Johann Beer: Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie [Reprint 2012 ed.] 9783110939385, 9783484365827

This is the first full-length monograph on the Baroque novelist Johann Beer (1655-1700) since Richard Alewyn's disc

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Johann Beer: Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie [Reprint 2012 ed.]
 9783110939385, 9783484365827

Table of contents :
Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Groteske Inventionen: Poetologie des frühen Erzählwerks
2.1. Satirische Groteske in den Rittererzählungen
3. Die Konstituierung des Romans
3.1. Die Konstituierung der Handlung im Simplicianischen Welt-Kucker (1677–1679)
3.2. Die Konstituierung des Erzählers als Held
3.3. Affektverfallenheit als Thema der satirischen Schriften der Jahre 1680 bis 1685
3.4. Die Konstituierung der Politik
4. Die Verführung des Grotesken
4.1. Bruder Blaumantel (1700)
4.2. Der Durchbruch des Grotesken: Der Berühmte Narrenspital (1681)
5. Die Konstituierung der Welt als Erzählung
5.1. Der Verliebte Österreicher (1704): Die Wiederholung als Form
5.2. Die Teutschen Winternächte und die Kurtzweiligen Sommer-Täge (1682/83): Die Wiederholung als Erfüllung
6. Zusammenfassung und Ausblick
7. Bibliographie

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Frühe Neuzeit Band 82 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Andreas Solbach

Johann Beer Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36582-X

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck·. AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt Vorbemerkung

VII

1. Einleitung

1

2. Groteske Inventionen: Poetologie des frühen Erzählwerks

9

2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.1.5. 2.1.6.

Satirische Groteske in den Rittererzählungen Ritter Hopffen-Sack (1677) Prinz Adimantus (1678) und die Kategorie der Invention . . Exkurs zu Johann Adam Schertzer Ritter Spiridon (1679) Dialogische Form im Pokazi (1679) Der Inventionsbegriff in Beers musiktheoretischen Schriften

3. Die Konstituierung des Romans 3.1. 3.1.1. 3.1.1.1. 3.1.1.2. 3.1.1.3. 3.1.1.4. 3.1.1.5. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.2.1.

Die Konstituierung der Handlung im Simplicianischen Welt-Kucker (1677-1679) Die Erfindung der Handlung Handlung als Verführung Regression des Erzählens und nicht-fiktionaler Diskurs . . Monologische Versöhnung und perspektivischer Neuansatz Poetologische Vermittlung Schlußdiskussion Die Konstituierung des Erzählers als Held Die Sehnsucht des Helden und die Gefährdung des Ideals im Corylo (1679-1680) Ausdifferenzierung des Ich-Erzählers: Jucundus Jucundissimus (1680) Affektverfallenheit als Thema der satirischen Schriften der Jahre 1680 bis 1685 Weiber-Hächel (1680) und Jungfer-Hobel (1681) Bestia Civitatis (1681) und Kleider-Affe (1685) Exkurs zur Verfasserschaft der Anderen Ausfertigung . . .

9 9 19 29 36 47 59 67 67 67 67 81 95 97 103 109 109 126 154 156 165 169

VI

3.3.3. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3.

Misogynie und die Psychologie des Poetischen im Politischen Feuermäuer-Kehrer (1682) Die Konstituierung der Politik Der Politische Bratenwender (1682) Der Verkehrte Staats-Mann (1700) Der Verliebte Europäer (1682)

4. Die Verführung des Grotesken 4.1. 4.2.

Bruder Blaumantel (1700) Der Durchbruch des Grotesken: Der Berühmte Narrenspital (1681)

5. Die Konstituierung der Welt als Erzählung 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3.

Der Verliebte Österreicher (1704): Die Wiederholung als Form Die Teutschen Winternächte und die Kurtzweiligen Sommer-Tage (1682/83): Die Wiederholung als Erfüllung Die Form des Romans: Die Wiederholung als Struktur . . Exkurs: Struktur und Funktion von Thomas à Kempis' De Imitatione Christi Abhängigkeit und Abstinentia: Die Welt als Droge und Vorstellung

171 191 191 202 215 237 238 263 311 311 333 333 401 420

6. Zusammenfassung und Ausblick

441

7. Bibliographie

445

Vorbemerkung Mit dem Erscheinen von Richard Alewyns Habilitationsschrift über Johann Beer 1932 ist der Autor zum ersten Mal und mit nachhaltigen Folgen auf der literarischen Landkarte der deutschen Literatur erschienen. Seit Kriegsende und vor allem seit den sechziger Jahren sind eine Reihe von Studien erschienen, die sich in ihrer Mehrzahl um einen relativ begrenzten Ausschnitt aus dem literarischen Werk bemühen. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war es daher, einmal das gesamte Werk des Autors in einer klassischen Monographie analytisch und interpretatorisch zu bewerten, um dabei möglicherweise Konstanten, aber auch Brüche und Inkonsistenzen sichtbar zu machen. Als Untersuchungsperspektive bot sich daher ein narratologischer Frageansatz an, der sich dazu eignen sollte, die auch für Grimmelshausen wesentliche Frage nach der Verbindung von prodesse und delectare zu beantworten. Ziel war dabei nicht, eine umfassende erzähltheoretische Analyse aller Texte zu liefern, sondern in der Fokussierung auf die verschiedenen Erzählerfiguren in vergleichender Absicht Ergebnisse zu gewinnen, die das Gesamtwerk umfassen. Die vorliegende Arbeit wurde zunächst als Habilitationsschrift an der Freien Universität Berlin konzipiert und dort 1994 eingereicht. In den folgenden Jahren wurde die Fertigstellung vor allem des letzten Teils über die Willenhag-OiXogie, durch meine Professur in Dortmund und meinen Ruf an die University of Toronto in Kanada unterbrochen und verzögert. Die Arbeit konnte schließlich 1999 fertiggestellt werden; daß sie erst jetzt im Druck erscheint, wurde durch einen neuerlichen Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität in Mainz bedingt. Die notwendig gewordenen umfangreichen Kürzungen im Text haben die Fertigstellung zusätzlich verlangsamt. Dank gebührt vor allem Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Gert Roloff, der die Entstehung der Arbeit in vielerlei Hinsicht unterstützt und gefördert hat. Hilfreiche Hinweise verdanke ich zahlreichen Gesprächen mit Peter Rusterholz, Irmgard Wirtz, Franz Eybl, Roswitha Jacobsen, Thomas Borgstedt, Knut Kiesant und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidenden Anteil an der Fertigstellung hatte Yvonne Wolf, die den Text präsentabel gestaltet hat und zahlreiche Fehler und Ungeschicklichkeiten beseitigen half. Alle stehengebliebenen Ungereimtheiten muß ich selbst verantworten. Das Wachsen der Arbeit wurde von meinen mitwachsenden Kindern Vera und Kostja nicht immer mit Begeisterung begleitet. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

Für Kostja und Vera

1. Einleitung Die vorliegende Arbeit will eine empfindliche Lücke in der Sekundärliteratur zu Johann Beer schließen, die durch die Konzentration der Forschung auf einige wenige Texte des Autors entstanden ist. In nennenswertem Umfang existieren Untersuchungen nur zum Welt-Kucker, zu Jucundus Jucundissimus, zum Narrenspital und zur Willenhag-Dilogie,1 wobei sich der späte Doppelroman immer deutlicher als das Zentrum des Interesses bemerkbar macht. Die Vernachlässigung aller der Dilogie vorangegangenen Werke hat dabei sicher mehrere Gründe: Alewyns Beer-Buch führte nicht nur zur spektakulären Entdeckung des Autors, sondern es lenkte das wissenschaftliche Interesse in bestimmte Bahnen; darüber hinaus blockierte die Unzugänglichkeit vieler Texte die Forschung bis in die achtziger Jahre hinein. Erst mit dem Erscheinen einiger Reprint-Ausgaben und neuerdings mit der zügigen Vervollständigung der kritischen Ausgabe durch Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff ist eine Stimulation der Forschung eingetreten. Dieser Neuansatz in der Beer-Diskussion2 läßt aber noch kein überzeugend geordnetes Bild erkennen; offenkundig wird jedoch die Kritik an der alten, bis in die Gegenwart tradierten Auffassung Alewyns vom genialischen Fabulierer Beer, dem fast romantischen Erzählgenie, das sich von den Restriktionen religiöser Moralisation befreit, immer stärker. Dabei verlieren die Kritiker Beers, die ihn eher als Zufallskünstler ohne Plan und Absicht charakterisieren, an Boden 3 und müssen einer differenziert vorgehenden sozialpsychologischen und -historischen Analysehaltung weichen.4 Die Situation ist aber grundlegend 1

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Ein detaillierter Forschungsbericht ist hier entbehrlich; er ist separat zugänglich: Andreas Solbach: Die Forschungsliteratur zu Johann Beer 1932-1992. Ein Literaturbericht. In: IASL, Forschungsreferate 3. Folge (1994a), 6. Sonderheft, S. 2 7 - 9 1 . A m besten dokumentiert in den Beiträgen des Marburger Beer-Kolloquiums in den Simpliciana 13 (1991). Etwa Kenneth G. Knight: The Novels of Johann Beer (1655-1700). In: Modern Language Review 56 (1961), H. 2, S. 194-211; dies ist nur die Inversion des Alewynschen Lobes, der sich bei Texten, die seiner Auffassung nicht entsprachen, durchaus auch zu harten Worten hinreißen ließ: Den Pokazi etwa findet er über »lange Strecken [...] öde und ohne Erfindung« (Richard Alewyn: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1932 [Palaestra, 181], S. 240), dem Staats-Mann attestiert er eine »besonders dürre Erfindung« (Alewyn [1932] 242), und der Europäer ist »in einem eigentümlichen Stilgemisch« (ebd) verfaßt. Vor allem Roswitha Jacobsen: Dichtung zwischen Repräsentation und Verweigerung. Weise, Riemer, Beer in Weißenfels. In: Wiss. Zeitschrift. Päd. Hochsch. Erfurt/ Mühlhausen, Gesellsch.- u. sprachwiss. Reihe 27 (1990), H. 1, S. 2 6 - 4 5 und Roswi-

2 durch die Unverbundenheit der verschiedenen Ansätze gekennzeichnet, weil bislang eine Darstellung Beers fehlt, die die mannigfaltige Produktion bis zum Doppelroman unter einem einheitlichen Gesichtspunkt analysiert. Die zentrale Frage der weltanschaulich-künstlerischen Grundauffassungen des Autors kann ohne eine integrale Zusammenschau aller relevanten Teile des Werks nicht beantwortet werden, denn erst wenn hinter den oft disparaten und heterogenen Texten eine durchgehende Intention erkennbar wird, läßt sich die Diskussion vereinheitlichen. Die hier vorgelegte Untersuchung hat es sich so zur Aufgabe gemacht, die Einheit des literarischen Werks von Johann Beer aufzuzeigen, um Grundlagen zur Interpretation aller seiner Werke bereitzustellen. Ausgangspunkt der Analyse ist dabei die Annahme eines künstlerisch-kalkulierenden, rhetorisch fundierten Verfahrens der Textkonstituierung durch den Autor, der seine Werke weitgehend bewußt plant und gestaltet. Nicht nur aus der Biographie, sondern aus den Werken selbst - vor allem den kontrovers-musikalischen - wissen wir recht genau, wie intensiv Beer mit der Rhetorik produktiv und rezeptiv vertraut war.5 Es darf sich aber nicht nur um eine Suche nach strategischen RhetorikElementen handeln, sondern auch um deren Funktionalisierung und Thematisierung im erzählerischen Prozeß. Hier sieht die vorliegende Arbeit ihren Ansatzpunkt in der Verbindung von Rhetorik und Erzähltheorie. Beers rhetorische Verfahrensweise will also als Anwendung einer Erzählpoetik verstanden werden - anders als etwa im Falle Riemers, dessen Romane als perfekte Umsetzung traditioneller Rhetorik belegt sind.6 Zweifellos operiert auch Beer mit vergleichbaren rhetorischen Schemata exemplarischen Erzählens, aber seine ungebrochene Anziehungskraft und sein fortdauernder Reiz bezeugen, daß seine »Rhetorik des Erzählens«7 über die punktuelle Konstruktion von Chrien wie bei Riemer hinausgeht. In diesem Sinne muß sein literarisches Werk als Gegenstand einer narratologischen Rhetorik erscheinen, die sich nicht nur um die jeweilige Analyse der Erzählsituation bemüht, sondern diese auf die rhetorische Struktur persuasorischer Strategien be-

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tha Jacobson: Johann Beer in Weißenfels. Auseinanderfall von Autorität und Diskurs. In: Simpliciana 13 (1991), S. 47 - 8 0 sowie Jörg-Jochen Berns: Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beers. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750). Teil 2. Hg. v. Herbert Zeman. Graz 1986, S. 1149-1179. Dazu auch Jörg Krämer: Johann Beers Romane. Poetologie, immanente Poetik und Rezeption »niederer« Texte im späten 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M., Bern [u. a.] 1991 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 28), S. 267-280. Helmut Krause: Feder kontra Degen. Zur literarischen Vermittlung des bürgerlichen Weltbildes im Werk Johannes Riemers. Berlin 1979 (Deutsche Sprache und Literatur, 2). So der deutsche Titel der berühmten Untersuchung von Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961 (Phoenix Book, 267).

3 zieht. Dies bedeutet, daß die Analyse sich nicht auf eine immanente Phänomenologie der Erzählsituationen und ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern den erzählerischen Mitteleinsatz als Funktion dominanter rhetorischer Strukturen versteht. Anders als in der klassischen Erzählanalyse treten so Bezüge in den Vordergrund, die sowohl externe Zielbestimmungen wie auch interne Reflexionen zur Textkonstitution berücksichtigen. Dieser Analyseansatz ist seinerseits das Resultat einer vorangegangenen Untersuchung zur Rolle der Evidentia in der frühneuzeitlichen Rhetorik und ihrer Verbindung zur Erzähltheorie, 8 deren Ergebnisse hier kurz vorgestellt werden. Wesentlichste These der Analyse ist die aporetische Verfassung des Verhältnisses von prodesse und delectare als Korrelat rhetorischer Verfahren. Ausgehend von platonischen Argumentationen 9 läßt sich die Identität von Schrift-, Rhetorik- und Dichtungskritik beweisen, die sich allesamt auf das gemeinsame (rhetorische) Verfahren der Darstellung beziehen. Die Schrift als Medium transportiert bereits in ihrer inneren und äußeren Form das Ziel von Rhetorik und Dichtung: die auf persuasio angelegte Mimesis. Die persuasici bezieht sich dabei nicht auf das Wahre, das Gerechte und das Gute, sondern im Sinne auch der frühneuzeitlichen Politica auf die »besitzindividualistische« 10 Vorteilnahme, während Mimesis 11 im Gegensatz zur Diegesis auf die evidentielle Imagination zur Durchsetzung der persuasio zielt. Im platonischen Argument erscheinen schließlich drei mögliche Darstellungsmodi: Mimesis als fiktionalisierende Illusion, Diegesis als historisierender Bericht und ein Kompositum aus beidem. Die moderne Erzähltheorie 12 lehnt sich an die rhetorische Fassung dieser Trias {fabula, historia und argumentum) an, wenn sie betont, daß es keine Mimesis ohne Diegesis gibt. 13 Das 8

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Andreas Solbach: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen. München 1994b (Figuren, 2). Die zu knappe Zusammenfassung hier kann nur einen unzureichenden Eindruck von dem komplexen Argumentationsgeflecht vermitteln. Im folgenden wird auf Begründungen und Belege aus Raumgründen verzichtet. Im Gorgias, Phaidros sowie im dritten und zehnten Buch der Politeia. Der Terminus wird von Crawford Brough MacPherson eingeführt, der damit einen Aspekt frühneuzeitlicher Politica (etwa bei Hobbes) charakterisiert: Die politische Theorie des Besitzindividualismus von Hobbes bis Locke. Frankfurt a.M. 2 1980 ( Ί 9 7 3 ) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 41). Als eingeschränkte Form der mimesis haple. Piaton trennt den gesamten Bereich der Nachahmung (Mimesis) in Diegesis (Bericht) und die genannte »einfache Mimesis«, die dem Dialog nahesteht, aber auch eine vergegenwärtigende, evidentielle Beschreibung sein kann. Gérard Genette: Figures III. Paris 1972 (Collection Poétique); Franz Stanzel: Theorie des Erzählens. 2., verb. Aufl. Göttingen 1982 ( Ί 9 7 8 ) (Uni-Taschebücher, 904); Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 7., neubearb. und erw. Aufl. Opladen 1990 ( Ί 9 7 2 ) (WV-Studium, 145); Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 3 1977 ( 1 1957). Gérard Genette: Figures II. Paris 1969 (Points, 106), S. 55f.

4 bedeutet jedoch, daß das Wesen mime tischen Verfahrens in der Differenz zur Diegesis besteht, die als distanzschaffender Modus definiert ist. Ziel der Mimesis ist daher die Illusion der Vergegenwärtigung (evidentia). Es ist Piaton jedoch gelungen, diese fiktionalisierende Technik als das zentrale Motiv der Rhetorik und der Schrift zu erweisen und zu belegen, daß die Regeln der Rhetorik als inhaltsleere, auf alle möglichen Gegenstände beziehbare Strategien eine mechane und keine techne darstellen; das heißt, die Redekunst ist - wie ihr Mittel, die Schrift - nicht an ein dem Gegenstand inhärentes moralisches Ziel gebunden, sondern sie kann aus weiß schwarz und aus schwarz weiß machen.14 Da die Rhetorik aber ihre Wirksamkeit aus der Annäherung an das politische Gesetz der Welt gewinnt, ist sie dessen schärfste und kritischste Einsicht; in ihr treffen sich so Affirmation und mögliche Kritik. »Rhetorik« und »rhetorisch« heißt demnach im folgenden immer zunächst »geplantes Sprechen und Schreiben« in dieser Doppelperspektive von affirmativer Annäherung an die Politica zur Durchsetzung des Parteiinteresses und kritischer Einsicht in die unabänderliche Scheinhaftigkeit und Dis/ simulation der Welt. In literarischer Hinsicht äußert sich dies in den frühen Rittergeschichten Beers als zunächst affirmativ-gläubige Imitation der frühmodernen Muster des Ritterromans, bis der Schock der Erkenntnis ihrer rhetorischen, auf persuasiti angelegten Verfassung zu Kritik und Transformation führt. Die mehrfach bezeugten Versuche des Autors, Ritterstoffe mündlich frei nachzuerzählen (während seiner Regensburger Schülerzeit) führen zunächst zum Erfolg der täuschenden Illusionierung bei den Zuhörern. In dem Maße aber, in dem Beer seine eigenschöpferischen Fähigkeiten entwickelt, erkennt er die Verfahrensweisen der Vorlagen, und in seine affirmative Imitation dringen kritische Elemente ein.15 Die mündliche Nacherzählung wird, das dokumentieren die Vorreden der frühen Rittergeschichten, zum phantasievollen, literarischen Spiel unter den Schulfreunden um Beer; dabei werden die Unwahrscheinlichkeiten und nicht mehr zeitgemäßen Absurditäten der Muster in parodistischer Absicht überboten, wie auch die kurz darauf entstandenen Texte belegen. Das Motiv des Nacherzählens populärer Lesestoffe findet sich im übrigen noch in den letzten Texten des Autors. Neben die Erkenntnis des »Gemachten« tritt aber in den gedruckten Werken deutlich die Kritik an den Leidenschaftsdarstellungen und den erotischen Impulsen. Beer versteht die Liebe von Anfang an im Sinne der körperlichen Affekte als begrenzende Macht; gerade der Liebesdiskurs scheint für ihn eine Form der Darstellung zu fordern, gegen die sich seine spielerische, groteske Zerstörung richtet. Die Liebe, deren sprachliches Pathos für den 14 15

So bei Gorgias und bei Grimmelshausen. So Ilse Hartl: Die Rittergeschichten Johann Beers. Phil. Diss. Wien. 1947 und Alewyn (1932).

5 Autor auf ihre Anmaßung und Unwirklichkeit hinweist, zwingt so nicht nur den verliebten Helden, sondern auch den erzählenden Autor unter ihre Macht. Die frühe Faszination des naiv-affirmativen Erzählers weicht gerade bei der Liebeshandlung einer kritischen Darstellung durch groteske Überhöhung des traditionellen Liebesdiskurses. Dennoch bleibt ein Rest an anfänglicher Identifikation mit dem Ritterbild erkennbar, dessen positive Aspekte von der Rhetorik der Liebeshandlung überschattet werden. Ist Rhetorik hier vornehmlich Ausdruck des Geplanten, auf ein Interesse hin Organisierten, so ist das Groteske dessen Gegenstück: Es ist das Prinzip des Anti- oder zumindest Α-Kausalen. Der Versuch, die Rhetorik zu hintergehen und einen nicht-zweckbestimmten Text zu schaffen, mutet so modern wie anachronistisch an; tatsächlich gewinnt Beers Verfahren mit seiner Tendenz zu einer autonomen Aleatorik modernistische Züge - wie die auffällige Rezeption seines Werkes bei H. C. Artmann bezeugt. Für Beer selbst allerdings war auch seine Gegen-Rhetorik noch rhetorisch, denn es geht ihm nicht um eine Kritik der Rhetorik per se, sondern um den Mißbrauch ihrer Mittel. Die Strategie zu ihrer grotesken Entwertung bedient sich daher ebenfalls der traditionellen Instrumente der Rhetorik. In diesem Zusammenhang ist hier auch die Kategorie der Invention zu verstehen: A l s traditioneller rhetorischer Begriff bezeichnet er die »Findung«, deren literarische Stereotypie in - Beers ambivalentem Ziel - der ewig gleichen Handlungskonstruktion der Ritterromane liegt. Z u m einen fasziniert die inventio der Muster den (affirmativen) Autor, der sich aber sogleich als Nach-Schaffender auch kritisch davon absetzt. In der Anwendung auf das a-kausale Prinzip der Groteske meint Invention aber nun auch ihr eigenes Gegenprinzip: Hier soll nichts mehr gefunden oder geordnet werden, sondern die inventuösen Versatzstücke werden zu einer grotesken GegenRhetorik montiert, deren alleiniges formales Ziel in der Zerstörung der Zielgerichtetheit besteht. 16 Diese Destruktion ist jedoch, Beer bemerkt es schon in den frühesten Texten, literarisch unfruchtbar: Sie wiederholt das Motiv der Übersteigerung, des Grotesken und der kontingenten Häufung, ohne Konsequenzen für die Handlung haben zu können, die über weite Strecken nur rudimentär vorhanden ist und bloßer Hintergrund und Rahmen bleibt. Wenn im folgenden von Invention gesprochen wird, so werden damit jeweils wechselnde Dinge bezeichnet: der eigentliche Begriff aus der Rhetorik, sein groteskes, formales Gegenprinzip, aber auch eine affirmative, abgeschmackte Handlungssequenz oder deren geistvolle bis skatologisch-groteske Kontrafaktur, wie etwa die Inversion der typischen Ritterhandlung im Adimantus, wenn der Held als überheblich und unwürdig demontiert wird. Beers Schreiben und seine frühe Poetologie drehen sich um so mehr um diesen Inven-

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Beers Angriff läßt sich so am ehesten als eine Kritik an der Mechanik der Regelrhetorik, parallel etwa zur späteren Regelpoetik, verstehen.

6 tionsbegriff, als er die ursprünglich positive Fixierung auf das Rittermodell impliziert. Mit der Entwicklung eines eigenen Erzählmodells biographischer Art verliert die Kategorie an Überzeugungskraft - es bleibt Beers souveräner Einsatz rhetorischer Mittel, der nun, von seinem Vorbild emanzipiert, eigenständig persuasive Ziele verfolgt, die allerdings in untrennbarem Zusammenhang mit dem frühen Erzählprogramm stehen. Beer entwickelt sein erzählerisches Lebenslaufmodell dabei durchgehend aus den rhetorischen Überlegungen seiner frühen Erzählungen: Dies soll die vorliegende Analyse belegen. Der Autor verfährt dabei nicht wie Johann Riemer, der seine Enthymeme ausformuliert, sondern in fast moderner, experimenteller Weise, indem er aus der aporetischen Situation der reinen Anti-Rhetorik ein narratologisches System von Grundmustern (Liebeshandlung, Leidenschaftskritik, Lebenslaufmodell, misogyne Themen) destilliert, das er mit einer Anzahl von erzähltechnischen Varianten kombiniert. In den frühen Rittererzählungen tritt das moralisierende Interesse dabei noch deutlich diegetisch auf: Als nicht-fiktionaler Modus entspricht es der Berichtshaltung in der historia, während die fabula ständig ironisch destabilisiert wird. Erst der große Neuansatz des Welt-Kucker emanzipiert sich von der - noch parallelen - rhetorischen Dominanz: Hier rückt das rhetorische Erzählen in eine Funktionsperspektive; das heißt, aus dem Erzählen der Rhetorik, der Rhetorik als Thema, wird rhetorisches Erzählen, Rhetorik als Mittel. Die Mittel der Redekunst verbinden sich hier mit den Mitteln der Erzähltechnik, wobei sie zuweilen auch in einen Gegensatz dazu geraten; so etwa, wenn der Autor im Welt-Kucker Ritterepisoden einfügt, deren rhetorische Funktion der erzähltheoretischen entgegenläuft, oder wenn die nachträgliche Anfügung des letzten Buches, als rhetorische peroratio verstanden, der narratologischen Funktionalisierung eine zusätzliche Dimension verleiht. Es bieten sich nun grundsätzlich zwei Analyseansätze an: zum einen die Suche nach Beispielen für den rhetorischen Mitteleinsatz im Sinne der traditionellen Rhetorik und zum anderen das Verfahren einer Rhetorik und Narratologie verbindenden Erzählrhetorik, die erzähltheoretische Konstrukte als Funktion rhetorischer Intention integrieren will. Ohne die Möglichkeit des ersten Interpretationsansatzes zu bestreiten, glauben wir, die Bevorzugung des zweiten Ansatzes besonders deshalb rechtfertigen zu können, weil die Ausdifferenzierung des Beerschen Erzählens auf die Konstruktion einer ihm ganz eigenen Erzählerfigur hinausläuft. Als Zielpunkt der Untersuchung ins Auge gefaßt, soll ihre Herausbildung mit erzähltheoretischen Analysen verfolgt werden. Sie bezwecken somit nicht, anachronistisch die Entwicklung eines »bürgerlichen« Romans und dergleichen mehr nachzuzeichnen. Die Berechtigung, auch hier von Rhetorik zu sprechen, leitet sich dabei aus dem Programm rhetorischer Mittel ab, wie sie seit der Antike gebräuchlich sind und in die Erzähltheorie übernommen wurden.

7 Die schon zitierte Trennung von historia, fabula und argumentum determiniert verschiedene Aussageweisen, wie sie die Erzähltheorie behandelt: echte Wirklichkeitsaussage (historia), Fiktion (fabula) und fingierte Wirklichkeitsaussage (argumentum). Im System der literarischen Gattungen entsprechen dabei der Fiktion Er-Erzählung und Drama und der fingierten Wirklichkeitsaussage Ich-Roman und Lyrik.17 Das bedeutet, daß das intrikate Zusammenspiel von Mimesis und Diegesis für die gemischte Form des argumentum konstitutiv ist. Es kann daher auch nicht überraschen, daß Beer gerade mit diesen zutiefst rhetorischen Kategorien seine Erzählwelt konstruiert, die letztlich auf die erzählerischen Möglichkeiten seiner Ich-Erzähler hinausläuft. Grundlegend ist hier immer wieder die Erfahrung der aporetischen Verklammerung von Affirmation und Kritik. Der überall begegnenden Täuschung und dem alles durchdringenden »politischen« Verhalten setzt Beer jedoch kein diegetisch-monologisches Predigtprogramm entgegen und auch kein auf ein zentrales Erzähl-Ich konzentriertes Bekehrungsexempel, denn er ist von der Unwirksamkeit des »theologischen Stylus« überzeugt. Sein Erzählziel liegt aber dennoch in der Herbeiführung der Metanoia, die allerdings der moralischen Autorität des kommentierenden Ich bedarf. Indem Beers Romane nun einen Ich-Erzähler entwerfen, der nicht zentral, sondern peripher situiert ist, und der zudem durch den Bericht sekundärer Viten nicht mono-, sondern multiperspektivisch fremdes Leben erzählt, für sich selbst aber die Distanz von erlebendem und erzählendem Ich beibehält, verbindet sich die egalitäre Nähe zum Leser mit der nötigen Distanz des kommentierenden Ich. Das Muster der Romane Beers beruht so auf dem Eindringen fremden Lebens in die Lebensgeschichte des Erzählers, der sich als Narr unter Narren - und damit dem Leser ähnlich - zu erkennen gibt. Den sekundären Biographien aus seiner Lebenswelt stellt der Erzähler seine eigene zur Seite, ohne jedoch auf die Moralisationen des erzählenden Ich zu verzichten. Neu ist hier allerdings die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Versuche zur Metanoia: Der Erzähler schreibt aus der Position des bekehrten Sünders fernab der Welt, ohne vollends asketischer Anachoret zu sein. Doch auch diese Position ist prekär und gefährdet: Der Rückfall ist vorprogrammiert, und die Schwäche und das Scheitern der Versuche gehören zur Charakteristik des Protagonisten. Damit steigert er jedoch seine Glaubwürdigkeit und nähert seine Weltperspektive, die des »Welt-Kuckers«, dem der Leser an: In der Rücknahme des Ich-Erzählers und der Auffüllung seines Lebens durch das Eindringen fremden Lebens (durch das Perspektiv des »Welt-Kuckers«) werden Erzähler und Leser schließlich so weit wie möglich identisch, und der Text des Romans wird zum perspektivischen Instrument selbst, das den Leser zum »Welt-Kucker« fremden Lebens macht.

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Unsere Begriffsbildung folgt hier erkennbar Käte Hamburger, deren Analyse von Rolf Tarot für den Roman Grimmelshausens erfolgreich angewendet wurde.

8 Beers Erzählversuche auf dem Weg zum Erzähler der Dilogie sind sowohl formal wie auch inhaltlich von dem grundlegenden Problem der Rhetorik gekennzeichnet: der Erkenntnis der rhetorischen und dis/simulatorischen Text- und Weltverfassung. Autor und Moralist sind bei ihrer Kritik und ihrem Bestreben zu belehren unwiderruflich auf die rhetorischen Verfahren angewiesen, die sie bekämpfen. Auch die gute Sache der Gerechtigkeit, mußte schon Piaton eingestehen, bedarf der fragwürdigen Strategien der Überzeugungsrhetorik. Deren mimetisches Verfahren neigt aber dazu, sich zu verselbständigen und das prodesse neben dem delectare zu vergessen. Gegen diese Situation - die des rhetorischen Affektkitzels im Amadis und seinen Nachfolgern - bezieht Beer Position, indem er der überzeugenden Leidenschaftsdarstellung eine fröhlich-zerstörerische groteske »Anti«-Rhetorik entgegensetzt. Gegen die schulmäßigen Inventionen des traditionellen Liebesdiskurses und der Stereotypie der begleitenden Handlungspartikel setzt er die entlarvende und desillusionierende Montage grotesken Widersinns; und seine Erzähler und Helden sind vom Welt-Kucker bis zum Narrenspital Ausdruck der Gegenläufigkeit von Kritik und Affirmation: Ihre Einsicht in die sündige Verfassung der Welt und deren rhetorisch-dissimulatorischen Charakter wird durch den Wunsch nach affirmativer Nobilitierung und sozialem Aufstieg konterkariert. Sie alle leiden an dem Paradox von Politik und Moral, an der unausweichlichen Sündhaftigkeit der Welt, nachdem sie erkannt haben, daß die groteske Revolte nur ein anderer Weg ins Verderben ist. Ihre ausweglose Situation, die immer wieder zu scheiternden Eremitagen führt, ist aber auch die des Autors, der schließlich seine Texte nur noch als medicina mentis versteht; gegen die überall hervorbrechende Trostlosigkeit der Existenz entwirft Beer eine »Artzney«, die Autor, Erzähler und Leser ineinander figuriert und im Kreislauf von Zuhören-Schreiben-Lesen die Entfernung vom unbefriedigenden Leben entwirft. Der Abschied von der Welt als Vermeidung der Sünde und als Buße für begangene Sünden ist so Idylle, Utopie und Einsiedelei in einem: Utopie, indem der Erzähler die affirmative Standeserhöhung durchsetzt, die dem Autor versagt ist; Einsiedelei als weltferner, das heißt Stadt- und hofferner Ort, der durch Beimischung des Geselligen zur paradoxen Idylle wird. Diese ist paradox, weil in der Idylle das einsiedlerische, aufrecht religiös-bekehrende Motiv mit dem Geselligkeitsideal kontaminiert ist. Den Weg in diese Situation zu zeigen, ist die Aufgabe dieser Arbeit, die sich dabei auf die Herausbildung der Erzählerfigur konzentriert und am Leitfaden einer rhetorisch verstandenen Erzähltheorie vorgeht, denn die Welt des Romans ist bei Beer letztlich die Welt des Erzählers.

2.

Groteske Inventionen: Poetologie des frühen Erzählwerks

2.1.

Satirische Groteske in den Rittererzählungen

2.1.1. Ritter Hopffen-Sack

(1677)

Ausgangspunkt der Analyse von Erzählhaltung und Erzählerfigur in Beers frühen Erzählungen ist neben dem umfangreichen Simplicianischen WeltKucker (1677-1679) die kurze Erzählung vom Ritter Hopffen-Sack (1677).1 Beide Texte gehören zeitlich und inhaltlich eng zusammen, denn der WeltKucker nimmt nahezu alle Textpartikel der Erzählung auf und kombiniert sie zu größeren Zusammenhängen, wobei er die satirische Intention durchgängig aufrecht erhält.2 Dabei erweist sich gerade die satirisch-kritische Absicht im Hopffen-Sack als irritierendes Moment, das im Welt-Kucker gleich zu Beginn aufgenommen wird und späterhin im Roman ausgiebig diskutiert wird. Anlaß für die Apologie des Satirischen in der Zuschrift des Ritter Hopffen-Sack ist dabei offensichtlich die Szene der Kantorwahl, deren Teilnehmer für die Rezipienten im Umkreis Beers, für die er, wie sich vermuten läßt, vornehmlich schreibt, einfach zu identifizieren sind.3 Der Text des Ritter Hopffen-Sack gliedert sich recht einfach in vier Teile: die ironische Exposition der Rittergeschichte bis zur Etablierung des Mär-

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[Johann Beer] Der Abentheuerliche/ wunderbare/ und unerhörte RITTER HOPFFEN=SACK VON DER SPECK=SEITEN/ Bestehend: In allerhand Begebenheiten/ zerrissener Castellen/ Einöden/ Gespenstern/ Abentheuern/ Duellen/ Turnieren/ Verzauberungen und dergleichen [...] [1677]. Zitiert mit der Sigle HS in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 2. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. [u. a.] 1992a (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 2). Den satirischen Charakter der Erzählhaltung hat als erster Hans-Gert Roloff deutlich herausgestellt. »[...] in Wahrheit ist der Hopffen-Sack aber eine Traumdichtung satirischen Charakters« (Hans-Gert Roloff: Der verparenthesirte Geist des jungen Beer. In: Grenzerfahrung - Grenzüberschreitung. Studien zu den Literaturen Skandinaviens und Deutschlands. FS P. M. Mitchell. Hg. v. Leonie Marx u. Herbert Knust. Heidelberg 1989, S. 40-56, Zitat S. 50). Die folgende Analyse bestätigt Roloffs Einschätzung auch inhaltlich. Zum Feindbild des Kantors und seiner autobiographischen Quelle: Manfred Kremer: Der Kantor im Werke Johann Beers. In: Modern Language Notes 88 (1973), S. 1023-1029, zum Kantor im HS: Roloff (1989) 50-52.

10 chenmotivs des Wunschrings (HS: 1 1 - 1 6 ) , die Kantor-Szene (HS: 1 7 - 2 4 ) , die Turnier-Szene (HS: 2 4 - 2 8 ) , satirische Episoden (HS: 2 8 - 3 1 ) , Verlust des Rings und Narrenexistenz (HS: 3 1 - 3 4 ) , Zurückgewinnung, Gefängnis und Exekution (HS: 34) und schließlich das Erwachen aus der Traumvision (HS: 34). Mit Ausnahme des Wunschrings finden sich alle Elemente im WeltKucker wieder, am prominentesten aber das Motiv der unzüchtigen Liebe, die zu Gefängnis und Tod führt. 4 Dieses Motiv ist im Hopffen-Sack noch mit dem Märchenelement des Wunschrings und dessen Verlusts durch Offenbarung des Geheimnisses verbunden. 5 Das Märchenhafte 6 verblaßt im späteren Werk Beers und wird von der Ritter-Topik aufgenommen und durch gezielte Stilbrüche entwertet. In Beers erster Erzählung ist das Wunschmotiv bereits reines Hilfsmittel zur Darstellung des Satirischen, vor allem zur Begründung der grotesken Darstellungselemente. 7 Die Exposition der Erzählung ist dabei in jeder Hinsicht von sekundärer Bedeutung: Beer nimmt die Ritterromane und ihre Bildlichkeit in rein spielerischer Absicht zum Ausgangspunkt, ohne 4

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Für den Simplicianischen Welt-Kucker hat Jörg Krämer dieses Handlungsmuster beschrieben: Krämer (1991) 109ff. Er bezieht es auf den antiken Liebesroman, den er mit Bachtin als »Prüfungsroman« charakterisiert. Leider verfolgt er an dieser Stelle weder die Frage nach dem Zusammenhang »niederer« Texte und höfischem Handlungsmuster noch den Hinweis auf Bachtin. Beer denkt hier offensichtlich an den Fortunatus (1509), dem er nicht nur das Motiv des verlorenen Rings entnimmt, sondern auch die Begründung durch das körperliche Begehren. Der Fortunatus kann als ein einflußreiches Vorbild für Beers gesamtes Schaffen gelten. Zum Märchenhaften vgl. Max Lüthi: Märchen. Stuttgart 1962 (Sammlung Metzler, 16) und ders.: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 2., durchges. u. erw. Aufl. Bern, München 1960 (11947) (Dalp-Taschenbücher, 351). Dort ist die weitergehende Literatur verzeichnet. Zum Grotesken vgl. vor allem das Kapitel zum Narrenspital und zur WillenhagDilogie. Hier kann zunächst nur auf die einschlägige Literatur summarisch verwiesen werden: Den besten Überblick in kritischer Wertung bietet Christian W. Thomsen: Das Groteske und die englische Literatur. Darmstadt 1977 (Erträge der Forschung, 64); s.a. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. u. mit einem Vorwort von Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1987, im folgenden zitiert mit der Sigle BR\ Walter Blank: Die Entstehung des Grotesken. In: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hg. v. Wolfgang Harms u. Leslie P. Johnson. Berlin 1975, S. 35 -46; die von Otto F. Best herausgegebene Sammlung: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980 (Wege der Forschung, 394); Lee Byron Jennings: The Ludicrous Demon. Aspects of the Grotesque in German Post-Romantic Prose. Berkeley, Los Angeles 1963 (University of California publications in modern philology, 71); Frances K. Barasch: The Grotesque. A Study in Meanings. Den Haag 1971 (De proprietatibus litterarum, Series maior, 20); Hans-Peter Erlhoff: Groteske Satire und simplicianische Leidenschaft. Eine Untersuchung zur Literaturtheorie des 16. und 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., Bern 1988 (Europäische Hochschulschriften 1,1028) und Geoffrey Galt Harpham: On the Grotesque. Strategies of Contradiction in Art and Literature. Princeton 1982; Anne Leblans: Grimmelshausen and the Carnivalesque. The Polarization of Courtly and Popular Carnival in Der abenteuerliche Simplicissimus. In: MLN 105 (1990), S. 494-511 bringt eine Bachtinsche Lektüre Grimmelshausens.

11 eine Literaturparodie zu intendieren, und selbst die Turnierszene mit ihren karikierenden Zügen geht im Grotesken unter, ohne spezifisch Parodistisches zu bieten. 8 Der Hauptcharakter der Erzählung ist, wie die KantorSzene eindeutig demonstriert, satirisch mit invektiven Zügen. Der Gebrauch des Rings als Märchenrequisit führt, anders als in Grimmelshausens Vogelnest, zu keiner perspektivischen Anreicherung und inhaltlichen Pointierung, sondern dient im Rahmen der Traumvision nur als Mittel gesteigerter Groteske. 9 Der Erzähler nutzt die Zauberkraft des Rings ausschließlich zu pennälerhaften Streichen und zur handgreiflichen »Verwirklichung« seiner grotesken Phantasie; so läßt er es »Sauerkraut und Wasserstiefel durcheinander« regnen und verwandelt die Umstehenden in Hopfensäcke und dergleichen mehr. 10 Die Bedeutung des Ritter Hopffen-Sack liegt in der Etablierung des IchErzählers, der Satire und der typischen Liebeshandlung, die dann vor allem den Welt-Kucker dominiert. Die satirischen Ziele sind zum Teil nur für Beer charakteristisch und streifen die Personalinvektive (Kantorszene), oder aber sie repräsentieren traditionelle Vorstellungen wie die herbe Kritik am Standesdünkel und den Modenarren, während die Handlungstypik der unmoralischen Liebe zur Grundfigur auch der späteren Romane wird. Im HopffenSack allerdings tritt das Motiv der bestraften Leidenschaft noch im Zusammenhang mit dem märchenhaften Wunschring auf, der dem Erzähler Freiheit, Macht, Reichtum und Ubiquität verschafft. Last aufstehen den gelehrten Themosthenem, es komme der beredte Cicero aus seinen Grab nicht mit einer sonder tausend Zungen hervor/ so wird doch keiner unter beyden meine grosse Freude mit sattsamen Worten darstellen können. Wer war glückseliger als ich? in dem ich nunmehr zu wündschen hätte/ was mein Hertz verlangte. (HS: 16)

Es ist typisch für Beer, das Bewußtsein der Macht sprachlich zu feiern, und es ist für ihn charakteristisch und nicht unrealistisch, die Unfähigkeit zur 8

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Die Theorie der Literaturparodie geht auf Alewyn (1932) 129 zurück und wird von Hartl (1947) und James N. Hardin weitergeführt (Johann Beers Parodie Printz Adimantus. In: Akten des 5. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. H. 3. Hg. v. Leonard Forster u. Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt a.M. 1976 [Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A, Kongreßerichte 2], S. 82-89). Damit ist auch die äußerst schmale Sekundärliteratur zu den frühen Erzählungen bis zum Corylo genannt. Hardins Behandlung der Rittergeschichten in seiner Beer-Monographie von 1983 (James N. Hardin: Johann Beer. Boston 1983b [TWAS, 689], Chivalric Parodies, S. 1 6 - 2 4 ) bringt nichts Neues zum Thema. Die Märchenkonditionen um den Ring und das Wunschrequisit selbst spielen keine weiterführende Rolle; anders im Vogelnest Grimmelshausens, wo das Nest integraler Bestandteil der Erzählhaltung ist. Dazu: Andreas Solbach: Grimmelshausens verborgener Erzähler. Das Gyges-Motiv erzähltheoretisch gedeutet. In: Simpliciana 15 (1993), S. 207 -227. Die Mechanik dieser grotesken »Inventionen« wird weiter unten (Kap. 2.1.5) für den Pokazi (1679) analysiert.

12 rhetorisch adäquaten descriptio zuzugestehen: Es fehlen die »sattsamen Worte«. Doch zwischen den Erwerb des Rings und die folgende KantorSzene hat Beer einen Absatz eingefügt, in dem der Erzähler seine neue Macht demonstriert, indem er »einige Proben« ablegt. Diese Passage ist um so bedeutender, als sie die direkte und unverstellte Lust an der Macht illustriert, denn sie antwortet auf die Frage, was dem wünschenden Erzähler am wichtigsten scheint. Aus dem Märchenmotiv der drei Wünsche wird deutlich, daß die restriktive Objektwahl und die Sublimation materieller Phantasievorstellungen besonders wichtig sind, doch das scheint den Beerschen Erzähler gar nicht zu betreffen. Die Konditionen der Wunscherfüllung bleiben im Ritter Hopffen-Sack ein blindes Motiv, das auf die Herkunft aus der Märchentradition verweist. Der Erzähler wünscht sich so zuerst nach Konstantinopel, wo er dem Kaiser »eine dicke Ohrfeige« gibt, anschließend läßt er in einem »grausamen Wald« vierundzwanzig Mörder aufeinander einschlagen, nachdem er sie zuvor durch angehängte Mühlsteine immobilisiert und verspottet hat. »[HJierauf wündschte ich sie zu Kratzbürsten/ bald wieder zu Trummelschlägern/ bald zu Ofengabeln/ bald zu Eichhörnern und dergleichen/ biß ich sie endlich gar an den Galgen anhängte« (HS: 17). Der Erzähler als Vigilante evoziert dabei keineswegs die moralischen Bedenklichkeiten wie bei Grimmelshausen im Vogelnest, und die ziellose Wunschproduktion des phantasierenden Erzählers verweist denn auch konsequent auf deren wahre Grundlage: das Prinzip der irrationalen, funktionslosen Reihung bestenfalls assoziativer Elemente. Die einzelnen Wunschphantasien lassen sich oftmals in einem sekundären Bezugsrahmen lokalisieren, untereinander allerdings sind sie beziehungslos. Dabei machen sich einige assoziative Verfahren deutlich bemerkbar, wie das persönlich gefärbte Ressentiment und die wiederkehrende Szene (vergeltender) Macht. Am bedeutendsten ist aber zweifellos der dominante Sprach- und Bildcharakter der erzählerischen Phantasien Beers. Im Ritter Hopffen-Sack setzt sich an keiner Stelle ein Machtprinzip durch, sondern die spielerische Verwandlung absoluter Verfügbarkeit in die Sprach- und Bildgroteske dominiert. Die mannigfachen Verwandlungen der herbeigezauberten Mörder werden nicht durch den moralisierenden Vergeltungswillen gesteuert, denn sie sind nur am Beginn funktionalistisch, indem sie die archetypischen Mörder, durch die angehängten Mühlsteine gebunden, in die Situation der hilflosen Opfer manövrieren. Aber hier hört bereits jede logisch nachvollziehbare Zielgerichtetheit der Szene auf; der Erzähler verspottet sie, um sie dann aufeinander einschlagen zu lassen, womit die Freude am grotesken Bild zum Leitinteresse wird. Die folgenden Verwandlungen sind deutliches Resultat der sprachlichen AntiLogik des Erzählers, der wahllos Gegenstände reiht, deren einzige Bedingung darin besteht, nichts mit einander zu schaffen zu haben. Daher ist auch die Hinrichtung am Ende keine »Strafe«, sondern eine reine Konventionslösung, um diese bestimmte groteske Sequenz zu beenden. Auch die phanta-

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stische Verwandlungs- und Wunschorgie am Ende der Turnierepisode reproduziert das Schema der zusammenhanglosen und zweckfreien irrationalen Assoziationskette grotesker Bild- und Sprachelemente. Gegen den Reiz der sinnwidrigen Collage des Kontingenten unterliegt bei Beer noch jede Phantasie der totalen Verfügbarkeit der Welt; die Möglichkeit der Inszenierung seiner literarischen Anarchie ist ungleich verlockender als die Exekution eines sinn-, zweck- und formgebundenen Plans. Die groteske Wut der Ordnungslosigkeit erhält sich im Werk Beers bis an das Ende: In einigen Romanen, wie im Pokazi, geraten der Erzähler und sein Autor geradezu außer sich in der besessenen Kompilation divergenter Realitäts- und Phantasiefetzen, ohne jedoch das Gesetz der Rhetorik wirklich hintergehen zu können. Dieser Un- und Anti-Logik des Grotesken steht eine recht einfach zu analysierende Handlungsstruktur zur Seite, deren Verhältnis zur kontingenten Assoziationshäufung in einem späteren Kapitel erläutert wird. Es handelt sich um die zuletzt von Krämer beschriebene typische Handlungssequenz: »Liebesabenteuer - Gefangenschaft - Flucht/Befreiung« (Krämer [1991] 113). Dieser im Hopffen-Sack sehr gedrängten Schlußsequenz geht eine Passage voraus, die den Verlust des Wunschrings beschreibt und ihrerseits von einem moralischen Kommentar präludiert wird: Kein Mensch, so der Erzähler, könne sich der Macht der Liebesleidenschaft entziehen: Diese angebohrne Liebe nun/ so fern ich sie rechtmässiger Weise gebrauchet/ solle sie gar zulässig gewesen seyn/ demnach ich aber wider alle Erbarkeit gehandelt/ ist sichs nicht zu verwundern/ daß ich dadurch umb meine ganze Fortun gekommen. (HS: 31)

Der Erzähler verliebt sich in »eine hohe Standesperson« und verspielt seinen Wunschring durch die Offenbarung seiner Zauberkraft. In dieses Märchenund Volksbuchmotiv sind heterogene Elemente eingeschlossen: die unehrbare Liebe zu einer hohen Standesperson, eines der späteren Zentralmotive Beers, wie auch die Verknüpfung der Standesschranke mit der Leiblichkeit der Begierde und deren dissimulatorischen Verfahren. Beer setzt dies in die Bildlichkeit von blinder Liebe und Heimlichkeit des Zaubers um: Ich verschertzete meine Wohlfahrt durch ein augenblickliches Ergetzen/ und stiirtzte mich durch einen vergänglichen Rauch in eine grosse Ghith/ welche mich umb so viel hefftiger brante/ als unverhofft er mich überfallen. [...] also verspricht die Begierde sehr viel/ aber sie helt wenig/ sie macht aus einem Stäublein einen hohen Berg/ und siehet alles mit blinden Augen an/ [...] und was sie thut/ thut sie mit Betrug. (HS: 31)

Der Erzähler verliert durch sein unbedachtes Handeln und die fehlende Leidenschaftskontrolle sein phantastisches Glück und wird auf den status ante reduziert. Die Verzweiflung angesichts dieses Verlusts wird durch das unverdiente Glück des Erwerbs noch gesteigert: Dem Erzähler erwächst der Zauber von Macht, Freiheit und Reichtum nicht als Resultat vorbildlichen Verhaltens oder besonderer Meriten, sondern als wesentlich Zufälliges. Die

14 sprichwörtliche Volksweisheit, daß Fortuna auf der Seite dessen steht, der sie nicht verfolgt, reproduziert nur die »politische« Doktrin, die einzige Möglichkeit zur Durchsetzung seiner Absichten sei ihre Verbergung: Der Schein des Interesselosen wird durch den Erfolg belohnt. Dem märchenhaften Sieger drohen nun allerdings ähnliche Gefahren wie dem Hof-Politicus, der sich nach dem Erwerb der Macht die Frage nach deren Erhalt stellen muß, und für den Politicus wie den Märchen- und Volksbuchhelden ergeben sich dieselben Verhaltensmaximen der fortgesetzten Dis/simulation und Sublimation. Beers Erzählheld gerät dabei in die traditionelle Falle des leidenschaftsverfallenen Kontrollverlusts mit der Konsequenz der Degradierung zum Pikaro: Arbeiten mocht ich nicht/ zu betteln schämt ich mich/ gelernet hatte ich nichts/ kein Geld hatte ich/ stehlen durfft ich nicht/ das Herren=Handwerck kunt ich nicht/ mit einem Wort es war aus/ es war aus/ es war aus. (HS: 32) 11

Der entzauberte Erzähler wird so zum Vaganten und findet schließlich eine Anstellung als Lakai auf einem Schloß. In selbstkritischer Erinnerung an die Turniergäste, die er zum Spott in Hopfensäcke verwandelt hatte, nennt er sich nicht mit seinem Namen Cirikukes, sondern Hopfensack und drückt so die Einsicht in sein Narrentum aus. Die Selbstbeschreibung des Erzählers als Narr wird durch seine folgenden Handlungen weiter belegt: Er agiert als ein »halber Iucundanz« und verübt eine Reihe typischer Jungenstreiche. Die hier deutlich werdende Infantilisierung des Erzählers deutet dabei bereits auf das Ende der Erzählung hin, an dem sie als Schülertraum entlarvt wird. Das Bedenken nach dem Verlust der Zauberkraft zitiert die kasuistische Überlegung, daß der Zauber auch zur Vermeidung der Herkunftsfrage hätte verwendet werden können und bricht so den Zusammenhang des literarischen Motivs, dem derartige spitzfindige Rationalisierungen fremd sind. Die11

Ganz ähnlich im Narrenspital·. »Was meinet ihr/ daß endlich aus mir werden wird/ ein Strassenräuber und Dieb/ der nicht den Narren=Spital sondern den Galgen zu fürchten hat. Das müssiggehen gewohne ich/ nichts lerne ich/ fressen wil ich/ ernehren kann ich mich nicht/ arbeiten mag ich nicht/ darum saget mir ob ich nicht sammt euch der gröste Narr von der Welt sey?« [Johann Beer] Der Berühmte NARREN= SPITAL/ Darinnen umschweifflg erzehlet wird/ was der faule Lorentz hinter der Wiesen vor eine liederliches Leben geführet/ und was vor ehrliche Pursche man im Spital angetroffen habe. Denen Interessenten zum besten/ männiglich aber zu Verkürtzung der Melancholischen Stunden beschrieben und heraus gegeben [...] 1681. Zitiert mit der Sigle Ν in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 5. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1991 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 5). Zitat Ν: 208. Diese Stelle im Narrenspital belegt die ernsthafte Moralisationsabsicht, die sich analog auch im Hopffen-Sack findet, worauf zuerst Roloff hingewiesen hat: »Geht man so nah an den Text heran, so zeigt sich unschwer, in welchem Maße er ernst genommen werden will. Auch er verarbeitet auf seine Weise das große Thema der Zeit: die moralische Unzulänglichkeit der Menschheit, ihre Fehler, Sünden und Begierden« (Roloff [1989] 56). Vgl. dazu HS: 32t

15 ser Bruch setzt sich sogleich in weiteren Stilbrüchen fort, die das topische Motiv um die Verlustklage ironisch untergraben und ins Lächerliche ziehen. Ach ich unglückseliger Mause=Kopf£/ ich Narr/ ich Flegel/ ich Ertz=Bernhäuter/ was hab ich gefacirt, was hab ich incipere, wie hab ich so schrecklich errare? mein Hertz möchte mir in tausend Stücken zerlacerare, so ich noch zurück cogitire/ wie schändlich ich meine Glückseligkeit itatem verschertzet habe. (HS: 31)

Die Doppelsträngigkeit des Textes tritt streckenweise deutlich hervor, aber es gelingt Beer, trotz seiner Spiele mit dem Fiktionscharakter, 12 die Erzählerfigur als bizarren Pikaro zu charakterisieren, ohne an dieser Stelle gänzlich unglaubwürdig zu werden. [A]lso lebte ich in grosser Tortur, und sähe aus wie ein zerrupffter Fuchsschwantz um Weinachten/ so gar daß ich mich offt selbsten von hertzen ausgelacht/ und eine halbe Comedia mit meinem Bettelstock geagirt, dann das gestehe ich so schlim und wiederwärtig es mir auch gegangen/ Hesse ich doch mein lustiges Gemüth niemals aus meinen Gräntzen verjagen/ welches gnug ist den armseeligsten Menschen in allem Wiederstand zutrösten. (HS: 33)

Erst nach der Rückverwandlung des Pikaro gewinnt der Zauberring seine Kraft zurück, denn als der Erzähler bei Betrachtung eines »schönen Fräuleins« sich zu ihr ins Bett wünscht, geht sein Wunsch unerwartet in Erfüllung. Die Wiedererlangung der Zauberkraft kann aber auch nur doppeldeutig angelegt sein, denn sie begründet sich ganz atypisch durch die unverstellte karnale Begierde. Die folgende Textpassage belegt denn auch deutlich die Parallelität von »rationaler« Handlungslogik und ironisierender, anti-logischer Komik: [U]nd nachdem man mich bey dem Fräulein erwischet/ nähme man mich gefangen/ kurtz drauf wurde ich sieben mal nacheinander geexaminiret/ und weil man mich in der Aussage wegen des tugendreichen Ringes vor einen Zauberer gehalten/ wurde ich dazumal zum Feuer verdamt/ durch grosses Bitten aber ward mir das Schwerd zuerkand/ also schmiß man mir die folgende Woche drauf als den 1. Apr. A. 1. und zerreis mich nicht/ nehst vor der Stadt bey dem Rabenstein/ in ansehn vieler Personen/ die es noch bezeugen werden/ auf 2. Streich den Kopff herunter/ und wie ich erwachte wars ein lauter Traum. (HS: 34)

Die Märchenziffer und der Verweis auf den ersten April sind bereits klare Indikatoren für die unernste Grundverfassung der Handlung, die durch fiktionsbrechende Mittel - der Autor benennt Zeugen seines eigenen Todes zusätzlich betont wird. Das abschließende dénouement als Schülertraum ist dabei nur ein Mittel der Klassifizierung des Textes, dessen grotesk-ironische Anti-Logik sich keinen Gattungsgesetzen beugt. Die Traumfiktion am Ende ist das erste in einer Reihe späterer Rettungsmanöver, die durchaus geplant sein können, um die extreme Unwahrscheinlichkeit der fiktionsbrechenden Stilmittel zu rechtfertigen, denn der Autor begnügt sich nicht damit, die

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Vgl. HS: 33.

16 Handlungslogik mehr oder minder subtil durch Ironie und Komik zu destabilisieren, sondern er bedient sich krasser grotesker Stilmittel, die in ihrer Hypertrophie den »eigentlichen« Text zum Teil destruieren. So ist der Ritter Hopffen-Sack keineswegs eine Melange heterogener Erzählpartikel, sondern die Abbreviatur typisch Beerschen Erzählens: Die einleitende Ritterfiktion erweist sich als literarisches Spiel und blindes Motiv, das in eine Märchen- oder Volksbuchhandlung münden könnte, die jedoch auf der Stelle dementiert wird, um in der Kantor-Szene autobiographisch inspirierte Satire zu werden. Aber auch dieser Erzählstrang wird nicht fortgesetzt, denn auf die Groteskerien der Turnierszene folgt Beers typische Liebeshandlung, die durch gezielte Stilbrüche und ironische Einschlüsse unwirksam gemacht wird. Die Frage nach dem allen disparaten Textsequenzen gemeinsamen Element kann daher nur als formale Erzählstrategie eines Erzählers verfolgt werden, deren Prinzip das der ironischen Brechung ist. Dabei zeigt sich nicht nur, daß jedes Textsegment in sich ironisch behandelt wird, sondern auch, daß die Konstruktion des Gesamttextes Ausdruck der Erzählerironie ist. Die Figur des Erzählers muß unter diesen Voraussetzungen von ganz besonderem Interesse sein, denn nur in ihr manifestiert sich der Textzusammenhang über die disparaten Elemente hinaus. Gerade in dieser Hinsicht jedoch ist der Ritter Hopffen-Sack wenig aufschlußreich: Der Ich-Erzähler gewinnt erst gegen Ende der Erzählung einige Konturen, die ihn als Quasi-Pikaro, Vaganten und närrischen Lakaien zeigen, bevor er sich als phantasierender Schüler zu erkennen gibt. Die Metamorphosen des Erzählers als erzähltes Ich beschreiben dabei den sozialen Raum der zukünftigen Helden Beers als landfahrende oder -flüchtige, oft elternund mittellose junge Männer ohne Beruf, aber mit schneller Auffassungsgabe und lebendigem, kritischem Geist. Das erzählte Ich im Ritter Hopffen-Sack zeigt dagegen keine besonders ausgeprägte Charakteristik: Bis zum Verlust des Zauberrings tritt es als Handelnder kaum hervor, und im Anschluß daran regrediert es zur pikarischen Narrenfigur ohne weitere Entwicklungsmöglichkeit. Doch trotz der Eindimensionalität des erzählten Ich hinterläßt der Text den Eindruck der außerordentlich starken Präsenz des Erzählers, und in der Tat sind die Anteile des erzählenden Ich ungleich größer als die des erzählten. Die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich macht sich dabei schon durch die Traumfiktion kaum geltend, und es läßt sich auch kaum eine dissonante Haltung feststellen. Die Charakteristik des erzählten Ich wird dabei vornehmlich durch die indirekte Rede und zusammenfassende Kommentare angedeutet, wobei es dem erzählenden Ich ausschließlich als bildhafte Illustration einer Moritat dient. Das Erzählen des erzählenden Ich ist so Gegenstand der Erzählung, die sich der schablonenhaften Projektion des erzählten Ich nur als Stereotyp bedient. Gibt es dann überhaupt eine Verbindung von erzähltem und erzählendem Ich? Und worauf zielt das Erzählen des Erzählers? Der »Normalfall« auto-

17 biographischen Erzählens als Lebensbericht eines erfahrenen Erzählers setzt die Identität von Erzähler und Figur voraus, die im Hopffen-Sack rein abstrakt bleibt und durch die Traumfiktion fraglich wird. 13 Der Traum aber ist für die ungewöhnliche Distanz im Atmosphärischen zwischen Erzähler und erzähltem Ich verantwortlich, denn hier erzählt der Erzähler von sich selbst gleichsam wie von einem Fremden, so daß nur eine oberflächliche Ähnlichkeit entsteht. Der Inhalt des Traumes jedoch ist dem Erzähler nichts anderes als Schautafel seines moritatenhaften Erzählens, er ist das Material zur Verwirklichung seiner grotesken, assoziativen Sprachlaunen und seiner handlungszersetzenden Anti-Logik. Erzähler und Figur sind so nur virtuell identisch, bis die Enthüllung der Traumfiktion sie auseinanderreißt und die Figur als Fiktion des erzählenden Ich erweist. Der Erzähler manifestiert sich derart nur in seinem Erzählen als phantasievolle Invention, die neben allen anderen Konstruktionselementen des Textes auch das erzählte Ich vereinnahmt und ihm alle Handlungsdimensionen beschneidet. Im Rahmen einer Traumfiktion schafft sich Beer als Autor eine Erzähldistanz, die sich zwar einerseits als Ich-Erzähler manifestiert, aber andererseits ihre figurale Erscheinung im Text selbst als Invention des Erzählers entlarvt. Ist so alles in der Erzählung Erfindung des Erzählers, ist es gleichermaßen reines erzählerisches Spiel, dem alles Erzählte sprachliches und gedankliches Spiel ist. In diesem Sinne ist das Prinzip der erzählerischen Invention die erzählende Ironie, die das Erzählen durch Ironie als Erfindung bestätigt: Indem jede Passage des Textes ironisch gebrochen erscheint und auf diesen Zustand hinweist, entschlüsselt sich das Erzählen als fingierende Invention und Kreation eines Erzählers sans pareil. Nichts ist vor diesem Erzähler sicher, der in seinem Erzählen alles zugleich erschafft und als Fingiertes destabilisiert: Die erzählerische Invention Beers feiert sich so selbst als Zauberring der kreativen Phantasie und der kruden Komik des Grotesken. Die Phantasieproduktion des Erzählhelden verweist aber in ihrem tollen Taumel der Metamorphosen nicht nur auf das Grundprinzip der irrationalen Anti-Kausalität, sondern sie berührt auch zeitgenössische Ideologeme, die als eine feindliche und unzerstörbare Macht in den Raum der freien Einbildungskraft hineinragen. Der Verlust des Imaginations- und Verwandlungsvermögens markiert den Stillstand der Geschichte und den Einbruch des moralisierenden Kommentars. Wie die Ungetümen Drachen der Rittergeschichten bauen sich handlungslogische Sequenzen vor dem erzählten Ich auf, das in deren Gravitationsfeld in Sinnstrukturen gepreßt wird, denen es nur als unsinn- und widersinnstiftender Iucundanz entkommen kann. Der Grund für die Vertreibung aus dem Phantasieparadies grotesker Anti-Logik ist jedoch die Leidenschaft der begehrlichen Liebe. Es ist nicht zu weit gegrif13

Zur erzähltheoretischen Diskussion s. Stanzel (1982) und die Analyse der Ich-Erzählung in Solbach (1994b). Dort auch die einschlägige Literatur.

18 fen, dem Reich der logischen Handlungszwänge, der Sublimationen und moralischen Kommentare den Namen der Welt zu geben und für das Reich der grund- und zwanglosen Phantasie die Kindheit zu reservieren. Dies gilt, wenn auch nicht im strikten Sinne beweisbar, für Beer; ohne Einschränkung aber für seine jugendlichen Helden. Beers Ritter Hopffen-Sack beschreibt so nicht nur die Domänen von Phantasie und Logik, sondern auch deren Macht und Gefährdung: der rücksichtslosen Einfalt anti-logischer Verwandlungsexzesse und dagegen der rigiden Zensur kommentierter, kausaler Handlungssequenzen. Dabei entsteht als Meta-Text hinter dem (Un-)Sinn der Erzählung eine Poetologie, deren Prämissen sich in allen Texten Beers verfolgen lassen. Es zeichnet sich in dieser frühen Erzählung das Gegeneinander von pikarischem Lebensentwurf und grotesk-ironischer Episode ab, das sich auch als Polarität von kausalem Erzählen und anti-kausalem Fiktionsbruch beschreiben läßt. Der grundsätzliche satirische Charakter von Beers Texten oszilliert dabei zwischen diesen beiden Polen, je nachdem welches Objekt sich das erzählende Ich vornimmt, wobei oftmals ein narrativ-handlungstypischer Beginn zur Groteskerie wird, die die satirische Intention entwertet. Der Erzähler erweist sich so im Verlauf der Erzählung deutlich als »unreliable« 14 und Träger einer phantastischen Erzählironie, deren groteske Verfassung sich in ihrer Künstlichkeit manifestiert, denn ihre wesentliche Funktion liegt in der konsequenten Entwertung der Handlungslogik. Der Ritter Hopffen-Sack markiert aber insofern einen Extremwert, als er in der spezifischen Erzählsituation den Erzähler als quasi-autonomen »Vater des Buchstabens« 15 etabliert, dessen Welt Resultat seiner gegenläufigen Diskurstypen ist. Das Verhältnis der Typen des sinnstiftenden und handlungskonstituierenden Diskurses gegen den des sinnauflösenden, subversiven des Grotesk-Ironischen wird in den späteren Werken Beers jedoch präsent bleiben und ihre Architektur determinieren. Dort findet sich auch die ausformulierte Erzählsituation eines Ich-Erzählers, der sich der Identität mit dem dargestellten Ich nicht mehr entziehen kann.

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Die klassische Definition des unzuverlässigen Erzählers findet sich in Booth (1961) 339-399. Mit diesem Epitheton bezeichnet Piaton den Autor der Schrift, der, anders als der lebendige Dialogpartner, nicht mit seinem Leser kommunizieren kann. Die somatische Schrift- und Rhetorikkiitik in ihrem Verhältnis zur Erzähltheorie ist behandelt in: Solbach (1994b).

19 2.1.2. Prinz Adimantus

(1678) und die Kategorie der Invention

In diesem Zusammenhang müssen auch die beiden anderen Rittergeschichten Beers, Prinz Adimantus16 und Ritter Spiridon,17 betrachtet werden, denn sie stützen und erweitern die hier vorgetragene Analyse. Vor allem jedoch sind sie wichtig, weil sie, neben ihrem Einfluß auf den Welt-Kucker,18 am Anfang von Beers Schaffen als markante Beispiele für den Verzicht auf die Ich-Erzählform dienen können. Ihre inneren Zusammenhänge, abgesehen von der Gleichzeitigkeit des Entstehens, sind in den Texten durch mannigfache Querverweise, Selbstzitate und gemeinsame Protagonisten belegt, wobei die zentrale Rolle des Hopffen-Sack deutlich wird, denn dieser erste Erzählversuch dominiert die folgenden Arbeiten in jeder Beziehung. Der Prinz Adimantus wird zwar erst im Spiridon handlungstechnisch beendet, aber die Figur des Ritters Spiridon selbst stammt aus dem Inventar des Hopffen-Sack, dessen satirische Intention und privater Hintergrund auf den letzten Seiten des Spiridon ausführlich diskutiert werden. Er dient jedoch auch schon davor als fiktionsbrechendes Selbstzitat (RS: 113) und wird ausführlich am Ende des vierten Buches diskutiert (RS: 146f.). Während der Adimantus in seiner Geschlossenheit ohne Verweise auf den wahrscheinlich gleichzeitigen Hopffen-Sack bleibt, zitiert der Spiridon bereits in der Zuschrift an Sebastian Mylius die beiden früheren Schriften und verweist am Anfang und am Ende auch auf den vierten Teil des Welt-Kuckers. Das Gefüge der intertextuellen Verweise erweist sich so als zeitliche Abfolge verschiedener Erzählmodi und -ansätze, die der Autor bereits Ende 1678 als synoptische Varianten sei-

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[Johann Beer] Printz ADIMANTUS und der Königlichen Princeßin ORMIZELLA LiebesGeschicht/ Worinnen ausführlich beschrieben wird Die wunderbahre Arth Des Verzauberten Castells in HIRCANIA. Voll von Ritterlichen und wundersamen Begebenheiten/ mit Abentheuren/ Gespenstern/ Schlössern/ Capellen/ Thürmen und dergleichen/ so vorhero nirgendswo gehöret worden. Worunter auch ein zimlicher Particul gantz neuer und noch niemahls gehörter Redens=Arthen mit eingetragen worden. [...] [1678]. Zitiert wird mit der Sigle PA in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 2. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1992a (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 2). [Johann Beer] Des Abentheuerlichen JAN REBHU RITTER SPIRIDON aus Perusina. In welchem nebenst lustiger/ und ausfuhrlicher Erzehlung dessen Liebs=Geschichte/ CASTRIP O LI des Printzens von FERASCA absonderliche Abentheuer erzehlet/ auch die wunderbare Historia des verzauberten Castels in Hircania ausgeführet/und sonst von allerley Begebenheit/ als Turnieren/ Ritterspielen/ Unterredungen/ Mord=Castellen/ Raubnestern/ Abentheuren/ Liebes=Discursen/ Einsiedeleyen/ Gespenstern/ und allerley dergleichen Sachen/ gedacht wird. [...] Gedruckt im 1679. Jahre. Zitiert wird mit der Sigle RS in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 2. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1992a (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 2). »Hiermit nehme ich schuldigen Urlaub/ und was ich in dieser Schrifft zu wenig oder zuviel gethan/ daß soll aufs nechste in meinem vierdten und letzten Theil des Jan Rebhù [...] fleißig ersetzet werden« (RS: 160).

20 nes Erzählens begreift. Dieser Befund muß nun zunächst an den poetologischen Kommentaren und an den Texten selbst überprüft werden. Die Zuschrift des Hopffen-Sack »an meinen sehr vertrauten Freundt/ Wolff Peter Rafgi de Gurgu« belegt eindrucksvoll die aus der invektiven Intention der Privatrache erwachsene allgemeine satirische Tendenz. Beer schreibt aus der persönlichen Erfahrung des Unrechts und provoziert eine privatistische Lesart in der direkten Ansprache an die nur notdürftig maskierten Freunde aus der Regensburger Zeit; 19 er ist sich aber gleichzeitig bewußt, daß er das satirische Exempel mit allgemeiner Bedeutung anreichern muß, um ein größeres Publikum interessieren zu können. Das Wissen eines Menschen ist hoch zu schätzen/ aber das nicht wissen wollen/ ist eine Seuche/ welche endlich von der Reue zugeheilet wird/ es sind aber sehr viel von dieser Kranckheit behafftet/ welche gläuben/ daß ihr Wollen ein recht vollkommenes Werck sei. Wann man einem übersehenden ein saubers Bild vorträgt/ so kan ers unmüglich judiciren/ ein blinder aber siehets gar nicht/ deßwegen verwundere dich nicht/ daß ich so grobe Farben auffgetragen/ denn ich wolte gerne/ daß man es greiffen möchte. (HS: 9) Beers Überlegungen sind hier allerdings so unspezifisch, daß es fast unmöglich ist, den Gegenstand seiner Satire aus dem Vorwort zu erkennen. 2 0 Der zitierte Hinweis auf die Wirkungslosigkeit der satirischen Belehrung steht dabei durchaus in der Tradition Grimmelshausens, 21 er scheint aber andererseits wiederum persönliche Erfahrungen zu verallgemeinern, wie der folgende obskure Hinweis (»Wer etwas im Zorn verübt/ der muß ausser demselben die Straffe erdulden« [HS: 10]) und vor allem die Diskussion im Spriridon zeigen. In einer auffallend langen Passage erörtern die mittlerweile nahezu funktionslos gewordenen Protagonisten den persönlichen Hintergrund der Satire im Hopffen-Sack, wobei erkennbar wird, daß der fiktive Jan Rebhu einen fiktiven »Stadt=Pfeiffer auf die Fuchtel« (RS: 157) gefordert habe, denn

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»Daß ich dir eine Abentheuer verehre/ geschieht darumb/ weil man mit uns sehr abentheuerlich verfahren hat/ der Verständige braucht nicht viel predigens/ und wer Hosen anträgt/ der weiß wo er sie zubinden solle« (HS: 9). »[M]ein Absehen ist dahin gerichtet/ damit ich einen ungewichsten Fidelbogen beschmieren/ und dir im Wercke weisen möchte/ was es sey im Kopff keinen Wirbel haben« (HS: 9). Peter Heßelmann (Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a. M., Bern 1988 [Europäische Hochschulschriften 1,1056]) entwirft seine Grimmelshausen-Interpretation anhand der vom Autor aus gesehenen fehlerhaften Rezeption seiner satirischen Intentionen. In seiner Arbeit zur Grimmelshausen-Rezeption nimmt er dieses Thema im größeren Zusammenhang einer breit angelegten historischen Studie wieder auf. Dort finden sich auch reiche Hinweise zu Beers Grimmelshausen-Rezeption: Simplicissimus Redivivus. Eine kommentierte Dokumentation der Rezeptionsgeschichte Grimmelhausens im 17. und 18. Jahrhundert (1667-1800). Frankfurt a.M. 1992 (Das Abendland, N. F., 20), S. 135-151.

21 Wo Verleumderey und Neid im Hertzen steckt/ da ist keine Courage, ein Resolut, und von aller Passion entferntes Gemiith ist allein Generös und unüberwindlich. [...] Ehrabschneidung ist dem Himmel zuwider/ und denen Mißgünstigen sind die Sterne feind/ doch haben die Thoren noch niemal so viel Verstand gehabt sich einer Bescheidenheit zu gebrauchen/ und wie sie gehandelt haben/ so hat man ihnen wieder gelohnet. (RS: 157f.)

Es scheint, als ob Rebhu (Beer?) mit der Duellforderung, der der »Stadt= Pfeiffer« nicht folgt, und der literarischen Privatinvektive auf die vorhergegangene Verleumdung und Ehrabschneidung reagiert. Der Grund für die Auseinandersetzung liegt aber offenbar in einem vorangegangenen Disput, in dem Rebhu, dessen Rollensprecher Spiridon ist, sich als Verteidiger eines anderen Musikers zeigt,22 worauf dann der Angriff des »Stadt=Pfeiffers« im Zorn erfolgt. Der banale Hintergrund enthüllt sich demnach als Auseinandersetzung um die korrekte und respektvolle Behandlung von Musikern durch ihre Vorgesetzten, die Rebhu in seinem oder im Namen eines anderen beginnt, worauf er im Zorn von dem kritisierten »Stadt=Pfeiffer« verleumdet wird. Es läßt sich nicht entscheiden, ob die Duellforderung realistisch ist, die ausführliche Diskussion ihrer Legalität läßt es jedoch vermuten. Es scheint, als ob eine Entschuldigung der Forderung die Spitze abgebrochen hat, die Rebhu allerdings als unzureichend und unglaubwürdig betrachtet und zum Ausgangspunkt seiner invektiven Rache nimmt. 23 Die Berechtigung zu einer derartig motivierten Satire steht deutlich im Vordergrund der Diskussion des Hopffen-Sack, dessen Kantorsatire im Mittelteil der Erzählung sich damit als vordergründig persönlich entlarvt. Es ist jedoch auffällig, wie drastisch Beer nicht nur sein Recht auf Rache verteidigt, indem er sein privates Anliegen zur allgemeinen Satire nobilitiert: Gerade die Schärfe der Formulierung läßt das invektive Privatinteresse durchschimmern. Spiridon beklagt die mangelnde Härte der satirischen Strafe: [H]ätte ich die Feder in der Hand geführet/ ich wolte noch weiter um mich herum gehauen haben/ es muß nur zugeschlagen seyn/ die Kerl fühlens nicht wann man sie mit Fuchs=Schwäntzen schlägt/ Knüttel vor sie/ Stecken vor sie/ qualis labor, talis merces, wer übel arbeitet/ bekommet einen schlimmen Lohn [...]. Similes similia decent, grobe Hörner gehören auf einen groben Ochsen. (RS: 157)

Obgleich es für Beer offensichtlich ist, daß die satirische Darstellung oftmals zu keiner Besserung führt, will er sie dennoch als Mittel der Abschreckung einsetzen; Abschreckung durch Abstrafung scheint seine ungewöhnliche poetologische Maxime zu sein: Aber es soll doch darum die Straffe nicht aufgehoben/ sondern dadurch der Menschen Thorheit männiglich offenbahr gemacht werden/ auf daß aufs wenigste andere erkennen lernen/ wie schändlich es sey/ nicht auf das Zukünfftige gedencken. 22 23

Vgl. RS: 159. Vgl. RS: 159.

22 Er mag es gleich erkennen oder nicht/ so siehet er doch seine Straffe für der Nase/ und ist um so viel elender/ weil er seine Fehler für wohl gethan schätzet/ und also aus einer Grube in die andere fället/ welches ein Vorboth des ewigen Verderbens ist. (RS: 147)

Dieses Argumentationsschema, das die exemplarische Abstrafung eines rekonstruierbaren Individuums als Abschreckung anderer ins Kalkül zieht, ist um so ernster zu nehmen, als es nicht nur Teil einer im Spiridon auftretenden Legitimationsstrategie des Autors ist, sondern in der Vorrede an den »geneigten Leser« des Adimantus ebenso auftritt, obgleich dieser Text keinen offenbaren Anteil an der Privatfehde hat. Der Autor Rebhu/Beer wehrt sich hier gegen eine nicht näher genannte, unterstellte Verfasserschaft, die durchaus die des Hopffen-Sacks sein könnte, 24 wobei er paradoxerweise dessen Inhalt und Verfahrensweise unterstützt: [W]ann ich sie gleich geschrieben hätte/ sollen sie mir doch nichts/ als eine grosse Ergetzung verursachen/ weil Ich in denenselben finde eine grosse Straff wieder das Verbrechen der unbesonnen Menschen/ welche zornig werden/ wann man ihnen die Wahrheit saget/ welche eyfern/ wann man sie zur Besserung leitet/ welche aufhüpffen/ so man sie zur Tugend anmahnet. (PA: 40)

Daran schließt eine überreiche, rhetorisch amplifizierte Passage an, die die Nutzlosigkeit der moralischen Belehrungen unterstreicht. 25 Die Rolle der »Privat-Historie« für Beers komplex-paradoxe Mischung aus Satire und ihr dienstbar gemachter Invektive wird überdies durch die Wahrheitsbehauptung des Erzählten erhellt. Dabei ist nicht die ironisch verstandene Einleitungsformel des Adimantus gemeint (PA: 43), die die lautere Wahrheit gegen die amadisischen Lügen behauptet, sondern die mehrfach unterstrichene Wahrhaftigkeit im Bezug auf den Hopffen-Sack, die ja bereits in der gerade zitierten Vorredenformel des Adimantus anklingt und am Ende des vierten Buchs des Spiridon zum Hauptthema wird. Dort wird der Verfasser des Hopffen-Sack als »Veritatirer« bezeichnet: Ein solcher Veritatirer ist derselbe Author/ dann er schreibet in demselben Büchlein [seil. Hopffen-Sack] die gäntzliche Wahrheit in abstracto dergestallten/ daß das concretum sich nicht der geringsten Schmach anmassen kan. (RS: 147)

Beer folgt hier ostentativ der traditionellen Schutzformel, nach der die Satire nur im allgemeinen die Sünden und nicht den individuellen Sünder verfolgt, um nur wenige Zeilen später dem unterdrückten Groll gegen seinen Privatfeind Luft zu machen; 26 und auch hier schließt sich die drastische Strafformel aus dem Geist der leidenschaftlichen Invektive an: 24

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»>Ist gar rechtdann man sagt allenthalben/ er hätte auch den Ritter Hopffen=Sack geschrieben/ und ist er wegen solcher Schrifft aus der massen angefeindet worden/ darüber er sich von hertzen ergötzetGnädiges Fräuleinin ihrem Hause zu verbleiben/ wäre die gröste Unhöffligkeit/ die ich begehen könte; Weil ich erstlich als ein frembder

69 Der zweite Versuch, den widerspenstigen Helden zu zähmen und ihn mittels des Weines zum Bleiben zu bewegen, schlägt dann auch fehl, weil selbst dem betrunkenen Erzähler die Regeln gesellschaftlichen Decorums präsent sind. Gerade in der Kontingenz der hierauf folgenden Handlungen liegt aber die Überzeugungskraft des erzählerischen Verfahrens: »Hierauf redete sie sehr corrupt unter und über einander/ bald Welsch/ bald Deutsch« (WK: 24). Die erotische Verführung erweist sich als rhetorisches Manöver, dessen Scheitern Sprachlosigkeit und konfusen Galimathias produziert. Die Gräfin ist angesichts der Erfolglosigkeit ihrer Überredungsversuche desorientiert: Sie bittet Rebhu, noch kurz zu bleiben, sie wolle etwas mit ihm besprechen, setzt sich dann aber nieder und fängt an, einen Brief zu schreiben, bricht ihn jedoch ab, um zu verschwinden und mit dem zwergenhaften Diener und einem Trunk zurückzukehren, den Rebhu zum Abschied trinkt. Die Situation ist mittlerweile gänzlich verfahren, aber aus eben dieser Konstellation gewinnt der Autor die Überzeugungskraft der Darstellung, indem er die planlose Zufälligkeit der Handlung profiliert und mit dem zufälligen, intentionslosen Detail kombiniert: »[I]ch merckte ihms [dem Diener] in den Augen an/ daß er schon muste geschlaffen haben/ wie dann dem Berenhäuter noch viel Federn in dem Haar eingeflochten waren« (WK: 24). Dieses Detail ist evidentiell, weil es zufällig ist, es hat keinerlei Verknüpfung mit der Handlung und charakterisiert bestenfalls indirekt die Erwartung, daß die Verführungskünste der Gräfin erfolgreich sein werden. Der Zusammenbruch ihrer rhetorischen Verführungslogik resultiert in planloser Verwirrung, so daß sich die Gräfin schließlich eines Schlaftrunks bedient, aber den Helden bis zu dessen Wirksamkeit mit eben solchen planlosen und durchsichtigen Manipulationen im Hause halten muß. Ähnliche Verführungsszenen bietet die Literatur der Frühmoderne in großer Anzahl, doch findet sich keine, in der so überzeugend das Scheitern mit der Ahnungslosigkeit des Objekts verbunden wird entweder das Opfer zeigt moralische Beständigkeit oder nicht. Bei Beer gibt es das Dritte: Der Erzähler ist zwar fasziniert von der Verführerin, aber er widersteht, indem er in seiner Naivität ihr rhetorisches Kalkül unterläuft. Die resultierende heillose Verwirrung nutzt der Autor schließlich, um ein überzeugendes Bild forcierter Leidenschaftsverfallenheit und offenkundigen Betrugs zu zeichnen, ohne den die welsche Gräfin kaum zum Ziel gelangt wäre. Was aber wirklich geschehen ist, bleibt nicht nur dem Helden unklar, der nur für kurze Zeit aus dem Tiefschlaf erwacht: »was nun weiters paßirt kan ich nicht berichten« (WK: 26).7 Die »Verführung« charakterisiert an dieser Stelle daher auch weniger den Helden als die leidenschaftsverfallene wel-

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Jung nicht herein gehöre; vors andere/ wann es der Capell-Meister innen würde/ dörfte er mir Schläge gebenIßi lauder Phantasiehat sie dir nur so gedrämtlasterhafter< Episoden weitaus« (Krämer [1991] 135).

108 telung erotischen »Kützels«, und Krämers literaturhistorische Perspektivierung in das 18. Jahrhundert kann diesen Sachverhalt nicht verdecken. Abgesehen von den deutlichen Texthinweisen und den erzähltheoretischen Strukturen, die einer solchen Lösung widersprechen, bleibt zu fragen, ob man Beer einen derartigen Zynismus unterstellen darf, denn aus Krämers These folgt, daß der Autor ernsthafte, überlegen dargestellte Moralisatio neben sinnlich anregende narrative Verführungsszenen stellt und gleichzeitig eben dieses Verfahren explizit ablehnt. Krämer kann zu dieser Ansicht nur deshalb gelangen, weil er die »Handlungsebene« als Kontinuum begreift, statt bereits hier das In- und Gegeneinander der Diskurse zu analysieren. Der Ausgangspunkt des Welt-Kuckers ist, wie oben gezeigt, die Ausweglosigkeit der satirischen Rittergeschichten: Der Spiridon integriert noch einmal alle Elemente des frühen Erzählinteresses Beers, löst sich aber am Ende in eine diffuse pikarische Situation auf, die den Mangel seines bisherigen Erzählens markant belegt. Aufgabe neuen Erzählens ist die Loslösung der Begebenheiten aus der satirischen Absicht, die Erschaffung von Protagonisten und ihrer Welt im Bereich des Autonomen, kurz gesagt: die Konstituierung der Handlung. Der erste Teil des Welt-Kucker ist eben diese Handlung, die das Thema der Macht der verführerischen Liebe aus den Zusammenhängen der ritterlichen Welt zu lösen sucht, ohne daß dies vollends gelingt. Beer erfindet jedoch zunächst für sich das Grundmuster der Verführungshandlung, das er - bislang nahezu unbemerkt - stufenweise hierarchisiert, aber nicht erfolgreich zu Ende führen kann. Er wechselt im vierten Buch die Erzählperspektive vom zentralen zum peripheren Ich-Erzähler und nähert sich, durch die nicht-fiktionalen Diskurse des dritten Teils vorbereitet, einer strikt monologischen Erzählweise, um das narrative Grundmuster variierend und bestätigend durchzuführen. Damit hat Beer zumindest formal die Struktur der späteren Dilogie entworfen: Ein zunächst zentraler Ich-Erzähler wird peripher und entwickelt sich als passiver Held und Zuhörer.77 Im Welt-Kucker ist dieser Zustand allerdings durch den Zustand des Erzählers als bekehrter und reumütiger Einsiedler präfiguriert: Der monologische Stil der Darstellung drückt diesen Zustand adäquat aus. Die Lösung des Erzählproblems im vierten Teil ist allerdings keine, denn der Autor appliziert den nicht-fiktionalen Diskurstyp auf die Narratio mit dem Resultat einer einförmigen, vorhersehbaren Handlung, die sich als Belegexempel der Moralisatio unterwirft. Im Gegenzug dazu befreit sich Beer von diesen Restriktionen, indem er am Ende einen namenlosen sekundären Erzähler einführt, der das entstandene Bild des primären Erzählers korrigiert und mit einer gewandelten Perspektive versieht. Der summarische Bericht der letzten Seiten befreit Rebhu schließlich aus der monologischen Eindimensionalität und gibt ihm seinen dialogischen Charakter zurück; sie zeigen den Helden aber auch inmitten 77

So - ohne Rekurs auf die Erzähltheorie - auch Krämer (1991) 95-98.

