in dessen Wiederbelebung man die Hoffnung auf eine moralische Gesundung setzte, was unten noch näher ausgeführt werden wird. Hier trifft sich die römische Konzeption vom mos maiorum mit dem moralphilosophischen Postulat nach dem „einfachen Leben", wie es nahezu alle großen griechischen Philosophenschulen postulierten (s. o.), und das man vor allem seit dem Hellenismus zunehmend auf dem Lande angesiedelt sah. 1661 Daß diese Weltanschauung für gebildete römische Landbesitzer konservativer Gesinnung höchst attraktiv war, liegt auf der Hand. Die Villa ist ja ein spezifischer Ausdruck des „Roman way of life". 1662 Seit dem 2. Jh. und vor allem im 1. Jh. v. Chr. hat sich eine komfortable otiumWelt auf dem Lande eingebürgert mit einer Wohnkultur, die sich allerdings von den althergebrachten Mustern deutlich unterschied. 1663 Einige Details über diesen (offiziell präsentierten) Lebensstil und die dahinterstehenden ästhetischen Konzeptionen erfahren wir aus Varro: Grundvoraussetzung ist dabei natürlich die Wahrung eines gewissen ländlichen Kolorits mit deutlichen Bezügen zu Landwirtschaft und Jagd, verbunden mit einer ausgeprägten Garten- und Parkkultur.

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1,2,7 Zitat aus den Origines. 1,2,8 Duo in primis spectasse videntur Italici homines colendo, possentne fructus pro impensa ac labore redire et utrum saluber locus esset an non. Und auch beim Italienlob wird ständig der Ertragreichtum erwähnt. S. Schneider 1995, 125f. Reutti 1990, 1. S. Schneider 1995, 1; zur Entwicklung dieses Wohnstils s. ibid. 1 Iff; zur Entwicklung der ländlichen orfwm-Kultur ibid. 29ff.

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Das wichtigste ästhetische Kriterium in diesem ländlichen Lebensstil ist die Verbindung von Schönheit und Nützlichkeit. Reine urbane Vergnügungsvillen ohne angeschlossenen fundus bleiben (anders als es Horazens Sozialkritik vermuten läßt) 1664 die Ausnahme. 1665 Wie Cato mahnt auch Varro nach wie vor dazu, die Relation zu wahren zwischen der Größe des Herrenhauses und derjenigen der bewirtschafteten Anbaufläche (1,11,1). Doch während noch Cato vor allem am Ertrag der Landwirtschaft interessiert war, betrachtete sein Landsmann Varro sie auch als „un lieu d'agrement expressif d'une certaine douceur de vivre" 1666 , was dem architektonischen Raffinement der zeitüblichen ländlichen Villen entspricht. 1667 Doch Varro mildert seinen Hang zu der noch von Cato verabscheuten luxuria, die er freundlicher mit den Begriffen voluptas oder delectatio bezeichnet, 1668 indem er sie in eine enge Verbindung mit dem Nutzen einer Sache zu stellen sucht. 1669 Diese Verbindung von Ästhetik und Nützlichkeit findet ihre räumliche Manifestation in den üppigen Obstgärten und in der oporotheca, der „Obstgalerie", einer nach Norden ausgerichteten, kühlen und luftigen Vorratskammer mit kunstvoll arrangierten Früchten, die auch als sommerlicher Speisesaal genutzt wurde (1,59,Iff). Den berühmten „Obstgalerien" des Scrofa werden als negatives Gegenbild die rein der Ästhetik dienenden Bildergalerien des Lucullus gegenübergestellt (oporotheca - pinacothecä).1670 Dem Urbanen, unrömischen, relativ neumodischen - und neureichen - zweckfreien Kunstgenuß und den mit königlichem Prunk ausgestatteten Villen (provokativ fällt hier das Reizwort regie)1671 wird dabei eine Absage erteilt zugunsten einer im Laufe

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Hör. carm. 2,15. S. etwa Neudecker 1988, 1; Schmidt 1990, 15f; Mansuelli 1990, 357; solche reinen Vergnügungsvillen finden sich vor allem an der Küste von Kampanien, s. D'Arms 1970, 159ff. Y. Lehmann 1997, 54. S. Y. Lehmann 1997, 54. So treffend Torelli 1990, 132; zu diesem Wandel s. auch Leeman 1987, 42. Varro erläutert dieses Begriffspaar in ling. 8,31 wie folgt: quod si quis duplicem putat esse summam, ad quas metas naturae sit perveniendum in usu, utilitatis et elegantiae, quod non solum vestiti esse volumus ut vitemus frigus, sed etiam ut videamur vestiti esse honeste, non domum habere ut simus in tecto et tuto solum, quo[d] necessitas contruserit, sed etiam ubi voluptas retineri possit, non solum vasa ad victum habilia, sed etiam figura bella atque ab artifice * * * * , quod aliud homini, aliud humanitati satis est; quodvis sitienti homini poculum idoneum, humanitati < ni > si bellum parum. 1,2,10 Fundi enim eius (sc. Scrofae) propter culturam iocundiore spectaculo sunt multis quam regie polita aedificia aliorum, cum huius spectatum veniant villas, non, ut apud Lucullum, ut videant pinacothecas, sed oporothecas. Bei Vitr. 6,3,8 ist die Bildergalerie allerdings bereits akzeptiert, s. Corso 1980-81, 312f.

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von Generationen kultivierten ländlichen Nützlichkeitsästhetik, die dem Ideal der Verbindung von uti und frui entsprechen soll (1,2,10). Das Motiv der Obstgalerie wird, bezeichnend für seine Wichtigkeit, zweimal erwähnt, nämlich hier relativ am Anfang und noch einmal gegen Ende des ersten Dialogs (1,59,2). Dabei ist die oporotheca, vor allem zweckentfremdet als Bankettsaal, in Wirklichkeit vielleicht nicht einmal ein altrömisches Erbe, sondern eine unter hellenistischem Einfluß entstandene Neuerung, möglicherweise sogar eingeführt von Scrofa selbst. 1672 Auf jeden Fall entspricht sie aber in hohem Maße dem konservativ-römischen immer noch agrarisch geprägten Geschmack mit seiner Freude an der Darstellung ländlicher Fülle und Fruchtbarkeit, wie sie sich etwa auch in der Einbeziehung von Obstbäumen und Weinstöcken in die durchgestalteten Gartenanlagen der Villen zeigt. 1673 Unter demselben Doppelaspekt von Vergnügen und Nutzen gönnt sich Axius kostspielige Eselhengste, wertvolle, und - so darf man folgern - auch einträgliche Zuchttiere, 1674 die sich zudem, wie er betont, mit wenig Aufwand halten lassen, ganz im Gegensatz zu den nutzlosen und kostspieligen Meeresfischen eines Hortensius (3,2,9; 3,17,5). Auch die erst kürzlich (3,6,1 nostra memoria) eingeführten Pfauen sehen nicht nur dekorativ aus, sondern sind als geschätzte Delikatesse auch noch lukrativ (3,6,6). Wildgehege (3,12,Iff), einstmals ein Symbol orientalisch-hellenistischer Fürstenmacht, 1 6 7 5 seit kurzem auch in Italien eine beliebte M o d e , 1 6 7 6 sind inzwischen so verbreitet, daß ihre Anlage bereits als bekannt vorausgesetzt werden kann. 1 6 7 7 Die Tiere werden für die Tafel gemästet, aber zugleich wird auch ihr ästhetischer Anblick genossen (3,13,1).

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Dies schlußfolgert Corso 1980-81, 305ff aus der Seltenheit der Begriffe oporotheca (möglicherweise eine scherzhafte Ad-hoc-Bildung Varros) und pomarium (nur bei Varro und Plin. nat. 15,59) und der griechischen Herkunft anderer in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe (camera, marmoratus), allerdings ziemlich kühn angesichts der dünnen Überlieferungslage bei der entsprechenden Fachliteratur vor Varro. 1673 S. dazu Schneider 1995, 46ff; zur ästhetischen Freude am Wachstum von Nährpflanzen s. auch Cie. Cato 57 agro bene culto nihil potest esse nec usu uberius nec specie ornatius (s. Schneider 1995, 56). 1674 S. Plin. nat. 8,167; 170. 1675 S. ζ. B. Polyb. 31,29,3ff, s. Green 1997, 440; „Iis imitaient les reserves de chasse des rois hellenistiques et de satrapes perses" (Grimal 1969, 290). 1676 pii n n a t 8,211 schreibt Fulvius Lippinus, einem Zeitgenossen Varros, die Idee zur kommerziellen Nutzung solcher Wildgehege zu, den L. Lucullus und Q. Hortensius bald darauf imitiert hätten (s. Schneider 1995, 66ff; Weeber 2000, 278). Die Existenz eines Wildgeheges zu welchen Zwecken auch immer dokumentiert aber schon des Scipio Aemilianus fünfte Rede gegen Claudius Asellus frg. 20 ρ. 129 Malcovati. 1677 2,12,3 Quis enim ignorat...; 3,12,4 Quis item nescit ....

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Süßwasser-Fischbecken, die schon seit dem 3. Jh. Bestandteil römischer Landhäuser sind, 1 6 7 8 schmücken und kühlen nicht nur eine amöne Parklandschaft, sondern produzieren auch Speisefische für die Tafel, während man Meerwasserbassins, erfunden angeblich von Licinius Murena (Praetor um 100 v. Chr.), als unrentable Liebhaberei ansieht (3,17,2). Varro integriert ein solches Süßwasserbassin in eine Parkanlage mit Säulengängen und einem Vogelhaus, das ebenfalls Leckerbissen für Gastmähler bereithält. 1 6 7 9 Dort kann er auch seine Gäste bewirten mittels eines sinnreich konstruierten Drehtisches mit integrierten Kalt- und Warmwasserhähnen, 1 6 8 0 der sich personalsparend von nur einem Knaben bedienen läßt. 1 6 8 1 Diese Einrichtung zeigt, daß er auch bei ästhetisierenden Liebhabereien den praktischen Nutzen nicht aus den Augen verliert. Diese Vorliebe für eine ländliche Nützlichkeitsästhetik ist keine persönliche Marotte des Nostalgikers Varros, sondern ein bis weit in die Kaiserzeit verbreitetes Phänomen. Man vergleiche etwa das elegante calcatorium einer Villa in der Cinecittä mit seinem Ambiente einer „celebration of production", wie es selbst Antoninus Pius, Marc Aurel und Fronto zu schätzen wußten. 1 6 8 2 Ein weiteres ästhetisches Kriterium dieses edelrustikalen Lebensstils ist die Synthese von Kunst und Natur. Varro propagiert sie in einem Jahrhundert, in dem die Römer einen Wandel von der traditionell ökonomischen hin zur ästhetischen Naturwahrnehmung vollziehen. 1 6 8 3 Dieser Wandel findet bekanntlich seinen Niederschlag im zweiten Pompeijanischen Stil der Wandmalerei in der zweiten Jahrhunderthälfte, in der Landschaftsdarstellungen einen breiten Raum einnehmen und einen ganz neuen Eigenwert erhalten. Auch in der

1678 g Plaut. True. 35; zu Herkunft und Entwicklung der Fischbecken und zu archäologischen Zeugnissen s. Mielsch 1987, 23ff. 1679 Zur Anlage und Rekonstruktion dieses Gebäudes s. neuerdings Flach 2002, 18ff und die Bildtafeln im Anhang. 1680 g j n ähnliches Ineinander von Wasser und begehbaren inselartigen Zonen in einer Bildungslandschaft als Hintergrund für ein Gelage fand sich auch in der Villa von Sperlonga; dort waren in augusteischer Zeit Statuengruppen von Odyssee-Szenerien in eine Grotte integriert worden (s. Mielsch 1987, 108ff). Von Wasserspielen im Triklinium, dort mit dem Servieren von Speisen auf Figuren von schwimmenden Schiffchen und Vögeln, berichtet PI in. epist. 5,6,36f (s. Mielsch 1987, 122). 1681 3,5,15 (s. Flach 2002, 227 ad loc.). 1682 p r o n t o a d M C a e s 4 4 ρ go van den Hout, vgl. 4,6,lf p. 62f, s. Purcell 1995, 157. Antoninus Pius speiste mit seiner Familie im torcularium (Fronto p. 63). Zu Darstellungen der Weinherstellung in Villenfunden im römischen suburbium, möglicherweise vor dem Hintergrund des dionysischen Kultes s. ibid. und allgemein zur Ästhetik einer „celebration of production" (Fischerei, Bauern bei der Feldarbeit, Agrarlandschaft, Nutzgarten) quer durch die Epochen römischer Geschichte s. ibid. 157ff. 1683 Schneider 1995, 54.

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Gartenkunst, der ars topiaria, verwirklicht sich diese neue Liebe zur künstlerisch gestalteten Natur. 1 6 8 4 Dieses Ideal kommt etwa in der oben erwähnten Dekoration aus kunstvoll placierten Früchten in den oporothecae zum Tragen; denn als ästhetischer denn die reine ars einer Bildergalerie wird die geschmackvoll arrangierte (venustate disposita) Natur empfunden, und zwar in einer Zeit, in der gemalte Früchte als Wanddekor gerade in Mode kamen. 1685 Es zeigt sich auch in der besonderen Aufmerksamkeit, die Varro seinen Garten- und Parkanlagen widmet. Eine der zeitgenössischen Gartenkunst entsprechende Synthese von Kunst und Natur verkörpert Varros bereits erwähnte Anlage mit Vogelhaus, die er in seinem Besitzerstolz von einem der Gesprächsteilnehmer loben und ausführlich beschreiben läßt: 1686 Sie ist an einem Flußlauf gelegen (Wasserläufe gehören fast obligatorisch zu einer Gartenlandschaft) 1687 und ausgestattet mit einem Fischbassin, das flankiert wird von netzüberspannten Säulengängen, bei denen die mittlere von drei Säulenreihen durch Bäumchen ersetzt ist, und die von Vögeln bevölkert sind (3,5,11), so daß die Promenierenden den Eindruck haben, an einem Wald mit Vögeln vorbeizugehen. Die von einem dichten künstlich gepflanzten Wald umgebene (3,5,12) Anlage läuft auf einen tempelartigen, als ein theatridion avium konstruierten (3,5,13) Säulenpavillion zu, der, ebenso wie das nahegelegene musaeum1688 die Anlage als eine moderne „Bildungslandschaft" 1 6 8 9 ausweist. Unser pythagoreisch angehauchter Gelehrter hat diesen Gartenkomplex samt seinen zahlensymbolisch bedeutsamen Abmessungen zu einem Abbild des Kosmos gestaltet. So symbolisiert der rechteckige Wandelgang zu dem Rondell den irdischen Weg der Seele nach dem Tod, das Wasserbassin im inneren des Rondells die himmlischen Wasser, die insula in media parva mit ihrem kleinen Bankettsaal die Insel der Seligen, die dem Mythos nach am Rand der Welt im Ozean, nach pythagoreischer Lehre im Himmel jenseits der himmlischen Wassermassen liegt. 1690 Die Kuppel des tempelartig den Speiseraum um-

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S. ζ. B. Griraal 1969, 429; Neudecker 1988; Schneider 1995, bes. 40ff. Ζ. B. im sog. Gartensaal im Haus der Livia bei Primaporta, s. Schneider 1995, 48 und 50. Auf gemalte Früchtedekors spielt auch Vitr. 7,4,4 an, falls das überlieferte melographia doch korrekt ist, wie Corso 1980-81, 304f meint (die in den Ausgaben dominierende Konjektur megalographia ist sonst nirgends belegt!). 3,4,2; 3,5,8ff. S. Grimal 1969, 293ff. 3,5,9; dort war wohl seine Bibliothek untergebracht (s. dazu Flach 2002, 222 ad loc.). S. dazu Neudecker 1988, 2 et pass.; Zanker 1990, 154f; Schneider 1995, 38f. S. Deschamps 1987. Bei den Abmessungen spielen die Faktoren drei und vier wieder eine wichtige Rolle (zur Bedeutung s. Kap. 1.1.2.3., S. 48ff): Der rechteckige Wandelgang, der auf das Rondell hin führt, hat eine Breite von 48 ( = 4 mal 12 oder 4 mal 4 mal 3) Fuß und eine Länge von 72 ( = 3 mal 3 mal 8) Fuß (stehen also im

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schließenden Pavillons mit dem Morgen- und Abendstern, dem Symbol der Wiedergeburt, stellt das Himmelsgewölbe dar. Mit dem Horologium nach dem Vorbild des Andronikos von Kyrrhos (3,5,17) wird auch die Technik in Kunst und Natur integriert. Dabei ist es Varro gelungen, die unangenehmen Nebeneffekte der Natur, wie den unappetitlichen Geruch eingesperrter Vögel oder das lästige Hin- und Herflattern der Tiere um die speisenden Gäste (ein empfindliches Manko der Volieren des Lucullus, die deshalb als inutile beurteilt werden, 3,4,3) zu vermeiden durch ein geschickt angelegtes System von Einfriedungen mittels luftiger Netze. Wie Varro erwähnen läßt, ist ihm so die kunstvolle Bändigung des Natürlichen besser gelungen als seinen Vorgängern (3,5,8) M. Laenius Strabo und eben Lucullus, die bereits versucht hatten, diese erst kürzlich eingeführte 1 6 9 1 Architekturform hellenistisch-orientalischer Königshöfe in römische Landgüter zu integrieren. Die Beliebtheit von Vogelmotiven in der Wohndekoration bezeugen übrigens zahlreiche Fresken, besonders in der Casa del Menandro in Pompeii, aber auch im Haus der Livia auf dem Palatin. 1 6 9 2 Varro steigert in seinem Aviarium dieses Raffinement einer naturähnlichen Architektur, indem er echte Vögel zur Verschönerung des Wohnambientes einsetzt. Er läßt die beliebten Wandmalereien hier sozusagen lebendig werden, inszeniert die Natur als ein lebendiges Kunstwerk. 1 6 9 3 Einen Kontrapunkt zur verfeinerten Gartenarchitektur bilden die Wildparks. 1 6 9 4 „Les Romains restaient toujours le peuple de la louve. Iis n'ont jamais perdu ce besoin d'entrer en contact avec les forces primitives de la nature". 1 6 9 5 Das imperiale Lebensgefühl der Herrschaft über ein Weltreich führte ferner zu dem Ehrgeiz, auch die wilde Natur dem menschlichen Willen zu unterwerfen 1 6 9 6 und sie in gefällige Formen zu zwingen. Ein solches Schauspiel bietet das Wildgehege Varros bei Tusculum, wo Wildschweine und Rehe darauf dressiert wurden, sich auf ein Hornsignal hin zur Fütterung zu sammeln (3,13,1).

Verhältnis 2:3 = Diapente). Das Rondell, für die Pythagoreer das Symbol der Vollkommenheit und Ewigkeit, hat einen Durchmesser von 27 ( = 3 mal 3 mal 3) Fuß, also die dritte Potenz der Zahl der Vollkommenheit (s. Deschamps 1987, 74f). S. dazu und zu weiteren architektonischen Umsetzungen astrologisch-eschatologischer Lehren Beatrice Bakhouche: L'astrologie ä Rome, Louvain u. a. 2002 (Bibliotheque d'etudes classiques 29), 131-134. 1691 S. Grimal 1969, 290. 1692 S. Mielsch 1987, 18f; zu Vogeldekorationen s. auch Grimal 1969, 287ff. Auch Plin. epist. 5,6,22 beschreibt eine solche Malerei mit Vögeln, die auf Zweigen sitzen. 1693 S. Deschamps 1987, 78. 1694 G r i m a i i969 ; 292: „la presence des fauves corrigeait l'exces d'elegance et d'artifice inseparable des jardins." 1695 Grimal 1969, 292. 1696 S. dazu Schneider 1995, 68; Weeber 2000, 310.

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In diesen Parkanlagen zeigt sich Herrscherattitüde verbunden mit hellenistischem Naturerleben und Bildungsdrang, wie sie Neudecker als typisch für die Griechenrezeption in der römischen Villenkultur beschrieben hat. 1 6 9 7 Gärten und Gehege sind wie die Kulissen einer Bühne, auf der sich der Besitzer als Mann von Geschmack und als Herr über die Natur eindrucksvoll in Szene setzen kann. 1 6 9 8 Das Hausgemachte schließlich, die von den Dichtern besungenen dapes inemptae,1699 die nicht nur die Autarkie ihres Besitzers zeigen, sondern auch mehr als alles andere - die Verbindung zum mos maiorum herstellen, sollen der inszenierten Ländlichkeit einen Anstrich von Authentizität und Ursprünglichkeit verleihen: So bewirtet man die Gäste mit den Erzeugnissen der eigenen Fisch- und Vogelzucht (3,3,9f; 3,2,3). Als neureiche Geschmacksverirrung verpönt sind folgerichtig das Servieren von Fischen vom Markt statt aus den eigenen Fischbecken (3,17,5-8) und das Nachahmen ländlicher Ästhetik durch gekaufte Früchtearrangements (1,59,2). 1 7 0 0 Ein charakteristisches Attribut ist die selbstgeräucherte Speckseite in der Vorratskammer (2,4,3), eine Reminiszenz an die alte italische Vorliebe für fettes Schweinefleisch, 1701 die man sich trotz aller neumodischen Delikatessen bewahrt hat. Die Schweinezucht ist eine Bastion der altrömischen Rustizität wider das Eindringen städtischer Dekadenz auch in die letzten Refugien der Guten Alten Zeit. Hier weiß sich Scrofa mit den anderen Großgrundbesitzern dieses Kreises im Einklang. 1702 Denn die Väter hielten diejenigen für faul und verschwenderisch, die in ihrer Vorratskammer gekauftes Schweinefleisch hängen hatten anstelle von selbstgeschlachtetem. 1703 Der Schweinezucht, derb und bodenständig wie sie ist, haftet also der deftige Geruch nach Guter Alter Zeit an. Die Vorliebe, die Varros Landaristokraten für das Borstenvieh hegen, zeigt sich auch in den derb-komischen res admirandae und Scherzen, die man von ihnen zu erzählen weiß. 1 7 0 4 Die selbstgeräucherte Speckseite,

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S. Neudecker 1988, 2. S. Schneider 1995, 146. z

β yerg

georg

4132f.

1700 Partial 3,47; 3,58; 12,72 verfaßt Spottgedichte auf Landbesitzer, die ihre Lebensmittel aus der Stadt beziehen müssen. 1701 S. dazu Eduard Fraenkel: Plautinisches im Plautus, Berlin 1922 (Philologische Untersuchungen 28), 13lf und 248. 1702 2,4,3 nec depecore suillo mihi et vobis, magnis pecuariis, ea res non est communis. 1703 2,4,3 et qui non audierit patres nostros dicere ignavum et sumptuosum esse qui succidiam in carnario suspenderitpotius ab lanrio quam e domestico fundo? 1704 Ζ. B. fügt er in 2 , 4 , l l f Berichte über unglaublich fette Schweine ein; 2,4,10 greift Varro einen Scherz stoischer Provenienz auf mit der Doppeldeutigkeit von sal (Salz/Witz) über die sprichwörtliche (angebliche) Dummheit dieser Tiere (s. Flach ad

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Inbegriff einer volkstümlich-deftigen Kost, verkörpert also den Lebensstil des traditionellen Landadels in Unterscheidung zu den ignavi et sumptuosi, die nicht mehr die Selbstversorgung für erstrebenswert erachten, sondern dekadente exotische Luxusspeisen vorziehen. In der Vorliebe für das Hausgemachte verbindet sich das Ideal altväterlicher Autarkie mit einer „romance of storage", die Purcell aus archäologischen Quellen als ein Charakteristikum der römischen villa mit ihren gewaltigen Vorratsräumen ermittelt hat: 1705 Sie dient der Demonstration von Fülle und Überfluß an erwirtschafteten Produkten, an Obst, Speck und Fisch, aber auch an Leckerbissen wie Wild oder edlem Geflügel, die jeder Mangellage trotzen, und deren man sich jederzeit bedienen kann. 1 7 0 6 Ihre Herstellung und Präsentation verlangt zudem eine Kennerschaft, die althergebrachte und langwierige Bemühungen voraussetzt, und die ein Emporkömmling wie Petrons Trimalchio, der mit seiner protzig-übertriebenen Art nur seinen zwielichtigen Freunden imponiert, 1707 trotz aller Anstrengung nicht nachzuahmen vermag. 1 7 0 8 Der hier umrissene Lebensstil mit seinen subtilen impliziten Regeln bildet eine Art von kultureller Semiotik, einen gemeinsamen Code, an dessen Beherrschung sich intern die Gruppenzugehörigkeit ablesen läßt. Dementsprechend gebrandmarkt werden die Verstöße gegen diesen Habitus in einer Zeit, in der manche unter den schwerreichen Villenbesitzern beim Ausklügeln neuer verfeinerter Luxusausstattungen in einen wahren Erfindungsrausch geraten waren. 1 7 0 9 Diese Maßlosigkeit unter Verschmähung der alten Einfachheit wird in De re rustica in zahlreichen Seitenhieben gegeißelt: Anstoß erregt etwa der Snob Lucius Marcius Philippus, wenig freundlich als minthon charakterisiert, mit seinem flegelhaften Verhalten, einen Süßwasserfisch aus Varros Wasserlauf, den er von einem hochgestellten Gastfreund serviert bekommen hatte, verächtlich auszuspeien mit dem flauen Scherz Peream ni piscem putavi esse (3,3,91). Auch der nicht immer geschmackssichere Quintus Hortensius Hortalus, der seinem Erben nicht weniger als 10.000 Krüge Wein hinterlassen hatte, 1710 und der dazu tendiert, die Grenze des Schicklichen immer wieder einmal etwas

loc.): Suillumpecus donatum ab natura dicunt [iis] ad epulandum; itaque iis animam datam esse proinde ac salem quae servaret carnem. 1705 Purcell 1995, 169f. 1706 S. auch Schneider 1995, 69. 1707 p e [ r o n 3 8 1 nec eS( quodputes ilium quicquam emere. Omnia domi nascuntur ... 1708 Darin zeigt sich ein für alten Landadel typisches Distinktionsmerkmal, das sich noch bis in die Gegenwart hinein findet; modernes Beispiel bei Bourdieu 1998, 438ff. 1709 S. Mielsch 1987, 33f. 1710 De vita populi Romani frg. 125 Riposati.

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zu überschreiten, bekommt sein Fett: Hart an der Grenze ist etwa seine reichlich manirierte Inszenierung in seinem gewaltigen Wildgehege mit einem als Orpheus verkleideten Wildhüter, auf dessen Hornsignal hin die Tiere zur Fütterung kamen (3,13,2f), eine Szenerie wie aus einem Wandgemälde. 1711 Der luxusliebende Spaßvogel Axius, dessen Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind, preist dieses Schauspiel als ein formosum spectaculum und vergleicht es mit den Spielen im Circus Maximus - ein zweifelhaftes Kompliment, denn Theater und Zirkusspiele hatte Varro als Symptome der Dekadenz getadelt (2 pr. 2f). 1 7 1 2 Offenbar war die Rustikalität reiner Wildgehege für den überfeinerten Geschmack des Hortensius allzu derb, so daß er sie mit einer hellenisierenden mythologischen Kunstszenerie verfeinern wollte. 1713 Auch seine Einführung von Pfauen als Gericht bei öffentlichen Banketten, die eher bei den luxuriosi als bei den severi boni viri Beifall fand, wird ihm von Appius nicht gerade als Ruhmesblatt ausgelegt (3,6,6). Vollends überschritten aber ist die Geschmacksgrenze mit seiner grotesken Vernarrtheit in seine Fische, über die sein Verwandter (3,17,5) Axius, ansonsten selbst kein Kind von Traurigkeit, ausgiebig mit prallen satirischen Zügen 1 7 1 4 lästert (3,17,5ff), wie überhaupt die Fischliebhaberei, die in gewissen Kreisen der Nobilität in der Tat groteske Ausmaße annahm, 1 7 1 5 seit Cato ein beliebtes Standardthema republikanischer Sittenschelte abgab. 1 7 1 6 Nicht nur, daß diese Marotte nicht den geringsten Nutzen bringe (denn Hortensius verzehrt oder verkauft seine Lieblinge nicht, sondern kauft seine Speisefische auf dem Markt), sie ist darüber hinaus extrem aufwendig an Futterkosten und Personal, und sie ist unsozial, da Hor-

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Ζ. B. im „Haus des Orpheus" in Pompei, s. Grimal 1969, 340f. Auch Tac. ann. 14,20 beklagt später die zunehmende Faszination der römischen Bürger durch die Spiele unter Verlust der guten alten Sitten. Bezeichnenderweise läßt Hortensius diese Einrichtung ausdrücklich mit griechischen Begriffen, nämlich therotrophium und triclinium benennen: ... 2,13,2 quod non leporarium, sed therotrophium appellabant. Ibi erat locus excelsus, ubi triclinio posito cenabamus (s. Schneider 1995, 68). S. dazu Heisterhagen 1952, 97. So soll Hortensius laut Plin. nat. 9,172 beim Tod einer seiner Muränen geweint haben. Der Ritter Vedius Pollio fütterte seine Muränen mit lebenden Sklaven (Plin. nat. 9,77); Antonia zog ihren Lieblingsmuränen Ohrringe an (ibid. 9,172), s. Robert 1985, 287. Über solche Fischnarren spottet auch Cicero, ζ. B. Att. 1,18,6 (weitere Stellen bei Flach 2002, 213 ad 3,3,9), und bereits Cato hatte an der Rettbarkeit eines Gemeinwesens gezweifelt, in dem für einen Fisch mehr Geld ausgegeben wurde als für ein Rind (s. Plutarch Cat. ma. 8,2). Lt. Jaczynowska 1962, 492ff handelt es sich zu Varros Zeit bei diesen von Cicero als piscinarii verspotteten Personen um eine kleine festumrissene Gruppe von nobiles, die durch die sullanischen Proskriptionen, durch Ausbeutung der Provinzen, durch Zinsverleih oder durch finanzielle Spekulationen besonders große Reichtümer angehäuft hatten.