109 einer geselligen Welt, die essentiell mit seiner Persönlichkeit zusammenhängt. So birgt wiederum das Ende des Romans das Arbeitsprogramm der folgenden Texte: Nach der Konstituierung der Handlung bedarf es der Konstituierung des Erzählers als Held mit einer Biographie. Der Handlungsnucleus der Liebesverführung kann nur dann zur völligen Entfaltung gelangen, wenn der Erzähler sein Leben in eine langfristige Verlaufsform stellen kann. Die Entwicklung des Erzählers zum Helden und dessen psychologische Dimensionierung wird so zur Aufgabe der folgenden Texte, allen voran des Corylo.

3.2.

Die Konstituierung des Erzählers als Held

3.2.1. Die Sehnsucht des Helden und die Gefährdung des Ideals im Corylo (1679-1680) Der Corylo78 ist auf den ersten Blick im Vergleich zum Welt-Kucker nicht als Neuansatz, sondern als Wiederaufnahme kenntlich, indem er schon im »Vorbericht an den Leser« sein Darstellungsverfahren exemplarisch benennt: »Was soll man in diesen melancholischen Zeiten billicher schreiben als eine Satyra? Dann diese Arth ist nicht allein angenehm zu lesen/ sondern auch erbaulich im Leben« (C: 12). Satire bedeutet für Beer keine Gattungsbezeichnung, sondern der Begriff markiert zunächst einmal nur das fiktionale Erzählverfahren, das auf die Darstellung von moralischem und sozialem Fehlverhalten zielt und sich dabei evidentieller, veranschaulichender Techniken bedient. Dies wird bereits in den Romantiteln des ersten und zweiten Teils ausdrücklich betont. Corylos Beschreibung geschieht »mit lebendigen Farben« (C: 7), so »daß die Laster nicht allein lebendig vor Augen gestellet/ sondern auch mit nützlicher Bescheidenheit gestraffet werden« (C: 91). So steht Beer wiederum vor dem Problem der Legitimation der Kurzweiligkeit des überzeugend und anschaulich dargestellten Lasters und der daraus erwachsenden Anklage, ein reiner Spötter ohne moralische Norm und Bot78

[Johann Beer] Die vollkommene Comische Geschieht Des CORYLO Das ist: Die absonderliche und denckwürdige Beschreibung Eines Ertz-Landstreichers Coryli, Welche dessen vielfältige und ungemeine Buhlereyen mit hohen und niedrigen Standes-Personen/ Glück und Unglück in und ausser Landes/ Amt/ Stand und Condition mit lebendigen Farben entwirfft/ und der gantzen Welt durch sonderliche Zeit-Verkürtzung vor Augen stellet. Der Neue Ehemann. Gedruckt in diesem 1679sten Jahre. Zitiert mit der Sigle C in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 3. Bern, Frankfurt a.M., New York [u.a.] 1986 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 3). Das Pseudonym verweist auf Beers Eheschließung im Juni 1679. Zum Corylo existiert wie auch schon zum Pokazi noch keine Sekundärliteratur, außer den kurzen Anmerkungen bei Hirsch, der dem Ansatz Alewyns folgt (Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. Hg. v. Herbert Singer. Köln, Graz 3 1979 [ 1 1934] [Literatur u. Leben, N. F., 1]).

110 schaft zu sein. Seine Lösung des Problems erinnert dabei an den Kompromiß Weises, der sich mit der Formel der »Zulässigkeit« zu retten sucht, denn Beer beschreibt die Gefahr falscher Rezeption 7 9 und statuiert gleichzeitig die Möglichkeit der Belehrung: »Und wer wil es leugnen/ daß durch dieses Mittel [die Satyra] die gemeinen Fehler auch mit lachendem Munde aufgehoben werden?« (C: 12) Andererseits jedoch entwirft er ein Bild grundsätzlich unsteuerbarer Rezeption, denn gleichwie es aber viel Köpffe giebt/ also giebt es auch viel Sinn. Man siehet oftmahls einen über eine Sache weinen/ über welche der andere lachet. [...] Also lieset mancher ein Buch zu seinem Verderb/ der andere zu seinem Nutzen. (C: 13)80 Gibt es aber kein erzählerisches Mittel zur Integration von Moralisatio und Narratio, bleibt nur der Versuch, die geforderte moralische Auslegung zu verdeutlichen, »so werden die verniinfftige Gemüther leichtlich urtheilen können/ was ich dar durch haben wollen« (C: 12). 81 Steht die Romanpoetik Weises zur gleichen Zeit unter dem Motto » D e n Reinen rein«, so expliziert Beer seine Präzepte in eben diesem Sinne. Und warumb stellet man uns auf einer Schaubühne so wohl das gute als böse vor Augen? Warhafftig nicht darum/ aufdaß wir dem bösen folgen/ sondern uns vielmehr vor dem Betrug der Laster wohl vorsehen solten/ wer aber nicht folgen wil/ der kan den Weg des Verderbens auf seine Gefahr fortwandeln. Ich schreibe hier sehr lose Stück/ nicht wie es die Welt machen soll/ sondern wie sie es gemacht hat. Lerne also keinen folgen/ sondern flühen. (C: 13) Auch der »Vorbericht« zum zweiten Teil 82 argumentiert ganz ähnlich, verteidigt sich gegen den Vorwurf der Privatinvektive und der Darstellung der Laster, unterstreicht die Wahrscheinlichkeit der Erzählung 8 3 und problematisiert die (nicht-fiktionalen) Diskurse: 79

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»Es sind viel Bücher heraussen/ welche einen Schein des Guten in dem Titul führen/ aber in ihrem Mittel findet man das schnöde Gifft der Irrthumen eingestreuet/ davon viel tausend Menschen unvermercket verleitet und verführet werden/ loben also unzehlich viel die schöne Schale/ aber sie wissen nicht/ welch einen Unrath der Kern zu verursachen pflege« (C: 12). »Also schwätzen gar viele vom Unterscheid der Schrifften/ und urtheilen doch davon nicht unterschiedlich/ sondern wollen alles in eine Classe gesetzet haben/ und dieses ist noch das übelste/ daß diejenige das meiste davon judiciren/ die es am wenigsten gelesen haben« (C: 12). Der Autor behauptet dagegen apologetisch, »es sey nichts so schlim geschrieben/ aus welchem man nicht etwas gutes schöpften könne. Aber/ wer kan davor/ daß der Basilisck alles mit gifftigen Augen ansiehet?« (C: 12) »Mich anlangend/ hab ich mich in diesem Tractat von aller gegebener Aergernüß dergestalt entrissen/ daß es nur ein leichtfertiges Gemüth anders wird deuten können« (C: 13). Für den ausführlichen Titel siehe Hardin (1983a). »Gleichwie dieses Buch männiglich vor Augen geleget wird/ also wird auch Männiglich versichert/ das dieser Landstreicher auß keinem Traum-Reich herauß kommet/ oder aber mit dem fliegenden Wanders-Mann denen Mathematischen Neulingen etwas ungereimtes vorprediget/ dann seine Erzehlungen sind so gar ungläublich nicht/ und werden die Jenigen allermeistens die Warheit bezeugen können/ welche sich darinnen mit lebendigen Farben entworffen finden« (C: 97).

Ill Die jenigen Diseurs, welche ich hin und wieder angemerket/ gebe ich nicht auß vor unbewegliche Lehr-Sätze/ dan ich komme nicht als ein Scholasticus, sondern als ein Satyr auff die Land-Strassen/ dahero begehre ich niemanden den Kopff mit unzehlichen Principijs zubelästigen/ sondern die langweilige Grillen zuvertreiben/ welche zu weilen wegen einer Philosophischen subtilität ins Gehirn zu nisten pflegen. (C: 97)

Beer trennt hier deutlich die satirische Narratio und die Moralisatio, die er als beweglich und nicht scholastisch kennzeichnet, nicht etwa, um ihren nebensächlichen Charakter zu unterstreichen, sondern um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die Belehrung durch den monologischen Diskurs und das autoritäre Wort schwerfällt. 84 So reduziert er hier das Gewicht der Doctrina, um den Leser »bei der attention zu halten« (Weise), denn Beer meint, auf den direkten Ausdruck der auktoriellen Norm nicht verzichten zu können, um die notwendige Eindeutigkeit der moralischen Intention zu belegen. Angesichts der Erfahrung, »daß der Basilisck alles mit gifftigen Augen ansiehet« (C: 12), ist es unabdingbar, jeden Anlaß zu einem »Aergernüß« bereits im Vorfeld zu dementieren. Die Comischen Historien des Corylo beginnen, wie auch der Welt-Kucker, mit Reflexionen zum Fortuna-Geschehen und zur Unbeständigkeit; Überlegungen, die, wie gezeigt wurde, keineswegs nur als topische Schmuckformeln aufgefaßt werden dürfen, denn sie manifestieren die grundlegende Überzeugung Beers, daß durch Tod und Vergänglichkeit nichts Beständiges erhalten bleibt und daß am Ende des Lebens die Welt und ihre Leidenschaften sich als Illusion erweisen müssen. Vor diesem Hintergrund schreibt Beer, der die konventionelle memento mori-Topik ganz ernsthaft zum Ausgangspunkt auch seiner romanpoetologischen Argumente macht. Mit der hier am Anfang eingeführten Schiffahrtsallegorie begründet der Erzähler allerdings auch den pikaresken Ausgangspunkt seiner Geschichte, die den Helden als Kind eines reichen »Holtz-Grafen« einführt. Die noble Geburt des Erzählers erweist sich aber schnell als Täuschung, denn als Corylo seiner Schwester Sancissa zu offensichtlich anhängt, wird er von seinem vermeintlichen Vater über seine wahre Herkunft als Findelkind aufgeklärt und zur Vermeidung weiterer geschwisterlich-amouröser Verwicklungen aus dem Schloß gejagt. Diese expositioneile Erzählkonstruktion zeigt, daß Beer gelernt hat, zumindest rudimentär seiner Handlung einen längeren Spannungsbogen zu unterlegen, denn das Idealbild der Sancissa bleibt handlungsbegleitend, bis ihre endgültige Verbindung mit Corylo das Motiv auflöst. Aber dies ist nur ein Stilzug, der dem pikarischen Roman fremd ist, der keine langfristigen Liebeskonstellationen plant; das Sancissa-Motiv transportiert wesentlich anderes und mehr als die schließlich erfüllte keusche Liebe. Der Erzähler konstruiert schon am Beginn des Romans die Heimat des Helden als sozialen Raum 84

»Dann das Gemüth des begierigen Lesers ist zwar ein Zunder/ wo aber gar zuviel Andachts-Funcken darauf springen/ da will es sehr hart fangen« (WK: 214).

112 adliger Geburt und Erziehung, die durch eine Affektverirrung verloren geht. Er sehnt sich nach dem Schlosse seiner Kindheit nur aus innerlicher Affection, welche ich zu der Sancissa trüge/ dann daß ich die gründliche Warheit gestehe/ so waren meine kindliche Affecten viel stärcker/ als die Liebe meines Alters gewesen. (C: 19)85

Die Idealkonstruktion der adligen Herkunft macht sich zunächst an Details bemerkbar; so etwa, daß der Schulmeister »mit uns recht Christlich und eiferig verfahren« (C: 18) - eine äußerst rare Erscheinung in dem Panoptikum prügelnder »Arschgucker« (Pokazi), das ansonsten im Werke Beers begegnet. Es ist die Freiheit und Unabhängigkeit, die in der späten Dilogie prominent thematisiert wird, die hier bereits als Signum der adligen Existenz erkannt wird: Es gienge keine Woche vorüber/ wir hatten auf dem Hofe eine kostbare Hatze oder andere Fröligkeit zu geniesen/ derowegen wüchse ich auff in aller Vergnügung und schätzte mich in meinem Gemüth recht glückselig eines Grafen Sohn zu seyn/ indem ich an denen niedrigen Standes-Persohnen erkennen lernen/ welch ein Glück es denjenigen seye/ so durch die Geburth denen gemeinen Verdrießligkeiten enthoben worden. (C: 18)

Ganz deutlich wird schon hier die Verschränkung von materiellem Genuß, geselliger Unterhaltung und Freiheit in der ländlichen Adelsexistenz, deren Bild ja bereits am Ende des Welt-Kuckers im Schlußbericht des »Concellisten« aufscheint und das den offenbaren Konnex zu dem früheren Roman darstellt: Beer arbeitet mit der Schlußinspiration seines ersten Romans den Anfang des Corylo aus. Der Verlust der Kindheitsidylle durch den affektischen Impuls ist, wiederum typisch für Beer, nicht final - es ist die erste Stufe in einer Hierarchie der sündhaften Leidenschaftsverfallenheit. Bevor der Erzähler jedoch aus dem Irrsal seines noch jungen Lebens findet, spielt er ein wenig mit der poetischen Fiktion des Autornamens, denn Corylo, der in einer »BeerenHöle« gefunden wurde, gerät immer tiefer in einen Wald, aus Furcht vor einem »Beer«. Doch ist diese Furcht nicht auf einen tatsächlichen Bären bezogen, sondern auf die Lektüreerinnerung des Fortunatus, in dem von einem Bären berichtet wird, der dem Erzähler auf einen Baum folgt. Der Erzähler bekräftigt für sich damit gerade das Gegenteil seiner Behauptung, daß »ein Beer mein Vater seyn solte/ konte auch nicht müglich seyn« (C: 101); doch hinter dem paradoxen Versteckspiel mit dem Autornamen steckt noch mehr als das Vergnügen an Mystifikationen, denn der Autor macht sich als wahrer Vater gerade dann geltend, als der Erzähler seinen idyllischen Ziehvater verliert. Es scheint, als ob auch Beer hier zumindest unterschwellig Motive der Schriftkritik und der Vater-Metapher kombiniert; die konforme 85

Das utopische Moment des Ideals wird durch seine kindliche poetische Tätigkeit noch hervorgehoben; C: 18.

113 und normierende Macht der Schrift wird jedoch dann deutlich, als der aufrichtig-naive, mündliche Bericht über Corylos Herkunft bei seinem neuen Vater erst durch ein Schreiben vom einstigen, falschen Vater bestätigt werden muß. Bei einer derartigen Motivhäufung wundert es dann nicht mehr, daß der Schreiber des Edelmannes und neuen Vaters zum Begleiter, Informanten und besten Freund des Erzählers wird.86 Corylo erhält die Stelle eines Pagen und findet in einer Idylle zweiten Grades seinen Platz, zwar ohne die Vorrechte adliger Geburt und Freiheit, aber als Teilnehmer landadliger Vergnügungen: Wann ich die Warheit bekennen will, so muß ich gestehen/ daß ich die Zeit meines Lebens nicht so vergnüglich gelebet/ als eben auf diesem Edelhoff: Dann neben der schönen Abwechslungen der Zeiten/ genossen wir allerley Fröligkeit/ mit schiessen/ jagen/ und/ fischen. So lisse auch mein Herr alle Sonn- und Feyrtage das SchloßGesind in der Türnitz tantzen [...]/ machten uns also zu selbigen Zeiten sehr lustig/ und hatten offt mehr Ergetzligkeit/ als die zu Pariß auf einem Ball versamlete HoffSchrantzen/ dann es heisst nicht wie köstlich/ sondern wie lustig. [...] mit einem Wort: auf tausenderley Arth wüsten wir die Zeit zu passiren, und uns untereinander frölich zu machen. (C: 25)

In dieser vergnügt-musikalischen Geselligkeit als Idylle des adligen Landlebens liegt der gravierende Unterschied zum Welt-Kucker und zum pikarischen Lebensmodell überhaupt. Der Erzähler entwirft Heimat nicht, wie Alewyn meint, als geographischen Bezugspunkt und als Naturempfinden, sondern als sozialen Raum und Ort der Freiheit. Das Schreckbild der Gefangenschaft als Arrest in Einsamkeit und das Bild des Anachoreten finden hier den idyllischen Gegenentwurf sich selbst feiernder Geselligkeit. Der WeltKucker belegt aber auch, daß die erfüllte Existenz in freier Gemeinschaft das Ideal eines gesicherten Lebens ist, das durch eigenes Verschulden zunächst gefährdet und schließlich verloren wird, und eben dies ist auch das Thema des Corylo, der sich wiederum des bekannten Handlungsmusters der sexuellen Verführung bedient. Bereits an früher Stelle (C: 23) piaziert der Erzähler Hinweise auf das Motiv, und der erste Verführungsversuch folgt auf dem Fuße (C: 26), als die adlige Herrin dem Pagen ihre Begehrlichkeit offenbart. Die Szene der Verführung wird dann zwar unterbrochen und durch die Komik einer Schwank- oder Possenhandlung abgebogen, aber es gelingt dem Erzähler, eine Reihe von markanten rezeptionssteuernden Hinweisen mit dieser zweiten Stufe der Verführung zu verbinden. Am deutlichsten wird dabei die Problematik von Macht und Freiheit expliziert: Der geneigte Leser kan bey sich selbst schliessen/ welch eine wunderliche und seltzame Veränderung dazumal mein Gemüth müsse empfunden haben/ dann die je-

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In diesem Zusammenhang wird auch der Name Corylo erklärt (C: 24); der intrikate Zusammenhang von Schrift, Vater und Namensgebung bei Grimmelshausen ist in Solbach (1994b) analysiert.

114 nige/ welcher ich biß anhero/ als meiner Frauen aufgewartet wurde nun meine Sclavin/ und der ich vorhero zu Diensten stehen müssen über diese hatte ich nun zu gebieten. (C: 27)

Doch dies bleibt gewissermaßen ein blindes Motiv, das für den Helden keine Konsequenzen hat; es geht dem Autor bei seiner Affektdarstellung grundsätzlich darum, den Verlust der Freiheit zu beschreiben und die Herrschaft der Liebesleidenschaft als Knechtschaft des Individuums zu definieren. Sexuelle Abhängigkeit von Personen tritt daher nur als Funktionalisierung der Triebverfallenheit allgemein auf, die im Weltbild Beers die Zentralstelle einnimmt, die die Hoffart im traditionellen Sündenkatalog beansprucht. Indem Beer alles moralische und gesellschaftliche Fehlverhalten letztlich als Konsequenz mangelnder Affektkontrolle erklärt, öffnet sich die Schere der säkularen und religiösen Begründungsansätze, denn der Autor unterlegt seiner quasi »psychologischen« Analyse aus dem Geist empirischer Affektentheorie ein religiös-moralisches Normsystem, das zwar weltanschauliches Gemeingut der Zeit darstellt, aber mit der Zentralstellung der Leidenschaften zutiefst unvereinbar ist. Die negative Macht der Affekte wird bei Beer ja immer als Einbruch eines wesensfremden Außen in das Innen des Individuums erfahren, als eine externe Determination, die sich in der Verblendung und Illusionierung des handelnden Menschen in der Gesellschaft äußert. Das Verhältnis zu Gott ist dabei durchaus zweitrangig, die Sünde besteht zunächst darin, die Freiheit des eigenen Ich zu kompromittieren und sich selbst untreu zu werden. Es ist letzthin der Verlust der Identität, der als Resultat der »Entfremdung« den Protagonisten und Erzähler schreckt, denn die Leidenschaftsverfallenheit beschränkt die Selbstbestimmung und Autonomie des Subjekts, die bei Beer noch ganz deutlich in geistig-künstlerische und materiell-leibliche zerfällt: Wer durch die Macht der Affekte »außer sich« gerät, ist nicht mehr Herr seiner selbst und Opfer von (Selbst-)Täuschung und Illusion. Das Thema der Täuschung spielt daher auch in den umliegenden Episoden eine bedeutende Rolle; Corylo muß sich bei seiner Affäre mit der Gräfin unter dem Bett verstecken und kann nur durch eine geschickte Täuschung aus seinem Versteck befreit werden, was wiederum eine Anzahl von Dissimulationen nach sich zieht, wie auch die Heimlichkeiten, die als Resultat der Verliebtheit der Tochter in den Helden notwendig werden. Am bedeutsamsten ist aber die Erwähnung der Ritterromane, die sich der alte »HoltzGraf« erzählen läßt: [B]ißweilen musten sie ihme Historien aus dem Kopff erzehlen [...] über welches sich der Patient absonderlich ergötzet/ dann die Leute brachten es mit einer solchen Andacht vor/ gleich als wären sie selbst dabey gewesen/ und hätten alles mit ihren Augen angesehen. [...] Ich begehre aber hiermit gantz keinen Diseurs von dergleichen Historien anzufangen/ zumallen ihre Nichtigkeit ohne dem genugsam am Tag ist. (C: 29f.)

Der Edelmann gewinnt sein besonderes Ergötzen aus dem Nacherzählen von Melusine und Octavianus, weil sich im Akt der Mündlichkeit die überzeu-

115 gende Macht der Schrift unverstellt äußert: Die Erzählung der Bedienten belegt die verführerische Illusion der literarischen Darstellung, sie lesen und erzählen, »als wären sie selbst dabey gewesen«. Dieser Effekt ist aber derjenige der Evidentia, die sich damit auch als Mittel der illusionierenden »Entäußerung« des Individuums zu erkennen gibt, und der Edelmann belustigt sich gerade an der Aufrichtigkeit der nachfühlenden Betrogenen, die, von der Macht der erzählerischen Rhetorik verführt, »außer sich« geraten. Es wird deutlich, daß der überzeugende Text der Rittererzählungen als Parallele zur Verführung durch die Affekte begriffen wird, zumal ja gerade deren affektzentrierte Darstellungsart bekannt ist. Corylo beobachtet im folgenden zufällig, daß die Gräfin einen weiteren Liebhaber hat, und wird schließlich von dem Schreiber über die Machenschaften von Mutter und Tochter aufgeklärt: Ich hörete die wolgegründte und lustige Rede des Schreibers mit sonderlichem belieben an/ aus welcher ich verstanden/ daß ich in ein recht Huren-Nest gerathen/ gleich wie aber einem klugen Gemiith die allerabscheulichste Zustände vor die allerheilsamsten Lehren zu gebrauchen sind/ also gestehe ich die Warheit/ daß ich vielmehr einen Abscheu an denen Lastern/ als Wolgefallen getragen/ weil mir die Vorstellung derselben gleichsam ein klarer Spiegel ware/ in welchem ich gesehen/ wie schändlich/ wie grob/ ja wie höchst-schädlich es dem Menschen an Leib und an der Seele seye/ sich so zu prostituirei)/ und durch eine augenblickliche Wollust sich einer ewigen Schmach und Schand/ ja wol noch darzu der ewigen Pein und Qual zu unterwerffen. (C: 46f.)

Der weitere Handlungsverlauf zeigt nun deutlich, worauf Beer seine Lösung des Darstellungsproblems der unzüchtigen Begebenheiten gründet: Der Erzähler wird aus dem Handlungszentrum entfernt und tritt als peripherer IchErzähler an den Rand des Geschehens, indem er die sündhaften Handlungen der Protagonisten kommentiert und zum Teil auch stört. Damit ist zunächst das Wertungsproblem gelöst, denn die latente Identifikation mit dem IchErzähler, die bei Beer nur rudimentär durch ein überzeugend wertendes erzählendes Ich am Lebensende sanktioniert war, bezieht sich im Welt-Kucker noch durchgehend auf einen gefährdeten und moralisch fragwürdigen Helden. Gerade im Welt-Kucker war ja dem Autor eine Bekehrung aus der Handlungserfahrung nicht überzeugend geglückt, so daß sich für den Corylo eine Korrektur der Erzählperspektive anbot, die im vierten Teil des WeltKucker analog angelegt wurde. Dort hat der bekehrte Erzähler nurmehr die Funktion, die diversen Lebensläufe der Protagonisten als Belegexempel der nicht-fiktionalen Doctrina gleichsam wie in einem Brennspiegel zusammenzufassen - seine eigene Handlungsaktivität bleibt dabei rein formal. Diese Situation ist im Corylo mit weitreichenden Konsequenzen geändert: Der Erzähler gerät in die Prüfungssituation der affektischen Verführung, wird desillusioniert und bleibt - in andauernder Gefährdung - Teil der Handlung, so daß er nicht zum alleinigen Rezipienten von Lebensgeschichten wird. Dieser narrative Perspektivwechsel hat über die überzeugendere Einbindung des

116 Erzählers 87 in die Handlung entscheidende Auswirkungen, denn der handlungsbegleitende Erzähler kann seine moralische Indignation, die aus der eigenen, berichteten Erfahrung mit der Erzählwelt stammt, dazu nutzen, von der Peripherie des Beobachters in das Handlungszentrum einzudringen und durch Handlung an der satirischen Abstrafung mitzuwirken. Dabei wird ein zweiter Bezugsrahmen aufgebaut, der als Projektion des Lebensideals des Erzählers die biographische Klammer abgibt. So ergibt sich folgendes Strukturmuster: Der Erzähler skizziert seine Herkunft als pikarische Ausgangslage, wird teils als Handelnder und teils als Beobachter in die Romanbegebenheiten integriert, und er schließt die Erzählung als zwar gefährdeter, aber grundsätzlich bereuender Charakter. Dieses Grundmuster kann beliebig variiert werden, es bestimmt jedoch im wesentlichen Beers Romanschaffen bis zum Ende, denn hier eröffnet sich die Möglichkeit, nicht nur die groteske Invention als Possenhandlung einzuführen, sondern sie vor allem auch als Mittel satirischer Abstrafung einzusetzen. Der ganze erste Teil des Corylo gründet in dieser Möglichkeit, gesellschaftlich-moralisches Fehlverhalten durch Handlungsintervention plakativ zu bestrafen. Der Held beschließt zusammen mit dem Schreiber, dem nichtsnutzigen Liebhaber ihrer Herrin »einen recenten Possen« zu spielen, der darauf hinausläuft, daß ihr Amant im versteckten Liebesgemach arretiert und »zufällig« aufgefunden wird, worauf er mehrfach derb verprügelt wird. Auf eine solche Manier käme der verübte Pokazi aus dem Schloß/ mit stattlicher Reputation und Ehre/ und weinete immer Rotz und Wasser unter einander. Aber was ist es Wunder/ daß eine schändliche Arbeit einen schändlichen Lohn nach sich zeucht/ je süsser die Wollust je bitterer ist die Schmäh derselben. (C: 56)

Der so bestrafte - und wie sich später zeigen wird: nicht belehrte - Liebhaber glaubt fälschlicherweise, daß seine Geliebte für diese Strafe verantwortlich ist und setzt bei Gelegenheit eine noch brutalere »Revange« in Szene, die Beers Vorliebe für die Beschreibung von drastischen Strafritualen erneut belegt. 88 Aber auch hier bleibt die angehängte Moralisatio abstrakt und knapp: »[D]ie Frau lernete hieraus/ daß die Hurerey ein Ausgang alles Übels sey/ und in unverhofften Jammer zu stürtzen pflege« (C: 61). Das dramatische Schwinden der Moralisatio und nicht-fiktionaler Diskurse kann hier nur als Resultat der neuen und gewandelten Erzählperspektive verstanden werden, die keinerlei explikativen Kommentar mehr benötigt. Die Ich-Perspektive des eingekerkerten Erzählers im Welt-Kucker

87 88

Im Vergleich zum ähnlich strukturierten vierten Teil des Welt-Kucker. »Der Freyer wurde geschlagen/ daß er von seinen Sinnen nicht wußte/ die Töchter lagen gantz zerrissen und zerlumpt halb nackicht auf der Erde/ der Peter klagte/ wie ihm nebenst der Nase der Arm abgeschlagen sey. Die Edelfrau spie immer Blut aus/ und die Augen waren ihr dergestalt aufgelauffen/ daß sie schwerlich sehen konte« (C: 60).

117 verlangt geradezu nach dramatischen Äußerungen der Reue, die im Corylo bereits durch die Erzählsituation begrenzt sind. Moralische Kommentare sind von den Opfern der Satire nicht zu erwarten, und die Eindeutigkeit der Situation enthebt den Erzähler der Notwendigkeit, von längeren nichtfiktionalen Diskursen Gebrauch zu machen. Sobald die anfängliche Handlungsspannung nachläßt, ist jedoch wieder mit den nicht-fiktionalen, monologischen Diskursen des erzählenden Ich zu rechnen, das sich im Corylo zumeist nicht von der Perspektive des erzählten Ich löst. Die Aufhebung der Distanz von erlebendem und erzählendem Ich verlebendigt die Erzählung und gründet in der frühen »Rettung« des Helden, der aus der Gefahr der Verführung herausgenommen wird, ohne ihn jedoch gänzlich der Totalität der Einflüsse der Romanwelt zu entziehen. Dies wird in der Art der auftretenden Selbstkritik deutlich, mit der das erzählende Ich den Protagonisten in seiner neuen Charge als »Cammerdiener« bedenkt. 89 Diese satirischen Kommentare dienen allein dazu, den Helden vom Erzähler zu distanzieren und ihn als wirklichen Teil der dargestellten Welt zu charakterisieren, der grundsätzlich auf einer Stufe mit dem restlichen Romanpersonal steht. Andererseits begreift sich der Erzähler direkt als satirisch-korrektive Instanz, die zur Abstrafung der Laster nach Maßgabe ihrer Entscheidung initiativ wird: [I]ch aber schwüre es in meinem Hertzen/ daß/ wo ich im geringsten ihre fernere Libe 90 gegen einander spüren würde/ ich die Sache der gestalten an den Tag bringen wolte/ darob sie sich schämen und zugleich verwundern solten. (C: 67)

So wird ein zweites Strafritual ausgerichtet, dem die Herrin wie auch der Knecht zum Opfer fallen, und wiederum zeigt sich Beers Freude am drastischen Detail: Der bereits mehrfach verprügelte Knecht bittet um Gnade, aber hiermit liesse der Juncker seine Knechte hohlen/ die prügelten den armen Schelmen braun und blau [...]. Als er nun vor Todt auf der Erden lage/ hiebe ihm der Edelmann noch etliche Wunden in Leib/ daß er an Händen und Füssen verlamte/ damit stieß er ihn über die Treppe hinunter/ und muste sich zum Dorff hinauß packen. (C: 82f.)

Wen wundert es da, daß der »arme Schelm« im zweiten Teil des Corylo zum marodierenden Soldaten wird und schließlich seine gerechte Strafe erleidet. Die Moral von der Geschichte ist aber wiederum recht abstrakt und wirkt formal:

89

90

»Ich hielte mich viel höher als einen Ethiopischen Elephanten/ ja ich war so stoltz/ daß ich mit dem alten Edelmann so wenig als mit dem jungen/ viel weniger mit dem Schreiber wolte getauschet haben« (C: 66). Des Stallburschen und Corylos neuer Herrin. Corylo befindet sich hier in der gleichen Situation wie der Erzähler in Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogelnest (Bd. 1).

118 [W]as unbillig gesuchet wird/ das wird mit Spott und Schanden verlohren/ übel gearbeitet/ übel belohnet/ und einen geilen Magen können keine andere Speisen vorgetragen werden. [...] Und wann wir es reifflich betrachten/ so ist es die gäntzliche Wahrheit an und vor sich selbst/ daß diese Sterbligkeit nicht kan umschräncket noch überwunden werden/ darum ist es einem Ruhloßen Gemüthe sehr nothwendig/ noch vor der Stunde des Todes wahre und ernstliche Buße zuthun/ damit wir dasjenige nicht verkauften in der Zeit/ was wir nicht wieder erwerben können in der Ewigkeit. (C: 83t)

Der Eindruck der fehlenden Integration von Narratio und Moralisatio ist, wie auch im vorigen Beispiel, Resultat der gewandelten Erzählperspektive, die die satirische Strafe als Belehrung versteht, so daß in der Moralisatio ein Überschuß an Meinung zu Tage tritt. Die poetische Invention als Mittel der satirischen Strafe birgt allerdings auch eine Reihe von darstellerischen Gefahren; so etwa die Tendenz zur Verselbständigung der Strafrituale und den Verlust der Sinndimension. An dieser Stelle des Corylo ist die Berechtigung der Strafe, wie sie vom Erzähler berichtet wird, für den Autor und sein zeitgenössisches Publikum evident, denn der Raum des Ritterlichen ist nunmehr ganz verlassen, der ehemals doppelsinnige Liebesbegriff hat sich endgültig auf die karnale Dimension verkürzt, und die Differenz von Vergehen und Strafe, wie sie im Welt-Kucker zum Problem wurde, ist durch das Unterdrükken der Welt des Rittertums nahezu obsolet geworden. Beer scheint dies selbst so empfunden zu haben, denn er fügt zwischen die beiden Strafrituale eine poetologisch-moralische Reflexion ein, die sich explizit, wie schon früher im Text, mit der Wirkung der Ritterromane befaßt. Ausgangspunkt der poetologischen Überlegungen ist eine Moralisatio zum Thema der Wirksamkeit von Predigten und damit wohl auch der nicht-fiktionalen Diskurse: Aber wie lange wehrte es? eine viertel Stunde/ und so lang man aus der Kirch gienge/ darnach soffen sich die Gäste wie die wilden Schweine an/ und turnirten/ wie sie nichts weniger als Christen wären. [...] Ich aber behielte die Predigt gar fleissig/ und beschmertzete nichts mehrers/ als daß meines Herrn Frau nicht zugleich mit dabey gewesen. (C: 70f.)

Die Predigt reproduziert das poetologische Thema der Vorreden, indem festgestellt wird, daß die Wirkung der belehrenden Rede nicht determinierbar ist - sie kann wirken, muß aber nicht. Zwar spricht die Erfahrung gegen eine breite Wirksamkeit, doch dies ist für Beer unwichtig, denn die genannte Ehefrau seines Herrn, »sie hätte es gleich behalten mögen oder nicht/ so hatte sie doch gehört die Warheit ihr selbst zum Urtheil« (C: 71). Dagegen stehen die »Liebes-Historien«, die »des Trucks nicht werth waren/ dann die Authores pflegten meistentheils so zu affectiren/ circumscribiren/ und ihre allegorias herauß zu bringen/ daß es zu verwundern« (C: 71). Beer beschreibt hier offenbar eigene Leseerlebnisse mit seinen Mitschülern während der Regensburger Schulzeit und den Eintritt der Desillusionierung. Mit dem stilus ornatus der höfischen Romane verbindet sich auch schnell der phantastische

119 Ritterroman, dessen Wirksamkeit - anders als die der Predigt - sofort konzediert wird. 91 Doch hält die Gattung selbst den naivsten Ansatz zur Beglaubigung nicht aus: Nun gestehe ich/ daß ich die rechte Warheit zu erforschen/ so albern gewesen und gar viele Frantzösische Kronicken aufgeschlagen/ aber ich fände von Florentz so wenig/ als von dem Metzgers Knecht Hug Schapler etwas geschrieben/ und auf den Author kont ich auch nicht fußen/ dann er setzte immer in der Vorrede: Als uns die Cronick saget. Nun wüste ich nicht was es vor eine Cronik ware/ die der Author meynte/ und muthmassete daher/ es miiste necessario ein non ens seyn/ welches in den Utopischen Buchdruckereyen aufgeleget worden. (C: 74)

Die lesenden Knaben kommen bei ihrer Lektüre so weit »außer sich«, daß sie auf Abenteuer ausziehen, sie werden aber durch einen fliehenden Hasen erschreckt und kehren furchtsam zurück. Beers Kritik und Ablehnung der Ritter- und Liebesromane konzentriert sich so seit dem Corylo auf die nichtfiktionalen Kommentare, die sich reflexiv ihrem Gegenstand nähern und direkte Aussagen über ihn machen. Der Corylo markiert damit einen wichtigen Entwicklungsschritt der Beerschen Erzählkunst, denn hier ist nicht nur die Ritterwelt zu Grabe getragen, es eröffnet sich auch die Welt der Satire. Obwohl alle früheren Arbeiten des Autors satirische Elemente besitzen, läßt sich doch erst mit dem Corylo von wirklicher satirischer Darstellung sprechen, wie sie in den satirischen Schriften der Zeit allgemein begegnet. Die Art der frühen satirischen Darstellung war im Bachtinschen Sinn dialogisch: Sie satirisierte den Gegenstand von innen heraus durch Anverwandlung und groteske, übersteigernde Umwandlung, und auch die Satire des Pokazi, die von außen an ihr Objekt herantritt, ist durch eine eigentümliche Welt grotesker Hypertrophien gekennzeichnet, die eher an Fischart als an Moscherosch erinnert. Im Corylo dagegen gewinnt Beer ein neues Verhältnis zur Satire, weil er den Erzähler neu definiert und funktionalisiert, in dem Sinne, daß der zentrale, autobiographische Ich-Erzähler aus der Mittelpunktposition an den Rand der Ereignisse tritt, von dem aus er als Beobachter berichtet, aber auch als Handelnder eingreifen kann. Dabei bleibt eine Grundstruktur pikarischer Biographie erhalten, die als Klammer die Erfahrungen des Helden zusammenhält. Dem Äußeren nach handelt es sich um die additive Struktur des spanischen Pikaroromans, doch die erste Analyse beweist bereits, daß es sich um gänzlich andere Strukturen handelt. 91

»Doch konte ich mich in der Jugend der Phantasey nicht entschlagen/ sondern/ wann ich lase/ wie der Ritter Haußwoferl den schwartzen Ritter tapffer und starckmütig überwunden/ da gedachte ich: Wann du auch ein solcher Kerl wärest/ der Teuffei und die gantze Welt soll von dir in ktinfftige zu sagen wissen. Bald machte ich mir machinationes, wie dort ein Ritter gegen mich käme/ gegen denselben stellete ich mich zu wehr [...]. Zöge also den Degen wider ihn aus/ und hiebe offtermalen in der blossen Lufft herum/ und muste leiden daß mich die Leute noch auslacheten dazu/ ein solcher Narr war ich in meiner Jugend« (C: 74).

120 Zum einen erweist sich die Biographie des Erzählers als strukturell vom pikarischen Modell verschieden, denn Beers Erzählerhelden erfahren nicht primär die Desillusionierung durch die Miserabilität der Welt, in der sie sich arrangieren oder der sie sich versagen, sondern sie etablieren ihr prekäres und gefährdetes Verhältnis zur verführerischen Realität als Voraussetzung ihrer satirischen Darstellung und Strafaktionen. Zudem tragen Beers Erzähler einen Keim utopischer Hoffnung auf das persönliche Glück in sich, der dem Pikaro fremd ist, der sich in seiner Satire als materielles Wesen entpuppt. Seine Erfahrungen sind durch Hunger und Entbehrung determiniert, und das beliebteste Objekt seiner Angriffe ist der Klerus - beides Themen, die Beer nur am Rande interessieren. Er bevorzugt das Verführungsmotiv, das in allen Variationen der Affekttäuschung und Leidenschaftsverfallenheit zentrale Bedeutung für seine Weltauffassung hat. Die Etablierung eines moralischen Werte- und Normensystems ist für Beers erzählende Helden immer schon vorgelagert, während der spanische Pikaro erst auf dem Weg dorthin ist, und so können Beers Helden in der Folge hemmungslos in die Handlung eingreifen, um satirisch zu beobachten oder zu strafen. Dabei wird ein weiterer Unterschied deutlich, der Beer vom pikarischen Muster entfernt: Seine Helden neigen nicht nur zunehmend zur Seßhaftigkeit,92 der Erzähler rückt auch mehr und mehr an die Peripherie und wird zum Empfänger von Lebensberichten anderer, die die pikarische Form sprengen. Im zweiten Teil des Corylo ist der Erzähler allerdings noch aktiver Teil der Handlung, worunter allerley kurtztweilige Begebenheiten/ artige inventionen und wunderliche Buhlereyen anzutreffen/ doch also/ daß die Laster nicht allein lebendig vor Augen gestellet/ sondern auch mit nützlicher Bescheidenheit gestraffet werden. (C: 91)

Diese Ankündigung des Titelblatts faßt prägnant die Problemlage und die daraus erwachsende Aufgabe zusammen, wobei die gleichbleibende Ähnlichkeit des Titels mit dem der Courasche wie auch dem des Springinsfeld auffällt. Obwohl Corylo keine Ähnlichkeit mit Grimmelshausens Protagonisten hat, verweist die Formulierung der Titel auf ein Gemeinsames: die Problematik der Darstellung des Unzüchtigen. Die Courasche läßt sich auch als Versuch auffassen, durch das negative Exempel zu wirken,93 wobei sie sich natürlich der Kritik öffnet, sündhaftes Verhalten darzustellen. Beer muß sich, vor allem nach den Angriffen auf seine ersten Romane, in einer ähnlichen Begründungsnot gesehen haben, worauf die solidarische Titelei womöglich rekurriert. Andererseits läßt sich die Analogie als verkaufsförderndes Argument verstehen, wie auch der Titel des Jucundus Jucundissimus nahelegt. Corylo erfährt als handelnder Protagonist nun im zweiten Teil nichts grundsätzlich anderes als im ersten Teil: Er dient in Frankreich einem Mar92 93

Vor allem von Hirsch (1979) und Alewyn (1932) herausgestellt. Heßelmann (1988) 282-292 nennt dies Verfahren »implikative Allegorie«.

121 quis, dessen liederlichem Sohn er bei seinen abenteuerlichen »Buhlereyen« zur Hand geht,94 wie der Titel andeutet. Von einem Henkersknecht erfährt er von Perianders Hinrichtung, den er als Liebhaber seiner ehemaligen Herrin erkennt, wobei offenbar die mysteriöse Hinrichtungsszenerie, die im Detail an den Welt-Kucker erinnert (mit der welschen Gräfin als Richterin), den Hauptreiz ausmacht. Aus Angst, mit dem Sohn des Marquis in eine ebenso gefährliche Situation zu gelangen, flüchtet der Held, gerät ins Elend, findet wieder eine Stelle und kommt zu Wohlstand, und dieses war der verfluchte Anfang meines Verderbens; Denn das Geld brachte mich nicht allein zu einer grossen Hoffarth/ sondern wandte mein Vertrauen noch dazu vom Himmel ab/ daß ich also das Geld billich ein bitters Gifft nennen kan/ welches unvermerckt ins Hertz schleichet und viel Unrath anrichtet. (C: 120)

»Die erste Stufe zu solchem Ungemach« (C: 121) war die Lektüre der Ritterromane; das Geld die zweite (ebd), denn er verliebt sich daraufhin in eines »Schneiders Tochter«, die er im hohen Stil andichtet, bis er erkennt, daß er nicht der einzige Nutznießer ihrer Zuneigung ist. Der Erzähler berichtet die Episode knapp und ohne den Aufwand früherer Moralisationen aus der Distanz des erzählenden Ich, das das erzählte Ich wie einen beliebigen anderen Protagonisten behandelt. Obgleich der Erzähler hier aus seiner Beobachterpositon heraustritt und handelt, gewinnt er keine Tiefe, und seine darauf folgende Verwicklung in ein Duell bleibt mit der anschließenden, unverdienten Todesstrafe offensichtliche Motivation für eine meditatio mortis. Beer zitiert hier die Angsterlebnisse aus dem Welt-Kucker und gibt ihnen eine realistischere Basis, ohne sie jedoch überzeugender gestalten zu können: Sie markieren das Abschreiten der neuen Darstellungsobjekte der gewandelten Erzählperspektive.95 Die Verführungen durch Reichtum, Hoffart und Affekte sind nicht mehr innerlich erfahrene Gemütsbewegungen, sondern Teile einer satirischen Topik, die auch den Helden zum Objekt des Erzählers macht. An der verführerischen Macht des Geldes und der Verstrickung eines verbuhlten Charakters kann zunächst der Rezipient eine satirische Lehre empfangen - der Selbstbezug des Ich-Erzählers ist konsequent unterbrochen, seine Selbstreflexion ist nurmehr Reflex des erzählenden Ich. Dies wird daran besonders deutlich, daß diese Episode des aktiv handelnden Erzählers Teil einer Reihe von Exempelgeschichten ist, die sich mit dem 94

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»Er lobte meine Verschlagenheit auß der maßen [...]/ also trieben wir einen Possen nach dem andern und vertrieben unsere Zeit so wohl im Pariß/ als auf unserm Land-Gut sehr vergnüglich« (C: 109). »O wie ring hielt ich alles menschliche Unglück gegen dem meinigen? Ja ich wolte gern die bitterste Quali erlitten haben/ so ich nur nicht sterben dörffte. Bald dachte ich da bald dort hin/ aber in allen Gedancken schwebte mir der Todt vor den Augen/ und ermunterte mich zur Bereitschafft; Mein Hertz war mir nicht anders als ein Buch zwischen zweyen Pressen geschlossen/ denn dazumal eröffnete sich mein Gewissen/ und was ich zuvor gleichsam als ein Stäublein gerechnet/ das wüchse groß und wurde so schwer als ein Stein« (C: 126).

122 Geiz (C: 130-134) und der Hofkritik befassen. Spätestens mit der langen nicht-fiktionalen Diskurssequenz zur Hofkritik (C: 134-141) offenbart der Autor sein gewandeltes erzählerisches Interesse. Der Verdacht bestätigt sich, wenn auf die völlig disparate und heterogene Hofkritik eine Sammlung von Schülerpossen und Kantor-Satiren folgt (C: 141-163), die Beers tatsächlichem Schulfreund Peter Kirschner in den Mund gelegt werden. Die berichteten Schulgeschichten verdienen zwar biographisches und auch thematisches Interesse,96 sie stellen aber doch einen Rückfall in die Verfahrensweise der früheren satirischen Schriften dar. Noch ist Beer nicht bereit oder fähig, den Rahmen, den er erzähltheoretisch eröffnet hat, auch materiell zu füllen, und in den folgenden Erzählungen reduziert er den Umfang seiner Texte erheblich, um diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Im Corylo greift er dagegen auf bekanntes Material zurück, das - der neuen Erzählperspektive folgend - nun allerdings ganz direkt und unverstellt als Reminiszenz einer tatsächlichen Person zur direkten satirischen Darstellung werden kann. Was einer erzähltheoretischen Betrachtung hier als mangelnde Stringenz erscheint, kann dennoch Anspruch auf rhetorische Funktionalität erheben, denn die Trennung von Handlungs- und Moralisationsebene, von dialogischen und monologischen Sequenzen, ist gerade bei Beer ein beliebtes Mittel der Darstellung. Eine derartige Betrachtung würde die immer wieder nach einer handlungsintensiven Passage auftretenden Possen- und Schwankepisoden als Divertimenti im Sinne des delectare betrachten, um die belehrenden Passagen aufzulockern. Mit dem Blick auf die Herausarbeitung einer Handlungsstruktur, die eine komplexe Erzählerfigur und deren Moralisationen erfolgreich integriert, bleiben derartige Verfahren rhetorischen Erzählens als Vorstufe erkennbar. Beer wird zum überzeugenden Erzähler, indem er sich für ein anderes rhetorisches Verfahren entscheidet, das prodesse und delectare funktional integriert und nicht parallelisiert; dies geschieht jedoch im wesentlichen durch die Entwicklung der Lebenslaufstrukturen als Rahmen. In der Wiederbegegnung mit Sancissa erfüllt sich am Schluß dann auch die biographische Form des Romans, wobei das gegenseitige Erkennen und Finden eine Reihe von bekannten Motiven nutzt. Die Sehnsucht nach der entfernten Geliebten ist noch ein stofflicher Reiz aus dem Welt-Kucker, während die Aufgabe, die wahre eigene Herkunft herauszufinden,97 gleichzeitig der Charakterisierung des Helden und der Lösung des Standesproblems dient: Hierauff muste ich ihr mein biß anhero geführtes Leben erzehlen/ und nach dem ich solches biß zu meiner letzten Ankunfft in ihr Schloß vollbracht/ bate sie mich/ die Geschieht etwas außführlicher auff diesem orth zu Papier zubringen/ weil solches wol werth wäre der Nachwelt Communicirt zu werden. (C: 168) 96

97

Vor allem die Passagen C: 149-151 bieten manches Material für die Autorpsychologie. Dies wäre das natürliche Handlungsthema des zweiten Romanteils, der jedoch in die Rittermotivik regrediert.

123 Die Aufforderung zur Selbstlebensbeschreibung nimmt dabei nicht nur den autobiographischen Topos mit all seinen Tendenzen auf, sondern auch die komplizierte Verknüpfung von spezifischer Narrativik und dem Bereich des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wie sie sich bei Grimmelshausen, aber auch in den späten Romanen Beers findet. Hier jedoch kürzt Beer diese Perspektiven ab und verdrängt die Möglichkeit der Zentralstellung des erzählenden Helden konsequent: Corylos Biographie darf nur Klammer für seine Rolle als Beobachter sein, und so verknappt der Autor den Erzählbericht am Romanende und berichtet wenig mehr als die bloßen Begebenheiten. Die aufrichtige Liebe zwischen dem Erzähler und seiner Geliebten führt dann zur Ehe, als Corylo erfährt, daß er der Sohn eines normannischen Herzogs namens Dupreste sei. Hiermit machten wir uns gantz in der Geheim von dem Orth/ willens in des Clausners als meines Vaters Heimath zu ziehen/ schieden also in der Stille davon/ und als wir auf seine Güter kamen/ so biß anhero einer seiner Vetter regieret/ vermählete ich mich mit der Sancissa in dem Hertzoglichen Schloß zu N. Ich lebte bey dieser Liebsten in das dritte Jahr/ da mir nichts Wiederwärtiges zugestossen/ gleich wie aber der Todt keinen gewissen Termin setzet/ also risse er mir diese Schöne noch vor der Zeit aus den Armen. Ich beschmertzte meinen Zustand viel tausend mal/ und kunte nirgends einigen Trost finden/ derohalben begäbe ich mich auf das Land/ üm daselbsten meinen Schmertzen etwas zu verpausiren. Meine gröste Ergötzung war/ daß mir die alten Weiber ihren Lebens-Lauff erzehlen musten. (C: 174)

Der Erzähler braucht gerade vier Sätze, um den Ortswechsel, die Einsetzung in seine Güter, Heirat, erfülltes Eheleben, Tod der Frau und die anschließende Verzweiflung zusammenzufassen, wobei sich am Ende ein ähnliches Idyll wie im Welt-Kucker abzuzeichnen beginnt: der Erzähler als Zuhörer, der seine eigene erzähltheoretische Funktion als Vermittler nicht mehr selbst erfahrener Geschichten plastisch vor Augen führt. Dieser Nexus wird jedoch von Beer sofort destabilisiert, denn der Held erfährt als Leser und Zuhörer der Biographien anderer seine eigene wahre Herkunft, indem ihm ohne Zweifel eröffnet wird, daß er ein Bauernsohn sei. Obgleich Corylo der einzige ist, der die verschiedenen Teilinformationen zu einem Bild seiner wirklichen Abstammung zusammenfügen kann, und der wahrhaftige Dupreste in den Kriegswirren verschollen ist, überfällt ihn Angst und Melancholie. 98 Der ruhige Genuß des materiellen Reichtums in der Freiheit und Sicherheit der adligen Landexistenz ist mit einem Schlag gefährdet, denn bei Entdeckung des wahren Sachverhalts würde er »nicht allein aus dem Lande verwiesen werden/ sondern wol gar unter dem Hencker den Kopf verlieren« (C: 176). Beer thematisiert hier wie nie wieder in seinen Romanen den Verlust des zweiten Grundpfeilers adliger Existenz: die Berechtigung dazu aus verdeckter, adliger Herkunft. Die andere Voraussetzung ist naturgemäß die Freiheit, die sich nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen mit der Liebe 98

Siehe C: 175.

124 verbinden läßt. Im Zusammenhang mit der Liebe zu Sancissa heißt es dazu sogar im Corylo\ Warhafftig dieser ist einer unter den größten Tohren/ der sich von der Lieb eines Weibs-Bildes alzusehr einnehmen lasset/ weil dadurch nicht allein die Edle Freyheit verlohren/ sondern noch darzu das Hertz mit vielen Lastern beladen wird. (C: 169)

Die Jahre erfüllten Ehelebens sind in dem poetischen Kalkül des Autors nicht nur nicht darstellenswert, sie produzieren auch schöpferischen Stillstand: Es dauert noch einige Zeit, bis die landadlige Geselligkeit auch Frauen einschließt, die aber stets am Rande bleiben. Der Erzähler entwirft seine Phantasie fremder Lebensläufe als diätetisches Mittel gegen die eigene Melancholie eben aus der autobiographischen Erfahrung der anti-depressiven Wirkung des Entwerfens von Lebensgeschichten, und so ist die Idylle des Erzählers als Zuhörer immer schon gebrochen. Er muß am Ende seines Lebens, das nie rein mit dem biologischen Alter zusammenfällt, aus der Erfahrung des Verlusts seine Einsamkeit als Strafe und Sühne erdulden und sie im Sinne einer egalitären »Ergetzligkeit«99 periodisch durchbrechen; dieses Schema wird in den folgenden Texten noch mannigfach variiert, hier liefert der Autor zum ersten Mal einen umfassenden, wenngleich untypischen Bericht. Da die Berechtigung zu adliger Existenz unwiderruflich dahin ist und eine Restitution in alte Rechte folglich unmöglich, entschließt sich der Erzähler, sein Leben im Kloster zu beenden, nachdem er mit all seinen untergebenen Bauern eine große »Gasterey« veranstaltet hat. Bei dem Fest agieren Spielleute, »Gauckler/ Seiltänzer/ Klopff-Fechter und allerley solche kurtzweilige Leute«, während die versammelten Bauern essen und trinken, »dann ich hatte die Tafeln ins Grüne gesetzet in einen Schatten-reichen Garten/ davon sie allesamt die artliche Handlungen zur gnüge erblicken konten« (C: 177). Beer plaziert hier in diesem großartigen Bild pastoraler Idylle den Leser an die Seite der feiernden Bauern, denn auch ihm hat er den Blick auf »artliche Handlungen« verschafft, während er selbst in der Gestalt des Erzählers seinen Genuß an der ergötzlichen Betrachtung des betrachtenden Lesers hat. Ich sasse an meinem Tisch allein/ und hatte bey mir die ältisten Bauren/ die musten mir allerley Geschieht erzehlen/ die sich hin und wieder/ absonderlich aber in dieser Gegend vor meiner Regierung zugetragen hatte. (C: 177)

Es ist der Autor, der »allein« an seinem Arbeitstisch sitzt, während der Erzähler sich mit den Quellen seiner zukünftigen - und vergangenen - Mitteilungen umgibt, den potenzierten Lebenserfahrungen und -berichten aus der Welt eben jener feiernden Bauern und Leser. Das Fest aber, das Autor und Erzähler veranstalten, ist nichts anderes als die Verräumlichung der Erzählhandlung - jeder Erzählhandlung, denn beide verteilen an die bedürftigen 99

»[D]ann es heisst nicht wie köstlich/ sondern wie lustig« (C: 25).

125 Leser (und Bauern) all ihren Besitz, womit auch die bei Beer so häufig anzutreffende Diatribe gegen den Geiz ihre poetologische Erläuterung findet.100 Das Schlußtableau konzentriert alle genannten Elemente noch einmal und gehört in dem grandiosen Zusammenspiel einer eigenartigen pastoralen Idyllik, dem Verschwinden des Erzählers und dem poetologischen Hintergrund zum Eindrucksvollsten aus Beers Werk, daher mag es gestattet sein, das gesamte XXXII. Kapitel zu zitieren: Nach dem nun der Tag zu Ende gelauffen/ und die Abendröthe allgemach ihren Purpur-Mantel über den Occidentalischen Kreiß ausbreitete/ fienge ich an aufs neue zu tractiren die übrige Baurn-Bengel/ so sich hin und wieder aus andern Dörffern zusammen rotirt und versammlet hatten/ da sänge dort einer und da wieder einer von meiner absonderlichen Freygebigkeit/ etliche schrieben gar in ihre Calender den Tag/ an welchem ihnen so aus der maßen grosse Ehre wiederfahren sey/ und versprachen mir solches ihren Kindes Kindern zu verkündigen/ hiermit fienge sich erst ein lustiger Baur-Ballet an/ welchen mein Lautenist auf die hüpffende Lands-Arth gar artlich gemachet/ andere böse Buben stiegen zwischen solchem tantzen auf die Bäume/ und schmissen denen Gästen was anders auf die Köpffe herunter/ theils bliesen sie die Lichter auß/ daß man solche unter dem Laub nicht wol ersehen konte/ aber der Lautenist bekäme seinen Palläster/ und schösse die Maußköpf auf die Wämster/ daß sie wieder herunter musten/ und in Summa/ alles war voller Lust und Ergötzligkeit. Unter solchem TUmult begäbe ich mich heimlich aus dem Pövel/ und befahle meinen Leuten gute Auffsicht zu haben/ damit etwan mit Feuer und dergleichen kein Schade entstehen möchte. Hiermit legte ich mich zur Ruh/ und ehe es noch Tag wurd/ setzte ich mich mit dem Cammer-Diener zu Pferd/ und ritte in das Closter/ alwo ich angekleidet/ und vor einen Convent-Bruder bin aufgenommen worden. (C: 178f.)

Die spielerischen Störungen des Textsinns durch »böse Buben« werden ebenso spielerisch bekämpft, und der abwesende Vater des Textes hinterläßt, so gut es geht, Aufsicht, um keinen Schaden oder »Ärgerniß« entstehen zu lassen. Viele Einzelheiten der Passage deuten so noch halbverborgene Parallelen zur Konstitution des Textes an, aber von größerem Interesse sind an dieser Stelle zwei Elemente: zum einen das Motiv des Verlassene des Textes selbst, das sich in der Eremitage und dem »Adieu Welt« konkretisiert, aber ebenso auf Melancholie und Tod verweist, und zum anderen die überdeutliche bildliche Quelle und Vorlage der Szene im gemalten Genrebild, wie es etwa in den unzähligen Darstellungen bäuerlicher Feste und Hochzeiten vor allem in den Niederlanden seit langem gebräuchlich war. Dabei zitiert Beer ganz offenbar ein Standard-Detail dieses Themas, wenn er von den Auseinandersetzungen unter den Bauern berichtet. Prügeleien und »böse Buben« in den Bäumen, die die Feiernden beobachten und necken, gehören ebenso wie Spielleute und Gaukler zu den traditionellen Motiven der Genremalerei. 100

»Ich unterliesse durch solch mein kurtz-gefastes Beginnen nicht allein der Welt grosses Lob/ sondern erquickte dadurch die Seuffzer der armen und bedrengten Menschen/ welchen durch mein Geld und andere gesetzte Legata treflich geholffen war« (C: 178). In eben diesem Sinne verteilt der Erzähler ja auch seine Erzählung an die bedürftigen Leser als Erbauung, Trost und Zeitverkürzung.

126 Ohne der an späterer Stelle durchgeführten Diskussion dieses Verhältnisses von Bildvorlage und Text vorzugreifen, soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß Beer den zumeist eindeutig moralisierenden Charakter der Genremalerei mit Motiven der Bukolik und Idyllik in komplexer Weise anreichert und so bricht und erweitert. Der Corylo erscheint so als charakteristische und logische Weiterentwicklung der poetologischen Programmatik des Welt-Kucker und des Pokazi, die ja weitgehend parallel entstanden sind und die allesamt mit dem Problem der Länge und der Auffüllung durch Handlung zu kämpfen haben, wobei der Corylo als erster Roman wirklich eine neue Erzählperspektive etabliert: Der Ich-Erzähler wird zum peripheren Erzähler, der multiperspektivisch erzählen kann, ohne seine eigene Vita als Grundlage der Gesamtstruktur aufzugeben. Die Sehnsucht des Erzählers nach der erfüllten Existenz ist dabei struktur- und zum Teil handlungsbestimmend, ohne daß sie als erfüllt dargestellt wird. Die Sehnsucht nach dem Ideal selbstbestimmter, freier und sicherer Existenz erweist sich als integrativer Teil der Erzählperspektive, indem sie nicht nur den Rahmen abgibt, innerhalb dessen sich der Raum zur direkten satirischen Darstellung eröffnet, sondern auch die poetologische Motivation von Erzählen und Zuhören im Helden selbst situiert. 3.2.2. Ausdifferenzierung des Ich-Erzählers: Jucundus (1680)

Jucundissimus

In den vorangegangenen Kapiteln hat sich zum einen die Transformation und Ausdifferenzierung des Beerschen Erzählverfahrens von der grotesken, gegenrhetorischen Satire über die Einführung der Liebeshandlung und der damit verknüpften Erzählerbiographie gezeigt. Zum anderen konnte schließlich auch die Bewegung des Ich-Erzählers vom Zentrum an die Peripherie nachgezeichnet werden. Damit war die Möglichkeit zur Darstellung fremder, den Erzähler nicht betreffender Begebenheiten gegeben, die Beer, wie oben analysiert, dazu nutzt, den Erzählrahmen stark zu verknappen und zu schematisieren, um im Binnenraum eine fast völlig nicht-fiktionale und stark monologische Behandlung seines zentralen Themas, der gefährlichen Affektverfallenheit, in der Form einer misogynen »Weiber=Schelte« durchzuführen. Es gelingt ihm damit, die für ihn drückende Präsenz des Stoffes und seiner Implikate zu binden und poetologisch und Weltanschaulich eine, wiederum primär für ihn selbst, breitere Legitimationsbasis für die Weiterentwicklung seines Erzählansatzes zu gewinnen. Es handelt sich dabei durchaus nicht um ein Nacheinander, sondern um ein Nebeneinander disparater Erzählimpulse, so daß das Problem der Leidenschaftsverfallenheit in den Erzählungen der frühen achtziger Jahre als Handlung erscheint, während es die Satiren als Allegorie dominiert, aber auch in den »politischen« Romanen auftaucht (Politscher Bratenwender, Verliebter Europäer und Verkehrter Staats-

127

Mann). Wie die späteren Romane belegen, kann keinesfalls von einer Erledigung des Themas gesprochen werden, sondern allenfalls von Variationen, deren Bedeutung gerade durch ihre zeitliche Parallelität unterstrichen wird. Der grundlegende Erzählansatz, wie Beer ihn bislang entwickelt hat, macht sich bereits in der Titelformulierung deutlich, die sauber die beiden Bereiche des Lebenslauf-Rahmens und der satirischen Füllung unterscheidet: Jucundi Jucundissimi | Wunderliche | Lebens-Be= | Schreibung/1 Das ist: | Eine kurzweilige Histori I Eines/ von dem Glück/ wunderlich | erhabenen Menschens/ welcher erzehlet/1 wie und auf was Weis er in der Welt/1 unter lauter abentheurlich = und seltsamen | Begebenheiten herum gewallet/ bis er endlich zur Ruhe gekommen/1 In welcher | Unterschidliche Begebenheiten | durch die Hechel gezogen/ und sonsten aller= | ley merk-wiirdige Zufälle der vorwitzigen | Welt offenharet [sie] und entworfen I werden. I (J: 101)101

Dem herausgehobenen Fettdruck der »kurzweiligen Histori« des Lebensberichts entsprechen dabei die ebenso herausgehobenen »Unterschidlichen Begebenheiten«, die sich als satirische Episoden (»durch die Hechel gezogen«) ankündigen. In den kurzen poetologischen Hinweisen der einleitenden Passage des ersten Buchs betont der Autor, zum Zeitvertreib und zur Bekämpfung seiner Melancholie zu schreiben, wobei er auf seinen besonderen Stil hinweist: Ich bekenne meine Zustände! daß ich wenig oder gar keine Zierlichkeit in meiner Feder führe. [...] Ich werde auch in solcher angefangenen Schrift nicht viel still noch innen halten/ sondern meine Feder denen Gedanken schnell nachfolgen lassen. (J: 105)

Beer nutzt diese Entschuldigung sicherlich nicht nur, um Flüchtigkeiten des Textes zu erklären,102 sondern auch, um die fast gänzliche Abwesenheit von Moralisationen als Resultat seiner Schreibweise zu rationalisieren. Es kann daher nicht überraschen, daß er auch hier die Selbstentlarvung der Sünde mit der Technik der integrativen Verbindung von Moralisatio und dargestellter Strafe ankündigt: So ist demnach dieses die Ursach zu schreiben ein solches Buch/ welches keinen Menschen ärgern/ aber wol alle Lesende erqvicken soll/ in denen Stunden/ welche ohne dem der Eitelkeit aufgeopfert werden. [...] ob ich gleich oftmals meine eigene Schand entdecken/ und mich selbsten vor denjenigen anklagen werde/ deßen Leben mit tausend Schand-Flecken bemakelt gewesen. (/: 105)

Die einleitende Absichtserklärung zielt auf die bereits analysierte Prämisse der Zulässigkeit und des Erzählens ohne »Ärgernis«, wobei, vor allem im 101

102

Zitiert wird der Jucundus mit der Sigle J in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 4. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1992b (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 4). Aus einem Schindersknecht wird so am Schluß ein Schmiedknecht, und Geschwister und Verwandte verschwinden alsbald nach ihrer Erwähnung.

128 Vergleich mit den gleichzeitigen misogynen Schriften, auffällt, daß jede Apologie satirischer Darstellung fehlt.103 Beer weiß, daß sein Stoff rein fiktional ist und sich auf keine wirklichen Vorkommnisse stützt, und so kann er die obligate Verteidigungsrhetorik fortfallen lassen. Offensichtlich schreibt er die einleitende Passage, während er noch am Text arbeitet, worauf seine Bemerkung »in solcher angefangenen Schrift« hindeutet. Dies würde erklären, daß seine Ankündigung, seine »Schande zu entdecken« und sich selbst anzuklagen, nicht erfüllt wird, denn der Erzähler bleibt relativ sündenfrei, während die berichteten Binnenbiographien der sekundären Erzähler viel nachdrücklicher dieser Ankündigung folgen. Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß die Erzählhaltung der Konfession eine zentrale Rolle in der Erzählung spielt und somit das Formenrepertoire Beers erweitert.104 Der Text gliedert sich daher auch wie kein anderer zuvor in klare Abschnitte: Das erste Buch entwirft mit dem Lebensbericht der alten Edelfrau nicht nur die erste sekundäre Vita, sondern auch die Exposition der ganzen Erzählung. Der Lebenslauf des Ich-Erzählers ist fast nur nominell dieser Exposition vorgelagert, denn er beginnt zwar mit der Einführung seiner pikarischen Lebensumstände, aber diese ändern sich sofort bei Beginn des zweiten Buchs. Dennoch ist gerade dieser Teil des ersten Buchs von überragender Bedeutung, denn hier wird gerade durch die Explikation der pikarischen Herkunft das Aufstiegsmotiv etabliert, das seit dem Corylo zur biographischen Klammer gehört. Nach der Exposition folgen innerhalb des Erzählrahmens der Erzählervita drei sekundäre Biographien (des Studenten, des Pamphilius und des Jägers) und am Ende der summarische Bericht der Tochter, der kaum als Vita gelten kann. Innerhalb der sekundären Lebensläufe sind zum Teil wiederum episodisch abgeschlossene Handlungen berichtet, wie etwa im Fall des Jägers. Die Vita des Ich-Erzählers erscheint durch die Rahmenfunktion, die sie dabei ausfüllt, eigentümlich perforiert und strukturlos zu Unrecht, wie die folgende Analyse belegen soll. Das auffälligste Merkmal des Jucundus Jucundissimus ist, wie bereits angedeutet, die weitgehende Abwesenheit der moralisierenden Passagen. Diese Tatsache ist zumindest mitverantwortlich für den relativ frühen Nachdruck, den Alewyn bereits 1957 zusammen mit dem Narrenspital herausbrachte.105 Sein Nachwort zu dieser Ausgabe hat vielleicht noch stärker als die nicht immer einfach erreichbare Habilitationsschrift von 1932 - die über103

104

105

Umgekehrt liegt dann der Schluß nahe, daß - wie im Bratenwender - die Vorwortapologie auf konkrete Vorbilder verweist. Die Quelle dazu liegt sicher in den Selbstbezichtigungen, Moralisationen und Galgen-Sermones im Welt-Kucker. Johann Beer: Das Narrenspital sowie Jucundi Jucundissimi Wunderliche LebensBeschreibung. Mit einem Essay »Zum Verständnis der Werke« und einer Bibliographie neu herausgegeben von Richard Alewyn. Reinbek 1957 (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, 9). Im folgenden zitiert als Alewyn (1957).

129 dies nicht auf leichte Konsumierbarkeit angelegt ist - auf die Forschung gewirkt. 106 A l e w y n wiederholt hier summarisch seine älteren Auffassungen, die er am Jucundus und am Narrenspital

exemplarisch belegt wissen will. Genau-

g e n o m m e n zeigt sich erst in seinem Nachwort, daß seine wesentlichsten Aussagen zu Beer auf drei Texten ruhen: neben den dort vorliegenden nur noch auf der späten Dilogie. D i e s hat Folgen für die Forschung, denn sie übernimmt Alewyns Wertung zumeist ohne Nachprüfung am gesamten Textkorpus: So herrscht bis heute die Vorstellung von d e m triebhaften aber unkontrollierten Erzähler, dem die pikarische Struktur der

Episodenreihung

gerade gut genug ist, um seine ungeordnete Phantasie zu regeln. 1 0 7 D i e Perspektive auf eine organische Entfaltung eines gegebenen Erzählansatzes, von einer »Entwicklung« gar nicht zu reden, kann sich so nicht ergeben. D e r Jucundus gehorcht dann auch dem »Gesetz des Einfalls« und bietet den prallen Realismus wirklichkeitsgesättigter Beschreibung des ländlichen Lebens und des Volkes: 1 0 8 Die saftigste Vitalität wird umspielt von der kecksten Laune, der genaueste Realismus beflügelt von der abenteuerlichsten Phantasie und der klarste Verstand belebt von einer spröden Grazie. [...] An spielerischer Anmut und schäumendem Übermut, an Reichtum der Erfindung und Behendigkeit der Erzählung sucht Beer seinesgleichen bis in die Tage der Brentano und Eichendorff. (Alewyn [1957] 153) In ganz ähnlicher Weise sucht Manfred Kremer den Roman zu bestimmen, indem er ihn auf seine pikarischen Anteile befragt, wobei er den Pikaroroman in seinen zwei typischen Ausprägungen des Lazarillo des Guzman 106

de Alfarache

de Tormes und

von Mateo A l e m á n zugrunde legt. D e r

Jucundus

Nachgedruckt in: Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M. 1974, S. 59-74. Siegfried Streller hat in seinem Nachwort zur parallelen DDR-Ausgabe der Willenhag-Dilogie im Insel-Verlag Ost Alewyn zum Teil wörtlich kopiert (Johann Beer: Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommertäge. Zwei Romane. Leipzig [1965]); aber auch das Beer-Buch Alewyns ist über das Register oftmals selektiv ausgeschlachtet worden, ohne seinen Argumentationszusammenhang nachzuvollziehen. Dazu Solbach (1994a). 107 »Durch die überlieferte Form war gerade für das vorgesorgt, wozu Beer das Talent oder die Geduld fehlte: Komposition und Aufbau, oder vielmehr diese waren auf die zwangloseste und kunstloseste Weise entbehrlich gemacht: Die einfache Aneinanderreihung von Episoden stellte die geringstmöglichen Ansprüche an Zusammenhang und Folgerichtigkeit und kam einem Temperament entgegen, das sich im sinnlichen Augenblick zu vergeuden liebte. So wird man bei Beer noch nicht einmal das geringe baumeisterliche Bemühen finden, mit dem der zähere Grimmelshausen freilich auch mächtigere Stoffmassen zu ordnen versucht« (Alewyn [1957] 147). Die letzte Bemerkung ist unverständlich: Gemessen am Simplicissimus ist die Dilogie länger, und Grimmelshausens einzelne Teile des Zyklus sind durchaus nicht umfangreicher als viele Werke Beers, der allenfalls einige kürzere Texte verfaßt hat. Alewyn geht es wohl primär um die Allusionen des Begriffs »zäh«, womit sich wieder einmal seine polemische Haltung gegen Grimmelshausen durchsetzt. ios » y o m YoiiC) dem er entsprungen ist, hat Beer sich innerlich nie getrennt. [...] So sind auch Beers Werke durchtränkt von volkstümlichem Gut. Er wurzelt in einem anderen Sprachgrund als die Literaten unter seinen Zeitgenossen« (Alewyn [1957] 151f.).

130 nähere sich dem Lazarillo,

aber »was dem Roman völlig abgeht, ist die reli-

giöse Komponente« (Kremer [1987] 121). 1 0 9 Im Verhältnis zum

Guzman

fehle Reue, Jenseitsbewußtsein und schließliche Einsiedelei: Statt dessen fühlt sich Jucundus, materiell befriedigt und seinen leiblichen Komfort genießend, in völliger Harmonie mit seiner Umwelt. Barockes Einsiedlertum ist im »Zurruhekommen« des Pikaro als Landedelmann trivialisiert worden. [...] Damit ist das »Verdammungsurteil über die Welt aufgehoben« [A. Hirsch] und, jedenfalls für Beers Jucundus Jucundissimus, eine neue Dimension der Freiheit gewonnen. Sie findet symbolischen Ausdruck darin, daß die guten Pikaros durch Befreiung von materiellen Sorgen auch eine Art von sozialer Freiheit gewinnen. (Kremer [1987] 122) Dieser letzte Befund steht in seltsamem Gegensatz zur These von der A b w e senheit der »religiösen Komponente«, es sei denn, man unterstellt Beer eine areligiöse Ethik. 1 1 0 Kremers Beobachtungen lassen sich nur dann sinnvoll integrieren, wenn man den abstrakten Vergleich mit dem Idealtypus pikarischen Erzählens zugunsten einer Einbindung in die organische Entwicklung seines Erzählansatzes aufgibt. Gewiß ähneln sich Jucundus und Lazarillo darin, daß sie am Ende eine gewisse materielle Sicherheit erreicht haben, aber welcher Unterschied der Weltauffassung liegt zwischen ihnen! D a s sieht auch Kremer, der von d e m Aufstieg in eine »intellektuell-künstlerische Meritokratie« spricht und ganz richtig zusammenfaßt: »In Beers Romanen geht es jedenfalls nicht um eine >Verbürgerlichung< des Pikaro, sondern um seine Nobilitierung« (Kremer [1987] 123). A n diesem interessanten Punkt bricht

109

110

Manfred Kremer: Vom Pikaro zum Landadligen. Johann Beers Jucundus Jucundissimus. In: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Rezeption, Interpretation, Bibliographie. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. Amsterdam 1987 (Chloe, 5), S. 113-126. »Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß vieles den Jucundus Jucundissimus mit dem traditionellen Pikaroroman verbindet. Dazu gehören vor allem die soziale Herkunft der Helden, der Glückswechsel, die kritische Grundhaltung und strukturell die Einsträngigkeit der Erzählung. Änderungen betreffen vor allem die Abwesenheit eines sich wiederholenden Glückswechsels für den Haupthelden, aber auch, daß er selbst nicht korrumpiert wird. Damit korrespondiert die mangelnde Besserungsfähigkeit des schlechten* Pikaro im Falle des Räubers. Das pikarische Grundmotiv des ständigen Glückswechsels ist allenfalls in der Lebensgeschichte des Jägers in etwa realisiert« (Kremer [1987] 121). »Die guten Pikaros, Jucundus und der Student, finden ihren Lohn in dieser Welt, der eine, indem er zum Landedelmann avanciert, der andere in der bürgerlichen, aber im Grunde >realistischen< Sphäre durch Beförderung zum Pfarrer. Mit diesem Muster korrespondiert auch die Strafe des >schlechten< Pikaros: dem Räuber ist die Hinrichtung gewiß. Verdienst und Belohnung, Schuld und Sühne sind von dieser Welt. Auch die Geschichte des Räubers ist nur ein Beispiel dafür, daß keiner ungestraft Verbrechen begehen kann, ohne daß ihn die irdische Gerechtigkeit einholt. Bezeichnend ist, daß er selber seine Geschichte als Warnung gedruckt sehen möchte, daß aber in seiner Erzählung wohl oft von der Obrigkeit die Rede ist, nie jedoch von Sünden und dem >Zorn Gottesrealistischer< Darbietung bezeichnende Intentionen erkennen, die den naiven Aspekt des Geschehens fraglich erscheinen lassen« (Geulen [1975] 262). Darauf reduziert Gutzen im wesentlichen seine Interpretation des Textes: »Je stärker aber die Berichte aus dem Leben anderer die Handlung bestimmen, desto weniger ist Jucundus selbst ein >Träger der Handlung< (Lugowski); er wird zum Zuhörer, der aus diesen Erzählungen lernen soll. In der Zuschauerfunktion des Helden, der durch seine »Stationierung« an einem festen Ort, in diesem Fall auf einem Schloß, und die Eingrenzung der geographischen Weite bedingt wird, besteht der entscheidende Unterschied dieses Romans zum pikarischen Roman in der Tradition des Simplicissimus. Mit ihr geht einerseits ein Gewinn an Gegenständlichkeit einher, wie er schon in der Zeichnung der häuslichen Lebenswelt des Knaben zu beobachten ist; andererseits ermöglicht die Erfahrensbereicherung des Helden, die in einer Mischung aus sparsamem eigenen Agieren und ausgedehntem Zuhören auf die Lebenserfahrungen anderer erzielt wird, in Fortführung der an Jan Rebhu zu beobachtenden Ansätze einen stärker die individuellen Züge betonenden Charakter« (Dieter Gutzen: Johann Beer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Berlin 1984, S. 772-797. Zitat S. 781).

136 zählung der Edelfrau geht weit in die Vergangenheit zurück und endet nicht nur in der Gegenwart, sondern in der ganz spezifischen Erzählsituation des Lebensberichts selbst. Dies ist einerseits der Idealtypus autobiographischen Erzählens, das in der Volte des sich als Erzählenden und Erzählten gleichzeitig beschreibenden Erzählers gipfelt;118 andererseits drückt sich in dieser erzähltechnischen Finesse erneut ein Mittel der Vergegenwärtigung aus, das einen sekundären Bericht in die Erzählgegenwart transponiert, wobei das Reizvolle darin liegt, daß es sich nicht um ein heterogenes Textpartikel handelt, sondern um die Vorgeschichte und Genese der Erzählsituation selbst. Die Verschränkung von Erzählgegenwart und Vorgeschichte nutzt Beer dann noch einmal in modifizierter Form am Beginn der Winternächte. Es zeigt sich dann allerdings schnell, daß die Lebensgeschichte der Edelfrau deren unmoralische Schwester zum Gegenstand hat, die konsequent als »böse Frau« geschildert wird und die Erzählerin in die Rolle einer peripheren IchErzählerin abdrängt. Die Figurenschilderung ist dabei sichtbar von den misogynen Satiren inspiriert, die das Vorbild liefern: Sie schlief täglich bis Glock zehn Uhr/ und wann ihr das Freßen nicht vor das Bett getragen wurde/ so prügelte sie die Mägde in dem Schloß herum/ daß es taugte. Gab man ihr nur ein eintziges Bißlein das ihr nicht schmäckte/ oder das nicht recht gesotten oder gebraten ward/ schmieß sie es der Köchin ganz warm in den Kopf oder ins Genick/ daß es zu rück prällete. (J: 108f.)119

Das »böse Weib« ist faul, hoffärtig, streitsüchtig, verschwenderisch, herrschsüchtig, leichtfertig, klatschsüchtig und neigt zum Alkohol. Es will über den Mann herrschen und ist gleichzeitig verbuhlt. Es verläßt auf betrügerische Art und Weise seinen Mann, trägt durch sein sündhaftes Verhalten Schuld am Tod des Vaters und verwandelt sich, wie später deutlich wird, in eine zigeunerhafte Landstreicherin, die ihr Vorbild in der Courasche findet. Mit der Rückkehr der Protagonistin beginnt dann auch erst die Kernhandlung, die das Thema von Sein und Schein ausführt, denn die äußerlich reumütige Büßerin entpuppt sich als fintenreiche Betrügerin, die ihren Liebhaber zum Mann der Schwester macht, um sie dann auszurauben. Die Vita der Edelfrau bestätigt so nichts anderes als die Erkenntnis, daß aus kleinen Sünden mit der Zeit große werden, wenn nicht rechtzeitig eingegriffen wird, was die Erzählerin zu ihrem Schaden erfahren muß. Da sie von ihrem betrügerischen Mann eine Tochter hat, erfährt sie aber auch, daß die Möglichkeit der moralischen Steuerung den vererbten schlechten Trieben unterlegen ist: Aber ich mägte lehren und sagen was ich wolte/ so hatte doch der Vater eine Wurzel in diesem Kinde gelaßen/ welche fast unmäglich auszurotten war. Sie neigte sich lis

119

p r o u s t beschreiben dies Genette (1972) und Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Darmstadt 1989 (Wege der Forschung, 565), S. 214257, für Grimmelshausen Solbach (1994b). Vgl. dazu WH: 77ff. und F: 22ff.

Für

137 gar frühzeitig zum Diebstahl/ und kunte man bald an ihren Klauen sehen/ welch ein artlich Thier ihr Vater gewesen. Sie käme in dieser Kunst so weit/ daß sie mir die silbern Gesperr von denen Gebet-Büchern mausete/ und solche Sachen verschacherte sie unter das Gesind um ein Lumpen-Geld/ davor kauffte sie sich in der Stadt/ oder ließ sich durch andere kauften/ die leichtfertigsten Huren-Bücher/ so zu bekommen wären. (J: 117)

Obgleich die Tochter, die bis zum Schluß namenlos bleibt, einige typische Eigenschaften mit dem »bösen Weib« teilt (Acedia, Geschlechtertausch, Neigung zum Alkohol, Lügen), ist sie doch erkennbar von anderem Charakter als die »bestia civitatis«. Untypisch für diese Figur ist der Hang zu den Streichen und Schülerpossen, die traditionell Beersche Ich-Erzähler charakterisieren, wie auch ihr Hang zu grotesken Umwertungen: So unterhält sie das Gesinde während des Gebets mit Possen und nutzt die Nähnadel als Zahnstocher. Ihre groteske Dimension ist unübersehbar: Ihre Handlungen anbetreffend/ hab ich all mein Tag kein unflätigeres Thier gesehen/ dann sie ließe große Rülps über dem Essen/ und sonsten noch was/ das ich nicht gern nennen mag. (J: 117f.)

Der »faule Lorentz hinter der Wiesen«, der offenkundig vieles von der namenlosen Tochter erbt, nennt dies Unnennbare bei seinem Namen: [D]as halte ich vor eine Kunst [...] furtzen ist ein stattliches Reale [...] und ich halte alle Leute vor Narren/ die da meinen/ es sey eine Bäurische Grobheit. (JV: 159)

Auch in anderer Hinsicht kann sie als markante Vorläuferin des »faulen Lorentz« gelten, denn ebenso wie ihm ist ihr »das Lachen [...] so eigentümlich/ wie dem Mühler das Stehlen« (J: 117), und ihre Possen gehören in den Zusammenhang der grotesken Schulspäße, wie sie mit den frühen Erzählern Beers assoziiert werden. Am bedeutsamsten ist sie jedoch durch ihre AntiErotik gekennzeichnet, die sich wiederum in possenhaften Inventionen bemerkbar macht und in völligem Gegensatz zu der anfänglichen Figuranlage der verbuhlten Jungfer steht. So läßt sie sich von allen verehren, aber es wurde nur derjenige von ihr nicht betrogen/ welcher mit ihrer Liebe nichts zu thun begehrte/ denen allen schorre sie den Beutel tapfer ab/ und lachte die Phantasten aus darzu/ hatte auch wol das Herz/ ihnen in der Antwort zu vermelden/ daß sie sich schämen solten/ ihre junge Tage so in Faulenzen hin zu bringen/ und sich von der schändlichen Liebe überwinden zu lassen/ sie sollten zuvor etwas wackers lernen/ und dergleichen. (/:118f.)

Verweist noch der erste Satz des Zitats auf die Analogie zur babylonischen Hure, so dementiert der zweite Teil der Passage diese Ähnlichkeit; die Tochter erscheint nahezu als das satirisch-strafende Gegenstück zur Bestia Civitatis, das die Verliebten verspottet und sich so als Scopticus entlarvt. Ihr Spott bedient sich dabei moralisierender Argumente, die inkongruent mit ihrem Charakter sind, aber dennoch wohl den Sachverhalt treffen, wobei sie die gelungene satirische Strafe mit dem Verlachen der törichten Liebe verbindet. Der anti-erotische Impuls, der die satirisch-strafenden Possen der Tochter

138 dominiert, verweist auf eine ganz andere Dimension dieser Figur als die der großen Hure: Ganz im Gegenteil ist die spöttische Haltung für sie charakteristisch, die sie als eine in sich vollends gespaltene Figur erscheinen läßt, die einerseits eine ganze Reihe von gravierenden Mängeln besitzt, andererseits aber scharfsichtig und geschickt das Fehlverhalten anderer straft. Es kann nicht wundern, daß eben diese Duplizität in leicht modifizierter Form die Figur des »faulen Lorentz« determiniert, der sich auch in dieser Hinsicht als Ausführung der im Jucundus gegebenen Skizze erweist. Angesichts dieser komplexen und paradoxen Figurengestaltung ist es bedauerlich, daß die Tochter am Ende der Exposition verschwindet und erst auf den letzten Seiten des Romans wieder erscheint, die Gestaltung des »faulen Lorentz« belegt nämlich die ausgesprochen starke Faszination einer derartigen Figurenpsychologie, die auch noch in die Winternächte hineinwirkt. Der Lebensbericht des Studenten im dritten Buch ist dagegen an der Oberfläche nichts anderes als die Explikation der pikarischen Existenz und der Rolle der Fortuna, wenn er berichtet, daß er »ein rechter Pali des Glücks gewesen [sei]/ mit welchem fast alle Winde gespielet« (J: 143). Das Soldatenund Kriegskind wächst unter »Bauernflegeln« auf, verliert die Eltern und sein Erbe und muß als Kostgänger bei einem geizigen Schullehrer Armut, Krankheit und Hunger erleiden. Geulen zitiert in seiner Untersuchung auch diesen Passus und resümiert, dies sei »der entrhetorisierte, auf jede gestaltende Intention verzichtende Lebensbericht eines Mannes« (Geulen [1975] 267). Doch schon Geulens Wortwahl läßt erkennen, daß er gerade der Rhetorik Beerschen Erzählens folgt, wenn er davon spricht, daß die Beobachtungen des Textes nur für sich stehen und auf nichts anderes verweisen, woraus der »Eindruck des Unmittelbaren und Faktischen« entstehe: Die Pointe der einzelnen Vorfälle, auf die durchaus nicht verzichtet wird, liegt gleichsam außerhalb des Literarischen, im Stoff des Erlebten selbst, der, wenn auch in literarischer Form überliefert, keiner spezifischen Modelung im Sinn dieser oder jener Gestaltungsabsicht unterliegt. (Geulen [1975] 268)

Es dürfte genau umgekehrt sein: Gerade weil der Stoff nichts Erlebtes, sondern literarische Tradition ist - worauf nicht nur die ständespezifische Wiederholung der Hungerepisoden (Lehrer, Klerus, Adel) hinweist, sondern auch das abstrakte Thema des Geizes - , liegt der Effekt ganz im Literarischen; in der überzeugenden Darstellung des Leids, die durch das rhetorische Mittel der Verknappung und Vereinfachung erreicht wird. Der Bericht des Studenten entäußert sich allen Ornats der Beschreibung, er wählt als Darstellungsform nicht die Mimesis, sondern die Diegesis,120 und er erreicht durch diese angeblich kunstlose Erzählweise den Eindruck der wahrscheinlichkeitssteigernden Unmittelbarkeit, die das Traditionelle von Thema und 120

Zur Untersuchung von Mimesis und Diegesis siehe Genette (1972) und Solbach (1994b).

139 zugehörigem Handlungsexemplum verdeckt. Auch Geulen läßt sich täuschen, wenn er den Primat des Stofflichen behauptet und die offenkundige Verbindung der pikarischen Form mit dem Thema des Geizes und der Sein/ Schein-Problematik verdrängt: Die belegte Erfahrung von Not und Leid steht für sich; sie bedarf keiner besonderen Formgebung und verbirgt keinen besonderen Sinn, auf den der Erzähler abhebt. Die Bedeutung des Lebens in den Romanen Beers erschließt sich anläßlich derartiger Vorführungen kaum einmal dem erzählenden Subjekt selbst [...]. Die Erschließung von Sinn und Bedeutung kann aber wohl dem Zuhörenden und Außenstehenden aufgegeben sein, die ihrerseits wiederum gerade diese Art der Vorführung schätzen, da sie das Leben offenbar unmittelbar, will sagen: diesseits aller literarischen Modelung und Fertigware, also am »wirklichen« Beispiel erkennen hilft. (Geulen [1975] 268f.) Geulens Transposition von Leser und zuhörendem Protagonisten ist jedoch erst die Voraussetzung zur Erkenntnis der narratologisch-rhetorischen Darbietungsweise Beers, denn auch die sekundären Erzähler erweisen sich wie im Fall des Studenten zumeist als passive, periphere Erzähler, die sich oft genug nur in der Beobachtung erschöpfen. Die Wiederholungsepisoden im Lebensbericht des Studenten bringen so nur Variationen zum bekannten Thema, und am Ende muß der Erzähler sogar erklären, warum er den erniedrigenden Dienst nicht aufgibt: aus Curiosität auf die Extremwerte geiziger Torheiten. »Dergestalt und aus diesen Ursachen resolvirte ich mich/ bey ihm so lange zu bleiben/ bis ich ihm nichts mehr würde zu observiren haben« ( / : 150). Indem sie solcherart passive Beobachter des Lebens bleiben, rückt dessen Stofflichkeit endgültig in weiteste Ferne; nur da, wo der Erzähler selbst betroffen ist, gewinnt das Leben an Schwere und Plastizität. Doch auch an diesen Stellen herrscht der Gestus des Leidenden, der zu einem »rechten Pali des Glücks« wird, und so sind die Biographien der sekundären Erzähler Proben auf das Exempel der Allgewalt der Fortuna. Geulen macht diese Beobachtung zur Grundlage einer überraschenden Umkehr seiner Interpretation, wenn er feststellt, Beers Darbietungsweise sei keinesfalls »realistisch«, sondern sie erwecke kunstvoll den Anschein naiver Unmittelbarkeit, und auch die »moralische Wahrnehmung der Vorfälle« bleibe »bis zu einem bestimmten Grad« erhalten. Was der Leser an moralischem Inhalt reflektiert, ist in der Regel überhaupt nicht die Moral der Geschichte, sondern gleichsam eine des Lebens selbst, indem vom Anschauen fiktiver Lebensläufe auf das ihnen möglicherweise zugrunde liegende moralische Phänomen geschlossen wird. (Geulen [1975] 270) Die Überbewertung des Stofflichen sucht dann bei Geulen natürlich auch dort den letzten Bezugspunkt für den Leser, der dem dargestellten »Leben« das grausame Gesetz des homo homini lupus abgewinnen muß, denn dies ist das Resultat der hier wirksamen pikaresken Weltsicht. Dies scheint jedoch zu unmittelbar geschlossen, es überspringt gleich mehrere Stufen der Vermittlung, die ja auch Geulen benennt. Der literarische Stoff des rohen und

140

leiderfüllten Lebens wird zunächst zum Thema des evidentiell disponierenden sekundären Erzählers, der sich in den Variationen der pikarischen Szenerie als Beobachter erweist und so seine dargestellte Welt objektiviert. Diese vom Konkreten zum Abstrakten verlaufende Entwicklung, greifbar in der Behandlung des Geizes, präfiguriert die Rezeption innerhalb des fiktionalen Textes selbst: Der Leser wird in die gleiche Position wie der primäre Erzähler gesetzt, dessen Erfahrungen die Rezeption der sekundären Viten verdoppeln, indem er sie sich als Erkenntnis aneignet. Es ist die doppelte Aneignung der sekundären Lebensberichte, die für die Rezeption konstitutiv ist, denn der Leser ist an jeder Stelle des Textes Objekt einer zweifachen Perspektive, die aber letztlich in der Figur des primären Erzählers zusammenläuft: Der Leser sieht sowohl den Erzähler von außen in seiner Geschichte als auch von innen - durch seine Perspektive. Der Erzähler als Held wiederholt eben jenen Weg vom Konkreten zum Abstrakten, vom beglaubigt Aktiven zum Passiven wie der Student in seinem Bericht, so daß er am Ende als Katalysator der vorgetragenen Viten auftritt. Die direkt anschließende Vita des Pamphilius ist dagegen von etwas anderer Art, da hier die im Lebensbericht des Studenten nur angedeutete Tendenz zur eigenen Kommentierung manifest wird. Pamphilius präsentiert unübersehbar das - übertriebene - Muster einer außerordentlichen Verbrecherkarriere. Der ehemalige Soldat berichtet auf knappem Raum so viele Mordtaten und brutale, menschenverachtende Vergehen, daß seine Charakteristik als Mörder, Hurer und Räuber ebensowenig bezweifelt werden kann wie die eindeutige moralische Funktionalisierung der Erzählung. Ebenso wie der Student gibt er das Motto zu seiner Vita am Beginn: »[Fjragt nicht/ wie ich in solchen Labyrinth gerathen seye; Die Ursach ist meine verderbte Natur/ der hab ich allzu freyen Paß gelaßen« (/: 153). Sein Lebensbericht schließt an den der alten Edelfrau an, denn Pamphilius entpuppt sich als ihr betrügerischer Ehemann und illustriert deren Vita im Sinne der Weiterführung und Ausmalung des durch die Leidenschaften verführten Lebens. So wird greifbar, wie Beer sein Anliegen vom Corylo aus weiter umgestaltet: Die pikarische Situierung gibt die Grundlage der Perspektive ab und eröffnet bereits am Beginn - hier durch die Adoption und das plötzliche und ungeklärte Verschwinden der Tochter motiviert - die Möglichkeit des Aufstiegs, der durch die mangelnde Affektkontrolle, wie im Corylo, gefährdet ist. Die grundsätzliche Ausgangsposition wird durch den pikarischen Bericht des Studenten als Fortunageschehen gedeutet, das er durch Geduld und Beständigkeit zum Besten wendet, während der Lebensbericht des Pamphilius das Gegenteil belegt. Selbst die Möglichkeit, durch Strafe zur Besserung zu gelangen, wird mißachtet,121 und so liefert sich der Malefikant am Ende durch seine markanteste Charakterschwäche der weltlichen Gewalt aus: 121

»Diese Straffe dienete uns nicht zur Bäßerung/ sondern war vielmehr eine Ursache

141 Ich gäbe die Flucht/ aber die Liebe/ so ich zu seiner Frauen trüge/ Hesse mich nicht gar weit aus dem Lande ziehen/ deßwegen hatte die Obrigkeit keine sonderliche Mühe/ mich zu erhäschen. (J: 158)

Ist die Häufung der Vergehen zwar möglich, aber doch ungewöhnlich, so sind die Strafen und das soziale Umfeld im Gegensatz zum Welt-Kucker weitgehend wirklichkeitsnah gezeichnet, wie ja auch dessen Themen in Verwandlung alle hier präsent sind. Es ist keineswegs ironisch, daß die Liebe den Mörder und Räuber überwindet, denn sie ist als »Hurerei«, die er, wie auch die unzüchtige Schwester der Edelfrau, betreibt, vollendeter Ausdruck seiner mangelnden Affektkontrolle. Und ebenso wie die verurteilten Sünder im Welt-Kucker akzeptiert er seine Strafe mit selbstkritischen Moralisationen, die unbegründet bleiben und nicht aus der Handlung heraus beglaubigt sind: Ich wolte wünschen/ daß jemand meinen Lebens-Lauf in den Druck bringen wolte/ damit doch die Nach-Welt von meinen so mörderischen Thaten einen Abschäu haben mägte/ und sehen könte/ daß alle Sachen nur eine Zeit lang währen. (/: 157)

Der Wunsch des Pamphilius zielt offensichtlich auf das Genre der vor allem in England beliebten Verbrecherbiographien, die bei einer öffentlichen Hinrichtung verkauft wurden und oft wohl mehr auf das Spektakuläre von Person und verbrecherischer Tat gerichtet waren als auf die moralische Besserung des Lesers. In dieser Form soll der Rezipient jedoch direkt am konkreten Beispiel belehrt werden, und so läßt sich die Vita des Pamphilius im Text als Ermahnung an den Leser verstehen. Im Vergleich mit dem Lebensbericht des Studenten fällt dabei die Disparität beider Episoden auf, denn alles das, was Geulen für den Erzählstil des Studenten reklamiert, findet sich in ähnlicher Weise auch hier - und ergibt doch ein gänzlich anderes Bild. Die »kunstlose« Darbietung des Studenten entspricht der distanzierten Erzählweise des Pamphilius, die sich im interesselosen Addieren der Untaten erschöpft, wodurch allerdings keine Lebenswirklichkeit Gestalt annimmt, sondern ein von Anfang an durchsichtiges Konstrukt zur exemplarischen Belehrung. Sollte der Sinn dieser Episode darin liegen, beide Rezipienten, Leser und zuhörenden Erzähler, gleichberechtigt über die Gefahr der mangelnden Affektkontrolle aufzuklären, wäre dies wenig mehr als ein künstlerisch eher unterdurchschnittliches Beispiel »politischer« Episodentechnik. Der Reiz besteht jedoch darin, daß die sekundären Lebensberichte funktional geordnet sind und im Hinblick auf den primären Erzähler Handlungsalternativen skizzieren, die die Hierarchie der Verführungsepisoden des WeltKucker und des Corylo weiterführen. Beers Erzählmodell rückt dabei den Ich-Erzähler zunächst - noch im vierten Buch des Welt-Kucker - an den Rand des Geschehens, entwickelt im Corylo und im Feuermäuer-Kehrer die episodische Handlung (die exemplarische »Hurerei«) als satirischen Nukleus die wir uns selbsten zum Mißbrauch wiedmeten/ indeme fast kein Tag vorüber gestrichen/ da wir nicht öffentliche Straßen-Raube begangen« (/: 157).

142 und gewinnt erst im Jucundus durch Wiederaufnahme der Viten aus dem letzten Teil des Welt-Kucker eine neue Struktur. Dort sind die Lebensberichte noch stark auf eine Begebenheit ausgerichtet und dienen in ihrer Eindimensionalität - durch sexuelle Leidenschaft motiviertes Fehlverhalten, Strafe und Moralisation - zudem dazu, Handlungsfäden zusammenzuziehen, wobei jede Beziehung zur Entwicklung des Ich-Erzählers fehlt. Im Jucundus dagegen sind alle Lebensgeschichten auf Vollständigkeit angelegt, so daß das Episodische zurückgedrängt wird, aber, wie die folgende Vita des Jägers belegt, nicht ganz verschwindet. Das völlige Verschwinden der Episode in der Biographie ist darüber hinaus weder möglich noch erstrebenswert, denn zum einen kann die Erzählstruktur keine Sammlung einförmiger Viten integrieren, ohne ihre Funktion zu verlieren, und zum anderen muß sich jeder Lebenslauf in mehr oder minder plastischen Begebenheiten konkretisieren, um überhaupt Erzählstoff zu werden. So ist der Stoff der sekundären Erzähler nur in zweiter Linie direkt dem Leser zur Rezeption aufgegeben; der gewünschte Modus der Rezeption zielt auf das Indirekte in der Wirkung auf den primären Erzähler: den Stellenwert der Episode in dessen Biographie. In diesem Sinne bedarf es keiner wertenden Reaktion auf das positiv verfaßte Modell der Vita des Studenten, hier jedoch verhält sich Jucundus in der gewünschten Form: Wir verwunderten uns über die wunderliche Geschieht seines so bösen und Lasterhaften Lebens/ [...] seufzeten hierauf/ und merkten: Daß alle Laster zu seiner Zeit müßen gestraffet werden/ es sey gleich früh/ oder spat. (/: 158)

Jucundus zieht hier aus dem Gehörten für alle sichtbar nur die Lehre, die von Pamphilius als gewünschte Rezeption bereits vorformuliert wurde. Damit aber rückt die Episode vollends aus dem Horizont der direkten Leserrezeption heraus, sie wird zur Entwicklungsstufe des erzählenden Helden selbst, einer Entwicklung jedoch, die zunächst keiner Erprobung am Leben selbst mehr bedarf, sondern - und das ist die Funktion des Jucundus als ganzem - die Grundlagen der eigenen Lebensentwicklung nurmehr als Spiel zwischen abstrakten Positionen klären kann. Das Thema der Verführung durch Leidenschaften konzentriert sich im Jucundus nur noch auf abstrakte Positionen, die zur allegorischen Darstellung drängen, so daß Pamphilius, der noch mit einigen Teilen seines Lebens in der Haupthandlung wurzelt, andererseits fast sinnbildhafte Züge trägt. Jucundus ist von Lebensgeschichten umgeben, die durch die Bewegung auch der sekundären Erzähler vom Zentrum der Handlung an ihren Rand geprägt sind und nahezu den Charakter einer Checkliste der seelischen und moralischen Lebensvoraussetzungen annehmen. Der Lebensbericht des Jägers im vierten Buch bestätigt und erweitert die bislang angestellten Überlegungen und etabliert den Zusammenhang mit der Vita des erzählenden Helden, die den ganzen Roman durchzieht. Auch der Jäger ist eine pikarisch angelegte Figur, die aus Liebe zur Musik die Eltern

143 verläßt, um das Lautenschlagen zu lernen. Da er kein Geld hat, um einen Lehrer zu bezahlen, gerät er schließlich unter Zigeuner, die einen »Karl/ der fast auf allen Seiten-Spielen Erfahrung hatte« (/: 162), mitreisen lassen. Dieser Musikus mußte die Gesellschaft verlassen, weil er »sein Weib aufgehangen« hatte, und der Erzähler lernt von ihm Harfe und Laute. Ich hatte mich sehr in meinen Lehrmeister verliebet/ daß ich nicht von ihm kommen konte/ deßwegen reisete ich mit ihm in Frankreich/ und dort erwarbe er sein Brodt mit Tanz-aufschlagen bis er endlich so sehr verdarbe und herunter kam/ daß ich länger nicht bey ihm ausdauren konte. (/: 163)

Auch hier ist das Muster der miteinander verbundenen Affekte deutlich themabestimmend: Die Musikleidenschaft führt den Erzähler aus der Heimat in schlechte Gesellschaft und verbindet ihn, wiederum im Zeichen des übersteigerten Affekts, mit einem Mörder aus Leidenschaft. Seine eigene Verworfenheit zeigt sich daran, daß er bei seiner Flucht aus diesem Verhältnis die Laute seines Lehrers stiehlt. An diesem Punkt jedoch endet bereits der Lebensbericht, und es setzt die Erzählung einer längeren Episode ein, die in der Gegenwart des primären Erzählers endet. Der Jäger berichtet hier, wie ihm sein Lautenspiel die Einladung einer jungen adligen Witwe einträgt, die sich in Fortführung des erotisch-leidenschaftlichen Motivs in ihn verliebt. Der Erzähler wird nun zunächst wegen seiner pikarischen Unreinlichkeit von einer Magd gegen seinen Willen entkleidet und zu einem Bad genötigt. Anders als in dem summarischen Report des Pamphilius nutzt Beer wieder evidentielle Beschreibungen, um die Situation besonders glaubhaft zu gestalten: Ich wüsche mich indeßen hinten und vorn/ und dieses währete so lange/ bis es endlich ganz finster war. Ich wolte gern heraus/ aber ich wüste nicht wo die Magd mir meine Kleider hingelegt hatte/ so war auch das Hemde in kleine Stücklein zerrißen. Muste also wider meinen Willen in dem Bade sitzen bleiben/ welches endlich ganz kalt wurde. (/: 163)

Die Detailbeschreibungen haben für die folgende Handlung keine andere Bedeutung, als im Bild des wartenden Helden seine Situation überzeugend zu schildern, während das Bad selbst Ausdruck der Reinigung von seiner pikarischen Herkunft ist und ihn für ein erotisches Erlebnis über seinem Stand vorbereitet. Die Entkleidungsszene mit der Magd verbindet seine Scham mit der erotischen Stimulanz, nackt vor einer Fremden zu stehen, was bei Beer auch sonst häufiger begegnet, wenngleich dort, im Narrenspital etwa, die Magd zu Nacktheit gezwungen wird. Das Moment des ErotischAffektiven setzt sich dann fort, als die Edelfrau in Verkleidung als Jäger auftritt, ihm Kleidung bringt und explizit seinen nackten Körper betrachtet. 122 Als der vermeintliche Jäger mit ihm schließlich das Bett teilt, wird er durch die »großen Weiber-Brüste« vom Erzähler als Edelfrau erkannt. In dem folgenden Gespräch entfaltet sich eine komplexe Sein/Schein-Thematik, 122

J: 164.

144 da der Erzähler die Verkleidung der Edelfrau durchschaut, während sie weiterhin versucht, ihre Rolle auszunutzen, um ihn über seine Gefühle zu befragen. Er gibt zwar seine Zuneigung zu, täuscht aber Furcht vor Zurückweisung vor, die von der Edelfrau eindeutig dementiert wird: >Was Poßen?< (sagte der Jäger) >sie sagte mir selbst/ daß sie euch liebte. [...] besinnet euch im Traum und resolvirt euch zur affection, ein Zigeuner und armer Mensch/ wie ihr seyd/ muß seine Fortun suchen wie er kan/ nicht wie er will.< (.J: 164f.)

Die erotische Textur der Szene wird durch die unverblümte Erklärung der Edelfrau konterkariert, da sie nicht auf das amouröse Abenteuer zielt, sondern auf eine dauerhafte Verbindung, und so verbietet sich die Auflösung der Spannung in der galanten Erotik. Beide bleiben keusch und setzen am nächsten Tag das beziehungsreiche Spiel von Illusion und Täuschung fort, der Jäger durch ein Lied, das die Liebe als einen flüchtigen Affekt beschreibt, die Edelfrau durch ihre Nachfrage, was er mit dem vermeintlichen Jäger im Bett besprochen habe. Jäger und Edelfrau geben sich jedoch nicht zu erkennen, und es wird deutlich, daß beide durch eine geschickte Täuschung versuchen, den anderen zu überraschen. Die Dissimulation erweist sich dabei als rhetorisch inspirierte Technik der Macht, die als Verfügung über den jeweils anderen in der Entlarvung seiner Motive und Pläne gründet. Der Jäger läßt sich daher in der folgenden Nacht durch eine ihm bekannte Zigeunerin vertreten, die seine Kleider trägt, doch seine Täuschung, mit der er die Edelfrau betrügen will, gerät ihm zum Nachteil, dann der Jäger ließe sich mit der Zigeunerin in dem Bett vermählen/ und als der Caplan wieder heraus gienge/ dachte ich/ ich miiste vor Gelächter zerspringen. Aber weit gefehlet! Dann ich hatte mich mit der Zigeunerin selbst betrogen befunden/ weil sie eine verstellete Manns-Person gewesen. [...] Dergestalten betröge eins das andere/ aber ich fiel in eine große Melancholey/ weil ich im Ausgang der Sache mich recht in sie verliebt befände. (/: 168f.)

Auch für diese Episode gilt der doppelte Bezugspunkt auf Leser und Held: Auf der Oberfläche handelt es sich in der direkten Rezeption um ein traditionelles Beispiel des Typs »betrogener Betrüger«, das durch die Seitenthemen der erotischen und affektiven Verstrickungen angereichert ist. Diese doch zu einfache Auslegung muß vor allem im Hinblick auf die Weiterführung der Lebensgeschichte in der Erzählzeit und -gegenwart des primären Erzählers revidiert werden, denn dort verschränken sich die beiden Lebensberichte auf komplexe Art. Es ist daher notwendig, zunächst einmal die Vita des Helden nachzutragen, bis er mit dem erzählenden Jäger zusammentrifft. Jucundus' Lebensbericht zerfällt, ähnlich wie bei dem Jäger, in die pikarische Ausgangslage und die daran anschließende Episodenhandlung. So wird die Explikation der Herkunft des Helden durch die Integration von nachgeholter Vorgeschichte der Edelfrau und der Erzählgegenwart des Helden am Ende des ersten Buchs in die Erzählung seiner Schulpossen überführt, womit

145 das zweite Buch beginnt. Jucundus zeigt sich als Pendant zur mißratenen Tochter der alten Edelfrau, deren Streiche er geradezu imitiert, wobei auch seine ähnliche psychologische Disposition angedeutet wird. 123 Im Anschluß daran findet sich eine Passage, in der von einem Besuch auf einem anderen Schloß anläßlich eines Begräbnisses berichtet wird. Dort läßt sich Jucundus einen Prunksaal zeigen, wobei die Philosophen Caramuel und Ariaga 124 erwähnt und zwei Epigramme zitiert werden und durch Zufall ein »ganz nackicht ausgezogenes Fräulein« auf ihrem Bette erblickt wird. Diese disparaten Partikel lassen sich nur vermutungsweise der Handlung zuweisen und belegen ganz praktisch Beers Warnung, daß er, ohne zu reflektieren, seinen Text verfaßt habe. Die daran anschließende Episode geht vermutlich auf Grimmelshausens Courasche zurück 125 und berichtet von einer betrügerischen »Schatzheberin«, die die Leichtgläubigkeit der Edelfrau ausnutzt, um ihren Besitz zu stehlen, während diese darauf hofft, in ihrem Keller einen Schatz zu besitzen. Allein der Jäger der alten Edelfrau mißtraut dem komplizierten Ritual der Schatzheberin: »gedänket doch nur/ was das vor Puncten seynd/ die sie uns vorgeschrieben hat?« (/: 132) Sein vorsichtiges Mißtrauen erweist sich als berechtigt, und die Betrügerin wird gefangen. Der Autor nutzt die Gelegenheit, die moralische Belehrung wieder einmal als körperliche Strafe zu administrieren, und so wird die Betrügerin mehrfach verprügelt und zum Dorf hinausgejagt. Es handelt sich offenkundig um eine Spiegelepisode zur Vita der alten Edelfrau, die auf ganz ähnliche Weise von ihrer eigenen Schwester betrogen wurde, wobei offen bleibt, ob Beer einfach schwank haftes Material zur Wiederholung nutzt oder eine fortdauernde Arglosigkeit der Edelfrau andeuten will. Die Bedeutung der Episode ist in jedem Fall gering und bezieht sich allenfalls auf die Sein/Schein-Problematik und das notwendige Mißtrauen angesichts manifester Hinweise. In diesem Sinne läßt sie sich als Vorbereitung zur Unbedachtsamkeit des späteren Jägers auffassen, der die Aufforderung, die Täuschung zu durchbrechen und sein Glück zu ergreifen, zu seinem Schaden mißachtet. Die an dieser Stelle folgende Revue entlaufener Narren, die sich um eine Präzeptorenstelle bewerben, die dann der Student, dessen Vita hier folgt, einnimmt, ist rein topisch und für uns unerheblich; 126 erst mit der Reise des Studenten und des Erzählers in dessen Heimatdorf gewinnt der Lebensbericht wieder eine bedeutsame Dimension. Den beiden Reisenden werden

123

»[S]o sehr mich auch hierzu die alte Edelfrau angemahnet/ thate ich doch alle Zeit das Widerspiel [...]; Ich dachte noch gar fleißig an die Erzehlung/ welche die Edelfrau in dem Dorf bey meiner Mutter abgeleget/ absonderlich aber wie sie erzehlet/ welcher Gestalten ihre Tochter dem Jäger über dem Vogel-Leim gekommen«

124

Siehe dazu den Exkurs zu Schertzer. Vgl. das Kapitel XIX der Courasche.

(/: 123). 125

126

J: 136-143.

146

ihre Pferde auf zauberische Weise in eine Feuerleiter und einen Pickelhering verwandelt, und der Jäger, der später seine Vita erzählt, bestätigt ihnen, daß derartiger Zauber an diesem Ort stattfindet. Sie gelangen schließlich auf das Schloß eines Edelmannes, der »ein absonderlicher Liebhaber der Land-Reisenden seyn solte« (/: 161). Mit diesem Landadligen begegnet der nächste Vertreter der Figurenpsychologie der späteren Romane Beers, der wiederum vor allem an den faulen Lorentz aus dem Narrenspital erinnert, aber auch Charakterzüge des Ludwig aus den Winternächten trägt: Er hatte das Podagra algemach ins vierzehende Jahr und so stark/ daß er zwischen dieser Zeit nirgends wohin/ als in seinen Garten kommen können/ derowegen hatte er seine Ergötzung an denen vorüber Reisenden gesuchet/ weil sie ihm durch allerley Erzehlungen seine Schmerzen lindern musten. (J: 161)

Dieser Edelmann ist vor allem durch seine stationäre Existenzweise determiniert, die auf die Gesellschaft des »Ordens der Vertrauten« und auf den faulen Lorentz hinweist. Ihnen allen ist die Angewohnheit, sich die Lebensgeschichten der Reisenden zur eigenen Ergötzung berichten zu lassen, eigen, wobei diese Verhaltensweise auch schon in früheren Texten berichtet wird. Im Jucundus gibt Beer mit der Krankheit noch einen äußeren Grund für die Immobilität an, der später als unnötig fortfällt, während bereits hier auf eine schriftliche Sammlung der vorkommenden Abenteuer verwiesen wird, die den Vorbeireisenden bei seinem Schloß passieren.127 Auch das Moment des Lachens teilen die Figuren, wobei Ludwig und der Edelmann gerne selbst anderen einen Possen spielen, was an die Tochter der alten Edelfrau und an den Erzähler selbst erinnert. Das unbändige Lachen des Edelmannes und des ganzen Hofgesindes über die absonderliche Verzauberung der Pferde verweist aber auf eine tiefere Bedeutung, die sich in der Bildlichkeit des Tollen und Närrischen andeutet: [D]er Edelmann lachte immer/ daß es taugte/ ja! es fienge auch der Knecht/ so uns die Stieffei ausgezogen/ an zu lachen/ und die Magd/ welche zweymal Gewürze in dem Zimmer gelaugt/ die spränge hinein und heraus/ wenn sie toll wäre. Die StallKnecht pfiffen und sangen in dem Hof; In Summa: Es war alles lustig. (J: 161)

Das Toben und Springen ist Teil der Bildlichkeit närrischer Leidenschaftsverfallenheit, wie sie in der Badeszene anklingt und gleichermaßen im Narrenspital wie am Ende der Winternächte dominant wird; darüber hinaus deutet auch das Pfeifen und Singen auf die Herrschaft des Affektischen hin, das den Reisenden unheimlich wird.128 Schließlich erscheint der Jäger, dem sie 127 128

Siehe J: 161. »Dem Studenten wurde bei dem Lachen dieses Schloß-Gesindes recht übel/ ich aber sprach ihm heimlich Trost zu/ er solle sich nichts befremden lassen/ wir würden hier wol aufgehaben seyn. [...] Aber die Warheit zu bekennen/ so wurde mir/ gleich dem Studenten/ über das Gelächter der Leute/ recht närrisch/ und dahero aße weder ich noch der Student ein Bißen« (/: 161). Wenn der Autor resümiert, »[e]s war alles lustig«, zitiert er die quasi-utopische Idyllik der Erzählerexistenz am Anfang des Corylo. Die verborgene, inverse Idyllik der Szene im Jucundus entpuppt sich

147 bereits im Wald begegnet waren, der durch einen Schlag auf den Kopf die Gesellschaft von ihrem närrischen Lachen befreit und erklärt, daß dies die Wirkung eines Lustwassers sei, das in ihrem Stall als Quell entspringe. Der Jäger hatte die Existenz des magischen Wassers schon vordem berichtet, als er Jucundus und seinen Begleiter über die Verzauberung aufklärte und behauptete, daß die verschwundenen Pferde in der Nähe unter einem Baum zu finden wären, wenn sie die Bauern nicht gestohlen hätten. Dieser technische Hinweis wird später noch von Bedeutung sein. Der Edelmann bekräftigt nun die wohltuende Wirkung des Wassers: Die Schmerzen/ welche ich sonst am Podagra fühle/ werden mir durch den Trank dieses Lust-Wassers so verringert/ daß ich ihrer wenig oder gar nichts gewahr werde [...]. Ich habe die Art des Wassers durch diesen gegenwärtigen Jäger erfahren.

(/: 162) Und an diese Äußerung schließt der Lebensbericht des Jägers an, den seine Unbedachtheit um den sozialen Aufstieg und die erfüllte Liebe bringt und der seiner »Melancholey« durch poetische Produktion und Musik abhilft. Spätestens hier fällt die Analogie von Lustwasser und künstlerischer Produktion auf, die alle drei Ebenen der Handlung ineinander spiegelt. Die »Invention«, wie er seinen fehlgeschlagenen Betrug nennt, ist als erzählte Episode eben jenes Mittel, das ihre eigenen »Auswirkungen« bekämpfen hilft, nämlich die Melancholie. Der Betrug der illusorischen Erzählung ist Verursacher und Medizin gleichermaßen; der Edelmann ergötzt sich an den episodischen Begebenheiten der Reisenden und lindert dadurch den Schmerz der Podagra, und seine krankheitsbedingte Immobilität wird durch die Teilnahme an den Erlebnissen fremder Personen erleichtert, die er als Erzählung aufzeichnen läßt. Nun wird aber durch den Erzählzusammenhang deutlich, daß dieser Edelmann eben jener verkleidete Zigeuner sein muß, der durch die »Invention« des Jägers zu seiner adligen Landexistenz gekommen ist: ein im wahrsten Sinne des Wortes Jucundus Jucundissimus. So dient nicht nur dem Jäger, dem betrogenen Betrüger, sondern auch dem unwissenden Gewinner, der als wesentliche Figuration eines Beerschen Typus gelten darf, das Lustwasser als Arznei, womit die komplexe Problematik aber noch nicht erschöpft ist, denn die Analogie des Lustwassers zur Kunst und Poesie wird ganz deutlich, wenn von dem felsigen Ursprungsort der Quelle berichtet wird: »Er war so artig von Natur formirt/ daß er mich nicht ungleich dem abgemahlten Berg Parnaß mahnete« (J: 169). Die Analogie des Wassers, das vom Parnaß stammt, mit der Poesie wird weitergeführt, denn der Jäger setzt sich an die Quelle, Willens/ unter den angenehmen Murmeln des Bächleins meine Laute unterzumengen/ und ein Schäffer-Liede darein zu singen. Ich machte es so lange/ bis ich endlich dann, ähnlich wie die spätere Landlebenexistenz im Narrenspital, als unheimliche und sündhafte Kontrafaktur.

148 Lust bekäme/ von den Christallen-Wasser einen Versuch zu thun/ welches als es geschehen/ kan ich nicht sagen/ wie frölich mein gemüth wurde. Ich hupfte und tanzte immer um den Felsen herum/ und uneracht ich in selbem Herumtanzen meine kostbare Laute zertretten/ wurde ich doch immer frölicher/ bis ich endlich noch einmal getrunken/ da käme mir vor Lustbarkeit fast eine halbe Raserey an. (/: 169)

Die Wassermusik des Jägers verbindet sich mit dem parnassischen poetischen Humor, der nun allerdings zu unkontrollierbarer Lustigkeit führt, die ganz deutlich Zeichen der Leidenschaftsabhängigkeit der tollen Feste im Narrenspital und in den Winternächten trägt, denn auch dort werden im Taumel der besessenen und alkoholisierten Lustigkeit die wertvollen Musikinstrumente zertreten. So weit handelt es sich zunächst um ein virtuoses poetologisches Spiel mit der Analogie von Lustwasser und poetischer Erzählung, die sich beide gleichermaßen als Ursache und Lösung eines Problems erklären lassen; die poetische Erzählung figuriert dabei als dissimulatorische Invention in doppelter Hinsicht: einmal als evidentiell-inventiöser Grundcharakter jeder Erzählung und zum anderen als inhaltliches, episodisches Betrugsmanöver innerhalb der Geschichte des Jägers, der dies in einer poetologischen Überlegung auch ausspricht. Anläßlich des von ihm komponierten Lieds bemerkt er den Unterschied zwischen aufrichtiger Naivität und subtiler Phantasie: [D]ie Begierde/ meine Invention an den Tag zu bringen/ ließe mir nicht viel Zeit/ noch länger auf bäßere oder füglichere Reimen zu studiren/ und bleibet dahero gewiß und wahr/ je schöner und zierlicher die verliebten Lieder gemachet sind/ je weniger weiß das Herz davon/ weil die subtile Phantasie von denen brennenden affecten allezeit verjaget wird/ dahero hat man im Gegentheil viel eine größere Gewohnheit aus unfugsamen Versehen zu sehen/ weil sie aus einem Gemüth entspringen/ da die Kunst und Geschicklichkeit auf eine Zeit ausgetrieben ist/ und dahero keine sonderbare Invention statt haben kan. (/: 166)

Gerade dieses letztere ist aber der Fall des Jägers selbst, dessen subtile Phantasie eine »sonderbare Invention« kalkuliert und sich am Ende betrogen findet. Beers poetologische Warnung und Ermahnung zur Unmittelbarkeit wird durch den Einsatz der vergegenwärtigenden Evidentia beglaubigt, und erst unter dieser Perspektive erhält seine auch an anderen Stellen geäußerte Bemerkung aus der Vorrede am Anfang des ersten Kapitels, »nicht viel still noch innen [zu] halten« und die »Feder denen Gedanken schnell nachfolgen« (J: 105) zu lassen, ihre volle Wertigkeit. Es handelt sich keineswegs um einen reinen Bescheidenheitstopos, sondern um einen bedeutenden poetologischen Hinweis auf die Erzählweise ohne »Zierligkeit«. Damit wird aber der ganze Text des Jucundus in die Reflexion mit einbezogen: Die ambivalente Invention kann so zur Melancholie führen, sie aber auch lindern, womit eine weitere Entsprechung zur Vorrede klar wird. Ich will mir derowegen selbst zur Verkürzung meiner Zeit eine Geschieht schreiben/ damit ich den verdrüßlichen Grillen nicht zu sehr nachhange/ noch mich mit leeren

149 Muhtmaßungen zu qvälen Gelegenheit habe/ dann durch dieses Mittel werden meine Augen gezwungen auf das Papyr zu sehen/ welche sonsten viel hundert Schlößer in der Luft erblicken/ aufgebauet von der wunderlichen Werkmeisterin der eitlen Phantasie. (J: 105)

Diese Bemerkung kann sich nach unserer Analyse nur auf die poetologische Beobachtung des Jägers beziehen, die die ausgeklügelte »subtile Phantasie« als unaufrichtige, »eitle« Invention zu rhetorischen Zwecken versteht und der ungekünstelten Naivität entgegenstellt, die Beer gerade mit großem Aufwand zu erwecken sucht. Die Schöpfungen der »eitlen Phantasie« verursachen daher gerade die Melancholie, die durch die unverstellten Episoden wunderlicher Abenteuer und eben jener kalkulierten, aber fehlschlagenden Inventionen verhindert werden kann: Die Poesie ist also, wie im ArzneiTopos oft beschworen, Gift und Medizin zugleich, sie kann als Lustwasser lindern und zur Raserei führen und bedarf daher der strengen Dosierung. In welchem Sinne dies auch für die Handlung und ihre Protagonisten gilt, zeigt Beer wiederum auf intrikate und beziehungsreiche Weise, denn als Jucundus und der Student von dem Wasser probieren wollen, wird ihnen statt dessen ein Schlafmittel gereicht, und sie finden sich völlig ausgeplündert an einer Wegkreuzung wieder. Sie müssen sich in ihrem Vorwitz als bestraft erkennen, vor allem als klar wird, daß der Edelmann sie selbst um ihre Pferde beraubt hat, womit dann auch die sonst unsinnige Angabe, daß der Quell in den »Roß-Stall« des Grafen gewandert sei, ihren hinterlistigen Sinn erhält und die Geschichte vom Lustwasser aus einem poetologischen Bild selbst zur Poesie, das heißt zur Lüge wird, deren »Außwürckung« des Edelmanns eigene »Invention« ist, dessen Gelächter den beiden Betrogenen als Strafe noch in den Ohren klingt: So sehr mich nun unser eigener Zustand dauerte/ muste ich doch über den Studenten von Herzen lachen/ und es schiene/ als ob das Lust-Wasser in mir zu operiren anfangen wolte. (J: 170)

Der Edelmann nimmt die Züge nicht nur des faulen Lorentz und des spöttischen Ludwig an, er wird auch zum Vollstrecker satirischer Strafen: Er ist Beobachter der fremden Lebensläufe, die ihm, ebenso wie das Lustwasser, als lindernde Arznei dienen, wobei er die unterhaltsamen Abenteuer der Reisenden selbst inszeniert und aufschreiben läßt, womit er sich als Figuration des Autors zu erkennen gibt, der in ihm als wahres Glückskind auch seinen Wunsch nach sozialem Aufstieg feiert. Dieser Aufstieg zur adligen Landexistenz und Ehe verdankt sich aber dem hier so hintergründig propagierten poetologischen Prinzip der Evidentia, die die Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit durch das zufällige und funktionslose, nicht von außen determinierte Detail schafft. Der verkleidete Zigeuner gewinnt sein Glück, weil er es nicht gesucht hat, seine Absicht war auf einen kurzweiligen Possen gerichtet; anders als der Jäger, der ein Kalkül verfolgt, ist er nur Mittel in einer »Speculation«. 129 Der glückselige Zigeuner wandelt sich schließlich auf

150 eine Weise zum spöttischen Edelmann, daß seine Herkunft nicht mehr deutlich ist und erst durch die Handlung rekonstruiert werden kann, womit die Figuration des Autors sich von ihrer pikarischen Herkunft trennt und sie als literarische Erzählung und Mittel zum Glück der Adelsexistenz objektiviert. Die »Invention«, die als kalkulierte dem Jäger fehlschlägt, zur Episode in seinem Lebensbericht gerinnt und Erzählung wird, dient so dem Edelmann in doppelter Hinsicht, indem sie seine Herkunft als Pikaro literarisiert und die Erfindungskunst damit gleichermaßen zum Mittel seines Aufstiegs wie auch zur Arznei seiner Leiden erhebt. Beer spiegelt sich als Autor in der Figur dieses literarischen Jucundus Jucundissimus, der dann in seiner Funktion als lachender Satyr auftritt und den erzählenden Helden handgreiflich über den gefährlichen Charakter des Lustwassers belehrt. Es entspricht dabei völlig der komplexen Figurengestaltung, daß der Edelmann als zwielichtige und problematische Person erscheint, wie ja später auch Lorentz und Ludwig. Beer spielt hier ganz offenbar mit der Faszination des ambivalenten Charakters des Scopticus, der scharfsichtig die Fehler und Untugenden aller anderen verspottet und satirisiert, aber selbst keinen moralischen Maßstab begründet oder vertritt. Seine das ganze Werk durchziehenden Apologien, kein Spötter zu sein, belegen Beers geschärftes Bewußtsein und sein Interesse an einer solchen Figurencharakteristik, die in Lorentz und Ludwig schließlich ihre bedeutendsten Vertreter findet. Es lassen sich allerdings an allen Orten Charakterskizzen zu der Figur des Spötters finden, so im Jucundus in der Figur der Tochter oder eines geizigen Edelmanns aus der Vita des Studenten, der seine luftigen Unarten mit eben den Worten verteidigt, die auch Lorentz im Narrenspital gebraucht. 130 Im Abschnitt über das Narrenspital werden wir die Phänomenologie dieses Typus genauer analysieren. Jucundus erfährt also in der Lustwasser-Episode das nämliche wie die alte Edelfrau: die trügerische Illusion des Scheins, der die gläubige Naivität satirisch straft und damit das Gegenprinzip zu der oben diskutierten poetologischen Maxime formuliert. Diese Dichotomie von kritischer Intelligenz des Spötters und unverstellter Naivität begründet ja nicht nur die Figurenpsychologie der Protagonisten wie Lorentz, sondern sie ist grundsätzlicher Ausdruck der Erzählpoetik Beers, die von dem Widerspiel von kalkulierender Rhetorik und grotesker Alogik bestimmt ist. Es kann daher kaum verwundern, daß sich die Lustwasser-Episode aus poetologischen Überlegungen heraus zum Bild des Spötters verdichtet, der aber aufgrund seiner gefährdeten und gefährdenden Komplexität ein Faszinosum außerhalb der Erzählerfigur

129 130

/ : 168. »Was liegt dir dran/ daß ich farze? Ist es nicht bäßer/ ich entledige mich von den denenselben/ als daß ich hernach dreysig Thaler in die Apotheke geben muß«

(.J: 148).

151 bleiben muß. Jucundus, Hannß und ZendorioAVolfgang stehen in Beziehung zu diesem Charakter, ohne selbst dessen Psychologie zu erwerben. Seine Anziehungskraft wird in den folgenden Erzählungen Beers zum Prüfstein für den primären Ich-Erzähler und tritt als weitere Versuchung an die Seite der sexuellen Verführung und der Liebesleidenschaft. Damit jedoch hat sich Jucundus nicht mehr auseinanderzusetzen, er hat seine Lektion aus der Vita des Jägers gelernt und ist entschlossen, sein Glück nicht zu verspielen: [W]eil ich sonsten nichts zu suchen hatte/ kehreten wir auf einen andern Weg/ wieder zurück zu unserer alten Mutter/ auf das Schloß/ alwo ich entschlossen war/ meiner Hofmeisterey abzuwarten/ und zu sehen/ wie ich endlich das Schloß gar an mich partieren möchte. (J: 172)

Die Hoffnung des Erzählers auf die gesicherte Existenz eines Landedelmannes ist nicht unbegründet, wie die testamentarische Einsetzung als Erbe der alten Ehefrau belegt: »Ich kan nicht glauben/ daß ein Mensch auf Erden jemaln eine größere Vergnügung als ich dazumal empfunden/ da ich zu einem solch schätzbaren Reichthum/ und zwar ganz unverdient gelanget« (J: 181). Das Schlüsselwort ist hier zweifellos »unverdient«, denn es unterstreicht die Bedeutung des Ungeplanten und Zufälligen als Mittel zur Verwirklichung der Lebensutopie und als Mittel der überzeugenden Anschaulichkeit der erzählerischen Darstellung. Damit stellt sich auch, wie oben gezeigt, der Zusammenhang zum gesamten Text des Jucundus her, der als Lebensbericht des Erzählers dessen »unverdientes« Glück zum Schlüssel für Autor und Leser abgibt, wie sie ihr Leben einzurichten haben. Für beide wiederholt sich in der Doctrina die doppeldeutige und widersprüchliche Struktur der Erzählweise selbst, die den Schein des Natürlichen und der naiv-aufrichtigen Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit der Gegen-Rhetorik nur mit den Mitteln der Rhetorik herstellen kann. So erfährt der Leser, daß er die Versuchungen fliehen und seine Leidenschaften kontrollieren muß, um nicht in der Sünde unterzugehen, daß die Welt ungerecht und betrügerisch ist, so daß auch der Gerechte nicht immer belohnt wird. Die dem Denkmodell Beers entsprechende Kategorie ist dabei die der göttlichen Gnade, deren Wirken er in säkularen Handlungszusammenhängen beschreibt, ohne sie jemals nennen zu können, denn die im wesentlichen passive Rolle des Sünders, der die Gnade zwar erbitten, aber nicht veranlassen kann, wird von Beer durchbrochen, wenn er ganz machiavellistisch argumentiert, man müsse sein Glück ohne Verstellung beherzt ergreifen. Auf diese Überlegung verweist dann auch die Rolle des Ich-Erzählers, der über weite Strecken passiv bleibt und sein Glück »unverdient« als beherzter Dezisionist ergreift, und auch die Form dieses Glücks erweist sich als machiavellistisch inspiriert, denn »Fortuna ist ein Weib«, 131 und so verfolgen die Helden Beers die Suche nach einer Frau als letzte Legitimation ihrer erworbenen Macht. 131

»La fortuna è donna« ist die bekannte Formel aus dem 26. Kapitel von Machiavellis Principe.

152 In der legitimen Ehe manifestiert sich zum Schluß die gewonnene Sicherheit des Lebens als Herrschaft über die Frau und herrschaftsfreies otium. Die Frau als »gefährliches« und gefährdendes Supplement des Mannes demonstriert in ihrer Domestikation aber auch seine befestigte Herrschaft, und so ist die gute, glückliche Ehe für Beer kein Handlungselement, denn die Frau ist bei ihm als »gutes Weib« weitgehend handlungsunfähig. Die Ehe wird zum Emblem von persönlicher Autonomie und gesicherter Herrschaft, sie zeigt die Meisterschaft in der Kunst der Affektkontrolle der eigenen Leidenschaften als Unterdrückung derjenigen der Frau. Das Gefährliche der Frau ist auch für Beer ihre Ähnlichkeit mit dem Text selbst, dessen immer rhetorische Verfassung mit - wiederum rhetorischen Mitteln - unterdrückt werden muß, um den Glücksgewinn der privaten Idylle zu garantieren, und so steht am Ende des Textes als Gelungenes immer der Triebverzicht als Einsiedelei oder Ehe gleichermaßen. Die Willenhag-Romane präsentieren ein buntes Bild dieser beiden abwechselnden Realisationsmöglichkeiten, während der Jucundus das Element der Domestizierung unterstreicht, denn natürlich muß der Erzähler seine Landidylle durch eine Frau komplettieren. Hier bietet sich nun im Vergleich mit den Satiren nichts Neues, die Suche nach der passenden Frau muß nach dem Zusammentreffen mit ungeeigneten Kandidatinnen abgebrochen werden, und angesichts der verbuhlten, hoffärtigen, putz- und klatschsüchtigen Exempel des »faulen Weibs« entschließt sich Jucundus, mir eine fromme und Gotts-Fürchtige zu suchen/ und weil doch ein Frauen-Bild wie das andere geschaffen wäre/ nach Art der Leibs-Glieder/ achte ichs sehr wenig/ ob ich müchte eine von Adel oder eines Bürgers Tochter heyrahten/ ja ich entschloße mich/ auch vor einer Bäurischen nicht zu fliehen/ so ich nur versichert wär/ daß sie fleissig betete/ dann an diesem ist das meiste gelegen/ sie mag darnach können/ verstehen oder Güter haben was sie wollen. (J: 184)

An dieser Stelle wird deutlich, daß Beers Sehnsucht nach der Adelsidylle sich nicht primär auf den Stand bezieht, sondern auf die materielle Sicherheit, die er allerdings nolens volens mit der Adelsexistenz assoziiert. Mit der Sicherheit der Landexistenz ist auch der Status des Adligen verbunden: Die Lebensweise bedingt den Stand, weil sie ohne ihn kaum denkbar wäre.132 Nur so, im Vorgriff auf den Adelsrang, ist das Zitat erklärbar, denn als Sohn eines Tagelöhners garantiert ihm selbst Reichtum keine ehrbare Bürgerstochter, doch der Erzähler hat sich, wie bereits der ebenso unverdient glückliche Edelmann, seiner Herkunft entäußert: Sie wird literarisiert und, ins Motiv des Pikarischen gebannt, zum Prä-Text als Mittel des Aufstiegs und erzählerische Fiktion gleichermaßen. Mit dem Verlust der Herkunft als Sze-

132

Allgemein dazu in historischer Sicht Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg 1949.

153 nerie der Not und des Mangels gelangt der Erzähler erst zu seiner wahren Identität, die sich nur über die Autonomie der gesicherten Existenz und der Herrschaft definiert. Sein Vor-Leben ist auf den Bruch angelegt, es ist mit dem Gewinn der neuen Identität Geschichte geworden - Lebensgeschichte, die der Erzähler zu Geschichten verwandelt und in unablässigem Bemühen an anderem zu wiederholen strebt: Dann/ die Warheit zu gestehen/ so finde ich vor meine Person in denen Handlungen der gemeinen Leute und niedrigen Stands-Personen oftmals eine mehrere Lust/ als in denen Thaten der großen und Welt=beschryenen Helden-Geschichten/ welche oftmals nit allein recht lächerlich fingirt/ sondern noch darzu mit solchen Schwachheiten angefüllet seyn/ daß man die Erz-Lügen mit allen fünf Fingern greiffen kan.

(.1: 173) Die Handlungen der »gemeinen Leute« sind für die Helden Beers nichts anderes als deren Lebensberichte, die die Ausgangslage des Erzählers selbst immer wieder entwerfen, sie sind der immer erneut herzustellende Hintergrund seiner Ich-Findung und Identität im Verlust der Herkunft. Der geschichtslose Erzähler erschafft sich seine Herkunft als Akt der Fiktionalisierung, und ihm wird sein Herkommen zum Erzähltext, der sich als Ausdruck und Mittel der Identitätsfindung und des sozialen Aufstiegs entpuppt. So wird der Lebensbericht des Helden zur Konstellation des Eigenen inmitten des Fremden zum Fremden selbst: Mit dem Glück der Idylle bricht daher die Erzählung ab. Der Held als Erzähler ist immer gerade angekommen; erst in der Willenhag-Oüogic erweitert Beer diesen Rahmen und bringt die Sehnsucht des Helden nach seiner Herkunft zur Darstellung, indem er ihn inmitten des »Ordens der Vertrauten« als erzählenden Zuhörer entwirft, der sich seiner selbst immer wieder im Fremden vergewissern muß. Die Vergegenwärtigung fremden Lebens imitiert jedoch für den Erzähler wiederum sein eigenes Verfahren der überzeugenden Veranschaulichung, und so ist es nur verständlich, daß die Erzählwelt Beers von den Mechanismen der Verschriftlichung der mündlichen Lebensgeschichten berichtet. Indem so der Erzähler sich selbst in fremdem Leben wiedererkennt und -findet, im Fremden sich selbst aneignet, eignet er sich auch sein weibliches (Text-)Supplement an: Er heiratet die Tochter der Edelfrau. In diesem Motiv kulminieren nun alle genannten Interpretationsstränge, denn hier findet sich zunächst das Bild der Heimkehrenden, die ihre Herkunft zur Identitätsfindung nutzt, was Jucundus nicht möglich ist. Auf der Reise zu seinen Eltern muß er erfahren, daß sie gestorben sind, und so kehrt er ungerührt zu »unserer alten Mutter« zurück. Er gewinnt in der Tochter jedoch noch mehr als die eigene Heimat in der fremden, sie ist ihm ja bereits frühes Muster freiheitlicher Autonomie gewesen, das er imitiert und überwunden hat; ihre Faszination teilt sie dabei als anti-erotische Spötterin mit dem zweiten, doppelgängerischen Jucundus, dem betrügerischen Edelmann. Schließlich ist sie nicht mit einem Schindersknecht, sondern mit einem Schmied-Knecht davongelaufen, hat ihre Keusch-

154 heit bewahrt und erzählt in ihrem Lebensbericht auch, wie sie ihren spöttischen und anti-erotischen Charakter bewahrt hat:133 Sie lebt als positiv gewendete Courasche ein Soldatenleben, bis sie gänzlich reformiert zurückkehrt. Hierüber weinte die Alte/ und wir verwunderten uns über die Geschieht/ weil sie auch ein trefflich schönes/ kluges und holdseliges Mädchen war/ auch ihre Widersinnigkeit gänzlich abgeleget hatte/ verliebte ich mich nicht ein kleines in ihre absonderliche Eigenschaften. (J: 186)

Mit seiner Heirat eignet sich der Erzähler nun die Tochter als den umgekehrten pikarischen Text seiner Herkunft an, denn sie ist auch darin sein Supplement: Ihre Lebenskurve beginnt da, wo die des Erzählers endet, als Kind der »alten Mutter« in gesicherter ländlicher Idylle, und bewegt sich nach unten. Sie ist die Faszination selbst - als Ausdruck des Überwundenen, Verbotenen, Zu-Überwindenden und Verlorenen: So ist sie in vielen Teilen Jucundus selbst, der sich in ihr seiner eigenen Vorgeschichte bemächtigt. Die Tochter ist ein abenteuerliches Konstrukt aus all dem, was der Erzähler verlieren und überwinden muß, um zu seiner von ihm gewählten Identität und zu einer besonderen Vita zu gelangen, und so ist sie auch die Summe der verdrängten Möglichkeiten des Erzählers. Sie wird keines Namens gewürdigt, weil sie von Anfang an kein Charakter, sondern ein Konglomerat von Charakteristiken ist, von Tendenzen und Latenzen im Erzähler selbst, der sich in dieser »liaison dangereuse« komplettiert. Das Bedauern über ihr frühes Verschwinden aus dem Text verliert sich dann auch in der Erkenntnis ihrer Verfassung als Wunschprojektion des Erzählers: In seinen Händen wird sie zum Text, zur abenteuerlichen »Geschieht« und zum überzeugend Anschaulichsten selbst - zum ungelebten Leben der Literatur.

3.3. Affektverfallenheit als Thema der satirischen Schriften der Jahre 1680 bis 1685 Die parallel zum Corylo, Jucundus Jucundissimus, Bruder Blaumantel und dem Narrenspital entstehenden satirischen Schriften nutzen die im Corylo ausgearbeitete Erzählsituation in drastischer Weise: Sie zitieren den biographischen Rahmen als quasi-pikarische Ausgangssituation, wobei sie strukturelle Elemente fortfallen lassen. Es fehlt das Moment des Abschlusses und damit einhergehend auch die am Anfang motivische Suche nach dem erfüll133

»[I]ch getrauete mich vor keinem Menschen mehr sehen zu lassen/ bis sich einer vom Adel/ welcher unser Dorf vorbey reisete/ in mich verliebte. Ich bescheidigte ihn unter dem Schein einer Gegen-affection zu mir/ und zwar in tieffer Nacht; alwo ich unsere Knechte bestellet/ die ihn bis aufs Hemde ausgezogen und jämmerlich zerblauet haben« (J: 185).

155 ten Leben in der Idylle autonomen Landlebens. Neben der Profilierung pikarischer Darstellungselemente machen sich Rudimente der Führerfigur aus dem satirischen und »politischen« Roman bemerkbar, die zwar an Moscheroschs Expertus Rupertus entfernt erinnern, aber dennoch kaum die Bedeutungsfülle der Führerfigur im Roman Weises erreichen. Indem Beer jedoch den ohnehin fragilen Erzählrahmen weiter ausdünnt und einen nahezu gesichtslosen Ich-Erzähler als reinen Berichterstatter entwirft, gewinnt er Raum für die Stofflichkeit der satirischen Handlung, die den Erzählrahmen vollends zu sprengen droht. Die Liebes- und Verführungshandlung des Corylo ist bislang als letzter Beleg für die zentrale Stellung der Affektkritik und ihre Bedeutung für die Poetologie freier narrativer Invention gewertet worden. Die dort entwickelte Erzähltechnik des peripheren Erzählers erlaubt es, die Leidenschaftsverfallenheit der Protagonisten und des erzählenden Ich nebeneinander zu montieren, wobei die Erzählervita einem hierarchisierten Stufen- oder Entwicklungsmodell folgt und die Episoden der Protagonisten und sekundären Erzähler lokal begrenzt und thematisch eindeutig strukturiert als Kontrast dienen. Dieses Modell wird in den gleichzeitigen satirischen Schriften in bedeutsamer Weise modifiziert: Die abbrevierten Viten der sekundären Erzähler und die Begebenheiten der Protagonisten emanzipieren sich von der Funktionalisierung durch die Erzählerbiographie, die nun rein formales Element wird, und erweitern sich zu eigenständigen Handlungseinheiten satirischer Art. Die Forschung hat die satirischen Erzählungen Beers nur ungern zur Kenntnis genommen,134 denn zu der ungewöhnlichen und unübersichtlichen Erzählstruktur tritt eine thematische Monomanie, die in der älteren Forschung als Antifeminismus135 und seit Lynne Tatlock136 als Misogynie bezeichnet wird. Beer scheint in seinen Schriften über das Maß traditioneller »Weiber-Schelte« so eklatant hinauszugehen, daß man die offen frauenfeindlichen Schriften, die auch künstlerisch oft als unbefriedigend empfunden wurden, gerne umgangen hat. An dieser Stelle soll nun keine thematische Diskussion von Beers Misogynie stehen, sondern die Analyse der satirischen Erzählungen im Sinne der bislang ausgearbeiteten erzähltheoretischen Entwicklung. Dabei erscheint weniger das Profil eines manischen Frauenhassers - Beer war nach modernen feministischen Maßstäben wohl eher ein gewöhnlicher Sexist durchschnittlicher Art, der glücklich verheiratet war137 - , 134

135 136 137

Mit der Ausnahme Manfred Kremers: Die Satire bei Johann Beer. Phil. Diss. Köln 1964. So bei Alewyn (1932), Kremer (1964) und Hardin (1983b). Tatlock (1985a). »In Sachen/ über welche schon tausend Gelehrte ihre Federn stumpft geschrieben/ richtet ein Kochlöffel wenig aus. Und woran ein Gelehrter Kopff nichts ausrichten können/ daran wird ein Lasterhaffte Zunge noch weniger thun/ es geschehe darnach auff einer Seite wo es wolle. Darum so meidet/ O ihr Mägde/ das Disputiren, und zancket euch vielmehr herum/ wie viel Butter zu einer guten Habergritz-Suppe

156

sondern die Übertragung individueller Freiheitssehnsucht auf die Produktionsästhetik der Kunst und die Erfahrung oder Hypostasierung der (Liebes-)Leidenschaft als deren Gegenprinzip. Die biographisch-psychologischen Gründe für eine derartige Übertragungsleistung können hier noch nicht diskutiert werden, sie werden im Anschluß analysiert. 3.3.1. Weiber-Hächel (1680) und Jungfer-Hobel (1681) Die hier in Betracht kommenden Schriften lassen sich recht unproblematisch in Gruppen sortieren, deren erste die Weiber-Hächel (1680) und den JungferHobel (1681)138 umfaßt, die von Beer selbst als Einheit verstanden werden.139 Die ausführlichen Titel der beiden Schriften unterstreichen den allgemeinen satirischen Zweck, der, anders als bei der Kantorsatire und den Schülerpossen, auf kein identifizierbares Vorbild zurückgeht, worauf auch das Kupfer verweist, das einen Satyr zeigt, der einer sitzenden Frau die schöne Gesichtsmaske abnimmt, hinter der ein strenges Männerantlitz erscheint. Damit ist jedoch kein thematisches Moment bezeichnet, sondern ein ideologisches: nicht der tatsächliche Rollentausch, sondern die angemaßte Macht. Indem die Frauen zur Herrschaft über den Mann drängen, überschreiten sie die ihnen gesetzten Grenzen und verkehren Ordnung in Chaos, und so warnt die Subscriptio vor dem Mann in jeder Frau: »Der Schein betriegt./ Und offt belügt./ Stets Unvergnügt« (WH: 8). Die Herrschaft aber, die die Frau sucht, erwirbt sie nach Beer durch die Manipulation der leidenschaftsverfallenen Männer, um ihre eigenen sexuellen Affekte verwirklichen zu können. Der

138

139

erfordert werde/ seid sorgfältig ihr Jungfern/ wie viel Ellen Spitzen ihr des Tages kleppeln könnet/ und sehet wohl zu/ daß sich das Fleisch nicht versiede/ dann ich halte solches vor eine der grösten Thorheiten/ so ihr andere in die Schul führen wollet/ da ihr doch erst müst in die Küche geführt werden. Es ist genug/ nur so viel gegen euch geredet zu haben/ dann das übrige könt ihr nicht begreifen« (JH: 98; zum Jungfer-Hobel s. Anm. 138). [Johann Beer] Des berühmten Spaniers FRANCISCISAMBELLE wolausgepolirte WEIBER-HÄCHEL Darinnen demselbigen Geschlecht die Warheit tapffer ausgefiedelt/ die Laudes hurtig gesungen/ und ihre Handlungen Choraliter herunter figuriti werden [...] 1680; sowie Der Neu ausgefertigte JUNGFER=HOBEL/ Durch welchen ein und andere Jungferliche Untugenden abgehobelt und sonsten allerley Schnützer und Fautten desselbigen Volckes abgesaubert und auff die Seite geworffen werden/ in einer Historischen Erzehlung umständlich eingeschrenckt und an Tag gegeben [...] 1681. Zitiert mit den Siglen WH und JH in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 5. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. [u. a.] 1991 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 5). Außer den allgemeinen Ausführungen bei Kremer (1964) und dem weitgehend biographischen Nachwort E. Haufes zu seinem modernisierenden Neudruck des Textes (Der neu ausgefertigte Jungfer-Hobel. Hg. v. Eberhard Haufe. Leipzig 1968 [Insel-Bücherei, 878]) gibt es keine nennenswerte Literatur zu den Texten. Die Texte behandeln verheiratete und unverheiratete Frauen als jeweiliges Angriffs· und Satireobjekt; vgl. JH: 67.

157 Adressat der Satire ist dann auch der »Jüngling«, der sich vor den Frauen hüten soll, wie die Admonitio am Ende des Textes belegt. Der Erzähler selbst, der Spanier Franciscus Sambelle, fällt aus dieser Konstruktion heraus, denn er erscheint an keiner Stelle als gefährdeter »Jüngling«; seine Herkunftsfiktion ist ein reines pikarisches Zitat, das sich in den folgenden Texten ganz ähnlich fortsetzt: Er kommt, berichtet der Erzähler, aus einem entlegenen Dorfe aus »einer würcklichen Bettlerey« (WH: 14) und bezeichnet sich als einen »Bauer-Limmel«, dem man die »Unzierlichkeit im schreiben« (WH: 13) nachsehen müsse. Der Auftakt erinnert an den Beginn des Lazarillo de Tormes, dessen Erzähler auch von der notleidenden Mutter in Dienste gegeben wird, womit die Parallelen allerdings schon erschöpft sind. Der komplexen Erzählsituation des spanischen Vorbilds und seiner andeutungsreichen Durchführung hat Beer nichts an die Seite zu stellen: Der Erzähler etabliert wenig mehr als eine Perspektive. Die Ankündigung »schreite ich zu erzehlen meinen Lebenslauff« (WH: 14) bleibt ebenso blindes Motiv wie seine auffällige Schönheit; Beer konnte oder wollte aus dem pikarischen Erzählansatz nichts machen, und so regrediert der Erzähler zum peripheren Beobachter der Unsitten seiner neuen Herrin, deren Mann im Sterben liegt. Die wiederholten dringlichen Bitten, an sein Bett zu kommen, ignoriert sie, statt dessen beklagt sie sich über die Ungelegenheiten und die Kosten, die der Sterbende verursacht. Als sie schließlich doch zu Hause eintrifft, schminkt sie sich zuerst und »bestriche die Augen dergestalten mit Zwiblen/ das sie ihr fast eines halben Fingers weit hervor stunden« (WH: 20). Der folgende Text expliziert nun variantenreich die heuchlerische Dissimulation der Gattin des sterbenden Cornifer, die ein Verhältnis mit dem Schreiber Cornifacius unterhält, wobei die sprechenden Namen den Stand der direkten Satire andeuten. Beer konzentriert sich dabei auf die einfachsten Züge einer Phänomenologie der »bösen Frau«, die durch ihre Scheinhaftigkeit gekennzeichnet ist: Meine Frau die Goldschmiedin ist des Teuffels und seiner Mutter nicht werth/ man solte glauben/ sie wäre die allergetreueste Matron unter der Sonnen/ aber ihre Crocodils=Thränen sind allzubekandt. (WH: 23)

Die Quelle der Informationen und Moralisationen ist allerdings nicht der Erzähler, sondern der Lehrjunge Nebulo, der fast als nebengeordneter Erzähler fungiert, indem er umfassende Handlungssequenzen berichtet. Dazu gehört auch die folgende Textpassage, in der die »böse Frau« ihre Maske fallen läßt und den Ehemann auf unflätige Weise beschimpft. Die elaborierten Schimpf- und Scheltorgien sind groteskes, derb-materielles Detail und wahrhaftiges Erkennungszeichen der »bösen Frau«, die zumeist grundlos in Rage gerät und in den Beschimpfungen ihren Herrschaftsanspruch ausdrückt.140 Oftmals nutzt Beer auch die negative Verkehrung seiner schon 140

Eine berechtigte Ausnahme findet sich WH: 50.

158 angeführten Wunschphantasie der Verführung durch eine reiche adlige Ehefrau dabei als Kontrast: Dann hält die reiche Frau ihrem Mann seine Armut vor der Ehe vor. Hier mag durchaus ein Seitentrieb der Motiwerschlingung von der Utopie autonomen Landlebens und der Furcht vor deren Zerstörung, wie sie im Corylo thematisch ist, vorliegen. Beers Zentralthema ist jedoch nicht die »böse Frau« als Extrem der Frau schlechthin, sondern ihre markanteste Eigenschaft: die sexuelle Leidenschaftsverfallenheit und die daraus erwachsende »Hurerei«, die als außerund vorehelicher Geschlechtsverkehr scharf verurteilt wird. Die »Hurerei« ist dabei nichts anderes als der charakteristischste Ausdruck des freiheitsfeindlichen und antikünstlerischen Prinzips, das Beer als symbolische Verletzung der sexuellen Norm verdinglicht. Die verbuhlte Herrin Emilia läßt auch nach der Entdeckung ihrer außerehelichen Verhältnisse keine Besserung erkennen und begünstigt unwürdige Heuchler wie den Schreiber Cornifacius. Beer geht bei seiner Beschreibung der sexuellen Unmoral wenig subtil vor, denn er formuliert die Affektverfallenheit der Frauen als deren Selbstbekenntnis in plump-direkter Weise; die Nachbarin Emilias beneidet sie um den Tod des Gatten: Ja/ es deucht mich auch/ er habe die Magd lieber als mich/ darum so halt ichs auch mit unserm Praeceptor und frage nichts darnach/ die Leuthe mögen darzu sagen/ was sie wollen. Ach wär ich doch so gliickseelig/ das ich seine Leich Predigt anhören konte. (WH: 31f.)

Alle Nachbarinnen der verbuhlten Emilia bekennen offen, Liebhaber zu unterhalten und nur auf den Tod ihrer Männer zu warten,141 wobei zwei Gründe für ihre affektische Liebe benannt werden: das karnale Begehren und die trügerischen Komplimente, die mit ihrer Stilhaltung wiederum auf die von Beer verachteten Liebesdiskurse der höfischen Ritterromane verweisen und den Gestus der Unterwürfigkeit demonstrieren.142 Bei dem anstehenden Leichenschmaus erweisen sich die versammelten Frauen durch ihre banalen Schwätzereien als hoffärtig, neidisch und eingebildet, worauf Nebulo eine überlange satirische Moralisatio an die Anwesenden richtet. Dabei macht er deutlich, daß der Standesdünkel und die Überheblichkeit der Frauen neben der affektischen Konstitution das Hauptübel darstellen: »[D]er Titul machts nicht aus [...]. Die zeitliche Glückseeligkeit bestehet in der Vergnügung/ und mancher ergötzet sich mehr an dem Pflug/ als an einem silbernen Lavor« (WH: 42). Beer zitiert hier eine seiner eigenen frühen Maximen, die er hier auf den gesellschaftlichen Ehrgeiz der Frauen bezieht, Männer 141 142

Siehe WH: 32. »[E]s ist schon ein feiner Domine/ er hat hibsch studirt und kan überaus artig mit dem Frauen=Zimmer umgehen/ ich halte davor er bisse ehr in einen Finger/ ehe er einem Frauen=Zimmer nur ein Wort solte zu wieder reden/ seiner Complimenten sind unzehlich/ und wer ihn reden hört/ spüret aus allen seinen Discursen eine grosse Demuth« (WH: 32).

159 nach ihrem Ansehen und nicht nach ihren Qualitäten und Fähigkeiten zu heiraten. Die Ehrsucht der Frauen verbindet er dabei mit ihrer Hoffärtigkeit und Arbeitsscheu, ihrem Neid und ihrer Verschwendungssucht, die zu »Zwispalt und Uneinigkeit/ Trotz/ Grimm/ Widerwillen/ Zanck/ Neid/ Mißgunst/ Hader/ übele Nachrede/ Ärgernus« (WH: 44) führt. Beer nutzt die erzähltheoretische Möglichkeit des peripheren, beobachtenden Erzählers ohne Handlungsdimension offenbar dazu, das Thema seiner früheren und gleichzeitigen Erzählungen völlig unverstellt und direkt zu formulieren. Die Abwertung der Liebesleidenschaft, die in den vorangegangenen Texten noch als freiheitsberaubende sexuelle Verführung des Ich-Erzählers auftritt, objektiviert sich in den frauenfeindlichen Satiren der frühen achtziger Jahre zur »Weiber-Schelte«, deren Zusammenhang mit dem poetologischen Programm der Rittererzählungen und des Corylo nur noch in der pikarischen Erzählmotivation erkennbar ist. Die hier vorgetragene satirische Handlung ist virtuell ein lokal begrenztes Erzählpartikel 143 einer Romanhandlung, die auf die Lebensgeschichte des Erzählers zielt. Der in einer solchen Erzählsituation mögliche Grad direkter Satire erscheint Beer jedoch unzureichend, und so entledigt er sich des kompletten Rahmens der Erzählervita, um auf die direkteste Art sein Thema durchzuführen; allein der stehengelassene pikarische Ausgangspunkt markiert die verdeckte Einbindung in die biographie intérieure eines rudimentären Ich-Erzählers. Die stets wiederkehrenden Motive der freiheitsberaubenden Verführung zur Liebesleidenschaft drängen offensichtlich dazu, generell und allgemein erledigt zu werden. Im Hinblick auf die Ehrsucht und Faulheit der Frauen kommentiert Nebulo: Solche Händel richten eure stoltze Töchter an/ wann sie Männer bekommen/ und eine solche Ehe/ ist vor recht unglückseelig zu halten/ weil darinnen die Natur umgekehret wird/ dann die Frau wird Mann/ und der Mann ist Frau/ die Frau heisst Simon/ und der Mann heisst: ErWeib. (WH: 43)

In dem Kampf um die Herrschaft und Freiheit kennt Beer nur ein probates Mittel, wie ja bereits aus früheren Passagen bekannt ist: Aber mein Recipe heisst: Schlag zu/ klopffe drauff/ sonsten frist die Kranckheit wie ein fressender Krebs um sich/ und wo man dem Schaden nicht vorkomme/ schlägt uns die Kranckheit endlich über dem Kopff zusamm. (WH: 43f.) 144 143

144

Der Begriff »Erzählpartikel« nach Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens Adriafische Rosemund. Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619-1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. Hg. v. Hans-Gert Roloff, 1), S. 4 7 122. Der Erzähler bezieht dabei die körperliche Strafe direkt auf die Geschlechtlichkeit der Frau, die sich hier auch noch mit dem Bedeutungshof der Sprache verbindet: »Porta patens esto, das heist auf teusch: Die Thür stehe offen. Diese Wort sind nit mit Greide sondern mit Fleisch und Blut auf der Weiber ihre Mäuler durch die Natur angeschrieben/ und wird sie niemand als der Tod ausleschen können/ zu

160 Auch der Bezug zur sittenverderbenden Wirkung der Liebesromane wird en passant hergestellt145 und in den durchaus ernstgemeinten Rahmen religiöser Besinnung eingeordnet, die den Ehebrecherinnen ihr Gewissen vorhält: Ach/ gedencket nur nicht/ das die jenige Sünden vergeben seyn/ die ihr in dem verborgenen verrichtet/ dann das Aug des allweisen Himmels hat gar zu schärfte Strahlen/ vor diesem können auch die Berge nichts verbergen/ noch kein Abgrund der Höllen verduschen. (WH: 44)

Die Konsequenzen des unzeitigen Ehebruches werden schließlich an Emilia sichtbar, was der Erzähler zur abschließenden Moralisatio nützt, die er an die Jünglinge richtet und die die Freiheit des Gemüts mit der Vergänglichkeit der leiblichen Genüsse kontrastiert: Ein eintziger unvorsichtiger Schluß schliesset all eure Freyheit in den Kercker/ und ihr beschmertzet hernachmals auch den Augenblick/ da ihr angefangen eurem so harten Verhängnus nachzugehen. Ich habe diese Geschieht auf das allerkürtzeste entworffen/ aber euer Verstand wird die Auslegung beytragen/ welche sich ein jeder nach seiner Gelegenheit machen kan. Keine Rose verwelcket so bald/ als die Wollust ihre Blüte verliehret/ dieses Gewächs stellet euch vor Augen/ und betrachtet dadurch das jenige Unheil/ welches euch durch euch selbst kan an den Hals geworffen werden. (WH: 571)

Verlust der Freiheit, Kerkerhaft und moralische Zerknirschung, wie sie hier im ersten Satz des Zitats erscheinen, markieren nicht zufällig das zentrale Thema des Welt-Kucker, das hier in fast nicht-fiktionaler Form als direkte Satire erscheint. Damit ist aber nicht nur unsere These von der Herkunft und Konstanz des Themas belegt, sondern auch dessen poetologischer Stellenwert in den Vordergrund gerückt, denn wir können der Sequenz von Verführung, Kerker und Besinnung eine ganz ähnliche belehrende Intention unterstellen. Ähnliches gilt für den Jungfer-Hobel, der den Erzähler in Mädchenkleidern präsentiert und damit offenbar auch ein Motiv des Simplicissimus (II, 25) aufnimmt. Der Erzähler gerät schließlich in einen Haushalt, wo der Herr seine Frau mit der Magd betrügt, und eine Ziehtochter, die »Jungfer in der gelben Haube«, als Exemplum der verwerflichsten Leidenschaftsverfallenheit auftritt. Informantin des Erzählers ist hier eine alte Magd namens Eleonora, die, ähnlich wie Nebulo, nicht gerade als Muster der Sittenstrenge gelten kann und zur Vertrauten der verliebten Jungfer wird. Beer profiliert nun zunächst die Beschreibung der Affektverfallenheit: Eleonora sagte sie zu mir/ du weist als eine alte erfahrne Meisterin wie die Liebe zu scheren pfleget/ all mein lebtag ist mir nicht so übel wie an jetzo gewesen/ und

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weilen thut ein Eychen=Scheitt auch was dabey/ aber der Tod ist noch das kräfftigste Mittel diese offene Thür zu verschliessen« (WH: 52). »Wann die Narren einmal ein verlogene Liebs=Geschicht lesen/ so bilden sie sich ein/ die Historien=Schreiber/ sollten auch geschwinde drüber her wischen und ihre Lebens=Beschreibung an dem Tag bringen« (WH: 44).

161 ich wollte lieber fünff Klafftern in der Erde liegen/ als diese Quaall nur noch einen Monat ausstehen. (JH: 73) Die Jungfer bietet sich zwei H a n d w e r k e r s ö h n e n an, scherzt bei einer Zusamm e n k u n f t recht handgreiflich mit einigen Kavalieren, u m auf dem Heimweg den »perfecten B a u r - F l e g e l « (JH: 89), der ihnen leuchtet, zu ihrem Zweck zu gebrauchen. 1 4 6 In ihrer K a m m e r läßt sie schließlich ihrer sexuellen Begehrlichkeit freien Lauf; wortreich beklagt sie, daß sie allein schlafen muß, und wendet sich in E r m a n g e l u n g eines männlichen Liebhabers an die vermeintliche Sophia, hinter der der Erzähler steckt: Mit solchem fühle sie mir um den Leib/ und ich fragt sie/ ob sie den Abend=Segen gebetet hätte? Da wüste sie nichts davon. »Ey«/ sagte ich/ sie von mir stossend/ »schämet euch woanders hin/ wo kein Gebet ist/ da ist auch kein Glück.« »Ja/ du Närrin«/ sagte sie/ »du hast gut predigen/ komstu dahin/ wo ich gewesen/ es wird anders heissen als beten«/ hiermit wurffe sie sich bald auff/ bald über mich/ bald hienunter/ bald wieder hinauff/ bald gar nach der Quehr/ also/ daß ich mich über ihre wunderliche Gauckeley nicht genugsam verwundern konte/ bald zöge sie das Hembd gar aus und spränge nackicht in der Kammer herum. O Elend/ gedacht ich! [...] ach lerne Hanß/ lerne die Schelmenstück des Frauenzimmers in Zeiten/ so hastu keine Ursache/ dich in deinem Alter darüber zu beklagen. (JH: 90) Hier ist zunächst eine Äußerlichkeit bemerkenswert: D e r Erzähler redet sich selbst mit »Hanß« an u n d nicht etwa mit d e m tatsächlichen Verfasserpseudonym Franciscus; »Hanß« ist aber der Erzähler des Narrenspital. G a n z offensichtlich sind beide Erzählungen zur gleichen Zeit entstanden, u n d Beer hat durch Nachlässigkeit die N a m e n vertauscht. Dies wäre als factum b r u t u m angesichts der unstrittigen Entstehungszeit beider Texte von s e k u n d ä r e m Interesse, w e n n damit nicht noch anderes indiziert würde. Schon ein oberflächlicher Blick auf das Narrenspital und seinen Erzähler zeigt weitgehende A n a logien der Texte, die später gesondert betrachtet werden. A n dieser Stelle wird jedoch deutlich, d a ß die Erzählerfigur »Hanß« als pikarischer Held ein verdecktes Eigenleben führt, das sich in den Selbstanreden manifestiert und im Narrenspital ganz m a r k a n t e F o r m e n annimmt. D e r Erzähler ist eine halbpikarische Figur, deren Lebenslauf wiederum nur in Umrissen greifbar ist und die nur f ü r die D a u e r der vorgesetzten Handlungsepisoden als Beobachter fungiert. Die Zusammengehörigkeit der Texte untereinander belegt n u n allerdings auch, daß es sich insgesamt u m »Bruchstücke einer grossen Confession« handelt, deren relatives Eigengewicht eine Integration in einen gemeinsamen Erzählrahmen verhindert. Zusätzlich erarbeitet sich B e e r n e u e Charaktere, wie die Ähnlichkeit der »Jungfer in der gelben H a u b e « mit d e m »faulen Lorentz hinter der Wiese« aus d e m Narrenspital zeigt, die beide in die Konzeption von »Monsieur Ludwig« aus den Winternächten eingegangen

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Beer gestaltet hier offenbar ein Extrem moralischer Verworfenheit, indem er - aus seiner Sicht - animalische Triebhaftigkeit mit der Lust an der Selbsterniedrigung durch Unterschreiten der Standesschranke verbindet.

162 sind. Der Nachvollzug der Figurengenealogie ist dabei insofern von größter Bedeutung, als er erlaubt, in der deutlichen Wertung der Herkunft einzelner Charakteristika zu einer überzeugenderen Einschätzung der Gesamtfigur zu gelangen. Aber auch in dem erhellenden Vergleich im Hinblick auf den JungferHobel läßt sich aus dem Narrenspital eine Erkenntnis gewinnen: Die »Jungfer« ist, wie auch »Lorentz«, durchgehend durch ihre Leiblichkeit gekennzeichnet, wobei deren weibliche Domäne charakteristischerweise die Sexualität ist, während Lorentz durch einen allgemeinen Hedonismus und skatologische Vorlieben auffällt. Diese Analogie belegt unsere These von dem vorgängigen Thema der Darstellung von Affektverfallenheit gegenüber der des reinen Frauenhasses als Schreibmotivation, wobei beachtet werden muß, daß sich im Verlauf des Schreibens neue Figuren- und Erzählermodelle entwickeln, wie vor allem der Jucundus und Bruder Blaumantel belegen. Beer gelingt es auch, in der zitierten Szene des verzweifelten sexuellen Notstands groteske Elemente zu nutzen, die sich von der Groteske der Rittererzählungen darin unterscheiden, daß sie nicht primär auf ein sprachlichrhetorisches Modell rekurrieren, sondern sich stofflich aus der dargestellten Situation ergeben. In den späteren Ausformungen dieser grotesken Szenerie wird dann deutlich, wie der Autor ein einmal gefundenes Bild mit Bedeutung besetzt und in diesem Sinne fast als Zitat neu montiert. So bleibt an späteren Stellen des Werks von der verzweifelt-unzüchtigen Jungfer das Motiv des Leidens an den Leidenschaften und dessen grotesker Ausdruck als chaotisches, die Ordnung - auch sexuell - umkehrendes Umherspringen, wie das Narrenspital belegt. Überhaupt ist das Verhältnis der »Jungfer« zu Sophia, recte Hans, eben dasselbe wie das des faulen Lorentz zu seinem Hans. Jungfer und Lorentz scheuen sich nicht, ihre unsittliche Lebensphilosophie in der direkten Ansprache mit dem rhetorischen Anspruch der Überzeugung zu äußern: »Sophia«/ sagte sie/ »man schreibet viel von unterschiedlicher Glückseligkeit/ aber ich halte diese vor die gröste/ welche zulässet seinem Eheman Hörner auszusetzen. [...] meines theils achte ich sehr wenig ob man mich in meiner Jugend/ oder in dem Alter/ eine Hure heisset/ dann dieser Titul gilt einmahl so viel als daß andere/ und es sind unzeilig tausend Jungfern in der Welt die ihn vor mir geerbet haben/ die ihn noch mit mir erben/ und die ihn nach mir erben werden. Denn/ was liegt andern Leuthen daran/ ob ich eine Jungfer oder eine Hure seye? Es ist genug daß sie ein nichts zu fressen dürften geben/ und wann ich die Wahrheit gestehen will/ so ist die ärgste Hure jeder Zeit glückseliger/ als die schamhafftigste Jungfer.« (JH: 81) 147

Das selbstbezogene Genußprinzip richtet sich bei der »Jungfer« auf den Bereich des Sexuellen, der sie gänzlich charakterisiert, während Lorentz als Figur auf weitere Quellen seiner erheblich komplexeren Persönlichkeit verweisen kann. In dessen weniger eindeutigen Sündhaftigkeit liegt auch der 147

Siehe daneben JH: 75.

163 Grund für den modernisierenden Anachronismus einiger Interpretationen, 148 während die Selbstbezichtigung als Hure kaum Raum für derartige Spekulationen zu eröffnen scheint. Doch schon Beer sieht auch hier eine Möglichkeit des Mißverstehens, wenn er die alte Magd und Kupplerin ihren Bericht beschließen läßt: »[...] gelt es ist lustig zu hören?« »Ja freylich«/ gäbe ich zur Antwort »ist es lustig zu hören/ wie klug der Edelmann seine Frau betrügt/ und wie unsinnig die Jungfer in den Schusters und Webers Sohn verliebt ist/ auch wie artig die Köchin den Schalck zu verbergen weiß/ aber was haben solche Leuthe von ihren heimlichen Verständnüß/ und was bringt es ihnen vor einen Nutzen [...]?« »Mein Kind« sagte sie/ »freylich ist ihr Gewinn sehr schlecht/ und verursacht nichts/ als ein schwer Gewissen/ bringt darzu in die höchste zeitliche Schand/ und lässet sich nicht ewig bergen«. (JH: 77)

Dies ist nichts anderes als die bekannte poetologische Rückbesinnung auf die mögliche Fehlinterpretation der dargestellten Handlung durch den Leser, die durch die eindeutige Moralisation des Erzählers verhindert wird.149 Es ist bezeichnend, daß Beer selbst bei einer Satire, die die täuschende Kraft der illusionierenden Fiktion so deutlich zur Beförderung der Doctrina funktionalisiert, noch Mißverständnisse befürchtet. Dies mag zum Teil auf geschickte, illusionsverstärkende Techniken und die Wiederbelebung grotesker Elemente zurückzuführen sein, die die nicht-fiktionale Botschaft überschatten. Der Autor läßt seine sekundären Erzähler ihren Bericht in Erzählhandlung überführen, indem das Berichtsende wie zufällig in einen Handlungsgestus der primären Erzählebene übergeht; so schließt das letzte Zitat: »[...] aber ich will dir heute nicht viel vor predigen/ der Schlaff kommt mir in die Augen und Morgen muß ich auffstehen das Feuer anzumachen/ weil wir etliche Schweine schlachten werden.« (JH: 77)

Deutlicher noch findet sich dies Verfahren, das auf das zufällige Detail als evidentielles Mittel geht (Schweineschlachtung), in der Weiber-Hächel: »[...] ich halte/ die Schalckheit hat sie [seil. Emilia] mit Haut und Haar beses-

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149

Etwa Italo Michele Battafarano (Literarische Skatologie als Therapie literarischer Melancholie. Johann Beers Der berühmte Narren-Spital. In: Simpliciana 13 [1991], S. 191-210), dessen Sicht auf den »faulen Lorentz« als Kreuzung von Outcast, Gammler und Hippie zwar sympathisch, aber dennoch zu stark aktualisierend ist. In diesem Sinne auch folgende Stelle, die zudem belegt, daß Beer auch die männliche Unzucht kennt und bestraft sehen will: »Er erzehlete noch mehr/ aber weil er die Hure in seinen Armen hatte/ vergasse er gar viel/ sondern wendete sich vielmehr auff einen andern Diseurs, der ins Teuffels Cantzeley num. 1. fleissig wird seyn registrirt und protocolirt worden. Solche leichtfertige Männer schämen sich nicht einer solchen zerrupfften Huren anzuhängen/ verletzen ihr Gewissen und prostituiren sich vor der Ehrwahren Welt/ daß es erschrecklich ist/ wer davon hört und sihet/ schämet sich/ ja solche Laster sind auch abscheulich und können endlich denen jenigen selbst nicht gefallen von welchen sie begangen werden« (JH: 92).

164 sen/ aber laß uns diese Taffei auf die Seite schieben/ hier muß die Tresur zu stehen kommen« (WH: 37).150 Dagegen setzen sich groteske Elemente sichtbarer ins Werk, vor allem in der übertriebenen Selbstdarstellung der sündenverfallenen »Jungfer«, die ihre »Magd« über alle Formen der Dissimulation und des täuschenden Scheins aufklärt und dabei eine verkehrte Schule sozialer Conduite liefert, deren Pikantes zweifellos in der realistischen Wahrscheinlichkeit der Verfahren liegt, wobei das Groteske in der Verbindung niedriger Motive (Flöhe, Fürze, Trunkenheit) mit stolzer Anmaßung besteht. Die bereits genannte Kopulation mit einem »Baur=Flegel« auf offener Straße gehört ebenso dazu wie das chaotische Umherspringen in der Kammer der Jungfer und die mehrfach begegnenden wüsten Beschimpfungen.151 Aber auch satirisch-ironische Textpartikel völlig heterogener Art, wie ein »Scharmützel« zwischen einem Schreiber und einem Maler oder die Beschreibung einer Braut, deren hauptsächliche Schönheiten der kosmetischen Chirurgie geschuldet sind, reichern die Groteske an. Dazu gehört auch, wie schon in der Weiber-Hächel,152 die Kontrafaktur der aus dem politischen Roman bekannten Embleme, die dann auch wieder in der Bestia Civitatis153 auftreten. All diese grotesken Elemente bleiben noch isoliert und lassen sich nicht in einen narrativen Zusammenhang integrieren wie dann im Narrenspital, das zur gleichen Zeit entsteht; sie markieren aber wieder ein Moment der Unruhe, das den straffen und thematisch eindeutigen Sinn der Satire auflockert und von der monologisch ausgerichteten doctrina zur dialogischen »Kurtzweil« führt, wie das zitierte Bedenken des Autors zur Genüge dokumentiert. Die abschließenden Moralisationen sind nun recht konventionelle Ermahnungen an die Jungfern und ihre Eltern, auf ein ehrenhaftes Leben bedacht zu sein: O ihr unschuldigen Hertzen/ euch wird solches zum besten geschrieben/ versuchet meine Früchte/ und wo ihr sie genossen/ werdet ihr finden/ daß ein grosses Stück eurer Vollkommenheit darinnen verborgen sey. Durchleset diese Blätter und fasset sie wohl zu Gemüth/ ich habe euch zu Gefallen ein baar Stunden angewendet/ und auff daß euch die Materia nicht zu langweillig würde/ habe ich eine kurtzweillige Invention zu handen genommen/ die euch weder zu lang noch verdrüßlich fallen wird. Was ich erzehlet/ ist nicht geschehen zu eurer Ärgernüß/ sondern zu einer klugen Vorsichtigkeit/ auff daß ihr euch in solchen Zuständen zu hüten wisset/ weil gnugsam bekand ist/ daß man auch den Gifft deßwegen einzunehmen pflege/ auff daß er vor dem Zukünfftigen desto heilsamer seye. (JH: 100) 154

150 151 152 153 154

»[...] aber last uns gehen/ ich höre jemanden fluchen« (WH: 52). Am krassesten und ausführlichsten JH: 90f. WH: 38f. BC: 14-117 (bibl. Angabe Anm. 156); in JH: 94f. »Lieber das Leben als die Ehre verlohren/ dann jenes machet Ruhm/ dieses aber eine Schmertzhaffte Schande/ welche ihr mit allen Nägeln nimmermehr auskratzen könnet« (JH: 99).