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tensius plebeiae cenae piscis an seine Fische verfüttert (3,17,7). Damit nicht genug, läßt er von L. Lucullus inspiriert, seine Meerwasserbecken über Kanäle mit dem Ozean verbinden, damit seine geliebten Fische auch im Sommer immer kühles Wasser haben (3,17,9). Hortensius hat hier nicht nur den Aspekt des fructus schnöde ignoriert, sondern dabei auch jeden gesunden Maßstab verloren. 1 7 1 7 Hortensius dient also sozusagen als Markierungspunkt einer Schmerzgrenze, bis zu der man besser nicht gehen sollte. 1718 Lucullus aber, der geradezu unanständig reiche Eroberer von Asia, der, obgleich frugal erzogen, von seinem siegreichen Asienfeldzug die Vorliebe für königliche Prunkvillen und Luxusgüter mitgebracht hatte, 1719 jener sprichwörtliche Bonvivant, 1720 von dessen tusculanischer Villa der Volkstribun A. Gabinius ein Bild auf den Rostra ausstellte, um ihn beim Volk unbeliebt zu machen, 1 7 2 1 wird uns immer wieder vorgeführt als ein extremes Beispiel protziger Übertreibung nach griechischer und orientalischer Unsitte, weit jenseits aller vernünftigen Grenzen: Außer den erwähnten Bildergalerien (1,2,10) und der unglückseligen Vorreiterrolle, die er zusammen mit Q. Metellus Pius Scipio bei der unsozialen (pessimo publico) Errichtung zweckentfremdeter modischer Luxuslandhäuser gespielt hat (1,13,7), werden ihm auch seine skurrilen, zuweilen degoutanten Einfalle vorgehalten, wie sein Speisezimmer in dem oben erwähnten Vogelhaus mit seinen wenig appetitlichen Gerüchen, wo er in griechischen Schüsseln 1722 gebratene Vögel servieren ließ (3,4,3). Treibt im Bezug auf die Fischliebhaberei schon Hortensius einen enormen Aufwand, so schlägt ihn Lucullus noch um Längen: Durch einen aggressiven Eingriff in die Natur, den Durchstoß eines Berges, habe er Bedingungen für die Fischzucht geschaffen, durch die er, wie Hortensius geschwärmt haben soll, nicht einmal hinter Gott Neptun selbst zurückstehen müsse (3,17,9), was ihm übrigens den Spitznamen Xerxes togatus eingetragen hat. 1 7 2 3 Solche massiven Eingriffe

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3,17,6 maiorem curam sibi haberet, ne eius esurirent mulli [asini], quam ego habeo, ne mei in Rosea esuriant asini·, 3,11,7 Celerius voluntate Hortensi ex equili educeres redarias, ut tibi haberes, mulas, quam episcina barbatum mullum. 3,17,8 non minor cura erat eius de aegrotis piscibus, quam de minus valentibus servis. Von einer gemalten Argonautendarstellung für 144.000 Sesterzen in einer eigens dafür errichteten aedes auf seinem Landgut in Tusculum berichtet Plin. nat. 35,130. De vita populi Romani frg. 125 Riposati L. Lucullus puer apud patrem numquam lautum convivium vidit, in quo plus semel Graecum vinum daretur: ipse cum rediit ex Asia, milia cadum congiarium divisit amplius centum. ... Hortensius super X cadum heredi reliquif, s. Grimal 1969, 105; A. Lehmann 1988, 270ff. S. etwa auch Athen. 6,109 274eff. Cie. Sest. 93. „Daß Lucullus darin (sc. in mazonomo) das Geflügel vorsetzte ..., drückte wie das gesamte Ambiente aus, in welchem Maße er sich griechischer Lebensart verbunden fühlte." (Flach 2002, 217 ad 3,4,3). Veil. 2,33,4; Plin. nat. 9,170 (s. A. Lehmann 1988, 271f).

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in die Landschaft entsprachen einer verbreiteten Mode und wurden von den Moralisten der Zeit heftig gegeißelt. 1724 Die Umkehr der natürlichen Ordnung und die Hybris gegenüber der Gottheit, topische Vorwürfe gegenüber Verschwendern, unterstreichen die absolute Maßlosigkeit dieses Prassers. An solchen enfants terribles also, vor allem an Lucullus, läßt sich trefflich demonstrieren, wie man sich, wenn man „dazu" gehören möchte, besser nicht verhalten sollte. Ihre Erwähnung hat also eine gleichsam pädagogische Funktion in einer patriarchalischen Methode moralischer Unterweisung anhand von abschreckenden Beispielen, wie sie etwa auch Horaz von seinem Vater übernommen hat. 1 7 2 5 Darüberhinaus sind sie aber auch willkommene Pappkameraden, auf die man einprügeln kann, um so von den Unregelmäßigkeiten der eigenen Lebensführung abzulenken und den eigenen Luxus daneben relativ moderat aussehen zu lassen. Dieses Abgrenzungsverhalten hat seinen Grund in der oben bereits angedeuteten problematischen politischen Situation, in der sich die konservative Elite befand: Der Zerfall der Republik und ihrer politischen Ordnung führte insbesondere in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts zu einer stark erhöhten Mobilität. Eine neue Schicht von Aufsteigern, die in der Provinzverwaltung, als Steuerpächter oder durch Handelsgeschäfte rasch zu Geld und Einfluß gekommen waren, bildete eine scharfe Konkurrenz für die alten Eliten. 1726 Innerhalb der Senatorenschaft waren Lebensstil und ökonomische Orientierung wie auch philosophische und religiöse Einstellungen seit Cato immer individualistischer geworden, so daß ihre Einheitlichkeit und damit ihre Durchsetzungskraft verloren zu gehen drohte. 1 7 2 7 Diese Lage ließ es notwendig erscheinen, Geschlossenheit und Einigkeit in einem gemeinsamen Corpsgeist zu propagieren. Daher wird in diesen Dialogen dem aufmerksamen Leser auch demonstriert, was bei ihnen zum guten Ton gehört und was nicht. Varro entwirft in diesem Sittenpanorama fast eine Art Tugendspiegel für Gutsherren. Damit führt er die Tradition einer moraldidaktischen Unterströmung des Agrarhandbuchs, wie sie sich auch bei Hesiod und Cato findet, mit einer ähnlichen gesellschaftspolitischen Stoßrichtung fort, jedoch auf subtilere und unterhaltsame Weise.

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Ζ. B. Sali. Catil. 13,1; 20,11; Hör. carm. 2,15; 3,l,33ff; 3,24,3ff; Sen. contr. 2,l,13ff, s. Weeber 2000, 310. Dagegen wird die Naturbezwingung durch den Villenbau in der Kaiserzeit vielfach zum Gegenstand des Lobes, z. B. Stat. silv. 2,2,52ff (s. dazu Schneider 1995, 98ff mit weiterer Literatur). Hör. serm. 1,4,105 insuevit pater optimus hoc me, / ut fugerem exemplis vitiorum quaeque notando. S. Bianco 1976, 313; De Martino 1988, 49ff; Meißner 1999, 170f. S. Jaczynowska 1962.

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Der propagierte Lebensstil orientiert sich - jedenfalls dem Anspruch nach - an der altrömischen Ländlichkeit in Abgrenzung vom städtischen dekadenten Luxus. Dadurch bildet er seine unverwechselbar eigene Ästhetik aus. Doch dieser Lebensstil ist bei näherem Hinsehen nicht so altrömisch, wie es auf den ersten Blick scheint. De facto hatte er sich so erst in sullanischer Zeit herausgebildet. 1728 Dabei wurden zahlreiche hellenistische Neuerungen aufgenommen, allerdings auf spezifisch römische Weise in die Villa integriert. Diese Neuheiten werden selegiert im Hinblick darauf, ob sie sich mit dem ländlichrömischen Habitus und seinen ästhetischen Kriterien vertragen (z.B. Wildgehege, Pfauenzuchten, Vogelhäuser) oder nicht (z.B. Kunstsammlungen und Bibliotheken, die aber, entgegen dem nach außen vertretenen Programm, dennoch seit dem 1. Jh. v.Chr. ganz selbstverständlich zur Villa dazugehörten). 1729 Das Konzept der Ländlichkeit „als römische Adaption hellenistischer Idealisierung des Bukolischen als grundsätzliches Phänomen aristokratischer Selbstwahrnehmung" 1730 schlägt sich also selbstverständlich auch in der Gestaltung des ländlichen Ambientes nieder. Das Ergebnis ist eine künstlich inszenierte Ländlichkeit, die Hellenistisches römisch modifiziert, 1731 die mit der Lebensweise der vielbeschworenen maiores aber nur noch vereinzelt Ähnlichkeit aufweist, sich aber dennoch deutlich abgrenzt von neureichem urbanem Prunk, der, inkonsequent genug, als regie polita aedificia aliorum (1,2,10) diffamiert wird, obgleich man sich auch selbst einige Annehmlichkeiten orientalischer Herrscherresidenzen gönnt. Dennoch ist das Ambiente, das Varro als ideal beschreibt, nicht so künstlich und exotisch, wie es der Mode seiner Zeit entspräche, mit der Dominanz der Plastik über die Natur, den Einflüssen der hellenistischen Poesie, Elementen der lange verpönten dionysischen Mysterien, 1732 wie sie in den immer luxuriöseren Landgütern von einer entmachteten Oberschicht als kompensatorische Gegenwelt aufgebaut wurde. 1 7 3 3 Wie schon die Villenkultur in Italien allgemein trotz aller hellenistischen Einflüsse stets ein unverwechselbar römisches Gepräge bewahrte, 1 7 3 4 so versucht Varro, diesen Lebensstil nochmals in eine spezifisch italische Richtung umzubiegen und das römische Profil schärfer herauszuarbeiten.

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S. Grimal 1969, 357. S. Mielsch 1987, 96f. Eigler 2002, 289. S. Corso 1980-81, 322. Er scheint, wenigstens seiner Beschreibung nach, ein wenig die klassizistische Schlichtheit des augusteischen „Naturalismus", wie Grimal ihn beschreibt, bereits vorwegzunehmen (skeptisch zu Grimals Dreiteilung der Gartenkunst in eine ciceronianische, eine naturalistische und eine flavische Periode äußert sich Schneider 1990, 7). S. Grimal 1969, 428ff. Z.B. durch Einbeziehung von Gärten in den Wohnbereich, s. Schneider 1995, 34ff.

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Der von Varro skizzierte „Lifestyle" nimmt damit Rücksicht auf die römische Abneigung gegen Extravaganzen und Abweichungen von der volkstümlichen Einfachheit; 1 7 3 5 er versucht, existierende Gefälle von Macht und Reichtum zwischen den Bürgern durch eine scheinbare Ähnlichkeit des Lebensstils zu kaschieren, um so soziale Kränkungen zu vermeiden und den beherrschten Schichten die Identifikation mit den Herrschenden zu erleichtern und ihre Loyalität zu sichern. 1 7 3 6 Denn die Nobiles als die politisch tätige und einflußreiche Gruppe innerhalb der römischen Oberschicht waren traditionell ihrem Ideal nach nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmt, wie auch ihr soziales Ansehen nicht primär aus ihrem Reichtum resultierte. 1 7 3 7 Sie ahndeten Ansätze zu jeder Art der „Absonderung von der Lebensart der Massen bzw. der Bauern", etwa durch die umfangreiche Gesetzgebung gegen Aufwand, für die sich Cato so lebhaft engagiert hatte. Idealisiert wurde demgegenüber der „römische Bauer als Idealtypus des Nobilis", wenn dieses Ideal auch von der Nobilität selbst nicht ganz ernst genommen wurde. 1 7 3 8 „Die grundsätzliche Offenheit der Nobilität zu den Massen der Römer, insbesondere zu den Bauern, und die vor allem in der großen Herrschaftskrise seit der Mitte des 2. Jahrhunderts zunehmende romantische Idealisierung des Landlebens haben eine politische Aufwertung des Reichtums verhindert und sogar umgekehrt die Sparsamkeit (parsimonia) und das einfache Leben (frugalitas) zu besonderen Werten, den Luxus (luxuria) zu einem Unwert gemacht." 1 7 3 9 Dieser Egalitätsgrundsatz strahlt auch auf die Anlage des Landgutes aus. 1 7 4 0 Er äußert sich in den Bemühungen der besonneneren Großgrundbesitzer, ihren Reichtum nicht zu auffällig zur Schau zu stellen, auch wenn die romferne Lage des Gutes die Kontrolle durch die Mitbürger erschwerte und daher mehr Freiräume zuließ als das Leben in der Stadt, 1 7 4 1 was aber kein Garant dafür war, daß das Volk nicht doch davon erfuhr, wie das oben bereits erwähnte Beispiel von der Prunkvilla des Lucullus zeigt, von welcher der Volkstribun ein Bild öffentlich ausstellte, um den Volkszorn gegen ihn zu entfachen. Varros landaristokratischer Habitus ist darauf ausgerichtet, diesen Neid der Unterschicht zu vermeiden, indem er den ostentativen Konsum und

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S. dazu Bleicken 1981. S. Flaig 1993, 197. S. Bleicken 1981, 242 und 244. Das Selbstverständnis dieser Elite illustriert sehr deutlich das Grabepigramm 958 Buecheler ( = CIL VI 1293) Virtutes generis mieis moribus accumulavi, / progeniem genui, facta patris petiei. / maiorum optenui laudem, ut sibei me esse creatum / laetentur stirpem nobilitavit honor. S. Bleicken 1981, 242. Bleicken 1981, 244. Purcell 1995, 168. S. Mielsch 1987, 95; Schmidt 1990, 26f; Zanker 1990, 151; so kommt es, daß die Ausmalung mancher Villen, ζ. B. der Villa von Boscoreale oder der Vila dei Misteri, deutlich kunstvoller als die der Stadthäuser ausfallen (s. Mansuelli 1990, 342).

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die Statuskonkurrenz innerhalb der Oberschicht beschränkt auf Dinge, die ein eingeweihter Connaisseur zwar zu goutieren vermag, die der Plebs aber nicht ins Auge stechen und die daher keinen „repulsorischen Gestus" bedeuten, der die ärmeren Mitbürger vor den Kopf stößt. 1742 Schließlich hätte die städtische Plebs mit Hirschen und Wildschweinen wenig anfangen können, anders als etwa mit prächtigen Bildern und kostbaren Gefäßen. 1743 Doch innerhalb der Oberschicht wirkt dieser in den Dialogen vielfach angedeutete subtile Komplex von relativ unverdächtigen Statussymbolen als ein feiner Indikator dafür, wieviel Vermögen jemand besaß und mit wieviel Geschmack und gesellschaftlichem Takt er es verstand, damit umzugehen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der hier geschilderte landaristokratische Lebensstil, dieses komplexe System einer Kommunikation vermittels Worten, Gesten und Dingen, drei Zielen dienen sollte: a) der Selbstvergewisserung einer Elite nach innen, der Festigung der Beziehungen innerhalb der Gruppe und der Stärkung der Normkonformität, auf der ihre politische Durchschlagskraft beruhte, 1744 und die in ihrer Existenz bedroht war. b) als eine Art sozialer Filter gegenüber einer nachdrängenden Schicht von homines novi. Denn inzwischen besaßen auch viele Ritter und sogar reichgewordene Freigelassene große Mengen an Land. 1745 Diese Neureichen verfügten zwar häufig über ein Mehr an ökonomischem Kapital, konnten dieses aber wegen des traditionellen Verhaltenskodexes nicht ohne weiteres in „soziales Kapital" und damit in politischen Einfluß ummünzen. Andererseits bietet der landaristokratische Habitus aber auch die Möglichkeit der Integration für diejenigen Aufsteiger, die fähig waren, sich diesen Stil anzueignen, 1746 zumal aus der Munizipalaristokratie und aus dem Ritterstand, den Augustus dann vermehrt in die Verantwortung für das Gemeinwesen einzubinden trachtete. 1747 Sie werden repräsentiert durch Schülerfiguren wie den Ritter Agrius und den Steuerpächter Agrasius. Hierin zeigt sich die inte-

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Zur Zurückhaltung der römischen Aristokratie im Bezug auf die Ästhetisierung des Lebensstils und den ostentativen Konsum im Unterschied zum griechischen Adel s. Flaig 1993, bes. 203 und 214f. Zur repräsentativen Funktion der pinacotheca s. etwa Vitr. 6,5. S. dazu Flaig 1993, 216f. Seit Anfang des Jahrhunderts genossen alle freien Italiker das Privileg, römischen Boden zu besitzen, s.. Finley 1993, 108. Dazu paßt die Erklärung Cossarini 1976-77a, 185 für die Erweiterung des Kreises der Adressaten durch die Widmungen von Buch II und III an andere Gutsbesitzer, daß sie der Einbeziehung eines weiteren Kreises römischer Landbesitzer dienen soll, über den familiären Kreis hinaus. S. Baltrusch 1989, 183ff.

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grierende Kraft der Landwirtschaft als Lebenshaltung, welche die traditionsbewußten Kräfte, jedenfalls Varros Wunsch nach, zu sammeln und zu bündeln vermag. An interessierte Neulinge werden allerdings, wie in den vorigen Teilen der Arbeit herausgestellt, hohe Anforderungen an Sprachkompetenz, Allgemeinbildung und fachlichen Vorkenntnissen gestellt. Der Kreis ist exklusiv und soll auch exklusiv bleiben. c) dem Aufrechterhalten der Kommunikation mit der „erzkonservativen" 1748 Unterschicht, der suggeriert werden soll, daß ihre Führung sich auch im otium nicht von ihr entfernt, sondern auch da das Gemeinwohl im Auge behält, indem sie mit der Landwirtschaft eine Tätigkeit zu ihrer Herzensangelegenheit erklärt, die an der öffentlichen Wohlfahrt und an der Tradition ausgerichtet ist. Die von Varro beschriebene Form des Understatements ist, wenigstens auf kurze Sicht, zukunftsweisend. Sie setzt sich in augusteischer Zeit durch in der „neuen Einfachheit" des Dritten Architekturstils mit der Dominanz der Natur über die Baulichkeiten und der Demonstration von Kultiviertheit über die Zurschaustellung von Reichtum. 1749 Augustus höchstselbst wird sich mit dem traditionellen Habitus der maiores schmücken, sich ihre „retroverse Moralität" 1750 zu eigen machen. In seinem Privatleben wird er sich „als den sparsamen rustikal-bodenständigen Hausvater darstellen, der ganz nach alter Römerart, den mores maiorum, lebte", 1751 was sich beispielsweise in seiner hausgewebten Kleidung, seiner Ablehnung luxuriöser mit Statuen und Gemälden ausstaffierter Landgüter und in der Einrichtung seiner Residenz ausdrückte, die in dem ostentativen Verzicht auf Marmorschmuck und Fußbodenmosaike eine fast schon catonische Nüchternheit zeigte, die selbst vor dem strengen Urteil von Varros Luxuskritikern Fundanius und Appius bestanden hätte. 1752 Mit seiner breit angelegten Sittengesetzgebung wird Augustus versuchen, diese am mos maiorum orientierte Lebensform in der Oberschicht durchzusetzen und diese so an die eigene Zielrichtung zu binden und zu disziplinie-

Π48 1749 1750 1751 1752

Flaig 1993; 196f

S. dazu Leach 1988, 377. Eigler 2002, 289. Eigler 2002, 288. S. Suet. Aug. 72,1 In ceterispartibus vitae continentissimum constat ac sine suspicione uilius vitii. habitavit ... postea in Palatio, sed nihilo minus aedibus modicis Hortensianis, et neque laxitate neque cultu conspicuis, ut in quibus porticus breves essent Albanarum columnarum et sine marmore ullo aut insigni pavimento conclavia. ibid. 72,3 ampla et operosa praetoria gravabatur ... sua vero quamvis modica non tarn statuarum tabularumque pictarum ornatu quam xystis et nemoribus excoluit rebusque vetustate ac raritate notabilibus. ibid. 73 veste non temere alia quam domestica usus est, ab sorore et uxore et filia neptibusque confecta.

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ren. 1 7 5 3 In wesentlich systematischerer Form wird er damit fortsetzen, was schon Sulla, Pompeius und zuletzt sein Adoptivvater mit seiner Lex Iulia Caesaris von 46 v. Chr. (übrigens nicht ohne Rückhalt aus der Nobilität) versucht hatten, nämlich den Aufwand, vor allem den Import von Delikatessen einzudämmen, um die von den Bürgerkriegen strapazierte Finanzkraft der einheimischen Eliten vor Zerrüttung zu bewahren und um deren gesellschaftliches Profil durch einen einheitlichen Habitus zu schärfen, aber auch um sich Konkurrenz aus den Reihen der Senatoren vom Hals zu halten. 1754 Eine moralische Erneuerung auf der Grundlage des mos maiorum sollte die Einheit in Rom wiederherstellen. Doch seiner Lex Iulia Augusti von 18 v. Chr. wird auf die Dauer genausowenig Erfolg beschieden sein, wie den Maßnahmen seiner Vorgänger. 1755 Aus der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Paketes von Verhaltensweisen ergibt sich für die Nobiles, die natürlich in der Regel nicht wirklich bereit waren, auf Reichtum und Komfort zu verzichten, der Zwang zu einer Art doppelter Buchführung: Wollte man sein gesellschaftliches Ansehen, sein „soziales Kapital", nicht verscherzen, mußte man versuchen, sein ökonomisches Kapital möglichst zu verschleiern durch Ablenkungsmanöver, wie das Bekenntnis zur frugalitas und rusticitas der Vorväter. „Man gewöhnte sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit daran, in zwei Welten zu leben, zwei Sprachen zu sprechen und - eine doppelte Moral zu haben: Was man zuhause genoß, dagegen polemisierte man in den Reden vor dem Volk". 1 7 5 6 Dementsprechend kam die topische Kritik am Villenluxus in der Popularphilosophie und der politischen Polemik gerade auch von Seiten derjenigen, die selber prächtige Villen besaßen. 1757 Auf diese Zwiespältigkeit des ländlichen Habitus, wie sie sich besonders im dritten Buch von De re rusticia niederschlägt, wird unten in 3.2.3.5. noch näher eingegangen werden. Diese Doppelgesichtigkeit zeigt sich auch immer wieder in der Ideologie, die hinter diesem Habitus steht, und die im folgenden näher untersucht werden soll.

1753

S. Baltrusch 1989, 95f; 99ff. S. Baltrusch 1989, 154. 1755 S. Baltrusch 1989, 99ff; 120. 1756 P a u l ζ & η ΐς 6 Γ : Augustus und die Macht der Bilder, München 2 1990, 40f; s. auch Schneider 1995, 108ff; Vogt-Spira 2000, 108. 1757 S. Schneider 1995, 108f. 1754

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3.2.3. Stadt und Land - Gegenwart und Mos maiorum 3.2.3.1. Landleben und Zeitgeist Die Aufwertung des moralisch wertvollen Landlebens gegenüber dem dekadenten Stadtleben bei Varro und vielen seiner Zeitgenossen ist, wie bereits angedeutet, auch als Reaktion auf eine zunehmende Verstädterung zu verstehen 1758 in einer Zeit, da die Stadt Rom ihr Erscheinungsbild von einer überdimensionierten Landgemeinde zu einem großstädtischen Zentrum wechselte. 1759 Seit dem zweiten Punischen Krieg war das städtische Proletariat gewachsen, das Kleinbauerntum vom Großgrundbesitz vielerorts zurückgedrängt worden, ein Problem, das seit der Gracchenzeit brennend war. „Rom, das die eigene Größe seiner Ländlichkeit, dem Militärdienst des Bauertums, zu verdanken hatte, wurde immer mehr zu einer Stadt ohne Land - aber mit Reich." 1760 Das Unbehagen über diesen Zustand macht sich zunehmend Luft in Klagen über die Immoralität des städtischen Lebens. 1761 Folgerichtig mehren sich im 1. Jh. v. Chr. die nostalgisierenden Stimmen, die das verlorengehende Landleben dem Stadtleben als positives Gegenbild gegenüberstellen und zu einem Hort der Guten Alten Zeit stilisieren.1762 Speziell die Beziehung des Landlebens zum nach wie vor als vorbildlich empfundenen mos maiorum wird in dieser Zeit verstärkt in den Blick gerückt. Der konservative Aufwertungsimpuls gegenüber der Ländlichkeit, der bereits bei Cato angelegt war, kommt nun in der geistigen Führungsschicht zu voller Entfaltung. 1763 Diese Stadt-Land-Gegensätze haben natürlich bereits griechische Vorläufer: Schon Hesiod stellte der Stadt als Schauplatz von Streitigkeiten und unrechtmäßiger Bereicherung das Land als Ort rechtschaffener Arbeit gegenüber. 1 7 6 4 Von der attischen Komödie weitergeführt, 1765 wird die Auf-

1758

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Es gibt Schätzungen, die den in Rom oder einem anderen städtischen Zentrum Italiens lebenden Bevölkerungsanteil zur Zeit des Augustus auf 40 % veranschlagen (s. Robert 1985, 78). Auf diesen Zusammenhang weist Richter 1977, 45 hin. Eigler 2002, 289. Ζ. B. (Ps.?)-Q. Cie. pet. 54 „Roma est", civitas ex nationum conventu constituta, in qua multae insidiae, multa fallacia, multa in omni genere vitia versantur ...; Sali. Catil. 37,4 sed urbana plebes, ea vero praeeeps erat de multis causis. primum omnium, qui ubique probro atque petulantia maxume praestabant, item aiii per dedecora patrimoniis amissis, postremo omnes, quos flagitium aut facinus domo expulerat, ii Romam sicut in sentinam confluxerant. deinde ... alios ita divites, ut regio victu atque cultu aetatem agerent ... (s. Robert 1985, 42f). Zur Ausprägung dieser Stadt-Land-Ideologie s. Eigler 1996 und 2002. S. Richter 1977, 39. Ζ. B. Erga 27-32 in den Ermahnungen an Perses, die allerdings zeigen, daß die ländliche väterliche Lebensform hier schon nicht mehr selbstverständlich ist, sondern einer ausgiebigen Begründung bedarf.

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wertung des Landlebens gegenüber der Stadt im Hellenismus zum Topos 1 7 6 6 und bleibt noch bis in die Spätantike ein Standardthema der Progymnasmata des Rhetorikunterrichts. 1767 In Rom, wo die ländlichen tribus traditionell angesehener waren als die städtischen, 1768 erfreuen sich solche Gegenüberstellungen vor allem seit dem 1. Jh. v. Chr. erhöhter Beliebtheit in Rhetorik und Dichtung. Cicero und Lukrez stimmen das Hohelied des alten Bauerntums an, Vergil, Tibull, Properz und Livius fallen ein, und das auf einem literarischen Niveau, das für dieses Thema in der Weltliteratur wohl singulär ist. 1 7 6 9 Die Identifizierung von Romanus und rusticus wird in der ausgehenden Republik und im beginnenden Prinzipat zu einem Leitmotiv, das die besten Köpfe dieser Zeit inspiriert. 1 7 7 0 Das Land steht auch in Rom für Tugenden, wie Gerechtigkeit, Einfachheit, Wehrtüchtigkeit, aber auch Friedfertigkeit, eben für das Leben der agricolae prisci, fortes parvoque beati\1771 die Stadt beherbergt Laster, wie luxuria, avaritia und ambitio, die nicht selten zu Verbrechen führen. Auch in Rom wird die Erörterung rusticane vita an urbana potior zum Standardthema in der Rhetorikschule. 1772 Gerade in Varros Epoche nimmt man - quer durch alle philosophischen Strömungen - den Kontrast zwischen Stadt und Land mit steigendem Unbehagen wahr. Hier erhält der nostalgisierende Bezug zur ländlichen Vergangenheit und den Tugenden des altrömischen Bauertums ein besonderes Gewicht. Poseidonios schilderte, wie auch schon Polybios, unter dem Eindruck der Bürgerkriegswirren die alte Einfachheit der Römer als Kontrastfolie zu den Übeln der Gegenwart und sah den Aufstieg Roms als Folge der alten bäuerlichen frugalen Lebensweise, der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit der Römer von einst. 1773

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Ζ. B. Aristophanes Nubes 43ff (Landleben als ήδιστος βίος in Ablehnung des üppigen Stadtlebens), s. dazu Gatz 1965, 59. 1766 Stellen bei Kier 1933, 5ff. 1767 Ζ. B. Liban in seinem Έγκώμιορ γεωργίας 8 p. 265,17ff Foerster. 1768 S. Demandt 1989, 323. 1769 Lucr. 2,23ff; Cie. S. Rose. 75; Verg. ecl. 2, besonders 60-62; georg. 2,458-474; Hör. epist. 1,10 (weitere Stellen gesammelt und besprochen bei Kier 1933, 25ff). S. auch Richter 1977, 39ff. 1770 S. Richter 1977, 42. 1771 Hör. epist. 2,1,139. 1772 Quint. 2,4,24, vgl. auch Quint, decl. 298. Diese Konzeption vom Land als der „Antistadt" verwendet spielerisch Hör. epist. 1,10, lf Urbis amatorem Fuscum solvere iubemus / ruris amatores (s. Mansuelli 1990, 322ff). 1773 Poseidonios frg. 81 Theiler ΤΙάτριος μεν jap ήν αύτοίς, ως ψησιν Ώ,οσειδώνιος, καρτερία καΐ Χιτή δίαιτα και των αΧΧων των ύπο την κτήσιν άφεΧης και άπερίβρ-γος χρήσις, ετι δε και εΰσεβεια μεν ΰαυμασΰή περί το δαιμόνων, δικαιοσύνη δε και ττοΧΧη τοΰ πΧημμεΧεϊν εύΧάβεια προς πάντας άνΰρώπους μετά της κατά ·γΐωρ·γίαν ασκήσεως.