165 Beers Ausführungen sind hier offen apologetisch, er versucht, sich gegen die schon aus früheren Zusammenhängen bekannte Kritik zu wehren und seine Leserinnen nicht zu sehr zu beleidigen, 155 aber das nur Taktische seiner Behauptungen wird im letzten Satz deutlich, wo er die Leidenschaftsverfallenheit als zentrales Thema seiner Satire unterstreicht: Alle andere Affecten, die euch von der Weiblichen Natur zugezogen werden/ lasse ich unberiihret/ weil ausser der Hurerey kein Schand=Fleck so nöthig ist/ eure Gestalt zu verstellen. (JH: 100)

3.3.2. Bestia

Civitatis

( 1 6 8 1 ) u n d Kleider-Affe

(1685)

Die Bestia Civitatis156 erweitert und intensiviert das bislang analysierte Material, indem sie die Erzählerfigur als Schneidergesellen in einen »realistischen« Handlungszusammenhang stellt, der im Kleider-Affen157 dann von größerem Gewicht ist. Ninive, der Handlungsort, ist dagegen allegorisches Bild der verrufensten Sündhaftigkeit, die sich als direkte Fortsetzung der Weiber-Hächel und des Jungfer-Hobels in der »Hurerei« ausdrückt: »Ehebruch und Hurerey ist hie ein öffentliches Handwerck/ und wird nur dieser vor Straffmässig gehalten/ wer nicht wacker mit machen kan« (BC: 109). Zusammen mit der »Hurerei« regieren die Hoffart und Ehrsucht die Stadt, wofür der eingebildete Schneidermeister und seine Familie typische Beispiele sind. Beer zielt mit der Schrift anscheinend auf das Bild einer verkehrten Welt, wie die Bemerkungen des Informanten des Erzählers andeuten: »So verkehrt sind die Gemüther dieser Menschen und Inwohner/ daß sie euch vor eine Schandthat einen Recompens und vor eine geleiste Tugend/ eine Hand vol Steine schencken werden. [...] und wird nur der jenige vor ungeschickt gehalten/ der seinen Nechsten nicht wacker betrügen kan.« (BC: 110)158 155 156

157

158

Siehe JH: 100. [Johann Beer] Die Mit kurtzen Umständen entworfene BESTIA CIVITATIS Was vor ein ärgerliches Leben dieselbe sammt ihrer Tochter gefiihret/ und wie sie letzlich solches geendet haben. Jedermänniglich/ was Standes oder Condition derselbe seye/ nicht allein zur curiosen Belustigung/ sondern auch zur Zeitvertreibenden Gemiiths Erbauung [...] 1681. Zitiert mit der Sigle BC in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 5. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1991 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 5). Die Bestia vereinigt quasi die Themen der Weiber-Hächel und des Jungfer-Hobels im Mutter-Tochter-Doppel. [Johann Beer] Der Deutsche Kleider=Affe/ durch und durch Mit kurtzweiliger Einfalt und einfältiger Kurtzweil/ Allen Curieusen Liebhabern zur Delectation, Aus eigener Erfahrung auff die Schau=Bühne gestellet [...] Leipzig [...] Gleditsch 1685. Zitiert mit der Sigle KA in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 9. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1997b (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 9). Zum Kleider-Affen existiert ebenso wie zum Maul-Affen (ebenfalls in Bd. 9, bibl. Angabe Anm. 168) keine Sekundärliteratur. Doch das Bild der verkehrten Welt wird nicht konsequent durchgehalten - Beer will hier nur das Extrem der Sündenverfallenheit andeuten.

166 In diesem Sinne wird die Bestia Civitatis als die große Hure eingeführt,159 die sogleich durch ihre außerordentliche Verworfenheit charakterisiert wird, indem von ihr berichtet wird, daß sie aus Begehrlichkeit mit einem betrunkenen Bauern geschlafen habe. Das Motiv äußerster sexueller Triebhaftigkeit wird bei Beer von Anfang an durch die Kopulation mit Vertretern niedriger Stände vergegenständlicht, denn hier wirkt zusätzlich zur mangelnden Affektkontrolle die übermächtige sexuelle Begierde, die sich als Äußerstes der Verworfenheit durch ihre Objekte kennzeichnet. Beer konstruiert die Bestia Civitatis so als Extrem der Sündhafigkeit durch die Kombination ungezügelter Lust, perverser Begierde, mangelnden Standesbewußtseins und der Tatsache, daß sie für die Liebesdienste bezahlt. Die Figur rückt damit aus dem Bereich des Alltäglichen heraus und gerät in die Nähe der Allegorie, wie auch die erste ausführliche Moralisatio belegt, die im Ton ganz biblisch gehalten ist,160 wie auch die moralisierende Explicatio einiger »Sinnbilder« an ihrem Haus.161 »Ein Himmel ohne Licht/ wo die Bestia Civitatis in ewiger Fünsternüß sitzet. Dieser Himmel ohne Licht ist nichts anders als der Kercker der ewigen Dunckelheit/ die Hölle. O finsterer Himmel/ O disteres Licht/ O schwartzer Schein/ O schattichter Glanz? O Freude vol Jammers? O Ergetzung voller Quali? O Leben voll Todt. Sine lumine Coelum, ein Mensch der darin seine Seeligkeit suchet/ gehet zum Verderben/ der da seine Ruhe suchet/ kommet zu der Arbeit. In diesem Himmel ohne Licht empfängt er an statt der Genesung die Kranckheit/ statt der wahren Lieb/ den gifftigen Haß/ statt der Freuden die Traur/ und statt des Lebens/ den Todt. O schrecklicher Himmel ohne Licht/ du bist eben so viel/ ja nichts anders/ als die Hölle ohne Sonne.« (BC: 115)

So dominiert eine weitgehend allegorische Figur den Text zur ersten Hälfte und provoziert damit im Ton bisher ungewöhnliche moralische Kommentare, die sich zur Struktur und Wirkungsart einer Satire nicht recht schicken wollen. Erst mit der Nachricht, daß die Tochter der Bestia Civitatis, die in ihrem Zivilleben die Frau des angesehenen Stadt-Faktors ist, durch den Präzeptor geschwängert wurde, entwickelt sich eine rudimentäre Handlung, in deren Verlauf Mutter und Tochter ihre unehelichen Kinder zur Welt bringen. Höhepunkt und Zentrum des Textes werden allerdings erst in der Szene erreicht, als der Erzähler und sein zwergenhafter Informant unter dem Vorwand, der gebärenden Bestia Civitatis beizustehen, zu deren Peinigern und Foltermeistern werden:

159

160 161

Hardin (1983b) 41 nennt Schupps Corinna (1660) als Vorbild Beers, doch ist, abgesehen von dem Zusammenhang von Beers misogynen Schriften, die Bestia kein Hurenroman um eine Hauptheldin im Sinne auch etwa der Courasche - in der Tradition der Picara Justina - , sondern ein Pamphlet gegen die Leidenschaftsverfallenheit. Vgl. BC: 112f. BC: 114-117.

167 »[D]u Schand=Palck/ hiermit bekenne uns fein bald/ wer zu deiner Tochter und deinem Huren=Kind Vater ist/ oder wier schneiden dir die Kehle ab« [...] Nachdem wier ihr etliche Klopffbirn gegeben führe sie mit der Wahrheit heraus/ daß sie es selbst nicht wüste welcher der rechte sey/ dann sie zeigte mehr als 30. Persohnen an/ mit welchen sie im heimlichen Verständnüß stunde/ und bekandte zugleich/ daß sie ihre Tochter zu allen solchen Übungen von Jugend auff angehalten hätte. Auff solches zogen wier ihr den Rock vom Leib und strichen sie mit denen Ruthen dergestalten auff der Streu herum/ daß ihr der Athem hätte ausbleiben mögen. »Ihr Huren« [...] »darum werdet ihr mit Stumpff und Stiel ausgerottet und hinweg geworffen werden.« Nach diesem zündeten wier das Hauß an/ und lieffen davon. [...] Wier meinten nicht anders als hätte die Bestia Civitatis in diesem Brand Schaden genommen. (BC: 132) Zwar mißlingt der Mordanschlag, aber es ist dennoch deutlich, daß der Erzähler von erschreckender Brutalität ist, die sich nicht mehr als ästhetisches Spiel verharmlosen läßt: Hier manifestiert sich der Wille zur Korrektion aus dem Geist fundamentalistischer Ethik, der in die Nähe der Obsession gerät. Dies ist um so auffälliger, als Beer auf allen anderen Gebieten sozialen Verhaltens keinerlei extreme Positionen bezieht; allein das Thema der »Hurerei« provoziert ihn zu den grausamsten Phantasien. Dies ist besonders erschrekkend, weil die Figur der Bestia Civitatis an dieser Stelle keinerlei allegorische Funktion mehr besitzt, sie ist ganz Handlungsfigur, die mit ihrer sündigen Tochter für ihre Verworfenheit büßen muß, indem sie noch ein letztes Mal ihren schon teuflischen Charakter durch Kindestötung und Selbstmord bestätigen, wobei wiederum nicht mit grausigen Details gespart wird. 162 Die Bestia Civitatis fällt in dieser Hinsicht aus dem Rahmen der frauenfeindlichen Satiren heraus, die für sich zumindest noch den Gestus der Vermahnung reklamieren können: Ohne offensichtlichen Adressaten kulminiert die Abneigung des Autors in einer brutalen Strafphantasie, die weit über die Moralisationen der an zentraler Stelle berichteten Predigt hinausgeht. 163 Der Kleider-Affe hängt mit der Bestia Civitatis vor allem durch die erzählerische Ausgangsposition zusammen: Ein Schneidergeselle findet als halb-pikarische Figur nach anfänglichen »Hungerjahren«, die, ebenso wie Episoden des Jucundus Jucundissimus und des Feuermäuer-Kehrers, auf den Einfluß pikarischer Quellen hinweisen, eine Stelle bei einem Modeschneider in Ba162

163

»Des andern Morgen kämme Zeittung/ daß sich die Tochter Salome wegen grosser Verzweiflung an ihr Bet=T\ich gehangen/ nachdem sie ihrer jungen Geburth dem Kopff abgeschnitten hatte. Über dieser Zeittung erwachte der alten Bestia Civitatis ihr Gewissen/ welche sich vor grosser Schand und besorglichen Straffe in den Born hinunter stürtzte. Man fände in ihrem Kämmerlein die Wände allenthalben mit Blut besudelt/ weil sie an solche das junge Hurr=Kind zu tod geschmiessen hatte. Einen solchen Ausgang nehmen solche Comödien/ die man nur mit Gefahr der ewigen Seligkeit spielet« (BC: 135). »Hurerey ist so gemein in denen Häusern als auff denen Strassen/ niemand straffet/ niemand züchtigt/ endlich muß eine andere Ruthe ins Spiel kommen/ derer Streiche wir nicht so bald abwenden werden« (BC: 127).

168 bylon. Der Erzähler, Alamodo Pickelhering, wandelt sich jedoch in eine Narrenfigur, die als Beobachter und Kommentator der vorfallenden Modetorheiten fungiert. Der Zusammenhang mit den vorangehenden Satiren beschränkt sich allerdings auf die stofflichen Anklänge und eine unterschwellige Tendenz zur Allegorisierung. In der Zuschrift an den Leser erläutert Beer, daß der Text Resultat einer Kollaboration sei und sein Mitarbeiter den im Fieber verfaßten Ansatz vervollständigt habe.164 Da eine genauere Angabe der Arbeitsanteile fehlt, sind wir auf textimmanente Hinweise angewiesen. Alewyn setzt etwa die Mitte des Romans an: »In der Tat fällt das Buch in der zweiten Hälfte völlig ab und ist schließlich in der hilflosesten Weise nur noch um die Lieder herumgeschrieben« (Alewyn [1932] 258). Für Beers Verfasserschaft der ersten Hälfte, etwa bis zum 39. Kapitel (KA\ 196), lassen sich mehrere Gründe anführen: eine typische Stoffähnlichkeit mit der Bestia Civitatis und deren Hinweis auf einen derartigen Folgetext,165 die pikarische Ausgangssituation, eine Übernahme aus dem Simplicissimus,166 die Selbstcharakterisierung des Erzählers167 und die Typik der Darstellung. Das Leichenbegängnis der großen Hure Thais ist ebenso Teil der Beerschen Erzählwelt wie die Bestrafung des alamodischen Buhlers Pamphilo (KA: 193f.). Im Anschluß an diese Episode jedoch wird das Thema des Romans konsequent und ohne Abschweifungen entwickelt. Alewyns Urteil ist daher zu widersprechen: Der Roman entpuppt sich in der zweiten Hälfte als das Werk eines unbekannten Kollaborators, gerade weil es in der Manier des politischen Romans konsequent das Thema der Modetorheiten ausbeutet. Die Abwesenheit der typischen Darstellungsweisen Beers machen dies ganz deutlich: keine Sprach- und Wortwitze, keine Strafszenen, keine Digressionen, vor allem aber keine dialogische Konfrontation verschiedener Diskursebenen.

164

KA : 151

165

BC: 139.

166

Simplex' Kleidung beim Einzug in Hanau (1,19) verwundert den »Gubernator« so, daß er ihn porträtieren und neu einkleiden läßt; ebenso bei Beer: »Fürnehmlich hatte mein Lehr=Printz seine Speculation über meine Kleidung/ so gar/ daß keine halbe Stunde verginge/ so war ein Mahler mit Farben und Pensei parat, der mich abschilderte/ und eine schöne Abschrifft von meinem garstigen Original machte. Folgenden Tages ließ mich mein Lehr=Printz als einen Laqvey in Serge de Nims kleiden/ und tractirte mich nicht als einen Lehr=Jungen/ sondern als einen kurtzweiligen Tisch=Rath oder poßirlichen Lustigmacher« (KA: 170f.). Simplex wird bei dem »Gubernator« ebenfalls zuerst zum Herrn »Jung« und schließlich zum Narrenkalb. Der Erzählerheld lernt »in kurtzer Zeit beten/ lesen/ schreiben/ und wurde allererst ein rechter Mensch aus mir/ denn zuvor war ich nur ein Dorff=Brutum gewesen« (KA: 176). Auch das erinnert an Simplex.

167

169 3.3.2.1. Exkurs zur Verfasserschaft der Anderen

Ausfertigung

Unter Anwendung dieser Kriterien muß Beer auch die Verfasserschaft der Anderen Ausfertigung Neu-Gefangener Politischer Maul-Affenl6& abgesprochen werden. Alewyn hält sie für die bedeutendste satirische Schrift Beers, überläßt den Verfassernachweis jedoch A. Hirsch. »Kurz vor Abschluß des Druckes gelingt es Arnold Hirsch, dieses Werk mit überzeugenden Gründen Beer zuzuschreiben« (Alewyn [1932] 257). Hirsch stützt sein Argument auf einige Textelemente, die er für Beer als typisch kennzeichnet: 1. »launige Charakteristiken durch musikalische Fachausdrücke« und 2.: Persiflage einer Frauensperson, persönliche Angriffe auf ihren liederlichen Lebenswandel, die aber ihrem ganzen Ton nach keineswegs von moralischer Entrüstung, sondern allein von persönlicher Rachsucht getragen werden (Hirsch [1979] 137),

3. Erinnerungen an Schulstreiche, 4. eine Dialogszene und 5. die Schneidersatire. Zwar gehören musikalische Fachausdrücke und Schulstreiche zu den typischen Merkmalen Beerschen Erzählens, aber weder erscheinen sie hier in entsprechender Menge noch in vergleichbarer Bedeutung: Sie bleiben gänzlich zufällig und sind keineswegs charakteristisch. Die Dialogszene, die Hirsch mit einem Dialog in den Sommer-Tägen vergleicht, läuft in beiden Fällen darauf hinaus, daß eine dümmliche Magd das ihr anvertraute Geheimnis ausplaudert. Die Parallele, die sich auf die wiederholte Formel »Ich darffs nicht sagen« bezieht, scheint aber eher im volkstümlichen Gemeingut schwankhafter Stoffe zu liegen, als Beers Erfindung zu sein und kann keineswegs als Grund für die Entscheidung über die Verfasserschaft dienen. Zur Schneidersatire bemerkt Hirsch: Auch die »andere Ausfertigung« enthält die für die Schriften Beers charakteristischen Angriffe auf die Schneider, die sich von der allgemein bekannten und verbreiteten Schneidersatire durch die fast sinnlose Wut unterscheiden, mit der hinter der bloß vorgeschobenen Standessatire persönliche Gegner aufgesucht werden. (Hirsch [1979] 138)

Gegen die Annahme der Schneidersatire in der Anderen Ausfertigung steht allerdings folgender Passus: 168

Die Andere Ausfertigung Neu=gefangener Politischer MAUL=AFFEN/ Mit allerhand Einfältiger Klugheit der Superlativischen Welt/ Aus Mancherley fantastischen/ iedoch wahrhafftigen Privat-Händeln hervorgesucht/ Und curieusen Gemüthern/ mit durchgehenden Moral-Regeln/ zu Nutz und Lust vor Augen gestellet durch Florianum de Francomonte. Gedruckt Jm Jahr 1683. Zitiert mit der Sigle AA in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 9. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1997b (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 9). Das Pseudonym könnte auf die Herkunft des Verfassers aus »Freiberg« deuten. Das Verhältnis des Textes zur Vorlage des Maul-Affens kann hier ebensowenig diskutiert werden wie die mögliche Verfasserschaft Riemers; dazu Hans-Dieter Bracker: Johann Riemers satirische Romane. Ihre Zuschreibung und Gliederung nebst einigen Anmerkungen zu Johann Beer. In: JDSG 19 (1975), S. 138-166 und Krause (1979) 19; dort weitere Hinweise.

170 Unsere Compagnie aber hatte an diesen Klüglingen keinen gefallen/ angesehen es ohne diß mit dem redlichen und allerhöchst-nothwendigen Handwercke der Schneider in diesen letzten Zeiten dahin gekommen/ daß ein iedweder an denselben gedenckt zum Ritter zu werden. Es verdreust mich im Hertzen auff den Autor des neulichst herausgegebenen scripti, der Politische Bratenwender genant. Wo hätte dieser Tellerlecker sonst seine eilfftehalben Bogen maculatur voll schmieren wollen/ wenn er die Schneider und Köche nicht durchgezogen hätte? Und was noch mehr ist/ so habe ich mir sagen lassen/ der Autor oder vielmehr revisor des Bratenwenders solle selbst eines Schneiders Gemächte seyn. Drum weiß er auch ihre términos technicos so fertig. (AA: 83)

Hirsch entgegnet darauf knapp: Diese Stelle erweist sich aber in Wirklichkeit als eine scheinheilige Spiegelfechterei, um in den vorhergehenden und folgenden Partien nur um so schärfere und verächtlichere Angriffe gegen die Schneider loslassen zu können. (Hirsch [1979] 139)

Die auch von Hirsch zitierte vorangehende Episode zeigt einen Schneider, der durch die Änderung seines Namens in die lateinische Übersetzung seine Standesherkunft verdecken will, und ist keineswegs eine Schneidersatire. In der auf das Zitat folgenden Passage hat Hirsch den Text mißverstanden: Die wenig komische Episode zielt nicht primär auf den Schneider, der figurativ als Floh zerquetscht wird, sondern auf den Erzähler, den närrischen Wirt, der sich mit allerlei Münchhauseniaden hervortut. Wenn der Erzähler wirklich nur zum Schein die Schneider verteidigt, warum sollte er dann gleichzeitig den Bratenwender und seinen Autor verunglimpfen? Vor allem: Warum nennt er ihn Revisor? Soll damit eine reine Mitverfasserschaft angedeutet werden? Selbst wenn Hirschs Grundansatz richtig wäre, spricht diese Stelle gegen seine Schlußfolgerung. Am deutlichsten zeigt sich die Unmöglichkeit von Beers Verfasserschaft jedoch an dem Frauenbild, wie Hirsch es ganz zutreffend beschreibt. Es herrscht durchweg keineswegs der Ton moralischer Entrüstung angesichts der hier auftretenden »Hurerei«: Das beste Beispiel bietet die Schlußepisode, in der eine verbuhlte Frau ihren Mann auf geschickte, aber wenig sublime Weise mehrfach betrügt. Ganz offenbar liegt der Reiz der Passagen in dem Witz des immer neuen und immer wieder übersehenen Verstecks des verborgenen Liebhabers, wobei der Ton vollends auf das schwankhafte Possenelement abzielt und keinerlei moralische Konsequenz oder Wertung impliziert. Da die Andere Ausfertigung 1683 erscheint, muß ihre Entstehung in nächster Nähe zu den frauenfeindlichen Satiren der zwei vorangehenden Jahre liegen. Mit der dort vorgetragenen und oben analysierten Haltung zur »Hurerei« ist das in der Anderen Ausfertigung herrschende Bild der sexuellen Normverletzung unvereinbar. Außer- und voreheliche Sexualität wird von Beer in den satirischen Schriften mit scharfen Worten abgelehnt und selbst in den Romanen (sofern der Erzähler nicht betroffen ist) immer als bestrafte Sünde gewertet. Das brutale Strafritual in der Bestia Civitatis verträgt sich durchaus nicht mit der liberaleren Sexualmoral der Anderen Ausfertigung.

171 Grundsätzlich widerspricht auch der gesamte Erzählduktus der Verfasserschaft Beers: Ebenso wie im Kleider-Affen fehlen alle Beer-typischen Darstellungselemente des dialogischen Erzählens. Die Andere Ausfertigung ist in der Tradition ihres Vorbilds recht konsequent und deutlich monologisch am Thema des Maul-Affens entlang erzählt. Pikant ist, daß ein ganz ähnlicher Erzählstil Alewyn zu konträren Urteilen verführen kann; wahrscheinlich liegt der Grund darin, daß im Kleider-Affen die Erzählanlage im ersten Teil (von Beer) mit der unimaginativen Durchführung des Themas im zweiten Teil (von unbekannter Hand) kontrastiert, während die Andere Ausfertigung aus einem erzählerischen Guß ist - nur nicht von Beer. Ebenso wie charakteristische Merkmale von Beers Erzählen in der Anderen Ausfertigung nicht zu finden sind, weist diese bestimmte Charakteristika auf, die Beer fremd sind. Beer ist zwar in mehrfacher Hinsicht ein Meister der grotesken Skatologie, aber die in der Anderen Ausfertigung mehrfach berichteten Szenen, in denen von Menschen und Tieren Erbrochenes wieder zu Nahrungsmitteln wird, gehören nicht zu seinem Repertoire ekelerregender Motive. Da Beer seine eindrucksvollen und krassen Motive gerne wiederholt und das genannte Motiv in der Anderen Ausfertigung durch mehrfache Wiederholung zureichend ausgeprägt ist, müßte es in den gleichzeitig entstehenden Texten Beers erscheinen. Auch dies ist sicher kein Beweis, fügt sich aber in das Muster der Gegenargumente problemlos ein. Ein letztes Indiz findet sich schließlich in der Vorrede zum Kleider-Affen, den der Verfasser in der Tradition des Politischen Maul-Affens und der Anderen Ausfertigung sieht, wobei er offenbar zwei verschiedene Verfasser ansetzt. Nur bitte ich/ ihr wollet mir die Gnade erweisen/ und den dritten Rang/ [...] mir hochgeneigt einräumen und concediren. [...] und begehre nichts mehr dafür/ denn daß ich mit euren beyden Buccinatoribus, als Drittemann/ im ersten Paare gehen möge. (KA: 149f.)

Zwar läßt sich auch hier nichts eindeutig schließen, aber im Zusammenhang mit der - hier nicht analysierten - monologischen Darstellungsart der Anderen Ausfertigung und ihres für Beer untypischen Frauenbildes sollte er als Verfasser ausgeschlossen werden. 3.3.3. Misogynie und die Psychologie des Poetischen im Politischen Feuermäuer-Kehrer (1682) Der gleichzeitig entstandene Politische Feuermäuer-Kehrer169 zeigt, daß die oben gemachten Annahmen völlig berechtigt sind, denn hier wiederholt und potenziert sich Beers frauenfeindliches Bild auf drastische Weise, und was 169

[Johann Beer] Der Politische FEUERMÄ UER=KEHRER/ Oder überaus lustige und manierliche Begebenheiten der Curiosen Welt/ absonderlich aber denen jungen und lustbegierigen Gemüthern/ zur vorsichtigen Warnung des heut zu Tag in Grund

172 von der Bestia Civitatis im Bezug auf die Andere Ausfertigung gesagt wurde, läßt sich hier wiederholen: Beide Texte können nach Anlage und Ausführung kaum nebeneinander als Werk eines Autors bestehen. Die unbekümmerte Haltung der Anderen Ausfertigung im Hinblick auf den Bereich der »Hurerei« ist mit der Haltung des Feuermäuer-Kehrers unvereinbar, der thematisch und strukturell in die Gruppe der misogynen Schriften Beers gehört, mit denen ihn vieles verbindet. Mit dem Kleider-Affen dagegen teilt er die pikarische Ausgangssituation: Auch hier findet sich grotesk zusammengestückelte Kleidung (F: 5), die späterhin noch mehrfach erwähnt wird (F: 39,45), womit auch der Hunger-Topos einhergeht. Ebenso wie in der Weiber-Hächel die Protagonistin wiederholt gedrängt werden muß, zum Bett ihres sterbenden Mannes zu kommen, kann sich Jungfer Magdalena auch nach mehrmaliger Aufforderung, zur Messe zu gehen, nicht aus ihrem Bett bequemen (F: 22f.). Der biblische Stil der Moralisatio in der Bestia Civitatis findet im Feuermäuer-Kehrer eine Fortsetzung in der Mönchspredigt (F: 29-34, bes. F: 30). Die durch sexuelle Begierde dominierte Verbindung mit einem »Baur-Limmel« aus der Bestia Civitatis findet hier ebenso statt (F: 46), wie auch der Titel des Werks an zentralen Stellen (F: 95) zur Charakterisierung der Protagonistinnen benutzt wird. Die misogynen Schriften verbindet untereinander u. a. die wiederholte Explikation öffentlicher Emblemata, die auch im Feuermäuer-Kehrer zu finden ist (F: 88f.), ebenso wie in der Bestia Civitatis vor einem Bordell. Thema und Inhalt erweisen den Feuermäuer-Kehrer schließlich am deutlichsten als Teil der frauenfeindlichen Satiren, von denen ihn doch ein wesentliches Charakteristikum trennt: Der Text entwickelt sich von der monologischen Form der Darstellung zu einer stärker fiktionalisierten Handlung hin, die zwar noch weit von den dialogischen Verfahren früherer Romane entfernt ist, aber zumindest das starre Zeichensystem von bezeichneter Moral und bezeichnendem Exempel in Handlung auflöst. Wie weit dies gelingt und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, soll die folgende Analyse zeigen. Die Vorrede an den »vielgeehrten Leser« identifiziert das »Frauenzimmer« als Thema und Adressatin,170 und in der ersten Themareflexion im ersten Kapitel wird die geheuchelte Tugend als Deckblatt der verborgenen »Hurerei« im Sinne des Sein/Schein-Topos spezieller charakterisiert, wobei deutlich wird, daß die Belehrung, die angeblich an das »Frauenzimmer« gerichtet ist, primär auf den Ich-Erzähler Verutzo zielt:

170

verdorbenen Frauenzimmers/ welches darinnen nach all ihren Eigenschafften abgemahlet wird/ Practiqven und falsche Qvinten wol zu fliehen und zu meiden/ mit kurtzen Umbständen entworffen [...] Leipzig 1682b. Zitiert mit der Sigle F in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 6. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1997a (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 6). Siehe F: 13.

173 Ha/ du lieber Verutzo/ du wirst noch manchen vor einen Teufel ansehen/ der doch ein frommer Engel ist/ und wird dir hingegen manche Person als ein Engel in deinen Augen leichten/ der doch vielmehr/ wann man seine innerliche Gestalt sehen könte/ einem lebendigen Teufel zu vergleichen wäre. (F: 17)

Doch schon die allgemeine Formulierung des Sein/Schein-Themas ist tendenziös: Der engelgleich leuchtende Schein bezieht sich auf das glänzende Äußere, das nur das der teuflischen Verführerin sein kann, und der angebliche Teufel ist der wohlmeinende Arzt, der die bittere Medizin satirischer Wahrheit austeilt und sich so als »frommer Engel« erweist. Der junge Kugelmann, der zum moralisierenden und satirisch-strafenden Begleiter des Erzählers wird, präzisiert die Aufgabe dahingehend, daß es nötig sei, »ein wenig zu sehen/ ob es dann unter dem Weibsvolck so gar arg hergehe/ wie man ins geheim davon redet und schreibet« (F: 18).171 Die Aufgabe des Romans ist es also, die Unarthen des Frauenzimmers nach denen lebendigen Lineamenten rechtschaffen zu entwerffen/ und ohne Passion jedermänniglich vor Augen zu stellen/ wie erschrecklich und lasterhafftig es seye/ seine Ehre/ welche am Werth das Leben weit übertrifft/ so ungewissenhaft zu verletzen. (F: 18)

Mit den »lebendigen Lineamenten« kann der Autor nur das überzeugendevidentielle Darstellungsverfahren meinen, das bei früheren Texten als poetologisches Problem identifiziert wurde, denn es verursacht die fehlgeleitete Rezeption anstößiger Handlungssequenzen als »kützlichte« Begebenheit. Beer versucht, dieser Rezeptionsstörung zumeist durch massive, nicht-fiktionale Moralisierung entgegenzuwirken. So auch hier, indem er betont, seine Handlungsdarstellung sei »rechtschaffen«, was in diesem Zusammenhang so viel wie »realistisch« heißt, und »ohne Passion«. Da der Text zeigt, daß der Autor durchaus nicht sine ira schreibt, kann sich die Bemerkung nur auf die spezifische Funktion der Leidenschaftsdarstellung richten, die im Sinne der Affektkontrolle ausgelegt werden soll. Die Handlungsstruktur des Feuermäuer-Kehrers selbst bietet keine Überraschungen, denn sie wiederholt nur bekannte Schemata. 172 Das erste Drittel des Textes bringt die »Haupthandlung«, die aus der Bestia Civitatis und dem Jucundus Jucundissimus entliehen ist: Aus der Bestia übernimmt Beer das Motiv der verbuhlten Mutter und ihrer Tochter, während der Jucundus die Vorlage der mit einem Bauernknecht entlaufenen Adelstochter liefert. Dem Thema des Romans folgend, erweisen sich Mutter und Tochter Magdalena als fromme Heuchler, die unter ihrer Bigotterie eine Unzahl unzüchtiger Verhältnisse verbergen. Es ist interessant zu sehen, wie Beer dieses eher statische Bild aus der Bestia in Handlung umsetzt, denn die Vorlage erschöpft sich in der entlarvenden Doppelschwangerschaft. 171 172

Siehe F: 18. In diesem Sinne ist die Bezeichnung »politisch« im Titel unzutreffend.

174 Im Feuermäuer-Kehrer werden dagegen zunächst Indizien angegeben, die dem Ich-Erzähler bei seiner Tätigkeit auffallen, bis sie kurze Zeit später in einen Zusammenhang gebracht werden. So offenbart sich der unzüchtige Konnex nur Stück für Stück, langsam fügen sich Teilbeobachtungen zu einem Gesamtbild der Handlungszusammenhänge, obgleich schon nach kurzem deutlich ist, daß die Heldinnen heucheln. Beer entwickelt dabei die sexuelle Leidenschaftsverfallenheit als letzte und höchste Stufe irdischer Sünden, deren Vorstufen im Roman ausgiebig präsentiert werden: Faulheit und Klatschsucht. So wird Magdalena zunächst als Muster der Acedia gezeichnet: Indem sie die Messe im Bett verschläft, verbindet sich ihre Faulheit mit der Gottlosigkeit als erste Stufe ihrer allgemeinen Lasterhaftigkeit. O Verutzo/ Verutzo/ lerne/ lerne bey Zeiten und siehe dich wohl für/ [...] hüte dich vor einem faulen Weibsbild und siehe dich wohl vor/ daß du dermaleins nicht zu geschwinde nach dem Keder schnappest. [...] Wo kein fleissiges Gebet ist/ da ist auch kein Segen. (F: 23)

Als ihr unzüchtiges Verhalten offenbar wird, dient es allerdings nur dazu, eine Reihe von Moralisationen zu befördern, ohne daß die unzüchtige Handlung selbst beschrieben wird; auch hier zeigt sich, daß Beer konsequent das erotische Detail wie auch jede Anspielung darauf meidet. Der Text nennt das Vergehen und produziert daraufhin Kommentare und Moralisationen: So/ und nicht anders treibt es das Gesindlein über und unter einander. Die Magdalena schmählete auf die Huren/ und sie ist selbst die ärgste. Verdammet andere/ und hat selbst den Himmel nicht zu hoffen. [...] Und solche Ertz=Huren dörffen noch böse darzu werden/ wann man ihre Sünde und Laster durch die Hechel ziehet/ und davon singet und saget. (F: 27f.)

Mit der letzten Bemerkung ist Beer wieder bei seinem Thema der Zulässigkeit der Satire und seiner Art der Darstellung: »Werffet nicht mein Carmen/ aber wohl solche Schand=Thaten ins Feuer« (F: 28). Die Berechtigung zur Satire wird ihm, wenn wir Beers Apologie folgen, gerade von denen bestritten, die sich der satirisierten Unarten schuldig machen. Dagegen setzt er, wie schon in anderem Zusammenhang, 173 seine Theorie der »Wahrheit«, worunter die »rechtschaffene« Darstellung der Sünden »ohne Passion« zu verstehen ist: Aber es ist ein Kräutlein/ das heisset die Warheit/ Bruder Veruzzo/ dieses Kräutlein ziehet die grösten Stirn=Runtzeln auf. [...] Und aus diesen Umbständen ist klar/ daß ein Sünder/ der die Hoheit seiner Person zur Schutz=Mauer führet/ auff einem solchen Wege stehe/ der nirgends anders hin/ als zu dem ewigen Verderben/ leitet. (F: 29) 174 173 Yg¡ Feuermäuer-Kehrer< reveals, perhaps consciously, a disturbed and disturbing eroticism and its concommitant [sic] misogyny« (Tatlock [1985a] 786). »Verutzo's pious commentary on this tumble is ambiguous if indeed we believe Kugelmann has been wounded while fornicating, hoisted with his own petard so to speak« (Tatlock [1985a] 793).

182 rung bestätigen, daß ein Wesenselement der Beerschen Satire die Angst vor der Frau und besonders ihrer Geschlechtlichkeit ist,191 aber ihre Argumentation und ihre Belege scheinen nicht textadäquat zu sein. Dabei sieht sie durchaus den tatsächlichen Grund für Beers aggressive Misogynie: »Lust is to be avoided at all costs and where does lust originate? In woman!« (Tatlock [1985a] 795). Statt diesen Ansatz zu verfolgen, konzentriert sich Tatlock jedoch auf die Rolle der Frau in Beers Text, die, so seltsam es scheinen mag, nur von sekundärem Interesse ist, denn Beers Thema sind nicht Frauen, sondern Leidenschaften. Die Gefahr, die von den Affekten ausgeht und vor allem die seelisch-künstlerische Identität betrifft, ist für Beer in der tendenziell leidenschaftsverfallenen Frau konzentriert. Die Frau ist für Beer nicht als Mensch suspekt, sondern als Ausdruck des Affektischen, und in der Reduzierung der Frau auf ihre alles andere dominierende Sexualität liegt der eigentliche Kern der Beerschen Misogynie. Das Anstößige seiner Position liegt primär in seiner Identifikation der Frau mit und ihrer Subsumierung unter ihre Sexualität - ohne ihr die Dimension geistiger Formkraft zuzugestehen. Die Frau hat bei Beer nur in Ausnahmefällen intellektuelle Kompetenz, künstlerische nie; sie ist durch ihre Körperlichkeit geistig behindert und bedarf ständiger Kontrolle durch den Mann als Vater, Bruder oder Gatten. Selbstverständlich kennt Beer auch die gute Frau: Sie ist die stumme und demütig-fromme Hausfrau und Mutter, sparsam und fleißig. Tatlock überschätzt so bei weitem das Angstpotential, das Frauen im 17. Jahrhundert zu mobilisieren imstande waren; Beers Zote sei »an expression of sexual aggression toward the opposite sex which achieves release for men while humiliating women« (Tatlock [1985a] 799), behauptet ihre Schlußthese. Aber ist es nicht genau umgekehrt? Ist es nicht weniger die Angst vor der Frau als Ausdruck der Sexualität als vielmehr die Angst vor der Sexualität der Frau im Mann selbst? Die Botschaft der misogynen Satire richtet sich an Männer mit der Ermahnung, ihre affektische Lust zu unterdrücken und zu kontrollieren, und die Männer werden aufgefordert, der Frau nicht in Liebe zu verfallen. Nach der bisher dargelegten Analyse scheint Beers Frauenfeindlichkeit auf der von ihnen repräsentierten Macht der Leidenschaft zu gründen, die ihm um so gefährlicher erscheint, als sie Teil der Empfindungsfähigkeit der Männer selbst ist. Es ist die Sexualität der Frau, die als affektische Disposition ein Fremd-Körper im Mann ist und die beunruhigend gefährlich erscheint. 192 191

192

»In fact the text, especially toward the end, fairly swarms with tricky vaginas which gobble men up. [...] Certainly Beer's novel asserts in no uncertain terms that women are to be feared« (Tatlock [1985a] 793f.). Ihr Beleg, Karen Horney, macht allerdings einen etwas seltsamen Eindruck, wenn sie etwas forsch »homosexuals and perverts« parallelisiert, die Furcht vor der Vagina zeigen. Da nur wenige Quellen zur Biographie Beers existieren, die in dieser Hinsicht aussagekräftig sind, verstehen sich die folgenden Seiten als Interpretationsvorschlag. Die rhetorisch-erzähltheoretische Analyse der Texte wird durch die Ergebnisse der

183 Die Annahme, daß der Frauenhaß des Autors nichts anderes ist als die Konsequenz seines Selbsthasses, kann für sich zumindest in Anspruch nehmen, daß sie einen interpretationsfähigen Zusammenhang mit der poetologischen Komponente des Affektenproblems etabliert. Die Autonomie des kreativen (männlichen) Individuums gründet demnach in dessen Identität mit sich selbst und der fehlenden Fremdbestimmung durch äußere Mächte. Sicherlich läßt sich auch das Verlangen, mit der inneren Erwartungshaltung des Uber-Ich und der äußeren des Es (um Freuds Terminologie zu übernehmen) zusammenzustimmen, dahingehend interpretieren. Die Erfahrung körperlicher Begehrlichkeit stört die ersehnte Autonomie des Ich und transferiert die eigenen Affekte in Konsonanz mit der Wertewelt des Über-Ich und des Es auf die Frau, so daß die Störung des eigenen Gefühlshaushalts nach außen objektiviert wird. Mit dem Transfer der eigenen Leidenschaften und Gefühle auf die Frau werden deren ununterdrückbare Strebungen aber auch als weiblicher Teil der männlichen Psyche empfunden: So ist das Zu-Verdrängende weiblich und damit auch das Nicht-Verdrängte im eigenen Triebleben. Auf Beers Gleichsetzung von Freiheit und künstlerischer Kreativität im Prozeß a-logischer Invention angewendet, bedeutet dies, daß er auf paradoxe Art die Grundopposition von rationaler Rhetorik und phantastischer Invention, von der Logik interessegeleiteten Kalküls und frei assoziierender Motive, mit der Macht der (sexuellen und damit weiblichen) Leidenschaften verbindet. Dabei integriert er das sexuelle Prinzip der affektischen Leidenschaftsverfallenheit in die Logik interessegeleiteten Handelns: Der Logozentrismus des neuzeitlichen Bewußtseins verbindet sich so mit dem Affekt, der damit in die Position seines Antagonisten, der Ratio, rückt. Auf poetologischer Ebene entwickelt Beer so die Idee einer Rhetorik der Affekte als Gegenprinzip zu seiner eigenen, individuellen Rhetorik phantastischer Assoziationen. Dieses bereits skizzierte Verfahren des Autors ist um so wirksamer, als es sich jenseits philosophischer Dichotomien von Ratio und Affekt auf eine Tradition der rhetorischen Funktionalisierung der Leidenschaften bezieht. So bewegt sich Beers Erzählen in poetologischer Hinsicht auf einer rhetorischen Ebene, wie die Analyse der frühen Werke gezeigt hat, denn dort manifestiert sich das dialogische Erzählprinzip als Resultat der Spannung von Logik/Rhetorik und Groteske/Phantastik. Beers Erzählhaltung und -interesse richtet sich dort gegen die Rhetorik des höfischen Liebesdiskurses, der unablässig die immergleichen Stereotypien von Handlung und Sprache produziert. Dessen Unwirklichkeit und Vorhersehbarkeit ist für Beer Resultat einer fremden, äußeren Macht, die die Erzählpoetik dominiert: des Liebesaffekts. Dabei schöpft Beer nicht aus den Quellen des litera-

Motivationssuche jedoch nicht wesentlich beeinflußt: Beers Intentionen richten sich primär auf die Affekte.

184 rischen Anti-Petrakismus, seine Gegen-Rhetorik des Affekts ist eine klassische Übertragungsleistung der Person Johann Beer. Die oben skizzierte Erfahrung persönlicher Hilflosigkeit angesichts der Macht der (sexuellen) Leidenschaft objektiviert sich im Gegenstand der Begierde: der Frau. In dieser objektivierten Form äußert sich Beers Angst vor der Macht der Empfindungen als lebensweltlicher und zeitgenössisch konditionierter Sexismus, wie Tatlock ihn untersucht. Dabei begreift Beer seine eigenen Triebe als etwas Fremdes, seine männliche Identität erfährt eine vermeintliche - Einschränkung durch das »gefährliche Supplement« (Derrida) der weiblichen Sexualität, die als Störendes negativ besetzt wird. An diesem Punkt setzen nun mehrere Mechanismen ein, die geeignet sind, Beers komplexe und paradoxe Wertewelt zu beleuchten: Die negativ besetzten eigenen Triebe werden im Bild der ebenfalls negativ besetzten Frau objektiviert und veräußerlicht, wobei sich Beer der zeitgenössischen Formeln der Misogynie bedient. Andererseits richtet sich seine Verdrängung nicht auf die Frau per se, sondern auf die von ihr repräsentierte Leidenschaft, so daß sich Beer notwendigerweise der vorhandenen theoretischen Begründungen für die Affektfeindschaft bedienen muß. Der Aufruf zur Affektkontrolle ist ja ebenfalls zeitgenössisches Allgemeingut und wird von ihm in diesem Sinn benutzt; da er jedoch keine generelle Theorie der Leibfeindlichkeit vertritt, bedient sich Beer der religiös begründeten Sexualfeindschaft als Legitimation seiner eignen, aus gänzlich anderen Quellen stammenden Triebkritik. Die religiöse Begründung der Affektkritik bietet sich dabei aus mehreren Gründen an: Beer ist nicht nur gläubiger Christ, sondern die herrschenden Glaubensinhalte aller Konfessionen ähneln sich in diesem Punkt, so daß er auf allgemeine Zustimmung Anspruch erheben kann. Überdies erlaubt ihm sein religiöses Bewußtsein, zwei Konsequenzen seiner Verdrängung zu rationalisieren: Die Verdrängung des Eigenen als Fremdes erzeugt ebenso wie die nicht zu unterdrückende Triebökonomie das Bewußtsein der Schuld. Die fehlgeleitete Verdrängung des eigenen Trieblebens resultiert schließlich in der dann wirklich gefährdeten Identität und der negativen Besetzung des Selbst im Selbsthaß. Das Bedrohliche des Triebes wird als Fremdkörper isoliert und als fremder, weiblicher Körper objektiviert. Mit der Veräußerlichung des Triebes fehlt aber dem Individuum ein Teil des Selbst, der sich nicht gänzlich unterdrücken läßt. Das Weiterleben der affektischen Triebe verstärkt nun so die solipsistische Logik der Dominierung durch Fremdes und Äußeres, so daß Beer seinen Triebhaushalt als Schuld in religiöser Hinsicht rationalisiert. Der Anspruch religiöser Sexualkritik geht jedoch über den Bereich der reinen Geschlechtlichkeit hinaus, und so werden für Beer alle Bezeugungen gesteigerter Leidenschaftlichkeit zum Anlaß religiöser Selbstbesinnung und Schulderfahrung. Solange Beers religiöses Bewußtsein noch unausgebildet ist oder nicht an den lebensweltlichen Objekten tätig wird, produziert seine Künstlerpsycho-

185 logie Texte im Sinne der oben analysierten Rittergeschichten, deren eigene literarische Entwicklungslogik jedoch zur Entfaltung der Formen drängt, wie der Welt-Kucker und der Corylo belegen. Indem damit aber verstärkt lebensweltliche Elemente in die vordem wenig realistische Erzählwelt eindringen, macht sich das religiöse Bewußtsein bemerkbar, wobei deutlich wird, daß die Autorpsychologie durchaus nicht hinter dem homo christianus verschwindet. Es zeigt sich dagegen, daß der immer noch junge Autor Bewußtseinsformen eben der Zeit aktualisiert, in der er seine Triebangst und ihre Veräußerlichung begonnen hat: J.-J. Berns hat dies scharfsichtig als Beers Infantilismus beschrieben.193 Das religiöse Bewußtsein kontrolliert jedoch nur die lebensweltlichen Objektivierungen der Triebangst, und so entwickelt sich ein komplexes Spannungsverhältnis von erzählerischer Form (rhetorische Ebene) und dargestelltem Inhalt (ideologische Ebene). Beer empfindet dieses Spannungsverhältnis, so unsere These, Anfang der achtziger Jahre so stark, daß er sich mit der Reihe seiner misogynen Satiren zum einen selbst und seinem religiösen Bewußtsein gegenüber eine Legitimation zum Erzählen verschafft, und zum anderen ganz praktisch den Darstellungszwang der verderblichen Leidenschaften erleichtert. Indem er das Thema des gefährlichen Liebesaffekts zum exemplarischen Inhalt gleich mehrerer deutlich religiös begründeter Strafsatiren macht, entlastet er die gleichzeitig entstehenden Erzählungen und Romane von der erdrückenden Dominanz dieses Motivs und eröffnet die Möglichkeit zur Darstellung der Erzählerbiographie. Dabei zeigt sich auch hier, daß Bachtins formgeschichtliches Oppositionspaar dialogischen und monologischen Erzählens passende Beschreibungskriterien liefert, denn die satirischen »Weiber-Schelten« sind exemplarischer Ausdruck monologischen Erzählens und des fast unverstellten, nicht-fiktionalen und autoritären Autorworts. In diesem Sinne markiert der FeuermäuerKehrer bereits eine Wiederannäherung an ein narrativ-fiktionales Erzählen, obgleich Ton und Duktus nicht-fiktionaler Darstellung noch dominant sind. Der Text gibt dies an Äußerlichkeiten selbst zu erkennen, indem er sich selbst als »Traktat« bezeichnet und auf die Gliederung in Bücher, die für strikt narrative Texte reserviert ist, verzichtet. Das Thema der »Buhlerei« und »Hurerei« ist dabei von besonderer lebensweltlicher Relevanz für den Autor, so daß er trotz der verstärkten Erzählhandlung gänzlich im monologischen Erzählen befangen bleibt, was durch die zahlreichen Kommentare belegt wird. In einer Hinsicht entwickelt der Feuermäuer-Kehrer jedoch die Erzählpoetik weiter: Er nutzt konsequent die dargestellte Strafe falschen Verhaltens als Moralisation, so daß die späteren Romane die Struktur des peripheren Erzählers übernehmen können, der aktiv und passiv an den als Lebensgeschichten auftretenden Episoden sekundärer Erzähler teilhat, die ihre Kommentare in der berichteten Strafe aber bereits in sich tragen. 193

Berns (1986).

186 In diesem Sinne muß zum Abschluß noch einmal ein Blick auf die Figur des Erzählers geworfen werden, an der sich die genannten Erzähltendenzen am deutlichsten zeigen. Es ist zunächst auffällig, daß die biographische Klammer, die im Corylo entwickelt wird, im Feuermäuer-Kehrer fehlt. Die oben zitierte summarische Moralisation läßt zwar eine Entwicklung erkennen, führt sie aber in der Folge nicht aus, und so bleibt der Erzähler in dieser Hinsicht eindimensional wie die traditionellen Erzähler der satirischen Romane, die allerdings nicht die Ich-Erzählsituation bevorzugen. Die Wahl dieser Erzählperspektive belegt für Beer den materiell-stofflichen Zusammenhang mit den handlungsorientierten Erzählungen und Romanen, die zeitgleich entworfen werden und, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, die Erzählerfigur zu einer volleren Psychologie entwickeln. Im Feuermäuer-Kehrer entfällt die biographische Klammer der (un-)erfüllten Lebensutopie des Erzählers und damit auch die Perspektive auf ein Ende, womit sich der Roman grundsätzlich der traditionellen Revueform öffnet. Doch, wie gezeigt, nutzt Beer diese Möglichkeit nur in geringem Maße; statt dessen rahmt er den Text durch zwei Handlungssequenzen ein, die sein Thema auf nahezu emblematische Weise präsentieren, um so an der symbolisch überhöhten Figur der »großen Hure« seine radikalen Moralisationen als Grundsatzprogramm zu entwickeln. Dieser Rahmen wird dann von einer Vielzahl von Erzählpartikeln gefüllt, deren lebensweltlicher Charakter deutlicher ist, wobei sich aber erneut zeigt, daß der Autor mit einer solchen offenen, reihenden Form Probleme hat, denn er hat Schwierigkeiten, sie mit Inhalt zu füllen, so daß er über 50 Druckseiten mit Epigrammen füllt. 194 Erst im Anschluß an diese unnötige Textaufschwemmung folgt die ausführliche Schlußmoralisation, die den Erzähler und seinen Begleiter noch einmal genauer charakterisiert. Bereits am Ende der zuletzt berichteten Episode, die die neue »Bestia Civitatis« einführt, wird Kugelmann als der eigentliche Erzähler überraschend qualifiziert: »Du bist ein Schelm«/ sagte ich zu ihm/ »und kanst alles so manierlich herunter schwätzen/ daß dir einer mit grossem Gefallen zuhören muß.« (F: 96)195

Diese Beobachtung erinnert an die bereits zitierte Stelle aus dem JungferHobel, in der eine sekundäre Erzählerin, die in einem ähnlichen Verhältnis zum primären Erzähler steht wie hier Kugelmann, die unterhaltsame Qualität ihres Berichts lobt, aber vom Ich-Erzähler mit dem Hinweis auf die Sündhaftigkeit des Berichteten zurückgewiesen wird. Es handelt sich natürlich wiederum um den bekannten Vorwurf, ein reiner Scopticus (Spötter) zu sein, der ohne moralische Wertung andere »vexiert« und »durchhechelt« und da194 F . 97 _ 129. 195

Siehe auch F: 129.

187

bei gut und evidentiell überzeugend erzählt. Dieser Vorwurf dominiert nun die gesamte Schlußmoralisation, die sich dadurch zunächst als ausführliche Apologie satirischen Schreibens zu erkennen gibt. Ha! sagten die Bürger/ der Kugelmann ist halt ein Scopticus, der die Leute hächeln/ und sie durch alle Classen hindurch ziehen kan. (F: 129)

Kugelmann nutzt die bekannten Argumente, um den Vorwurf abzuwehren: Er nenne niemanden mit Namen und strafe die Laster und nicht die Personen. »Wann nun dieser ein Calumniant ist/ der die Laster straffet/ was ist der Prediger?« (F: 130)196 Angesichts der zentralen Bedeutung der eingelegten Predigt und des religiösen Begründungshorizontes überrascht die Identifikation von Satiriker und Prediger nicht mehr. Aber selbst Kugelmann hat Zweifel an der Wirksamkeit der Legitimation der Satire durch nicht-fiktionale Kommentare und rezeptionssteuernde Hinweise, wenn er seine eigene Apologie im Hinblick auf das Thema der »Hurerei« ironisiert: Also ists auch denen bestiis civitatis gut und über alle massen nützlich/ daß man sie fein rein abseifte und abbarbire/ sonst wächset ihnen der Kot über die Nase/ daß sie offt in ihrem eigenen Pfifferling vor Hoffart und Übermuth erstücken. Gelt Veruzzo, ich kan den Kopff aus der Schlinge ziehen? (F: 130)

Beer weiß, daß seine Rechtfertigung zwar juristisch unangreifbar ist, aber dennoch keinen Glauben findet; seine Motive werden, wie die Kritik des Ausgekehrten Politischen Feuermäuer-Kehrers (1682) belegt, in der Privatinvektive gesehen. Alewyn sieht hier einen nicht mehr aufzuhellenden Komplex persönlicher Anspielungen,197 worauf auch der Text selbst versteckt hinweist,198 während Hardin aus der Analyse der kritischen Antwort auf Beer den Schluß zieht, daß hier zwei gegensätzliche Weltbilder Ausdruck finden. 199 Dann stellt sich allerdings auch die Frage nach dem Grund für Beers Haltung: 196

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199

»[0]b mich der oder jener/ die und diese einen Scopticum oder einen Meykäfer= Doctor heisset/ gilt mir eins so viel als andere« (F: 130). James N. Hardin (Johann Beer's Der Politische Feuermäuer-Kehrer and the Anonymous Novel Der Ausgekehrte Politsche Feuer-Mäuer Kehrer. Contrasting Views of Woman in the German Novel of the Late Seventeenth Century. In: Modern Language Notes 96 [1981], S. 488-502) zitiert in einer Fußnote (ebd 501) Alewyns dahingehende Briefäußerung. »Andere sagten/ er wäre gegen seine Gut= und Wohlthäter undanckbar/ und offenbahrte solche Sachen/ die er billich/ als ein bescheidener Mensch/ der sonst Verstand genug hätte/ verschweigen solle« (F: 129). Das Narrenspital bezieht sich in den Kapiteln XVI und XXIII ebenfalls auf die identifizierende Lektüre der WeiberHächel. »The anonymous novel [Der ausgekehrte politische Feuer-Mäuer-Kehrer], expressive of an aristocratic value system, and filled with resentment at the presumption of an >upstart< middle-class writer (who to be sure identified more with the court than with the city, which he found provincial), represents a refined, courtly tendency. Beer's novel, which has no courtly pretensions, represents a narrow, intolerant outlook, one not typical of Beer's best novels« (Hardin [1981] 501).

188 The question that remains unanswered is why Beer should have espoused so fervently and with such exclusivity the theme of antifeminism in this brief period of his literary career. (Hardin [1981] 501)

Die Antwort darauf liegt in der Analyse der Autorpsychologie, die an dieser Stelle jedoch nur insoweit von Interesse ist, als sie Beers erzählerisches Verfahren zu erläutern fähig ist. Das satirische Erzählen jedoch statuiert die Nähe von überzeugend-unterhaltsamer Erzählung und strafender Satire: »Ja«/ sagte ich/ »du bist ein arglistiger mortalis. Zwage denen Narren nur wacker die Köpffe [...]. Schlage zu/ so lange dir ein Stumpf von dem Stecken in der Hand bleibet [...] Ich weiß wohl/ daß man dir in der Stadt nicht gut ist. [...] Sage du nur die Wahrheit.« (F: 130)

Die Arglist des Schelms ist gleichzeitig die Voraussetzung, die satirische Wahrheit gegen den Widerstand der Betroffenen zu offenbaren, und es ist nicht ausgeschlossen, ja eher wahrscheinlich, daß dabei wirkliche Lebensverhältnisse zugrunde gelegt werden. So ist nicht einmal bei einem so auf Eindeutigkeit angelegten Text wie dem Feuermäuer-Kehrer die Gefahr des Mißverständnisses ausgeschlossen. Möglicherweise reagiert Beer hier aber auch auf Rezeptionsprobleme, die die Figurencharakteristik im Narrenspital nahelegt. Ohne einer Analyse dieses zentralen Textes vorzugreifen, kann festgestellt werden, daß die Charakterisierung des »faulen Lorentz« in der Forschung kontrovers ist und damit einen grundlegenden Mangel der Lesersteuerung offenbart. Beer legt im Feuermäuer-Kehrer einige Situationen analog an, verändert aber den Rahmen so, daß die Eindeutigkeit der Wertung unterstrichen wird. Die gottlose und faule Magdalena verschläft die Messe mit folgendem Kommentar: [W]as frage ich umb den Pfaffen und nach seiner Messe? hier ist es wärmer als in der Kirchen/ wanns mir bezahlt wird/ wie ihm/ so wil ich schon kommen. (F: 23)

Im Narrenspital äußert sich der »faule Lorentz« in einer vergleichbaren Situation ganz ähnlich: [D]er wer ein Narr/ der so frühe in die Kirche gienge [...] im Bett thut es besser als in der Kirche/ laß du den Pfaffen beten/ er hat sein Geld davor/ wann mirs bezahlet wird/ so will ich auch zu pater Nosteriren anfangen. (Ν: 162)

Beer legt aber nicht nur die faule Magdalena unmißverständlich als »Hure« an, die zur Hölle fährt, er läßt auch noch eine direkte Moralisatio zur Verdeutlichung seiner Wertung folgen.200 Lorentz ist dagegen als Figur offenbar so ambivalent angelegt, daß es schwerfällt, seine grundlegend negative Cha200

»Es ist hier [im Bett] besser/ meynet sie/ als in der Kirche. [...] O nein/ du faule Zizipe/ in der Kirche wäre dir mehr als in dem Bette geholffen/ dort köntestu umb einen frommen Mann bitten/ und etwan eine bessere Geschickligkeit eine gute Suppe zu kochen erbitten. Ach Mutter/ wie wohl thätestu/ wann du eine gute Ruthe bändest/ der Tochter das Deckbett weg nähmest/ und sie so lang auf den Fetzer hiebest/ biß sie sagte/ es wäre besser in der Kirche/ als in dem Bette?« (F: 24).

189 rakteristik zu erkennen; er teilt diese Eigenschaft mit Grimmelshausens Courasche und Daniel D e f o e s Moll Flanders, und es liegt Beer daran, im Feuermäuer-Kehrer eben dieses Problem der erfolgreichen Funktionalisierung der »Kurtzweil« eindeutig zu lösen. Das Narrenspital ist für den Autor das nachdrücklichste Dokument des Scheiterns in dieser Beziehung - vielleicht ist es damit auch zum Auslöser der Serie von misogynen Satiren geworden, die keinerlei Interpretationsspielraum mehr lassen. Aber auch der Erzähler selbst wird Teil einer solchen Verdeutlichungsstrategie, wenn er als Analogie zum Ich-Erzähler des Narrenspitals entworfen wird, der in der unmoralischen Indolenz materiellen Genusses versinkt und die Sünde der Acedia verkörpert, wie er schließlich auch selbst erkennt: Er ist der größte Narr darum/ daß ich meine edle Zeit/ die weder mit Gold noch Silber kan gekauffet werden/ so elend und in der grösten Faullentzerey bey euch zubringe. Was meinet ihr/ daß endlich aus mir werden wird/ ein Strassenräuber und Dieb/ der nicht den Narren=Spital sondern den Galgen zu fürchten hat. Das müssiggehen gewohne ich/ nichts lerne ich/ fressen wil ich/ ernehren kan ich mich nicht/ arbeiten mag ich nicht/ darum saget mir ob ich nicht sammt euch der gröste Narr von der Welt sey [...]? (N: 208) Ganz ähnlich lautet die Selbstbeschreibung Verutzos, allerdings noch ohne Moralisation, die erst am Ende des Romans folgt: Meine gantze Arbeit war Fressen und Sauffen/ und die Zeitungen zu lesen [...] und wann ich noch daran gedencke/ wie wohl mir dazumahl gewesen/ als ich die Läuse loß geworden/ so glaube ich nicht/ daß ich jemahls auf Erden einer grösseren Vergnügung genossen. Ich war der glückseligste Mensch auf dem gantzen Schloß201 [...] Summa summarum Veruzzo war ein guter Kerl und Hesse sich nichts weniger/ als die Arbeit anfechten. (F: 49) Ebenso wie Hannß im Narrenspital macht Verutzo die Erfahrung orgiastischer Leidenschaftsverfallenheit bei Alkoholexzessen, 2 0 2 die schließlich zum Auslöser ernsthaften Selbstbedenkens werden: [W]eil ich in dem Schloß wenig oder gar nichts zu thun hatte/ satzte ich mich über die Legenda Sanctorum, und lase mit Verwunderung/ wie gar weit die heutige Welt=Art von der alten abgewiechen wäre. [...] Wo ist die alte Redligkeit hin? Wo ist die alte Liebe? Wo ist der wahre Fried und die wahre Andacht? [...] So sind auch alle diese herrliche Eigenschafften des wahren Christenthums vergangen/ und haben sich unversehens in dem Wind verlohren. (F: 75) A n dieser Stelle ist auch Hannß als erzählender Einsiedler am Ende des Narrenspitals

angekommen:

Ich aber werde mich ohne fernem Umschweiff über die Legenda setzen und diese Woche betrachten/ wie eiffrig sich die Altväter angelegen seyn lassen/ ihr ewiges Heyl/ an welchem jeden Menschen das allermeiste gelegen ist/ zu betrachten. (.Ν: 210)

201

Ganz ähnlich im Narrenspital (N: 158). 202 F . 7 4 u n d N . 170-174.

190 Das Motiv des kontemplativen Lesens als Stufe zur moralischen Bekehrung ist zweifellos Grimmelshausen entlehnt, dessen Simplicissimus im fünften Buch des Romans gleich mehrfach zum exemplarischen Leser wird, 203 bevor er (V, 24) seine Weltabsage mit dem Zitat des berühmten »Adieu Welt« des Antonio Guevara einleitet. Für Hannß jedoch endet die Erzählung damit, während Kugelmann Gelegenheit bekommt, die Richtung dieser Lektürefrüchte anzudeuten, wobei deutlich wird, daß es sich durchaus um eine Art von Metanoia handelt, die aber ganz in Übereinstimmung mit den zeitgleichen Texten eine säkulare, kontemplative Quasi-Idylle entwirft: »Wir haben [...] unser Leben bis dahero in unterschiedlichen Begebenheiten mit Lust und Kurtzweil gebessert. Nunmehr ist es Zeit/ daß wir unser Handwercks= Zeug mit einer gantz neuen Lebens=Art verbessern und verwechseln. [...] Halte dich wohl und redlich/ sey fromm und getreu/ friß zuweilen mit mir oder einem andern guten Bonamico, ein gutes Bißlein von einem gebratenen Ganß=Flügel/ so schmeckt dir ein guter Trunck Zerbster Bier darauf.« (F: 131)

Welcher Gestalt diese neue »Lebens=Art« sein soll, wird aus dem Text nicht ganz klar, es deutet aber alles darauf hin, daß Beer eine passive, kontemplative Landexistenz in materieller Sicherheit und moralischer Beständigkeit entwirft. 204 Es zeichnet sich aber auch schon das Bild geselligen Erzählens und gemeinschaftlicher Feste ab, das sich als bewußtes Konstruktionselement im Corylo und im Jucundus Jucundissimus findet und als Grundelement die spätere Dilogie dominiert. Im Feuermäuer-Kehrer wird diese Projektion zwar am Ende artikuliert, sie ist aber dennoch nicht Teil der Erzählerbiographie, weil das Thema des Romans die Warnung vor der Macht der leidenschaftlichen Begierde ist: Darum lernet/ ô ihr Jünglinge/ das Weibs=Volck wohl kennen/ betrachtet an ihnen nicht die äusserliche/ sondern vielmehr innerliche Gestalt. Die Begierde ist ein schneller aber doch ein sehr betrogener Mahler. (F: 132f.)

Beer geht es aber dabei keineswegs primär um eine säkulare Belehrung im Sinne des politischen Romans, der gesellschaftliches Fehlverhalten zum Nutzen der Gemeinschaft und des Einzelnen bloßstellt und durch die satirische Kritik korrigieren will. Er markiert mit seiner Funktionsbestimmung des Feuermäuer-Kehrer die geistigen Voraussetzungen der Glückseligkeit, wie er an anderen Stellen deren soziale Komponente andeutet: Was war dann nun unsere Politica? Es ware warhafftig kein weltlicher Kunst=Griff/ sondern vielmehr eine eyfrige Andacht/ durch welche wir all diesem Unheil entflohen. Dieses und nichts anders hat uns zum politischen Feuermaur=Kehrer gemachet/ nemlich/ daß man die Welt heimlich und in den Hertzen wohl betrachten/ ihre Hoheit verachten/ und sein Heil in Zeiten bedencken lernet. Hier steckt der Zweck der zeitlichen Glückseligkeit/ weil ein solcher Weg zu dem ewigen Leben führet. (F: 132) 203 204

Buch V, Kapitel 10, 20 und 23. »Wir sassen auf dem Schloß nicht allein in guter Ruhe/ sondern nähme ieder nach seiner Art in guten Übungen dergestalt zu/ daß wir endlich mit Ehr und Ruhm bestehen konten« (F: 132).

191 So rückt der Autor am Ende den Roman wieder in die Nähe von Predigt und Traktat, obwohl die Konzeption des Ich-Erzählers gerade zum Schluß hin schärfere Konturen gewinnt, die an die gleichzeitigen Erzählungen erinnern, die im fünften Kapitel analysiert werden.

3.4.

Die Konstituierung der Politik

3.4.1. Der Politische Bratenwender (1682) Der Politische Bratenwender205 gehört nach übereinstimmender Meinung der Beer-Interpreten zu den politischen Romanen, zu denen für Krämer auch der Feuermäuer-Kehrer und der Verliebte Europeer (1682) zählen.206 Nach unserer Analyse sollte dagegen der Feuermäuer-Kehrer zu der Gruppe der misogynen Schriften gezählt werden, während der Verkehrte Staats-Mann in die Gruppe der politischen Romane gehört. In seiner Analyse des Bratenwenders zitiert Krämer zustimmend die Beobachtung Kremers,207 daß die Gattung des »politischen« Romans zwei »völlig konträre Strömungen« umfasse: zum einen »die didaktische Ausrichtung auf innerweltliche Klugheit bei Weise, Riemer, Kuhnau, Ettner u. a.« und zum anderen »die antihöfische, satirische Entlarvung des >Politicus< als korruptem, ehrgeizigem Heuchler« (Krämer [1991] 167). Hirschs Generalthese von der Verbürgerlichung des Pikaro folgend, erklärt Krämer den politischen Roman als Transposition des pikarischen,208 wobei der meist reisende Held von einem Führer belehrt wird; Beer gehöre dann eindeutig zur satirischen Richtung. Ohne die Frage

205

206 207

208

[Johann Beer] Der Politische BRATENWENDER/ Worinnen enthalten/ Allerhand Politische Kunstgriffe/ vermittelst welcher der Eigennutz heutiges Tages fast von jedermann gesucht wird [...] Bey Christian Weidmannen [...] Leipzig 1682a. Zitiert mit der Sigle BW in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 6. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 1997a (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 6). Krämer (1991) 164-181 und Hildegart Ellert: Essen und Politik in Johann Beers Der politische Bratenwender. In: Simpliciana 13 (1991), S. 157-176 bieten die einzigen Auseinandersetzungen mit dem Text. Krämer zählt dazu auch die Andere Ausfertigung (1682). Manfred Kremer: Zur Genesis des politischen Romans im 17. Jahrhundert. In: Akten des V. Internationalen Germanistenkongresses Cambridge 1975. Jb. f. Int. Germ. A 2/3 (1976), S. 74-81. »Die Form des >politischen< Romans bei Weise kann als bürgerliche Transposition des pikaresken Modells verstanden werden. Auch im >politischen< Roman soll ein einzelner junger Mann seine Erfahrungen mit der Welt machen, meistens in Form einer Reise. Damit aber der unerfahrene Protagonist seine Erlebnisse richtig deutet und so seine >Weltklugheit< entwickeln kann, wird ihm oft eine Lehrer- oder Führerfigur beigegeben. Durch Einübung der bürgerlichen Tugenden und der gesellschaftlichen Formen erlernt der >Politicus< im Roman innerweltliche Lebensklugkeit als Schlüssel zu seinem (privaten) Glück« (Krämer [1991] 165).

192 endgültig lösen zu wollen, läßt sich folgendes anmerken: Wie leistungsfähig ist eine Gattungsbezeichnung, wenn sie bei einem historisch so eingegrenzten Phänomen 209 noch diametral entgegengesetzte Phänomene abdecken muß? Wäre es nicht sinnvoller und historisch korrekter, neben dem pikarischen Roman einen satirischen Roman anzunehmen, der sich regional, thematisch und konfessionell ausdifferenziert? Es wäre vermutlich sogar am praktikabelsten, den satirischen Roman als das Gegenstück zum höfischen Roman zu begreifen, das eine Vielzahl von Realisationsformen unter sich vereinigt, denen die satirische Schreibart gemeinsam ist. Für den Bratenwender hat Krämers Kategorisierung das Problem umgangen; indem der Roman in direktem Gegensatz zur Definition der Gattung bei ihrem Begründer steht, kann er nur in sehr eingeschränktem Maße als »politischer« Roman bezeichnet werden. Definitorisch werden wir die Texte Beers hier als satirische Romane verstehen, die in einem großen Gattungszusammenhang stehen, der sinnvollerweise durch die Kategorien des fiktionalen und nicht-fiktionalen Diskurses sowie die monologische und dialogische Darbietungsweise differenziert wird. In diesem Sinne erweisen sich die misogynen Schriften als dominant monologisch und nicht-fiktional, wobei sie durch ihre thematische Spezifik eine eigene relativ geschlossene Gruppe bilden. Die »politischen« Romane unterscheiden sich dabei von den misogynen Schriften ausschließlich in thematischer Hinsicht, alles vordem Gesagte trifft - cum grano salis - auch auf sie zu; alles im folgenden Auszuführende steht so auch in enger Beziehung zu den oben analysierten Schriften. Dabei ist das Hauptgewicht zunächst auf die Strukturanalyse zu legen, die für den Bratenwender charakteristische Ergebnisse produziert. Auch hier bietet Krämers Interpretation den ersten Ansatzpunkt, wenn er den Erzähler in der Nähe des erlebenden Ich sieht und seine Passivität hervorhebt:210 Dieser nimmt über weite Strecken des Textes eine eher passive Zuhörerposition ein; er erzählt in Innenperspektive, weitgehend personal bzw. neutral, seine Haltung zum Erzählten ist distanzlos. Die Moralisatio, im »Weltkucker« meist Werk des rückblickenden Ich-Erzählers, geht hier weitgehend über auf andere Figuren des Textes, die dem figuralen Erzähler einen Erfahrungsvorsprung voraus haben und dadurch Autoritätspositionen einnehmen können. (Krämer [1991] 168)

Abgesehen von der Kontamination der Ich-Erzählsituation mit Modi der ErErzählsituation (figuraler, neutraler Erzähler) ist Krämers Beschreibung korrekt, er markiert den Wegfall des point of view des erzählenden Ich, ohne jedoch daraus weitergehende Konsequenzen zu ziehen. Die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich ist ja nichts anderes als die Zeit der Hand209

210

»Der >politische< Roman scheint, auf europäischer Ebene betrachtet, ein spezifisch deutsches, ja sächsisches Phänomen darzustellen, das anderweitig keine Parallelen hat« (Krämer [1991] 164). Die Erzählperspektive war für Krämer Grund für seine Beschäftigung mit dem Text.

193

lungen des erzählten Ich und - am anderen Pol - die Zeit der Erzählung selbst. Hier interessiert nur der erste Fall, die berichteten Handlungen des erzählten Ich ohne Vermittlung des rückschauenden, erzählenden Ich, wobei der Bewußtseinsstand des erzählten Ich dominiert. Dadurch sind aber eine Belehrung und ein Erkenntnisgewinn über den jeweils ganz konkreten Fall hinaus ausgeschlossen; das heißt, ein unzuverlässiger, pikarischer Ich-Erzähler wie Schmutzküttel kann immer nur handgreiflich am vereinzelten Exemplum lernen, da die ordnende und wertende Perspektive des rückblickenden Ich fehlt. Diese zutiefst pikarische Struktur sucht der Roman Weises etwa dadurch zu relativieren, daß dem Helden ein Führer zur Seite gestellt und in der Er-Form erzählt wird. Auch bei Beer treten Begleiter auf, die jedoch durch ihre Charakterisierung keinerlei Anspruch auf gültige Moralisationen machen können.211 Die Konzentration auf das erzählte Ich schließt aber mit der fehlenden Perspektivierung durch das rückblickende erzählende Ich auch eine ordnende Handlungskonstruktion auf der Ebene des erlebenden Ich aus, dessen Bewußtsein über die Wahrnehmung des jeweils Gegebenen hinaus nichts erkennen kann. So tritt uns notwendigerweise das Bild einer chaotischen Handlungsfolge entgegen, deren Ablauf unvorhersehbar ist. Gerade dies aber empfindet der Erzähler Beer als Reiz, wie ja der Pokazi anschaulich belegt, und auch im Bratenwender macht sich die Möglichkeit alogischen und a-kausalen Erzählens bemerkbar. Zunächst aber entwirft Beer am Beginn des Textes ausführlich die klassische Situation des Pikaro, denn mit der traditionellen Erzählform des pikarischen Romans kann er die fehlende Lebensperspektive seines Helden kaschieren und ersetzen. Die geprägte Form des pikarischen Schemas verlangt jedoch kategorisch den rückblikkenden Ich-Erzähler, dessen Abwesenheit auch durch die vorgegebene Handlungsstruktur nur kurzzeitig verdeckt werden kann. Früher oder später müssen die kontingenten Handlungssequenzen auf eine wie auch immer zu verstehende Metanoia des erzählenden Helden geordnet werden, was in Beers Entwurf unmöglich ist; zudem will er offenbar keinen pikarischen Roman schreiben. Die Frage, die sich so aus der Betrachtung der Erzählhaltung ergibt, wird daher die ganze Auffassung des Textes dominieren: Warum wählt Beer eine Darstellungsform, die nicht nur die didaktische Konstruktion eines politicus christianus ablehnt, sondern auch jeden Lerneffekt lokal begrenzt und unfähig zur Systematisierung macht? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine kurze Analyse der Handlungsstruktur unumgänglich. Wie bereits angedeutet, entwirft Beer den Ich-Erzähler als pikarische Existenz, jedoch mit ungewöhnlichen Mitteln: Er beginnt mit einem für den pikarischen Roman untypischen medias-in-res-Anfang, auf den sofort die nachgeholte Vorgeschichte folgt, allerdings ohne die für die Gattung fast un211

So auch Krämer (1991) 168.

194 verzichtbare Abstammungsfrage zu klären; Herkunft, Kindheit und Jugend - zumeist wichtige Strukturpositionen des Pikaro - werden völlig untypisch ausgeblendet, und so erweist sich der Erzählansatz bereits in charakteristischer Weise als gebrochen. 212 Die Vorgeschichte berichtet von seiner Dienerexistenz bei einem adligen Ehepaar, das durch äußersten Geiz und Standesdünkel charakterisiert ist und somit der Gattungstypik entspricht, wobei die Herrin des Erzählers, wie in der Folge alle Frauen im Text,213 zusätzlich durch ihr wüstes Schimpfen als »böses Weib« gekennzeichnet wird. Diese Lebensstation des Ich-Erzählers wird jedoch nicht in Handlung aufgelöst, sie bleibt vollständig im Medium des nicht-fiktionalen Berichts. Bei der anschließenden Einführung des Helden an einem neuen Hof nutzt Beer erfolgreiche Versatzstücke aus früheren Romanen; ein kauderwelschender italienischer Edelmann erinnert an die welsche Gräfin, und ein komisch-mißverstehender Dialog zitiert die Bestia Civitatis. An dieser Stelle der Handlungsentwicklung wird dann auch deutlich, worin der Unterschied etwa zum Welt-Kucker liegt: Dem Bratenwender fehlt jedes Element des Erotisch-Verwerflichen. Die Frauen, die per Generalverdikt des Erzählers alle »verhurt« sind, bleiben schemenhaft, und das übermächtige Thema der misogynen Schriften wird dadurch marginalisiert. Dem Bratenwender geht es weder um die erotischen Verstrickungen des Erzählers noch um die warnende Abstrafung der verführerischen weiblichen Sexualität. So nutzt er die Situation, um die Untugenden seiner alten Herrschaft vor den Augen seiner neuen »durch die Hächel« zu ziehen, womit er nicht nur deren eigene, ganz ähnliche Untugend erweist, sondern sich selbst als Lügner und Verleumder entlarvt, was in seltsamem Widerspruch zur Moralisation steht: [U]nd daß ich es recht von Hertzen sage; so loge ich als ich sähe/ daß die Dam sich sehr darob kützelte/ noch einen ziemlichen Hauffen darzu/ und weil die Weibspersohnen ins gemein nicht ungerne hören/ wenn man andere ihres gleichens wacker durch die Hächel ziehet/ und sie mit tausend Schandflecken beschmitzet/ gäbe sie mir gantz lachend eine gute Zeit Audientz/ dann sie glaubte so wenig als viel andere/ daß die Verleumbdung unter denen allergrösten Lastern das allergröste sey/ [...] darum liesse sich die fremden Fehler zu einen Gelächter nicht aber zu einen Spiegel dienen/ ihre eigene Unarthen deren sie eine ziemliche Anzahl zehlete/ dadurch zu bessern und abzulegen. (BW: 151) 214

Beer läßt keinen Zweifel an der Unverläßlichkeit seines Erzählers, denn die Szene der Verleumdung wiederholt sich,215 wobei im zweiten Fall die gleich212

213

214

215

Die nachgeholte Vorgeschichte erklärt auch Krämers Beobachtung der wechselnden Erzählpositionen ([1991] 168). Trotz der Ankündigung der Vorrede: »Dem Frauenzimmer bin ich gar gelind gewesen« (BW: 144). Der Begriff »Narrant« (BW: 152) dient in diesem Zusammenhang nicht, wie Krämer meint, zur Charakterisierung des erzählenden Ich, sondern fungiert hier als Äquivalent von Verleumder, d. h. jemandem, der zu den Fakten etwas hinzulügt. Vgl. BW: 152.

195 lautende Moralisatio von einem Pagen ausgesprochen wird. 216 Diese Widersprüchlichkeit trifft den Nerv des skizzierten Erzählproblems, was auch Krämer herausstellt: Aus dem naiven, niederen und ungebildeten Protagonisten wird übergangslos der Moralprediger und Schulmeister [...]. Der Protagonist zerfällt in zwei völlig unterschiedliche funktionale Gestalten, und der Erzähler bemüht sich überhaupt nicht um Motivationen für diesen Wechsel oder um Glaubwürdigkeit und »Stimmigkeit« der Figur. (Krämer [1991] 176f.)

Der »amoralische« Erzähler ist dabei der pikarischen Tradition geschuldet, die durch die Bekehrung des Helden und die Kommentare des rückblickenden erzählenden Ich die sündhafte Verfassung der Handlungen didaktisch funktionalisiert. Die »Lösung«, die Perspektivlosigkeit eines distanzlos erzählten Ich durch eine pikarische Rahmenkonstruktion zu kaschieren, erweist sich so nur als neues Problem, das die Gesetze der Satire direkt tangiert, denn hier wird der satirische Kritiker zum exemplarischen Sünder. 217 Beer wird sich dieser Dichotomie an der zitierten Stelle bewußt und wiederholt daher die Szene, um im folgenden die Moralisationen vom Erzähler auf andere Protagonisten zu transponieren, die aber ebenfalls keine erkennbare Legitimation zur Kritik besitzen 218 Die im weiteren Verlauf des Textes deutlich werdende Hofkritik findet ihr Sprachrohr daher auch nur am Rande im Erzähler selbst; die große Allegorie der »politischen« Küchengeräte ist samt moralisierendem Kommentar Vortrag des Hofkochs, ebenso wie die anschließende Stadtkritik von dritten Personen geäußert wird. Das Gegeneinander von pikarischem Rahmen und satirischer Füllung verweist dabei natürlich auch auf den schon referierten Vorwurf, ein reiner Spötter (Scopticus) zu sein, der im Bratenwender jedoch nicht aufgegriffen wird. Der Sachverhalt ist jedoch der gleiche: In allen Fällen tritt die satirische Kritik ohne positives Gegenbild zu den Untugenden auf und erschöpft sich in der Lasterschau. Es scheint, daß die Vorlagen des Bratenwender tatsächlich, wie die Vorrede beteuert, keine identifizierbaren Persönlichkeiten sind, womit sich der Protest, es handele sich um rein private Racheakte eines Scopticus, erledigt. Trotzdem bleibt der Vorwurf bestehen, denn von Besserung und Bekehrung kann bei dem Erzähler nicht die Rede sein. Die ausführliche Allegorie der politischen Küchengeräte zeigt dies in 216

217 218

»Also sind die Laster/ so wir an denen Frembden sehen grosse Elephanten/ aber die wir an unserm eigenen Leibe/ und im Hertzen tragen/ die sind nur schlechte Mücken« (BW: 152). Was in direktem Widerspruch zur apologetischen Vorrede steht. So auch Krämer: »Der umfassendste Teil des Textes setzt sich in zwei analog gebauten Abschnitten kritisch mit Hof und Stadt auseinander. [...] Kommentar und Reflexion wird beide Male nicht vom Erzähler selbst geleistet, sondern durch den Mund der Führer- bzw. Freundes-Figuren. Nur wenig unterscheiden sich die beiden Bereiche inhaltlich in der Kritik, die dadurch einen austauschbaren und unspezifischen Charakter annimmt« (Krämer [1991] 172).

196 aller Deutlichkeit: Der Hofkoch zählt sieben Instrumente politischer Erkenntnis auf,219 die die gängigen politisch-machiavellistischen Verhaltensweisen der Politici veranschaulichen. Obwohl an einigen Stellen deutlich Kritik geübt wird,220 zielt die Moralisation auf die Anwendung der machiavellistischen Maßregeln: Darum verstehe mich wohl/ und bey Zeiten/ daß du alle deine heimliche Affecten, gegen diesen und jenen zubringen weist/ du must ohne Unterscheid auch die jenigen freundlich anlachen/ dem du doch in deinen Gemüth/ lieber an dem Galgen hängen sehest. Du must derohalben/ wann du ein guter Hoff-Bratenwender seyn wilst/ so wohl deinen Feind als Freund nach allen Vermögen loben. {BW: 170)221

Damit verstößt Beer gegen jede Maßregel des »politischen« Romans, denn er transponiert die kritisch-satirische Erkenntnis des verwerflichen Machiavellismus in das pikarische Milieu, wo sie zum Mittel im Überlebenskampf funktionalisiert wird. Beer entwickelt so ganz eigenständig die Intention des frühen Pikaroromans (etwa des Lazarillo), der noch nicht von dem christlichen Metanoia-Gedanken, ausgehend von Alemáns Guzman de Alfarache, dominiert wird und einen zwielichtigen Kompromiß mit dem sündigen Leben in der Welt schließt. Doch gelingt es Beer nicht, wie dem anonymen Verfasser des Lazarillo, moralisch-religiöse Postulate souverän zu mißachten; zudem verquickt er den original-pikarischen Rahmen mit dem Lehrprogramm des politisch-satirischen Romans, so daß der machiavellistische Koch kurze Zeit später in den Ton konventioneller Moralisation zurückfällt. Ausgangspunkt sind diesmal zwei kurze komödiantische Szenen, die in kaum veränderter Form in die Sommer-Täge (1683) übernommen werden. Dort werden sie durch eine dritte Theaterszene ergänzt, während im Bratenwender an deren Stelle ein Lied erscheint. Die kleinen Szenen haben überraschend viel Aufmerksamkeit gefunden; sie sind gleich zweimal Gegenstand von Analysen geworden: Während Gurtner die Szenen aus den SommerTagen und die »Bauern-Opera« aus dem Jucundus untersucht, konzentriert sich Kiesant auf letztere. Völlig unbegreiflich ist es jedoch, daß weder die beiden Interpreten noch Berns, an den Kiesant sich eng anschließt, bemerkt haben, daß die Szenen in den Sommer-Tägen ein Selbstzitat sind. Gurtner mißachtet aber auch die in den Sommer-Tägen explizit ausgedrückte Interpretation der komödiantischen Szenen, die er »banal« findet, und er zitiert als Begründung:

219

220

221

Gnaden Bratspieß, Bratspieß des Verdienstes, Spieß des Hofverdienstes, Kessel der Ungnade, Spießlein der Mißgunst, Topf des Hof-Nutzens, Fornax imaginationis. »In diesem Topf [des Hof-Nutzens] werden zuweilen/ die reichen Bauern gekochet/ und wunderlich vertheilet. [...] Denen Edlen wird der gespickte Geld=Beutel/ vorgeleget/ die nehmen ihnen auch/ mit einem tieffen Reverentze an« {BW: 168). Vgl. a. BW: 169. Siehe auch BW: 171.

197 Andere hatten hiervon andere Gedancken/ nachdem einer oder der andere von dergleichen Sachen zu judiciren gewohnet und geschickt war. Etliche meynten gar/ sie wären dadurch geschimpfft und aufgezogen. (ST: 132)222 Er zitiert allerdings nicht die daran anschließende Rücknahme: Aber allem Grund nach/ so hat der ehrliche Philipp [von dem die »banale« Auslegung stammt] das beste daraus geklaubet/ weil diese 3. Scenen/ nicht zum Schimpff oder einem Affront der Zuschauer/ [...] sondern zur Lehre/ aufgesetzet worden/ die man/ durch eine kleine Kurtzweil/ den Zuhörern beyzubringen/ gesucht hat. (ST: 132) In der ersten Szene gelingt es dem weg- und ratsuchenden Poko nicht, den verzweifelt-verliebten Julio aus seiner monologischen Melancholie zu erwekken und Auskunft zu erhalten, während die zweite Szene die dumm-vertrauliche Magd Urschel die Geheimnisse ihrer Herrschaft mit der Standardformel des »ich darfs nit sagen« ausplaudern läßt. In den

Sommer-Tagen

expliziert Philipp: Erstlich habt ihr durch die Erste Seen zu verstehen geben/ daß ein Verliebter zuweilen nicht recht bey Sinnen/ noch sein eigen sey/ dahero er so gar auch den jenigen nicht bescheiden kan/ der ihn um den rechten Weg fraget. [...] Aus der dritten Seen lernet man: daß denen einfältigen Mägden nichts heimliches zu vertrauen/ weil sie solches/ indem sie es am besten zu verschweigen meynen/ am allermeisten eröffnen/ und ihre eigene Schande nicht decken können. (ST: 131f.) Im Bratenwender

lautet die Stelle:

[D]urch die erste Seen ist also verstanden worden/ daß ein Verliebter nicht allezeit bey Sinnen sey/ dahero er auch so gar den Schneider nicht bedeuten konte/ der ihm umb den rechten Weg nach Straßburg fragte [...]. Aus der andern Seen lernet man/ daß dem Frauen=Volck nicht viel zu vertrauen/ noch denen Dienst=Mägden grosse Heimligkeiten zu offenbahren sey. (BW: 178) Beide Szenen dienen also auch nach der analogen Auslegung ihrer textimmanenten Kommentatoren zur Belehrung, wie im Bratenwender

zusätzlich aus-

geführt wird: »Siehestu«/ sprach der Koch [...] zu mir »so curiret unser Herrschafft das Hofgesindt [...] viel besser ist es wenn des Hofes Unordnung in einer Comedius oder Possenspiel/ und der guten Sitten Untergang man in solchen Spielen vorstelle und 222

[Johann Beer] Die kurtzweiligen SOMMER=TÄ GE/ Oder ausführliche HISTORIA/ In welcher umständlich erzählet wird/ Wie eine vertraute ADELICHE GESELLSCHAFFT sich in heisser Sommers=Zeit zusammen gethan: Und wie sie solche in Aufstossung mancherley Abentheuer und anderer merckwürdiger Zufälle kurtzweilig und ersprießlich hingebracht. Zum allgemeinen Nutzen und Gebrauch des Teutschen Lesers entworffen [...] [1683]. Zitiert mit der Sigle ST in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 8. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. [u. a.] 2000 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 8). Kuno Gurtner: »Ich agiere eine Comedia«. Die Theaterszenen in den Romanen Johann Beers. In: Simpliciana 11 (1989), S. 115-127. Knut Kiesant: Die Bauern-Opera. Zur Literatursatire bei Johann Beer. In: Simpliciana 13 (1991), S. 177-189.