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Doch all diese Lobeshymnen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, wie gefährdet der mos maiorum als Legitimationsgrundlage der Nobilität ist, nicht zuletzt wegen der erwähnten zentrifugalen Kräfte innerhalb der Führungsschicht selbst, aber auch wegen der Bemühungen der Populären um eine Desintegration von Volk und Senat, einer Tendenz, der auch Cicero entgegenzuwirken suchte, indem er den mos maiorum zur integrierenden Werteordnung nicht mehr nur der Aristokratie, sondern des gesamten römischen Volkes ausweiten wollte. 1774 So ist es symptomatisch, daß sich gerade in dieser Zeit auch die abschätzigen Bemerkungen über das Landleben häufen, selbst bei Konservativen wie Sallust und bei Lobrednern des Landlebens wie Cicero, 1775 aber auch - jenseits des offiziellen bauernfreundlichen augusteischen Programms - bei Horaz und Properz, die gelegentlich die Nase über die bäuerliche Ungepflegtheit und mangelnde Kultiviertheit rümpfen. 1776 Die Rückbesinnung auf die ländlichen Ursprünge und die verklärenden Darstellungen des bäuerlichen Lebens sind als unmittelbare Reaktionen zu sehen auf eine sich ausbreitende Überheblichkeit und Gleichgültigkeit der verstädterten Gesellschaft. 1777

3.2.3.2. Das Dekadenzmotiv in De re rustica In diesem Wirrwarr unterschiedlicher Stimmen zum Wert des Landlebens ergreift Varro jedenfalls ganz entschieden Partei: Schon in den Menippeen und den antiquarischen Schriften hatte Varro im Gefolge von Cato und Ennius seinen dekadenten und dem Luxus verfallen Zeitgenossen das Ideal altrömischer Einfachheit vor Augen gehalten,1778 wobei er, wie Polybios und Poseidonios, die Gründe für die Größe Roms in Patriotismus, Uneigennützigkeit, Ruhmesliebe, Charakterfestigkeit, Härte, Frugalität und Religiosität sieht1779 und davon ausgeht, daß Wohl1774 1775

1776 1777 1778 1779

S. Blösel 2000, 85ff. Sali. Catil. 4,1 redet sogar von servilibus officiis-, Cie. fin. 1,3 nennt Ackerbau, zumindest auf die Art, in der Menedemus in Terenzens Heautontimorumenos ihn betreibt, als illiberalis labor, in 3,4 charakterisiert er das Land als bildungsfremde Lebenswelt, quae abhorret ab omni politiore elegantia. Horaz epist. l,18,6ff; 2,l,156ff.; Prop. 2,5,21ff, s. Schneider 1995, 136. S. Richter 1977, 38. S. dazu ausführlich Reischl 1976, 102ff. Ζ. B. De vita populi Romani frgg. 63f; 73; 75 Riposati. Zur Frugalität der veteres s. etwa Menippeen frg. 527 Astbury (keine Bäcker); frg. 186 (seltene Bartrasur); frg. 188 (seltene Ausfahrten im schlichten Wagen). Polyb. 6,53ff. Im gleichen Sinne Cie. S. Rose. 50; Verg. georg. l,532ff hanc olim veteres vitam coluere Sabini, / hanc Remus et frater; sic fortis Etruria crevit / scilicet et rerum facta est pulcherrima Roma·, Aen. 6,843ff parvoquepotentem / Fabricium vel te sulco, Serrane, serentem; Hör. carm. 3,6 wo er die modernen verderbten Sitten kontrastiert mit den militärischen Erfolgen der rusticorummascula militumproles, die sich mit harter Landarbeit stählten; lAy.praef. llf.

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stand und Sicherheit vor äußeren Feinden zu Verweichlichung, Habsucht, Machtgier und Uneinigkeit und damit zum Niedergang des Gemeinwesens führen. 1 7 8 0 Wie interessiert Varro an dieser Frage war, lassen schon die Reste seines Opus magnum, der Antiquitates rerum humanarum et divinarum erahnen. Als Caesar ihm die Stelle eines Bibliothekars übertragen hatte, nutzte er die Gelegenheit zum Entwurf eines restaurativen Programms, „in dem die Welt der 'maiores' zum alleingültigen Exempel erhoben wurde". 1781 Dieses Idealbild speiste sich allerdings nur zu einem kleinen Teil aus historischen Quellen (etwa der älteren Annalistik oder noch existierendem Anschauungsmaterial) und beruhte zu einem großen Teil auf Spekulationen etymologischer und analogischer Art. 1 7 8 2 Varro sah sich in der Rolle des Bewahrers der Kenntnisse eines alten kulturellen und religiösen Brauchtums, das bedroht war durch das Desinteresse seiner Zeitgenossen, und er verglich seine Mission mit der des Aeneas, der die Penaten aus dem brennenden Troja rettete. 1783 Ziel war die Redintegration der Stadtrömer, die ihrer eigenen, sich so rasch verändernden Stadt fremd geworden waren und ihrer kulturellen Wurzeln verlustig gingen, was Cicero mit den Worten würdigte: nam nos in nostra urbe peregrinantis errantisque tamquam hospites tui libri quasi domurn deduxerunt, ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere,1784 So bildet die Gegenüberstellung der guten alten Sitten und der verderbten neuen einen durchgängigen Zug in Varros Lebenswerk. 1785 Den Gegensatz zwischen dem traditionsverhafteten Landleben und dem modernen Stadtleben nun auch in einem Agrarhandbuch aufzugreifen drängt sich geradezu auf. Diese

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S. Dahlmann 1935, 1244; Reischl 1976, 104ff; 129ff; Ax 2000, 363. Baier 1997, 40. 1782 S. Reischl 1976, 114f. 1783 y a r r o a n t i q f r g 2a Cardauns ( = Aug. civ. 6,2 p. 248,6ff. Dombart-Kalb) (Varro) deos eosdem ita coluerit colendosque censuerit, ut ... dicat, se timere ne pereant, non incursu hostili, sed civium neglegentia, de qua illos velut ruina liberari a se dicit et in memoria bonorum per eius modi libros recondi atque servari utiliore cura, quam Metellus de incendio sacra Vestalia et Aeneas de Troiano excidio penates liberassepraedicatur, s. Tarver 1997, 135; Baier 1997, 42. 1784 Cie. ac. 1,9. 1785 Z . B . schon in den Menippeen Gerontodidaskalos und im Sexagesis, wo jemand nach 50jährigem Schlaf aufwacht und mit Entsetzen die eingetretenen Veränderungen gegenüber der einfachen bäuerlichen Lebensweise wahrnimmt. In De vita populi Romani frg. 29 Riposati ad focum hieme ac frigoribus cenitabant; aestivo tempore in loco propatulo: rure in chorte; in urbe in tabulino; frg. 14 zur altenpaupertina, sine elegantia ac cum castimonia; 23 Strenge der Censoren; 65 pudore et pudicitia; 64 abstinentia; s. auch frgg. 125-129 Riposati (s. Dahlmann 1935, 1244; Deschamps 1988, 175). S. dazu auch Reischl 1976, 119ff, der 123ff eine Chronologie in Varros Sichtweise der Entwicklung zum Schlechteren seit dem frühen 2. Jh. nachzeichnet, mit den Etappen: Sieg über Karthago (147 v. Chr.), Sieg über Korinth (146 v. Chr.) und Erbschaft des Attalos (133 v. Chr.), an denen der Verfall eine besondere Beschleunigung erfahren habe. 1781

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Gelegenheit nimmt Varro wahr, und zwar in einer Schärfe, wie sie bei seinem Vorgänger Cato noch nicht zu finden war. Wohlgemerkt hat ein solch schroffer Gegensatz, wie ihn Varro zieht, historisch wohl gar nicht existiert, sehen doch neuere Untersuchungen eher ein Kontinuum zwischen städtischen und ländlichen Lebensformen. 1786 Offensichtlich überzeichnet Varro die Kluft im Interesse des ideologischen Programms, das er verfolgt: Er konstruiert, wie auch Cicero, 1787 das Land als den Ort, an dem die altväterliche Sittlichkeit ihren Sitz hat, im Gegensatz zur modernen korrupten Stadt, der Brutstätte des Lasters. Dieser Kontrast zieht sich durch alle drei Bücher von De re rusti1788 Cfl. Wir wollen dieses Leitmotiv Stadt-Land/alt-neu verfolgen, und sehen, wie Varro es für seine Argumentation nutzt. Dabei soll auch nach Übereinstimmungen bzw. Widersprüchen von Varros Aussagen mit der Realität gefahndet werden sowie nach der inneren Konsequenz des Programms selbst. Außerdem wird zu fragen sein, wie weit Widersprüche Varro selbst bewußt waren und mit welchen Mitteln er gegebenenfalls versucht, sie zu überspielen. Ein Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit, zwischen Land und Stadt bahnt sich schon im Prooemium an, hier auf religiösem Gebiet: Bereits in der Götteranrufung stellt Varro den griechisch beeinflußten Zwölfgöttern mit ihren vergoldeten Bildnissen auf dem Kapitol seine eigenen, dem Anspruch nach altrömischen di consentes gegenüber und zieht so einen Gegensatz zwischen städtischem und ländlichem, protzigem und schlichtem, hellenisiertem und „altrömischem" Kult. 1789 Dieses religiöse Motiv wird am Beginn des ersten Gesprächs fortgeführt: So fragt Varro die beiden anderen bereits eingetroffenen Gäste, die gerade die Italiendarstellung im Tellustempel betrachten, schon bei der Begrüßung, ob sie zum Saatfest in den Tempel gekommen seien, wie zur Zeit der Väter und

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S. Purcell 1995, 171. Cie. o f f . 1,151 omnium autem rerum ex quibus aliquid adquiritur, nihil est agricultura melius ... nihil dulcius, nihil homine, nihil libero dignius ...; Plane. 19-23, bes. 20 und 21f sumus enim flnitimi Atanatibus. laudanda est vel etiam amanda vicinitas retinens veterem illum offici morem, non infuscata malivolentia, non adsueta mendaciis, non fueosa, non fallax, non erudita artificio simulationis vel suburbano vel etiam urbano ... tota denique nostra ilia aspera et montuosa et fidelis et simplex et fautrix suorum regio-, Cie. leg. 2,2ff u. a. Cicero kehrt in leg. 1,Iff, wie Eigler 1996,139ff herausgearbeitet hat, in bezeichnend römischer Art und Weise die Konzeption des platonischen Pteidrar-Prooemiums um, wo die Stadt als Wohnsitz der Humanität gesehen wird. S. auch Noe 1977, 297. 1,1,4 ... invocabo ... duodeeim deos consentis; neque tarnen eos urbanos ... sed illos XII deos, qui maxime agricolarum duces sunt.

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Großväter, was aber der Ritter Agrius, eine der Schülerfiguren, verneint. 1 7 9 0 Damit wird gleich eine Distanz festgestellt zwischen der alten Zeit und ihrer Religiosität und der Gegenwart, in der die traditionellen Kulte nicht mehr gepflegt werden, 1 7 9 1 eine Distanz, die selbst von den traditionsbewußten Dialogteilnehmern, einschließlich Varro selber, nicht mehr überwunden werden kann. 1 7 9 2 Die Kluft zwischen alter und neuer Zeit ist so groß geworden, daß selbst die Kultfeier als das Medium der Integration von Vergangenheit und Zukunft schlechthin 1793 sie nicht mehr zu überbrücken vermag. Die Vergegenwärtigung der Vorzeit ist selbst mit den Mitteln des Ritus, der seinerseits bereits obsolet geworden ist, nicht mehr möglich. 1794 Dieser kulturelle Wandel spiegelt sich für unseren Sprachhistoriker, der sich hier gleich zu Beginn als gelehrter Verehrer der Väterzeit einführt, auch im Sprachgebrauch wider, nämlich in der Bezeichnung für den Tempelhüter. Der alte Ausdruck aeditumus ist nämlich im Begriff, durch die neumodische städtische Benennung aedituus abgelöst zu werden, wie Varro nicht ohne einen ironischen Seitenhieb auf die jungen Besserwisser aus der Stadt konstatiert. 1795 Hier wird also schon am Anfang ein Spannungsverhältnis erzeugt zwischen den Nachfolgern der patres vom Land, mit denen man sich identifiziert, und den recentes aus der Stadt, von denen man sich distanziert. 1796 Dieser ideologische Gegensatz schlägt sich hier in einem gruppenspezifischen sprachlichen Code nieder, wobei die Konservativen die alte angemessene Form benutzen, die Modernen die schlechtere, in halbgebildeter Weise verballhornte

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l , 2 , l f „Num feriae sementivae otiosos hue adduxerunt, ut patres et avos solebant nostrosV - 2 „Nos vero", inquit Agrius, „ut arbitror, eadem [de] causa quae te, rogatio aeditumi". S. auch in seiner Menippee Gerontodidaskalos frg. 181 Astbury tum sacrae, religiosae castaeque fuerunt res omnes. S. Eigler 1996, 139. S. dazu Eliade 1998, 455ff; zur Bedeutung dieser rituellen repraesentatio der Vergangenheit für das kulturelle Gedächtnis und die Kohärenz der Gruppe s. Assmann 2000, 56ff. Wie auch die Vision der ländlichen römischen Vorzeit in der Kultszene in Tib. 2,5,25ff nur noch eine wehmütige Erinnerung ist, s. dazu Eigler 2002, 292f. 1,2,1 ... in aedem Telluris veneram, rogatus ab aeditimo, ut dicere didieimus a patribus nostris, ut corrigimur a recentibus urbanis, ab aedituo\ deutlicher den Sprachverfall hervorhebend Gell. 12,10,4 M. Varro in libro secundo Ad Marcellum de Latino sermone 'aeditumum' dici oportere censet magis quam 'aedituum', quod alterum sit recenti novitate fictum, alterum antiqua origine incorruptum; vgl. auch ling. 7,12 (s. Skydsgaard 1968, 61; Flach ad loc.; Boscherini 1976). Vgl. auch 3,1,1 Cum duo vitae traditaesint hominum, rustica et urbana, ... dubium non est, quin hae non solum loco discretae sint, sed etiam tempore diversam originem habeant, s. dazu Eigler 1996, 138f, der auf Tac. dial. 28,2 verweist: quae mala primum in urbe nata, mox per Italiam fusa, iam in provincias manant, wo ebenfalls die Verstädterung als Ursache für den Verlust römischer Identität angesehen wird.

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(fälschlich von tueri abgeleitete). Das entspricht Varros stoisch beeinflußter Theorie, daß sich moralischer Niedergang auch in der Sprache niederschlage. 1 7 9 7 Entsprechend wird im Dialog durchgängig die ältere Form verwendet, namentlich von dem Ritter Agrius, einer in dieser Hinsicht offenbar sehr gelehrigen Schülerfigur, der sich so zu der konservativen Seite bekennt. 1798 Ein eindrückliches Symptom für den von Varro empfundenen Verfall ist es, daß am Ende des Buches der aeditumus als Person umgebracht wird, so wie auch die alte Bezeichnung, auf deren „philologische Geisterhaftigkeit" Eigler hinweist, 1799 aus dem Sprachgebrauch verdrängt wird. 1 8 0 0 Aber nicht nur in Religiosität und Sprache, sondern auch in der Wohnform zeigt sich für Varro der Niedergang, nämlich in der Anlage der Landhäuser, wie etwas später im Dialog ausgeführt wird: So stellt Fundanius den Ahnen, deren Landhäuser teurer waren als die Stadthäuser, und die diese Landgüter zweckmäßig einrichteten, mißbilligend die Jungen entgegen, und unter ihnen exemplarisch Metellus und den notorischen Lucullus, die mehr für ihre Stadthäuser aufwenden als für ihre Landhäuser und letztere ganz auf Luxus und Bequemlichkeit hin anlegen, zum Schaden der Allgemeinheit (l,13,6f, wie Horaz 1801 setzt er hier den früheren Gemeinsinn dem modernen Eigennutz gegenüber). Die moralische Überlegenheit der antiqui zeigt sich für Fundanius schon in der Anlage ihrer Gutshöfe, die er - übrigens korrekt und ohne nostalgische Verklärung - 1 8 0 2 schildert und ge-

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Diese Gegenüberstellung von altüberlieferten, in der ländlichen Sprache unverdorben konservierten Wörtern und neumodischen städtischen, von sprachlichen πάΰη deformierten findet sich auch sonst in De re rustica, s. Boscherini 1976, 318. Überhaupt erinnert Varro gerne an die Sprache der antiqui in Form alter landwirtschaftlicher Termini, s. Diederich 2005, 277ff. 1798 Im Dialog erscheint entweder aeditimus oder seine graphische Variante aeditumus (1,2,2; 1,2,12; 1,26,1; 1,69,2) dreimal im Munde des Agrius, einmal in einer erzählenden Passage. 1799 Eigler 1996, 139. 1800 Ähnlich wird in der Menippee Sexagesis der Titelheld, ein unbequemer zeitkritischer Mahner, als ruminator antiquitatis in den Tiber geworfen (frg. 494 Astbury). 1801 p [ o r a z c a r m 2,15 führt diesen Gegensatz Eigennutz - Gemeinnutz in seiner Kritik an der luxuriösen modernen Villegiatur noch weiter aus, die gar keine Landwirtschaft mehr betreibe, sondern nur noch Monumentalbauten und unfruchtbare Parks errichte, und grenzt sie ebenfalls ab von der veterum norma, repräsentiert durch Romulus und Cato, die mit bescheidenen Häusern und natürlichem Rasen vorliebnahmen und lieber die Errichtung öffentlicher Gebäude und Tempel förderten. 1802 t e u e r e Ausgrabungen bestätigen die hier geschilderte Entwicklung, die sich offenkundig im 1. Jh. v. Chr. vollzogen hat, s. Torelli 1990, 123-132, hier: 128f. Die militärische Schlichtheit, mit der selbst noch ein Scipio Africanus sein Landhaus ausstattete, beschreibt Sen. epist. 86,4ff, wobei er Vergleiche zum zeitgenössischen Luxus zieht. Über die Einfachheit römischer Häuser der Frühzeit selbst der Wohlhabenderen schreibt Var. De vita populi Romani. frg. 28 R. locupletiorum domus

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gen die modernen Bauten abhebt: Die Alten legten die Gutsgebäude ad fructuum rationem so an, daß sie sich zu den Himmelsrichtungen so verhielten, wie es für die Wein- und Öllagerung am günstigsten war. Die modernen Stadtmenschen dagegen bauen auch ihre Landhäuser ad libidines indomitas, so daß ihre Sommerspeisesäle zum kühlen Osten, die Winterspeisesäle zum Westen blikken. 1 8 0 3 Das Landleben droht hier seine Eigenart zu verlieren und wird, wie auch Sallust beklagt, mehr und mehr überfeinert und dem städtischen Standard angepaßt. 1804 Diesen Prozeß beeinflußten auch die censorischen und gesetzlichen Maßnahmen gegen den Bauluxus nur wenig. 1805 Moralische Grundhaltungen, von Fundanius mit den Begriffen diligentia bzw. luxuria charakterisiert, werden hier also im Raum manifest. 1806 Einerseits prägt der Raum die Moral seiner Bewohner, andererseits schafft sich die Moral der Bewohner den ihr angemessenen Raum: Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. Dieses Lob der alten Zeit zeigt aber bei näherer Betrachtung eine gewisse Ambivalenz. Gewiß, Varros nationalstolzer 1807 Schwiegervater Fundanius ist Varros Sprachrohr; er ist wie er selbst ein laudator temporis acti und Verächter der Sitten seiner Zeit, die er selbst so häufig in seinen Menippeischen Satiren und seinen antiquarischen Schriften einander gegenübergestellt hat, übrigens auch gerne anhand der beinahe topischen Beispiele von alten und neuen Gutshöfen. 1 8 0 8 Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, daß dieses Lob ironisch gebrochen ist: Die Gebrechlichkeit des gichtgeplagten alten Herrn 1 8 0 9 deutet bereits an, auf wie schwachen Füßen (im wahrsten Sinne des Wortes) diese Einstellung zur Zeit des Gesprächs nur noch steht. Und in

quamfuerintangustiispaupertiniscoactae, ipsa nomina declarant·, s. auch Men. frg. 524 A. (s. Reischl 1976, 115f). 1803 p s s j n c j a j s o bezeichnenderweise - und ganz im Sinne Catos - nicht nur die originär sozialethischen Verfehlungen, die der Moralist Fundanius an seinen Zeitgenossen kritisiert, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen (pessimo publico), wie sie etwa Horaz carm. 2,15; 2,18,17ff anprangert, wenn er die Vertreibung armer Familien von ihrem Land schildert, sondern gerade auch die Manci im ökonomischen Denken, wie fehlender Sinn für die landwirtschaftliche Ökonomie (diligentia, fructuum ratio) und Verschwendungssucht (luxuria, libidines indomitae). 1804 Sali. Catil. 12,3f operaepretium est, quom domos atque villas cognoveris in urbium modos exaedificatas, visere templa deorum, quae nostri maiores, religiosissumi mortales, fecere. verum illi delubra deorum pietate, domos suos gloria decorabant. 1805 S. Baltrusch 1989, 19f; 105. 1806 j n diesem sinne bemerkt Merula 3,3,7 bitter, daß nun (nunc) die Vogelhäuser größer seien als früher (tum) die ganzen Villen. 1807 S. sein Italienlob in l,2,3ff. 1808 2 . B. Gerontodidaskalos frg. 182ff Astbury; Manius 248f Α., außerdem in Ταφή Μtvi-κτου frgg. 524ff und 533 Α.; vgl. auch Lucil. 85, s. Heisterhagen 1952, 92f. 1809 1,2,5; l,2,26f.

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der Tat haben die Güter der Gesprächsteilnehmer mit den von Fundanius gepriesenen alten nüchternen Zweckbauten nur noch wenig gemeinsam (s. u. Kap. 3.2.3.5.)· Auch das Gutsgebäude, das Varro in 1,13 beschreibt, ist nicht mehr das traditionelle Haus mit Atrium, sondern eine doppelte Anlage mit membra rustica und membra urbana, also einem pseudo-urbanen Wohnbereich nach vitruvischem Typus. 1810 Und nicht zu vergessen: Varro besaß sogar eine Villa im berühmt-berüchtigten Baiae, dem Mekka urbaner Dekadenz. 1811 Wie die alten Kulte und die etymologisch treffenderen alten Bezeichnungen so schwindet also auch die frugale alte Wohnform. Parallel dazu erfolgt der Verlust jeglicher politischer Kultur, so daß selbst Morde, wie Varro am Buchende resigniert vermerkt, niemanden mehr erstaunen (1,69,2). Besonders ausführlich und nunmehr in einem breiteren kulturgeschichtlichen Rahmen reflektiert Varro die Dekadenzthematik am Beginn von Buch II, das er durch dieses Leitthema eng mit dem vorigen Buch verklammert. Allgemein wird nun die Haltung der Viri magni nostri maioresm2 (so der emphatische Bucheinsatz), welche die Bauern den Städtern vorzogen, der Verweichlichung der verstädterten Zeitgenossen gegenübergestellt. Hier legt er nun ausführlich seine moralische Beurteilung der Situation dar mit einer expliziten konservativen Positionsbestimmung: Für ihn sind diejenigen, die traditionsgemäß draußen auf dem Lande leben, den verweichlichten Städtern, die innerhalb der Stadtmauern wohnen, moralisch überlegen. Dieses Standardthema der Satire 1813 führt Varro hier aus, wobei er diesmal den Aspekt der Lebensführung in den Vordergrund stellt: Die Vorfahren verbrachten nur jeden achten Tag in der Stadt und widmeten die übrigen sieben der Feldarbeit (2 pr. 1). Die Beachtung dieser Regeln habe einen doppelt positiven Effekt gezeitigt, zum einen finanziell wegen ertragreicher Felder und zum anderen gesundheitlich, so daß man auf die Greacorum urbana gymnasia verzichten konnte (2 pr. 2). 1814

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S. Grimal 1969, 365; „Le changement de point de vue est total depuis Caton" (ibid.), denn der archäologische Befund zeigt, daß im 1. Jh. v. Chr. vermehrt alte Wirtschaftsanlagen mit komfortablen neuen Herrenhäusern ausgestattet wurden. 1811 S. Cie. ac. 1,1,1, s. Deila Corte 1970, 17f. Über diesen Zwiespalt zwischen der vernunftbetonten Zuneigung zum gesunden Land und den Verlockungen der mondänen Badeorte scherzt Hör. epist. 1,15. 1812 (j e n Doppelsinn von nostri maiores, durch die klar wird, „daß die 'Älteren' nicht nur 'Große Männer', sondern auch 'Größere' waren" s. Cardauns 2001, 21. 1813 Bei Varro wohl in den Menippeen Serranus und in Ά λ λ ' ού μβνβι at, s. Heisterhagen 1952, 93. 1814 Zum Motiv des gesunden Landlebens s. Kier 1933, 58ff. Zur Abneigung der Römer gegenüber griechischer Gymnastik (die sich auch in der Kaiserzeit öffentlich nicht recht durchsetzen konnte), die verweichliche und kriegsuntüchtig mache s. ζ. B. Quint. 1,11,15 (s. Flaig 1993, 216).

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Dieser Wandel hat auch Konsequenzen für die Volkswirtschaft: Im Zuge ihrer zunehmenden Verstädterung zögen es die Hausväter vor, sich statt mit dem Ackerbau mit unproduktivem Zeitvertreib wie Theater und Zirkus zu beschäftigen, was dazu führe, daß die Versorgung mit Lebensmitteln abhängig geworden sei von Importen aus fernen Gegenden, von Getreide aus Africa und Sardinien, von Wein aus Cos und Chios (2 pr. 3). 1815 Selbst die Sprache ist bereits infiziert. Der linguistische Aspekt des Sittenverfallsmotivs, der schon im ersten Buch mit dem Tadel der Form aedituus angeklungen war (s. o.), wird hier wieder aufgegriffen: In Anknüpfung an die Klage des Fundanius über das zunehmende Bequemlichkeitsdenken bei der Anlage von Gutshöfen moniert Varro, daß es kaum mehr Güter ohne Einrichtungen mit griechischen Namen gebe, wie procoeton, palaestra, apodyterion, peristylon, ornithon, peripteron, oporothecem6 (ein satirisches Motiv, das sich etwa auch bei Lucilius findet) 1817 . Diese neuen Namen markieren nicht nur das Eindringen hellenistischer Luxuseinrichtungen zum Schmuck des ehemals schlichten Atrium-Landhauses, 1818 sondern zugleich auch den Verlust eines Stücks römischer Identität. Die Dekadenz erfaßt nach Varro also die gesamte Lebensform und zeitigt ihre zersetzende Wirkung auf die moralische wie die körperliche Gesundheit.

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Man beachte die vorwurfsvolle Erklärung qui saturifiamus ex Africa et Sardinia und die paradoxe Wendung navibus vindemiam condimus. Mit ähnlichen Worten beklagt sich auch Cicero Att. 16,2,3 sarkastisch, daß die Römer ihre Hände lieber beim Applaudieren im Thater als bei sinnvolleren Tätigkeiten (bei ihm die Verteidigung der res publica) rühren (s. Cardauns 2001, 22). Der Arpinate macht in anderem Zusammenhang die Vernachlässigung der Landwirtschaft und der Wehrtüchtigkeit zugunsten des Handels für den Niedergang von Gemeinwesen verantwortlich: Cie. rep. 2,7 hie error ac dissipatio civium, quod mercandi cupiditate et navigandi et agrorum et armorum cultum reliquerant (zum historischen Gehalt dieser Stelle im Bezug auf Carthago s. Martin 1971, 38ff); allerdings ist hier die Kausalität genau umgedreht: bei den Völkern die Cicero meint, führt die Beschäftigung mit dem Handel zur Vernachlässigung von Feldbau und Militärwesen; in Rom ist es laut Varro umgekehrt; aber beide sind sich über die zerstörerische Wirkung dieser Faktoren einig. 1816 2 pr. 2 ... nec putant se habere villain, si non multis vocabulis retineant Graecis ...; zu diesen von Varro verspotteten graecophilen Villenbesitzern, gehört auch Cicero, der ζ. B. Att. 1,10,3 von seiner palaestra spricht (s. Schneider 1995, 28 mit Anm. 103). 1817 Lucil. frg. 15 Marx. Zur griechischen Umbenennung alter Gegenstände s. auch Var. De vita populi Romani frg. 58 (s. Krenkel 2003, 19). 1818 2 u r architektonischen Entwicklung der villa suburbana vom einfachen Landhaus mit Atrium zu einer Vielzahl von Formen mit Peristylen, Portiken, Palaestren, Promenaden, Ziergärten und anderen Schmuck- und Erholungseinrichtungens. Grimal 1969, 219ff.

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Sie führt zum Verlust der sprachlichen und nationalen Identität und sogar der wirtschaftlichen Autarkie.