198 dar thue. Damit kluge Regenten (sie seyn gleich Standes was sie wollen) offtmahls hinter solche Griffe und Bubenstücke kommen mögen/ die sonst wohl wären verschwiegen und durch Geschencke unterdrücket worden/ so ists auch nicht undienlich wenn solche Spiele auff gehoben/ und dann verbessert werden/ denn ob sich schon bißweilen ein Stumpfffinger getroffen findet/ so schmecket Ihm doch der Wein immer von neuen wieder gut/ und wenn er gleich des Herrn Gnade durch Comedien wieder erlanget/ verschertzet es derselbe doch wohl wieder/ drumb muß man die Fehler verbessern/ [...] und wenn man sich gereiniget hat/ sich auch nicht drüber zu Tode grehmen.« (BW: 177)

Die Gefahr jedoch dieser sich wiederholenden Belehrung liegt in der letztlichen Beliebigkeit der Reue, die auf ein finales Generalpardon setzt: [A]lso schämet sich mancher/ wenn er [a]uf solche Art in Comedien getroffen wird [...] und mancher bessert sich mehr nach dem Narrenspiel/ als wohl des Herren= Straffe (nicht) 223 hätte thun mögen einige wollen sich/ weder durch der Herrn schele Augen/ noch durch ein Affenspiel/ weder ein qvodlibet noch durch treue Warnung von Morden/ Huren stehlen/ schändiren/ bey Eheweibern zu liegen/ Mädgens zu Nothzwingen Fluchen und Sodomitischen Lastern nicht wenden lassen. (BW: 178)

In ihrer Hoffnung auf »gedoppelten Perdon« verstricken sie sich immer weiter in ihre Sünden,224 womit wiederum das poetologische Problem der Satire bezeichnet ist, denn einerseits dient die satirisch-komödienhafte Belehrung nicht jedem zum Nutzen, und andererseits entpuppt sich auch hier der Modus der satirischen Kritik als strafwürdige Verleumdung, worauf die Szene mit der geschwätzigen Magd hinausläuft: [D]rum ist es ein elend Ding umb einen Klatscher und Lügner denen nichts zu vertrauen ist/ und daß was ihm vertrauet/ wie ein Windwürbel über Stock und Stiel trägt/ und noch so viel darzu lügen/ als nur müglich ist. (BW: 179)

So wiederholt der Koch in seinen Kommentaren und Moralisationen das Prädikament des Erzählers: Seine machiavellistischen Lebensregeln stehen in direktem Gegensatz zu den Moralisationen, deren Wirksamkeit umstritten und deren Verfahren in der Nähe der Verleumdung situiert ist. Die Form des Pikaro vom Typ Lazarillos provoziert so durch die Konstruktion der Erzählsituation immer erneut einen Gegensatz von moralischer Intention und satirischer Kritik. Nach der relativ stringent durchgeführten Allegorie der Küchengeräte und der anschließenden Moralisation macht sich schließlich die fehlende Perspektivierung durch ein rückblickendes, erzählendes Ich bemerkbar, indem die Handlung in a-kausale Groteskerien abschweift. Der Erzähler und der Page müssen beide aus dem Schlosse flüchten und gelangen in die Stadt Ascalon, die vom spanischen König belagert wird. In ihrer Verworfenheit beten die Einwohner in den Kirchen um den Sieg und besuchen anschließend 223 224

Das »nicht« ist hier überflüssig. Dazu siehe BW: 178.

199 die »Wein= und Bier ich mag nicht sagen auch die Hur=Häuser«, bis sie sich zu dem Aberglauben erniedrigen, daß Ziegenböcke und ihr Geruch unverwundbar machen. Allerdings legt sich mit beendigtem Kriege auch die falsche Verehrung der geruchsintensiven Haustiere, deren »Supplication«, weiterhin in Gesellschaft geduldet zu werden, abgelehnt wird, worauf noch der groteske Selbstmord eines Gemsbocks berichtet wird. Das ist unverfälschter Pokazi-Ton aus dem Geist der gegenrhetorischen Groteske, und die folgenden satirischen Beobachtungen in der Stadt sind damit versetzt. Der närrische Wirt, dessen Kauderwelsch ebenfalls Ausdruck gegenrhetorischer Verfahren ist, ist die erste Belegfigur, worauf eine abgebrochene Schneiderlehre des Helden folgt, während derer sich die Schneider durch die Offenlegung ihrer betrügerischen Praktiken selbst entlarven. Hier folgen jedoch keine Moralisationen, sondern eine überaus realistisch gehaltene Kritik an den handwerklichen Zunftzwängen, die von einem Kaufmann vorgetragen wird, worauf wiederum ein Kaufmann in der Auseinandersetzung mit einem Maler als beschränkt, geizig und überheblich charakterisiert wird. Die daran anschließenden, etwas konfusen Kommentare modifizieren das Thema von der Macht des Geldes, bis ein Brief die Rückkehr eines befreundeten »Handelsmanns« ankündigt, womit der »Roman« überraschend schließt. Das kurze Handlungsinventar bezeugt deutlich, daß mit der zweiten Hälfte des Textes die Pikarofiktion eliminiert wird und die erzähltechnische Konstruktion jede Handlungsperspektive erschlägt. Vor diesem Hintergrund muß man den grundlegenden Beobachtungen Krämers zustimmen: »Lebenslaufstrukturen [...] lassen sich dabei nicht einmal ansatzweise auffinden« (Krämer [1991] 169). Die Handlungen des Protagonisten verdienen kaum ihren Namen, »der Text bemüht sich kaum noch, einen über das Notwendigste hinausgehenden erzählerischen Nexus herzustellen« (Krämer [1991] 169). Die Hofkritik bleibt ambivalent, 225 denn die Konsequenz daraus legt pikarisch-machiavellistische Lebensregeln nahe, während die Kritik und Satire der Zünfte und Handwerker zwar historisch genau ist, aber keinen im Sinne des »politischen« Romans positiven Lehreffekt transportiert: [D]ie generelle Kritik des Textes läuft zuletzt [...] auf ein allgemeines Lamento über »die große Falschheit«, »den Eigennutz« und »die abscheulichen Laster, mit welchen die Welt angeftillet und zwar durchgehends alle Stände« hinaus. (Krämer [1991] 175)

Wenn sich also die Satire und die Kritik im Negativen erschöpfen und darüber hinaus der Text keine moralische Autorität aufbietet, die durch Kom-

225

Trotz Krämers Beobachtung, daß ihre allegorische Form eine strukturelle Kritik darstelle.

200 mentare Handlungs- und Sinnebene koordinieren kann, was bleibt dann vom Bratenwenderl Vergleicht man diesen Befund mit dem Modell des »politischen« Romans bei Weise, so wird schnell deutlich, daß Beers Texte weniger eine »Übernahme« oder »Weiterentwicklung« dieses Modells darstellen, sondern eine kaum überbietbare Travestie und Parodie dieses Modells. An die Stelle der jungen, wohlsituierten Kavaliere Weises, die im Roman die praktische Lebensklugheit lernen, tritt der häßliche Schmutzkilttel, dessen Klugheit sich lediglich in einer Anpassung an die Schlechtigkeit der Welt manifestiert, einer Welt, in der letztlich alles im Laster mündet. Die literarische Parodie ersetzt die Didaxe Weises, und hier, im Erzählen, das nicht Didaxe, sondern sich selbst vermittelt, liegt das Herzstück von Texten wie dem »Bratenwender«. (Krämer [1991] 176)

Krämers Interpretation supponiert jedoch als Ergebnis ein »Erzählen«, dem kurz zuvor eine weitgehende »Reduktion literarischer Einkleidung« ([1991] 169) und lediglich ein »Minimalgerüst« von Handlungen bescheinigt wurde. Und angesichts der komplizierten erzähltechnischen Konstruktion will auch die These von der Literaturparodie nicht recht überzeugen. Es zeigt sich, daß die eingangs gestellte Frage nach der Intention Beers bei der Wahl seiner erzähltechnischen Mittel noch immer nicht beantwortet ist. Die Antwort kann zunächst nur in dem pikarischen Entwurf des Romanbeginns liegen, mit dem Beer eine Ausgangssituation im Sinne des Lazarillo entwirft, zu dem ein Protagonist wie Lorentz aus dem Narrenspital oder die Tochter aus dem Jucundus paßt. Die Moral aus einer derartigen Konstruktion kontrastiert die Schlechtigkeit der Welt mit der geschickt eingesetzten Schlechtigkeit des moralisch begrenzten, pikarischen Helden. Die Linien dieser Anlage sind bis zum Ende deutlich sichtbar. Dieses Schema wird jedoch von der Form des »politischen« Romans im Sinne der Satire überlagert: Der Protagonist erhält Begleiter, die ihm zwar die moralischen Kommentare abnehmen, aber ebenfalls keine Berechtigung dazu haben, weil sie noch zu sehr der pikaresken Welt verhaftet sind. So entsteht die Patt-Situation, daß niemand das Rechte aus der satirischen Kritik lernt. Verantwortlich für diese verfahrene Erzähltechnik ist offenkundig die Rücknahme des rückblickenden erzählenden Ich. Krämer hat dessen Marginalisierung zutreffend mit dem Ziel der erhöhten Glaubwürdigkeit begründet,226 wofür ja auch die Selbstdekuvrierung der Handwerker spräche. Aber dieser Effekt ist zu begrenzt und lokal, um als Begründung ausreichen zu können. Beer setzt das erlebende Ich als Erzählzentrum offenbar aus der Tradition der misogynen Schriften ein, ohne sich über den veränderten Charakter seiner Ausgangsposition klar zu sein. Die misogynen Texte erhalten allerdings ihre Einheitlichkeit durch die Macht des einen monologischen und nicht-fiktionalen

226 pjjr ¿¡g erhöhte Glaubwürdigkeit »bürgt nun nicht mehr ein (möglicherweise unzuverlässiger) rückblickender Erzähler, sondern die reale Lebenserfahrung der dargestellten Personen, die angeblich neutral wiedergegeben wird« (Krämer [1991] 169).

201 Arguments, das die weibliche Sexualität und Leidenschaftlichkeit zur Zentralsünde stigmatisiert. Der Angriff auf die Frau ist dabei argumentationslogisch keine Satire, sondern direkte, literarisch nicht vermittelte Attacke; der Ich-Erzähler dieser Schriften geht in seiner monologischen und nicht-fiktionalen Funktion auf, denn die einfache Schilderung der »Hurerei« trägt ihren Kommentar virtuell bereits in sich. Vor allem aber bezieht der Erzähler dort keine über die Problematik hinausgehende Position jenseits der männlichen und braucht so auch kein reflektierendes Ich. Die Übernahme dieser direkten Erzählsituation, die durch den Zusammenfall des Bewußtseins von erzählendem und erzähltem Ich charakterisiert ist, bringt für den »politischen«, aber auch den pikarischen Roman große Schwierigkeiten, denn überall dort, wo eine Bewußtseinsentwicklung kenntlich gemacht werden soll, muß diese Distanz auftreten. Figurale und auktoriale Er-Erzähler können diese Problematik in verschiedener Weise lösen, der Ich-Erzähler kann sie nur über die Form des rückblickenden Erzählers auffangen, es sei denn, der Ich-Erzähler beschreibt aus seiner begrenzten Gegenwartsperspektive, und der Leser lernt sozusagen mit ihm. Es handelt sich dann um das Verfahren etwa des Kriminalromans. Ein anderer Grund, der Beer vermutlich zur Übernahme gereizt hat, ist die bereits berichtete Möglichkeit der grotesken Handlungsanarchie, denn wenn die Perspektive des Erzählers auf das erlebende Ich beschränkt ist, ist grundsätzlich jede Handlungsentwicklung nur ganz kurzfristig begründbar, und ein ordnender Fluchtpunkt ergibt sich bestenfalls am Ende der Handlung (mit der Aufklärung des Kriminalfalls). Beer nutzt diese Möglichkeit jedoch nur zur temporären Regression in Groteskerien wie der Schafsbock-Supplikation. An einer einzigen anderen Stelle wird schemenhaft deutlich, wie die stilistische Umsetzung der kontingenten Handlungsführung aussehen könnte: Auf der Flucht vom Hofe in die Stadt ergibt sich während eines Aufenthalts die Möglichkeit zur Selbstbesinnung des einsamen Helden, der diese Situation zu einem Monolog nutzt, der ansatzweise den Charakter eines inneren Monologs trägt, indem er fast assoziativ phantasiert.227 Doch bleibt dies ganz schemenhaft im Hintergrund, die Szene löst sich schnell auf, und derartiges wiederholt sich nicht. Beer verquickt so mehrere disparate, teils antagonistische Verfahren, deren Unverträglichkeit in dem ganz offensichtlichen Abbruch resultieren und das Scheitern des Projekts dokumentieren. Der Bratenwender belegt mit seiner Kritik an Hof und Stadt gleichermaßen die Notwendigkeit einer alternativen Lebensform, die sich bereits frühzeitig als Konstrukt der Landidylle zu erkennen gibt. Daneben markiert der Grundwiderspruch von Satire und machiavellistischer Lebensregel im Bratenwender auch einen wesentlichen Antagonismus der späteren Dilogie. Die Aufhebung eines Lebensrahmens 227

BW: 185-187.

202 für das erzählende Ich erweist sich als erzähltheoretischer Fehleinsatz; die satirische Beschreibung wird im folgenden entweder auf einen Helden bezogen, oder die Handlung folgt strikt einem traditionellen Schema.

3.4.2. Der Verkehrte Staats-Mann

(1700)

Der Verkehrte Staats-Mann228 präsentiert sich im Gegensatz zum Bratenwender als formal relativ geschlossenes Konstrukt von ungewöhnlicher, aber überzeugender Gestaltung. Der Text erscheint vor allem in der ersten Hälfte so geschlossen, daß Zweifel an Beers Verfasserschaft auftreten könnten,229 denn hier wird über weite Strecken völlig schnörkellos und unter Verzicht auf Digressionen und selbstreflektorische Rhetorik erzählt. Mit dem zweiten Teil wird dann aber doch der Verfasser Beer stellenweise sichtbar,230 obgleich er sich und seine Stileigenheiten offenkundig zurücknimmt. Der Text zerfällt, so deutlich wie kein anderer Beers, in eine Narratio und eine etwa gleich lange Moralisatio (Argumentado). Während sich die Narratio in eine längere, relativ »realistisch« erzählte Passage und eine kürzere Allegorie gliedert, die zusammengenommen als Traumvision fingiert werden, wird die Moralisatio aus zwei verschiedenen Blickwinkeln vorgetragen. Strukturanalytisch geschickt verknüpft Beer den Beginn von Narratio und Moralisatio durch das gleiche Motiv des aufweckenden Kanonenschusses, 228

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[Johann Beer] Der verkehrte STAATS=MANN Oder Nasen=weise SECRETARIOS Wie sich Derselbe durch seine arglistige Griffe in die Höhe geschwungen durch die Wahrheit aber auf die Finge[r] geklopfft/ und von seinen vermeynten Ehren=Stuffen gestossen worden. Denen angehenden Hoff=Leuten/ in specie den hochmiithigen Scribenten zum besten entworffen [...] [o. O., o. J.]. Diese Ausgabe wird mit der Sigle V aus dem Nachdruck von 1970 (Frankfurt a.M.) zitiert. Hardin hat sich unter wesentlich bibliographischen Gesichtspunkten mit dem Text befaßt; danach kann als gesichert gelten, daß noch zu Lebzeiten Beer selbst (1699) den Roman zur Veröffentlichung vorgesehen hat, wie die Oster- und Herbstausgabe des Leipziger Meßkatalogs belegen. Siehe James N. Hardin: Rezension von: Johann Beer: Der verkehrte Staats=Mann Oder Nasen=weise Secretarius. In: Daphnis 3 (1974), S. 223226 und ders.: A Note on Johann Beer's Der verkehrte Staats-Mann. In: Daphnis 4 (1975), S. 202-204. Damit stellt sich natürlich auch die Frage, ob der Bruder Blaumantel möglicherweise nicht aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde, sondern vom Autor selbst dem Verlag übergeben wurde. Hardins Frage, ob dann nicht auch die Datierung um 1683 revidiert werden müsse, beantwortet die folgende Analyse negativ: Die Erzählhaltung des Staats=Mannes gehört in den Raum der vielfältigen Experimente Anfang der achtziger Jahre, den Blaumantel hat Kremer in seinem Vorwort zur Neuausgabe überdies überzeugend auf die Zeit um 1680 datiert (Einleitung. In: Johann Beer: Der kurtzweilige Bruder Blau-Mantel. Faksimiledruck der Auflage von 1700. Hg. u. eingel. v. Manfred Kremer. Bern, Frankfurt a.M. [u.a.] 1979 [Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts, 29], S. 7*-39*). Hardin (1974) 224f. trägt die schon bei Alewyn begegnenden Belege für Beers Verfasserschaft erneut zusammen. So berichtet Beer auch in seinem »Lebensbericht« von Seiltänzern und deren Unglücksfällen; aber auch die grotesken Reihungen sind für den Autor typisch.

203 während der Schluß den durch die topische Fiktion der einsiedlerischen Inselexistenz notwendigen Erzählerwechsel berichtet, 231 wobei dann auch die stereotypen Vorwortapologien nachgeholt werden. 232 Der Staats-Mann folgt so nur nach außen hin der Form der Traumvision, denn die ausführliche Handlungssequenz des ersten Teils ist nicht als solche angelegt. Dies wird durch die Konstruktion eines rückschauenden Ich-Erzählers deutlich, der noch am Beginn des Textes eine immanente Wertung der Handlung in Aussicht stellt, 233 die dann aber in den Kommentarteil relegiert wird. An dieser Stelle macht sich auch das ursprüngliche Erzählthema apodiktisch bemerkbar: »Wie aber selten etwas auffsteiget/ dabey zugleich nicht etwas niederfället« (V: 6). Die Themen des »verkehrten« Staatsmannes und das des »nasen=weisen« »Secretarius« werden erst nach der ersten Handlungssequenz miteinander verbunden: Am Beginn steht die Explikation einer machiavellistischen Hofkarriere ohne jeglichen Bezug zum Thema des »Secretarius«, das erst im Anschluß an die erste Handlungssequenz durch die Allegorien des »Secretarius« etabliert wird. So ergibt sich folgendes Bild: Am Anfang steht der Plan eines satirischen Romans mit dem Thema der machiavellistischen Strategien des Machterwerbs und des Höhe-Fall-Motivs, wobei bereits die erzähltheoretischen Rahmenbedingungen auf das »politische« Argument verweisen. Beer wählt einen Eremiten als Kommentarinstanz, die somit die moralische Autorität zu Moralisationen hat und die vor allem als bereits bekehrtes Subjekt nicht selbst Thema der Handlung wird das Problem des Bratenwender. In der schon im voraus gegebenen Sicherheit des moralischen Bewußtseins des Eremiten läßt sich nun auch die Erzählperspektive des Bratenwender verwirklichen, denn die weitgehende Rücknahme des retrospektiven erzählenden Ich wird nicht mehr durch dessen pikarische Unmoral und Unverläßlichkeit konterkariert, und so dürfen erzählendes und erzähltes Ich weitgehend zusammenfallen. Beer ist sich dabei bewußt, daß dies keine »Lösung« der Konstruktionsprobleme eines überzeugenden Erzähler-Ich sein kann, denn lebensweltlich-realistische Erzählerfiguren sind gerade durch die Abwesenheit derartig manifester positiver Moralüberzeugungen charakterisiert. Im Erzählzusammenhang des Staats-Mannes spielt das jedoch zunächst keine Rolle, denn der Erzählzusammenhang ist durch die allgemeine Namenlosigkeit der Protagonisten bereits ausreichend als

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Beer bezieht sich offensichtlich auf die Eremitenexistenz des Simplicius auf der Kreuz-Insel, dessen Lebensbericht ebenfalls von einem Holländer der Öffentlichkeit mit Kommentaren übergeben wird. Darauf weist der Text auch ausdrücklich hin: »[...] wie von mir in unterschiedlichen Reise=Beschreibungen gemeldet wird« (V: 167). Siehe V: 250f. »[...] und hat mich der Ausgang gelehrt/ was ich mir am Anfang nicht einbilden können. Ja ich wurde gewahr/ daß zum Ruin eines Königreichs schon genug wäre/ die Unbescheidenheit eines eintzigen Menschen zufolgen« (V\ 5f.).

204 Exempelerzählung ohne »realistischen« Anspruch kenntlich gemacht. Der distanzlos erzählende Eremit hat nun die Autorität zu handlungsbegleitenden Moralisationen aus der Perspektive des peripheren Ich-Erzählers. Wenn wir diese Erzählsituation in den Bereich des allgemein satirischen (oder pikarischen) Romans übersetzen, haben wir die erzähltheoretische Konstruktion der Willenhag-Dilogie, deren überzeugende Erzähltechnik sich somit im Vorgriff als erfolgreiche Konstruktion eines unmittelbar erzählenden, peripheren Ich erweist.234 Die Entdeckung dieses archimedischen Punktes, dem sich Beer ja von verschiedenen Seiten annähert, produziert im Staats-Mann jedoch Unvorhergesehenes, denn trotz der »politischen« Intention auf das weltlich Belehrende gewinnt die Beispielhandlung eine eigene Dynamik. Die misogynen Schriften sind durch die monomanische Themafixierung und die reduzierte Perspektive des Erzählers ebenso unfähig, eine längere Handlungsspannung zu entwickeln, wie die fehlerhafte Erzählsituation des Bratenwender. Das ursprüngliche Thema des Staats-Mannes verlangt jedoch nach ausführlicherer und komplexerer Handlung als die ewig wiederkehrenden Szenen der »Hurerei«, und so läßt sich der medias-in-res-Anfang des Staats-Mannes als Neuansatz des analogen Bratenwender-Einsatzes verstehen - mit dem bezeichnenden Unterschied des nunmehr wirklich peripheren point of view. Dies bedeutet keineswegs eine intensivierte Distanz zum Geschehen, sondern eher das Gegenteil: Der Erzähler markiert als Mithandelnder seinen Anteil an der gemeinsamen Romanwelt und etabliert sich so als notwendiges Mitglied der erzählten Wirklichkeit. Der eremitische Erzähler beobachtet, durch einen Kanonenschuß geweckt, die Landung einer »Heroischen Dame« mit einer »unzehlichen Mänge« von Schiffen aus Portugal auf der Insel St. Helena. Diese »Princeßin« besetzt die Insel, »daselbsten einige Colonie aufzuschlagen«, und bringt zu diesem Zweck alles Erforderliche mit sich, so daß in kürzester Frist eine Residenzstadt entsteht. Die erzählerischen Voraussetzungen prädestinieren die Handlung für die Beschreibung einer negativen Utopie, wie sie vor allem seit dem 19. Jahrhundert auftritt, 235 und auch Beer legt ein Motiv in dieser Richtung an: [W]eil alle Neuerungen ins gemein unverhoffte Liebhaber finden/ als waren die Schiffe mit vorwitzigen Menschen der Gestalten erfüllet/ daß sie meinem Urtheil gemäß wegen grosser Belästigung einen fernem Curs auszustehen kaum fähig gewesen. (V: 4) 236 234 235

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Darauf verweisen auch die analogen medias-in-res-Romananfänge. Dazu Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. Stuttgart 1974 (Sammlung Metzler, 127), 58-63. Die gegenteilige Annahme belegt das komplexe Motivgeflecht: »Diese Vorsichtigkeit der ankommenten Inwohner liesse mich an einem ferneren Verfolg guter Regierung keines weges zweiffein/ aber Ich schösse meinen Pfeil nichts destominder ausser der Scheibe« (V: 5).

205 Beer profiliert die Kategorie des »Vorwitzes« nun als Zentralbegriff, indem er einen »jungen Menschen«, »welcher einem verloffenen Schüler nicht viel unähnlich sähe« (V: 6),237 durch seine besserwisserischen Ratschläge sich unter die Zimmerleute mischen läßt, wo er bei einem Unfall verletzt wird. Zu diesem Unfall wurde er durch selbst eigenen Vorwitz verleitet/ welcher ins gemein mit Schmertzen nach Hause gehet/ und denen jenigen nur bittere Reue zum Lohne überlast/ so sich kein Bedencken tragen/ ihr Blat in fremde Karthen zumischen/ und Suppen zu blasen/ von welchen sie nicht gebrennet werden. (V: 7)

Beer reproduziert hier im wesentlichen die Maxime aus Christian Weises Politischem Näscher (1679), die vor der Überschreitung der sozialen, ständischen und intellektuellen Grenzen warnt, und klärt damit den gesellschaftsethischen Hintergrund des folgenden Geschehens.238 Der Einsiedler verläßt aus »Barmhertzigkeit«239 seine »Felsen=Klufft«, wird vor die Prinzessin gebracht, die ihn mit einer Beschreibung der Insel beauftragt, und pflegt den verletzten Jüngling zusammen mit einem Barbier in seiner Hütte. Im Gespräch mit dem »Wund=Artzt« wird die Konstellation der negativen Utopie erneut aufgegriffen und verstärkt: Da erzehlete er mir mit umschweiffiger Rede/ wie die einzige Begiersucht sie in dieser ferne verworffen/ und würde schwerlich einer unter allen diesen Frembdlingen seyn/ welcher sich ihr nicht aus Hochmuth etwas grosses zu werden/ angehänget/ oder aber zur Straffe seines Verbrechens hieher wäre verbannet worden. (V: 17Í.)240

Doch Beer verfolgt dieses Motiv nicht weiter, es dient ihm lediglich dazu, den konkreten Bezug seiner Hofkritik zu erschweren und sich der Zensur zu entziehen; sein Thema ist, wie die folgende Handlung zeigt, die machiavellistische Machtmanipulation des vordem verletzten Jünglings, der sich und seine vorherige, überschwengliche Dankbarkeit vor dem Eremiten verleugnet, der erfolglos versucht, seine Inselbeschreibung bei der Prinzessin einzuhändigen. Beer markiert den Aufstiegswilligen nicht nur durch seinen Vorwitz, sondern vor allem durch seine Ehr- und Titelsucht, denn er gibt sich, obgleich er ein reiner Aktenträger ist, als Minister aus und besteht auf der Anrede »Euer Gnaden«.241 Der Wundarzt klärt den Erzähler schließlich auf, 237

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Diese Kennzeichnung wird später im Kommentarteil (V: 168f.) wieder aufgenommen. Der »verlauffene« Schüler wird dann im Blaumantel und im Narrenspital zur Zentralfigur. Darauf verweist auch das erzählende Näscher-Motiv V: 34f. V: 8,11. Der Arzt ist allerdings davon ausgenommen, er ist aus ehrenwerten Motiven verbannt. Hier schließt übrigens der erste misogyne Hinweis im Text an (V: 18f.). Dieser Titel ruft Beers besonderen Zorn hervor, denn er kritisiert dessen Anmaßung im Kommentarteil gleich mehrfach, so daß eine private Ursache des Unmuts bei Beer wohl nicht ganz unwahrscheinlich sein könnte. Möglicherweise hat auch die Rücksicht auf Vergeltungen eines sich - zu Recht - getroffen fühlenden Hofbediensteten die Unterdrückung der Veröffentlichung des Staat-Mannes bewirkt.

206 daß es sich um einen einfachen und nur unzureichend gebildeten Schreiber handelt. Der so charakterisierte niedere Diener des Kanzlers empfängt aber dennoch die von der Prinzessin bestellten Schriften des Einsiedlers und eines Poeten, die er dann unter seinem eigenen Namen präsentiert und daraus Nutzen zieht. Beer promoviert die Prinzessin en passant zur Königin, die, durch das Lobgedicht des Poeten aufmerksam geworden, den vermeintlichen Verfasser einer juristischen Prüfung unterziehen läßt, um seine Verwendung am Hofe zu erwägen. Der Schreiber läßt sich bei dieser Prüfung durch einen getäuschten Juristen vertreten, worauf er die Charge eines »Reichs-Secretarii« erhält und durch ein von ihm fabriziertes Dokument den Kanzler als Verschwörer denunziert und verhaften läßt. A n dieser Stelle erfüllt sich nun das erste Thema des Romans: der machiavellistische Aufstieg des einen und der Fall des anderen. Die Moralisatio zu dieser Stelle repräsentiert nun charakteristischerweise die Perspektive des erzählten Ich: O! wie bedaurten wir in meiner Zelle das schliipfferige Hof=Gl[ü]ck. Wie wohl ist diesem/ sprachen wir/ der seinen Kopff aus einer so gefährlichen Schleiffe ziehen und in der Einsamkeit mit sich und seinem Gewissen alleine leben kan. O wie gesund blibet dieser Mensch/ welcher von der Hof=Hydra nicht angehauchet/ noch mit ihrem verderblichen Giffte inficiret wird. [...] Wie mancher böser Bube triumphirt daselbsten über die Redlichen/ wie/ wie mancher Fuchsschwentzer herrschet über die Auffrichtigen/ wie manch Arglistiger über die Einfältigen/ und wie mancher Stoltzer über die Demüthigen. Ein Exempel dessen gäbe uns der Naseweise und eingebildete Secretarius. (V. 52f.)242

Die Moralisation bezieht sich so nicht mehr auf die Lebenserfahrung des retrospektiven Ich, sondern wird entsubjektiviert, wie ja auch der fingierte Verfasser »Expertus Rupertus Ländler« der Β-Ausgabe 243 noch auf die Funktionstrennung von moralischer Autorität in der Führerfigur und Belehrung in der Erzählerfigur verweist, die im Staats-Mann unnötig geworden ist. Der Erzähler glaubt, bei einem Besuch der Königin in seiner Klause die Machinationen des Secretarius aufdecken zu können, muß aber entdecken, daß er sich und seine Informanten dem als Fürstin verkleideten Machiavellisten verraten hat, worauf der Kanzler, der Arzt und der Poet von der Insel verbannt werden. Der Secretarius hat scheinbar mit der Berufung auf den 242

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Die Beschreibung erweist ihn als machiavellistischen Politicus: »Dann/ ob Er wohl ein hohes Ammt hatte/ so ließ er doch nicht nach auff niedrige Dinge zugedencken/ und ich bin der sichern Meynung/ daß etliche Menschen den grösten Punct der Weißheit darinnen suchen/ wann sie tapffer betrügen können. Vorwahr/ in diesen Stücke hat es dieser Nasenweise Meister allen Welt=Klugen so weit vorgethan/ ja eine durchtriebenere Art er vor allen anderen gehabt in verbottenen Händeln den Meister zuspielen/ und solches war=um soviel desto verdammlicher/ je klüger er sich gedünckte/ wann er es nach seinem Principio nicht allein mit Feinden/ sondern auch mit seinen Freunden übel meinte/ auch nimanden länger mit scheinheiligem guten Willen zugethan verbliebe/ als lang er einzigen Gewinn von denselben zu hoffen hätte« (V: 55f.). Dazu Hardin (1974) 224, (1983a) lOlff.

207 vakanten Posten des Kanzlers den Zenit seiner Macht erreicht, 244 und der Erzähler findet wiederum Gelegenheit zu einer Moralisation: [A]nietzo kam ich erst recht mitten unter die Menschen/ und zwar zu einer rechten Grund=Suppe der bösen und arglistigen Welt/ Ich vermeinte mich abzusondern/ und gesellete mich hinzu/ glaubte zu entfliehen/ [...] damahls finge ich erst an klug zu werden/ und keinen zu lehrnen/ daß/ wer ein wahrer Einsidler sein will/ nicht so wohl die Menschen als ihre Laster fliehen missen. (V:: 68f.)

Diese recht seltene Intrusion des erzählenden Ich wird jedoch sofort durch die betonte Wiedergabe der Reflektionen des erzählten Ich überspielt. 245 Der Erzähler bewegt sich dabei als passiver Beobachter fremder Begebenheiten mehr und mehr außerhalb seines erzähltechnisch gesetzten Beobachtungsrahmens in Richtung auf die auktoriale Erzählposition, 246 wofür er eine Begründung präsentieren muß: Alle diese Dinge/ ob sie mir wohl niemand kund gethan/ ich auch sonsten/ als grosse Heimlichkeiten und Practiquen nicht wissen können/ seind sie doch hernachmahls/ wie der geneigte Leser in Verfolgung dieser Geschichten hören wird/ alle a[n]s offene Tag=Licht kommen. (V: 77)

Im Amt des Kanzlers entwickelt der Secretarius nun einen außerordentlich erfindungsreichen »Geld-Geitz«, dessen Grundregel im Verkauf von Ämtern und Privilegien besteht. 247 Erst als er jedoch versucht, die Königin zu heiraten, schlägt sein Glück um: Die Fürstin, durch zufällig aufgefundene Briefe von seinen Machenschaften und seiner niederen Herkunft unterrichtet, verheiratet ihn an ein »böses Weib«. In der Anfangshandlung wie auch im Kommentarteil wird die misogyne Auffassung der Ehe so deutlich hervorgehoben, daß damit die exemplarische diesseitige Strafe für das Fehlverhalten des Secretarius administriert würde und die erste Handlungssequenz hier schließen könnte, wodurch sich auch ein etwas ausgewogeneres quantitatives Verhältnis zu den folgenden allegorischen Secretarius-Typen ergäbe. Beer führt jedoch die Handlung weiter, ohne daß sich ein neuer Aspekt zeigt: Die folgenden Begebenheiten berichten seine Reise nach Portugal, wo er inko-

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Siehe V: 79. »Aber wer hätte dieses gedencken/ wer hätte solches muthmassen sollen? Und dachte ich/ was ging es dich an/ daß du dich als ein Geistlicher in weltliche Händel mischen/ und die Königin herrschen lehren wilst? Handelte der Secretarius übel/ was geth es dich an? Nicht du/ sondern Er wird es verantworten müssen« (V: 69f.). In der Willenhag-Dilogie fällt der Ich-Erzähler mehrfach in die auktoriale Erzählhaltung, während er hier durch den Gedankenbericht einer dritten Person seine Kompetenzen überschreitet: »Ich habe/ dachte Er bey sich selbst ja an der See Portte meine Getreuen. [...] was hätte ich vorein kräfftiges Mittel zu meiner Vorsorge erdencken können? [...] Solche Wort redete Er in grosser Bestürtzung unter einander« ( V: 98). »Ein so häfftiges Übel ist der Geld=Geitz/ daß er nicht allein das schlimme pflantzet/ sondern das gute ausjettet« (V: 87).

208 gnito248 das bedeutende, auf grotesk-unappetitliche Weise erworbene Vermögen seines verstorbenen Vaters, eines »Schwein-Schneiders«, erben will. Der verkleidete Secretarius wird jedoch von dem Poeten und dem Kanzler erkannt, die ihn mit fingierten Racheplänen ängstigen und durch Betrug um sein Erbe bringen.249 In seiner Verzweiflung versucht er, sich zu erstechen, wird aber von eben dem Arzt gerettet, der ihn vordem auf der Insel kuriert hatte und der seine Rache durch wiederholte Purgationen an dem Patienten nimmt. In dieser Erzählsequenz ist weniger bedeutsam, daß diese anschließende Handlung offenkundig nur dazu dient, die Strafkomponente zu verstärken und im Sinne der Rache auszudifferenzieren, als die Wandlung der Erzählperspektive. Die Begrenzungen des distanzlos erzählenden peripheren IchErzählers lassen die Perspektive der zuletzt berichteten Sequenz nicht zu, denn der Eremit verläßt weder die Insel, noch kann er auf Berichte verweisen, die ihn informiert hätten. Die erzähllogische Wendung zum auktorialen Erzähler zeigt sich überdies in der Beschreibung innerer Zustände dritter Personen, die unbeobachtet sind: Der Zorn und hefftiger Wiederwillen verwirreten diesen Menschen dergestalten/ daß Er fast verzweifflende Worte von sich hören liesse. [...] Zu dem marterten ihn die Gedancken/ mit unbeschreiblicher Hertzens=Qual. (V: 124f.)

Für derartige Aussagen fehlt dem Erzähler jegliche Begründung, und so nimmt er zu einem prononciert modernen Hilfsmittel Zuflucht: der erlebten Rede, die hier in einer frühen Form erscheint. Dann wo solten die entflohenen sich anders/ als eben wiederum nach Sanct Helena begeben haben? Was würde dort sein Weib/ was seine Freunde leiden müssen? (V: 126)

Die stehengebliebene Frageform dokumentiert die Herkunft des Erzählmittels aus dem inneren Monolog und dem Gedankenbericht, während die grammatische Form, vor allem im ersten Satz, auf die erlebte Rede hinweist. Natürlich kann in keiner Weise von einem bewußten Einsatz dieser Erzählform gesprochen werden, doch zeigt sich hier deutlich, wie der Autor bei seinen vielfältigen Versuchen, seine ihm angemessene Erzählhaltung zu fin248

249

Die Erzählkonstruktion und Handlungsmotivierung verrät in dieser Passage gewisse Nachlässigkeiten. Ängstigung als Strafe ist ja bereits aus dem Welt-Kucker bekannt, hier tritt sie in analoger Funktion auf: »Gewiß ist es dieser Fuchs/ so arglistig er sich auch verkrochen und in einen recht unkändlichen Habit versteckt/ dannoch vor Angst hätte zerblatzen mögen. Aber solche Händel lauften insgemein auff solches Final hinaus/ das diese/ welche sich durch Arglistigkeit/ als Nasenweise Politici wollen in die Höhe schwingen/ mit noch einer viel grösseren wieder herunter gestürtzt und auff den Boden nieder geschmissen werden« (V: 119). Deutlich ist hier die Exempelfunktion für das thematische Motto von Steigen und Fallen, wie es am Anfang expliziert wird.

209 den, in bislang unbekannte Bereiche vorstößt. Die erlebte Rede ermöglicht ja dem zumeist personalen Erzähler, sich fast gänzlich zurückzuziehen und die Perspektive der Erzählhaltung auf einen oder mehrere Protagonisten zu transferieren, ohne den auktorialen Gedankenbericht zu nutzen. Dieser point of view ähnelt Beers Erzählideal zumindest in einer Beziehung: Er sucht nach einer weitgehend distanzlosen, in das Geschehen eingebetteten Perspektive, die den Erzähler nicht impliziert. Da die personale Erzählsituation einen weit über das 17. Jahrhundert hinausgehenden Bewußtseinsstand voraussetzt, bleibt für Beer zunächst nur die Entdeckung der auktorialen Erzählform, die in seinen Texten immer wieder durchbricht. So auch in direktem Anschluß an die berichtete Passage: Wir wollen aber die drey Abschiffenden auff denen Meeres=wellen herum irren/ und diesen Naseweisen Patienten unter der Cur des aus der Insel verjagten Barbiers zu Lissabonna ächtzen und schwitzen lassen/ und vermelden/ was vor ein wunderliches Staats=Wesen sich nach ihrer Hinfarth gen Portugall in der Insul erhoben. (V: 127)

Das ist die klassische, wenngleich auch ungelenke Form des disponierenden auktorialen Erzählers, dessen »Wir« der Ausdruck der Erzählgemeinschaft mit dem Leser ist. In direktem Anschluß daran wird die Perspektive mit brachialer Unvermitteltheit wieder auf die Ausgangsposition umgestellt: »Dann als ich [...] hin und wieder spatziren ginge [...]« (V: 127). Damit wird aber auch erzähltheoretisch deutlich, daß die Handlungssequenz in Portugal kategorial anders strukturiert ist, womit wir an unsere Ausgangsthese anknüpfen, daß die Verringerung der Distanz durch die Rücknahme des retrospektiven erzählenden Ich in die Nähe der auktorialen epischen Fiktion gerät und den Rahmen des satirischen Romans sprengt. Der quasi-auktoriale Erzähler ist ja noch weitgehend durch die Limitationen der Ich-Erzählsituation dominiert, die er durch Mittel der personalen Erzählform zu neutralisieren sucht, wobei die Perspektive des negativ gewerteten Protagonisten in den Vordergrund tritt: Die Handlung bewegt sich von der traditionellen politischen Exempelgeschichte fort und verselbständigt sich, worauf auch das schnellere Erzähltempo und die häufigen zeitraffenden Mittel hinweisen. Beer bricht daher diese Sequenz abrupt ab, sobald er seinen Zweck der ausdifferenzierten Strafhandlung erreicht hat, und wendet sich in völlig übergangsloser Form zu dem Ich-Erzähler zurück, womit ja auch ein Ortswechsel verbunden ist, der die Ich-Perspektive in ihre alten Rechte einsetzt. Es scheint, als ob an dieser Stelle auch eine grundsätzliche Rückbesinnung auf das Thema und die Grundhaltung des »politischen« Romans einsetzt, denn die folgende Allegorie des Secretarais250 läßt sich in keiner Weise mit der vorausgehenden Handlung verbinden und steht als völlig heterogenes Partikel disparat zwischen Narratio und Moralisatio, deren Inhalte nur 250 y. 127-164.

210 noch Ausdruck eines grotesken Umkehrprinzips sind: »Summa/ man schlüge solche wunderliche Grund=Gesätze an/ die mehr zubelachen/ als zu mercken waren« (V: 143).251 Allerdings findet sich auch begründete Kritik an den Hofpraktiken, etwa in der Satirisierung der Doppelbestallung von Musikern, 252 die auch an anderen Orten angeführt wird. Wenn bei Beer zur Kostenersparnis Kapuziner-Mönche als Hofdiener und Handwerker als Minister eingeführt werden, ist der Rahmen des satirischen Romans überschritten, denn hier sucht sich seine groteske Phantasie nur ein »politisches« Spielfeld ihrer Inventionen wie schon im Pokazi, an den diese Stellen auch am ehesten erinnern. 253 Die Figur eines neuen Secretarius, der sich als »Hofmann nach allen denen Regeln« (V:: 164f.) und als reiner Verschwender entpuppt, bleibt marginal: Die Gestalt wird auf nur zwei Seiten entwickelt, und ihre Verschwendung trägt neben zeitgeschichtlich adäquaten auch deutlich groteske Züge. 254 Wenn Beer hier wiederum abbricht und das letzte Drittel des Textes dem Kommentar widmet, ist das Ausdruck der fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten des Romans, der nach der abgeschlossenen Haupthandlung nur noch die Möglichkeit einer satirischen Revue offen läßt. Auch hier findet sich aber das schon mehrfach beobachtete Nebeneinander einleuchtender rhetorischer Funktionalisierung und erzähltheoretisch umgreifender Strategie; die Trennung von Handlungs- und Moralisationsebene wird als Verhältnis von prodesse und delectare aufgefaßt, wobei die Erzählpartikel im Umfeld der monologischen Belehrungssequenzen der Auflockerung dienen. Es zeigt sich aber schon im Staats-Mann, daß Beer bemüht ist, zu einer auch handlungsadäquaten Integration zu gelangen, die sich hier, wie auch im Blaumantel, am Beispiel Grimmelshausens orientiert. Die Moralisatio in Form eines »Gesprächs« zwischen einem auf der Insel angelandeten »Staats=Mann« und dem Eremiten profiliert schließlich das Miteinander von politischer und religiöser Wertung, wobei der Holländer zunächst die Themafrage beantwortet, »woher doch so viel Naseweise Kerl auff die Höfe kämen/ die stracks Secretarli seyn und heissen wolten« (V: 268). In dieser Problemstellung wird allerdings das vorrangige Thema der machiavellistischen Machttechnik marginalisiert und der »Hochmuth« und die »Hoffart« als Zentralsünde und Grundübel eingesetzt:

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»Die Diebe solle man nicht hängen/ sondern mit Gänse=Flügeln zu tode schmeissen. Die Paßquillanten mit Current=Federn etlich hundert mahl in die Seite stossen. [...] So wolte der neue Secretarius auch durchaus den Hof=Staat also eingrichtet wissen/ damit ein jeder Amts=Bedienter vor eben das angesehen wurde/ was er bediente« (V: 141,143). V: 148f. In der Mauerepisode V: 156-159, die übrigens auch Beers latenten Antisemitismus belegt. V: 165f.

211 Aus diesem sehet ihr/ ihr geliebter Einsidler/ das die Ursach/ vieler verkehrten Köpffe sey/ der Hochmuth. [...] Dann was bringt dermahlen so viel Höfe in Unordnung/ als der Ehr= und Geld=Geitz. (V: 171f.)

Der »Geld=Geitz« des Fürsten führt zu dem Übel des Ämterkaufes, wodurch reiche, aber unfähige »BürgersSöhnlein« Hofchargen erhalten und ihre Titelsucht, Mode-Torheiten und Hoffart zum Maßstab des höfischen Lebens machen. In ihren Lastern werden sie von ihren Ehefrauen bekräftigt, was Beer zum Anlaß für eine ausführliche misogyne Passage 255 nimmt, die er mit dem Eremitenideal 256 kontrastiert. Die unfähigen Secretarli können ihre Unfähigkeit nicht selbst erkennen, und es ist die Schuld der »Grossen«, daß sie überhaupt ein Amt erhalten haben; gute Sekretäre sind selten, weil oft Doppelbestallungen verlangt werden oder aus Gründen der Konkurrenz gezielt unterdurchschnittliches Personal eingestellt wird. Hier, wie auch in der zu schnellen oder zu langsamen Beförderung, benennt Beer zweifellos zeitgeschichtlich relevante Phänomene, ohne sie jedoch mit der Romanhandlung zu verbinden; es geht dem Autor offenkundig zunächst um die wiederholte Behauptung des »Hochmuths« als Grundübel: Ich habe zwar viel Laster straffen gehört/ aber keines seltener als die Hochmuth/ welche doch so gemein ist/ daß selten ein Hoff=Mann ohne derselben auffsteht noch schlaffen geht. (V: 192f.)

Während so der Eremit mit Nachdruck den religiösen Bezugspunkt etabliert, bezieht sich der »Staats=Mann« auf die tatsächlichen Unsitten der Hofpolitik in seiner Traumauslegung, 257 die von einer interessanten Definition der Aufgaben von Schreiber und Sekretär eingeleitet wird. Der Schreiber oder Secretarius solle bey seiner Feder bleiben und den Pinsel fahren lassen/ was ihn der Handel mit denen Schildereyen anginge: Ein anders ist schreiben/ ein anders mahlen/ ein anders die Feder/ ein anders das Leder/ [...] ein anders abcopirn, ein anders Concipirn, [...] ein anders wie man das Bild vertieff/ ein anders wie man schreibe den Lehr=Brieff/ ein anders die Politie/ ein anders Politisch. (V: 198f.)

Nur an dieser Stelle wird deutlich, warum die Moralisatio so hartnäckig auf die Titelsucht der Sekretäre zurückgeht und deren Anmaßung kritisiert: Beer definiert die Sekretäre als unschöpferische Schreiber und Kopisten, die sich die Position eines wahrhaftigen »Secretarius«, dessen Amt einen der künstlerischen Begabung und Ausbildung adäquaten akademischen Abschluß voraussetzt, erschwindeln. Es kann mit guten Gründen vermutet werden, daß Beer aus der Erfahrung der Zurücksetzung durch anmaßende Sekretäre schreibt - um so ärgerlicher für den Autor, weil er sich in doppelter Hinsicht den »Kopisten« überlegen fühlen kann: als mehrfach begabter und erfolgrei-

255

V: 177-184. V: 177f. 257 y. 199-244. 256

212 cher Künstler und als Rhetoriker, der zumindest sein Latein kennt. Sein Zorn richtet sich so auf die »verlaufenen Lateinschüler«, die ihn mit ihrer Titelsucht und Ehrbegierde in den alltäglichen Verhandlungen am Hofe plagen, obgleich sie ihm intellektuell weit unterlegen sind, wie auch auf die unfähigen Hofchargen, die durch ihre eigennützigen Manipulationen den Hof - und damit auch Beer direkt - in finanzielle Schwierigkeiten bringen können. 258 Seine Verachtung trifft aber zwei ungleiche Gruppen, die vom Autor mechanisch unter dem Diktat seines persönlichen satirischen Interesses zusammengebracht werden, weil sie weder künstlerisch begabt noch wissenschaftlich ausgebildet sind, kurz: weil sie unschöpferisch sind. So verwundert es nicht, daß die Explikation der »Traumvision« mit der Narratio kaum etwas zu tun hat. Die Haupthandlung um den ersten, machiavellistischen Sekretär bezieht sich daher auf das Sein/Schein-Motiv, das prominent mit der Frage der wirklichen Fähigkeiten verknüpft wird: Wer groß seyn will/ der muß auch grosse Sachen thun/ wo nicht/ so verursacht Er durch seinen Willen/ daß man ihn vor etwas halte/ was Er nicht will. Dann ein hochmütiger Mensch handelt wider alle Wiirckung der Natur. Weil er nicht ist/ was er ist/ und doch ist was er nicht ist/ was ist er dann? (V: 201)

Beer wendet das Sein/Schein-Motiv im Anschluß in aller Deutlichkeit auf das Gebiet der künstlerischen Fähigkeiten an und etabliert damit die Analogie von schöpferischem Künstler und verantwortlichem Politicus: [W]ir wollen alle vor gute Poeten gehalten werden/ warum strecken wir unsere Köpfte nicht daran/ solche zu seyn. Man wird antworten: Ich habe die Gaben nicht. Je nun/ so laß das Verse schreiben unterwegen/ erkenne deine Ohnmacht/ gehe in dich selbsten/ und borge keine frembde Federn/ sonst verlierest du deinen guten aestim/ und wilst dich durch ein frembdes Ingenium groß machen/ welches du doch geringer schätzest/ als dich selbsten. (V: 203) 259

Die Diskrepanz von Amt und Befähigung, von Sein und Schein, äußert sich aber nicht nur in der anmaßenden Titel- und Ehrsucht, sondern auch in der Suche nach Macht. »Wollen Herren heissen/ und seyn kaum würdige Knechte/ wollen klug seyn1 und seyn Narren« (V: 210). In diesem Zusammenhang wird nun auch die zunächst unverbunden erscheinende frauenfeindliche Attitüde verständlich, denn Beer reproduziert hier seine bekannte Kontamination von poetischer Freiheit und versklavender Macht der (weiblichen) Leidenschaften260 als widernatürliche Anmaßung der Entscheidungsgewalt durch die Frau: 258 259

260

Zur sozialen Situation Beers am Hofe siehe Jacobsen (1991). Das Argument könnte auf eine gemeinsame Quelle bei dem Jesuiten Drexel zurückgehen; dazu WK: 63. In diesem Sinne siehe auch folgende Stelle: »In diesse Classe gehören auch diejenigen Poeten/ welche sich auff ihre Hochzeiten unter frembden Nahmen fein selbsten Ehren Carmina schreiben/ und sich darinnen heraus streichen« (V: 209). v

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1 7 9

213 Mit solchem Übel behafften sich auch viel Weiber [...]/ welche nicht allein bey Lebes Zeiten ihrer Männer alles wissen/ richten und schlichten wollen/ sondern auch nach dem Todt derselben sich fast gelüsten lassen/ Hosen anzuziehen/ nach Hof zugehen/ und dem König Rathschläge zuertheilen. [...] Und weilen Aula generis Foeminini ist/ bilden sich solche Weiber ein/ es müsse sich der Hof von ihnen regieren lassen/ oder wäre auffs wenigste schuldig/ ihre Rathschläge anzunehmen. (V: 210f.) D i e Anmaßung des unschöpferischen und ungebildeten Secretarius erweist sich somit als Analogie zur freiheitsberaubenden Aspiration der Macht durch die leidenschaftsverfallene Frau, die für Beer das natürliche Ziel des erneuerten Vorwurfs der Hoffart ist, den er mit der fast beiläufigen Definition des Politicus verbindet: Dann die Hoffarth ist vorwahr das aller verdamlichste Laster unter der Sonnen/ weil sich alle Laster viel ehr erkennen und bereuen lassen/ als dieses. [...] Das geringste und wenigste von sich halten ist soviel als die grosseste Ding gethan haben. (V:: 220, 222)261 D i e Eigenschaften des Politicus sind so unscharf und allein negativ bestimmt, 2 6 2 weil der Autor sich für anderes interessiert, wie die monoton wiederholte Kritik der Titelsucht 2 6 3 andeutet. D i e Explikation des dritten Sekretärs ist dagegen von überzeugender Geradlinigkeit: A l s Obersatz fungiert die These von der Verschwendung als dem extremen Gegensatz des Geizes, 2 6 4 deren Gründe in der notwendig stattfindenden Übervorteilung der Reichen und in deren unnötigem Luxus gesehen werden. In seiner Antwort auf die langen Ausführungen des holländischen »Staats=Manns« greift der Erzähler die Verschwendung auf und wendet wie schon früher seine Kritik ins Religiöse, das sich damit als finaler Bezugspunkt der ganzen Moralisatio erweist: Diese Verschwendung könte noch paßiren/ wann nur die edle Zeit dadurch nicht verschwendet würde/ GOtt zu dienen. [...] Und wo bleibt die Verantwortung/ die wir dermaleins davor geben müssen? [...] Was will man nun antworten/ wann man 261

262

263 264

So schon früher: »GOtt widerstehet den Hoffärtigen/ aber dem Demütigen gibt er seine Gnade« (V: 175); und als Schlußbemerkung: »Endlich wird die Demuth mit unverwelcklichen Lorber=Reisern gekrönet/ die Hochmuth aber mit Zahn=knirschender Ungeduld von allen denen zu Boden getreten/ welche sich die Ttogend zum wahren Ziehl ihrer Glückseligkeit dienen lassen« (V: 258). So ist auch Hardins These zurückzuweisen: »The primary aim of the work was didactic; one was to learn how proper government should not be carried on; the tiny colony and its bureaucracy is a political microcosm« (Hardin [1974] 223). Auch der Versuch, den Secretarius als »irrepressible half-comic character« aufzuwerten, muß mit Skepsis betrachtet werden: »Although he is portrayed as a scoundrel, there is no denying that his cunning and verbal adroitness links him with such memorable figures as der faule Lorenz« (Hardin [1974] 223f.). Beer charakterisiert den Secretarius vollends negativ, und seine schablonenhafte Typisierung verbietet es geradezu, ihn mit einer so schillernden Figur wie Lorentz zu vergleichen. Allein im Moralisatio-Teil V: 203-210, 215 und 222-228. V: 228.

214 nicht allein seinen Nähesten damit nicht geholffen/ sondern ihn durch unnöthige Verschwendung noch darzu verderbet und arm gemachet hat? (V: 245f.)

Der Bratenwender präsentiert ausschließlich Beispiele negativer Satire, denen der Protagonist und seine Begleiter keine positiven Lebensregeln abgewinnen können, weil ihre Charakteristik und erzähltheoretische Perspektivierung keine organisierte Belehrung zulassen. Die in den politischen Roman eingelassene pikarische Weltsicht erweist dabei immer aufs Neue die Verwerflichkeit und Miserabilität der Welt, in der man sich zu arrangieren hat. Auch der Staats-Mann hat, bei ganz anderen Ausgangsbedingungen, nichts anderes vorzubringen, wie die abschließenden Betrachtungen des Holländers zeigen: Indessen halte ich des Einsiedlers Meinung [...] allezeit vor gründlich/ allezeit vor ewiglich/ und allezeit vor Christlich/ daß in dieser Jammervollen Welt alles voller Betrug und Eitelkeit/ Narr= und Thorheit stecke/ auch niemand sich aus diesem gefährlichen Zwirn entwickeln kan/ es sey dann/ daß er die Gesellschafft der Welt= Kinder fliehe/ sich mit allem Ernst der Eitelkeiten entschlage/ außer GOtt nichts in sein Hertz fasse/ dem Hochmuth zeitlicher Ehre und Respect von Hertzen absage/ sich selbsten verleugne [...]. Dann wie könten wir einen köstlicheren Schatz aus der Welt tragen/ als ein gutes Gewissen/ welches durch ernstliche Busse gereiniget/ uns vor dem Tod nicht erschrecken läst. (V: 254f.)

Doch wie ist bei grundsätzlicher Übereinstimmung der inhaltlichen Ergebnisse die Gegensätzlichkeit der Konsequenzen zu erklären, wie passen desillusionierte Affirmation, satirische Kritik und weltentrückte Einsiedelei zusammen? Die Antwort darauf kann nicht im Bereich der Satire selbst liegen, denn, das hat spätestens die Analyse des Staats-Mannes ergeben, Beers Kritik bleibt sich im wesentlichen in allen Gattungsvarianten, die er entwickelt, inhaltlich gleich; ob es sich um die verderbenbringenden (weiblichen) Leidenschaften, Modetorheiten, Titel- und Ehrsucht, Geiz und Verschwendung, skrupellosen Machiavellismus, Streitsucht, Indolenz oder Maßlosigkeit handelt, ihre Bewertung schwankt nicht und bleibt - mit markanten Ausnahmen - im Rahmen zeitgenössischer Moralvorstellungen. Was Beer jedoch von seinen Zeitgenossen unterscheidet, ist die zum Teil wütende Attacke bei fehlender Belehrung. An diesem Punkt aber setzt die gewandelte Bedeutung der Eremitage ein, die als völlige Absonderung von der Welt immer das doppelte Motiv der Flucht vor den Lastern und unvermeidlichen Sünden wie auch der Strafe für begangene Sünden inkorporiert. Die Motivkonstellation von Flucht und Buße relativiert jedoch die Einsiedelei in einem entscheidenden Sinne: Kann der Rückzug von der Welt als Sühne für begangene Sünden und kathartische Reinigung aufgefaßt werden, dann ist die beständige Weltentsagung zwar das Ideal, aber durchaus nicht notwendig für das Seelenheil. 265 Die finale Erkenntnis des Autors, daß das Leben in der Welt immer 265

Obgleich Beers Verhältnis zum Katholizismus eine nähere Untersuchung wert ist, deren Ergebnissen hier nicht vorgegriffen werden soll, kann als gesichert gelten, daß der Autor die einsiedlerische Weltflucht nicht im Sinne einer wie auch immer

215 auch Leben in der Sünde bedeutet, schließt das Weisesche Bildungsideal des Politicus Christianus zwar nicht gänzlich aus, hält es aber für unwahrscheinlich. Zumindest diejenigen Helden Beers, die mit dem Bewußtsein ihrer eigenen Sündenverfallenheit ausgestattet sind, wenden sich vorübergehend zur Flucht aus der Welt. Im Staats-Mann fungiert die Einsiedelei zwar noch als rein topisches Element einer erzähltheoretischen Perspektivierung, aber in der Überformung der satirisch-negativen Kritik der politischen Welt durch das religiöse Konzept der Weltentsagung wird der Blick auf ein größeres Motiv gelenkt, das das gleichzeitige Erzählwerk dominiert: die Idylle materiell gesicherten Landlebens als Figuration und Komplement der Eremitenexistenz. Im Staats-Mann ist die Weltentsagung nicht der Fluchtraum des Erzählers, sondern die Voraussetzung des wertenden Erzählens; sie erweist sich aber dennoch als ultima ratio des gepeinigten Sündenbewußtseins und als zusammenfassende Erkenntnis des Romans: Was hilfft es aber den Menschen/ wann er die gantze Welt gewönne/ gleichwohl aber Schaden leidet an seiner Seele. [...] Entweder es muß hie gestritten/ oder dort der Sieg verlohren seyn. [...] Was haben/ saget mir die drey Secretarii von ihren Finessen/ Inventionen und Staats=Anordnungen. [...] was ist ihr zeitlicher/ was ist ihr ewiger Lohn? (V: 248f.)

Die religiöse Zerknirschung angesichts der unausweichlichen Sündenverfallenheit der Welt ist pikarisches Erbgut, wie im Bratenwender deutlich wird, und gleichzeitig die Grunderkenntnis der Erzähler Beers. Aus der pikarischen Welt betrügerischer Dis/simulation und ihrer satirischen Kritik, die sich oftmals miteinander verbinden, kann es dann nur noch die Flucht geben, die in der einsiedlerischen Weltentsagung - wenn auch nur vorübergehend für die begangenen Sünden Buße tut und in der Landlebenidylle der Dilogie den komplementären Fluchtraum aus der Welt in der Welt entwirft. Beide Bereiche sind miteinander verbunden und aufeinander bezogen, wie die Konstruktion des Staats-Mannes zeigt.

3.4.3. Der Verliebte Europäer

(1682)

Während Bratenwender und Staats-Mann zumindest thematisch ihre Nähe zum »politischen« Roman erweisen, ist die Gattungszuweisung des Verliebten Europäers266 schwierig und nicht eindeutig zu lösen. Der Roman nennt sich

266

gearteten monastischen Asketik versteht. Er ist protestantischer Exilant und bewahrt sich - schon aus lebenspraktischen Gründen - sein orthodoxes Luthertum. [Johann Beer] Der verliebte Europeer, oder Warhafftige Liebes=Roman/ In welchen Alexandri Liegesgeschichte/ und tapfere Helden=Thaten/ womit er nicht alleine sich bey den Frauenzimmer beliebt gemacht/ sondern auch in Besichtigung unterschiedliche Königreiche in Europa/ dero vornehmsten Staats=Maximen angemercket/ begriffen/Allem Curiosen Frauenzimmer/ und klugen Hoff=Leuten zu sonderbaren Nutz [...] Gotha 1682c. Der Text wird in dieser Ausgabe mit der Sigle E zitiert. Eine Diskussion der zwei Drucke des Romans findet sich in der bislang einzigen Arbeit

216 im Untertitel einen »wahrhafftigen Liebes=Roman« und läßt sowohl »Helden-Thaten« als auch »Staats=Maximen« erwarten, wobei das »curiose Frauenzimmer« wie auch »kluge Hoff=Leuthe« als Adressaten genannt werden. Das Titelkupfer zeigt eine halb entblößte, bittende oder betende Männergestalt, die mit einer Kette gefesselt ist, die von einer weiblichen, allegorischen Amor-Figur auf einem Thron gehalten wird. Der kniende Mann trägt als Subscriptio »Vinctus vinco«,267 während von links ein Ritter mit gezogenem Schwert die zu Hilfe eilende Fortuna verkörpert. Die eindeutige Motivik des Kupfers und das Pseudonym »Amandus de Amanto« deuten so schon auf einen traditionellen Liebesroman hin. Doch bereits die »Zuschrifft An das Hochlöbliche Europaeische und absonderlich weltberühmte Leipziger Frauenzimmer« (E: fol. A 2r) macht deutlich, daß es sich bestenfalls um einen galanten und nicht etwa einen höfischen Roman handelt. Der Verfasser berichtet von einem Besuch der Michaelis-Messe in Leipzig und dem Eindruck, den das »Hochtugend-Edle Frauenzimmer in Leipzig« auf ihn gemacht habe, so daß er ihm den Roman »dediciren« wolle.268 Die »Zuschrifft« erweist sich damit als Eloge auf die Leipzigerinnen: In Summa/ Ihre Schönheit mentirei in Wahrheit nicht allein von ihres gleichen geliebet/ sondern auch von hohen Standes=Personen verlanget zu werden/ indem in denen allervollkommensten Leibern die alleredelsten Seelen wohnen. Denn die Schönheit consideriret mit nichten den Stand/ weil selbige mehrentheils der Zweck zu lieben/ und die Tilgenden der Geburt bey weiten vorzuziehen. (E: fol. A 3rf.)

Beer kombiniert hier zwei durchaus gegenläufige Motivkonstellationen, die einerseits die Tugenden durch adlige Geburt zugunsten einer egalitären Meritokratie ablehnen und andererseits die Standeserhöhung als begehrenswert erscheinen lassen. Die äußerliche Schönheit achtet keine Standesgrenzen, und weil die Liebe sich auf die Schönheit richtet, ist das »Leipziger Frauenzimmer« wert, von adligen Personen geliebt zu werden. Liegt in der Proposition der standesübergreifenden meritorischen Egalität ein Gedanke, der typisch für Beer ist, der sich als Musiker und Autor den meisten Mitgliedern der adligen Hierarchie an Fähigkeiten überlegen weiß, so ist dessen Anwendung auf die weibliche Schönheit ironisch.269 Der Autor will den Frauen kein gleichberechtigtes Verhältnis zum Mann zugestehen, und sein Hinweis auf die körperlichen, auf das Erotische zielenden Vorzüge als Mittel zum sozialen Aufstieg ist hier von doppeldeutiger Ironie. Gerade die »Ehr-Sucht« und die Begierde nach Standeserhöhung sind die klassischen Ziele von Beers

267

268 269

zum Verliebten Europäer bei Manfred Kremer: »Nicht allein von denen LiebesGeschichten ...« Anmerkungen zu Johann Beers Der verliebte Europaeer. In: Daphnis 13 (1984), S. 409-443. »Vinctus« muß hier in der Doppelbedeutung von »gefangen« und »bezaubert« gelesen werden. Alle diese Elemente sind natürlich völlig unhöfisch. Auch der Pokazi beginnt mit einer konvolut-paradoxen Diskussion von adliger Herkunft und bürgerlichen Qualitäten, die im Pokazi-Kapitel analysiert wird.

217 Satire, und deren Kombination mit den Reizen weiblicher Körperlichkeit muß seinen Zorn um so mehr reizen. In der »Zuschrifft« entwirft Beer daher ein komplexes System von Doppeldeutigkeiten, die sowohl als Ergebenheitsadresse an die Leipzigerinnen wie auch als Kritik an deren Anmaßungen gelesen werden können. Die kostbaren Trinck=Geschirr machen mit nichten den Wein/ so darinne enthalten/ kostbar/ sondern die Güte desselben kan auch in dem geringsten Geschirre gespüret werden. Also auch/ wann eine Person gleich viel Ahnen und wenig lügenden zehlen kan/ wird selbige von einem rechtschaffenen Liebhaber nicht so geliebet/ als die Jenige/ welche den Mangel hohen Standes mit guten Qvalitäten ersetzet. (.E: fol. A 3 v f.)

Die Widersprüchlichkeit des Vergleichs enthüllt dessen verborgene Intention, denn die Schönheit des Körpers ist das klassische Analogon der äußeren Zier des »Trinck=Geschirrs«, und wenn die adlige Geburt als etwas Äußeres aufgefaßt wird, müssen die »guten Qvalitäten«, die den fehlenden Adel ersetzen sollen, notgedrungen innerliche sein. Die Beteuerung, daß »in denen allervollkommensten Leibern [der Leipzigerinnen] die alleredelsten Seelen wohnen« und daß der »hohe Verstand« dieser »Engelischen Menschen« weltbekannt, von »hohen Häuptern« gerühmt und durch viele Schriften gefeiert sei, ist nichts anderes als topische Hyperbolik. Dies wird auch an den gewählten Beispielen für ihre hohen Qualitäten deutlich, die sich auf »ihre liebliche Ausrede« des Sächsischen beziehen und die Notwendigkeit der galanten Konversation mit den Leipzigerinnen behaupten, weil keiner selbige [seil. »Ausrede« oder »unsere teutsche Muttersprache«] recht begreiffen kan/ wofern ihm nicht das Glück günstig/ zum öfftern mit ihnen zu conversiren/ worinnen sie denn sonderlich von Liebes=Sachen zu discuriren so exerciret/ daß sie auch denen geübtesten Liebhabern subtile Fragen vorlegen können. (E: fol. A 4V)

In der Tat wird die galante Konversation im Roman durchgängig eine große Rolle spielen, und auch in der »Zuschrifft« geht der Autor darauf genauer ein: Und zwar ist ihre Conversation mit einer sonderbaren galanden Freundligkeit vermenget/ welche/ so wohl die Jenigen/ so die Bürdte des Ehstandes noch nicht gefühlet/ als auch die/ welche vor die eingezogene Jungferschafft die [t]reue Dienstbarkeit erwehlet/ über alle massen recommandiret. (E: fol. A 4 v f.)

Wie der Roman im folgenden zeigen wird, ist jedoch nichts anderes gemeint als die unverdeckten und schamlosen Liebeserklärungen reicher Bürgerstöchter, die den adligen Helden mit ihren offenherzigen Offerten aus durchsichtigen Motiven verfolgen. Im »Anhang« geht der Autor darauf in apologetischer Weise ein: Und absonderlich hoffet der Autor/ es werde dem sämtlichen Europäischen und insonderheit Hoch=Tugend=Edlen=Frauenzitnmer in Leipzig/ nicht etwa mißfallen/ daß selbiger in seinem Roman zu unterschiedenen malen Lasterhaffte Weibes=Per-

218 sonen aufgefiihret/ weil er solches mit Fleiß gethan/ in dem die Laster/ wenn sie denen Tugenden entgegen gesetzet werden/ diese einen desto grössern Schein von sich geben. (E: fol. Q 6vf.)270 D a s auffällig oft unterstrichene Lob der Leipzigerinnen enthüllt sich so als verdeckte Kritik an deren sozialen Aspirationen, die sie mit unmoralischen Mitteln umzusetzen versuchen; die Parallele zwischen ihnen und den Französinnen ergibt sich im folgenden schon aus der gleichartigen Funktion als Konversationspartnerinnen: Mit Frauenzimmer gieng er gerne umb/ als bey welchen man/ zumahl in Franckreich/ die Sprache gar wohl begreiffen kan/ doch nahm er sich gar sehr in acht/ wohl wissend/ daß das Frauenzimmer an manchen Orte denen Syrenen gleich/ welche mit ihrer durchdringenden Stimme/ denen Schiff=Leuten/ wofern sie sich nicht geschwind aus dem Staube machen/ einen Sturm über den Hals bringen. Ihre Augen/ meynete er/ wären zum öfftern Basilisken=Augen/ welche mit einem eintzigen Blicke die Hertzen der Mannes=Personen vergifften/ und zu unziemlicher Liebe leiden könten. (E: fol. Q 9rf.) D i e »Zuschrifft« erweist so im Vergleich mit dem »Anhang« ihre doppelte Funktionalisierung als A p o l o g i e gegenüber den Leserinnen, die Beer in den misogynen Traktaten bereits ausgiebig attackiert hatte, und gleichzeitig als verdeckt angelegte Verspottung der Leipzigerinnen. D i e apologetische Intention erweist sich in seinem Hinweis auf die Gründe der verschleierten Verfasserschaft und die Fruchtlosigkeit der Suche nach dem wahren Autor: Was den Autorem/ so dieses Buch ordentlich verfasset/ anlanget/ hat derselbe Bedencken getragen/ seinen Nahmen darunter zu setzen/ weil ihm wol wissend/ wie zum öfftern das beste/ und welches mit grösten Fleiß gemachet/ verachtet wird. (E: fol. A 6V)271

270 271

Daneben auch E: fol. Q Ti. Der Ausgekehrte Politische Feuer=Mäuer Kehrer ist das greifbarste Beispiel einer solchen Kritik; dazu Hardin (1981) und Tatlock (1985a). Mit der Verheimlichung des Verfassernamens sucht er sich zu schützen: »Im übrigen wolle sich der geneigte Leser nicht etwa bemühen den Autorem dieses Werckes auszuforschen/ indem es sch[w]erlich wird können effectuiret werden/ berichte aber doch hiermit/ daß der Autor sich vor weniger Zeit incognito in Leipzig auffgehalten/ und nur neulich sich an einen solchen abgelegenen Ort begeben/ von welchem man auch mit der geschwindesten Post kaum in 8. Tagen Briefe erhalten kan.« (E: fol. Q 9vf.) Die öffentliche Kritik an dem Roman sucht er geradezu durch Erpressung abzuschrekken: »Sölten sich überdieß Leute finden/ welche es vor eine grosse Kunst halten/ anderer Leute Bücher absqve judicio zu tadeln/ so ist er willens nach Art des Anno 1680. in Druck heraus gegebenen überaus Curiosen und lustigen Büchleins der Politische Maulaffe genannt/ den albern Maulaffen zu verfertigen/ und darinne solche unverständige Tadler oben an zu setzen/ damit die gantze Welt sehen möge/ daß es viel leichter sey/ ein Buch zu tadeln/ als zu machen/ wiewol ich nicht hoffen will/ daß ein Verständiger von diesem Roman übel judiciren werde/ es sey denn ein solcher unter denen jenigen/ deren Laster in diesem Wercke zwar nur itzo mit Wasser=Farben abgemahlet/ und wegen herannahender Messe nicht alle haben können berühret werden/ doch ins künfftige/ im andern Theile dieses Tractats/ durch beständige Oehl=Farben deutlicher an Tag kommen möchten/ damit deren

219 Hatte Beer mit seinen misogynen, wenngleich von ihm »gut« gemeinten Angriffen die Kritik seiner Leserinnen herausgefordert, so versucht er dieses Mal, seine Kritik anders und besser zu verpacken, obwohl auch im Verliebten Europäer der Ansatz einer Privatinvektive erkennbar wird, worauf er selbst mehrfach hinweist: Hiermit versichere sich das sämtliche Europäische/ und absonderlich Hochtugend= Edle Frauenzimmer in Leipzig/ daß gleich wie Alexander eine Person/ welche annoch am leben/ aber umb gewisser Ursachen willen billich verschwiegen wird/ also ist keine Historie allhier gedacht worden/ welche sich nicht so wol in als auserhalb Teutschland zugetragen/ aber doch mit veränderten Umbständen erzehlet werden. [...] und diesen kurtz abgefasseten/ aber doch/ was den Innhalt anlanget/ mehrentheils warhafften Liebes=Roman/ geneigt auff und anzunehmen. (E: fol. A 5vf., A 8V)

So ergibt ein erster Überblick über die rezeptionssteuernden Hinweise, die der Text selbst liefert, ein kompliziertes Bild: Der Roman wird als Liebesgeschichte ausgegeben, die dem Ruhm der Leipzigerinnen gewidmet ist, während der verdeckte Hintergrund eine ironische Satire der unmoralischen und geltungssüchtigen Sächsinnen indiziert, die zudem nicht frei von persönlicher Ranküne zu sein scheint. 272 Darauf scheint auch eine weitere, wichtige Reflexion in der »Zuschrifft« hinzudeuten: Uber diß hätte auch der Autor diesem Wercke gar leicht einen andern Titel geben/ und nach dem heutigen Politischen Stylo Curiae, den Politischen Liebhaber nennen können/ aber er hat hierinnen gantz andere Principia. (E: fol. A 6 v f.)

Dies kann doch nicht bedeuten, wie die Sekundärliteratur annimmt, daß der Text ein politischer Roman ist, sondern das Gegenteil: Beer könnte ihn, unberechtigterweise wie die meisten Autoren, mit einem »politischen« Titel schmücken - aber er zielt in seinem Roman auf etwas anderes. 273 Der verliebte Europäer nimmt das Thema der misogynen Satiren wieder auf, ohne die dort ad nauseam behandelte »Hurerei« zum zentralen und statischen Bezugspunkt zu machen; statt dessen versucht der Autor, durch die Dedikation und die Eloge der Leipzigerinnen sein weibliches Publikum für sich zu gewinnen und die dann doch folgende satirische Kritik als funktionalen Hintergrund ihrer damit kontrastierenden Tugenden zu verklären. Zu diesem Zweck entwirft er am Beginn des Romans ein Identifikationsmuster in Form einer stereotypen Liebeshandlung, das im zweiten und dritten Teil zielgerichtet zerstört wird: Die anfängliche Rezeptionshaltung resultiert in der ausweglosen Lage der notwendigen Selbstkritik am Ende des Textes. Beer intendiert

272

273

Gedächtniß bey der Nach=Welt weder durch Regen noch ander stürmisch Wetter einigen Schaden leide« (E: fol. Q 10vf.). Dies mögen Erinnerungen an die Einsamkeit des Leipziger Studiums sein oder während der Reise nach Dresden im September 1681, die auch über Leipzig führte. Seine Ankündigung, einen Traktat, »die Politische Wünschelruthe genannt«, zu publizieren, falls »seine Arbeit aestimiret würde« (E: fol. Α Τ), kann daher nur im Sinne eines Ersatzversprechens verstanden werden.

220 so keineswegs einen Liebesroman, wie bislang immer wieder angenommen wurde, 274 sondern er konstruiert ein von ihm als typisch angesehenes galantes Handlungsschema zur Identifikationsbildung der weiblichen Leserschaft. Nur durch diese Annahme lassen sich die Struktur des Romans und die bekannte Abneigung des Autors gerade gegen das höfisch-galante Liebesthema erklären, das im Text zwar vielfach ironisch gebrochen wird, aber dennoch nicht - wie etwa die Rittermotivik - als Form selbst zum Thema der Satire wird. Darauf deutet offenkundig auch seine kritische Zusatzformel hin: Derowegen hat auch der Autor dieses Wercks in Erzehlung Alexandri Lebens= Lauf/ nicht allein von denen Liebes=Geschichten Meldung gethan/ sondern auch die vernünfftigen Discurse/ welche so wohl von ihm als andern gehalten worden/ eingemenget/ damit der Leser wegen einerley Materie nicht einen Eckel bekommen möchte/ und dieser Roman/ von denen jenigen/ welche sonst nicht viel von Liebes= Büchern halten/ gleichwohl möchte aestimiret werden. Ich versichere den günstigen Leser/ es wird ein iedweder wes Standes und Condition er auch sey/ doch in diesem Buch wohl etwas finden/ welches ihn belustigen möchte. (E: fol. Q 5vff.) Diese Angabe ist im wesentlichen nicht das verkaufsfördernde Argument, als das sie am Ende erscheint, sondern eine poetologische Selbstauslegung, die der Begrenzung und Einschränkung des Liebesthemas dient. Anders als in den vorangegangenen und zum Teil parallel entstehenden misogynen Schriften wählt der Autor im Verliebten Europäer einen vollständig veränderten Ausgangspunkt seiner Satire, indem er sich vom diegetisch-monologischen Darbietungsstil zu lösen versucht und die zu kritisierenden Handlungen und Haltungen nicht frontal attackiert, sondern als Kontrafaktur richtigen Verhaltens einführt. Beer bedient sich dabei überraschenderweise nicht mehr der sonst durchgängig bevorzugten Ich-Erzählsituation, sondern konstruiert einen auktorialen Erzähler. Die Wahl dieser Erzählperspektive ist offenkundig der Art der 274

Zumindest implizit Kremer (1984); Hardin (1983b) 50-53 kommt zu entgegengesetzten Ergebnissen wie Kremer, wenn er den Informationswert der nicht-fiktionalen Diskurse gering ansetzt und den Roman in der Tradition Weises sieht. Kremer sieht das Passive des Helden, während Hardin behauptet: »[H]e is a man of action rather than an observer« (ebd 53). Auch antifeministische Elemente will er nur am Rande gelten lassen: »Evidently the chief intention of this novel was the depiction of an exemplary figure whose intelligence, bravery, and political knowledge [...] combine the male virtues portrayed in the chivalric chapbooks with those depicted in the political novel« (ebd 53). Die hier vorgetragene Analyse steht in diametralem Gegensatz dazu. Alewyns Handlungszusammenfassung ([1932] 78) ist fehlerhaft, und seine Behandlung des Romans erschöpft sich in folgenden Zeilen: »Ein ganz für sich stehender Versuch auf einer anderen Ebene ist der >Verliebte Europäers nicht eben sehr kunstvoll in seinem eigentümlichen Stilgemisch, das dem modernen galanten Roman am nächsten steht, ohne die langen theoretischen Exkurse und die eingesprengten naturalistischen Kontraste. Wenn überhaupt etwas, dann mochte Beer neben der unbeschränkten Möglichkeit gelehrter Diskurse die Gestalt des erotischen Abenteurers interessieren, die allerdings recht akademisch und lieblos durchgeführt ist« (ebd 242f.).

221 Liebeshandlung geschuldet, die am Beginn des Romans entwickelt wird: Beer kann sich zu Recht keinen Ich-Erzähler vorstellen, der die höfischgalante Stereotypie des traditionellen Liebesthemas überzeugend präsentiert. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die pikarisch-satirische Dynamik seines Ich-Erzählers zu zähmen, wie etwa im Staats-Mann, hätte er sich nicht von dessen Perspektive lösen können und wäre gänzlich in der Erkenntnishaltung eines hochadligen Amanten verblieben, womit die satirische Intention des zweiten Romanteils nicht erfüllt worden wäre. Der Staats-Mann zeigt im übrigen recht deutlich, welche Begrenzungen insbesondere ein distanzlos erzählendes Ich zu bewältigen hat; dagegen ist es reizvoll, sich vorzustellen, was Beer aus einem adligen Helden in der Ich-Erzählhaltung in satirischer Absicht hätte machen können. Der auktoriale Erzähler im Verliebten Europäer hat allerdings nur wenig mit den »neutralen« Erzählern der höfischen Romane Lohensteins und Anton Ulrichs275 gemeinsam, denn deren gleichsam distanziert-distanzloses Erzählen, das sich in der Rücknahme jeglicher individualisierender Züge ganz in die Handlung verlieren kann, dient der Repräsentationsidee des göttlichen Ordo und erzählt gleichermaßen von einem erhöhten Blickpunkt aus, während Beers Erzähler durch die Umkehr der sozialen Perspektive vom Höfischen ins Galante übergeht. Das galante Erzählen ist ja vor allem durch den Verlust des Blickwinkels von oben und die Etablierung der Perspektive von unten charakterisiert: Die Verrätselung des Ordo verkehrt sich im galanten Medium in die Lösung durch die Curiositas, die die Protagonisten nicht mehr als Repräsentanten transzendenter Mächte sieht, sondern ihre Motive in der Analogie zum Gefühlshaushalt der Rezipienten. Es ist der neugierige Blick durchs Schlüsselloch, der eine Flut von Schlüsselromanen historischer Ereignisse und ihrer allzu menschlichen Helden provoziert. Steht am Anfang der Gattungsgeschichte noch der prickelnde Schauer der identifikatorischen Anverwandlung des Lesers an das adlige Vorbild - wie bei Beer im Verliebten Europäer - in der Liebeshandlung, so steht am Ende die völlige Indifferenz gegenüber dem historischen Vorbild; die adlige Herkunft verkommt als Schema zur reinen Hausnummer in einer Handlung, die das einzige Moment des Egalitären, das Liebesmotiv, bis zum offen Obszönen trivialisiert. Der galante Roman ist aber nicht, wie Singer voll Ranküne postuliert,276 Verwesungsrückstand des höfischen Romans, sondern das Panorama der Nachtseite des »bürgerlichen« Bewußtseins der Aufklärung: Die galanten Romanautoren bieten in der Tat das Inventar der Bewußtseinskrisen des Zeitalters des Rationalismus. So weit ist Beer jedoch nicht; zwar entspricht die Perspektive 275

276

Siehe dazu: Adolf Haslinger: Epische Formen im höfischen Barockroman. Anton Ulrichs Romane als Modell. München 1970. Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln, Graz 1963 (Literatur und Leben, N. F., 6) sowie ders.: Der galante Roman. Stuttgart 21966 (x1961) (Sammlung Metzler, 10).

222 von unten seinem pikarisch-satirischen Grundverständnis, aber die im galanten Erzählen angelegten erotischen Tendenzen sind ihm suspekt. Die oben analysierte komplexe Vorgabe egalitärer Schönheit als Ziel der Liebeshandlung und ihre Zurückweisung zugunsten von inneren »Qualitäten« markiert das Problem des Autors und gleichzeitig das satirische Thema des Romans. Beer nutzt so die Erzählperspektive nicht zu voyeuristischen Enthüllungen, sondern er entwirft zunächst eine wenig aufregende Ausgangssituation konventioneller Typik: Alexander, der Sohn des sizilianischen Vize-Königs und perfekt an Körper und Geist, reist zur Beförderung seiner Karriere an den spanischen Hof in Madrid. Bereits bei der Charakterisierung des Helden wird durch Beers Hyperbolik der ironische Ton deutlich: Jedermann betrachtete ihn als ein Wunderwerck der Natur [...]. Der Ruff von seinem hohen Verstände übertraft zwar den Glauben/ aber mit nichten die Warheit/ denn wer nur in Sicilien reisete/ suchte Mittel und Gelegenheit diesen berühmten Helden zuschauen/ und die Augen an so schöner Gestalt zu laben. Die berühmtesten Mahler kamen von allen Orten und Enden zusammen/ so vortrefflich lebendiges Conterfait in geheim abzucopieren/ denn sie vermeineten/ ihre Hand könte durch nichts mehr beglückseliget werden/ doch machte die Natur alle Kunst zu Schanden/ und kunten die vermischten Farben kaum den Schatten oberwehnter Schönheit in etwas abbilden. (E: If.)

Doch nicht nur der Darstellungsstil, sondern auch die berichtete Handlung markiert die ironische Doppelbödigkeit des Textes: Der Held gerät auf seiner Reise in zwei gefährliche Überfälle, die er bravourös abwehrt und dabei seine Tapferkeit beweist. Der ironische Unterton ergibt sich dabei nicht nur aus der Stereotypie der traditionellen Abenteuersituationen, die in der zweiten Handlungssequenz nahezu identisch wiederholt werden,277 sondern vor allem aus der erkennbaren Funktionalität des beschreibenden Details, denn der Held wird in jeweils einem der beiden Treffen leicht verwundet, wodurch seine überlebensgroßen Tugenden erkennbar relativiert werden sollen. So tritt auch schon zu Beginn ein Jesuitenpater auf, der mit historischen Kommentaren, die allerdings für die Erzählgegenwart obsolet sind, zum Gesprächspartner des Helden wird.278 Am spanischen Hof findet schließlich eine Festlichkeit anläßlich des königlichen Geburtstages statt, bei der Alexander Amenia kennenlernt, die an Geist und Schönheit sein Gegenstück ist.279 Ihre Begegnung ist außerordentlich konventionell gestaltet, und Beer bemüht sich augenscheinlich, trotz des galanten Stils der Dialoge die naheliegende Hyperbolik der Liebessprache zu unterdrücken: Das Lob ihrer Schönheit dient dem Helden dazu, seine Annäherung zu entschuldigen, während Amenie sich der Verehrung für unwürdig erklärt. Diese Argumentationsfigur gehört zum Standard des Liebesdiskurses, und es ist nicht ganz begreiflich, 277 278 279

E: 6 - 8 , 40ff. und 46f. E: 3ff. E: 11.