3.2.3.3. Viehzucht im Zwielicht Verschärfend hinzu kommt die Umwandlung von Ackerland in Weidefläche, die Varro gleich nach dem Dekadenzexkurs in der Praefatio des zweiten Buches unvermittelt kritisiert: Auf demselben Boden, auf dem die alten römischen Hirten ihre Nachkommen, die Stadtgründer, den Ackerbau gelehrt hätten (2 pr. 4 in qua terra culturam agri docuerunt pastores progeniem suam, qui condiderunt urbem) habe man nun aus Habgier widerrechtlich die Saatfelder in Weideland verwandelt {propter avaritiam contra leges ex segetibus fecit prata), und zwar, wie Varro ironisch unterstellt, aus Unkenntnis darüber, daß Ackerbau und Weidewirtschaft nicht dasselbe sind (ignorantes non idem esse agri culturam etpastionem), weshalb er, gleichfalls ironisch, sogleich über den Unterschied aufklärt: Alius enim opilio et arator. Daß Varros Zeitgenossen die Saatfelder im großen Stil wieder in Wiesen umwandeln, bedeutet also keineswegs eine Rückbesinnung auf die Gute Alte Zeit - zumal die Vieheigentümer sich nicht mehr selbst um die Herden kümmern, sondern sich hinter Stadtmauern verkrochen haben (2 pr. 3 quod nunc intra murumfere patres familiae correpserunt) -, sondern einen Rückschritt und eine Mißachtung der Lehren, welche die Vorfahren den Stadtgründern vermittelt hätten. Diese Zurückdrängung des Ackerbaus gefährdet die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und macht Rom von Importen abhängig, 1 8 1 9 denn, wie Varro sarkastisch anmerkt, baut das Vieh mit seinen Zähnen keine Feldfrüchte an, sondern es frißt sie auf (2 pr. 4 Armentum enim id, quod in agro natum, non ereat, sed tollit dentibus). Es deutet sich hier schon an: Viehzucht ist auch zu Varros Zeit ein heikles Thema. Sie ist eine wenig personalintensive und sehr einträgliche Sparte, die vom Eigentümer wenig Einsatz an Zeit und Mitteln verlangt, so daß die Nobiles sie bei ihren immer ausgedehnteren Stadtaufenthalten leichter organisieren können als den kontrollintensiven Ackerbau. 1820 Daher war die Bedeutung der Transhumanz (des saisonalen Weidewechsels) seit dem 3. Jh. stark gestiegen, vor allem in Apulien und Kampanien (s. oben zu Cato). Im 2. Jh. setzt sich der Trend vom Ackerbau zur Viehzucht fort. 1 8 2 1 Zur Erscheinungszeit des Buches im Jahre 37 v. Chr. waren die Voraussetzungen für die Transhumanz denkbar günstig: Nicht nur die Verfügbarkeit einer großen Menge an ager publicus und an Sklaven war gegeben, sondern auch die Sicherheit der

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S. dazu Cossarini 1976-77a, 194. S. Brockmeyer 1968, 97; 109. S. Brunt 1971, 283.

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Wege zwischen den Weidegründen gewährleistet durch die Etablierung einer zentralen politischen Macht, welche die betreffenden Zonen kontrollieren und in Auseinandersetzungen zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern eingreifen konnte. 1 8 2 2 Doch die entstehenden Interessenkonflikte zwischen Ackerbau und Viehzucht gingen zuweilen zu Lasten der kleinen und mittleren Bauernbetriebe, verschärft dadurch, daß der Staat an den großen Viehunternehmen durch die Steuereinnahmen der scriptura mitprofitierte. 1823 Das italische Kleinbauerntum war ohnehin durch die Bürgerkriege, den Spartacus-Aufstand und die Piratenüberfälle schwer gebeutelt. Die Landkonfiskationen Sullas, Caesars und der Triumvirn und ihre Versuche, Veteranen als Bauern anzusiedeln, bewirkten keine Entschärfung der sozialen Lage. Im Gegenteil: Diese Maßnahmen trafen vielfach mittlere und kleine Landwirte, die dadurch ihr Auskommen verloren, während viele der Neusiedler aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Unerfahrenheit oder wegen Teilnahme an neuen Kämpfen nicht dauerhaft Fuß fassen konnten. 1 8 2 4 Die wahren Gewinner waren die Mitglieder der reichen Oberschicht, die requiriertes Land zu Niedrigpreisen aufkauften oder einfach in Besitz nahmen, oftmals sogar ohne dem Fiskus dafür eine Pacht zu entrichten. 1 8 2 5 Diese possessores nutzten das so erworbene Land vorzugsweise als Weidegründe unter Einsatz von Sklaven als Hirten. Zwar gab es Versuche der gesetzlichen Einschränkung, etwa das Verbot, das (seit dem frühen 2. Jh. zur unentgeltlichen Nutzung freigegebene) Staatsland mit mehr als 100 Stück Großund 500 Stück Kleinvieh zu beweiden, 1826 und Maßnahmen wie die des Consuls Publius Popilius Laenas 132 v. Chr. zum Schutz des Ackerlandes gegen Umwandlung in Weiden. 1 8 2 7 Doch sie konnten nicht verhindern, daß sich Großgrundbesitzer in Regierungspositionen immer mehr von dem ager publicus als possessores einverleibten, ein Prozeß, der sich, wie oben angedeutet, schon zu Catos Zeiten abgezeichnet hatte. Die Versuche des Tiberius Gracchus, diese Vorgänge rückgängig zu machen, sind bekanntlich gescheitert. Wir finden bei ihm übrigens eine ähnliche Argumentation wie bei Varro. 1 8 2 8

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S. dazu Sabattini 1977, 200f. Caesar hatte eine Verordnung erlassen, nach der die Viehhirten zu mindestens einem Drittel aus Freien bestehen mußten (Suet. lul. 42,1), um die Sklavenaufstände unter Kontrolle zu bekommen (s. Maröti 1970, 129). S. Sabattini 1977, 201f; s. etwa Appian bell. civ. l,28ff; l,121ff. Zu diesen Siedlungsprojekten s. ausführlich Brunt 1971, S. 301ff. S. Brunt 1971, 282f. Appian bell. civ. l,33f, s. Flach 1997, 182 ad 2 pr. 4. CIL 2I 638 fecei ut de agropoplico aratoribus cederent pastores, s. Flach 1997, 182 ad 2 pr. 4. Appian bell. civ. l,35f; 40; 44ff.

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Selbst in der Zeitkritik der Dichtung haben diese Ereignisse ihren Widerhall gefunden. 1829 Diese Kritik war zwar wohl übertrieben, 1830 denn in vielen Gegenden Italiens, vor allem im Hinterland, behauptete der Ackerbau, teilweise auch in kleinen und mittleren Betrieben, seine Stellung. 1831 Aber dennoch waren die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen: In der Tat bestand in etlichen Gebieten Mittel- und vor allem Süditaliens die Tendenz zur Verdrängung kleiner Ackerbaubetriebe durch Viehhaltung, 1832 wenn auch die Transhumanz in Italien nicht zur dominierenden Form der Viehzucht wurde. 1 8 3 3 Eine Folge dieser Entwicklung war jedenfalls, daß Sklavenarbeit die freien italischen Bauern aus manchen Gegenden Italiens weitgehend verdrängte. 1 8 3 4 Auch wenn Varros Klage über den Niedergang der Landwirtschaft stark rhetorisch gefärbt ist, 1835 kann man jedenfalls daraus ersehen, daß die von ihm gelehrte Form der Viehwirtschaft im großen Stil in dieser Epoche moralisch nicht gerade unumstritten war. Daher muß Varro, bevor er sie beschreibt, zusehen, daß er sich von ihren unsozialen Implikationen distanziert. Daher plädiert er selbst für eine Synthese von Ackerbau und Viehzucht, die er als eine societas inter se magna darstellt (2 pr. 5); denn es sei oft günstiger, die angebauten Futtermittel selbst zu verfüttern als sie zu verkaufen, und außerdem liefere die Viehzucht Dünger und Arbeitstiere für den Ackerbau. Nach Varros Darstellung hat die Viehzucht also nur dann ihre Berechtigung, wenn sie im Verein mit dem Ackerbau betrieben wird.

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Ζ. B. Hör. carm. 2,18,23ff; Tibull 2,3,41f prangert die Usurpation riesiger Weidegründe als eine Folge der Habgier des Eisernen Geschlechts an: Praedator cupit inmensos obsidere campos, / ut multa innumera iugera pascat ove. S. White 1970, 397f. Rostovzev 1953, 31ff mit Anm. 25 teilt die Einschätzung von Varro selbst in rust. 1,2,3, daß die landwirtschaftliche Produktion auch während der Bürgerkriege prosperierte, zumal in den modernen Großbetrieben; allerdings hätten die Entwicklungen zu einem Anwachsen des Großgrundbesitzes geführt (ibid. 37f). Boscherini 1986, 108 hält diese Klage nicht für die Dokumentation einer realen Weinbaukrise, sondern für einen ideologischen Plan, der das Konzept der Autarkie verfechte, wie es der konservativen Bauernklasse Italiens eigen sei. S. Martin 1971, 390 glaubt, daß die Landflucht nur in der Gegend von Rom in größerem Maße stattgefunden habe; De Martino 1985, 327. S. etwa Gabba in: Gabba/Pasquinucci 1979, 41ff; De Martino 1985, 122ff. Im verlassenen Gebiet der Volsker und Äquer haben Sklaven und Weidewirtschaft die freien Bauern ersetzt, lt. Liv. 6,12,5, und in Sizilien Weidewirtschaft den Ackerbau lt. Strabo 6,273 (s. Carl 1926, 30). S. Gerhard H. Waldherr: Antike Transhumanz im Mediterran - Ein Überblick, in: Herz/Waldherr 2001, 331-357, besonders 344ff. Die Quellen zu diesem Phänomen der Italiae solitudo untersucht Brunt 1971, 345ff. So De Martino 1985, 141.

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Dennoch widmet er dem Ackerbau mit nur etwa einem Fünftel des Gesamtwerkes 1836 deutlich weniger Raum als den beiden Formen der Viehzucht, die er Scrofa als die einträglichste Sparte der Landwirtschaft bezeichnen läßt (1,7,10), woraus man wohl schon die wahre Schwerpunktsetzung ablesen kann. Auch sein Widmungsadressat (.Niger Turrani noster) ist ein leidenschaftlicher Viehzüchter im Gebiet der Campi Macri (2 pr. 6), was ihm Varro in freundschaftlichem Neckton vorhält. Turannius kann diese Ausführungen als eine gutgemeinte Warnung verstehen vor möglichen Vorwürfen, denen er sich mit einem übertriebenen Engagement in dieser Sparte aussetzen könnte. Die Viehbarone, die im zweiten Buch auftreten, läßt Varro ihr Geschäft immerhin in Epirus betreiben, wie er ausdrücklich betont, 1837 d. h. im Ausland, wo sie das römische Bauerntum nicht schädigen.

3.2.3.4. Varros Kulturentstehungslehre und ihre Funktion in De re rustica Zur Apologie dieser gesellschaftspolitisch nicht unproblematischen Erwerbsquelle greift er ferner auf seine umfangreichen historischen Studien zurück, indem er die Viehzucht in den Rahmen der Kulturenstehungslehre stellt und so ihren kulturgeschichtlichen Wert herausstreicht. Kulturhistorische Reflexionen 1838 ziehen sich leitmotivisch durch das ganze Werk. Denn auf diesem Gebiet ist Varro Experte: Ursprung und Entwicklung der menschlichen Kultur und speziell Italiens sind zwei Forschungslinien, die sich durch das gesamte Schaffen des Reatinischen Antiquars ziehen. 1 8 3 9 Schon aus seinen Jugendwerken sind Fragmente einer Menippee Aborigines πβρί άνϋρώπων φΰσβως überliefert. 1840 Später kommen außer den Antiquitates auch De vita populi Romani, De gente populi Romani und die Annalium libri III dazu. 1841

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S. Martin 1971, 214f. 2 pr. 6; 2,1,2. 1838 Bibliographisches zur antiken Kulturentstehungslehre bei Müller 2003, 9 Anm. 2. 1839 S. Deila Corte 1976, 111; Literatur bei Cardauns 2001, 50ff; zu Varros genealogischem Ansatz s. Romano 2003; zu Varros Konstruktionen römischer Prähistorie s. auch Zwierlein 2004, 157-159 und 198-200. 1840 S. Deila Corte 1976, l l l f . 1841 Zu seinen aitiologischen Studien in Nachfolge des Kallimachos s. Serv. Aen. 1,408. Zu Varros antiquarisch-hellenistischen Vorliebe für πρώτοι ebperai s. Dahlmann 1973, 22f; auch in De re rustica lebt er diese Vorliebe aus: Die ersten Schafscherer seien 453 Jahre a. u. c. aus Sizilien nach Italien gekommen, wovon noch eine Inschrift auf einem öffentlichen Platz in Ardea zeuge, auf Veranlassung von P. Titinius Mena (2,11,10). Daß es vorher keine tonsores gegeben habe, so merkt er humorvoll an, zeige die Tatsache, daß die Statuen der Alten lange Haare und Bärte aufwiesen (vgl. auch Men. frg. 186 A. quotiens priscus homo ac rusticus Romanus inter nundi1837

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Selbst in De re rustica kann Varro dieser Vorliebe frönen, denn der Rekurs auf die Kulturentstehungslehre ist ein verbreiteter Topos antiker Lehrschriften, wobei der jeweils behandelten Wissenschaft eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Zivilisation zugeschrieben wird. 1 8 4 2 Gerade auch in der Landwirtschaft hat diese Verbindung mit der Theorie von der Menschheitsentwicklung schon seit Hesiods Erga ihren Platz. Im hesiodeischen Geschlechtermythos schlägt sich der moralische Verfall bekanntlich auch im Ackerbau nieder: Für das Goldene Geschlecht in seiner Genügsamkeit und Sittenreinheit trug die Erde noch von selbst die Frucht, dem Vierten Geschlecht trug sie immerhin noch dreimal jährlich, doch dem letzten sei der Lebensunterhalt von den Göttern aus Zorn verborgen worden. 1 8 4 3 Hesiod verfolgte also eine Deszendenztheorie der Menschheitsentwicklung, ebenso wie nach ihm Empedokles, der einen gewaltfreien Urzustand ohne Fleischverzehr und blutige Opfer ansetzt, 1844 und wie Piaton, der in seinem zyklischen Modell im Politikos eine positive Deutung des eirl Κρόνου βίος mit seinem altertümlichen und tierähnlichen Zustand vornimmt als Korrektur an der Fortschrittsgläubigkeit der Sophisten, 1845 wobei er allerdings den Fortschritt nicht völlig verurteilt. 1846 Radikaler in ihrer Verdammung des Fortschritts waren die Kyniker 1847 und der von Varro zitierte Dikaiarch, auf den wir noch ausführlich zurückkommen werden. Eine entgegengesetzte, aszendente Entwicklung aus einem viehischen Primitivzustand zu einer immer humaneren Lebensweise ist in der Philosophie erstmals bei Xenophanes nachweisbar, und zwar nicht als Ergebnis göttlicher Belehrung, sondern als Resultat eigenen Herausfindens. 1848 Ähnlich erkannte Anaxagoras (VS 39 Β 21b), daß die Menschen ihre Nachteile als Mängelwe-

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num barbam radebatl) - die intonsi avi wurden ein gebräuchlicher Topos (ζ. B. Hör. carm. 1,12,41; Tib. 2,1,34, weitere Beispiele s. Reischl 1976, 113 mit Anm. 4). Das Scheren langhaariger Ziegen zur Teppichherstellung sei von den Kilikiern erfunden worden (2,11,12). Zur Einordnung der Heuremata in den historischen Verlauf bei Varro in der Tradition des Hellanikos, Ephoros und Dikaiarch und zur Bedeutung von Kulturbringern in der Tradition des Euhemeros s. Reischl 1976, 99f. Ζ. B. Hör. ars 39Iff; Vitruv 2,1,Iff; Manil. l,66ff; Gratt. Iff. Hes. op. 109ff. Empedokles VS 31 Β 128; 130; (137); s. auch Hes. op. 232ff. Ζ. B. Plat. Politikos 271c8ff mit den Zügen: Automaton-Motiv, Genügsamkeit und Frieden; in 271 elf erwähnt er den orphischen bzw. pythagoreischen Vegetarismus, den auch Empedokles für ein Merkmal des idealen Urzustandes hält (s. Gatz 1967, 121f). S. dazu Kubusch 1986, 29ff. S. dazu Gatz 1967, 160. Xenophanes VS 21 Β 18, s. Kubusch 1986, 9f.