223 wie der Erzähler aus Ameniens Antwort »einen sehr hohen Verstand abnehmen kunte« (E: 13). Der Bruch des galanten Stils wird vom Autor in die Erzählerperspektive verlagert, die neben der Hyperbolik der Darstellung die Verletzung des stilistischen Decorums befördert, wenn der adlige Held in parodistischer Absicht charakterisiert wird, etwa wenn es heißt, er suche »durch Entdeckung seiner Liebe/ sein Hertz einen halben Centner leichter zu machen« (E: 14). Anläßlich einer Theateraufführung expliziert der Erzähler nun das doppelsinnige Thema des Romans: Als nun der Gesandte in das Comoedien-Hauß gebracht worden/ sähe sich Alexander ebenfalls nach seinem Theater/ (allwo er die Person eines verliebten Europäers vertreten wolte/) oder daß ich dem geneigten Leser aus dem Traume helffe/ so war Amenia der Zweck/ wornach unsers verliebten Ritters Liebes=Pfeile zieleten/ sie war das güldene Kalb/ so dieser abgöttische Israelite anbetete/ ja sie war der Liebes=Altar/ worauff Alexander den Weyrauch so vieler Seuffzer opfferte. (E: 16)

Zwei Dinge werden hier deutlich: zum einen die kommentierende Rolle des auktorialen Erzählers, der sich in direkten Leseranreden gefällt, und zum anderen die unverstellte Ironisierung des Protagonisten durch den Erzähler. Die Trivialisierung der Theater-Metapher unterstreicht die abwertende Bedeutung des »verliebten Europäers«, der in der folgenden Anrede seine närrische Verliebtheit dokumentiert: [...] daß/ wofern sie mit dem kräfftigen Kühl=Pflaster Ihrer Affection, meinem Schaden nicht zu Hülffe kommt/ mein Lebens=Licht/ aus Mangel zufliessenden Oels/ jähling verlöschen wird. (E: 18)

Die kunstvoll konstruierte Metaphern-Kollision deutet die Verwirrung des liebenden Geistes an, der sich passagenweise im Sekretariatsstil äußert, bis er - das Kupfer zitierend - seine Zustände zugibt: Ich erkenne mich gar gerne vor dero überwundenen leibeigenen Sclaven/ zumal die Gefängnisse/ welche mehr Freyheit in sich haben/ mehr zu begehren seynd/ als die Freyheiten welche die Gefangenschafften in sich begreiffen. Denn weit annehmlicher ist es/ eine Beherrscherin zu haben/ als sein eigener Herr/ in schmertzlichen Verlangen zu seyn/ und die Kette/ mit welcher ich ietzund/ durch dero Magnetische Krafft befesselt bin/ schätze ich weit höher/ als wenn selbige vom herrlichsten Arabischen Golde wäre. (E: 22)

Mit dem Bekenntnis, den »Kerker der Liebe« der Freiheit vorzuziehen auch das ein konventionelles Motiv des Liebesdiskurses - , desavouiert sich der Held vollends vor Beers Maßstäben unbedingter poetischer und persönlicher Selbstverfügung. Alexander entpuppt sich als durchschnittliches Beispiel einer konventionellen Liebestopik, die vom Erzähler ohne innere Beteiligung konstruiert wird und stellenweise deutlich ironisch gebrochen scheint. Offenbar rechnet Beer damit, daß diejenigen Leserinnen, deren ambitionierte Attitüden Ziel der satirischen Kritik des zweiten Teils werden, die auftretenden Ironisierungen nicht als Stilbruch empfinden und das Identifikationsprogramm des Textes akzeptieren.

224 Im folgenden wird der Held jedoch aus seiner Liebesknechtschaft durch die im Titelkupfer zu Hilfe eilende Fortuna befreit: Aber meynestu/ indem du ietzt von deiner Liebsten angenehmsten Munde die schönsten Rosen abbrichest/ daß du den geschwinden Lauft des Glück=Rades auffhalten könnest? Weist du nicht daß auch bey den klaresten Sonnenschein die lieblichen Sirenen mit ihrer durchdringenden Stimme den bald kommenden Sturm verkündigen? Ich vermelde dir hiermit/ daß die Person/ an welcher du seithero im Lieben ersättiget/ wird in kurtzer Zeit der Würmer unersättlichen Magen füllen müssen. (E: 24)

Ist schon der deskriptive Hinweis auf die Phänomenologie der Sterblichkeit wenig dezent, so ist der plötzliche Tod Ameniens wegen einer kurzfristigen Trennung vollends unglaubwürdig und durch die Begründung für den Kummer der Eltern, nun für das Erbe von über einer Tonne Gold 280 keine Erbin zu haben, restlos entwertet. Mit Alexanders Abreise nach Paris schließt die erste Handlungssequenz, die die Illustration des Kupfers ausführt und das Thema »versklavender« Liebe und ihrer schicksalhaften Auflösung in eine stark verkürzende und trotz aller Konventionalität bis zum Grotesken einsträngige Handlung umsetzt. Die reduktive Schablonenhaftigkeit zitiert so immer wieder Grundfiguren des galanten Liebesdiskurses, die in dem untypischen auktorialen Erzähler einen ironischen Kommentator finden, so daß zu Beginn eine naive, identifikatorische Lektüre durchaus noch neben der Erkenntnis satirischer Intentionen bestehen kann. Mit der folgenden Handlungspassage, die die pikarisch-amourösen Verwicklungen von Alexanders Diener Friedrich beschreibt, tritt an die Seite des Galanten eindeutig das niedrig-schwankhafte Motiv. Es ist ohne Zweifel als Kontrafaktur der ohnehin schon destabilisierten Liebeshandlung des Anfangs angelegt und bedient sich der bekannten Stilmittel des skatologischen und körperlich-grotesken Details. Die fast unkörperlichabstrakte Schönheit und Liebe des galanten Diskurses verwandeln sich in eindeutige Zweideutigkeiten, und Friedrich erweist sich weniger als Pikaro denn als Anti-Held: Als er bei seiner Geliebten, einer Bäckerstochter, ertappt wird, erfüllt er »die Kammer mit eine[m] ziemlichen starcken Geruch« (E: 32), zieht sich die Hosen über den Kopf und muß bei seiner grotesken Flucht einen Degenhieb des erzürnten Vaters einstecken, »welcher ein großes Stück von der lincken Seite des Kopffes biß auff die Kühnbacken nebst dem gantzen Ohre hinweg nahm« (E: 34). Der Vater schlägt seiner liederlichen Tochter »das abgehauene blutige Ohr [...] etliche mal um das Maul herum« (E: 35), bis er durch ein Geldgeschenk versöhnt wird. Der gewandelte Charakter des Erzähldiskurses wird sofort daran deutlich, daß der Erzähler zur satirischen Moralisation kommt, die vordem unterdrückt und in der Beschreibungsironie aufgelöst war: Es machte es dieser Becker allhier wie zum öfftern an vielen Orten unterschiedliche Eltern/ welche/ wenn sie wenig Mittel haben ihre Kinder ehrlich zu erziehen/ ihnen

280

Nach heutigem Wert immerhin ein Vermögen von über 10 Millionen Euro.

225 durch die Finger sehen/ damit sie von ihren Courtisanen eines und das andere mögen spendiret bekommen/ aber solche Leute wären würdig/ daß ein Mühlstein an ihre Hälse gehencket und ersäuffet würden im Meer/ da es am tieffsten ist. (E: 35f.)

Mit dem abgeschlagenen Ohr etabliert der Autor den Raum des NiedrigKörperlichen und des Grotesken, das an dieser Stelle noch als Kontrafaktur die realere Gegenwelt zum galanten Diskurs entwirft, die ohne Berührung neben der höfischen steht. Das groteske körperliche Detail gewinnt dabei fast symbolische Bedeutung, denn es fungiert nicht nur in diesem Handlungsabschnitt als materielles Indiz einer nicht weniger grotesken juristischen Verfolgung des Malefikanten.281 Ironische Brüche innerhalb des galanten Diskurses wie auch die possenhafte Kontrafaktur, die das Liebesthema verkörperlicht und erniedrigt, sind so überdeterminierte satirische Elemente der Déstabilisation des »LiebesRomans«, dessen strukturelle Schablonenhaftigkeit Identifikation und Kritik gleichermaßen ermöglicht, die in einer überdeutlichen Wiederholungshandlung erneut manifest werden. Wiederum muß Alexander bei zwei Überfällen seine Tapferkeit beweisen - und leicht verletzt werden - , und wiederum finden königliche Festlichkeiten und Theateraufführungen statt. Der Held trifft folgerichtig auch auf eine angemessene Partnerin: Hier sähe nun unser verliebte Europäer die quint Essentia aller Schönheit/ ja die Copey seiner verstorbenen Amenien/ derowegen er denn zum öfftern unterschiedliche Liebes=Stösse in seinem Hertzen empfunden. (E: 60)

Die Situation ist allerdings insofern verändert, als Amenia dem Helden im Traum das Versprechen des ewigen »Gedächtnisses« abverlangt hatte,282 und eine schnelle, neue Liebesverbindung unter keinem guten Stern steht. Eine kurze Possenhandlung um den Diener Friedrich283 lockert schon zu Beginn den Handlungskonnex der Pariser Episode, wie auch ein längerer politischhistorischer Diskurs,284 der die nützlichen Aspekte eines Angriffskriegs unterstreicht und gewollt machiavellistisch wirkt, das Versprechen der Gattungsmischung einlöst. Die nicht-fiktionalen Diskurse, die oft mit einem 281

282

283 284

»[Sjolte es sich aber etwa wider aller Menschen vermuthen zutragen/ daß der ehrvergessene Schelm eine solche Fleischliche Sünde begienge/ und sein angebohrnes Mitglied im Stiche liesse/ so wird ihm hiermit gedrohet obermeldtes Arcadisches Ohrloch/ in des Hoff=Medici D. Menenii Kunst= und Raritäten=Kammer zu verehren/ da es denn heissen wird: ex illa non est redemptio« (E: 37f.). »Wiewohl ich nicht schuldig wäre/ dir als einem Gespenste Rede [u]nd Antwort zu geben/ iedennoch vermelde ich dir/ daß so lange der letzte Bluts=Tropffen in meinem Leibe wallet/ Ameniens Gedächtniß niemals aus meinem Hertzen kommen soll/ und verlange auff diesen Erdboden nichts mehr/ als daß mein Geist dem Ihrigen bald möge vergesellschafftet werden« (E: 44). Der Traum (E: 63f.), der von Lukretiens Tod berichtet, gehört ebenso in die Klasse der vorausdeutenden Phänomene. E: 48-50. E-. 51-56.

226 starren Frage-Antwort-Schema als Gespräche eingeführt werden, haben zumeist keine Bedeutung für die Handlung; ihre Themen und Aussagen sind von geringer Signifikanz, und wenn Beer die Zwangsrekrutierung »gemeiner Canalie und losen Gesindleins« ebenso wie den Überraschungsangriff als Staatsmaxime preist, verrät er wohl keine Arcana der französischen Kriegspolitik, sondern spekuliert auf die Zustimmung zu harten Maßnahmen gegen Bettler und Landstreicher sowie auf die beipflichtende Entrüstung, daß die Welt so sei, wie sie ist. Es wird sich bei der Analyse des zweiten Romanteils zeigen, daß von enzyklopädischer Belehrung kaum gesprochen werden kann. Die Liebeshandlung wird schließlich durch die Einführung eines verschmähten Nebenbuhlers, der Alexanders Braut Lukretia entführt, erweitert, womit auch das Motiv für deren Selbstmord gegeben ist. Die starre Schablonenhaftigkeit der Darstellung manifestiert sich dabei wiederum an den Details: Ebenso wie in Madrid verläßt Alexander den Hof für kurze Zeit als Begleiter auf einer königlichen Lustreise, und der Name der Heldin läßt den weiteren Verlauf des Geschehens erraten. Überhaupt sind die Namen von einer gewollten Einfallslosigkeit, die bis zur Parodie reicht: Lomeno, Loranto, Lomaire, Lovillie, de Vallie, Comilly, de Pollie, de Mellie usw. Die Standhaftigkeit Lukretiens dient nun dem auktorialen Erzähler zu einem Kommentar, der die Funktionalisierung der galanten Handlung zu rein äußerlichem Inventar einer gehobenen Gegenwelt zum Nicht-Höfischen deutlich beleuchtet, denn die Lehre, die der Erzähler aus der Constantia einer adligen Heroine zieht, hat mit deren bedrängter Situation nichts gemein: Sie machte es nicht/ wie bißweilen manche Jungfern/ welche/ wenn sie einen Liebsten haben/ und er etwa auff wenige Zeit verreiset/ alsbald andere ihre Gunst gemessen lassen/ nach dem gemeinen Sprichwort: Varietas delectat, das ist/ das neue hat man lieber/ als das alte. Sind sie von Bürgerlichen Stande/ so müssen die jungen Cavallire aus selbigen/ lauter Körbe davon tragen/ und das Adeliche Geblüte den Vorzug haben/ gleich als ob zu weilen nicht mancher Bürger dem Vermögen nach besser bespannet/ als der vornehmste von Adel. (E: 74)

Wenn der Erzähler das Lukretia-Motiv dazu nutzt, die Adelsambitionen von Bürgertöchtern zu beklagen, die nicht-adlige Bewerber mißachten, verrät die Unverhältnismäßigkeit des Kommentars, daß es hier um das eigentliche Thema des Romans geht. Dabei befindet sich Beer in einer schwierigen argumentativen Position, denn die »Zuschrifft« bestätigt den bürgerlichen Leipzigerinnen gerade jene »englische« Schönheit, auf Grund derer sie Anspruch auf eine adlige Heirat machen können. Indem der auktoriale Erzähler in seinem Kommentar diesen Anspruch als Anmaßung erweist, wird die Lobrede ironisch disqualifiziert, wobei aber das positive Gegenbeispiel, das traditionelle Decorum des galanten Liebesdiskurses, ebenfalls der Kritik unterliegt. Eine Synopse der verschiedenen Beobachtungen muß daher zu folgendem, vorläufigem Schluß kommen: Beer entwickelt das Schönheitsideal als Topos der galanten Liebeshandlung in ironischer Absicht, um deren

227 Haltlosigkeit und abstrakte Konventionalität zu markieren, womit er den anmaßenden Anspruch der Leipzigerinnen treffen will; ihr Begehren richtet sich nach Beer auf eine Chimäre und wesenlose Scheinhaftigkeit. Außerdem ist der gesamte Bereich nicht nur der galanten Liebe eindeutig negativ als freiheitsberaubend im Sinne Beers konnotiert. Der Erzähler richtet sich an ein nicht-adliges Publikum, auf dessen Bewußtseinsstand die Kommentare unter deutlichem Stilbruch hinzielen. Die an die zitierte Moralisation anschließende Exempelgeschichte belegt diese These nachdrücklich, denn dort wird von zwei ungleichen Ehen berichtet, die aus Eigennutz geschlossen werden: Ein junger Mann heiratet eine reiche Alte, während sich sein leidenschaftsverfallener Vater eine junge Braut nimmt.285 »Geld-Geitz« und erotisches Begehren sind ebenso wie die »Ehr= Begierde« der Bürgertöchter schlechte Ratgeber bei der Eheschließung, so könnte die offenkundige Lehre zusammengefaßt werden. Es geht aber nicht nur um derartig begrenzte Lebensregeln, die, wenig originell, zum Satirestandard der frühen Neuzeit gehören, sondern um die bekannte misogyne Frauenschelte, deren spezifisches Objekt sich wahrscheinlich auf eine persönliche, wahrscheinlich kränkende, Erfahrung des Autors bezieht.286 Das spezifische Kritikmoment der unvernünftigen und anmaßenden Adelsbegierde der (Leipziger) Bürgertöchter verwandelt sich im Verlauf der zweiten Romanhälfte in allgemein weibliche Unsitten: [M]it Erreichen Straßburgs beginnt die satirische Haltung den Frauen gegenüber zu dominieren. Dann allerdings unterscheidet sie sich nur noch in der Schärfe der Angriffe von den betont antifeministischen Schriften Beers. (Kremer [1984] 433f.)

Alexander, der sich nach der obligatorischen Rache an dem Nebenbuhler in Straßburg niederläßt, ist dabei grundsätzlich durch die vorangegangene Liebeshandlung determiniert, denn die Deutung des Titelkupfers, nach dem der durch die Liebe verwirrte »verliebte Europäer« durch die helfende und tötende - Hand Fortunas von seiner selbstgewählten Knechtschaft erlöst ist, muß als Voraussetzung des zweiten Romanteils ernst genommen werden. Alexander ist durch das Schicksal von seiner verliebten Natur 287 befreit und wird so in die Lage versetzt, die Beobachterposition einzunehmen, die für den Protagonisten des politischen Romans charakteristisch ist. Der Held verschwindet nun allerdings in dem Maße aus dem Text, in dem er zum reinen Zuhörer von Erzählungen wird, während Weises Protagonisten zumindest noch an den berichteten Begebenheiten beteiligt sind. So ist der zweite Teil des Romans288 durch ausführliche Erzählungen und Gespräche289 wie auch durch die wiederholten Szenen der Begegnung Alex285

286 287 288 289

Siehe E: 84.

E: 90t »[...] weil ohne dem seine Natur von ziemlich verliebter Eigenschafft« (E: 11). Der zweite Teil beginnt etwa auf S. 94. »Während im Eingangsteil des Romans die erzählerischen Passagen noch über die

228 anders mit Bürgertöchtern bestimmt. Bleiben die Gespräche und Erzählungen weitgehend unverbunden und beziehungslos zur Handlung, so werden die »galanten« Dialoge und ihre Implikate in einer ausführlichen Vorbemerkung, die von einer Exempelerzählung eingeleitet wird, thematisiert. Die Themaepisode fällt dabei zunächst durch ihre offenbar fehlende Pointe auf: Eine junge Witwe gibt sich, da sich eine vorteilhafte Heirat nicht sofort anbietet, einem prahlerischen Kaufmannssohn hin, aber es wärete nicht gar lange/ so befände sie sich schwanger/ dannenhero man mit nichten verzog/ sondern bald Hochzeit und ein Viertel Jahr darauff Kind=Tauffe ausrichtete. (E: 96f.)

Hier geht es offensichtlich um das Gegenteil der sozialen Anmaßung stolzer Bürgertöchter, womit sich das Thema des Romans endgültig als satirische Darstellung des angemessenen Verhaltens der Geschlechter in Gesprächssituationen erweist. Der Autor zielt mit seinem Roman auf das - wie er meint - kalkulierende und kalkulierte Verhalten der Frauen, das vollständig vom Eigennutz und den unmoralischen Leidenschaften beherrscht wird.290 Die Konversation der Frauen erscheint so als ein Mittel, den unwissenden Mann aus sinnlicher, finanzieller oder ehrgeiziger Begierde zur Heirat zu zwingen. Ja/ versetzte Antonius, ist sallhier in Straßburg ein so wunderlich thun/ daß/ wenn einer nur einmal Gelegenheit hat/ mit einen Frauenzimmer zu Conversiren/ die Leute alsbald sagen/ man habe sich in solche Person verliebet/ wer kan darfür/ wenn sich etwa manch Frauenzimmer solches einbildet/ zumal selbige zum öfftern/ aus Hoffnung zur Heyrath/ solche Sachen vornehmen/ welche ihnen hernacher/ wenn sie nichts mit zu wege bringen/ selbsten reuen. Alexander kunte sich dieses fast nicht einbilden/ daß das keusche Frauenzimmer einem mehr Gunst/ als es sich sonst gebührete/ erzeigen solte/ doch entschloß er sich Gelegenheit zu suchen/ solches zu erfahren. (E: 97f.)

Damit ist der Handlungsrahmen des zweiten Teils des Romans präzis bezeichnet, dessen Kohärenz allerdings durch die massive Einlagerung sekundären Materials verdeckt wird. Eliminiert man die unorganischen Elemente, wie etwa die an dieser Stelle im Text anschließenden Schwankepisoden oder die beiden ausführlichen Gesprächseinlagen am Ende,291 steht die Struktur des ganzen Romans recht deutlich vor Augen: Auf die galanten, wenngleich

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Hälfte des Romanvolumens ausmachten, sinken sie dann kontinuierlich ab, so daß sie für das Gesamtwerk nur noch etwa ein Drittel betragen. Die Geschichte Alexanders hat schließlich kaum noch eine andere Funktion als die einer Rahmenhandlung. Selbst wenn man sämtliche eingelegten Erzählungen und Anekdoten mitrechnet, erreicht der erzählerische Anteil des Textes nicht einmal fünfzig Prozent« (Kremer [1984] 429). »[...] und solte sich also ein junger Mensch fast scheuen/ mit solchem Frauenzimmer umbzugehen/ welches alsbald vermeynet/ man thue es heyrahtens wegen« (E: 97). E: 100-124, 198-220, 241-267. Die Passagen umfassen immer ziemlich genau einen Bogen, wie Beers Einlagen und Digressionen oft einheitliches Format haben.

229 nach Beers Voraussetzungen ironisch gebrochenen Liebesdiskurse folgen Konversationen, die durch die unzüchtigen und ehrgeizigen Interessen der Frauen gekennzeichnet sind. Voraussetzung der Satire ist dabei der gewandelte Charakter des Helden, der, von der Liebe »geheilt«, eine vordem unbekannte satirische Aggressivität entwickelt, die sich nicht scheut, die Gesprächspartnerin zu beleidigen und zu erniedrigen oder ganz handgreiflich die Probe aufs Exempel der liberalen Frauenmoral zu machen. In dem ersten Dialog mit Eleonore tritt Alexander von Beginn an als Spötter auf, der die Versatzstücke der galanten Konversationskunst ironisiert,292 sich der Routine entzieht und schließlich in die erotische Anspielung flüchtet, durch die er sein Gegenüber provoziert und durch deren Eingehen auf die Anzüglichkeiten erniedrigt: Alexand. Ich wolte wündschen/ daß ich deroselben Spiegel wäre/ zumalen wenn sie das Schnür=Mieder zuschnüret/ und den Unter=Rock zuhefftet. [...] Eleon. [...] Sonst möchte ich auch gerne wissen/ was er dennoch wohl sehen könte/ wenn er mein Spiegel wäre. Alexand. Das jenige/ mit welchen sie die Natur von andern Weibsbildern herrlich begäbet. Eleon. Solches kan ich nicht errathen. Alexand. Es darff nicht viel Errathens/ sondern man kan es greiften. (E: 131f.)

Die Konversation nimmt einen geradezu anti-galanten Charakter an, der durch herausfordernde Unhöflichkeit definiert ist, wenn der Held seiner Gesprächspartnerin implizit vorwirft, verdeckte Interessen zu verfolgen: Alexand. Aber sage sie mir Madam warum hat sie sich heute so galant geputzet/ ich wil nicht hoffen/ daß es meinetwegen geschehen. Eleon. Ich sehe in meiner Kleidung keine Galanterie. Alexand. Aber wohl in der Person/ welche selbige an hat. (E: 134)

Das Gespräch wird durch ein Bankett ihres reichen Vaters unterbrochen, dessen Pracht, »vor keinen Fürsten zu gering« (E: 136), wie der Luxus allgemein adlige Dimensionen annimmt: »Mit einem Wort/ es hätte sich in diesem Gemach keiner der vornehmsten Herrn schämen dürffen« (E: 137). Die ostentative Darstellung des Reichtums des Kaufmanns wird vom Helden dabei offenbar als Aspiration und Vorwegnahme des Adelstitels verstanden, dessen ehelichem Erwerb wohl auch die Avancen Eleonores gelten, wie sein Kommentar belegt: Alexander antwortete/ es soll sich von Rechtswegen keiner über seinen Stand halten/ sondern mit denselben vergnügen lassen/ worein ihn das Glück gesetzet/ wiedrigen Falls nimmt es selten ein gut Ende. (£: 139)

Damit wird auf die frühneuzeitlichen »Policey«-Ordnungen angespielt, die jegliche Form der Repräsentation regeln, aber schließlich vor der Dynamik des historischen Prozesses der Zivilisation, wie ihn Elias beschreibt, kapitulieren müssen. In deutlicher Bezugnahme auf die Stellung des Helden und 292

»Eleon. Ein solcher Diener/ wie Möns: wäre mir ein wenig zu hoch. Alexand. Bin ich doch nicht gar zu groß von Person« (E: 127).

230 den galanten Charakter der Anfangshandlung entwickelt Beer nun den Begriff wahrer und falscher Politik: [D]ie Pracht und Hochmuth nimmt von Tag zu Tag allhier also überhand/ daß ich gerne ietzo über hundert Jahr möchte aus meinen Grabe auffstehen/ und den Zustand meiner Nachkommen ein wenig betrachten. Da giebt man manchem heut zu Tag einen gar zu schlechten Titel/ da nimmt man auff Gastereyen den Rang nicht recht in octo [...]. Wenn man nun solches auff ein Haar wohl observiret/ da ist man ein Politicus, da heisset es: Der Mensch kan sich wohl unter die Leute schicken/ ist so viel geredet/ als ob man spräche: Der Mensch kan wacker schmeicheln/ er saget/ weiß sey schwartz/ und schwartz weiß/ wie ich es haben wil. Denn es ist ein erschrecklicher Unterscheid zwischen einen Politico im gemeinen und rechten Verstände genommen. Denn diß ist wohl wahr/ der ein Politicus in vero sensu ist/ ist mehrentheils auch ein Politicus nach der gemeinen Redens=Art/ aber nicht umgekehret. (£: 139f.)

Diese überraschende Distinktion markiert die wahre Politica als strikte und uninteressierte Observanz des ständischen Decorums, während der Allgemeinbegriff eben auf das parteiliche Interesse zielt, das sich naturgemäß auf die einschmeichelnde Erhöhung des Adressaten bezieht, wodurch im Prozeß ständiger Differenzierung innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen eine Inflation an Titeln auftritt, die die der Eliten sowohl quantitativ aufbläht, als auch entwertet. Doch es geht Beer hier ausnahmsweise nicht um die sonst so wortreich beklagte Titelsucht, sondern um das insinuierende Kalkül egoistischen Interesses auf Seiten der Frauen, die sich nicht scheuen, in der Konversation ihre Gefühle zu offenbaren. Ihre sozialen Ambitionen auf Standeserhöhung lassen sie passende Verehrer ihres Standes verachten - worauf sich wohl Beers Zorn primär bezieht - und sich andererseits auf »unziemliche« Art den Adligen anbieten, wie das billet doux Eleonores beweist, in dem sie gerade die zentrale Standesdifferenz unterstreicht.293 Ihrem Ehrgeiz, erhöht und erhört zu werden, begegnet der Erzähler mit karikierender Erniedrigung, indem er dem Liebesthema wiederum die groteske Körperlichkeit als Kontrafaktur entgegensetzt: Bei dem von ihr vorgeschlagenen Rendezvous im Garten »traff er Eleonoren/ ich weiß nicht in was vor einer Positur, welche sie aus Noth machen muste« (E: 145). Der Held versucht, sich ihren nur notdürftig verschleierten Anträgen zu entziehen,294 während der Erzähler die Situation im Sinne einer allgemeinen Liebeskritik kommentiert: Ich halte gäntzlich darvor/ daß keine grössere Marter unter der Sonnen/ als die Liebe/ denn solche greiffet so wohl den Leib/ als das Gemüthe an/ zumal wenn 293

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»Denn er versichere sich/ daß [m]ir seine Compagnie so anständig/ daß/ wofern die Ungleichheit des Standes keine Verhinderung verursachte/ ich mich vor die allerglückseligste Person unter der Sonnen schätzen wolte/ wann ich Gelegenheit hätte/ demselben stetswerend auffzuwarten« (E: 142). Diese Einladung zu einem galanten Rendezvous kommt einem Heiratsantrag verdächtig nahe. »[U]nd gab Eleonora immer mit dunckeln Worten zu verstehen/ wie sie sich in Alexandern hefftig verliebet/ er hingegen that/ als ob er es nicht verstünde« (E: 147f.).

231 man seine Liebe der Person/ welche man liebet/ offenbaret/ und selbige doch keine sonderliche Gegen=Liebe spüren lässet/ ja sich stellet/ als ob sie es nicht merckte/ daß man sie lieb habe. (E: 148)

Die Liebe Eleonoras wird so vom Erzähler als leidenschaftsverfallene Begierde charakterisiert, während Alexander sich mit einem eindeutigen Hinweis entzieht: Weil das Frauenzimmer ie bißweilen die Manns=Personen in der Liebe zappeln lässet/ als ist es nicht mehr als billich/ daß die Manns=Personen dergleichen Repressalien gebrauchen/ zudem/ weil die Jungfern mit nichts eher/ als Hoffnung/ zur Heyrath können gewonden werden/ muß man ihnen nicht stracks zu erkennen geben/ wie man gegen sie gesinnet/ denn wenn bey den verliebten die Hoffnung aufhöret/ so ists um sie geschehen. (E: 151£)

In diesem Argument sind wiederum zwei disparate Motive kontaminiert: zum einen das galante des Liebeskampfes und dessen Mittel und zum anderen das nicht-höfische der Abwehr insinuierender Schmeichelei, die letztlich auf eine Heirat abzielt. So sieht sich Eleonora auf die ultima ratio der koketten Verführung verwiesen, und es gelingt ihr, weniger die Liebe als die Leidenschaft des Helden zu erwecken. 295 Alexanders Bereitschaft zu oberflächlichen Intimitäten belegt aber nun zumindest für Beer nicht dessen Unmoral, sondern die unmoralische Verführungskraft der passionierten Frau, die den Mann gegen seinen Willen verführen kann, und Eleonore versäumt es nicht, ihre gänzliche Bereitwilligkeit offenherzig zu bekunden; indem sie seine Hand an ihre Brust drückt, eröffnet sie ihm vor einer einzelnen aufgeblühten Rose: Diese Rose ist so vollkommen/ daß sie grosse Begierde traget von des Gärtners Hand abgebrochen zu werden. Alexander verstünde diese Rede gar bald/ derowegen antwortete er: Vielleicht unterstehet sich der Gärtner nicht/ solche abzubrechen/ sondern vermeynet/ es werde sich wohl schon eine geschicktere Hand hierzu finden. Eleonora versetzte: So weiß ich in Warheit keine geschicktere Hand/ als eben die seinige/ welche er zu Abbrechung dieser Rosen gebrauchen kan. (E: 154f.)

Damit hat die Komödie der erotischen Anzüglichkeiten ihren Höhepunkt erreicht: Die durch ihre niedere Körperlichkeit gekennzeichnete Bürgertochter erweist sich als liebestoll im manifest erotischen Sinn; sie zeigt, daß sie keine Macht über ihre Leidenschaften hat, die sich sowohl auf den sexuellen Genuß wie auch auf den sozialen Aufstieg richten. Sie ist das erste und deutlichste Beispiel für die Themareflexion des zweiten Romanteils, »daß das keusche Frauenzimmer einem mehr Gunst/ als es sich sonst gebührete/ erzeigen solte« (E: 98). Darin ist sie das exakte Widerspiel zu dem galanten

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»Diese Küßgen an statt sie Eleonoren Liebes=Feuer hätten abkühlen sollen/ waren selbige vielmehr die Blasebälge/ welche solches ie mehr und mehr anfeuerten. Denn das Frauenzimmer/ ob es sich wohl bißweilen stellet/ als wann ihnen nichts am Küßgen gelegen/ ist es doch zum öfftern so begierig darzu/ daß es nicht gnugsam kan ersättiget werden« (E: 153).

232 Damendoppel Amenia und Lukretia, die ihre Fähigkeit, in dem Helden Liebe zu erwecken, mit dem Leben bezahlen mußten. Eleonora gerät so in die Nähe der vom Autor manisch verfolgten »Huren«, und es kommt an dieser Stelle wohl nur deshalb zu keiner der bekannten radikalen Moralisationen, weil Beer im Verliebten Europäer explizit eine andere satirische Strategie verfolgt. Die weitere Primärhandlung breitet nun nur noch das Programm des Helden aus, »Gelegenheit zu suchen/ solches [seil. Unkeuschheit] zu erfahren« (E: 98). Zunächst jedoch wird erneut die Schwankepisode um den Diener aufgegriffen, deren Funktion aber durch den Diskurswechsel aus dem Galanten in das Satirische obsolet geworden ist und damit im weiteren marginalisiert wird.296 In etwas näherem Zusammenhang mit dem Hauptthema steht die sekundäre Handlungssequenz um die Heirat seines Freundes Antonio gegen den Willen seiner Mutter, womit die Rechtfertigung einer Verbindung aus Zuneigung bei gleicher Standeszugehörigkeit expliziert wird. Der Einwand der Mutter bezieht sich dabei auf persönliches Ressentiment wie auch auf das finanzielle Kalkül, dem sich der Sohn nicht beugen will. Dessen Hochzeitsfeier gibt dem Helden dann wiederum Gelegenheit, nach den unerwünschten Offerten einer ehrgeizigen Verliebten das Thema des Romans zu variieren und die vordem ausgebliebene Moralisation in eindeutiger Weise nachzuholen: Solche wunderliche Manieren hat bißweilen das Frauenzimmer ihre Liebes=Begierde zu stillen. Denn ich halte gäntzlich dafür/ daß die Liebe bey Weibes=Personen offt hitziger als bey Mannes Personen/ welche selbige eher abkühlen können. [...] Alexander roche den Braten gar bald/ that aber als ob er keine Empfindligkeit habe/ weil er das jenige Frauenzimmer nicht viel achtete/ welches die Freyheit mit denen Mannes=Personen umbzugehen noch vor eine sonderbare Galanterie hält. Aber diese Galanterie hat der Höllische Feuer=Mäuerkehrer auff die Bahn gebracht/ welcher täglich durch neue Arten zu sündigen/ seine Zunfft zu vermehren suchet. (E: 186f.)

Angesichts dieses Kommentars, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt und wörtlich einer der misogynen Schriften entnommen sein könnte, kann an der satirischen Intention des Romans, wie sie hier analysiert wurde, kein Zweifel mehr bestehen. Beer hat nicht das Thema geändert, sondern angesichts der äußerst kritischen Reaktion auf seine expliziten »Weiber= Schelten« hat er die ironische Eloge auf die Schönheit der Leipzigerinnen, die es verdienen, »von hohen Standes=Personen verlanget zu werden« (fol. A 3V), mit einer konventionell-galanten Liebeshandlung verknüpft, die von dem Verdacht des Frauenfeindlichen zunächst schon durch die Gattungsform ablenken soll. Das galante Thema selbst ist für ihn allerdings schon Ziel der Satire, und der Liebesdiskurs, der die weiblichen Leser zur Identifikation reizen soll, ist von Anfang an negativ konnotiert. Im besten Fall kann die 296

E: 235-237.

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Liebe als freiheitsberaubender Irrsinn verstanden werden, dessen Fesseln nur durch das Schicksal selbst gelöst werden können; im niederen Reich der Satire dagegen enthüllt sich die Liebe als eine Melange sexueller Begierde und sozialer Ambition im Gewände einer vorteilhaften Heirat. Die dis/simulatorischen Strategien zum »Erwerb« des Ehemannes deklariert der Erzähler als »galant« und »politisch« und bezieht sich damit auf die »Freiheiten« des Frauenzimmers: Die grösten Unbilligkeiten von der Welt müssen sich heut z[u] Tag unter dem Nahmen einer Galanterie oder Politic verkauften lassen. Aber wer ist der Urheber? Antwort: der Teuffei/ der ist ein Pater Politicorum, und ein solcher Welt=Mann/ welcher nicht allein das vergangene von der Welt Anfang her gedencket/ sondern auch viel zukiinfftige Dinge errathen kan. (E: 187f.)

Das »unbillige«, hier in Umschreibung für »liederliche«, Verhalten der Frauen gründet für Beer natürlich in ihrer körperlichen Begehrlichkeit,297 die zusammen mit ihrem Ehrgeiz letztlich Konsequenz der Hoffart ist. Das Ressentiment gegen die aus Hoffart ehrgeizigen Bürgertöchter bricht denn auch noch an anderen Stellen massiv durch und entpuppt sich als vorgängiges Thema des Verliebten Europäers298 Mit dem letzten ausführlichen Kommentar (E: 229-231) scheint Beers Argument auch endgültig etabliert zu sein, und so reihen sich über fast 100 Seiten Gespräche und Erzählungen ohne Beziehung zur Haupthandlung aneinander. Mit der Abreise des Helden nach Wien setzt sich aber auch ein aleatorisches Organisationsprinzip durch, das interessante Perspektiven eröffnet: Die Gespräche mit dem »Rittmeister« in Wien sind vorzügliche Beispiele assoziativer Zufälligkeit und des »Apropos«.299 Mit der Abenteuererzählung eines Grafen 300 gerät der Roman dann allerdings völlig aus den Fugen, und der Autor arrangiert eine letzte »galante« Konversation, um den thematischen Zusammenhalt zum Schluß wiederherzustellen. Seine Gesprächspartnerin Menilda läßt Alexander wiederum ihre Liebe spüren und beklagt sich, daß die Männer »sich offtermals 297

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»Sie machte es nicht wie manche Jungfern/ welche ihre Jungferschafft offt eine unerträgliche Bürde ist/ und Tag und Nacht darauff sinnen/ wie sie solche mit guter Manier loß werden möchten« (E: 189f.). »Das Frauenzimmer/ zumal von Bürgerlichem Stande/ welches die Manns=Personen zu schrauben gedencket und ihre Worte auff die Gold=Wage leget/ betreuget sich ins gemein selbsten/ indem mehrentheils die in ihrem Sinne galantesten Jungfern/ am langsamsten Männer bekommen. Die Ursache ist: Ihres gleichen verlangen sie nicht: Grafen/ Herren und Edelleute sind dicke gesäet/ aber sehr dünne auffgegangen/ und so auch gleich einer von diesen Personen ein Mägdgen heyrathet/ thut er es mehr wegen des Geldes als der Person. [...] Wie mancher setzet wegen einer Hand voll Ehre sein Leib und Leben in Gefahr/ da doch alles vergänglich« (£: 229f£). »A propo, sagte der Rittmeister/ es fället mir gleich ietzund eine Frage bey/ welche zwar nicht allerdings von dieser Materie/ aber doch gar subtile Gedancken machen kan« (E: 304f.). E: 308-328.

234 scheuen ihre Liebe zu offenbaren« (E: 342): Die Reaktion des Helden ist vorhersehbar und reproduziert die referierten Argumente.301 Wenige Seiten später schließt die ermattete Erzählung mit dem summarischen Hinweis auf Alexanders spätere Heirat mit einer ungenannt bleibenden Ministertochter, deren Erzählung einem zweiten Teil des Romans vorbehalten bleibe. In der bislang einzigen Arbeit zum Verliebten Europäer kommt Manfred Kremer 302 zu vergleichbaren Teilergebnissen, ohne jedoch die Romanstruktur genauer zu analysieren oder seine Beobachtungen zu einer These zu integrieren. Die Handlung ist für ihn das Abbild einer traditionellen »Grand Tour«, die pseudo-realistisches Detail präsentiere, während der adlige Held, der den im wesentlichen einsträngigen Roman zusammenhalte, obwohl er wenig Individualität besitzt, mehr und mehr in die bürgerliche Wertewelt abgleite. Auch Kremer sieht die Dominanz der Frauensatire, will sie aber nicht als Romanthema postulieren: Die einzige Entwicklung, die sich im Laufe des Romans vollzieht, ist die, daß der Held offenbar eine zunehmend kritische Haltung den Frauen gegenüber einnimmt, was sich unter anderem darin ausdrückt, daß er in Straßburg allen tieferen Bindungen ausweicht. [...] In den sich immer wiederholenden Situationen vermissen wir, abgesehen vom Eingangsteil des Romans, jede Andeutung eines »Schicksals« des Helden. (Kremer [1984] 429)

Kremer bleibt so im Erwartungsraum des galanten Romans befangen, ohne das beherrschende satirische Thema als strukturbildend zu erkennen; so übersieht er, wie das Kupfer und die analoge Romanhandlung die bereits ironisch gebrochene Voraussetzung für den zweiten Teil des Textes abgeben, und er kann die auftretenden nicht-fiktionalen Textpartikel nur als heterogene Elemente verstehen, die den Unterhaltungswert des Romans ausmachen:303 Sein erstes Ziel war die Unterhaltung des Lesers. [...] Neben dem Anliegen der Unterhaltung reflektiert das Werk noch andere Tendenzen, die trotz der eben gemachten Einschränkung nicht allein mit diesem Anliegen zu erklären sind. Sie lassen sich grob vereinfachend alle unter dem Begriff des Didaktischen subsumieren. (Kremer [1984] 432)

Gegen Kremers Annahme einer Polyfunktionalität stellen wir hier die These von der Eindimensionalität des Romanthemas, dessen Instrumentalisierung 301 302 303

E: 343. Kremer (1984). »Sein erstes und wichtigstes Ziel war zweifellos der Wunsch, seine Leser zu unterhalten. Und es beruht wohl zum Teil auf dem großen zeitlichen Abstand, wenn wir den reinen Unterhaltungswert vieler uns heute didaktisch erscheinender Passagen für Beers Zeitgenossen unterschätzen. Selbstverständlich enthalten seine Werke, und nicht nur der Verliebte Europäer, Belehrendes und vor allem auch Satirisches. Das muß jedoch nicht unbedingt bedeuten, daß der Leser des 17. Jahrhunderts sehr viel daraus lernte oder lernen wollte. Es ist durchaus möglich, daß er sich ganz einfach gut unterhalten fand« (Kremer [1984] 431f.).

235 des galanten Romandiskurses die schwankhafte Kontrafaktur verlangt, die insofern komplex gestaltet ist, als der Held in beiden Bereichen des Galanten und Nicht-Galanten identisch bleibt, ohne eine Entwicklung zu zeigen. Die veränderte Ausgangslage macht sich jedoch als Handlungsresultat der Titelkupfer-Analogie bemerkbar: Alexander ist von der Liebe befreit 304 und kann nun erst wirklich als Beobachter und Beobachteter fungieren, denn seine im Grunde verliebte Natur und seine Herkunft machen ihn für den Erzähler mehr zum Objekt der Betrachtung als zum maßstabsetzenden Moralisten. Die Kritik und Satire der aufstiegsorientierten Bürgertöchter, die sich in unziemlicher Weise und mit unlauteren Mitteln dem Adel anbieten, verlangte für Beer nach einem aristokratischen Helden, der zwar einerseits Muster wahrer Galanterie ist, andererseits aber durch einen anti-erotischen Impuls die Avancen seiner Verehrerinnen als interessegeleitete Insinuationen demaskieren kann. Die »Liebeshandlung« des galanten Beginns erweist sich so als abstraktes Expositionsschema, das ausschließlich zur Charakterisierung des Helden dient, der seine wahre Funktion erst in dem zweiten Teil des Romans entwickelt, wo er als paradoxer Bürger mit adligem Hintergrund agiert. So wird Alexander zum Edelmann als Bürger, und in dieser umgekehrten Perspektive liegt dann auch der wesentliche Gehalt des Textes. Die ambitionierten Frauen werden nicht mehr aus der Perspektive des verschmähten Liebhabers satirisiert, sondern sie erfahren ihre Strafe durch die Verachtung eben der ersehnten Instanz, die sich nicht nur als - zumindest in Beers Augen - im Grunde bürgerlich erweist, sondern die Liebhaberinnen deutlich erniedrigt. In dem Moment ressentimentgeladener Ranküne erkennen wir Beers scharfe Satire, die das Adelsideal nicht nur als falsch und verlogen demaskiert, sondern es zum Strafinstrument macht. Die wahre Dimension der Verachtung, die hinter dieser satirischen Haltung steht, läßt sich nur ermessen, wenn man sich Beers Überlegenheitsgefühl als gebildeter Künstler von mannigfacher Begabung angesichts eines gesichtslosen Adelsprotagonisten wie Alexander vorstellt. So scheinen uns auch die Suche nach gattungsmäßigen Vorbildern und die Verlängerung des Romans in die Intentionen der Willenhag-Dilogie an der Sache vorbeizugehen: 305 Beer hat im Verliebten Europäer erneut das Thema seiner misogynen Schriften aufgenommen und von einer bestimmten Seite beleuchtet, wobei er die Schärfe seiner Angriffe durch eine ungewöhnliche und komplexe Erzählstruktur mildern will, ohne daß bei näherer Analyse die Mischung aus Frauenfeindlichkeit und sozialem Vorurteil weniger aggressiv erscheint.

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So auch Rremer: »Denn Verliebtheit erscheint dem Autor letzten Endes doch nur als eine der vielen menschlichen Torheiten, die erst durch den Humor ihren rechten Stellenwert erhalten« (Kremer [1984] 436). Vgl. Kremer (1984) 440ff.

4. Die Verführung des Grotesken Bruder Blaumantel und das Narrenspital schließen im wesentlichen eher an den Corylo/Jucundus-Komplex an als an die satirisch-misogynen Texte, die im vorangegangenen Kapitel analysiert wurden. Dennoch bestehen deutliche Verbindungslinien vor allem zwischen dem Bratenwender und dem Blaumantel; beide Texte entwerfen eine komplexe und zum Teil widersprüchliche Erzählerfigur, die den Zusammenhang von kritischer Welteinsicht und affirmativer Lebensbehauptung thematisiert. Dies geschieht im Bratenwender noch ganz abstrakt (Allegorien der Kücheninstrumente), wobei aber die Herkunft der gegenläufigen Motive von Kritik und Affirmation aus dem Raum des pikarischen Erzählens deutlich wird. Der klassische Pikaro (Lazarillo) ist gezwungen, seine Einsicht in die dissimulatorische Weltverfassung zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen, und schon die Beispiele des spanischen Pikaroromans zeigen die aporetische Verfassung ihrer Erzählform: Tritt keine moralisch-religiöse Wende ein, wie im Guzman de Alfarache, und der Held bleibt in der paradoxen Situation befangen, gegen seine kritische Erkenntnis der dissimulatorischen Politica deren Gesetze zur eigenen Lebenssicherung anwenden zu müssen, so kann das Ergebnis des Textes nur zwiespältig sein. Ebenso wie sich Lazarillo in anrüchige Konstruktionen rettet, sind Beers Helden in Gefahr, einen unehrenhaften Frieden mit der Welt zu schließen. Die Komplizenschaft des Helden mit der betrügerischen Politik der Welt wird nur zum Teil durch die satirische Intention legitimiert, denn letztlich hat der Satiriker auch in seiner Person keine Lösung anzubieten, und so suchen Beers Erzähler und Protagonisten immer erneut den - zumeist scheiternden - Ausweg der Einsiedelei. Damit orientieren sie sich aber nicht nur an den für Deutschland wirkungsmächtigsten Beispielen der pikarischen Gattung, an Mateo Alemáns Guzman de Alfarache und seinem Nachfolger Simplicius Simplicissimus, sondern sie übernehmen auch deren implizite Erzählprobleme. Der Blaumantel ist ein charakteristisches Beispiel für diesen Zusammenhang; die folgende Analyse wird daher zunächst die ikonographische Dimension des Themas als Ausgangspunkt für die Darlegung der pikarischen Grundbestimmung des Helden nutzen. Dadurch wird erkennbar, daß Blaumantel und Narrenspital in der Konvergenz der Narrenfigur zusammen gehören. Der Ablehnung dissimulatorischer Insinuation steht im Blaumantel aber noch kein positives Programm entgegen, und so müßte der Pikaro als Machiavellist in dubiosen Lebensumständen enden, wenn nicht eine morali-

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sehe Bekehrung einsetzte. Die Wendung zur Einsiedelei rettet nun zwar den Erzähler und seinen Begleiter, aber die relative Voraussetzungslosigkeit der Metanoia führt zur Übernahme des pikarischen Erzählschemas, wie es Beer im Simplicissimus begegnet. Die rhetorische Funktionalisierung ist deutlich auf das Modell abgestellt, während die erzähltheoretische Integration durch die mangelnde Motivierung der Eremitage jenseits der Vorlage unbefriedigend bleibt. Beer folgt dabei seinen früheren Erzählungen, indem er Schwankepisoden und Moralisationen im Sinne von prodesse und delectare mischt, bis er am Ende des Textes eine kompakte Handlungssequenz am Grimmelshausenschen Beispiel aufbaut. Ziel dieser Übernahme ist die »Rettung« der gefährdeten Protagonisten durch die religiös-moralische Bekehrung und die anschließende Einsiedelei. Die Mechanik dieses Verfahrens ist das Thema des folgenden Abschnitts.

4.1. Bruder Blaumantel

(1700)

In seiner verdienstvollen Neuausgabe des Bruder Blaumantel1 hat Manfred Kremer zwar auf die Bedeutung des eigentümlichen Namens hingewiesen,2 ohne jedoch auf die ausgeprägte Tradition der Gestalt in der Kulturgeschichte der frühen Neuzeit einzugehen. Demnach bedeutet »Blaumantel« so viel wie ein Betrüger; jemandem den blauen Mantel umhängen, heißt, ihm etwas vormachen. Der Begriff umfaßt dabei anscheinend auch die Bedeutung eines Opportunisten und Schmeichlers, wie er in Beers Text begegnet. Das Motiv des blauen Mantels ist in der Kunstgeschichte der frühen Neuzeit weit verbreitet, es diente lange als Titel für eines der bekanntesten Gemälde Pieter Breugels d.Ä., die »Niederländischen Sprichwörter« (1559).3 Im Zen-

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[Johann Beer] Der Kurtzweilige Bruder BLAU-MANTEL/ Welcher Umständlich erzehlet/ wie er in dieser Welt sein Stück Brod suchen und sich mit Sorg und Kummer unter allerley Leuten habe hinbringen müssen. Allen blauen Mänteln zum Erkentniß ihrer selbst und zum fernem Nachsinnen beschrieben [...] Im Jahr 1700 [o. O.]. Hg. u. eingeleitet von Manfred K. Kremer. Bern, Frankfurt a.M. [u.a.] 1979 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts, 29). Diese Ausgabe wird mit der Sigle Β zitiert. Kremers Einleitung und seine kurze Notiz (Johann Beers Bruder Blaumantel. In: Neophilologus 51 [1967], S. 392-395) sind bislang die einzigen Arbeiten zu dem Roman. »Ein >Blaumantel< ist ein Leutebetrüger, der seinen Mantel nach dem Winde dreht. Der Ausdruck wird von Beer offensichtlich sehr großzügig verwendet, da der Held des Romans natürlich nicht so recht in die Definition paßt« (Kremer [1979] 20*f.). Vgl. a. S. 40*. 1558 entstehen die »Zwölf Niederländischen Sprichwörter« (Museum Mayer van den Bergh, Antwerpen) und 1559 die »Niederländischen Sprichwörter« (Gemäldegalerie, Berlin). Zu Breugel siehe Elke Schutt-Kehm (Pieter Bruegels d. Ä. »Kampf des Karnevals gegen die Fasten« als Quelle volkskundlicher Forschung. Frankfurt a.M., Bern 1983 [Artes populares, 7]) und die dort angegebene Literatur.

239 trum dieses Bildes, das in seiner vielfigurigen Form eine große Anzahl von Sprichwörtern beim Wort nimmt und abbildet, findet sich die Darstellung einer jungen Frau mit tief ausgeschnittenem Dekolleté, die ihrem Mann einen blauen Mantel weit bis über den Kopf hängt. Die Implikationen sind offenkundig: Die deutlich buhlerische Frau täuscht ihrem Mann etwas vor, so daß ihr unmoralisches Handeln unbemerkt bleibt. Es handelt sich aber in diesem Fall nicht um eine beliebige Täuschung, sondern darum, dem Betrogenen nicht nur die Erkenntnis des wahren Sachverhalts zu erschweren, sondern den Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen zu lassen: Das Mittel dazu ist die Insinuation. In engem Zusammenhang mit den »Niederländischen Sprichwörtern« von 1559 stehen zwei weitere Bilder des Malers, die später für die Interpretation des Narrenspitals herangezogen werden: »Der Kampf des Karnevals gegen die Fasten« (1559) und die »Kinderspiele« (1560). Das Motiv des blauen Mantels steht auf all diesen Bildern in thematischem Bezug zu dem des »blauen Schiffs«, das als »Narrenschiff« die Motiveinheit mit dem Narrenthema etabliert, 4 wie sie dann für Beers Narrenspital konstitutiv wird. Der Blaumantel muß daher als Pendant zum Narrenspital gelesen werden, quasi als Vorstufe und Skizze, wie ja bereits der Jucundus wesentliche Züge der späteren Erzählung in sich trägt. Anders jedoch als im Jucundus ist die Narrenidee im pikarischen Gewand der gemeinsame Bezugspunkt von Blaumantel und Narrenspital. Es lassen sich motivische Anklänge allerdings an fast alle Texte der frühen achtziger Jahre feststellen, ohne daß sie jedoch so deutlich wären wie die zum Narrenspital.5 Die satirisch-politischen Romane der Jahre 1679-1685 entwickeln aus der ihnen gemeinsamen misogynen Themenstellung ein überaus bedeutsames Element, das sich als Antagonismus zu den sich entwickelnden LebenslaufErzählungen (Welt-Kucker; Corylo, Jucundus) erweist: das Anti-Erotische als

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Dazu Schutt-Kehm (1983) 137ff. und Siegfried Wagner: Der Kampf des Fastens gegen die Fastnacht. Zur Geschichte der Mäßigung. München 1986 (Kulturgeschichtliche Forschungen, 5). Dies könnte dazu dienen, die Entstehungszeit des Verkehrten Staatsmannes und des Verliebten Österreichers zumindest grob zu bestimmen: Die Nennung von »Monomotappa« im Staatsmann und im Blaumantel läßt eine Datierung um 1680 vermuten, wie auch Passagen im Österreicher die frühen achtziger Jahre nahelegen. Eine genaue Abfolge kann dabei sicher nie rekonstruiert werden, schon weil Beer allzu vieles parallel schreibt. Es geht bestenfalls darum, Anhaltspunkte für oder gegen die These der postumen Publikation zu finden. Ohne die Diskussion forcieren zu wollen, scheint es, als ob Beer kurz vor seinem Tode liegengebliebene Texte wohl doch selbst zur Publikation vorgesehen hat, wie Hardin anhand des Staatsmannes vermutet. Die Gründe für diesen Entschluß und alle näheren Umstände müssen allerdings bis auf weiteres im Dunkeln bleiben, obgleich vermutet werden kann, daß das fehlende Vorwort andeutet, daß der Text nicht mehr von Beer selbst bis zum Ende betreut wurde. Andererseits zeigen die formalen Nachlässigkeiten in manchen gedruckten Romanen, daß der Autor nicht allen Texten die gleiche Aufmerksamkeit widmete.

240 Voraussetzung der Satirebefähigung. Die Identifizierung der Frau und der geschlechtlichen Liebe mit der Leidenschaftsverfallenheit als zentrales Vergehen markiert den Satiriker als Anti-Erotiker, der dem Liebesverlangen nicht unterliegt und damit seine Freiheit und Befähigung zur Satire demonstriert. Noch der Verliebte Europäer erschöpft sich darin, diese Voraussetzung eines lieblosen Daseins auf komplizierte Weise zu schaffen, um satirisch urteilen zu können. Die Dürftigkeit jedoch dieser Konstruktion als Wertungshorizont fällt jenseits der misogynen Traktate sofort auf, wenn Erzähler und Handlung in ein Verhältnis gesetzt werden müssen. Bratenwender, Staatsmann und Europäer sind heterogene Versuche, eben dieses Problem der Integration von Diegesis und Mimesis, von »telling« und »showing«, formal und thematisch zu lösen. Der Held als scharfzüngiger Satiriker jenseits der Liebeshandlung präfiguriert jedoch nicht nur Thema und Handlungsdarstellung, sondern auch die »scoptische« Erzählart. Den satirisch urteilenden Helden aus der diegetischen, nicht-fiktionalen Diskursivität zu erlösen, macht dabei offenbar Schwierigkeiten, denn sobald die Figur des Erzählers in die Handlung eingeht, gerät sie in das Gravitationsfeld des Pikarischen. Mit dem traditionellen Pikaro jedoch weiß Beer wenig anzufangen, denn seine Erzähler sind als Satiriker fertig ausgebildet, sie gewinnen keine Erkenntnisse, die sie nicht schon virtuell hatten, und so ist das Erkenntnisprogramm des Bratenwenders auch recht bescheiden. Der Staatsmann erprobt die Umkehr des Satirikers in den negativen Helden bei gleichzeitiger Konstruktion eines moralisierenden Erzähler-Ich, das sich unbemerkt in einen auktorialen Erzähler wandelt, während der wahrhaft auktoriale Erzähler im Verliebten Europäer an dem plausiblen Entwurf des »verliebten« Helden als anti-erotischer Satiriker scheitert. Alle diese Erzählexperimente variieren jedoch erkennbar Erzählsituation und Figurenperspektive, so daß im Blaumantel die Erzählersituation von Corylo und Jucundus pikarisch gebündelt wird und mit politischen Motiven anstatt der Liebeshandlung versehen ist, während im Narrenspital endlich die Lösung gefunden wird: Der Ich-Erzähler rückt als Miterlebender an den Rand, ohne daß er seine wesentliche Rolle als Bewußtseinszentrum verliert, und berichtet über den Helden als Satiriker. Schon im Blaumantel aber vollzieht sich eine bedeutsame Wendung: Die Perspektive des urteilenden Satirikers wird zum Thema des Romans. Mit der Perspektivumkehrung des satirischen Blicks auf sich selbst etabliert Beer so den archimedischen Punkt, um die Implikationen der rein negativen, unsteuerbaren Satire erfolgreich zu funktionalisieren. In diesem Zusammenhang ist der Blaumantel Skizze und Entwurf, dessen Scheitern die Richtung der Lösung im Narrenspital bereits andeutet. Die Doppelung der Perspektive in den erzählenden Helden und seinen pikarischen Begleiter ist noch Erbteil des politischen Romans, von dem sich der Blaumantel durch die gesteigerte Aktivität der Protagonisten und die (pikarische) Imitation des Simplicissimus unterscheidet. Vor allem aber fällt die ausführliche Charakte-

241 risierung des Erzählers durch seinen Freund und Begleiter Pamphilius auf, der Blaumantel einen Traum auslegt, mit dem der Roman einsetzt. Zu Beginn der Erzählung befindet sich der Ich-Erzähler im Bett, seinen Rausch ausschlafend, als nacheinander zwei Boten eintreffen, um eine Nachricht abzugeben. Der Held erhebt sich schließlich mit der Absicht, sich durch einen Ausritt den benebelten Kopf frei zu machen, wobei er eine Reihe von Gegenständen verliert, was ihn in solche Wut versetzt, daß er droht, sein Pferd zu töten. Einige alte Frauen an der Straße mischen sich in die Angelegenheit ein, der Erzähler verspottet sie, und ein Wortwechsel entsteht, worauf der Erzähler grob wird und sich eine tätliche Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten entwickelt, während der Blaumantel aus seinem Traum erwacht. Als er seine Reise zu dem Schulfreund Pamphilius kurz darauf vollendet, um mit ihm das Gymnasium zu besuchen, wird er bereits erwartet. Es stellt sich heraus, daß Blaumantels Vater, ein Schneider, seinen Sohn zum Schein Pfarrer werden lassen will, »dannoch weil er sihet/ daß sich anitzo so viel seines Handwercks vor Edelleute ausgeben/ will er mich mit Gewalt auch zu einem Cavallir machen« (Β: 16).6 In der folgenden Traumauslegung, um die Blaumantel bittet, geht Pamphilius jedoch nur beiläufig auf den Traum ein, expliziert aber statt dessen beider Charakterisierung durch den »Wendemantel«: [I]n der Warheit hast du ihn nur deßwegen am Leibe hängen/ daß du ihn nach dem Winde wenden und dich in demselben/ wie ein Fuchs aus dem Loche herum sehen must. [...] also muß der jenige/ so in der Welt und absonderlich in hiesiger Stadt fortkommen will/ den Mantel in alle Figuren und Formen zu legen und zu verwandeln wissen. (Β: 19f.)7

Es handelt sich offenkundig um die Ratschläge »politischen« Verhaltens, wie sie unter anderem aus dem Bratenwender bekannt sind und von dem »verkehrten Staats=Mann« mit Erfolg praktiziert werden: Dieses Mantel schwingen ist mir viel besser bekommen als wann mir ein Bauer einen Bonus vesper gebotten. Ich konte mich dadurch bey denen/ derer Hülffe ich brauchte/ so herum Fuchsschwäntzen/ daß es fast unglaublich ist/ wie tapffer ich mich ans Bret geschwungen habe. [...] Ja Bruder/ den Mantel nach dem Wind hängen/ ist viel eine grössere Kunst/ als denen Flöhen die Zähne auszureissen/ man muß sich so scheinheilig anzustellen wissen/ wie man 8. gantzer Jahr in einem Cartheuser=Closter wäre verarrestirt gewesen. Denen jenigen/ welchen man am allerfeindesten ist/ muß man liebkosen und sie loben/ wie man immer kan. [...] dadurch machst du dir ein Ansehen in der Stadt/ und die Leute loben dich/ daß du so klug seyest/ und das honestum dem utili vorzuziehen gewohnet bist. (Β: 20ff.)

6

7

Blaumantel selbst steht dabei im Widerspruch zu seinem Vater: »Ich habe seinem wunderlichen Willen endlich nicht länger widerstehen können« (Β: 16). Diese Stelle deutet auf das figürliche Verständnis der Poesie oder der poetischen Erfindung als politisches Vorgehen des Blaumantels hin. So faszinierend diese Perspektive erscheint - und so angemessen für Beers Verfahren - , es ist ein eher moderner Nachgedanke, der in diesem Text nicht weiter belegbar ist.

242 Die Strategien der Insinuation sind dabei verschiedenster Art, sie reichen von der Vortäuschung der eigenen Tugendhaftigkeit über die Unterstützung der Vorlieben des Anderen bis zur offenen Panegyrik. Selbst der satirische Scopticus ist davon nicht ausgenommen: Darnach muß man auch sehen/ wie die Leute genaturalisirt seyn. Ist nun einer ein Scopticus so muß man ihme zu gefallen wider seinen eigenen Willen die Leute ärger als den lebendigen Teufel durch die Hächel ziehen/ und solle er gleich kein Haar am Barte übrig behalten, (ß: 21)

Der Hinweis auf die spöttische Satire, der darin verborgen ist, entfaltet sich allerdings erst im folgenden, wenn die dissimulatorische Handlungsanweisung durch Ironie ins Groteske gewendet wird. Pamphilius empfiehlt hier nicht einfach, sich durch passende Casualcarmina Wohlwollen zu verschaffen und dabei die unbequemen Laster der Gefeierten zu verdrängen, sondern rät zur ironischen Umwertung durch »kurtzweilige Invention«:8 [S]olcher gestalten kanst du dich sub larvata specie hinter diesem Vorhang trefflich im Hertzen ergetzen/ und hast heimlich zulachen genug/ wann du noch darzu mit einem Tranckgeld bedacht und angesehen wirst. (Β: 23)

Hilft es nicht, einen »Carniffelrichtigen Idioten« ein »Licht der Welt«, einen »Weg der Klugheit« und dergleichen zu nennen, so empfiehlt er groteske Wortspiele: »Ist er ein Irator, so heisse du ihn einen Orator. [...] Ist er sonsten oder die Seinen voll lose Vieh/ so sage/ er seye wohl erfahren in der Philosophiae« (B: 24). Diese eher spaßhafte Anmerkung hat aber dennoch einen nicht unbedeutenden Hintergrund, denn sie beschreibt die Funktion der Groteske im satirisch-erzählerischen Verfahren selbst, die dort die Anmaßung der Ehrgeizigen und Hoffärtigen im Medium des Komischen und Absurden bloßstellt. Auf der Handlungsebene des Romans erhält der Erzähler natürlich den ganz »realistischen« Rat zu insinuieren: [D]u weist wol mein lieber Bruder Blaumantel/ wie sehr die Welt beschäfftiget ist sich groß und herrlich zu machen. [...] Darum/ so must du auch in diesem Stucke/ wie eine Spitz=Mauß um dich herum gucken und sehen/ wo du genug Titul erfinden mögest dich dadurch bey denen Hanß Würsten beliebt zu machen. (Β: 27)

Hier folgen zunächst Beispiele absonderlicher Berufsbezeichnungen, die den Trägern schmeicheln sollen, aber in ihrer ironischen Form deren Anmaßung entlarven.9 Auf diese wiederum unernste Sprachspielerei folgt dann allerdings die zentrale politische Maxime: 8

9

»[W]ann der Bräutigam ein rothes Gesicht hat/ daß man das Kupffer herab schaben/ und gantze Hüt voll davon tragen möchte/ so must du schreiben. Wer wolte dir nicht werden hold/ dein Antlitz scheint/ wie klares Gold/ die Nasenlöcher sind so klein/ kanst nur mit zweyen Fingern nein« (Β: 23). »Die Schreiber heisse Secretarios, die Rentschreiber/ Hochherrliche/ Hochgeehrte/ und Weltbekander Feder Directores. Die Musicanten must du nennen: Aller ersinnlichen Ergötzlichkeit erhebens würdiger Erfinder. Die Schneider/ durchdringende Arbeiter« (B: 27f.).

243 Deß must dich auch beyleibe hüten/ daß du wider die im Schwang gehende Laster weder ein Wörtlein redest/ noch schreibest. Wann du einen Hurer oder Ehebrecher sihest/ so mustu beyleib und Leben kein sauer Gesicht gegen ihme machen/ sondern den Hut höflich abziehen/ dich bücken und neigen auch freundlich darzu lächeln/ gleich als woltestu dich ihm zur ewigen Observanz befehlen. Must auch nicht dulden/ daß man ihn einen Hurer oder Ehebrecher nenne/ sondern must ihn einen Fortpflantzer der Menschlichen Freundschafft und Einigkeit heissen. (Β: 28)

Das deutlich formulierte Verbot der direkten Kritik und die lebensweltlichrealistische Empfehlung zur Insinuation und Dis/simulation lösen sich bei dem Erzähler aber offenbar immer wieder in das satirische Verfahren selbst auf, das grundlegend als sprachliche Ironie und Groteske formuliert wird. Der Ehrgeiz aller gesellschaftlichen Schichten nach Standeserhöhung äußert sich angesichts mangelnder Möglichkeiten immer stärker in der Ausdifferenzierung des sozialen Decorums, wobei die adlige Elite distanzschaffende Verhaltensregeln und Gebräuche einführt, die in immer kürzer werdenden Abständen als Modeerscheinung in die niedrigeren Stände absinken und an Kontur verlieren. 10 Die Dynamik der angestrebten Angleichung von unten nach oben produziert aber so die Notwendigkeit immer neuer Decorumsregeln, die sich auch als Aufblähung der Amts- und Herrschaftstitel bemerkbar machen. Beers Satire zielt nun im wesentlichen darauf, das Mißverhältnis von Sein und Schein dieser »Ehr- und Titelsucht« zu entlarven und hinter der Anmaßung des Titels die »Wahrheit« kenntlich zu machen. Die Umsetzung dieses satirischen Programms ist primär sprachlicher Natur und richtet sich demnach auf die Namen und Begriffe, die bei Beers direkter Satire immer die Handlungen dominieren, wie im klassischen Fall der politischen Allegorie; der Staatsmann und der Verliebte Europäer dokumentieren ausgiebig diese Präponderanz des Begrifflichen. Dieser sprachlich-satirische Impuls bewegt sich aber nun als poetologische Selbstreflexion des literarischen Mediums auf einer kategorial anderen Ebene als die politisch-machiavellistischen Ratschläge zur schmeichelnden Dis/simulation, die ja zum Beispiel auch im Bratenwender begegnen. Dort folgte aus der allegorischen Erkenntnis der »politischen« Weltverfassung sowohl deren satirische Kritik als auch der Ratschlag der persönlichen Bereicherung, während im Blaumantel Satire und Kritik in ihrem Verhältnis ausdifferenziert werden. Der Erzähler ist selbst Objekt der Ehrbegierde seines Vaters und erkennt seine Lage, die nach Insinuation verlangt, wie Pamphilius erläutert. Die Notwendigkeit politisch-dissimulatorischen Verhaltens wird dabei allgemein vorausgesetzt, und der Held und sein Begleiter verstehen sich in diesem Sinne

10

Dazu siehe die ausführliche Darstellung bei Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a.M., Bern 31976/77 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 158/159).

244 als Meister-Manipulateure, weil sie die Regeln der Politik beherrschen. Für den Erzähler als Pikaro ergibt sich jedoch aus dieser Kenntnis ein Doppelstandard: Zum einen ist er als Handelnder ein Politicus, wenn er in der Welt überleben will, zum anderen ist er zur Kritik befähigt. Da sich die Kritik auf der Handlungsebene nie direkt äußern darf, wird sie in das sprachliche Medium der satirischen Darstellung transformiert. Dieses Verfahren ist typisch für Beer, bei dem die Handlung oft aus dem begrifflich-sprachlichen Befund erwächst oder erzählerische Seitenlinien in dieser Richtung entwickelt werden. Jenseits dieses dekuvrierenden Sprachwitzes jedoch enthüllt sich das negative Potential kritischer Welterkenntnis, der ein Medium der Äußerung jenseits der sprachlichen Satire verweigert ist und die sich in den Handlungsfiguren der Gewalt des Decorums unterworfen sieht. Die brutale materielle Not zwingt noch Lazarillo das Einverständnis mit den Weltgesetzen ab, während Beers Erzähler, sofern sie aus der biographischen Klammer des Corylo und Jucundus herausfallen, durch die Erfahrung der Ohnmacht gekennzeichnet sind. Ihr Mißvergnügen an der Welt ist zudem um so stärker, je weniger sie ein positives Ideal als Maßstab und Korrektiv ihrer Kritik besitzen; so richten sich Beers schärfste Angriffe auf die »Hurerei« und die Herrschaft der Leidenschaften, die allerdings das einzige wirklich materielle Objekt der Satire bleiben: Alle anderen satirischen Kommentare lassen sich auf das Mißverhältnis von Sein und Schein, von Fähigkeit und Anmaßung zurückführen. Dieser Gegensatz ist jedoch literarisch gesehen ein rein formaler, und seine satirische Behandlung erschöpft sich im Aufweis der mangelnden Adäquanz von Begriff und Sache. Sind so Insinuation und Dis/simulation die Verfahren der Politik, ist die satirische Demaskierung das der Kritik. Damit erschöpft sich aber bei Beer der kritische Impuls zu oft im Sprachspiel der Bezeichnungen, wie die folgende närrisch-groteske Rektoratsrede und ihre Hermeneutik des Wortes »Rector«11 belegt. Sobald also Beers Erzählerhelden nicht selbst zum kritischen Objekt der Erzählung werden und so außerhalb des (auto-) biographischen Rahmens erzählen, nehmen sie die prekäre Position von Politicus und Kritiker gleichzeitig ein, und die Disproportionalität ihrer kritischen Fähigkeiten und der Möglichkeiten zu deren Verwirklichung produziert die Form der Satire, die in diesem Fall eine ganz besondere Qualität annimmt, indem sie ihre Dynamik aus der Negativität des illusionslosen politischen Blicks gewinnt. Die Überzeugungskraft der Darstellung der schlechten Endlichkeit der Welt verdankt sich daher dem unverdeckten Zynismus des Politicus: Sihe du tausend Bruder/ was dieses für eine haubtsächliche Invention ist? gelt ich bin ein wackerer Kerl? Ja/ sagte ich mein lieber Bruder Pamphili, du bist nicht allein ein wackerer Kerl/ sondern noch darzu ein ausgestochener Schelm. Da ligt

11

Β: 33-41.

245 nichts dran/ antwortete er/ Schelm hin/ Schelm her/ es schmeckt mirs Brod dennoch wohl und werde deßwegen weder grösser noch kleiner. (Β: 30)12 Tonfall und Aussage dieser Passage sind dabei schon mehrfach begegnet: im Jungfer-Hobel

und im Feuermäuer-Kehrer.13

die diesem Erzählton Körper verleihen,

14

Im Jucundus erscheinen Figuren, und im Narrenspital

erscheint der

faule Lorentz als dessen markantester Vertreter: Hannß Hannß ich bin ein brafer Kerl/ (wie) sonst kein Mensch in der Welt/ ich weiß/ was die rechte Gemüths Ruhe ist/ warumb solle ich mir meinen Kopff mit vielen Sorgen zerreissen/ ich habe zu Essen und Trincken genug/ schere mich nicht viel nach der Bernheuterischen Ehre. [...] Narrenpossen/ was scher ich mich darnach was die Leute darzu sagen. [...] sie mögen sagen was sie wollen/ Narr/ ich lache wacker darzu/ und je schlimmer man mir nachredet/ je lustiger springe ich herumb. (Ν: 168, 175) Der Lorentz-Ton ist dabei von uneingestandener Apologetik, während sich Pamphilius, anders als Lorentz, zunächst nur seiner politisch-satirischen Fähigkeiten rühmt: Bruder/ sagte er weiter/ ich bin ein Kerl von extremitet, von invention, von speculation, und von narration. Gelt ich kans? Ja/ sagte ich/ du kanst es wacker und stattlich. (B: 64) Auch Lorentz ist von seiner Überzeugungskraft überzeugt: »Gelt ich kan die Leuthe in Verwunderung stürtzen/ daß sie weder fressen noch sauffen können« (Ν: 181); in beiden Fällen aber bezieht sich das Selbstlob auf die groteske Dimension ihrer satirischen Äußerungen, die bei Lorentz auf seine gesamte Personencharakteristik zielt, 15 während Pamphilius wie auch die früheren Erzähler auf ihre narrativen Erfolge verweisen. Die ironisch-groteske Wendung der Insinuation, die der Erzähler vorschlägt, ist in diesem Fall nur ein unernst gemeintes Beispiel grundsätzlich umwertender und grotesker Inventionen, wie sie aus den frühesten Schriften bekannt sind. D i e närrische Rektoratsrede dient in diesem Zusammenhang nur noch als negatives Beispiel, 16 wie auch die eingebildeten Torheiten des »Doctors ohne 12

13 14 15

16

»Invention« bezieht sich hier wiederum auf das Doppelte von satirischer Posse und literarischem Verfahren und markiert so die Spannung von poetischem und politischem Vorgehen. Vgl. Kapitel 3.3.1. und 3.3.3. Vgl. Kapitel 3.2.2. Die oben zitierte »Verwunderung« bezieht sich auf Lorentz' Auftreten und gilt seiner ganzen Erscheinung und seinem bekannten, eigentümlichen Charakter. »Die Oration war nicht alleine lächerlich genug/ sondern auch voll Narrheit. Mich wundert/ daß die Stadt so viel von einem solchen Menschen hält/ der ihr vielmehr Spott/ als Ehre erwürbet. [...] gleichwol ist dieses seine höchste Thorheit/ daß er den Stoltz/ welchen er ohne Ursach bey sich selbsten häget/ nicht bergen kan. Was ist es nütze/ daß man in solchen Sachen eine Invention sehen will lassen/ die auch zum Nachtheil gedeyen kan« (Β: 42f.). Wiederum zeigt sich die schillernde Vieldeutigkeit des Inventionsbegriffs, der hier offenbar die mißglückte rhetorische Invention meint, aber in Bezug zu dem auffallend oft benutzten Begriff in den anderen Kontexten steht.

246 Bart«, 17 der im Narrenspital bereits zu dessen Insassen gehört. Das zitierte Selbstlob aber bezieht sich auf die Kongruenz von politischer Ranküne und überzeugend erzählter Begebenheit; die insinuatorische Dis/simulation erweist sich als überzeugendes erzählerisches Verfahren. Dies gilt hier jedoch im wesentlichen nur für ein Gebiet: die Umsetzung der Kritik in Satire durch die pikarische Groteske. Der satirische Erzähler als Pikaro kennt und erkennt die Welt und ihre betrügerischen Gesetze, und bei seinem handelnden Eintritt in die Welt muß er sich als Politicus bewähren; allerdings darf er sein Wissen nie - wie der Secretarius im Staatsmann - zum Machterwerb aktiv nutzen. Der Pikaro als Machiavellist nutzt seine Weltkenntnis bestenfalls, um seine Existenz in einer gefährlichen und feindlichen Umwelt zu sichern, wobei auffällig ist, daß das »politische« Verhalten der Protagonisten zumeist auf ein relativ stabiles Muster beschränkt bleibt: Sie verschweigen ihre kritischen Beobachtungen und werden zur Schmeichelei gezwungen oder benutzen sie, wie Pamphilius und Blaumantel, aus dem Gefühl des Ressentiments. Ihre soziale Rolle als »verlaufene Schüler und Studenten«, wie später auch die des entwichenen Mönches,18 ist bereits im Staatsmann mit übertriebenem Stolz und gefährlichem Ehrgeiz negativ konnotiert, wie auch in der Figur des »Doctors ohne Bart«. Beer wählt also eine Erzählerfigur, die in der traditionellen Charakteristik als stolzer und ehrgeiziger Schmeichler ohne wirkliche Qualitäten bekannt ist, reichert sie mit kritischer (Selbst-)Erkenntnis an und stellt sie in einen pikarischen Handlungszusammenhang. Der Held gerät daher auch schnell in materielles Elend und muß sich mit den dürftigsten Mitteln behelfen, 19 aber er entwickelt dabei einen ungewöhnlichen Charakterzug, der ihn mit den Erzählern aus der Dilogie und dem Narrenspital verbindet: [E)s ist manchem rechtschaffnen Kerl nicht anders/ ja wol schlimmer gegangen als es dir gehet/ nur fort nur fort. Hast du nicht viel Geld/ so hastu doch auch keine grosse Sorgen. [...] aber sie wüsten nicht/ daß ich unter meinen zerrissenen Kleidern und schlechten Aufzug dennoch ein lustiges Hertz im Leibe hatte/ und gut genug wäre/ manchen weithosichten Großbauch lustig zu machen. (Β: 56, 58) 20

17 18 19

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Β: 47-49. Β: 102f. »Ich hatte etwan anderthalb Thaler bey mir/ und dieses war all meine Zehrung die ich biß nach Cölln zu gemessen hatte. Unterweilen bettelte ich auf einem Kloster/ zuweilen auch bey reichen Edelleuten und Bürgern/ aber es satzte vielmahls nicht allein einen schlechten Recompens sondern noch vil schlimme Worte darzu. Einer hiesse mich einen verloffenen Schlingel/ der andere einen desperaten Vaganten/ der dritte einen lausigen Schüler/ der vierdte einen spitznasichten Fuchsen/ der fünffte meinte gar/ ich hätte meinen Mantel von der Windmühle gestohlen« (B: 57£). »Diese und dergleichen Worte redete ich mir selbst zum Trost/ weil ich ungewohnet war grossen und närrischen Speculationen nachzuhängen« (B: 57).

247 Dieses lustige Gemüt, das auch Beer für sich reklamiert, unterscheidet ihn von seinem Begleiter Pamphilius, der sich der Figur des Lorentz annähert, während Blaumantel Ähnlichkeit mit dem Erzähler Hannß hat. Blaumantels Anteil an den späteren Erzählerfiguren wird dabei an einem charakteristischen Detail deutlich, denn er besitzt offenbar nicht den notwendigen antierotischen Impuls, der als Voraussetzung des satirischen Urteils gelten kann. Anläßlich einer zufälligen Begegnung verliebt sich der Erzähler leidenschaftlich: Damit giengen wir wider davon und ich hatte mich trefflich in die Frau verliebt [...]. Dazumal giengen meine Gedancken immer in dem Zirckul herum/ wie eine neu eingerichte Wind=Mühle/ also und dergestalten/ daß ich vor grosser Liebe weder essen noch schlaffen konte. (S: 51) 21

Blaumantel verbirgt seine Liebespassion allerdings vor Pamphilius, »dann er hielte nicht allein nichts vom Frauenzimmer/ sondern hiesse sie noch zur grössern Verachtung/ Lochstelzen/ Fickmühlen/ Peltz=Fincken und dergleichen« (Β: 52). Damit bestätigt sich die Rolle des satirischen Kritikers für Pamphilius, während Blaumantel aus seiner Charakteristik als insinuierender Betrüger entlassen wird. Der ihm gegebene Name erweist sich so als Irreführung, worauf die Selbsterkenntnis am Romanbeginn und die kritischen Äußerungen gegenüber Pamphilius schon vorbereitet haben; Blaumantel ist durch seinen Namen aber insofern gekennzeichnet, als dieser die äußeren Bestimmungen definiert, denen der Erzähler unterliegt: Er ist als Pikaro in einer feindlichen Welt moralisch gefährdet, gewinnt aber gerade durch diese Gefährdung, die perspektivische Tiefe erst durch den naiv-optimistischen Zug des Helden erhält, an Charakter. So bleibt er auch keusch, als er die Gelegenheit zum erotischen Abenteuer bekommt: Ich kan nicht sagen/ wie sehr mich Pamphilius angefrischet/ die Frau zubesuchen/ aber ich gäbe vor/ daß ich mein Gewissen um eine so liederliche Lumpensach nicht verletzen noch mir selbsten eine solche Schand=That auf den Nacken zu laden gesonnen wäre. (Β: 81)

Als der Erzähler und sein Begleiter sich nach einjähriger Trennung wieder begegnen, entwirft Beer für ihr Treffen eine der überzeugendsten Szenerien in seinem ganzen Werk: Die Protagonisten sitzen in einem Kirschbaum, den

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»[Ich] hätte ihr auch ohne allen Zweiffei gerne umsonst aufgewartet/ so sie mich nur um sich hätte leiden wollen/ dann sie war schön und holdseelig und von trefflich zarter Haut. Ja/ ich hätte all meinen Studenten=Sack gern darauf spendiret/ so ich sie nur einmal hätte küssen dörffen/ aber in Ermanglung dessen überfielen mich tausend Phantasien/ mit welchen die jenigen pflegen gequälet zu werden/ die ohne Hoffnung zu lieben gezwungen sind« (Β: 51). Hier deutet sich ein - unausgeführtes - Motiv an, das im Europäer anklingt und im Österreicher und Narrenspital ausgeführt ist: der Wahnsinn aus unerfüllbarer Liebe. In der Dilogie erscheint das Motiv in die verzweifelte Leidenschaftlichkeit transformiert, während im Österreicher beide Varianten auftreten (Gottfried und Pardophir).

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sie plündern, während sie sich ihre Erlebnisse berichten.22 Aus der erhöhten Beobachterposition erzählt Pamphilius schließlich die Geschichte eines Italieners und seiner öffentlichen Geliebten, die immer wieder von auftretenden Passanten unterbrochen wird. Die im Grunde triviale Geschichte einer unzüchtigen Liebe gewinnt jedoch durch zwei Momente an Bedeutung: zum einen durch die wiederholten grotesken Unterbrechungen und zum anderen durch die daran gemachte Beobachtung des Pamphilius: »das ist die äusserste Kunst der Oratorie, nemlich aculeum in animis auditorium relinquere« (Β: 64). Die Kunst des überzeugenden Erzählens beweist sich gerade an den und durch die grotesken Unterbrechungen, deren letzte das Thema der »Hurerei« fortführt, denn ein ehebrecherisches Paar wird von Stadtbütteln verhaftet und abgeführt, 23 und auch die folgende Schwankhandlung um den eifersüchtigen Ehemann gehört in diesen thematischen Zusammenhang. Damit ist aber auch der zweite Teil des Romans beendet, der, auf den ersten, umfangreichen Teil der selbstdefinitorischen Traumauslegung folgend, den Pikaro in die Welt einführt. Es ist dabei weniger die Lebenserfahrung des Pamphilius, die den Autor interessiert,24 sondern dessen scharfe Urteilskraft und satirische Bewertung im Gespräch mit dem Erzähler.25 Die Szenerie des vertrauten Gesprächs im Kirschbaum erinnert dabei plastisch an die nicht weniger kunstvollen Bettgespräche zwischen Lorentz und Hannß im Narrenspital. Während dort jedoch der »faule Lorentz« als Charakter und kritischer Satiriker den Text völlig dominiert, ist die Parallelfigur des Pamphilius im Blaumantel nur sekundär, und der Erzähler muß nach der neuerlichen Trennung von seinem Begleiter wieder seine pikarische Existenz aufnehmen, die ihn in die Gewalt von Marodeuren führt und ihn zum Waffendienst preßt. Hier sind nun die Analogien zu Grimmelshausen überdeutlich: weniger in den einzelnen Details - wie ja schon Pamphilius Züge von Herzbruder und Olivier gleichzeitig trägt - als in der Großstruktur der sündhaften Verbrecherexistenz und der aus dem Selbstbedenken erwachsenen Reue und Buße. Offensichtlich bemüht Beer dieses Muster der Erweckung des Sündenbewußtseins, weil die Konstruktion des Pikaro ohne Liebeshandlung keinen anderen Anhaltspunkt zu bieten scheint. Die endlos fortgesetzten Beobachtungen der »Hurerei« gäben ja wirklich kaum eine brauchbare 22 23 24

25

B: 58-72. Vgl. Β: 71 f. »Ja/ spräche er/ nachdem er sich auf seinen Mantel nidergelassen/ ich weiß nicht was daraus werden wird. Ich studire heut/ ich studire morgen/ ich studire das gantze Jahr/ und wann ich mich umsehe/ so bin ich statt des Doctors ein Narr« (Β: 59). »Sihst du/ sagte ich zu ihm/ du hast dich versündiget/ daß du der ehrlichen Jungfrau so übel nachredest/ und ich sehe dirs an der Nase an/ daß du ein rechter Leutehächler bist. Ja/ sagte er weiter/ schämen sich die Huren nicht/ solche Schandthaten zuverüben/ warum schämen sie sich/ wann man davon sagt? grob zuvor/ grob darnach. Der ist ein Narr/ der Dorn säet/ in Hoffnung schöne Rosen davon einzuschneiden« (B: 65f.).

249 Motivation zur Bekehrung des Helden, der sich selbst keusch verhält. Indem sich die Sünde vom Erotischen dissoziiert, gewinnt der Held einen zugänglicheren Weg zur Metanoia, die als Bezugspunkt vom Autor primär gesetzt wird. Beer kennt im wesentlichen nur zwei große Romanmuster: die (autobiographische Handlung mit Liebesthema, Adelsidylle und sekundären Viten als Strukturelementen und die themenbezogene Satire. Im letzteren Bereich geht es nicht primär um die dargestellte Metanoia des Helden, sondern um die möglichst drastische Abwehr sozialen Fehlverhaltens beim Leser, so daß der Erzähler als Satiriker durch seinen anti-erotischen Impuls charakterisiert ist. Es zeigt sich also, daß die auf den Erzähler (nicht den Helden) bezogene Liebeshandlung (nicht Liebesthema) eine bedeutende Strukturposition ausmacht; in den Lebenslauf-Romanen (Welt-Kucker; Corylo, Jucundus, Verliebter Österreicher, aber tendenziell auch im Blaumantel und im Narrenspital) markiert sie den affektischen Bezugspunkt der allgemein ausgerichteten Metanoia, während sie im satirischen Roman reines Negativexempel ist. Zwischen diese beiden Bereiche tritt nun das Muster des Lebenslauf-Romans ohne Liebeshandlung im Blaumantel und im Narrenspital; oder besser gesagt: Das Lebenslaufschema verbindet sich mit dem anti-erotischen Protagonisten wie vordem in anderer Erzählperspektive im Verliebten Europäer. Der Blaumantel zeigt dabei in statu nascendi eben die Probleme, die im Narrenspital gelöst werden, denn es geht dem Autor um die Bekehrung zu einem besseren Leben aus der spezifischen Erfahrung der Sündenexistenz des satirischen und anti-erotischen Politicus. Die Faszination von Protagonisten wie Kugelmann oder dem Küchenmeister im Bratenwender sowie des betrügerischen Adligen und der entlaufenen Tochter im Jucundus entsteht aus der Gleichzeitigkeit von kritischer Erkenntnis und Satire einerseits und sündhafter Komplizität andererseits, aus dem untrennbaren In- und Miteinander von Erkenntnis und Vollzug der Sünde. So wird das Sündenbewußtsein zur Voraussetzung der Kritik: Der Satiriker muß ein »gran simulatore e dissimulatore« (Machiavelli) sein, um die unmoralischen Politici erkennen zu können - aber er wird sich nicht davon lösen können, ohne dabei selbst zum Sünder zu werden. Die gefährdete Existenz des Menschen als Sünder ist ja das Thema aller Lebenslauf-Romane, die sich immer wieder auf die Leidenschaftsverfallenheit im Liebesthema beziehen; demgegenüber profiliert der Blaumantel dieses Muster jenseits des erotischen Komplexes. Es handelt sich somit um den Versuch, die Metanoia des Erzählers als Satiriker ohne Bezug auf das Liebesthema zu realisieren. Dabei dürften vornehmlich zwei Gründe ausschlaggebend gewesen sein: zum einen der Wunsch, den rein urteilenden, anti-erotischen Satiriker zum handelnden Subjekt zu machen und zum anderen der Faszination einer komplexen Figurencharakteristik nachzugehen. Beide Aufgaben sind im Blaumantel nur unzureichend gelöst, denn Beer gelingt es nicht, die Figur überzeugend zu entwerfen. Der Titel des Romans,

250 wie ja auch die gesamte Anfangssequenz, 26 indiziert eben eine solche komplexe Figuration aus satirischer Kritikfähigkeit und schmeichelnder Dissimulation, doch Beer entgleitet die Geschichte schnell, die sich unter der Hand 2 7 verwandelt. Der Held kann für sich überhaupt keinen überzeugenden Anspruch darauf machen, ein »Blaumantel« zu sein; die ganze Dimension der moralisch-kritischen Ambivalenz verlagert sich auf Pamphilius, der so als Figur zu stark wird und weitgehend aus der Erzählhandlung entfernt werden muß, bis er zum Schluß recht unorganisch wiederkehren kann. Seine Reden und Erzählungen - etwa in der Kirschbaumepisode - sind denn auch das Lebendigste am ganzen Text, mit einer Ausnahme: der Traumerzählung des Beginns. Hier findet sich eine Anzahl von Motiven, deren Fortführung später verhindert wird und die einen Blick auf die mögliche Konstitution des Helden erlauben, denn die Traumerzählung ist nichts weniger als ein Traum, sondern ein aufgegebener Erzählanfang, den der Autor in den Text integriert. Der Traumrahmen wird gewöhnlich gewählt, um irreale - oftmals allegorische - Begebenheiten und Vorauswissen zu erklären, wogegen die Anfangserzählung im Blaumantel völlig ohne dergleichen auskommt und sogar in gewissem Sinne einen erhöhten »Realismus« bietet, so daß man fast von einer Parodie der Traumfiktion als literarischem Mittel sprechen könnte. Der Anfang des Textes variiert deutlich die medias-in-res-Techmk des Staatsmannes, wie sie sich auch im Österreicher und in der Dilogie findet: Ich erwachte gleich dazumal aus dem Schlaffe/ als die Magd zum Mittags=Mahl ruffte. Pfui/ sagte meine Frau zu mir/ schämt er sich nicht so lange in dem Bette zu ligen/ der Thiirmer und seine Gesellen blasen schon Eilffe und er schiäffet noch? Ha/ gab ich ihr zu Antwort/ lasset mir die Kerl wo anders hinblasen/ sie müssen lange contrapunctiren/ ehe ich ihnen zu Ehren einen Schenckel in die Höhe hebe. (B: 3)

Die Ähnlichkeit der Szene und des Erzählten mit dem Narrenspital ist unverkennbar; der Held, der seinen Rausch ausschlafen will, ist ein Vertreter diesseitigen, materiellen Lebensgenusses, wie der kurze qualifizierende Kommentar des erzählten Ich auch bestätigt. 28 Dabei fallen zwei Beobachtungen sofort ins Auge: Zum einen ist der Erzähler verheiratet, und zum anderen erzählt er selbst. Die Heirat steht bei Beer immer als Abschluß eines Lebenslauf-Romans oder eines Teils davon und markiert die gewonnene Sicherheit einer Lebensstation in der sozialen Neutralisierung der (erotischen) Leidenschaften. 29 Der Status des Erzählers als Ehemann deutet so darauf hin, daß

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Bis B: 43. Β: 43-58. »[K]lopffte jemand an der Kammer/ darinnen ich meine Gauckeleyen vorhatte« (B: 3). Eine Ausnahme bildet die Dilogie, die eine zweite, katastrophale Ehe als neuerliche Affektverfallenheit einführt und dabei dem Simplicissimus folgt, der seinerseits Mateo Alemáns Guzman kopiert.

251 das Liebesthema keine Bedeutung für die Handlung hat, was durch die Charakterisierung der Frau, die in ähnlicher Position wie die scheltenden Mägde im Narrenspital und in der Dilogie auftritt, unterstützt wird.30 Die Erzählhaltung des autobiographischen Ich-Erzählers ist dabei insofern überraschend, als damit das Problem eines kategorial unzuverlässigen Erzähltyps31 noch gesteigert wird; das Problem läßt sich durch die Übertragung der Erzählperspektive auf das Narrenspital veranschaulichen: Welche Wertungsverschiebungen hätte es - vor allem für die zeitgenössische Rezeption - gegeben, wäre Lorentz ein autobiographischer Ich-Erzähler, so daß die Außenperspektive und die wertenden Kommentare fortfielen? Dies ist nicht nur im Sinne der moralischen Bewertung zu verstehen, sondern auch in umgekehrter Perspektive auf den Blaumantel, dessen Ich-Erzähler die Aufgabe der Bewertung im erzählenden Ich übernehmen muß und so die Möglichkeit einer vertieften, aber einseitigen Personencharakteristik wie im Falle von Lorentz vergibt, denn das Konstrukt eines das erzählte Ich kommentierenden erzählenden Ich ist immer auf eine Belehrung und folgende Metanoia angelegt, wie der Blaumantel belegt. Die gewählte Erzählperspektive erschwert es so, das vorgegebene Ziel einer komplexen Figurencharakteristik zu erreichen, indem sie die Aussageweisen eines kontrovers angelegten Helden dominiert und zur Metanoia drängt, um die Trennung von erzählendem und erzähltem Ich als notwendige Funktion einer kommentierenden Instanz zu ermöglichen. Dennoch lassen sich eindeutig Motive des Lorentz-Typs feststellen, wie der schon zitierte Grobianismus, der sich noch wiederholt und steigert und von grotesken Elementen begleitet wird. Einem Boten, der seine Nachricht vergessen hat,32 folgt ein zweiter, der stottert, wobei erneut ein Grobianismus am Ende steht, wenn er statt »Collegium« »Loch leckt mich drum« versteht.33 Auch das wenig originelle Motiv des plötzlichen Erschrekkens und jähen Sturzes die Treppe hinab trägt groteske Züge. Doch erst als der Erzähler bei seinem Ausritt merkt, daß er wichtige Dinge vergessen und andere beim Reiten verloren hat, erreicht das Groteske in seiner Selbstbeschimpfung den Höhepunkt: Degen/ Pistol/ Steg=Reiff/ Hut/ Handschuhe wo seyd ihr ihr Hundsfütter? Hey/ wo seyd ihr? ubi estis? venite, redite, transite, advenite, adeste, comparete ha/ bin ich nicht ein Bernhäuter? bin ich nicht ein Flegel/ verleure all mein Reut=Zeug/ mein Sattel=Zeug/ mein Pferde=Zeug. ô, audi audi entia, seht mir den kahlen Reuter an/ hat der Teuffei das andere davon geführt/ so mag er auch den Sattel holen damit 30 31 32

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So auch im Jungfer-Hobel. Dazu Stanzel (1982) und Booth (1961). Auch hier läuft die Szene auf eine grobianische Pointe hinaus: »Ja/ sagte ich/ er wüste nicht was er mir thun soll/ ich wolte ihms wohl gesagt haben. Was dann/ fragte meine Frau? er solle mich/ antwortete ich wider/ wo anders gelecket haben/ darauf spie meine Frau auf die Erd/ und eilete in die Küche/ mich in vollem Gelächter in dem Bette unterlassend« (B: 5). B: 5 f.

252 stiege ich herunter und schmisse Sattel/ Zaum/ Gurt und die Carabatsche ins Wasser hinein/ darob die Spittal=Weiber/ so bucklicht und krum sie auch waren/ dannoch so sehr gelachet/ daß ihnen die Nasen zu schwitzen anfiengen. (Β: 8f.)

Die Literarisierung des kindlichen Trotzmotivs ist hier wunderbar gelungen, und eines der Spital-Weiber, das sich ein paar Haare aus dem Pferdeschwanz erbittet, steigert die groteske Komik noch durch ihre Spracheigentümlichkeit.34 Sie greift mit beiden Händen an den Pferdeschwanz, worauf »das Pferd einen grossen Salva venia Steltzfuß« (B: 9) läßt: [S]ihe zu (hiermit käme dem Pferd die erst Kugel heraus) dieses sind die alten Mond=Scheine/ die hat mein Pferd Abends aus denen Pfitzen gesoffen/ hiermit will ich sie dir in deinen Rotz=Lappen wickeln/ wann jemanden die Zähne wehe tun/ und beist 3. mal dreyn/ so vergehts von Stund auf. [...] damit gab ich ihr eine Ohrfeige daß ihr sehen und hören vergieng. (Β: lOf.)

Die kaum gebremste Aggressivität des Erzählers findet ihr Komplement in den wüsten Scheltworten, die Lorentz für seine alten Mägde findet,35 die er mit Unrat bewirft und nackt durch das Schloß jagt, während im Blaumantel die Situation weiterhin ins Groteske gleitet, wenn die alten Frauen mit Krükken und Stecken ein »Konzert« auf dem Rücken des Helden beginnen, der sich nur unzureichend mit einem Schuh wehren kann. Die groteske Komik ist unübersehbar,36 selbst wenn am Ende deutlich wird, daß die Arroganz des Erzählers und seine anmaßende Ehrsucht durch diese Prügelei abgestraft werden sollen: »[D]u eingebildeter Edelmann/ dein Vatter ist ein Meister flicket mir die Schuhe gewesen/ und du gibst dich vor einen Edelmann aus« (Β: 13). An dieser Stelle im Text löst sich nicht nur die Traumfiktion, sondern der Traum erweist sich auch als fehlgeleiteter Erzählansatz, der das Thema des pikarischen Blaumantels zu konsequent verfolgt und in die Sphäre der reinen Groteske gerät. Die Äußerungsform der kontrovers angelegten Figurencharaktere ist offensichtlich die Groteske in Verbindung mit dem Grobianischen, wobei der satirische Vorwurf der hoffärtigen Ehr- und Titelsucht von außen handfest kommentiert wird. Doch die Weiterführung der Handlung läßt keine Perspektive erkennen, der verheiratete Held hat kaum Gelegenheit, Erfahrungen zur Metanoia oder auch nur zur Sündenerkenntnis zu sammeln, die die Existenz eines erzählenden, rückschauend-kommentierenden Ich rechtfertigen könnten. Der Ansatz der Traumerzählung eröffnet bestenfalls die Perspektive einer grotes34

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»Ich hab einen Sohn hab ich/ der ist ein Spillmann ist er/ aber gar ein vornehmer Spillmann ja ist er ja mein Sohn/ in der Stadt ist er ja ja ja/ nemlich mein Sohn ja Herr ein Spillmann ist er« (Β: 9). Beer nutzt diese groteske Sprachform auch zur Charakterisierung der Frau Vergia im Verliebten Österreicher. »Du alte Runckunckel [...] du Bettelkrücken« (Ν: 161f.). Vgl. a. Ν: 173. »Die Erste war von Haut so zart/ wie eine Polnische Pfund=Sohle/ und diese hielte ich vor den Cantor, dann sie bleckete die Zähne/ wie ein Esel/ der sich in einen Bund Heu verliebet/ und fienge auch allgemach an mit ihrer Birnbäumernen Grucken den Tact zu führen« (Β: 12).

253 ken Revueform, wie sie etwa im Pokazi erscheint. Mit der Rückverwandlung des Helden in einen Schüler und der Trennung der ambivalenten Charaktereigenschaften und ihrer respektiven Verteilung auf Erzähler und Begleiter ist dem Konzept dann der Lebensnerv zertrennt, wie die Handlung nach der Kölner Eifersuchtsepisode zeigt. 3 7 Bis dorthin - und zu der folgenden Marodeur-Existenz - begegnen traditionelle und völlig heterogene Satirepartikel, die nur teilweise in einem thematischen Zusammenhang stehen. 3 8 Aus dieser erzählerischen Sackgasse befreit sich Beer durch die plötzliche Übernahme des traditionellen Pikaro-Schemas, wie er es bei Grimmelshausen vorfand: Der Erzähler wird unter Todesandrohung zum Waffendienst bei den Marodeuren gezwungen, versündigt sich und erkennt seine Sünden: Aus dieser Gelegenheit gienge ich etwas näher in mich selbsten/ und fände/ daß ich in diesem verruchten Leben/ gantz ein anderer Mensch geworden. Mein bißher gehabter Fleiß/ war mehr als halb dahin/ das jenige/ was ich biß daher gelernet/ vergessen/ die Faulheit hatte mich gantz und gar besessen/ und war mir eine Lust zusehen/ wann wir bald diesen bald jenen ausgeraubet/ oder wol gar todt geschmissen haben. (Β: 91) D e r Erzähler läßt sich durch den Reichtum der Räuber blenden und zeigt offensichtlich keine Gewissensbisse, sein weiteres Leben auf Mord und Totschlag zu gründen: Ich kriegte von allen Beuten gedoppelten Theil/ und verhoffte in diesem Leben leichtlich so viel zu erwerben/ daß ich entweder mein studiren nach geendigten Krieg mit gutem Nutzen weiter fortsetzen/ oder mich mit einer guten Heurath aufs Beste versehen möchte. (Β: 93) Erst als ein glücklicher Schatzfund die weitere Marodeur-Existenz überflüssig macht, entschließt sich Blaumantel dazu, der Räuberbande zu entfliehen. Hier findet sich dann auch der typische Kommentar des rückblickenden, erzählenden Ich: Es ist gewiß/ daß das menschliche Gemüth nicht ehe/ als durch Geld/ kan zum Stoltze geleittet werden/ dann ich fienge dazumal schon an zugedencken/ wie ich zum Herren werden und mir recht friedsame Tage schaffen wolte/ da doch im Gegentheil der Reichthum/ welchen man nur mit Sorgen besitzen muß/ mir eine weit andere Resolution solte gegeben haben. Indem ich das Silber einscharrete/ gedachte ich an ein ewiges Wohl=Leben in der Welt und wie lustig ich mich in denenselben mit meinen guten Freunden machen wolte/ da ich doch vielmehr Ursach gehabt hätte bey dieser Handlung an mein Begräbniß zu gedencken/ und dannenhero mein Leben/ welches ich in diesem Stand mit viel tausend Unreinigkeiten besudelt/ zuverbessern. Alle meine Zuversicht satzte ich dazumal auf das schnöde Geld/ da mir doch viel besser angestanden hätte an einen solchen Schatz zugedenkken/ den kein Dieb rauben/ keine Wasser hinweg führen/ noch keine Motten und Rost verzehren können. Aber ich ware dazumal von allen solchen heylsamen Gedancken weit abgesondert. (Β: lOlf.)

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B: 73 -84. Dieser Zusammenhang ist dann allerdings wieder typisch misogyn.

254 D i e Anleihen beim Simplicissimus sind unübersehbar; 39 Kremer nennt den Läusekrieg und den Schatzfund, die Einsiedelei und das Adieu Welt, einige Schauplätze und das Räuberleben, 4 0 ohne jedoch auf die zentrale Figurenkonstellation von Olivier und Herzbruder einzugehen. Der genaue Vergleich der Vorlage (IV, 1 4 - V , 3) mit Beers Text enthüllt sogleich die Gestalt des Olivier - neben Simplex - als eine der wesentlichen Quellen. Sein verbrecherisches Leben wird nach den Äußerlichkeiten noch am besten von dem Mörder und Räuber Pamphilius aus dem Jucundus repräsentiert, während der Pamphilius des Blaumantel an seinen komplexeren Charakterzügen teilhat. Die Anrede »Bruder« findet sich für Herzbruder und Olivier, wie auch Köln, Basel und Schwaben in eben diesen Passagen bei Grimmelshausen vorkommen, ebenso wie bestimmte Anredeformen: »Gelt, Simplici, sagt Olivier, hier ists besser/ als vor Breysach in den Lauffgräben« (AST IV, 16: 339). 41 Auch Simplex wird - wie Blaumantel - von Flöhen geplagt, und Olivier hat wie seine Nachfolger besten Proviant versteckt und verfügt über Zuträger und Helfer. Im Blaumantel fehlt allerdings die Vor- und Jugendgeschichte der Helden, die Olivier in seiner Autobiographie detailliert berichtet: Beiden ist gemeinsam, daß sie Väter aus niederen Schichten haben, die ihre Söhne aus Ehrgeiz unpassenden Erziehern übergeben, die die Kinder zu Hoffart, Faulheit und Betrug anleiten. Bis in die Formulierung hinein erinnert die Passage bei Grimmelshausen, die von den Jugendstreichen Oliviers berichtet, an den Jucundus und die analogen Possen des Erzählers und der adligen Tochter: Ehe ich das sibende Jahr völlig überlebte/ erzeigte sich schon/ was auß mir werden wolte/ dann was zur Nessel werden soll/ brennt bey Zeiten; kein Schelmstück war mir zu viel/ und wo ich einem konte einen Possen reissen/ unterließ ichs nicht/ dann mich weder Vatter noch Mutter hierumb straffte; ich terminirte mit meines gleichen bösen Buben durch dinn und dick auff der Gassen herumb/ und hatte schon das Hertz/ mit stärckern als ich war/ herumb zu schlagen [...]. Also wurde ich immer ärger/ biß man mich zur Schul schickte/ was denn andere böse Buben auß Boßheit ersannen/ und nicht practiciren dorfften/ das setzte ich ins Werck. (AST IV, 18: 346)42 39

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Vollständig aufgezählt finden sich die Analogien bei Heßelmann (1992) 148ff. Heßelmann kann in seiner vorzüglichen Studie nicht den interpretatorischen Implikaten bei Beer nachgehen, aber zumindest erwähnt er die Ähnlichkeit von Olivier mit Ludwig aus der Dilogie und bestätigt damit unsere These von der Isomorphic der Figurenfolge Blaumantel/Pamphilius - Lorentz - Ludwig. Kremer (1979) 35*. Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch wird mit der Sigle AST nach der Ausgabe der Gesammelten Werke in Einzelausgaben von Rolf Tarot zitiert (Tübingen 1967). »Wenn ich meine Bücher verklettert oder zerrisse/ so schaffte mir die Mutter wieder andere/ damit mein geitziger Vatter sich nit erzörnte. Meinem Schulmeister thät ich grossen Dampff an/ dann er dorffte mich nit hart halten/ weil er zimliche Verehrungen von meinen Eltern bekam/ als deren unziemliche Affen=Liebe gegen mir ihm wol bekant ware [...]. Hernach dünckte ich mich viel zu gut seyn/ nur so gemeine Schelmstück anzustellen/ sondern all mein Thun gieng auff obigen Schlag; ich stahl offt dem einen etwas/ und steckte es einem andern in Sack/ dem ich gern Stoß

255 Auch die Erziehungsprinzipien der närrischen Eltern finden sich in ähnlicher Form bei Beer; und die komische Episode mit der Katze, die Grimmelshausen von zwei Hunden hetzen lassen will und die sich auf seinen Kopf flüchtet und ihn in ihrer Angst völlig zerkratzt, 43 mag als Inspiration für die Prügelei der Traumsequenz bei Beer gedient haben. Der in die Kleidung eingenähte Schatz ist zwar ein traditionelles Motiv, kommt aber in beiden Texten den Pilgern resp. Einsiedlern am Ende ihrer Fahrt im Kloster Einsiedeln zugute. Die Pilgerfahrt nach Einsiedeln selbst - mittlerweile mit Herzbruder - ist dabei ebenso Übernahme wie die große Weltabsage am Schluß, die allerdings bei Grimmelshausen erst am Ende des fünften Buches stattfindet. 44 Es zeigt sich also, daß die Übernahmen sich auf die Olivier- und HerzbruderPassage an der Nahtstelle von viertem und fünftem Buch konzentrieren und beide Figuren mit verschiedenen Anteilen auf Blaumantel und Pamphilius abschatten. Die bedeutendste Ähnlichkeit zur Vorlage aber manifestiert sich in der Figurencharakteristik, denn Olivier ist keineswegs eine eindimensionale Verbrecherfigur wie der Pamphilius aus dem Jucundus. Neben seiner ausführlichen Biographie, die den graduellen Abstieg des Helden zur völligen Sündenverfallenheit in der Rücksichtslosigkeit brutalen Mordens und hinterhältiger Täuschung und Denunziation zeigt, gibt Grimmelshausen der Figur auch ein Rechtfertigungsmuster seiner gnadenlosen Verbrecherexistenz mit, die Olivier aus dem Gros der Marodeure heraushebt und seine reflektierte, kalkulierende Intelligenz zeigt. Noch bevor Simplex vom Ausmaß der Untaten Oliviers erfährt, hält er ihm die Schändlichkeit seiner Existenz vor. [S]o ist dannoch ein solch Leben/ wie du führest/ das aller=schändlichste von der Welt [...]. Was/ [sagte er] das schändlichste? mein dapfferer Simplici, ich versichere dich/ daß die Rauberey das aller=Adelichste Exercitium ist/ das man dieser Zeit auff der Welt haben kan! Sag mir/ wie viel Königreich und Fürstentümer sind nicht mit Gewalt erraubt und zu wegen gebracht worden? [...] Was könte doch Adelicher genennet werden/ als eben das Handwerck/ dessen ich mich jetzt bediene? [...] Wo hastu jemals eine vornehme Stands=Persohn durch die Justitiam straffen sehen/ umb daß sie ihr Land zu viel beschwert habe? ja was noch mehr ist/ wird doch kein Wucherer gestrafft/ der diese herrliche Kunst heimlich treibt/ und zwar unter dem Deck=Mantel Christlicher Lieb/ warumb wolte denn ich straffbar seyn/ der ich solche öffentlich/ auff gut Alt=Teutsch/ ohn einige Bemäntelung und Gleißnerey übe? Mein lieber Simplici, du hast den Machiavellum noch nicht gelesen; Ich bin eines recht auffrichtigen Gemüts/ und treibe diese Manier zu leben/ frey öffentlich ohne allen Scheu; Ich fechte/ und wag mein Leben darüber/ wie die Alte Helden/ weiß auch/ daß die jenige Handierungen/ dabey der so sie treibt/ in Gefahr stehen muß/ zugelassen sind; weil ich denn mein Leben in Gefahr setze/ so folgt unwidersprechlich/ daß mirs billich und erlaubt sey/ diese Kunst zu üben. (VIST IV, 15: 338)

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angerichtet/ und mit solchen Griffen konte ich so behutsam umbgehen/ daß ich fast niemals darüber erdappt wurde« (AST IV, 18: 346f.). AST IV, 22. Nimmt man all dies zusammen, läßt sich in einem - allerdings sehr eingeschränkten - Sinne von einem Ausschlachten Grimmelshausenscher Motive reden.

256 Simplex' Einwand, der die goldene Regel zitiert und damit auf die ultima ratio der jeweils subjektiven Erfahrung rekurriert, dient Olivier dabei nur zum Beweis der naiven Torheit seines Gesprächspartners: [D]u bist noch Simplicius, der den Machiavellum noch nit studirt hat [...]; Darüber lachte er überlaut/ und sagte/ [...] Mein lieber Simplici, ich sihe zwar wol/ daß du deine Narrn=Kapp abgelegt/ hingegen aber deinen närrischen Kopff noch behalten hast/ der nicht begreiffen kan/ was gut oder böß ist/ und wenn du ein anderer/ als der jenige Simplicius wärest/ der nach des Alten Hertzbruders Wahrsagung meinen Todt rächen solle/ so wolte ich dich bekennen lernen/ daß ich ein edler Leben führe/ als ein Freyherr. (AST IV, 15f.: 339) 45

Olivier erweist sich so in seiner Replik als ein kluger Politicus und klarsichtiger Kritiker der Zeit, während seine Rechtfertigung auf eben jene Konstruktion verweist, die die Analyse des Blaumantel als Thema des Romans erwiesen hat: die Konstruktion der Integration von satirischem Kritiker und bewußtem Sünder. Ebenso wie Pamphilius seine Rechtfertigung der insinuatorischen Dis/simulatio als Lebensgesetz formuliert und auf die Allgemeinheit des politischen Betrugs verweist, nutzt Oliviers Apologie die offenkundige Sündenverfallenheit der Welt als Rechtfertigungsgrund. Die goldene Regel, die ihre Überzeugungskraft aus der Integration subjektiver Erfahrung und Erwartung in die Lebensregeln der Gattung gewinnt, wird dabei geradezu umgekehrt: Begehe das Unrecht, das du auch von anderen erwarten kannst, so daß dir kein Nachteil entsteht, denn dieser Nachteil könnte das Leben kosten. Olivier praktiziert aber nicht nur diese, aus der Notwehr schwierigster frühneuzeitlicher Lebensverhältnisse46 geborene, unmoralische Maxime wie der durchschnittliche Pikaro, sondern er mißbraucht sie als Rechtfertigung zum Morden und Rauben. Simplicius ahnt, in welch gefährlicher Gegenwart er sich befindet: O himmlischer Vatter/ wie hab ich mich verändert! O getreuer GOtt/ was wird endlich auß mir werden/ wenn ich nicht wieder umbkehre? Ach hemme meinen Lauff/ der mich so richtig zur Höllen bringt/ da ich nit Büß thue! (AST IV, 17: 342)

Seinem Entsetzen, daß Olivier eine Kirche dadurch entweiht, daß er sie als Ausguck für seine Raubzüge nutzt, begegnet der Malefikant mit einer detaillierten Kritik der unsauberen und sündhaften Intentionen der Kirchgänger, die den Gottesdienst aus Hoffart und Eitelkeit besuchen, dort nach Liebhabern Umschau halten, Geschäfte bedenken und machen oder allgemein klatschen und tratschen. Wie auch Beer im Verliebten Europäer beklagt er die Eitelkeit der Toten, die sich noch prunkvolle Grabsteine und Epitaphien er-

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Oliviers Anrede wird später von Lorentz weitergeführt, der mit seinem ubiquitären »Hannß du bist ein Narr« die Einrede und Kritik seiner verkehrten Lebensweise einleitet. Das Motiv ist bereits in der Antike bekannt; zu seinen poetologischen Implikaten siehe Solbach (1994b).

257 richten lassen, und auch die Kirche selbst wird nicht von der Kritik verschont: Warumb solte mir nicht erlaubt seyn/ mir sage ich/ als einem Soldaten/ daß ich mein Handwerck in der Kirchen treibe? da doch hiebevor zween Geistliche Vätter in einer Kirch nur deß Vorsitzes halber ein solch Blut=Bad angestellt/ daß die Kirch mehr einem Schlacht=Hauß der Metzger/ als heiligen Ort gleich gesehen. (AST IV, 17: 344) Diese beiden kritisch-apologetischen Passagen finden einen kuriosen aber erkennbaren Widerhall in zwei Sequenzen des Blaumantel, in denen der Erzähler, mit einem entlaufenen Mönch auf der Flucht aus dem MarodeDienst, gleichermaßen kritisches Subjekt und kritisiertes Objekt wird, indem er die aus den Orden geflohenen Geistlichen einer herben Kritik unterzieht, 47 die er anschließend über sich selbst ergehen lassen muß: O wärest du Narr darinnen sitzen geblieben/ du findest doch nicht in der Welt/ was du dir einbildest. [...] Die Welt ärgert ihr/ eure Freunde betrübt ihr/ eure Feinde erfreuet ihr/ euch selbsten verlihrt ihr/ was habt ihr Narren nun von eurem ausspringen? (B: 106f.) Die Kritik, die der »Pfaffatio« akzeptieren muß, richtet sich aber umgekehrt kaum weniger gegen die »verlaufenen Schüler und Studenten«, 48 zu denen Blaumantel und Pamphilius gehören: Was seyd ihr herum lauffende Vaganten anders/ als liederliche Schlingel/ die jedermann mit ihren Ansprüchen verdrüßlich seyn. Wann ihr nicht wisset wo aus oder ein/ so ist das eure letzte Invention, das ihr einen abgeschabenen Mantel/ an welchem keine Lauß mehr hafften kan an den Diebs=Kragen anhänget/ in solchen schlagt ihr eure lincke Hand/ und unten herum da siht man euch die Fetzen und Lumpen heraus hängen/ gleich als hättet ihr die Hosen mit Hüner-Kalaunen besetzet. (B: 107) Der Mönch richtet dagegen seine Kritik recht unspezifisch gegen die äußere Erscheinung der vagierenden Studenten und ihre anmaßende Bettelei, die von Blaumantel in apologetischer Form ebenfalls zitiert wird, wobei er auch den bislang nur verborgenen Konnex zur Schmeichelei expliziert und damit an das Romanthema der ersten Reflektion des Pamphilius anschließt: Es ist wahr/ antwortete ich/ aber was hilffts/ wer kein bessers Handwerck kan/ dem geht es auch nicht besser. Etliche betteln aus Noth/ etliche aus Leichtfertigkeit/ und ich gesteh es/ daß ich in solcher Arbeit die gröste Gemüths=Ruhe gefunden. [...] 47

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»Ey ja/ so macht ihrs/ ihr ausgesprungene Schergeiger/ wann man euch in dem Closter ein wenig carnüffelt/ oder wann ihr von dem Pater Prior ein bißgen gestigelfritzet werdet/ so schöpfft ihr flugs andere Gedancken. [...] und also sehet ihr gemeiniglich nach dem Ort/ welches der Zimmermann offen gelassen. Die dieses thun gehen heraus aus Ungedult/ andere aber/ gleich wie du/ du Schabhalser gethan hast/ die treibet die Frau Venus mit ihrem Seitenspiel aus der Zell hervor« (B: 105£). »Ja/ sagte der Pfaff/ Bruder Blaumantel/ tu loqueris veritatem, du sagest die gantze Warheit/ aber wie war es/ wann ich dir Galgen=Vogel deinen Leviten auch herunter figurine« (Β: 107).

258 So ist auch dieser Stand der bettelhafftigen Studenten viel besser als der gradus magisterii, dann man darff darinnen keine grosse Obsicht auf Höfligkeit und exemplarisches Leben tragen/ so ist auch gewiß/ daß mich niemand zu Gefattern viel weniger zur Hochzeit bitten wird/ es seye dann/ ich komme zu solcher ungeladen mit einem Carmine gratulatorio. (Β: llOf.) D i e Schmeichelei und Insinuation, von der Pamphilius am Anfang spricht, bezieht sich so auf der niedrigsten sozialen Ebene auf die Gratulationsgedichte, die den vagierenden Studenten und »Secretarli« als Erwerbsmittel dienen und sich sicher nur graduell von den Huldigungstexten und -riten bei H o f e unterscheiden: Mein lieber Pfäff/ alle diese Sachen habe ich mehr als wohl in der Welt practicirt, der Stoltz und Hochmuth ist unter den Leuten gar zu groß/ darum muß man ihrem eingebildeten Ruhm geschwind mit einem Ehren=Carmen auffwarten/ ob schon das Hertz indessen ein anders gedencket und die Feder ein anders schreibet. (Β: 113) Die gesamte Passage erweist sich so als Exemplifizierung der gegenläufigen Motive von Kritik und Affirmation, wie sie in Olivier und Simplex ausdifferenziert dargestellt werden, wobei sich Beers eigentümliche Figurengestaltung und Thematik gegenüber der Vorlage deutlich durchsetzen. Im Blaumantel konzentriert sich das Thema schließlich auf die insinuatorische Dissimulation, die als titelsüchtige Lobhudelei und erwerbsorientierte Panegyrik profiliert wird. Gegenüber Blaumantel ist Pamphilius in dieser Hinsicht bereits einen Schritt weiter; er erkennt die Unfähigkeit des kritischen Satirikers zur dauernden Verleugnung seines Charakters: Darum ist mir auch kein Mensch mehr gut/ wann ich ein Hochzeit Carmen oder sonsten etwas schreibe/ in welchem ich die Laster straffe und die Tugenden lobe/ so heist es: Ich seye ein Paßquillant und ziehe die Leute durch. Demütige ich mich und versprich allen Fleiß/ so sagt man/ es seye nur blosse Scheinheiligkeit und gehe mir nicht von Hertzen/ weiß mich also in die Leute länger nicht zu schicken/ so vielerley Arten und Wege ich auch allgemach erdacht habe. (Β: 137) Auf den letzten Seiten des Textes gerät nun der Ich-Erzähler vollends aus dem Blick, und Pamphilius beherrscht die Szene. Es ist sein Entschluß, die hoffnungslose Situation des unerwünschten und unwirksamen Kritikers und des gescheiterten »Blaumantels« mit der des Einsiedlers zu vertauschen. Dieser Entschluß spiegelt offenbar nur seine eigene Lebenssituation, die durch das paradoxe Verhältnis von Kritik und Affirmation viel stärker als bei dem Erzähler geprägt ist und ihm seine Existenznot eindringlicher vorstellt: Aber damit ich dir meine Meinung nicht länger berge/ ich will mit dir in die Schweiz nach Einsideln/ daselbst wollen wir heiligen Gedancken abwarten/ die Welt fahren lassen/ und jeden Narren ein solches Leben vergönnen/ wie es ihm am besten anstehet. Dieser Vorschlag des Pamphilii war mir gut genug/ zu mahlen ich ohne deme selbigen berühmten Ort in der Schweitz gerne gesehen hätte. (Β: 140)49 49

Ebenso im Simplicissimus·. »Das war mir sehr angenehm zu hören/ derhalben botte ich ihm Geld und meine Gesellschafft an/ ja ich wolte gleich zween Klepper kauffen/ auff selbigen die Räis zu verrichten; nicht zwar der Ursach/ daß mich die An-

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Es ist also durchaus nicht die eigene Erfahrung, die die religiöse Wende bewirkt, wie schon vordem in der Kloster-Sequenz deutlich wurde, als Blaumantel seinen mönchischen Aufenthalt unter ganz weltlichen Zwecksetzungen einrichtete, denn er besitzt noch seinen gefundenen Schatz, so daß ich wieder neuen Muth bekäme/ mich noch weiter in die Welt zu begeben/ zusehen/ wie ich etwan mit einem so haubtsächlichen Stück Geld und stattlichen Reichthum meine Fortun machen könte/ gestaltsam es ohne dem nicht mein Ernst ware mich so frühjährig in eine Pfaffen=Kutte zu stecken/ dann mein Vorgeben zu der Religion ware nur pro forma geschehen/ und damit ich mich unter dieser Larven in dem Kloster bey gutem und stattlichem Maul=Futter wacker aus fressen und nichts verzehren möchte. (Β: 127f.)

Blaumantel reproduziert also nichts anderes als die simplicianische Haltung angesichts Herzbruders Entschluß, nach Einsiedeln zu wallfahren, wobei er die Wallfahrt mit dem Weltentsagungsentschluß am Ende des fünften Buchs des Simplicissimus kontaminiert, ohne jedoch die grundsätzliche Skepsis Blaumantels, die dem Selbstverständnis Simplex' vom Beginn des fünften Buchs entspricht, zu verändern. So ist er gezwungen, Blaumantel als Figur und Erzähler auf den letzten, entscheidenden Seiten des Romans verschwinden zu lassen und Pamphilius zum alleinigen Träger der Entscheidung zur Weltflucht zu machen, deren religiöser Grund dann quasi summarisch nachgeliefert wird, bevor das obligatorische »Adieu Welt« beginnt: Es ware in mir keine rechte Andacht in der Religion/ meine Jugend verbrachte ich in denen allerschändlichsten Lastern/ und die Zeit/ die ich solte auf gute Künste gewendet haben/ verbrachte ich in dem höchsten Müssigang/ aber nichts destoweniger so verzage ich doch noch lange nicht/ ad logicam pergo, quae non timet mortis, Ergo: Es muß Busse gethan seyn. Statt meiner umschweiffenden Gedancken/ will ich himmlischen Betrachtungen nachgehen/ statt meines Lachen/ meine Sünden beweinen/ dann dieses erfodert der höchst gefährliche Zustand dieser elenden Zeit und die höchste Noth meiner betrübten Seelen. (Β: 142)50

Pamphilius' Zusammenfassung erinnert an die Sündenexistenz von Olivier, aber auch an seinen Namensvetter aus dem Jucundus oder den Pardophir aus dem Verliebten Österreicher und ist insofern weitgehend typisch. Der sündhafte Lebenslauf ist zwar Voraussetzung zur Metanoia, aber nicht auch schon der Grund für die Umkehr. An dessen Stelle erscheint bei Pamphilius der moralische Syllogismus des »es muß Busse gethan seyn«. Sowohl dessen Form als auch der Inhalt lassen vermuten, daß Buße und Weltabsage reine Übernahmen aus der Quelle sind, die sich nicht gegen die satirische Weltsicht der handelnden Figur durchsetzen können. Pamphilius benennt selbst einen anderen Grund, die weltferne Existenz zu wählen, der zweifellos auch in

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dacht darzu getrieben/ sondern die Aydgnoßschafft/ als das einige Land/ darinn der liebe Fried noch grünete/ zu besehen« (AST V, 1: 374). Außergewöhnlich auch die evidentielle Vergegenwärtigung durch das Erzählpräsens, das nur dem primären Ich-Erzähler zur Verfügung steht - Pamphilius setzt sich auch so als Hauptperson in erzähltheoretischer Hinsicht.

260 romanpoetologischer Hinsicht schlüssiger ausfällt, wenn er in der zitierten Stelle51 anmerkt, daß satirische Kritik und affirmative Dis/simulation letztlich unvereinbar sind. In der prekären Situation, für das eine - wie Beer gescholten zu werden und das andere - ebenfalls wie der Autor - zu verabscheuen, sucht er den Ausweg in der Weltflucht. Das Faszinosum einer paradox gemischten Figur scheitert so noch im Blaumantel an der schematischen Umsetzung der literarischen Vorlage, deren Figurencharakteristik und -konstellation Beer nicht überzeugend auflösen kann, wie auch das »Adieu Welt« zwar die Topik der Weltabsage reproduziert, aber den Grundton der satirischen Weltkritik bewahrt und so von einer wesenhaften Religiosität weit entfernt ist: Die Sünden herrschen/ und die sie begehen/ wollen nicht gestrafft seyn. [...] Wo finde ich genug Mühlsteine/ solche an die Hälße der jenigen zu hängen/ die Aergernüs gegeben haben? Welches Meere ist tieff genug solche Schandbälge zu verschlingen? Wo findet man eine genügsame Quell ihre Hertzen zu ersäuften? Es ist alles zu wenig und gering zu deiner Straff/ so viel Tormenten ich auch zu deiner Züchtigung ausdencken würde. (B\ 143f.)

Dies ist eben die Haltung der satirischen Kritik, die ihre eigene Sündhaftigkeit vergißt, wie im Gespräch zwischen Blaumantel und dem »Pfaffatio« über ihre gegenseitigen Mängel; eine Kritik aber auch, deren Aggressivität Grund und Folge zugleich ihrer Wirkungslosigkeit ist. So entlarvt sich Pamphilius als kritischer Satiriker aus dem Gefühl des Ressentiment, dem selbst die Pose der Affirmation nicht gelingt und dessen aggressiver Grundcharakter sich immer wieder in Groteskerien anschaulich Luft verschafft.52 Worauf er schließlich zielt, zeigt eine - wiederum untypische - Bemerkung innerhalb des »Adieu Welt«: »Wo solle ich hingehen eine wahre Freundschafft zu finden? [...] bemühet euch vielmehr mir zu zeigen einen solchen Menschen/ der in seiner Freundschafft unwandelbar sey« (Β: 144). Dies ist zum einen ein Widerhall der Quelle, der um so unverständlicher ist, als Blaumantel sich durchaus als beständiger Freund erweist,53 und zum anderen Ausdruck der Wandelbarkeit der Welt und ihres dissimulatorischen Gesetzes, dessen Einfluß sich Pamphilius entziehen möchte. Aus dem Welt-Kucker ist nun aber bekannt, daß Beer die Einsamkeit der Einsiedelei als Form der Buße und durchaus auch religiös motivierte Sündenstrafe versteht; mit der Frage nach der »wahren Freundschafft« und der Perspektive der weltabgeschiedenen Zweisamkeit im Rahmen materieller Sicherheit gelangt Beer dann im Blaumantel an die Voraussetzung der Romankonstruktion heran, wie sie die Dilogie bietet: Er integriert am Ende des Blaumantel das Motiv der ausweglosen und wirkungsarmen satirischen Kritik und ihrer affirmativ-politischen Impli-

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B: 137. Der Soldat ohne Arm (Β: 114-116) und die Scheltorgie (Β: 119-125). Auch er will, wie Simplex, die gemeinsame Zukunft mit seinem Geld ermöglichen.

261 kate mit demjenigen der Weltentsagung als Buße und Form der Geselligkeit. Zielt das erste auf das poetologische Programm des Autors, markiert das zweite die Engführung gegensätzlicher Interessen: Einsamkeit und Weltflucht als Buße und Strafe - wie auch deren Aufhebung durch die Geselligkeit mit Freunden im ländlichen Abseits. Aus dem Nebeneinander der Motive von Freundschaft und Einsiedelei wird in der Dilogie dann durch Addition die ländliche Adelsidylle, deren Grundlage ein dominant religiöses Element besitzt, wie ja auch der »Orden der Vertrauten« die säkulare Form einer Mönchsgesellschaft darstellt. Es ist deutlich geworden, wie weit Olivier als Inspirationsfigur für die Konstruktion einer Blaumantelfigur gedient hat, die bei Beer allerdings anders konturiert ist und sich auf zwei Figuren verteilt: Beiden liegt als Vorbild die Simplex-Figur zugrunde, deren Dimensionen durch die Kombination von Kritiker und Politicus verändert werden, wie sie Olivier im Extrem verkörpert. Dabei dient das Verhältnis von Herzbruder und Simplex als Muster für dasjenige zwischen Blaumantel und Pamphilius, der der bewußtere und schärfere Denker ist. Während Blaumantel sich recht schnell seiner Namenscharakteristik entledigt und recte zum Biographen seines Freundes werden müßte, wird Pamphilius, dessen Anteil an der Olivier-Charakteristik größer ist, unvermerkt zum interessanteren Protagonisten und muß aus der Handlung entfernt werden. In dieser Trennung mag auch ein Motiv der Vorlage weiterwirken, die Simplicius und seinen Freund zunächst getrennte Wege gehen läßt. Für diese eigentümliche Kontamination des ganz positiven Herzbruder und des ganz negativen Olivier in der Gestalt des Pamphilius spricht allerdings auch, daß der Entschluß zur Einsiedelei nicht von Blaumantel, sondern von dem kurz zuvor erst in die Handlung zurückgekehrten Pamphilius formuliert wird, der so nicht nur zum Sprecher des »Adieu Welt« wird, sondern auch zum primären Erzähler mutiert, der den Roman beschließt. 54 Die Entscheidung zur Weltabsage ist dabei nur bei Blaumantel vorbereitet, dessen erzählendes Ich selbstkritische Kommentare formuliert, die zwar an Simplex' nur vorübergehender Reue und Buße in Einsiedeln orientiert sind, aber dennoch nicht seine religiöse Intensität erreichen. So erklärt sich die Motivationsschwäche der Einsiedlerexistenz aus der Imitation der Vorlage bei gleichzeitiger Abweichung in der Figurencharakteristik: Wird Simplex zwischen den Polen von Gut und Böse von Herzbruder zur Metanoia aufgerufen, der er (noch) nicht folgen kann, liegt in Beers Text die Vorbereitung zur Umkehr bei Blaumantel, der, wie Simplex, deutlich macht, daß er auf Dauer nicht auf die Welt verzichten kann und gleichzeitig Reue zeigt, während schließlich Pamphilius aus dem kurzen und summarischen Selbstbe-

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»[S]o ist dir auch mit meinem Leben nichts geholffen/ darum wünsche ich dir Besserung/ mir aber und meinem ehrlichen Bruder Blau=Mantel ein glückliches Ende«

(.Β: 144).

262 denken seines geführten Lebens die Entscheidung trifft. Allerdings erweist sich sein »Adieu Welt« als poetologischer Reflex und die damit konstruierte Situation der gemeinsamen Einsiedelei als Vorstufe und Kern der adligen Landlebenidylle, wie sie die Dilogie expliziert. Damit aber hat Beer den Vorsatz und das Thema des Romans endgültig fallengelassen; stand am Anfang noch die komplexe Figuration von Kritik und Affirmation, so leitet die relativ unvorbereitete Übernahme der literarischen Vorlage zum Endpunkt einer höchst mißverständlichen Eremitage, die ihre wahre Erfüllung erst in der Dilogie findet. Zu deren Ausgestaltung gehört allerdings die ausgeführte biographische Klammer mit der durch die Ehe vollendeten Liebesgeschichte, wie sie der cum grano salis gleichzeitige Verliebte Österreicher entwickelt, der in eben diesem Spannungsfeld von Eheglück und Weltabsage situiert ist, das das Ergebnis und die Aufgabe aus dem Blaumantel ist: Wie läßt sich der Weg zum Adel und zur Ehe als Lebenslauf-Roman mit der geselligen Einsiedelei als verdeckter Buße und Sündenstrafe wie auch als Entfernung von der sündigen Welt integrieren?55 Eine Lösungsmöglichkeit entwirft der Verliebte Österreicher, der parallel zum Blaumantel die Handlungs- und Personenkonstellationen formuliert, die die Dilogie schließlich beherrschen. In dieser Perspektive spielt die Figur des Pamphilius nur noch eine motivische Rolle in der Gestalt des Ludwig in der Dilogie bzw. als reine Verbrecherfigur des Pardophir im Österreicher. Ihre ganze überzeugende Ungeheuerlichkeit entfaltet sie jedoch in der Erzählung vom Narrenspital, die den Vorsatz des Blaumantel ausführt und eine wesentliche Grundlage für die Dilogie verständlich macht: die Gewalt des Grotes-

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Die hier vorgetragene Analyse steht in deutlichem Gegensatz zu den Auffassungen Manfred Kremers, der zwar von einer ähnlichen Grundvoraussetzung ausgeht, aber zu anderen Ergebnissen kommt: »Vor allem aber entwickelt der Autor das Thema, das dem Roman den Namen gegeben hat: Den nur auf weltlichen Vorteil bedachten Macchiavellismus in allen Lebensbereichen, der mit den Begriffen >politisch< und >Politicus< umschrieben ist« (Kremer [1979] 20*). Dieses machiavellistische Verhalten erklärt er aber kurze Zeit später - mit den gleichen Worten wie schon in seiner kurzen Notiz von 1967 (S. 393f.) - zum positiven Bildungsideal: »Hinzu kommt, daß die eingefügten belehrenden Diskurse eine Einstellung erkennen lassen, welche im Gegensatz etwa zu Grimmelshausens Weltanschauung innerweltliche Glücksziele voraussetzt und weltkluges Verhalten zur Maxime macht« (Kremer [1979] 29*f.). Kremers Interpretation kann sich zwischen diesen beiden Varianten nicht so recht entscheiden, und so kommt er auf die alte Alewynsche Position zurück: »Viele Elemente seiner Werke lassen andererseits darauf schließen, daß Beer die satirische Absicht lediglich als Alibi benutzte, um seiner Lust am Fabulieren freien Lauf zu lassen. Deutlich wird auch, daß die religiöse Grundeinstellung [...] zurückgedrängt wird und einer mehr diesseitig ausgerichteten Philosophie Platz macht. Zwar werden auch im Blau-Mantel moralische Mißstände gegeißelt, aber es scheint doch, als ob sie schon als Verfehlungen gegen bürgerliche Moralvorstellungen empfunden würden und nicht so sehr als Sünden im christlich-theologischen Sinne« (Kremer [1979] 8*).

263 ken und die groteske Gewalt als Resultat der paradoxen Kontamination von Kritik und Affirmation.

4.2. Der Durchbruch des Grotesken: Der Berühmte Narrenspital (1681) Während im Blaumantel die Dimension satirischer Rhetorik zurückgedrängt wird und deren Verfahren schließlich in einsiedlerischer Resignation endet, nimmt das Narrenspital56 die Frage nach der Möglichkeit satirischer Kritik und rhetorischen Erzählens an ganz anderer Stelle auf. Der Blaumantel präsentiert rhetorisch funktionalisiertes Erzählen in zwei grundsätzlich verschiedenen Formen: zunächst - etwa in der Kölner Eifersuchtsepisode - als schwankhafte Exempelerzählung traditionellen Zuschnitts und am Ende als ebenso traditionelle Bekehrungsgeschichte. Innerhalb dieses Rahmens sind es lediglich Elemente der Figurencharakteristik und der speziellen Handlungsführung im Bereich der Erzählerfiguren, die auf eine Entwicklung hindeuten; die abschließende Perspektive auf eine ungewöhnliche Eremitage ist hier das deutlichste Anzeichen. Das Narrenspital expliziert dagegen gleich zu Beginn das Thema der Möglichkeit von Satire als Kritik und verbindet damit die Darstellung eines ganz anderen Rückzugs aus der Welt. Der Ich-Erzähler erfährt am Anfang, daß er gegen den Betrug und die Gewalt der Welt nur die Macht des grotesken Protests zu setzen hat, der jedoch immer der disziplinierenden Norm unterliegen muß. Ebenso wie Pamphilius und Blaumantel flieht er aus der Welt der Disziplinierung: auf das Schloß des faulen Lorentz und in das Reich freier Körperlichkeit. Der Held ist dabei nichts anderes als das Double des Erzählers, eine Verlebendigung seiner Träume und Wünsche und der institu-

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Das Narrenspital ist mehrfach Gegenstand von Analysen geworden: Alewyn (1957), Peter Rusterholz: Die Weisheit in Johann Beers Narrenspital. In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in literature in honour of Leonard Forster. Hg. ν. Dennis Η. Green, L. P. Johnson u. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1982 (Saecvla spiritalia, 5), S. 511-528; Andreas Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie. Studien zu Grimmelshausen, Weise und Beer. Frankfurt a. M., Bern, New York 1994c (Renaissance and baroque, 8); Battafarano (1991); Peter Heßelmann: Zur Tradition der Narrensatire im 17. Jahrhundert. Text und Bild in den B- und C-Auflagen des Narrenspitals von Johann Beer. In: Simpliciana 13 (1991), S. 2 1 1 274; Elmar Locher: Dimensionen der »Kurtzweil« in Johann Beers Narren-SpitalErzählung. In: Simpliciana 13 (1991), S. 275-301. In diesem Zusammenhang interessieren auch die Arbeiten zum Grotesken: Verne Snyder: Aspects of the Grotesque in the Novels of Johann Beer. Phil. Diss. State Univ. of New York at Buffalo 1975 und Walter Busch: Poetischer Experimentalismus und artistische Form. Zur Bedeutung des Monströsen im Werke Johann Beers und Grimmelshausens. In: Simpliciana 13 (1991), S. 363-389. Der Text figuriert natürlich auch an prominenter Stelle in Hardins Beer-Monographie (1983b) 4 8 - 5 1 , während Alewyns Habilitationsschrift nur beiläufig auf die Erzählung eingeht ([1932] 1751, 223, 241).

264 tionalisierte Protestkörper. Lorentz setzt der grotesken Gewalt der Disziplin die Gewalt des grotesken Körpers entgegen und manifestiert sich so als Figuration der Insinuations-Kritik. Ist der Zusammenhang mit dem Blaumantel hier noch wenig offensichtlich - er bezieht sich im wesentlichen auf das Moment des resignierenden Weltverzichts aus der Erkenntnis des paradoxen Zusammenspiels von Kritik und Affirmation - , so wird er durch die Narrenfigur, an der der Blaumantel ebenso partizipiert wie auch Lorentz, um so schärfer gefaßt. Im Gegensatz zum Erzähler, der als viator in bivio auf Lorentz trifft, erkennt der groteske Held selbst nicht, daß auch er ein Narr ist; seine fortgesetzten Transgressionen erweisen ihn schließlich in den Augen des Erzählers als sündenverfallene Narrengestalt, deren Körperlichkeit ihm zur eigenen Bewußtseinsgrenze wird. Mit dem Entschluß des Erzählers, sein Leben in der Welt zu bessern, wird schließlich am Ende der Erzählung deutlich, daß das Problem des Blaumantel - die Integration von kritischer Einsicht und affirmativer Insinuation - zunächst gelöst ist. Auf einer höheren Ebene stellt sich jedoch ein anderes Problem, denn das erzählende Ich ist von Anfang an als bekehrter, einsiedlerischer Erzähler erkennbar, und so liegt der wichtigste Schlüssel zum Text in der Analyse dieses Erzähler-Ichs. Mit dem ersten Satz bereits schließt das Narrenspital an den Blaumantel an, indem es die dort ausgesprochene Sehnsucht nach der »wahren Freundschaft« negativ als Melancholie bezeichnet. Die Abwesenheit der erfüllten, freundschaftlichen Geselligkeit abseits der Welt, die im Blaumantel zum nicht weiter ausgeführten Versuch der Einsiedelei führt, erscheint hier als Trauer der Einsamkeit, die durch die Gesetze der »politischen« Welt notwendig hervorgerufen wird: SO jemand glaubet ich komme ihn mit diesem traurig zu machen/ der wird sich weit betrogen befinden: Dann warum solle ich meinen Nechsten mit einem Übel belegen/ welches ich etlicher massen vor ärger als den Todt halte/ und mir ist niemahlen unbekand gewesen/ das die Traurigkeit ein Gifft sey/ welches den Menschen viel ehr/ alß der stärckeste Hydra würget. Derowegen suche ich etwas welches nur fröliche Würckung mit sich führe/ und tauglich sey/ uns in etwas des Schmertzens zu entbinden/ welchem alle Menschen/ und zwar jeder nach seinen gewissen Masse/ ergeben ist. Ich verstehe durch solchen Schmertzen die zeitlichen Verdrußligkeiten/ welche auch die Allergewaltigste dieser Erden noch niemallen von sich zu legen gewürdiget werden. (TV: 149) 57

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»Ist also dieses die Ursach dieser Schrifft/ nicht das ich gesinnet sey dadurch grosse Streiche zu thun/ aber wohl zu ergetzen die jenige/ welche ausser Lesung eines kurtzweiligen Buches/ wenig Ergetzligkeit finden/ sondern von Natur mit höchstbeschwerlichen Grillen und tausend Phantasien zu kalmeusern gewohnet sind/ denenselbigen lege ich dieses Buch vor/ nicht/ als ob ich eine Beliebung an ihrem traurigen Gemüthe/ sondern vielmehr eine Erbarmung fühle/ welche mir diese wenige Arbeit aus dem Kopffe/ und gegenwärtige Zeillen aus der Feder gezogen« (N: 149). Beer beschreibt hier eindeutig das Krankheitsbild des Melancholikers.

265 D e r Erzähler selbst leidet offenbar unter diesen »Verdrußligkeiten« der Einsamkeit, die er durch das Erzählen und Schreiben mildern will: [I]st mirs doch genug/ das ich in Auffzeichnung dieses Buches mich selbst bey dem warmen Ofen und einem Glaß Wein der jenigen Beschwerligkeit enthoben/ welche man in denen frostigen Winters=Zeiten fast durch die halbe Welt empfiindet. (N: 149) Es handelt sich hier aber nicht etwa um die genußvolle Behaglichkeit abendlichen Plauderns im Kreise der Freunde und der Familie, denn der Erzähler charakterisiert sich und sein Erzählen als weitabgewandte Lebensäußerung, wenn er auf seinen einfachen, direkt-unverstellten Darstellungsstil hinweist: [U]nd wird sich demnach niemand über meine schlechte Art zu schreiben verwundern/ wann ich/ als ein auff der Einöde wohnender/ mich um keine grosse und zu Hoff bräuchliche Rede=Art bekümmere. (N: 149) »Als ein auff der Einöde wohnender« ist der Erzähler ein weltabseitiger Einsiedler, der, wenn auch nicht als Mönch oder asketischer Anachoret, die Sünden flieht und seine selbstgewählte Einsamkeit durch das Schreiben belebt. Auf diese Erzählvoraussetzung bezieht sich auch die Bemerkung am Ende des Textes, die in den vorliegenden Analysen zumeist mißverstanden wird: Solcher Gestalten wil ich mein geführtes Leben nur biß daher beschrieben und den Narren=Spital vor dißmal zugeschlossen haben. [...] Ich aber werde mich ohne fernem Umschweiff über die Legenda setzen und diese Woche betrachten/ wie eiffrig sich die Altväter angelegen seyn lassen/ ihr ewiges Heyl/ an welchem jeden Menschen das allermeiste gelegen ist/ zu betrachten/ welches doch die junge Welt so wenig achtet/ sondern vielmehr die Narren Kappe der ewigwehrenden Thorheit gantz liederlich über den Kopff ziehet/ und sich also selbsten/ O Thränen werthes Wort/ in den ewigen Abgrund stürtzet. (Ν: 210) Es handelt sich bei den letzten Bemerkungen also nicht um die Erklärung des erzählten Ich, das noch im Knabenalter steckt, 5 8 sondern um die A n knüpfung an den Erzählrahmen der winterlichen Einsiedelei, und sie markieren erneut den weltanschaulich-religiösen Ausgangspunkt des erzählenden Ich, das sich nach dem Divertissement seiner autobiographischen Erinnerungen als medicina

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mentis wieder der frommen Lektüre der patristischen Lite-

So etwa Rusterholz (1982) in seiner sonst eindrucksvollen Analyse: »Ebenso fragwürdig erscheint freilich der Salto mortale des Ich-Erzählers zu den Altvätern. Er erfolgt, ohne daß er in der Schule der Welterfahrung weiter als bis zu dem Entschluß gediehen wäre, bei dem Organisten zur Weiden Klavier spielen zu lernen« (S. 525). Ebenso wie Rusterholz' Schlußfolgerungen durch dieses Mißverständnis problematisch werden, erscheint Battafaranos Arbeit, die diesen ganzen Bereich verschweigt, als einseitig (Battafarano [1991]); auch Hardin (1983b) übergeht dieses Problem. Daß hier der gereifte, alte Erzähler (das erzählende und nicht das erzählte Ich) spricht, wird auch schon aus der Floskel »welches doch die junge Welt so wenig achtet« deutlich. Die Anmerkung »diese Woche« deutet dagegen auf ein wöchentlich wechselndes Exerzitium, in dem die Lesestoffe regelmäßig wechseln, was unsere Auffassung bestätigt.

266 ratur zuwendet. So ist die Erzählung in das feste Gerüst von wertendem, erzählendem Ich, das aus der gesicherten Position des bekehrten, frommen Weltabseitigen erzählt, und dem noch unerfahrenen, dem sündhaften Leben zuneigenden, erzählten Ich eingebunden. Der eremitische Erzähler berichtet einen Teil seiner Lebensgeschichte, der allerdings nicht, wie oftmals im autobiographischen Roman, bis in die Erzählgegenwart reicht; wird diese Voraussetzung mißachtet, muß die Interpretation des Narrenspitals zu fragwürdigen Ergebnissen kommen. Hinter dem Hinweis auf die »schlechte Art zu schreiben« verbirgt sich aber noch ein weiteres Element, das im Verlauf der Erzählung von Bedeutung sein wird: Ist demnach Anfangs meiner Historia zu wissen/ das ich keiner von Adel oder sonsten ein hocherfahrner Welt=Statist sey/ derowegen wird mir nicht vor übel gehalten werden/ so ich dort und dar ein oder andern Schnitzer in meine Schrifft mänge/ weil die Reinligkeit zu schreiben entweder denen jenigen zukommet/ welche bey Hoff aufferzogen oder aber diesen/ so auff hohen Schulen noch vor dem zwantzigsten Jahr ihres Alters Doctores worden/ also aestimire ich die jenige vor klüger als mich/ welchen eine so hohe Dignitet 3. Jahr ehe/ als der Barth conferirt wird. (N: 149) Indem der Erzähler das satirische Motiv des »Doctors ohne Barth« mit der poetologischen Maxime der »schlechten« Schreibart verbindet, erweist er so zum einen, daß das für sich wenig aussagekräftige Objekt der Satire offenbar eine persönliche Kränkung des Autors verursacht hat, 59 und zum anderen, 59

Dies wird später deutlich, wenn von einem Fremden berichtet wird, der als satirischer Autor einer »Reitschul«, die in der Kapitelüberschrift als Beers Weiber-Hächel identifiziert wird, von einer verbuhlten Frau verfolgt wird, die sich getroffen fühlt und dem Verfasser nach dem Leben trachtet. Dieser Fremde, hinter dem wir wohl Beer selbst vermuten dürfen, ist auf dem Weg in das Narrenspital, wo er den »Doctor ohne Barth«, den er dorthin gebracht hat, wegen seiner fortgesetzten Verleumdungen mit Strafe bedroht. Die in sich kompliziert gestaltete Passage kann als Warnung an Kritiker und Verleumder gelesen werden, sich vor weiterer übler Nachrede zu hüten: Der getroffenen Frau, die sich später als »Hure« zu erkennen gibt, wird die Unsinnigkeit ihres Unterfangens klar gemacht: »[I]hr hät viel klüger gethan/ daß ihr euch gar nicht um die Reitschul angenommen hätt. Dann gesetzt ihr seid so schlimme Huren/ wie in dem Büchlein stehet/ so solt ihr thun/ als gehe es nicht euch sondern andere an. Saget ihr aber/ es sind lauter solche Sachen/ die auff uns zielen/ und die ohne dem bekant genug sind/ so sage ich/ warum beklagt ihr euch dann?« {N\ 188), während den maliziösen Kritikern neben dem »Carbatschen« auch die Einweisung in das Spital droht (Ν: 200). Der »Doctor ohne Barth«, der ja bereits aus dem Blaumantel bekannt ist und dessen jugendliches Alter im Kontrast zu der akademischen Würde und der daraus abgeleiteten Ehrsucht steht, muß daher als Figuration eines persönlichen Gegners Beers aufgefaßt werden. Anmaßung und Herablassung im Umgang mit einem Hofbeamten lassen sich auch hier - wie schon im Staatsmann - als privater Hintergrund vermuten, wobei wohl Beers innere Aversion gegenüber der notwendigen Insinuation den Ausgangspunkt der Satire ausmacht. Es wäre in diesem Zusammenhang auch denkbar, daß er als offiziell unbekannter Autor der misogynen Satiren, die ebenfalls mit persönlichen Reminiszenzen gesättigt sind, mündlich verwarnt wurde.

267 daß diese Kränkung poetologische Relevanz hat, denn der vom Erzähler gewählte Darstellungsstil ist dem Hof- und Gelehrtenstil polemisch entgegengesetzt. Dabei ist die Aptum-Regel nur eine vorgeschobene Begründung, denn die grotesken Stilelemente entlarven dieses Argument als apologetisch: Und warum solle ich um eine hohe Schreib=Art bekümmert seyn/ indeme ich von gemeinen Sachen rede? [...] also sieht es mich vor gut an/ gleiche Sachen mit gleichen Farben abzumahlen/ und also zu reden/ das man von allen verstanden werde.

(N: 149f.) Beers Argument reflektiert dabei weniger die Forderung nach sprachlicher Angemessenheit als die Decorumsregeln geschickter Insinuation und die darin implizierte Dis/simulation. Er übernimmt so mit dem anmaßenden »Doctor ohne Barth« nicht nur eine spezielle Figur aus dem Blaumantel, sondern - cum grano salis - auch dessen Thematik, die sich am Ende des Textes als unlösbares Problem der Integration von kritischer, satirischer Intelligenz und, damit verbunden, affirmativer Dissimulation erweist. Das Scheitern des Konzepts im Blaumantel wird durch das dort ausgesprochene Satireverbot manifest, und die unterdrückte Kritik flüchtet sich schließlich in die Projektion einer paradoxen Idylle der geselligen Einsamkeit. An diesem Punkt setzt auch das Narrenspital an, denn die Erzählsituation entwirft die Beschwerlichkeiten der Einsamkeit des einsiedlerischen Erzählers als Schreibmotivation und setzt so den Text der Erzählung als Substitut des geselligen Freundes. Die Dilogie wird schließlich die beiden Motive in der bekannten Szenerie landadliger Geselligkeitsidyllik, in der aus ähnlichen Gründen erzählt wird, kombinieren. Der Grund für das Leben »auff der Einöde« ist in jedem Fall die Einsicht in die notwendig sündhafte Verfassung der Welt und ihrer »politischen« Gesetze: Autor, Erzähler und Protagonisten finden es zunehmend schwer, sich in die Gesellschaft zu integrieren; ihren Charakter und ihre satirische Disposition müssen sie unterdrücken und verleugnen, weil ihre Sittenkritik unerwünscht ist und verhängnisvolle Gegenmaßnahmen provoziert, wie die Reaktionen auf die misogynen Texte Beers belegen. Zum anderen leiden der Erzähler und seine Figuren unter der anmaßenden Hoffart der dissimulatorischen Insinuation, die nichts anderes als der unverstellte Ausdruck der Macht ist. Die Macht der gesellschaftlichen Position ist bei Beer aber immer Sprache als Ausdruck des Ranges, nicht die Verfügungsgewalt über Dinge und Menschen; sie ist Sprache in dem Sinne, daß sie sich bei Beer nur als solche ausdrückt. Ihre Kehrseite dagegen ist die nackte, rohe Gewalt, sowohl als Strafe für Anmaßung und Hoffart wie auch als disziplinarische Maßnahme zur Einübung sozialen Decorums und Unterdrückung eigensinniger Abweichung. Die Szenerie rigider körperlicher Disziplinierung bildet in diesem Sinne den Ausgangspunkt des Narrenspitals und markiert dabei mehr als nur das extreme Detail eines pikarischen Lebenslaufs, der dann doch elliptisch bleibt.

268 Auch Battafarano erkennt diese Funktion der Anfangspassagen, die von dem brutal prügelnden Schulmeister, dem »Kinder=Hencker« und perverssadistischen »Arschgucker«, berichten: Die geschlossene Welt eines Klassenzimmers mit ihrer eindeutigen Verteilung von Bestimmenden und Bestimmten, Gewalt-Ausübenden und Gewalt-Erleidenden präfiguriert in gelungener Weise die geschlossene Gesellschaft eines absolutistischen Kleinstaates am Ende des 17. Jahrhunderts. (Battafarano [1991] 196)

Als Konsequenz der disziplinierenden Schulgewalt stellt er die Ablehnung der »verbalen Sprache« und die Regression zur »Körpersprache« fest, die in ihrem Protest jedoch nur Zeichen der Ohnmacht sei. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen; aber diese Beobachtungen können doch nur den ersten Ansatzpunkt einer Analyse bilden, denn die Schulmeister-Sequenz ist in sich differenzierter und komplizierter, als es Battafaranos Thesen nahelegen.60 Dabei zeigen sich zwei ineinanderlaufende Motivstränge, die sich gegenseitig bedingen, aber auf verschiedenen Ebenen angelegt sind. So läßt sich der Text zunächst in der Beschreibung des prügelnden Schulmeisters und seiner »anal-sadistischen Lust am Strafen«61 als Unterdrückung der Natur im Mittelhaushalt der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung verstehen. Der »Prozeß der Zivilisation«, wie ihn Elias beschreibt, gründet ja zum einen in einem immer weiter ausdifferenzierten Regelwerk sozialen Decorums, zu dem an erster Stelle Kleider- und Sprachregeln zählen,62 die die Distanz der gesellschaftlichen Elite in und durch Sprache formulieren. Zum anderen definieren die Decorumsregeln eine immer weiter getriebene Beherrschung und Unterdrückung des Körperlichen als bedeutungstragendes Merkmal; die Erlangung sozial herausgehobener Identität vollzieht sich demnach in bedeutungsvoller Analogie zur Zeichentheorie und zum Gesetz frühkapitalistischer Kapitalakkumulation: Die weitergetriebene Beherr60

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Der Grund für seine zu kurz greifende Interpretation liegt zum einen in der Mißachtung der oben beschriebenen Erzählsituation und zum anderen in der daraus entstehenden Geringschätzung des Erzählers und seiner Erzählmotivation. Battafarano entwirft seine Analyse aus dem Grundverständnis des Textes als Mittel in einem allgemeinen anti-melancholischen Programm: »Die Körperfunktionen des gesunden Menschen werden den Grillen und Phantasien, dem in sich kreisenden Intellektualismus des Melancholikers entgegengesetzt« (Battafarano [1991] 193). Die »skatologische Lachtherapie«, die als »anti-traditionelle« und »anti-intellektuelle« »rhetorisch minimalisierende Poetologie« auf »Ergötzligkeit« ausgerichtet ist, bezieht der Interpret jedoch nur auf Lorentz, nicht aber auch auf den Erzähler. Auch Rusterholz (1982) 512f. gewinnt der Passage nicht mehr ab. So Rusterholz (1982) 513. Zur Kleidermetapher siehe Busch (1991), der in seiner Untersuchung zum Monströsen bei Beer das Motiv des Kleidertausches unterstreicht: »Strukturell ungleich wichtiger als der Eintritt des Schaurig-Grotesken in die Romanwelt ist der Motivkomplex des Kleiderwechsels, der Verstellungen und Wiedererkennungen. Die Bedeutung dieses Motivkanons für die Strategien der Identitätsverunsicherung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden« (S. 376).

269 schung des Körpers äußert sich primär in der Sublimation leidenschaftlicher körperlicher Begierden, und die disziplinierende Triebökonomie wird zum Spiegelbild des ökonomischen Verhaltens, wenn die Möglichkeit zum Lustgewinn nicht realisiert, sondern durch Aufschiebung vergrößert und - »investiert« wird. Die Beherrschung des Körpers ist so nicht nur Zeichen der Macht, sie ist auch Erfordernis im System gesellschaftlicher Umgangsregeln; die Traktate der »Tranchir-Künste« zeugen davon ebenso wie das Hofprotokoll und die zahllosen Verhaltenslehrbücher oder die Regie der höfischen Festballette. Der Einübung in die Decorumsregeln dienen im weitesten Sinne auch die politischen und satirischen Romane der Zeitgenossen, und auch Beer will seinen Beitrag dazu leisten; in der Figur des Schulmeisters jedoch beschreibt er den unvermeidlichen negativen Aspekt derartiger Disziplinierung, denn hier erscheint das krasse Beispiel der falschen Anmaßung, die nicht auf Verdienst und Fähigkeiten ruht, sondern das formale Prinzip verabsolutiert. Der Zwang, die formalen Regeln peinlichst genau einzuhalten,63 wird von Beer als krankhaft entlarvt, indem er die dunkle Seite der notwendigen Disziplinierungsmaßnahmen in aller Deutlichkeit benennt. Es gibt keinen Zweifel, daß Beer ständekonservativ empfindet, allein Geburt und Tugend oder Begabung und Verdienst sind für ihn nachvollziehbare Gründe der sozialen Hierarchisierung, die sich in einer natürlichen Distanz äußert und sich dabei durchaus leutselig gibt. Die Insinuation als Strategie des Vorspiegeins ist in diesem Zusammenhang natürlich negativ konnotiert, und die Repressalien zur Durchsetzung der Körperdisziplin erweisen sich als Analogie anmaßender und unsinniger Decorumsregeln: Er hatte seine gröste Lust uns arme Kinder zu schmeissen/ und ich kan schweren das er die meiste Schul=Zeit nur mit Auskehrung der Ärsche zu thun hatte. Das Hertze lachte ihme im Leibe/ wann er hörte/ daß einer oder der ander unter seinen Discipuln außer der Schnure gehauen [...] und er achtete es wenig/ wann er die Kinder mit Ruthen striche daß das Blut hernach flösse. Er striche etliche dermassen zu Schanden/ daß sie dem Bruch= und Wund=Artzt etliche Wochen musten unter der Hand liegen. (Ν: 150) 64

In der Gestalt des Schulmeisters verdichtet sich schließlich die extreme Autoritätsposition zum psychischen Komplex, in dem der Disziplinierende nicht nur als pervers erscheint, sondern auch überdeutliche sexuelle Konno63

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»[D]ann er schlüge uns ohne Ursach/ und wann sich einer nur um einen Finger weit von seinem Orth verrückte/ so bekäme er mehr als 60 Streiche« (Ν: 151). »Das Wohlverhalten der Knaben war seine ärgste Pestilentz/ dann dadurch fraß er den hefftigsten Gifft in sich/ weil er in der Schule nichts zu straffen hatte/ aus welchem gar leicht kan verstanden werden/ welch ein unbeschreibliche Thorheit den Phantasten besessen/ der sich durch die Tugend seiner Discipuln zum Zorn und Wiederwillen reitzen Hesse« (Ν: 150). Diese Bemerkung assoziiert entfernt im übrigen das Verhalten des Satirikers, der nur auf Fehlverhalten reagiert, wie auch das der kritisierten »verbuhlten Huren« und Ehefrauen, die sich erzürnen, wenn sie zu Recht gestraft werden und der Satiriker seine Tilgend exerziert.

270 tationen präsentiert. Die Angst der Schüler65 vor der »Ruthe« trägt Züge der Kastrationsangst, wie die überzeugend verlebendigende Prügelszene nahelegt: Wo ich mich an eine Banck oder an einen Knaben anhalten konte/ da hielte ich mich mit allen Klauen an/ dahero geschähe es/ daß ich bald einen bey dem Haar/ den andern bey seinem Uberschlag ergriffe/ die ich ihnen in kleine Stücken zerrisse. In wehrenden solchen herum reissen/ verknüpfte ich meine Hosen=Nestel wohl mit 24. Knöpfen/ welches/ als es der Schulmeister gewahr ward/ wischte er über sein Feder=Messer mir die Hosen auffzuschneiden/ aber ich streckte den Bauch weit vor mich/ schwenckte mich auch mit dem Leib der Gestalt hin und wieder/ daß er mir nicht leichtlich an die Nestel kommen konte/ aus Furcht/ er möchte mich gar in den Bauch schneiden. Endlich wurffe er mich zu Boden und kriegte mir die Hosen von hinten hinnunter/ da hat er wohl mehr als 2. Rutten an mir stumpff und zu Schanden geschmissen/ also/ daß ich sowohl unter der Nase als auff dem Fetzer voll Blut war. (N: 151f.)

Dies ist die perfekte Beschreibung einer Defloration und Vergewaltigung, die an Brutalität und Drastik die Straftechniken der misogynen Phantasien Beers weit übertrifft. Es soll nun aber keine psychoanalytische Exegese dieser Passage angestellt werden,66 sondern nur auf die grundlegende Verankerung des literarischen Motivs in den sozialpsychologischen Voraussetzungen der frühmodernen Disziplinierungsstrategien verwiesen sein. Die Autorpsychologie ist, wie wir oben bereits andeuteten,67 von überaus großer Bedeutung, wie auch die immer wieder auftretende Verquickung persönlicher Ressentiments mit literarisch-satirischen Motiven ausgiebig belegt. Die zitierte Stelle ist aber nicht nur Beleg für die buchstäbliche Vergewaltigung der noch unschuldigen Natur durch die Autorität des Über-Vaters, sondern auch Ausgangspunkt der zweiten Motivreihe, die auf der ersten der Verwandlung sozialer in körperliche Disziplinierung aufbaut und die Reaktion auf die Unterdrückung schildert. Erst hier entfaltet sich der Beziehungsreichtum der grotesken Skatologie, die als regelrechtes Gegenprinzip zur rigiden und disziplinierenden Körperdressur verstanden werden muß. Es ent-

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Noch auf der Flucht erscheint den Schülern das Schreckgespenst, »und ob uns gleich ein Wolff begegnet wäre forchten wier ihn doch nicht (so) sehr/ als den Schulmeister/ dessen blosser Nähme auch kräfftig genug war uns eine Furcht einzujagen« (N: 153). Hannß entläuft dem Pfarrer im dritten Kapitel, »und weil ich forchte/ er möchte mich dem Schulmeister wieder an die Hände liefern/ lieffe ich desto geschwinder« (Ν: 157), und seine erste erleichterte Beobachtung auf Lorentz' Schloß gilt der pädagogischen Korrektionsanstalt: »[U]nd war froh daß ich bey ihme bleiben solte/ dann ich merckte wohl/ daß keine Schul bey dem Schlosse ware/ also hatte ich keine grosse Ruthe zu fürchten« (Ν: 157). Eine solche psychoanalytische Deutung, die sich vor allem auch fundiert auf sozialpsychologische und historische Gegebenheiten stützen kann, ist allerdings ein dringendes Desiderat der Beer-Forschung und könnte der weiteren Forschung erhellende Hinweise vor allem zur Konstitution der Satireauffassung liefern. Die besten Vorarbeiten dazu liefern Berns (1986) und Jacobsen (1990) und (1991). Siehe dazu Kapitel 3.3.3.

271 springt dabei durchaus nicht der Einbildungskraft Beers, die niedrigste Sphäre menschlicher Existenz dem Ideal beherrschter Körperlichkeit entgegenzusetzen; Michail Bachtin hat mit seiner Konzeption des grotesken Körpers dessen Gegenposition zum geschlossenen, klassischen Körper idealtypisch bezeichnet.68 Zentrale Aussage der Karnevalisierungsthese Bachtins ist der Gegensatz von offizieller und nicht-offizieller Kultur, die in ständigem Kampf miteinander begriffen sind: Der Disziplinierung des beherrschten Körpers ist die versuchte Degradierung alles Hohen und Elitären entgegengesetzt. Bereits an dieser Stelle werden bezeichnende Analogien zum Beginn des Narrenspitals deutlich, die den prügelnden Schulmeister als Ausdruck der offiziellen Kultur und des klassischen, beherrschten Körpers versteht. Seinen brutalen Disziplinierungsversuchen am Körper des Erzählers setzt dieser eben seine groteske Körperlichkeit entgegen, indem er den Bauch vorstreckt und seine Gliedmaßen verdreht. Auch die zitierte tiefsitzende Angst der Schüler qualifiziert ihn zur offiziellen Autorität, die von den entflohenen Schülern auf charakteristische Weise degradiert wird, wenn sie ihn auf durchweg skatologische Art und Weise beschimpfen: [G]ute Nacht Fuchs/ hinfort soltu mich nicht mehr streichen/ aber wohl in Arsche lecken du Huntsfutt [...]/ aber nun blase mir ins Loch davor du Henckers Knecht/ ich wolte das dich der Teuffei samt deinem rothen Barth durch alle Scheuß=Häusser in dem Dorffe herum schlepte. (N: 153)

Diese auffällige skatologische Schimpftirade hat im Text ihre Vorgeschichte, und beide Motive entsprechen exakt den Definitionen Bachtins, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Die zitierte Prügelszene nimmt ihren Ausgang in einem wiederum skatologischen Motiv, der Empfindlichkeit des Schulmeisters »in Puncto Furzi«, die er nicht ohne Grund als elementare, materiell-leibliche Degradierungsversuche der angestrebten Disziplinierung versteht: Gegen die Ansprüche rigider Körperkontrolle setzen die Eleven den Körperprotest, indem sie ihrer Leiblichkeit freien Lauf lassen und so auch den geistigen Anspruch der Disziplinierungsversuche degradieren. Die daran anschließenden Repressalien sind vorhersehbar: Er hatte den Gebrauch/ so ein Knabe einen Fortz streichen liesse/ muste einer von oben biß unten der Bäncke gehen zu rüchen wer es gethan hätte [...]/ auff solchen regnete es alsdann Zentner schwere Schläge. (iV: 151)

Durch Mißgunst wird jedoch der unschuldige Erzähler der Strafe preisgegeben, der in seiner Einfalt einen verhängnisvollen Fehler begeht, als er zur Selbstverteidigung den Schulmeister auffordert: »[Rjiechet selbst an meinen Arsch/ da werdet ihr finden/ das ich fälschlich belogen worden« (Ν: 151). An 68

Hier steht im wesentlichen sein Rabelais-Buch (BR) im Vordergrund.

272 dieser Stelle vollzieht sich nun etwas Eigentümliches: die Verwandlung von Körperprotest in Sprachsatire. Ohne zu ahnen, was er anrichtet, verschärft der Erzähler die Beleidigung und schafft damit gleichzeitig eine lächerlichgroteske Situation und die Voraussetzung für die brutale Strafe. Es liegt nahe, hier den Ansatzpunkt der Satire zu sehen und die materiell-leiblichen Motive als Körpersatire zu begreifen, zumal die Problematik der Zulässigkeit der Satire implizit mitreflektiert ist. Der folgende Text macht dann auch zweifelsfrei klar, daß in der Reaktion der Schüler Bachtinsche Degradierungsstrategien und satirische Kritik im Medium des Skatologischen konvergieren: [DJannehero erwiesen wir ihme in seynem Abseyn allerlei Possen/ und hofirten ihme bald in diese/ bald in jene Ecken der Schul [...]. Unterweilen wurffen wir ihme auch die Fenster ein/ und mahlten ihn mit seiner Ruthe mit Gassen=Koth an die Wand und setzten darunter garstige Wort als: Huntsfut Schulmeister/ Item den Versch: Der Schulmeister scheibet gerne Kegel/ er ist auch gar ein böser Flegel und so fort. (JV: 152)

Auf die Beleidigung folgt ein neuerliches Strafgericht, das in Ermangelung feststellbarer Malefikanten alle Schüler betrifft. In dem satirischen Lachen der grotesken Degradierung löst sich - vorübergehend - die Angst: »Alles Drohende wird lächerlich. [...] man spielt mit dem Schrecklichen und lacht es aus, macht es zum heiteren Popanz« (BR: 141).69 Die Sprache selbst wird bei Bachtin in ihrer grotesken Funktion als »Sprache des Marktplatzes« beschrieben, die sich vor allem in »Marktplatzverwünschungen und Flüchen« ausdrückt: »Wenn die alte sterbende Welt mit Kot beworfen, mit Urin begossen und mit einem Hagel von skatologischen Flüchen überschüttet wird, so ist das ihre fröhliche Beerdigung« (BR: 217).70 Auch im Narrenspital wird ausgiebig geprügelt und beschimpft; so etwa, wenn die alte Magd Lorentz beschimpft, der mit dem Erzähler um die Wette furzt, »biß endlich die gantze Schul in das Bett und auff mein Hembde gelauffen käme« (N: 161):

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Sowohl bei Beer wie auch bei Bachtin wird dies skatologisch inszeniert: »Hier wird die Ambivalenz des Kotmotivs offenbar, seine Verbindung zu Wiedergeburt und Erneuerung und seine besondere Rolle bei der Überwindung der Angst. Scheiße ist die heitere Materie. In den ältesten skatologischen Motiven ist sie, wie schon erwähnt, mit Zeugungskraft und Fruchtbarkeit verbunden. Andererseits ist sie die Mitte (Mittlerin) zwischen Erde und Körper, etwas, das beide einander annähert« (.BR: 216). »Schimpfworte, Grobheiten, Flüche und Obszönitäten sind nicht-offizielle Elemente der Rede. Sie werden immer als wissentlicher Verstoß gegen die sprachlichen Normen bewertet, als eine bewußte Weigerung, die Redekonventionen einzuhalten, sich an Etikette, Höflichkeit, Respekt, Anstand und Rangordnungen zu orientieren. [...] So verwandelt sich eine von der Normenherrschaft, der Hierarchie und den Tabus der Normalsprache befreite Rede im Verhältnis zur offiziellen quasi in eine besondere Sprache, eine Art Argot« (BR: 229).

273 Pfui Sapprament das hat der saubere Junker Lorentz gethan/ ich wolt daß ihn der Teuffei sammt seinem Bett=Scheissen hette. O es wär kein Wunder wann seine Frau Mutter aus dem Grabe auffstiinde und ihm seinen verschissenen Hintern mit Ruthen wacker abstriche. [...] Herr Lorentz ihr wolt ein so stattlicher Cappalier (Cavallier) seyn/ und schämet euch nicht eine solche Fretterey anzurichten. (Ν: 161)71 Im Motiv der schulmeisterlichen, disziplinierenden »Ruthe« erweist sich die »schmehlende« Alte als Vertreterin der rigiden Körperdisziplin, und eben so wird ihre Kritik auch von Lorentz verstanden und erwidert: »Du alte Runckunckel«/ sagte Lorentz. »Gehe oder ich werffe dir einen Kegel in den Nacken hinein/ und schmiere dir das T\ich noch darzu umb das Maul herumb/ warumb verstopffest du mir den Hintern nicht mit einer Hand voll Haberstroh/ du alte Strohfidel? dir zur Ehren will ich meiner Natur kein Hals=Eisen anlegen/ wilstu es nicht leiden/ so schere dich zum Thor hinaus du Pantoffelholtz«/ hiermit ergriffe er ein Stück Roßdreck und wurffe auff sie/ und weil sie auffs neue zu schmehlen angefangen/ stunde ich Herrn Lorentzen in seiner Arbeit bey/ biß wir die alte Anna sammt ihrem bestulgängten Bettuche so gut wieder über den Hoff hinüber gejaget/ als sie her gekommen. (Ν: 161f.) Das Motiv des verschlossenen Hinterns wird im Text selbst metaphorisch als Disziplinierung der Natur und des Körpers interpretiert und in degradierender Absicht durch das Bewerfen mit Kot (Roßdreck, wie schon in Blaumantel)72 abgewehrt. Das Bewerfen ähnelt dabei durchaus dem Verprügeln und bewirkt die endgültige Vertreibung der alten Magd, die den Dienst bei Lorentz aufgibt. Zwei andere Szenen belegen, daß Beer seinen alten und häßlichen Mägden diese von Bachtin herausgearbeitete Funktion beimißt. In der ersten, die direkt auf die schon zitierte folgt, wird er von der neuen Magd 7 3 mehrfach zum Kirchgang aufgefordert, worauf Lorentz ihr mit Schlägen droht und sie in die Küche verweist. Hier verbinden sich die typischen Motive des Verprügeins und des Essens in recht unspezifischer Weise, während die zweite Szene in jeder Hinsicht drastischer und charakteristischer ausfällt. D i e Magd überrascht Lorentz und den Erzähler zusammen mit dem fidelnden Torwärter, die, vollkommen betrunken, nackt umeinander herumspringen. 74 Ihr »Schmehlen« und Lo71

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Vgl. auch Bachtins Beschreibung von Gargantuas Geburt: »Hier wird buchstäblich die Anatomie des Unterleibs vorgeführt. Der groteske Leibes-Knoten wird hier noch fester geknüpft: der ausgetretene Dickdarm, die verspeisten Ochseninnereien und der gebärende Leib [...] sind in diesem Abschnitt untrennbar verbunden« (BR: 266). »Mit Dreck bespritzen heißt degradieren. Die groteske Degradierung betraf immer buchstäblich den Unterleib, den Bereich der Geschlechtsorgane. Man spritzt also nicht mit Dreck, sondern mit Kot und Urin, das ist die alte degradierende Geste, die auch der modernisierten, zahmen Metapher >mit Dreck bespritzen< zugrunde liegt« (BR: 188). Im Blaumantel steigert sich dieser Aspekt zur Zumutung der Skatophagie, die, in anderer Form, als Narrenwettbewerb traditionell zum Narrenthema gehört, das ohnehin deutliche skatologische Komponenten hat. Die »neue« Magd ist wiederum alt und häßlich; ihre Handlungsimpulse sind bereits im Jungfer-Hobel verwendet worden (N: 162). Siehe N: 173.