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sen βμπείρίοί... κάί μνήμη καΐ σοφία και τέχνη allmählich ausgeglichen hätten, wie auch die Demokriteer und am entschiedensten die Sophisten. 1849 Reine Aszendenztheorien bleiben aber die Ausnahme. Die meisten antiken Denker sahen die Ambivalenz allen technischen Progresses: So schon Epikur, der den zivilisatorischen Fortschritt in Verbindung bringt mit moralischer Dekadenz. 1 8 5 0 Die Hauptmasse bilden dementsprechend Theorien, nach denen die Aszendenz ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung in Deszendenz umschlägt, 1 8 5 1 wie etwa in Piatons Nomoi,1852 und in Rom bei Luk r e z , 1 8 5 3 Vergil 1 8 5 4 und Ovid. 1 8 5 5 Bedeutsam im Hinblick auf Varro sind unter diesen Aszendenz-Deszendenz-Modellen Poseidonios und vor allem Theophrast: Poseidonios läßt auf eine Primitivphase eine Art Goldenes Zeitalter folgen unter der Herrschaft der kulturstiftenden Philosophenkönige; 1856 erst spät, in historischer Zeit, erfolge der moralische Niedergang. 1857 Theophrast zeichnet von einer Primitivphase aus eine Aszendenzentwicklung der menschlichen Nahrung und der Opfergaben: von Gras und Eicheln auf der ersten Stufe hin zu Hülsenfrüchten, Getreide, Wein, Honig und Öl im optimalen zweiten Stadium, das dann aber in der dritten Stufe in Deszendenz umschlägt mit der Einführung von Tier- und Menschenopfern, die vom δαιμόνων bestraft werden durch Hunger und Krieg (s. u.). 1 8 5 8 Wie verhält sich Varro zu diesen Traditionen? Der Antiquar übernimmt zu Beginn der Lehrabhandlung über die pastio (2,l,3ff) in eigener Person den Vortrag über den Abschnitt de origine et dignitate, also über die Herkunft und die kulturgeschichtliche Bedeutung der

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S. dazu Kubusch 1986, lOf; Blundell 1987, 176ff. Zur Kulturentstehungslehre der Epikureer s. Kubusch 1986, 55ff. 1851 Nämlich in Hybris (attische Tragödie, ζ. B. Aisch. Prom. 447ff; Soph. Ant. 332ff) oder in Ausschweifung und Barbarei (eudaimonistische Philosophie, Stellen bei Gatz 1967, 145). 1852 p l a t L e g e s 676 alff, wo er den Überlebenden der Kataklysmen eine einfache und friedliche Lebensweise auf der Basis von Viehzucht und Jagd mit höherer Moral und frei von Mangel zuschreibt. 1853 Lucr. 5,925ff; 1011-1018 zivilisatorischer Fortschritt (Feuer, Familiengründung) fuhrt zur Verweichlichung und schlägt am Ende in moralische Dekadenz um; nicht der technische Fortschritt mit seiner zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur bringe dem Menschen das Glück, sondern Ataraxia infolge der Befreiung 1850

der Seele von den curae inanes durch die Erkenntnis der vera ratio. Zur Ambivalenz des Fortschrittsgedankens bei Lukrez s. Reischl 1976, 7f. 1854 1855

Verg

Aen

8>314ff

S. Gatz 1967, 144. 1856 S. ζ. B. Poseidonios frg. 448 Theiler ( = Sen. epist. 90,3ff); s. dazu Gatz 1967, 157ff und Theiler ad loc. 1857 S. Kubusch 1986, 75ff. 1858 R e f e r i e r t bei Porphyrios Περί αποχής ίμψύχωρ 2,5ff.

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Viehzucht. Hier findet die Haupterörterung dieses Themas statt, das bereits im ersten Buch kurz angeklungen war, und das am Beginn des dritten Buches wiederaufgenommen und fortgesetzt werden wird. Dabei beruft er sich zwar auf Dikaiarch als Gewährsmann, doch wir werden sehen, wie daneben noch andere Lehren auf ihn gewirkt haben. Bereits in der Wahl der Zeit des ersten Dialogs deutet Varro den kulturhistorischen Rahmen seiner landwirtschaftlichen Abhandlung an, nämlich mit den Sementivae feriae zu Ehren der Tellus und der Ceres, deren kulturstiftender Funktion im Rahmen dieses Festes gedacht wird. 1859 Auch das Motiv der kulturellen Bedeutung der Viehzucht klingt hier bereits an: Im Zuge der Diskussion über das Verhältnis von Herdenviehhaltung (pastio) und Ackerbau (agri culturä) führt Varro den von Fundanius verwendeten Vergleich der beiden Bereiche der Landwirtschaft mit einer Doppelrohrflöte weiter aus: Wie die beiden Flötenteile so hängen die beiden Bereiche der Landwirtschaft miteinander zusammen, allerdings solcherart, daß die ältere Viehzucht der rechten, der Melodieflöte (incentiva) entspreche, der jüngere Landbau aber der linken, der Begleitstimme (succentiva). 1&60 Dem Landbau käme demnach nur eine begleitende Funktion zu. Außerdem ist dieses Bild „insofern parteiisch, als ... die Flöte ja ein Hirteninstrument ist." 1861 Auch das Spiel mit der Polysemie der Bezeichnungen superioribus (temporibus) und inferiore (gradu) für die frühere und spätere Zeitstufe, die nicht nur auf die höhere und die tiefere Stimme der tibia und auf ihre höher und tiefer gelegenen Bohrlöcher passen, sondern auch eine leicht wertende Konnotation haben, suggeriert, daß die superiora tempora auch zugleich die besseren Zeiten gewesen seien (1,2,16). 1862 An dieser Stelle fällt auch schon der Name Dikaiarch (1,2,16 auctore doctissimo homine Dicaearcho), der bereits für Varros Schriften De gente populi Romani und De vita populi Romani Pate gestanden hatte. 1863 Auf diesen mit pythagoreischem Ideengut vertrauten Peripatetiker führt Boyance auch den Vergleich mit der Flöte zurück. 1864 Dikaiarch hatte seine peripatetische Kulturentstehungstheorie im ersten Buch seines Βίος ' Ελλάδος dargelegt. Aus den erhaltenen Fragmenten 47-51 Wehrli geht klar hervor, daß Dikaiarch eine dreiphasige Entwicklung der menschlichen

1859

S. Ov. fast. l,675f. 1,2,16; s. dazu Kap. 1.2.3.1, S. 92f. 1861 Hübner 1984, 23. 1862 S. Deila Corte 1976, 136. 1863 ^ u r Problematik der Dikaiarch-Rezeption in den beiden Schriften s. Ax 2000, 356ff; zur Möglichkeit weiterer Quellen, etwa dem Bios Hellados des Poseidonios-Enkels und -Nachfolgers Jason von Nysa oder den Chronika des Cornelios Nepos und dem Liber annalis des Atticus, s. ibid. 357; 368. 1864 Boyance 1952, 61. 1860

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Das Agrarhandbuch als Initiation

Kultur annimmt, wie sie in dieser Form erstmalig bei ihm belegt ist. 1865 Sie gliedert sich in: 1) Naturzustand 2) Hirtenleben 3) Ackerbau Die zweite Hauptquelle für die dikaiarchische Kulturentstehungstheorie neben der Stelle aus De re rustica, die wir gleich untersuchen werden, 1866 ist Porphyrios De abstinentia 4,2 ( = frg. 49 Wehrli). Hier erfahren wir Details: Laut Porphyrios besteht für Dikaiarch die früheste und beste Stufe der Menschheit in dem götternahen goldenen Naturzustand unter Kronos (er zitiert dazu Hes. op. 116ff), der sorgenfrei, gewaltlos, friedlich und gesund war, mit einfacher vegetarischer Nahrung; die Natur lieferte alles Notwendige ohne Arbeit und Mühsal. Auf der zweiten Stufe habe der moralische Abstieg begonnen mit dem Verzehr von Fleisch und dem Anspruch auf Eigentum. Die dritte Stufe schließlich bedeute die völlige moralische Depravierung. Dikaiarch verschmelzt also, soweit man aus dem Porphyrios-Zeugnis schließen kann, die sophistische These, daß die Kultur aus einem Mangelzustand (xpeia) hervorgegangen sei, 1867 und die hesiodeische Theorie vom moralischen Abstieg (die er ihrer mythischen Züge entkleidet und historisiert) 1868 , und verquickt sie mit der gleichfalls sophistischen Theorie, daß der Mensch nur soviel benötige, wie die Natur ihm gebe. Die Primitivphase des κατά φύοιν ζψ wird somit zum Idealzustand; Fortschritt und Korruption, kulturelle Aszendenz und moralische Deszendenz gehen für Dikaiarch Hand in Hand. 1 8 6 9 Varros Bewertung der drei dikaiarchischen Phasen ist jedoch eine andere. Wenn er auch im ersten Buch in seinem Doppelflöten-Vergleich der dikaiarchischen Theorie noch insoweit folgt, daß er dem Hirtendasein einen gewissen Vorzug gegenüber dem Ackerbau einräumt, weicht sein Zeugnis am Anfang des zweiten Buches von der Lehre, wie sie der Neuplatoniker wiedergibt, in einigen wesentlichen Punkten ab: Varro umreißt hier nach einem kurzen Blick auf die Zoogonie die dikaiarchische Dreiphasenlehre folgendermaßen (2,1,3ff):

1865

S. Ax 2000, 345. Var. rust. 2,1,3 = frg. 48 Wehrli. 1867 V g l p l a t o n P r o t a g o r a s 320c8ff. 1866

1868 1869

S. Reischl 1976, 92f. S. Vischer 1965, 92. Ax 2000, 348 betont, daß sich aus Dikaiarchs moralischer Problematisierung des zivilisatorischen Fortschritts nichts für die moralische Gesamttendenz des Werkes ableiten lasse, mit Verweis auf Fragmente, die auf moralische Verbesserungen hinweisen, wie ζ. B. frgg. 57; 59.

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necesse est humanae vitae ab summa memoria gradatim descendisse ad hanc aetatem, ut scribit Dicaearchus, et summum gradum fuisse naturalem, cum viverent homines ex his rebus, quae inviolata ultro ferret terra; 4 ex hac vita in secundam descendisse pastoriciam, eferis atque agrestibus ut arboribus ac virgultis decarpendo glandem, arbutum, mora, poma colligerent ad usum, sie ex animalibus cum propter eandem utilitatem quaepossent silvestria deprenderent ac concluderent et mansuescerent. In quis primum non sine causa putant oves adsumptas ...Ad eibum enim lacte et caseum adhibitum, ad corpus vestitum et pelles adtulerunt. 5 Tertio denique gradu a vita pastorali ad agri culturam descenderunt, in qua ex duobus gradibus superioribus retinuerunt multa, et quo descenderant, ibi processerunt longe, dum ad nos perveniret. A u f d e r f r ü h e s t e n ( s u m m u s gradus), der Naturstufe, lebten die M e n s c h e n sehr e i n f a c h 1 8 7 0 u n d o h n e d e r E r d e Gewalt anzutun (inviolata ... terra), von d e m , w a s diese v o n sich aus {ultro, das A u t o m a t o n - M o t i v ) 1 8 7 1 an N a h r u n g bot, n ä m l i c h v o n W i l d f r ü c h t e n , wie den sprichwörtlichen Eicheln, M e e r k i r s c h e n , M a u l b e e r e n u n d Ä p f e l n . (Wie aus einem Antiquitates-Fragment herv o r g e h t , entsprach dieser U r z u s t a n d f ü r V a r r o der Herrschaftszeit des Saturn, ähnlich wie D i k a i a r c h - P o r p h y r i o s ihn der Zeit unter K r o n o s z u g e o r d n e t hatte).1872 A u f d e r zweiten Stufe f i n g e n die M e n s c h e n geeignete wilde Tiere ein u n d z ä h m t e n sie, darunter zuerst die sanften Schafe, u m v o n ihnen, wie v o n d e n w i l d e n P f l a n z e n , nützliche Dinge zu gewinnen, wie Milch, Käse, Bekleidung und Felle.1873 A u f d e r dritten Stufe stieg m a n d u r c h eine Übergangszeit, in der die M e n s c h e n auf d e m s e l b e n B o d e n säten und weideten, nach einer endgültigen A u s -

1870

S. auch ling. 5,105ff. 1871 Ygj D i k a j a r c h frg. 49 Wehrli ( = Porpyrios De abstinentia 4,2). Im Unterschied zu Lucr. 5,940ff geht Varro nicht von einer größeren Fruchtbarkeit der noch jungen Erde in diesem Stadium aus. 1872 S. antiq. frg. 243 Cardauns ( = Augustin. civ. 7,19 p. 297,22ff. Dombart-Kalb) [Certe illo (sc. Saturno) regnante nondum erat agricultura, et ideo priora eius tempora perhibentur, (sicut idem ipse fabellas interpretatur),] quia primi homines ex his vivebant seminibus, quae terra sponte gignebat\ wie bei Dikaiarch frg. 49 Wehrli ( = Porpyrios De abstinentia 4,2, s. o.). Vgl. auch De gente populi Romani frg. 1 Fraccaro. Zur Kontamination römischer und griechischer Anschauungen von KronosSaturn bei Varro s. Reischl 1976, 139f; Zum Saturnmythos und seiner Einbürgerung in der römischen Historie und Dichtung seit Vergil, seiner Entwicklung und seiner moralphilosophischen Deutung in der Zeitgeistkritik s. Gatz 1967, 124ff; 207; zur Verwendung des Mythos bei Vergil s. auch Kubusch 1986, 104ff. 1873 In 2,11,11 führt er als kulturhistorisches Detail an, daß sich die Griechen der alten Zeit mit Ziegen- bzw. Schaffellen bekleideten, wie zu seiner Zeit noch Gätulier und Sardinier, wovon noch Spuren in der Tragödie (die Bezeichnung k