274 rentz' Antwort reproduzieren die Argumentation der ersten zitierten Szene: Der Hinweis auf die Regeln des gesellschaftlichen Decorums und die Ansprüche rigider Körperkontrolle provoziert die skatologische Erniedrigung: »[S]chämt euch in den Arsch hinein Herr Lorentz/ ihr wollet ein Edelmann seyn/ und treibt solche närsche Sachen.« »Ha«/ antwortete Herr Lorentz/ »du Hure/ was geht dich mein Adel an/ komm her und lecke mich davor im Arsche.« (Ν: 173)

Aber damit nicht genug, ihr fortgesetztes Moralisieren führt dazu, daß sie gefangen und ebenfalls entkleidet wird; sie wird von den Männern durch das Zimmer getrieben und in eindeutiger Weise degradiert: Die Magd aber war zum aller iiblesten dran/ und weil sie den Herrn Lorentzen immer einen Schelm und liederlichen Teuffei über den andern hiesse/ so revangirte er sich gegen derselben mit seinem Blaßrohre/ indeme er ihr über die 50. Erdene Kugel auff den Leib schösse/ davon sie wie eine Span=Sau zu kürren angefangen. (.Ν: 174)

Als sie endlich fliehen kann, wirft Lorentz »ihr noch zum valet etliche Leimklotzen auff den Buckel hinunter« (Ν: 174); ein so lustiger Patron der faule Lorentz auch sein mag, in dem Punkte seiner ganz persönlichen Freiheit zur Lebensentfaltung versteht er keinen Spaß, und wenn Bachtins Vorlage mit Beers Text auch unvergleichbar ist, das Resümee des Autors kann hier auch gelten: So ist es klar, daß es sich in dieser Episode nicht um eine gewöhnliche Schlägerei handelt. Die Schläge haben symbolische, ambivalente Bedeutung, sie vernichten (im Extremfall) und geben neues Leben, beenden das Alte und säen das Neue. Dies gibt der ganzen Episode ihre karnevalesk zügellose und bacchantische Atmosphäre. (.BR: 246)

So einsichtig jedoch die Rolle der Mägde als »Repräsentanten der alten Welt« ist, so problematisch erscheint bei Beer die rabelaisianische Ambivalenz, die im alten, sterbenden Körper noch die Geburt des neuen, jungen Leibes erreicht:75 Bei Beer findet sich nichts dergleichen, und während Bachtin seine Thesen anhand der Interpretation eines Hochzeitsessens gewinnt, wird später bei einer ähnlichen Szene im Narrenspital die tiefe Differenz von Beer und Rabelais deutlich. So sehr die Erzähler Beers bereit und in der Lage sind, die groteske Degradierung angemaßter Autorität und hierarchischer Körperdisziplinierung zu betreiben, so wenig sind sie willens, sich selbst der »Karnevalisierung« zu unterziehen.76 Es wird sich im folgenden zeigen, 75

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»Jedes Schimpfwort enthält auf irgendeine Art das materiell-leibliche Motiv des schwangeren Todes. [...] Streng genommen liegt, wie paradox das auch klingen mag, ein umgekehrter Fluch vor: die ganze Welt wird als schwangerer und geborenwerdender Tod vorgeführt« (BR: 394f.). A m Ende des Narrenspitals steht Panurge gegen Lorentz, der dessen Resistenz nicht mehr aufzubringen vermag: »Der Schoß der Frau ist unerschöpflich und unersättlich, die Frau als Hervorbringerin des Neuen ist allem Alten organisch feind; deshalb wird Panurge zwangsläufig entthront, verprügelt (vielleicht sogar totgeschlagen) und ausgelacht werden. Doch er ist trotzig, er glaubt, man könne diesem

275 daß gerade hier die wesensmäßige Differenz zwischen Rabelais und Beer begründet liegt, denn wo bei Rabelais der Tod gleichzeitig der Beginn des neuen Lebens ist, bleiben bei Beer seit dem Welt-Kucker nur der Tod, die Angst und die Einsamkeit. 77 Damit erweist sich aber für das Narrenspital nichts anderes als das, was schon aus dem Blaumantel bekannt ist: das Thema des Helden als kritischer Satiriker und kritikwürdiger Sünder gleichermaßen. Die Entwicklung dieses Themas vollzieht sich bei Beer auf zwei verschiedenen Ebenen und mit zwei völlig verschiedenen Motivsystemen; zum einen als »Bettgespräch« und zum anderen am Beispiel des Narrenspitals. Dabei entspricht das Bett bei Beer dem »Festmahlsmotiv« bei Bachtin, der ihm ein ganzes Kapitel widmet. 78 Das Festessen ist auch unverzichtbarer Rahmen für das weise Wort und die heitere Wahrheit. [...] Allein die Festmahlatmosphäre und ihr spezieller Ton entsprechen der innerlich freien, heiteren Wahrheit. [...] Themen und Motive der »Tischgespräche« sind fast immer »hochfliegende Materien und tiefsinnige Weisheiten«, doch werden sie alle in der einen oder anderen Form entlarvt und erneuern sich auf der materiell-leiblichen Ebene. Die »ΉβοΙ^ββρΜοΙιε« sind von der Beachtung des hierarchischen Abstands zwischen Dingen und Werten suspendiert, sie mischen kühn Profanes mit Heiligem, Hohes mit Niederem, Geistiges mit Materiellem. (BR: 325, 327)

All dies trifft offenkundig auf die »Bettgespräche« zwischen Lorentz und Hannß zu, die vornehmlich die Lebensart des Junkers betreffen. Das Bett ist in diesen Passagen nur ideeller Ausgangsort der Unterhaltungen, die sich auch an andere Stätten verlagern; bedeutendstes Kennzeichen ist jedoch die fast immer durchgehaltene Form des Zweier-Gesprächs. Lorentz etabliert dabei eine Art dialogisch-skatologischer Intimität, die die hohen Themen durch niedrige, materiell-leibliche Unarten »entlarvt« und degradiert. Seine Körperlichkeit äußert sich jedoch nicht primär als nicht-restringierte Flatulenz, sondern als synästhetisch herbeigeführte Bewußtlosigkeit: Er läßt sich gezielt von den Läusen beißen, um sich dann mit Lust »den Buckel kratzen« zu lassen:

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Schicksal irgendwie ausweichen, anders gesagt, er will ewig König sein, ein nie endendes Jahr, die ewige Jugend« (BR: 283). Bei Lorentz ist dagegen keine Spur von positiver Wertung im Sinne eines »Neuen« zu entdecken, die Hahnreihschaft steigert seine Indolenz noch, so daß er endgültig zum verächtlichen Subjekt wird. Lorentz ist zur »Erneuerung« unfähig, wie das Ende des Narrenspitals belegt, und er steht damit gegen Bachtins Beobachtung bei Rabelais: »Die Prognosen über die Braut und die Ehe verarbeiten das Motiv des individuellen Todes, der Ablösung und Erneuerung, auch sie haben die Funktion, die Zeit zu verkörperlichen und zu vermenschlichen und das Motiv der heiteren Zeit einzuführen. Die Prophezeiung über die Hörner ist eine groteske Degradierung der von Königen und Usurpatoren (z.B. Macbeth) verfolgten Prophezeiungen über das Schicksal der Krone (deren Äquivalent auf der Lachebene die Horner sind)« (BR: 285). BR: 320-344.

276 In solchem Buckelkrauen schlieffe er gemeiniglich ein/ und damit ihme die Zeit desto kurtzweiliger würde/ gäbe er mir unter Tages etliche Geschicht=Bücher/ als den Fortunatus mit seinem Sekel und Wunschhütlein und dergleichen Narrenpossen zu lesen/ die muste ich ihme Abends unter währendem Kopffkrauen erzehlen und daher schwätzen/ biß ich merckte/ daß ihme fühlen und hören vergangen. (Ν: 158) Das Kratzen des juckenden Körpers stellt die Situation bedürfnislosen Wohlbefindens her und erscheint so als Form der Arbeit, 79 die allerdings ebenso unproduktiv ist wie das Nacherzählen von Volksbuchstoffen. 80 Beide Tätigkeiten bewirken jedoch das gleiche: Lorentz verliert schrittweise das Bewußtsein der Welt und seiner selbst. Hier liegt der letztliche Zielpunkt seiner Lebensweise; Lorentz ist vom Todesprinzip überschattet, seine Sehnsucht richtet sich auf den Zustand vollendeter Bewußtlosigkeit, und seine körperbetonte Lebensphilosophie läuft auf das Equilibrium der Fühllosigkeit hinaus. Essen und Trinken haben nichts Festliches, sie beenden Mangelzustände oder führen zum Selbstvergessen im Alkoholrausch, und seine anale Unart dient vornehmlich der Lösung körperlicher Spannungen. 81 Hinter diesen Phänomenen verbirgt sich allerdings eine mehrfach angesprochene Philosophie, deren Zentralbegriff der der »Gemütsruhe« ist: [A]ch Hannß du weist noch nichts umb die wahre Gemüths=Ruhe und rechte Wollust dieser Welt. Reuten/ Tantzen/ Fechten das sind Narrenpossen/ so ist auch in grossen Panquetten und in der Fiebermentschen Frauenzimmer Lieb kein grosses Vergnügen/ aber Hannß/ das Buckelkrauen gehet über alles. (N: 160) Lorentz erweist sich mit dieser Bemerkung zunächst als der Typus des antierotischen Satirikers, 82 den wir bereits bei der Betrachtung des Verliebten Europäers und des Blaumantel als konstituierend analysiert haben, ohne daß der Begriff der Gemütsruhe dort eine größere Rolle spielt. Ein wesentlicher Bestandteil der Gemütsruhe ist die Ablehnung religiöser und weltanschaulicher Verantwortlichkeit, wie sie sich in den Bettgesprächen äußert. Der Degradierung der Magd folgt direkt eine zeitweise unterbrochene, aber die ganze erste Hälfte des Textes durchziehende religiöse Diskussion, die als

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»[A]lso bekäme ich offt die Wochen hindurch 13. biß 14. Groschen Läusegeld und verdiente mir dieser Arbeit vielmehr/ als mancher Frohn=Bauer auff der Wolffs= Jagd eine gantze Wochen« (Ν: 159). Hier wird die Frivolität der eigensinnigen Körperkultur des Adligen deutlich. Auffallend ist hier wiederum das Faktum des Nacherzählens und nicht des Vorlesens, von dem schon im Corylo berichtet wurde. Das Spezifikum dieser Form der Literaturübermittlung liegt offenbar in den kreativen Differenzen zum berichteten Original. In diesen Zusammenhang gehört auch seine körperliche Unreinheit (»Er legte vor grosser Nachlässigkeit offt in 3. Wochen kein neu gewaschen Hembde an«, N: 159), die eher von dumpfer Selbstvergessenheit als von bewußtem Körperprotest zeugt. Deutlich auch in folgender Passage: »>Jawarumb nehmt ihr dann kein Weib?< >Hörstu< sagte er/ >warumb bläsestu mir nicht in Arsch?< >Ey< sagte ich/ >das ist meiner Natur zu wieder.< >Ja nuso ist das vorige auch meiner Natur zu wiederlustigeNorm< ab, weil er der karnalen Leidenschaft keinen Raum in seinem Leben gibt; andererseits erkennt er in seiner Selbstüberschätzung und in seiner egoistischen Selbstliebe nicht die Grenzen seines Privatkarnevals, und so steht am Ende der Narrenvisitation noch unausgesprochen die latente Erkenntnis des doppelten Narrentums von Herr und Knecht. Dessen Bekenntnis wird durch die Wiederbegegnung mit dem Schneidergesellen hervorgerufen, denn den kritisiert er nun ganz offen in eben der apodiktischen Weise wie Lorentz, der unbedenklich jeden anderen zum Narren erklärt: »O du Narr«/ sagte ich/ »gehe nur fort/ du bist schon auff dem rechten Weg begriffen welcher ins Narren=Spietal weiset/ ehrdessen vermeintestu ein grosser Mon-

303 sieur zu werden/ und sagtest/ ich würde den Hut vor dich abnehmen müssen. Itzt stehestu Bernheuter selbsten in solcher Gestalt vor mir/ und bettelst ein Almossen.« (N: 206) Der Erzähler verfällt so in den gleichen Fehler wie Lorentz, wenn er andere als Narren bezeichnet und sich selbst implizit ausnimmt, und so wird er sogleich in charakteristischer Weise korrigiert, indem sein eigenes Narrentum erwiesen wird: [A]ber wie ich sehe/ so seid ihr auch kein grosser Potentat sondern ein lausiger Edelmans=Jung der seinem Herrn den Arsch jucken muß/ geworden/ ha/ ihr habt wohl Ursach mit einer so stünckenden Charge zu stoltzieren. (Ν: 206f.) Die Auseinandersetzung zwischen dem Erzähler und dem Schneidergesellen ist dabei ganz deutlich an den Disput zwischen Blaumantel und dem entlaufenen Mönch angelehnt: Auch dort erwidert der Mönch die vom Erzähler geäußerte Kritik mit einer schlagfertigen Gegenkritik, die dessen eigene Narrheit belegt. Der Schneider sieht im Narrenspital »einem verlauffenen Schüler« ähnlich und reiht sich damit in die Sequenz der tatsächlich »verlauffenen« Schüler Blaumantel und Hannß ein. Das wichtigste Merkmal der Isomorphic der drei Protagonisten ist jedoch die Analogie ihres Lebensgefühls, dessen Beschreibung im Narrenspital fast verbatim mit der im Blaumantel übereinstimmt: Sapprament mit bettel gehen komt man noch endlich am besten durch die Welt/ und was ich heute nicht bin/ das kan ich morgen werden. Bin ich schon arm/ so bin ich doch lustig/ und ich lasse auch in dem grösten Elend die Hoffnung auszukommen nicht hinfahren. (Ν: 206)147

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Im Blaumantel heißt es dazu: »[A]ber sie wüsten nicht/ daß ich unter meinen zerrissenen Kleidern und schlechten Aufzug dennoch ein lustiges Hertz im Leibe hatte/ und gut genug wäre/ manchen weithosichten Großbauch lustig zu machen. [...] [W]as hilffts/ wer kein bessers Handwerck kan/ dem geht es auch nicht besser. Etliche betteln aus Noth/ etliche aus Leichtfertigkeit/ und ich gesteh es/ daß ich in solcher Arbeit die gröste Gemüths-Ruhe gefunden« (B: 58 u. llOf.). Auch hier erweist sich also die Gemütsruhe als Legitimation; sie ist - das zeigt die zitierte Stelle - offenkundig das Korrelat des vollständigen Rückzugs aus Verbindlichkeiten und aus dem Ehrgeiz. Die Bettlerexistenz ist das armselige Gegenstück zu Lorentz' autonomer Landidylle, und dabei ist sie vom franziskanischen Ideal ebenso weit entfernt, wie Lorentz von der anachoretischen Askese. Der gemeinsame Bezugspunkt ist die regressive Indolenz der acedia: »Man exeqvirt einem nicht/ so fodert man auch keine Steur von mir. Den Haus=Zinß bezahlete ich allzeit mit einem deo gratias, und vor die Mahlzeit machte ich ein kleines lateinisches & caetera. So ist auch dieser Stand der bettelhafftigen Studenten viel besser/ als der gradus magisterii, dann man darff darinnen keine grosse Obsicht auf Höfligkeit und exemplarisches Leben tragen« (Β: 111). Das »lustige Hertz«, das sich der unbeschwerten Verantwortungslosigkeit verdankt, ist dabei zunächst eine Gabe Gottes, die unter den gegebenen Umständen aber auch zu sündigen Zwecken mißbraucht werden kann; dann nämlich, wenn es aus dem Übermaß und Unmaß des Genusses nicht mehr zur Selbstbesinnung und zum Sündenbewußtsein findet.

304 So erhält die Passage im Blaumantel erst hier ihren vollständigen Hintergrund, der zum Verständnis notwendig ist: Es handelt sich in beiden Fällen um den relativierenden Erweis der Narrheit des anderen und damit um eine inhaltliche Dialogisierung der Standpunkte, womit grundlegende Fragen eines biographischen Erziehungsprogramms thematisiert werden. Die Beerschen Erzähler versuchen nichts anderes, als die Frage zu beantworten: Wie soll ich mein Leben führen? Ihrem quasi-pikarischen Status als »verlauffene Schüler« entspricht dabei, neben gewissen Bildungsvoraussetzungen, ein begrenzter Rahmen von Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Das Ziel sozialen Aufstiegs mit Mitteln lebenspraktischer Politica ist das affirmative Modell, das (mundus vult decipi ergo decipiatur) durch seine Werte (Geld, Ehre, Macht) schon immer von Beer satirisiert wurde, ohne die Bewunderung für die kritische Schärfe der dissimulatorischen Intelligenz zu leugnen. Von ganz anderer Anziehungskraft ist das lorenzinische Weltmodell; es steht mit seinem melancholischen Verzicht auf Ehre und gesellschaftliche Macht für die Erfahrung der Scheinhaftigkeit dieser Güter und ihrer - Unerreichbarkeit. Dies ist das zentrale Motiv, das hinter der genießenden Resignation des Helden steht: die Glücklosigkeit der pikarischen Tramps und wandernden Blaumäntel. Der Aufstieg gelingt ihnen nicht, und ähnlich wie Pamphilius wirft sie ihr Scheitern auf immer niedrigere Stufen der Lebenswirklichkeit zurück. Lorentz' Isolierung und sein einsamer Körpergenuß sind so eine Form der Entsagung, deren Unfreiwilligkeit in der grotesken Schärfe seiner karnevalistischen Philosophie der Gemütsruhe zutage tritt und sich im gnadenlosen Spott ein Ventil sucht. Der Erzähler Hannß, der sich eine pädagogische Orientierung erhofft, die ohne blutige Prügelorgien auskommt, muß erkennen, daß die Exzesse karnevalistischer Körperfreiheit zwar angenehm aber wenig förderlich sind. Seiner Hoffnung auf Aus-Bildung kann Lorentz nicht gerecht werden, das Modell satirischer Flatulenzen ist in seiner Statik regressiv, und so gelingt im Narrenspital, was im Blaumantel noch weitgehend scheitert: Es ist gewiß das die Rede des Schneiders eine grose Wirckung in mir hatte/ dann ich gedachte bey mir selbsten: Was der Schneider gesagt hat/ ist gewiß nicht aus einem Finger/ viel weniger aus der grossen Zehen gesogen. Die Condition ist zwar wohl gut aber treflich unglücklich vor meine Person/ weil ich gleich einem Gabel= Holtz in die Höhe wachse und nicht allein nichts lerne/ sondern noch darzu das jenige vergesse/ was ich ehrdessen gelernet habe. So begreiffe ich auch bey meinem Herren keine Höfligkeit/ und lerne nichts als rülpsen/ fartzen und in die Stube speyen/ fressen und sauffen ist mein bestes Handwerck/ und wann ich endlich abgedancket werde/ därffte mein nechster Weg ins Narren=Spital gehen. Nein/ gedachte ich/ ich will nicht mehr so leben: Buckel kratzen ist ein schlechtes Handwerck und mit solcher Arbeit findet man gar wenig Meister/ die einen Gesellen fördern/ darum so will ich mein Capital auff ein ander Interesse legen/ und mein Glück in einer andern Postur auffsuchen. (Ν: 207)148 148

Hier verbindet sich in schöner Anschaulichkeit die Beschreibung der grobianischen Existenz in ihrer selbstkritischen Reflexion mit den daraus erwachsenden disziplinierenden Konsequenzen im Sinne der frühmodernen Weitsicht und planerischen

305 Das Bedenken des Helden, der, nicht zu vergessen, ein vorpubertärer Schüler ist, richtet sich natürlich nicht auf religiöse Ewigkeitswerte; es wäre absurd, verlangte man von diesem frühreifen und erlebnishungrigen Knaben asketische Meditationen, die auf eine Eremitenexistenz schielen, wie sie der alt gewordene einsiedlerische Erzähler führt. Der jugendliche Erzähler hat einen Anspruch auf Entwicklung seiner Fähigkeiten, und seine überragende Rolle liegt darin, diesen Anspruch geltend zu machen. Die Grundlage dieses Anspruchs ist allerdings die wesentliche Erkenntnis der närrischen Weltverfassung: Erst in der Wahrnehmung der verschiedenen Narrheiten, die das Narrenspital bezeugt, der unbelehrbaren Narrheit des Fleisches und schließlich derjenigen seines Herren selbst liegt der Grund der Selbsterkenntnis. In der närrischen Verabsolutierung seiner grotesken Protest- und Genußphilosophie, die keine (Karnevals-)Grenze kennt und sich nicht selbst als Narrheit begreifen will, erkennt der Erzähler die närrische Weltverfassung, von der er sich nicht ausschließen kann. Er erkennt sie aber an der Grenze, die zu überschreiten das prominenteste Merkmal des Narren ist: der Grenze zwischen Fastnacht und Fasten, zwischen civitas terrena und civitas caelestis. Die Frage des religiösen Glaubens, die den ersten Teil des Romans so deutlich beherrscht, erweist sich am Ende des Textes als zentrale Entscheidungskategorie - letztlich für die ganze Romanwelt Beers. Allein das religiöse Bewußtsein ist in der Lage, dem Karneval der Welt Ziel und Grenze zu setzen und das Narrentum zu legitimieren; fällt diese Legitimation fort, so droht die steuerlose Welt, wie das Narrenschiff, zu zerbrechen und in einem absurden Chaos zu versinken. So sieht es zumindest der Erzähler: »Hannß«/ sagte mein Herr auff der Heimreise zu mir: »Wir haben viellerley Narren in dem Spital gesehen/ aber was meinstu/ welcher ist der gröste darunter gewesen?« »Herr«/ sagte ich/ »die grösten Narren waren ich und ihr. Dann ihr erkennet weder Himmel noch Hölle/ führt ein Leben daß keinem Menschen nützet/ eure Tilgenden sind fressen/ sauffen und schlaffen. Und solcher gestalt wird euer statliches Gut durch Verwahrlosung des Gesindes endlich zu Grunde gehen/ und ihr der elendeste Mensch unter der Sonnen werden. Saget mir nun wer seyd ihr/ daß ihr euer eigenen Untergang so sehr entgegen gehet.« (Ν: 207)

Und indem er seine Selbsterkenntnis darauf bezieht, kommt er zu dem Ergebnis, daß eine Änderung der Lebensverhältnisse eintreten muß. »[WJarum bistu der gröste Narr?« »Herr«/ sagte ich/ »darum/ daß ich meine edle Zeit/ die weder mit Gold noch Silber kan gekauffet werden/ so elend und in der grösten Faullentzerey bey euch zubringe. Was meinet ihr/ daß endlich aus mir werden wird/ ein Strassenräuber und Dieb/ der nicht den Narren=Spital sondern den Galgen zu fürchten hat. Das müssiggehen gewohne ich/ nichts lerne ich/ fressen wil ich/ ernehren kan ich mich nicht/ arbeiten mag ich nicht/ darum saget mir ob ich

Kalkulation, wie sie Elias als Triebverzicht beschreibt, der zur Grundlage der notwendigen Kapitalakkumulation wird.

306 nicht sammt euch der gröste Narr von der Welt sey/ daß ich bey euch sitze und den Buckel kratze?« (Ν: 208) 149

Die Bedenken des Erzählers sind jedoch, seinem Alter angemessen, auf die säkulare Lebenstauglichkeit ausgerichtet, die den religiösen Ordo als Maß für den gesellschaftlichen braucht; Lorentz dagegen sieht allein die Notwendigkeit, seinem Leben durch eine Heirat einen akzeptablen Rahmen zu geben und verwechselt eine Ehefrau mit einer Haus- und Hofmeisterin. Der Entschluß, auch sein Leben zu ändern, zerbricht an der acedia und seiner letztlich nicht mehr korrigierbaren Gottesferne, und so ist Lorentz' Hochzeit das letzte Blatt aus dem Karneval-Album des Textes. Die karnevalistische Gesellschaft ist wie vordem der Fleischeslust verfallen, und Lorentz gelingt es nicht, sich von der Freude am Unflätigen zu befreien: Man sähe unterschiedliche vom Adel/ welche dieses Fest zu beziehen angekommen waren/ sammt unterschiedlichem Frauenzimmer/ welches hin und wieder auff dem Schlosse tapffer abgestöbert wurden/ dann bey dergleichen Zusammenkiinfften gehet es nicht anders zu/ und ich habe dergleichen Sachen wohl tausent gesehen/ die mich noch ärgern/ wann ich daran gedencke. Als man bey der Hochzeit=Taffel etwas lustiger wurde/ und der Wein die Hirnschale bestiege/ fienge Herr Lorentz seinem alten Gebrauch nach/ an mit der Sau=Glocke zu leutten und überlaut zu rülpsen. (N: 208)

Doch dabei bleibt es nicht; Lorentz treibt seine analen Unarten bis zum Extrem und muß entfernt werden. Im folgenden tritt das ein, was schon im vorgreifenden Erzählerbericht angedeutet wurde: Lorentz verharrt in seiner regressiven Attitüde, seine Frau macht ihn zum Hahnrei, und Besitz und Gut werden verschleudert. Es ist sicher nicht übertrieben, darin eine Analogie zur geistigen und seelischen Verwahrlosung zu sehen, die, als Resultat verstockter Grenzüberschreitung und Mißachtung des göttlichen Ordo, schließlich zum Verlust des ewigen Lebens führt, wie Beer es sieht: Ich aber trüge eine Abscheu vor solchen Lasterhafften Leben/ und nachdeme Herr Lorentz einen andern Buckelkratzer ins Bett bekommen/ brauchte er meine Dienste destoweniger/ und dannenhero erliesse er mich um so viel desto leichter aus seinen Diensten/ derer ich nunmehr gantz sat und überdrüssig ware. (Ν: 209) 150

An diese Passage schließt nun die bereits zitierte Erklärung an, sich wieder an die Lektüre der Kirchenväter zu machen, die dem Erzählort des retrospektiven Erzählers in der »Einöde« zugeordnet ist. Das Narrenspital ist, ganz ähnlich wie der Blaumantel und alle anderen Erzählungen mit biographischer Erzählkonstruktion, der Entwurf der Erzäh-

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150

Dies erinnert wiederum an Olivier, der ebenfalls ein »verlauffener« Schüler ist: AST: IV, 20. Diese Stelle wiederholt nahezu verbatim die Klage Rebhus aus dem Welt-Kucker (WK\ 78), den das Genußleben (in diesem Fall mit erotischem Hintergrund) bei der welschen Gräfin ermüdet. Die Phantasieexistenz erfüllter Wünsche erweist sich damit als Etappe in der Entwicklung der jugendlichen Erzählerhelden.

307 lerfigur und ihres Erzählrahmens; hier wird eine Geschichte aus dem Leben des Erzählers berichtet, der durchaus noch viele folgen: »Solcher Gestalten wil ich mein geführtes Leben nur biß daher beschrieben und den Narren= Spital vor dißmal zugeschlossen haben« (Ν: 210). Es kann daher keinen Zweifel geben, daß es sich um einen Teil aus der autobiographisch angelegten Lebensgeschichte des Erzählers handelt, der die Erzählsituation der vorangegangenen Texte bündelt und modifiziert. Der Erzähler nutzt im Narrenspital in eindeutiger Weise die klassische Form der pikarisch-moralischen Trennung von erzählendem, retrospektivem und erzähltem (erlebenden) Ich, wobei die Position des bekehrten und abgeklärten, älteren Erzählers von Anfang an deutlich markiert ist. Auf der Handlungsebene tritt das erzählte Ich von der anfänglichen Zentralposition an die Peripherie und beschreibt fremdes Leben, womit der Erzähler zeitweise aus der autobiographischen in die biographische - und damit per se periphere - Position gerät. Die Struktur des Textes zerfällt damit in zwei funktionale Teile, die erzähltheoretisch definiert sind: zentrale und periphere Stellung des Erzählers. Peter Rusterholz trennt dagegen die Beschreibung des faulen Lorentz' von der Narrenspital-Visitation und verbindet diese Trennung mit dem »heillosen Konflikt zwischen weltlicher Prudentia und geistlicher Sapientia« (Rusterholz [1982] 523). Da er die Rahmenkonstruktion übersieht, kann er die prudentistischen Reflexionen des erzählten Ich und die religiös-moralischen des erzählenden Ich nicht integrieren; erst die Erkenntnis, daß Beer dem jugendlichen Erzähler Zeit zur Entwicklung läßt, kann diesen Widerspruch lösen. Schon im Staatsmann findet sich eine ähnliche Konstruktion, nur daß dort noch erzählendes und erzähltes Ich zusammenfallen; die Willenhag-Oilogie dagegen übernimmt die narratologische Konstruktion des Narrenspitals, das als erster, präludierender Teil der Dilogie fungieren könnte, denn die Erzählung spart dort den Lebensbericht des Erzählers als junger Mann aus und beginnt wiederum medias in res. Die Jugendgeschichte des Erzählers ist aber für das Verständnis der biographischen Konstruktion unumgänglich, wie die zahlreichen Versuche vom Welt-Kucker bis zum Jucundus bezeugen. Die erzähltheoretisch bedeutendste Neuerung der Dilogie ruht so auf der Erzählform des Narrenspitals, wobei durch inhaltliche und strukturelle Hinweise aus dem Corylo und dem Jucundus die Rolle des Helden als peripherer IchErzähler vervielfältigt wird: Nicht mehr nur eine Person oder eine Begebenheit steht im Zentrum des Interesses, sondern eine Vielzahl von Lebensläufen wird in den autobiographischen Bericht des Erzählers integriert. Das virtuose Spiel des erzählerischen Positionswechsels von zentraler und peripherer Perspektive integriert das fremde Leben als Baustein in das eigene, ohne daß der erzählende Held immer an den Handlungen partizipieren müßte. Er kann aus der peripheren Beobachterposition in die marginalere Situation des reinen Zuhörers wechseln, von dort aus zurück in die Handlung gleiten und passagenweise autobiographisch erzählen, um schließlich wieder

308 zum Beobachter zu werden. Die Dilogie erweist sich schon so, im Vorgriff, als Meisterstück der Kombination aller vorhergehenden Erzählmodi, dialogischer und monologischer gleichermaßen. Das Narrenspital ist aber in einer weiteren Hinsicht prägend für das Verständnis der Dilogie: in der Rolle des faulen Lorentz, die hier von dem scharfzüngigen Ludwig übernommen wird. Eine Dimension dieser widersprüchlichen Gestalt lebt jedoch auch jenseits der reinen Rollenfunktion weiter und hat Konsequenzen für die Gesamtwertung der Romane. Es ist die paradoxe Konstruktion der Einsiedelei, die Lorentz betreibt, und die doch nichts anderes darstellt als die säkulare Kontrafaktur der religiösen Weltabkehr, mit der sie vieles verbindet. Lorentz entsagt der Welt mit ihren disziplinarischen Zwängen und erkennt die Vergänglichkeit und Scheinhaftigkeit weltlicher Ehre und Macht. Diese Ablehnung ist das Erbe der vorangehenden satirischen Schriften, wie auch seine anti-erotische Attitüde, die eine anachoretische Existenz befördern könnte. Lorentz ist in diesem Sinne ein »heiliger« Ketzer, der der Welt entsagt, aber durch seine Gottesferne und Eigenliebe zum Narren wird. Die Einsamkeit, in der er lebt, ist Teil der Figurenphantasien von weltfernen Idyllen, die schon vordem mehr oder minder deutlich formuliert wurden. Dabei ging es niemals um eine vollends asketische Weltabsage, sondern um die Möglichkeit des Rückzugs in eine kathartische, temporäre Einsamkeit oder um die Flucht vor der Anmaßung des betrügerischen Scheins in die Situation freundschaftlich geteilter materieller Sicherheit. Lorentz will sich aus der Melancholie der Miserabilität des gewöhnlichen Lebens in den Karneval der Körperexistenz retten, der ihm jenseits der sozialen und rhetorischen Normen eine eigene Identität verschafft, ohne sich bewußt zu werden, daß sein dégôut an der Welt und ihren Gesetzen religiös motiviert ist; und so ähnelt sein grotesker Karneval in Permanenz der Fastenzeit auf verzweifelte Art. Hinter den Beteuerungen des gemütsruhigen Genusses und der Glückseligkeit steht das Antlitz des Todes, der sich traditionell mit der Narrenmaske verbindet. Die Verbissenheit, mit der der Körper zum höchsten Wert erhoben wird, verwandelt sich unversehens in die zähnebleckende Todesmaske, die den Beteuerungen des erfüllten Lebens entgegentritt. Die Bachtinsche Utopie des Karnevals und der Groteske gründet in eben jener Kraft des Lebens, die sich mit dem Tod zu neuem Leben verbindet und die in den ständigen Metamorphosen der Degradierungen zu Neuem erwächst. Die Voraussetzung dieses Paktes von Tod und Leben, und dies ist die vielleicht tiefste Ironie der Beziehung von Beer und Bachtin, ist der Verzicht auf das Leben, um es zu gewinnen - ein religiöses Motiv. Bachtin, der dissidierende und bekennende Christ, montiert es in sein Hohelied der Körperphilosophie als verborgene Resistenz; Lorentz ist dagegen die Figuration der tiefsitzenden Existenzangst seines Autors, der, ebenso fromm wie Bachtin, keine Sekunde den Zusammenhang von irdischem und ewigem Le-

309 ben aus dem Blick verliert. Lorentz ist der Schrei des säkularen Helden nach Leben und erfülltem Genuß, ein Schrei aus der verzweifelten Erkenntnis des Autors, all das auf Erden nicht erreichen zu dürfen, aber auch ein Protest dagegen und dessen Rücknahme im religiösen Skrupel. Was bleibt, ist das fröhliche Gemüt, wofür Beer seinem Schöpfer dankt, und die Flucht vor der Welt als endgültig besiegeltes Motiv literarischer Utopie. Die Melancholie des faulen Lorentz' ist Beers eigene, wie die Einleitung betont, ihr entgeht nur, wer schreiben kann und in der Einöde das ferne Leben zur Erzählung formt: Lorentz schreibt aber nicht, er ist bestenfalls Zuhörer. Und noch in einer anderen Hinsicht erweist sich die Isomorphic von Karneval und Einsiedelei: Für die Helden Beers ist es fast immer eine zeitlich begrenzte Erfahrung, die in ihrer Unbedingtheit korreliert. Die versuchten Eremitagen werden zumeist nach einiger Zeit beendet, weil ihre extreme Lebensform zu sehr mit den lebensweltlichen Erfahrungen kontrastiert. Der historische Karneval lebt ebenfalls von seiner Katalysatorfunktion im Bezug auf die vorhergehende »Normalzeit« des sündigen Lebens, die er rafft und intensiviert, um den Gegensatz zur folgenden Fastenzeit besonders deutlich zu markieren. Dies im Sinne des reinen Kontrastes verstehen zu wollen, ist jedoch irreführend: Der Karneval treibt die Repräsentation des sündhaften weltlichen Lebens, der civitas terrena, über die Bewußtseinsgrenze und Toleranzgrenze der alltäglichen Sündenexistenz hinaus, um den Entschluß zur Umkehr, zur Metanoia, zu provozieren. Am Ende der Ausnahmezeit steht ein Ruptus, ein Bruch, der durch den bewußten, aus der Sündenerfahrung und dem Sündenbewußtsein geborenen Entschluß markiert wird. An dieser Stelle findet die Kirche ihre Aufgabe, die gesteigerten Leidenschaften der Karnevalsteilnehmer durch die feste Behauptung der Grenze, der neuen Zeit, aus dem Spektakel der Affekte zu befreien. Die folgende Periode des Fastens ist als ebenfalls zeitlich begrenzte das genaue Gegenstück zum Karneval: Erst mit der Wiederaufnahme der Sünder in die christliche Gemeinschaft am Gründonnerstag ist die »Normalität« wiederhergestellt. Dieses Schema wird von Beer einer Inversion unterzogen, indem er die zeitliche Begrenzung des Karnevals (und der Fastenzeit) auf die (weltlichen) Eremitagen überträgt und gleichzeitig, was von größerer Bedeutung ist, der karnevalistischen Existenz seines Helden die Grenze nimmt. Die wesentlichen Aussagen des Textes beziehen sich aber auf den Erzähler, der, im Gegensatz zu Lorentz, seinen Bildungsanspruch dadurch legitimiert, daß er Lorentz' Unendlichkeit des genießenden Lebens als Wiederkehr des Immergleichen und als nicht mehr groteskes, sondern absurdes Verfahren begreift. Die Möglichkeit, diese Erfahrung zur Erkenntnis zu bringen, liegt in der Affirmation der Grenze und des Maßes, wodurch der Erzähler die schlechte Unendlichkeit der lorenzinischen Existenz für sich aufhebt und zur Episode macht. In einem ganz anderen Sinne »karnevalisiert« er sein Leben mit Lorentz: Er setzt durch seinen Entschluß, dieses Leben zu

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verlassen, die Grenze, die diese Sequenz abschließt und zur biographischen Entwicklungsstufe macht. Die Existenz der freien Leidenschaftlichkeit wird aus einem Modus zum Exemplum, der Erzähler wird durch seinen Entschluß, der sich als wichtigster und paradigmatischer für das ganze Werk erweist, zur Person, indem er aus der Unförmigkeit und Maßlosigkeit des rein Körperlichen entflieht. Der Karneval ist vorüber.

5. Die Konstituierung der Welt als Erzählung 5.1. Der

Verliebte

Österreicher

( 1 7 0 4 ) : D i e W i e d e r h o l u n g als F o r m

Der erst posthum veröffentlichte Verliebte analoge Titelbildung zum Verliebten

Österreicher,1

Europäer,

offenkundig eine

hat die Forschung bislang

nicht recht interessieren können, denn zum einen zeigt er keine so brillanten kulturhistorischen Einflüsse wie etwa das Narrenspital,

zum anderen mangelt

es auch an fast allem anderen: Thema und Handlung sind wenig eigenständig, und der Erzähler bleibt im Typischen der Beerschen Konstrukte stecken. 2 Eine genauere Analyse aber erweist den Roman nicht nur als Wiederholung von Bekanntem, sondern gibt in der Form der Wiederholung selbst den Blick frei auf zentrale Bau- und Erzählprinzipien auch des späten Doppelromans. 3 1

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[Johann Beer] Der Verliebte Oesterreicher/ Oder Die Liebs= und Lebens=Geschicht Mit der an Tugenden und Schönheit unvergleichlichen SORONA Durch Jean Rebhu. Gedruckt Anno 1704. Zitiert mit der Sigle Ö nach dem Faksimiledruck hg. und eingeleitet von James N. Hardin, Bern, Frankfurt a. M. 1978 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts, 29). Hardins Vorwort ist bislang die einzige Auseinandersetzung mit dem Text, von 86 Seiten »Einführung« sind allerdings nur 9 Seiten der Interpretation gewidmet. Alewyn gibt eine etwas obskure Handlungsparaphrase und klassifiziert den Roman allgemein als Vorläufertext zum späteren Doppelroman. Hardin (1983b) 59-61 gibt erste Interpretationsansätze. Eine bisher nicht einmal angesprochene Frage bezieht sich auf die Zeit der Niederschrift des Textes. Da alle Angaben fehlen, ist eine auch nur annähernde Bestimmung nicht möglich. Der Roman wird allgemein zum direkten Umfeld der WillenAag-Dilogie gerechnet, aber Hardin (1983b) 60 gibt auch Einflüsse durch den späten höfisch-historischen Roman (Zieglers Asiatische Banise) und den frühen galanten Roman (August Bohse) zu bedenken. Zweifellos kannte Beer einige Arbeiten seines Weißenfelser Kollegen Bohse, aber eine genauere Sicht auf dessen Texte läßt eine positive Beeinflussung wenig wahrscheinlich erscheinen. Bohses Handlungsstereotypen sind von eben der Qualität, die Beer bereits in seinen Anfängen so konsequent satirisiert hatte. Eine spezifischere Kritik, als Travestie, läßt sich auf Grund der deutlich unterschiedlichen Textmerkmale (schon in bezug auf die Komplexität der Handlung) ebenfalls ausschließen. Die Frage, ob der Österreicher vor oder nach dem Doppelroman verfaßt wurde, entscheidet schließlich auch über die Bewertung des Textes. Ist er im Anschluß entstanden, muß er als mehr oder minder enttäuschender Rückfall gewertet werden, wofür es bei Beer auch andere Belege gibt. Hier soll der Roman jedoch als Vorläufer aufgefaßt werden, der in einem Ensemble von Vorläufertexten charakteristische Elemente des Doppelromans entwirft. Die Dilogie ist zweifellos die Summa Beerschen Erzählens und biographisch wie auch historisch die höchste Form seiner Erzählmöglichkeiten. Es liegt dabei der Verdacht nahe, daß Beer angesichts der erreichten »Vollendung« seiner Fähigkeiten im Doppelroman Unveröf-

312 Die »Zuschrifft an das Ober=Oesterreicherische Frauen=Zimmer« erscheint dabei zunächst einmal als Wiederaufnahme der Vorrede zum Verliebten Europäer, doch das Bild täuscht: Hier liegt ein offenkundiger Eingriff des späteren Herausgebers vor. In beiden Fällen wird eine Dedikation an das »Frauen=Zimmer« geboten, die sich im Europäer jedoch als komplexe satirisch-poetologische Bedeutungsinversion erweist, 4 während sie im Österreicher gänzlich funktionslos bleibt. Zwar überwiegen hier die positiven Frauenfiguren, aber deren Bild (Frau von Lützelburg, Gräfin von Sorona) bleibt über weite Strecken abstrakt; das Non-plus-ultra weiblicher Tugend, die Frau von Lützelburg, tritt nicht einmal auf. Die »Zuschrifft« ist allerdings insofern gerechtfertigt, als Beer zweifellos in Gestalt der Gräfin von Sorona eine positive Heldin entworfen hat. D i e Wiederholung des apologetischen Satirestereotyps und vor allem der analoge Hinweis auf die verdeckte Verfasserschaft, 5 der hier funktionslos ist, verraten jedoch die schematische Übernahme von textfremden Elementen. D i e ungewöhnlich kurze »Zuschrifft«, deren apologetische Argumente den kapitellosen Roman einleiten, soll offenbar die fehlende Vorrede ersetzen. Inhaltlich bietet die poetologische Exposition am Romanbeginn nichts Neues; die »Lebensbeschreibung« als Ball der Fortuna hat diätetische Wirkung gegen die Melancholie des Autors und dient zur Belehrung und Unterhaltung der Leser: 6 »So ist demnach dieses Buch gleich einem Spiegel/ in

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fentlichtes zurückhielt, womöglich auch, um den Absatz seines Hauptwerks zu befördern. Es ist ja auch nicht so, daß der Autor nach 1683 verstummt: In die neunziger Jahre fallen eine ganze Anzahl von musikalischen Schriften und - zum Teil religiösen - Gelegenheitsarbeiten. Dazu Kapitel 3.4.3. »Man muß aber durch diese Kurtzweil nicht verstehen solche Sachen/ die dem Gemüthe so wol als denen Ohren schädlich sind/ sondern eine solche Schrifft/ die genug sey/ die Geschicklichkeit deß Urhebers zu zeigen/ und Euch/ O schöne Hertzen/ die müssige Zeit nützlich zu vertreiben. [...] Ich habe meinen Nahmen darum verschwiegen/ weil ich Euch ohne dem gar zubekandt bin [...]« (Ö: fol) (2rf.). Die letzte Bemerkung ist ein non sequitur: Wenn er ohnedem bekannt ist, lohnt das Verschweigen nicht. Sollte aber auf die Parallele zum Europäer mit seiner misogynen Perspektive angespielt werden, ließe das eine Autorschaft Beers auch für die »Zuschrifft« wieder möglich scheinen. Es fragt sich dann aber, warum er Titel und Dedikation parallelisiert, wenn er im Text darauf nicht mehr zurückkommt. Den Staats-Mann (1700) hatte der Autor noch im Ursus murmurât angekündigt, sein satirisches Thema lag der Handlung der Dilogie auch fern und war so publikationsfähig; der Österreicher gehört dagegen in den Gravitationsbereich des Doppelromans und blieb ebenso wie der Blaumantel unpubliziert. »[W]ann ich betrachte/ daß ich durch Widerhollung der mir hin und wider zugestossenen Abentheuren nicht allein dem Leßer seine müssige Stunden zu versüssen/ sondern mich selbsten in Widerhollung meiner Begebenheiten von solchen Grillen/ welche das Gemüth als unbewegliche Beweglichkeiten ohne Unterlaß besitzen/ zu entledigen genügsame Gelegenheit habe. [...] und ich will dieses Buch zu keinem andern Ende unter die Feder genommen haben/ als daß dadurch die verdrüßliche Stunden verzuckert und die melancholische Gemüther zu eintziger Freude geleitet werden« (Ö: lf.). Bemerkenswert ist hier allenfalls die Deutlichkeit, mit der Beer

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welchem man eben diese Voll= oder Unvollkommenheiten findet/ die man davor gestellet« (Ö: 3)7 Der Handlungseinsatz kurze Zeit später wiederholt seinerseits mit dem Motiv des »Büchsen=Schusses«8 den Staats-Mann, der, wie auch der Blaumantel, das anachoretische Element wieder profiliert. Bei aller Verschiedenheit der Texte scheint aber gerade der Topos der Weltflucht das Verbindende dieser drei posthum veröffentlichten Romane abzugeben. Doch davon ist hier zunächst durchaus nicht die Rede; die Handlung entwirft medias in res die Situation des als Mädchen verkleideten Helden, der solcherart die durch den archetypischen Unhold bedrängte adlige Protagonistin rettet. Nur mit knapper Not entkommt Sylvius der wütenden Rache des betrogenen Betrügers durch einen Sturm und gelangt auf das Schloß eben jener Tochter des Grafen von Sorona, wo er als Retter erkannt und gepflegt wird. Der abenteuerliche Kleidertausch als Rettungsmanöver wie auch der nachholende Bericht wiederholen sich in den Winternächten ebenfalls als Romaneingang, womit die Nähe der beiden Texte erneut bezeugt wäre. Genauere Aufschlüsse in dieser Hinsicht muß aber die Analyse von Handlungsaufbau, Erzählerfigur und literarischer Intention liefern. Das grobe Raster der Handlungsstruktur ist relativ einfach und daher auch kaum als Imitation galanter Romane geeignet. Der Retter berichtet im Anschluß an die genannte Exposition seine Vorgeschichte als Findelkind, das von der tugendhaften Frau von Lützelburg9 erzogen wurde, von Zigeunern geraubt, als Spion verhaftet und wieder freigelassen wurde und schließlich in die Dienste der alten Vergia trat. Parallel dazu erzählt die Gräfin von

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die diätetische utilitas parallelisiert und mit dem gleichen Topos des Verzuckerns illustriert. Die delectatio der Erzählung konzentriert sich für den Autor mehr und mehr auf die Aufhellung von melancholischen Gemütsstimmungen im Sinne der Geselligkeit. Das Heilmittel gegen die bedrückende Einsamkeit ist seit Beginn der Autorentätigkeit die kongeniale Gemeinschaft von Freunden, die durch Lektüre um so besser ersetzt werden kann, je genauer der Text das Modell der geselligen Erzählung imitiert. Im Österreicher ist dies noch der Lebenslaufentwurf, der dann in der Dilogie in das neue Rahmenkonstrukt der erzählenden Geselligkeit eingefügt wird. »Darum ist es nicht zu läugnen/ daß dieser Innhalt denen Unreinen unrein/ denen Lasterhafften lasterhafft/ aber hinwiederum denen Reinen rein seyn wird [...]« (Ö: 3). Interessant ist die folgende vergleichende Anspielung auf die Gestalt des Simplicissimus: »[E]rzehle mein wundersames Leben/ so mich von Jugend auf biß in gegenwärtiges Alter geleitet; In welchem ich zwar keinen grauen Schweitzer Barth/ aber wol solche Haare trage/ in welche sich tausend Glückes=Veränderungen eingewickelt haben« (Ö: 4). Simplicissimi berühmter »Schweitzer=Barth« ist Ausdruck der bekehrenden Tugendhaftigkeit des Quasi-Einsiedlers und Moralpredigers, von dessen ehelosem Leben sich Beers Erzähler markant abhebt: Grimmelshausens Held ist der Eremit in der Welt, ein Laienbruder, während Beers Helden weltliche Existenzen leben, die immer wieder in den Raum geistig-geistlicher Eremitage vordringen. Die Ausgangssituation variiert die Szenerie des Romananfangs von Heliodors Aithiopika. Anfangs auch »Lützelberg« (Ö: 12).

314 Sorona die Geschichte des verbrecherischen Adligen Pardophir, dessen Opfer sie beinah geworden wäre. Am Ende des einleitenden ersten Handlungsabschnitts stehen die beiden verdeckten Liebeserklärungen der Protagonisten und die Rückkehr des Erzählers in sein altes Dienstbotenverhältnis. Der Romanbeginn erweist sich schließlich bei genauerer Analyse als ein Netz von Wiederholungsstrukturen, die als typische Gegensätze, parallele Komplemente oder stilistische Iterationen auftreten. Gegensätzlich sind etwa die kontrastierenden Charakteristiken der tugendhaften Frau von Lützelburg und des Verbrechers Pardophir. Sinn der Gegenüberstellung ist dabei die Motivierung einer an dieser frühen Stelle handlungsfremden Moralisation, wie der Erzähler erläutert: Die Erzehlung/ spräche ich/ so der Herr Graf wegen deß verruckten Pardophir abgeleget/ ist meinem Vorhaben in diesem Stücke sehr zuträglich/ daß ich dadurch Gelegenheit habe das Gute dem Bösen entgegen zu setzen/ weil man die Herrlichkeit der Tilgenden niemalen heller gläntzen sihet/ als wann sie denen Nachts=Schattigten Lastern entgegen gesetzet werden. (Ö: 25f.) 10

Die Charakteristik der tugendhaften Frau fällt dabei ungemein abstrakt und formelhaft aus, weil ihre positiven Eigenschaften nicht als Handlung erscheinen, sondern nur aufgezählt werden; sie ist mitleidig, fromm, barmherzig, demütig und asketisch. Dagegen verabscheut sie die Hoffart, Lügen, Spott, üble Nachrede, Luxus, Mode und Kosmetika, und auch in ihrem Affekt gegen die Liebe ähnelt ihr moralischer Wertekosmos dem des Beerschen Erzählers. Es ist gewiß/ daß kein Frauen=Zimmer im gantzen Land so offt und andächtig/ gleich wie sie/ dem Gebet obliget/ und dahero häuffen sich ihre Hauß=Mittel fast von Tag zu Tag dergestalten/ daß ich sie leicht vor die reicheste von Adel in dieser Provintz schätze. (O: 26)

Das Junktim von Frömmigkeit und Reichtum ist bei Beer allerdings kein religiöses Motiv im Sinne des Calvinismus, sondern Ausdruck der Überzeugung, daß ein gottgefälliges Leben vorhandene Güter erhält und mehrt. Dagegen steht das Bild der leidenschaftsverfallenen Verschwendung, des Betrugs, des Mords und der Zügellosigkeit, wie es Pardophir verkörpert.11 In seine Charakteristik gehen dabei auch Züge des faulen Lorentz ein, die ihm etwas Bürgerliches verleihen.12

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Siehe auch Ö: 26 und Ö: 37f. »Der Ungehorsam/ welchen er seinen Eltern erwiesen/ hat ihn nicht allein um dieselbige/ sondern um all das Gut gebracht/ welches sie ihme mit grossem Fluch hinterlassen haben« (Ö: 20). Nur auf diesen Aspekt des Bürgerlichen kann sich Hardins Bemerkung beziehen: »Thus, the villain, Pardophir, has been made a bourgeois; his sins are not only those of a ruthless cutthroat or brigand but include those of a middleclass merchant, farmer, artisan, or bureaucrat« (Hardin [1983b] 60).

315 Er wird vielmehr von einer guten Pfeiffe Toback/ als einer klugen Hauß=Wirthschafft zu discuriren wissen. Die Kirche besucht er nur aus Gewohnheit/ und wo er nicht muß/ sihet man ihn nimmermehr bey einer Messe. Alle Andacht ist über dieses so gar in ihme verloschen/ daß er die Hurerey vor eine geringere Sünde hält/ als wann er seinen Reut=Knecht unrechtmässiger Weise prügelt. Die Ärgernuß/ die er durch sein ruchloses Leben allenthalben ausstreuet/ ist unermäßlich groß/ und die Schand=Thaten/ die er verübt/ verbieten zugleich/ daß man ihn einen von Adel heissen kan. (Ö: 21f.)

Diese noch abstrakte Aufzählung der Untugenden des negativen Helden läßt als Extremfall der Handlungsentwicklung noch eine satirische Destabilisierung der tugendhaften Frau von Lützelburg und eine positive Auffüllung der Pardophir-Figur zu, denn deren Weltsicht umfaßt klassische Elemente des Satirekatalogs, wie sie auch von den Beerschen Erzählern vertreten werden könnten: So gar ist er denen guten und heilsamen Gesetzen feind/ daß er alle Bürgermeister/ Amts und Raths=Männer vor Schwartz=Mäntel und Plackscheisser hält. Die Advocaten nennt er Causenmacher und Zungendrescher/ und wo er einem einen Schand=Nahmen anhängen kan/ dazu ist er viel schneller als seinen Hut vor einem Geistlichen abzuziehen. (Ö: 21f.)

Ähnlich wie Frau von Lützelburg wird Pardophir weitgehend abstrakt charakterisiert, wobei er sich in einer Hinsicht kategorial von ihr unterscheidet: im Verhältnis zu seinem adligen Stand. Das unbestimmbar Abstrakte in der Beschreibung der beiden Figuren liegt zu einem guten Teil in der verdeckten Zentralstellung der Standesfrage, die für alle Texte Beers von besonderer Bedeutung ist. Es ist Beers unverrückbare Überzeugung, daß der Geburtsadel keinerlei natürlichen Vorzug verleiht; diese Adligen haben ihren Stand durch ein rechtschaffenes Leben und demütige Verachtung ihrer gesellschaftlichen Vorteile zu rechtfertigen. Frömmigkeit, Mitleid und Barmherzigkeit sind Zeichen dieser Lebenshaltung, die sich der adligen Herkunft eher schämt als rühmt. Nichts erregt Beer als Erzähler mehr als die Anmaßung unbegründeten Urteils aus dreister Unkenntnis oder standesbedingter Allmachtsphantasie. Wer das unverdiente Glück hat, in aristokratische Verhältnisse geboren zu werden, hat nach Beer die Pflicht, diese Lebenschance zu nutzen und den Geburtsadel nicht zu »bemakelen« oder - besser noch - ihn durch außerordentliche Leistungen zu rechtfertigen. Das schon im Corylo zu bemerkende Gegeneinander und Miteinander divergenter konfessioneller Motive (Gnade/Werke der Rechtfertigung) neigt sich bei Beer immer stärker zum katholischen Pol, 13 und so spielt auch hier das Motiv der Werkgerechtigkeit eine besondere Rolle. Pardophir erweist sich durch sein Verhalten im Werk als unwürdig, »ihn einen von Adel« zu heißen. Die hohe Feste verunehret er mit höchster Entheiligung/ und wer ihn fluchen und lästern höret/ dem möchten die Ohren gellen. Sehet/ mein lieber Jüngling/ ein sol13

In den Winternächten bekennt sich der Erzähler Zendoris zum Katholizismus.

316 ches Leben führt dieser Gottlose Mensch/ und wer ihn davon abzumahnen verlanget/ wird vom ihm keinen Danck/ aber wol solche Wort zu gewarten haben/ die ihn in der Seele verdrössen möchten. Fressen/ Sauffen und Schlaffen sind seine beste exercitien, die er die Zeit seines Lebens studirt/ und die Meinung/ daß das Geblüt allein den Adel bringe/ hat ihn zu allen diesen oberzehlten Untugenden geleitet. (Ö: 22f.)

Die Passage erinnert wörtlich an ähnliche im Narrenspital,14 und an dieser Stelle könnte er noch in eine Rolle wie die des faulen Lorentz oder des Jägers aus dem Jucundus Jucundissimus mutieren, aber die Wertung der Gräfin von Sorona (Ö: 38ff.) zeigt ihn bald als unverbesserlichen Malefikanten. Entscheidend ist hier - wie in jedem Text Beers - das Verhältnis zur sexuellen Leidenschaftlichkeit, denn Pardophir ist ein Beispiel äußerster Affektverfallenheit, womit ihm im Wertekosmos Beers jede Entwicklungsmöglichkeit beschnitten ist. Sein kritisches Potential verfällt ungenutzt angesichts seiner Zügellosigkeit, und er bleibt ein abstraktes Abziehbild des Bösen, das nur die Funktion des Kontrastes und der Bewegung der Handlungsmechanik hat. Mit Ausnahme des Erzählers sind alle Protagonisten durch ihre Eindimensionalität gekennzeichnet, und Hardins Einschätzung ist sicher zuzustimmen: The novel's chief ingredient is adventure, its hero and narrator, Sylvius, is a participant in all the action, now as warrior, now as gallant suitor. [...] So that one figure dominates the book to a much greater extent than in any of the other novels. (Hardin [1983b] 59)

Der genauere Blick auf den Protagonisten erweist allerdings dessen Charakteristik als eigenwillige Mischung von bereits bekannten Elementen, wobei der gesellschaftliche Hintergrund der Handlung die am wenigsten überzeugende Konstruktion darstellt. Der quasi-pikarische Lebensentwurf ist so stark wie sonst nirgendwo in das adlige Ambiente eingelagert, ohne satirische Nebenabsichten zu verfolgen. Ein Corylo gleichsam, der manisch seine mangelnde Nobilitierung bedenkt und den Aufstieg verfolgt, geht Sylvius in der Liebeshandlung auf, deren ausführliche Parallelhandlungen die satirische Intention ersetzt. Nach der Exposition treten dann auch nur noch drei Handlungsstränge auf, die Motive früherer - und paralleler - Texte montieren: die Suche nach der wahren Herkunft, die ritterliche Bewährung im Werk der Befreiung der geliebten Heldin und die moralisierende Selbstbesinnung im Versuch der Eremitage. Das bedeutendste Moment des Verliebten Österreichers ist dabei die Legitimation der Standeserhöhung, die bislang entweder 14

»[D]ie grösten Narren waren ich und ihr. Dann ihr erkennet weder Himmel noch Hölle/ führt ein Leben daß keinem Menschen nützet/ eure Tugenden sind fressen/ sauffen und schlaffen. Und solcher gestalt wird euer statliches Gut durch Verwahrlosung des Gesindes endlich zu Grunde gehen/ und ihr der elendeste Mensch unter der Sonnen werden« (N: 207).

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scheiterte und zur defensiven Weltabkehr führte (Corylo), Phantasie blieb oder als »Einheirat« in den Landadel stattfand (Jucundus Jucundissimus). Im Österreicher entwickelt Beer das vordem pikarische Lebenslaufmodell als geglückte Standeserhöhung durch Aufdeckung verborgener Familienzusammenhänge einheitlich im landadligen Milieu. Es ist diese durchgesetzte Möglichkeit des sozialen Aufstiegs im Österreicher, die zu der Freisetzung erzählerischer Energien im Doppelroman führt, womit als Datierung der Niederschrift des Österreichers die unmittelbare Nähe zu den Texten der Jahre 1681/82 entscheidend wird. Die Dilogie entsteht kurz nach dem Österreicher, der seinerseits Motive des parallelen Narrenspitals und des Europäers aufnimmt. Die Schriften unmittelbar vor und zum Teil wohl auch parallel zum Doppelroman sind ein erzählerisches Laboratorium, in dem der Autor Tendenzen und Motive bis zum Extrem ausformuliert, um ihre Verwendbarkeit zu prüfen: Die Dilogie schließlich integriert das gewonnene Material, und Beer hält diejenigen Texte zurück, die am wenigsten eigenständigen Wert haben. Der spezifische Wert des Verliebten Österreichers liegt dabei zweifellos nicht im Stoff der Abenteuerhandlung, sondern in der durchgeführten Standeserhöhung des Helden ohne satirische Destabilisierung. Die eingeschobenen Schwank- und Possenelemente bezeugen eine Entlastung vom Satiredruck, wie auch die extreme Stereotypisierung der adligen Protagonisten einen stabilen Bezugsrahmen konstruiert, der zur Vermeidung von Satire dient. Das Problem der Integration von Adelskritik (Pardophir) und der ersehnten Nobilitierung löst Beer paradigmatisch durch die Forderung nach einem Verdienstadel und der Rechtfertigung des Geburtsadels durch Demut, Frömmigkeit und Barmherzigkeit. Demjenigen, der diese Forderungen verletzt, kann und muß der Adel aberkannt werden, und in diesem Sinne erstrebt der Held die Standeserhöhung, um den Tugendvorbildern der Familie der Sorona und der Frau von Lützelburg zu gleichen. Nur indem er die moralischen Wertmaßstäbe setzt, gelingt es Beer, seinen Erzähler vor sich zu rechtfertigen; die Ansprüche der Tilgend sind aber nicht aus irgendeinem nachvollziehbaren Lebensgefühl abgeleitet, und so bleiben sie vollkommen abstrakt. Die besondere Unwirklichkeit des Romangeschehens rührt von dieser Überkompensation her, die zur Legitimation der erwünschten Nobilitierung die adlige Wertewelt übersteigert. Das Gemeinsame liegt dabei in der Form der Wiederholung: Die Legitimation des Adels wie der Nobilitierung bezieht sich auf die Rechtfertigung durch Werke. Der Held Sylvius gehorcht dieser Forderung durch »ritterliche Taten«, denn noch ist Beer in dem Junktim von Rittertum und adliger Welt befangen - im Doppelroman bedarf es derartiger Krücken nicht mehr. Durch sein tapferes Handeln erweist er sich der Heldin als würdig, andererseits gerät gerade die anachronistische Ritterwelt schnell an den Rand der Satire, und in keinem anderen Roman des Autors ist die Anstrengung, satirische Destabilisierung zu vermeiden, so

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offenbar und das Ergebnis so unbefriedigend. Das Experiment des Europäers, eines im Ansatz schon arrivierten positiven Adligen, mußte scheitern, weil Beers Thema nicht das des höfischen Romans ist. Im Gegensatz zu dem zu Beginn absurd tugendhaften Alexander hat Sylvius dank seiner pikarischen Herkunft durchaus eine gewisse psychologische Tiefe, die sich - wie fast immer - mit dem Liebesthema verbindet. Alexander, der verliebte Europäer, kennt nur die in ihrer Idealität abstrakte und bis zur Karikatur langweilige Liebe des tugendhaften Hochadels und die unnachgiebige Kritik »verbuhlter« Frauen. Sylvius dagegen führt das Motiv der »pikarischen« Verliebtheit aus dem Blaumantel weiter, so daß die beiden grundsätzlich verschiedenen Ansätze von Europäer und Österreicher sich durchaus auf den Stand des Helden beziehen. Zur überzeugenden Darstellung kommt es dabei naturgemäß nur im Falle von Hindernissen und Gefährdungen, und so regrediert der Europäer ja auch recht schnell zum misogynen Roman. Aber auch für Sylvius darf keine überzeugende Liebesdarstellung erwartet werden - das gelingt Beer nur im Fall der tiefgreifenden erotischen Verstrickung; der Held des Österreichers liebt ebenso abstrakt und allgemein, wie es das adlige Ideal vorschreibt: Ich gestehe/ und zwar ohne Erblödung/ die ich doch billich solte geführet haben/ daß ich mich in dieser Schönheit recht unsinnig verliebt habe [...]. Aber/ was ist doch ein Verliebter vor ein elendes Ding/ wann er seine Affecten zu verbergen gezwungen wird? (Ô: 16f.)

Die Begründung seiner Verliebtheit ist durch ihre abstrakte Floskelhaftigkeit an der Grenze des Glaubwürdigen, zumal wenn man sieht, wie die Formulierung stilistisch das Gefühl für die Erhabenheit der Angebeteten an die noch pikarische Erlebniswelt des Helden bindet: Ihre Person ware unbeschreiblich holdseelig/ und je mehr ich sie ansahe/ je mehr vernarrte ich mich in ihr Angesicht/ also/ daß ich von der Lieb sonst eine grössere Kranckheit/ als von der gehabten Furcht und Unlust zu besorgen hatte. (Ö: 16)

Doch es ist eben jene »Majestät« abstrakter Tugendhaftigkeit, die die Liebe als Voraussetzung des Wunsches zur Standeserhöhung legitimiert, und die Rechtfertigungsvorschrift für den Adel findet auch hier adäquaten Ausdruck, denn diese Verliebtheit ist gerechtfertigt, »zumalen es ein Bild von unvergleichlicher Majestät/ und überaus demütig wäre« (Ö: 16, Hervorh. d. Verf.). Der Monolog des Erzählers macht im folgenden deutlich, daß die Liebesthematik hier zentral an die ersehnte Nobilitierung gebunden ist: D u bist zu hoch/ ich zu gering/ du zu Edel/ ich zu bäurisch/ du eine Gräfin/ ich ein Mensch von unbekandtem Herkommen. Aber/ wann ich gleichwol betrachte/ daß die Liebe mächtig seye alles zu vergleichen/ warum stürtze ich mich dann selbst in den Zweiffei/ daß du mich nicht lieben werdest? Ach ich weiß es gar zu wol/ daß du mich liebest/ aber eben dieser Vorwurff/ der mir die Hoffnung entbricht/ der schneidet dir zu gleich alle das Vorhaben ab/ dadurch du dich mir offenbahren willst. (Ö: 17f.)

319 Der Erzähler präsentiert hier ein überaus interessantes Argument, das einerseits die Begründung für das Junktim von Liebesthema und Standeserhöhung gibt, denn die Liebe hat für ihn die Macht »alles zu vergleichen«, im Medium der Liebe ist also virtuell und abstrakt Egalität hergestellt. Diese Gleichheit ist das Resultat der Liebe selbst, die sich als körperlicher und sexueller Affekt für Beer auf die Vorzüge der Person ohne Ansehen der gesellschaftlichen Umstände richtet. In diesem Sinne bedeutet die Macht der Liebe immer Unfreiheit für den Liebenden, der nolens volens seinen Trieben ausgeliefert ist, und Beer wird nicht müde, diese Begrenzung individueller Verwirklichungsmöglichkeiten zu dämonisieren. Die Liebe als Leidenschaft bedarf der Legitimation und Regulation durch die Normen der gesellschaftlichen Moral, die bei Beer durchaus sexistisch ausfällt, obwohl an keiner Stelle eine moralische Wertung jungmännlicher »Buhlerei« fehlt. Die positive Wertung der Erzähler als Liebende setzt daher immer einen zielgerichteten gesellschaftlichen Rahmen voraus, oder sie gilt der erfolgreichen Bekämpfung dieser Leidenschaft am Ende von moralischen Selbstbedenken und religiöser Zerknirschung. Indem die Liebe auf die Vorzüge der Person und nicht des Standes zielt 15 und dadurch Egalität erst möglich macht, sind Beers hübsche und auffassungsschnelle Erzähler im Vorteil, sei es, daß sie, wie noch im Welt-Kucker, wegen ihrer musikalischen Fähigkeiten geschätzt werden oder, wie hier, wegen ihrer tatkräftigen und mutigen Entschlußkraft für die gute Sache. Wie selbstverständlich der Erzähler von der Gegenliebe ausgeht, zeigt seine Überlegung, daß nur die Standesschranke die Gräfin an der Offenbarung ihrer Liebe hindern könne. Zwar ist sich Sylvius kurz darauf nicht mehr sicher, ob die Gräfin ihn liebt, aber die zuvor geäußerte Überzeugung belegt das grundsätzliche Modell egalitärer Liebe als Motivierung egalitären Standes und der Rechtfertigung dieser Liebe durch persönliche Vorzüge und legitimierende Handlungen. Nachdem der Held bemerkt, daß die Kammerjungfer der Gräfin seinen Monolog durch eine Tapetentür belauscht, wiederholt er seinerseits seine Liebesklage »gegen die aufgehangene Tapette etwas lauter als ich vormals gethan hatte« (Ö: 36). Die Gräfin nimmt diese, den hohen Stil nicht durchbrechende Erklärung offenkundig auf, indem sie als Wiederholung des Kon-

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Beer kennt natürlich auch den anderen Fall, den er im Verliebten Europäer vorstellt: Die Sehnsucht der ambitionierten Bürgertöchter Leipzigs nach dem Adelstitel ist für den Erzähler eine Form der »Hurerei«, deren Nähe zu den pikarischen Helden er nicht bemerkt. Der Unterschied der Haltungen - und damit natürlich auch das Interesse an der literarischen Verarbeitung - liegt in der Motivation, denn während die für Beer affektverfallenen Bürgertöchter die Nobilitierung als Möglichkeit weitergehenden Lasterlebens (Hoffart, Luxus, Mode, Eitelkeit) erstreben, zielt die Begierde des pikarischen Erzählers auf die Egalität und Sicherheit landadliger Existenz procul negotiis.

320 trastmotivs - Sylvius hatte sie vordem favorabel mit der Frau von Lützelburg verglichen - dem Verbrecher Pardophir einen ungenannten »Gavallier« entgegensetzt, »welcher in unserem Revir ein rechtes Muster aller Tilgenden ist« (Ö: 40). Seine positiven Eigenschaften sind bis auf das musikalische Talent, das für die Handlung blindes Motiv bleibt, ebenso stereotyp wie diejenigen der Gräfin;16 gerade die Musik aber ist Ausdruck der egalitären Wertschätzung der Person, nicht des Standes, und sie wird zum Auslöser für die affirmierende Wiederholung der Forderung an den Adel, sich durch Tugend und Demut zu legitimieren. Er ist ein trefflicher Lauten=Spieler [...]. Mein Herr/ diese Kunst haben wenig vom Adel studirt/ dann er weiß wol/ daß die Tügend alleine Edel mache/ darum rede ich nicht von ihme als einem vom Adel/ sondern lobe ihn als ein tugendsamen Menschen/ der wol würdig ist ein unsterbliches Lob nach sich zuzihen. (Ö: 40f.)

Daß Sylvius dann nicht in der Lage ist, das primitive Worträtsel zu lösen, das ihm die Identität des »Gavalliers« verraten hätte, strapaziert die Glaubwürdigkeit der Handlung, ist aber dennoch innerhalb der Erzähllogik konsequent, denn hätte er das Rätsel gelöst, bevor seine eigene adlige Abkunft bekannt war, hätte sich die Gräfin in unziemlicher Weise dekuvriert. Die erste expositioneile Handlungssequenz etabliert also das Thema der standesüberschreitenden Liebe als Motivation der Sehnsucht nach der Nobilitierung des Helden, die hier instrumental noch eng an die Liebe gebunden ist und diese Gebundenheit sogar kritisch reflektiert, etwa wenn der Held sich wünscht, König von Portugal, Spanien oder England zu sein, gleichzeitig aber seine Allmachtsphantasien satirisiert: Du elender Narr/ was machst du dir selbsten vor Einbildungen/ und warum krönen dich deine Gedancken zu einem König? Warte du davor deines Dienstes ab/ und lasse das Fräulein seyn. Weist du nicht daß gleich und gleich zusammen gehöre/ kostbare Essen gehören vor kostbare Mauler/ sie wird dir doch nicht zu Theil [...]. So ist auch mein Verstand nicht darnach ein so grosser Herr zu seyn/ und habe nichts in mir/ als den Willen zu herrschen/ nicht dem Lande zum besten/ sondern daß ich nur der Gräfin von Sorona möchte theilhafftig werden. (Ö: 49f.)

Die zweite Handlungssequenz erscheint als direkte Wiederholung der ersten, innerhalb derer ja bereits kontrastierende Wiederholungen aufgefallen waren. Nach der Rückkehr des Erzählers in den Dienst der alten, adligen Vergia, wird er beauftragt, etwas über den Unfall deren Sohnes Gottfried zu erfahren. Die gesamte Situation ist bereits als Wiederholung strukturiert: Die 16

»Seine Freundlichkeit hat noch niemalen ihres gleichen gefunden/ und wer ihn reden höret/ spiret aus allen seinen discursen einen trefflichen Verstand. Er hat wol studiert und liebt die freye Künste/ welchen er auch fast Tag und Nacht mit grossem Eyffer obliget. [...] Ich halte ihn vor ein Oracul dieser Zeit/ von welchem man alle Sittsamkeit erlernen soll. Die Liebe/ ob er derselben schon sehr ergeben/ weiß er sie doch dermassen zubergen/ daß man in Ansehung dieser seltenen lügend/ welche wenig Liebhaber besitzen/ ihn/ wider seinen eigenen Willen/ lieben muß« (Ö: 40).

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alte Vergia ist die pikarische Parallele zur Frau von Lützelburg, Gottfried zu deren Sohn und Gottfrieds Verliebtheit zur Liebe des Sylvius. Zusätzlich nutzt der Text reichlich Eigenzitate, etwa im Sprachhabitus der Vergia oder in den Szenen grotesken Mißverstehens, aber auch in Gottfrieds Sturz in den Kamin nutzt Beer bekanntes Material. Offenkundig entwirft der Autor eine pikarische Wiederholung der Ausgangssituation, um den Druck satirischer Destabilisierung zu verringern. Als kontrastierende Wiederholung ist natürlich primär die Begründung und Darstellung von Gottfrieds Liebe interessant, der ähnlich wie Isidoro in den Winternächten gekennzeichnet wird: »Er war ein Jüngling von fünffzehen Jahren/ aber der Liebe dergestalten ergeben/ daß es nicht zu beschreiben« (Ö: 56). Ebenso wie Sylvius, dem dies an dieser Stelle noch unbekannt ist, stammt er von einem adligen Offizier ab, und er hat sich in »[e]ine Dam von hohem Stand/ welche an Schönheit wenig ihresgleichen haben solle« (Ö: 74), »unbeschreiblich« verliebt. Um sie in einem Garten zu beobachten, steigt er auf einen Kamin, und weil ihme die Liebe/ so dises Fräulein zu der Music trüge/ nicht unbekandt war/ zog Er seine Harffe/ auf welcher Er sehr artig spilet/ an einem Strick nach sich/ fienge auch in dem Kamin ohn Versehens so schön an zu singen/ und auff der Harffe drein zu spielen/ daß sich alle/ so dazumal in dem Garten waren/ so wol über die neue Invention als holdselige Stimme dises Jünglings verwundert. (Ö: 75)

Nach dem Textbefund gleichen sich die Protagonisten, und eine Differenz ist nur in einem wesentlichen Punkte festzustellen: Gottfrieds Liebe ist, da sie nicht auf einen Zweck abzielt, affektverfallene Buhlerei, die konsequent satirisiert werden muß. Der verliebte Sänger stürzt den Kamin hinab und verletzt sich erheblich - eine Strafe, die prima vista ausreichen muß. Ebenso wie in den vorangehenden kontrastierenden Wiederholungen entwirft der Autor auch hier die Opposition von gut und böse, zulässig und verboten. Vom alter ego des Erzählers bleibt aber als Kritikpunkt nur dessen Verliebtheit, gemildert durch musikalische Begabung, und so kommen Protagonist und Leser bei diesem minder schweren Vergehen sogar ohne Moralisatio aus - der rußige Höllensturz ist deutlich genug. Die Geschichte Gottfrieds wird pikanterweise von Sylvius' Mutter erzählt, der der Erzähler im Verborgenen lauscht und deren anschließende Bemerkungen über ihren eigenen früh verlorenen Sohn den Zuhörer überzeugen, eben jener Gesuchte zu sein.17 Sylvius erkennt sich als Sohn des adligen Offiziers Torquato, nach dessen Tod er bei einer Lustpartie auf einem See im Sturm verloren gegangen ist. Franziskus von Oken, ein, wie Sylvius

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Die psychologische Unwahrscheinlichkeit, daß Sylvius sich an dieser Stelle nicht bemerkbar macht und seiner Mutter stellt, wird durch seinen inneren Monolog noch verstärkt: »O gnädiger Himmel/ wie unvermerckt komme ich zur Warheit. Aber gnug hievon/ morgen wird die Gelegenheit ein mehrers geben« (Ö: 86).

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weiß, verbrecherischer Spießgeselle Pardophirs, gab sich als jener Sohn aus, um das Erbe des Vaters an sich zu bringen, und zu diesem »Land=Betrüger und Bößwicht« (Ö: 78) reiste die nichtsahnende Mutter. Mit der Gestalt des Franziskus von Oken wiederholt der Autor den bekannten Kontrast von gut und böse, setzt aber auch mit der angemaßten Identität eine interessante poetologische Konfiguration, vor allem, wenn man die Nachfolge Torquatos auf den Dichterruhm Tassos bezieht, denn Tassos Vater war bekanntlich ebenfalls ein nicht unbedeutender Autor. Dieses Motiv wiederholt dabei frühere Argumente, denn der Held sieht sich in seiner Identität bedroht: Der usurpierende Anspruch auf die Identität entzieht dem Helden nicht nur seine Existenz, er kennzeichnet auch jenes Prinzip der mangelnden Rechtfertigung des Adels, dessen Gegenentwurf Sylvius darstellt. Beide Malefikanten sind Adlige, die ihres Standes unwürdig sind und ihn durch unmoralisches Verhalten und fehlende Vorzüge »bemakeln«. Gleichzeitig aber droht dem Erzähler auf der rein metaphorischen Ebene, mit dem Verlust der Nachfolge Torquatos auch das Erbe Tassos, eben jene Fähigkeit, die den Autor Beer als Künstler vor aller Anmaßung auszeichnet, verloren zu gehen. Wie man den Hinweis auf Torquato aber auch wertet, die Mutter des Sylvius markiert in ihrer Darlegung eben jenes Prinzip des demütigen Adels, das der Erzähler als Legitimation seiner eigenen Ambitionen braucht: »In der hohen Geburt/ welches der gemeine Pöbel vor eine zeitliche Glückseligkeit schätzet/ habe ich nichts als spitzige Dornen aller Widerwärtigkeit gefunden« (Ö: 79). Auch hier wird die Bedeutung des adligen Standes marginalisiert, um die Ambitionen des Helden zu legitimieren; der Autor bindet die Standeserhöhung zudem eng an die Liebeshandlung, um sie als externe, quasi ungewollte und notwendige Voraussetzung zur Erfüllung der egalitären Liebe zu rechtfertigen: Das Schloß Schwartzburg an der See war ingleichen wegen ihres herrlichen Einkommens gnugsam bekandt/ und all dise Umstände vermehrten in mir die Hoffnung/ welche ich zu deß Fräuleins von Sorona Gegenliebe trüge. (Ö: 87) 18

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Der argumentative Spagat zwischen Adelskritik und ersehnter Nobilitierung wird an dieser Stelle überdeutlich, wenn der Held einerseits seine Freude und seinen Stolz auf die Nobilitierung dadurch ausdrückt, daß er von der großen Berühmtheit des adligen Besitzes spricht, andererseits bereits am folgenden Morgen offenkundig keine Möglichkeit sieht, seine Mutter zu identifizieren, während er einige Seiten weiter wiederum Kenntnis des adligen Besitztums hat. Diese auch dem zeitgenössischen Leser auffallenden Ungereimtheiten verweisen auf das doppelte Beziehungssystem des Helden: Freiheit und Sicherheit durch adligen Besitz, der aber gleichzeitig marginalisiert und legitimiert werden muß. So darf Sylvius seine Mutter und ihren Reichtum nicht durch eine umstandslose Reise erlangen, er muß sein Avancement durch Werke und Taten erwerben - im System der Beerschen Handlungsstereotypen heißt das, daß er es durch ritterliches Streiten erkämpfen muß. »Also ist der Adel/ wie man spricht/ nichts als eine nulla/ wo dises alleine stehet/ gilt es nichts: Kommt aber ein Ziffer dazu/ so weiß man es zu zehlen. Also auch der Adel/

323 D i e Gelegenheit aber, sich Liebe, Reichtum und Besitz zu erkämpfen, bietet sich dann schnell 1 9 durch Pardophirs Angriff auf das Schloß des Grafen von Sorona, der durch den weitblickenden und tapferen Einsatz des Erzählers erfolgreich abgeschlagen wird. 20 D e n n o c h mangelt es an der Standesgleichheit, wie die Gräfin deutlich macht: Was hilfft es mich armen Menschen/ O Ausbund aller Schönheit/ wann ich von derselben ein Sieger genennet werde/ und sie dennoch nicht überwinden kan/ mir den jenigen zu offenbaren/ den sie so sehr liebet? Wann ich/ antwortete sie/ eine Gewißheit von Eurer Geburt hätte/ so wolte ich Euch denselben ohne Scheu offenbaren. (Ö: 118f.) D i e sichere Erkenntnis seiner adligen Herkunft muß sich der Held natürlich wiederum im Waffenstreit erkämpfen, und so bekommt er Gelegenheit, seine Mutter aus den Händen Pardophirs und Franziskus von Okens zu befreien. Sylvius selbst verbindet seine neue Identität mit seiner »ritterlichen« Rettung: Eines Theils habe ich durch dise Gelegenheit die Ehre gehabt/ Eure grosse Unschuld zu retten/ vors andere das Glücke/ die allerliederlichsten und straffbarsten in diser gantzen Provintz unter meine Gewalt zu legen [...]. Was aber das allermeiste anbetrifft/ so falle ich hier vor Euch nider/ und ist es/ daß ich nicht sonderbar wär/ so bin eben ich diser Euer gesuchter Sohn Sylvius, welchen ihr erzehlter massen auf der See verlohren. (Ö: 135f.) D a s Rechtfertigungsmotiv setzt sich in dem genannten Sinne fast bis zur Karikatur in der erneuten Wiederholung des ritterlichen Kampfes durch, als der Erzähler direkt im Anschluß an obige Episode auch noch den Grafen aus den Händen von Räubern befreit und sich so seinem Schwiegervater in spe verpflichtet 21 und seine Tochter endlich zur Offenbarung ihrer Liebe bringen kann. Erkennt sie schon in seiner ritterlichen Tat seinen Verdienstadel, 2 2 so

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stehet diser allein und ohne Ziffer/ oder besser zu sagen/ ohne Tugend und Tapferkeit/ so ist Er ein blosses nulla/ und wird weniger als nichts geschätzet« (Ö: 198). Dem geht eine längere, der pikarischen Wiederholungssequenz um Gottfried zugehörende Passage voraus, die bekannte Erziehungsmaximen Beers und seines Zeitalters wiederholt, die ohne Bedeutung für den Handlungszusammenhang sind. Der Autor nähert sich in diesem Handlungsteil am deutlichsten dem höfischen Roman an. »Ich war dazumal voll Liebes und Krieges=Gedancken zu gleich« (Ö: 110). »[I]hr seyd mir von dem Glücke zum Beystand gewiedmet/ und Eurem Fleiß hab ichs zuzuschreiben/ daß ich annoch dises Lebens geniesse« (Ö: 140). Bemerkenswert ist hier wohl vor allem die bürgerliche Kategorie des Fleißes, die nicht recht zum Sprecher und zur Sache passen will - hinter dem sprachlichen Lapsus verbirgt sich deutlich ein nicht-adliges Bewußtsein, das Fleiß, hier am ehesten mit Eifer konnotiert, eher in die Bedeutungsrichtung Bemühtheit als in diejenige des Mutes oder der Tapferkeit richtet. »Ich habe Ursach/ sprach sie/ Euch/ O werther Oesterreicher höher als einen Bruder zu schätzen/ dann solches heisset mich der grosse Eyfer und sonderbare Zuneigung/ die ihr zu Erhaltung unsers Geschlechts zum öfftern habet sehen lassen. Ach wüste ich/ daß Euch mit — Und als sie solches geredet/ fienge sie jämmerlich an zu weinen/ also/ daß ich von ihr kein ferners Wort erhalten konte« (Ö: 140f.). Auch hier wiederholt sich die Kategorie des Fleißes und des Eifers, die die gegebene

324 wird sie durch die Offenlegung seiner Abstammung verpflichtet, ihr Versprechen, ihren Geliebten zu nennen, zu erfüllen.23 Indem aber die Gräfin durch die rechte Auslegung ihres Liebesrätsels Sylvius als ihren Geliebten entdeckt, macht sie deutlich, daß die egalitäre Liebe sie schon vor der Erkenntnis seiner Herkunft bestimmte. An dieser Stelle konstruiert der Autor Beer einen überkompensierenden Erzähler, der gegen alle Wahrscheinlichkeit aus dem Adelsethos rückwärts schließt und seine eigenen Voraussetzungen dementiert: Die Gräfin kann, darf und wird nur dem standesmäßig Egalitären ihre Liebe gestehen, also »hat das Fräulein schon dazumal von deiner Geburt Kundschafft gehabt« (Ö: 148). Diese verräterische Überlegung bleibt jedoch isoliert und wird nicht wichtig für die Handlung, sie markiert dennoch einen Bewußtseinsumschwung, der es dem Helden erlaubt, nach der erreichten Sicherheit von Stand, Besitz und Braut eine Distanz zu schaffen, indem er vordem kritisierte Positionen des adligen Ethos nun übernimmt. Aus der neuen materiellen Sicherheit heraus kann sich der Erzähler andererseits aber auch wieder gehen lassen und in seinen alten, quasi-pikarischen Charakter zurückfallen, was sich sofort sprachlich, aber auch inhaltlich bemerkbar macht: In solchen Gedancken satzte ich mich in einen Sessel/ und ward von so vilen Liebs= Affecten fast schwerer/ als ein Esel mit Mühl=Säcken beladen [...] Nun hast du ein gewonnen Spiel/ dann wer das Glück hat/ führt endlich die Braut heim/ und ein Mensch/ der das Glück zum Freunde hat/ wirfft seine Würffei/ wo sie auch hinfallen/ zu seinem besten. (Ö: 148f.)

Hier zeigt sich sehr schön die Verbindung von fast übermütigem Glücksempfinden mit der erreichten materiellen und ständischen Sicherheit, die dann das völlig heterogene Empfinden des alten pikarischen Ich hervorruft und ermöglicht. Sylvius kann erst jetzt wieder das Lebensgefühl im Bewußtsein der materiellen Sicherheit wechseln und damit die Position einnehmen, die dem Adel als Rechtfertigungsleistung abverlangt wird: das leutselige Überspringen der Standesgrenze nach unten. Der Erzähler findet sich dann auch sofort im Text in diese patriarchalische, herablassend-gönnerhafte Pose hinein, wenn er sich seinem Diener Hanß gegenüber mit seiner neuen Identität brüstet und in seiner Leutseligkeit die Standesschranke befestigt: »Du Narr/ sprach ich/ küsse du davor eine Ganß wo anders in/ nach solchem Wildbrät ist dein Schnabel nicht gewachsen« (Ö: 150).24

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Handlung in den Zusammenhang dienender Unterstützung stellt. Die Perspektive aus der Dienersicht, die darin verdeckt zum Ausdruck kommt, entwickelt aber der Autor hinter dem Erzähler; beide ganz unbewußt, daß sie hier nicht-adliges Bewußtsein konstruieren. Die zukünftige Verbindung wird schon recht deutlich vorbereitet: »Wie können wir doch dises alles gnugsam gegen ihme vergelten?« (Ö: 142f.) Direkt im Anschluß folgt die Offenlegung von Sylvius' Herkunft, womit die Frage indirekt beantwortet wird. Hier folgt, wiederum als satirische Entlastung, eine ausführliche pikarische Sequenz mit obligaten Prügelszenen langatmiger Moralisatio.

325 Der Diener, der mit dem Erzähler des Narrenspitals den Namen gemeinsam hat und auch dort oft mit »Narr« apostrophiert wird, erscheint jedoch schon an früherer Stelle (Ö: 121-125), wo er als Reisebegleiter eine wichtige Funktion ausübt, denn er dient dem Erzähler Sylvius dazu, eine bäuerliche Idylle zu entwerfen, die als immanentes Komplement zur Adelsexistenz aufgefaßt werden muß. Beer entwirft hier den ländlichen, gesellschaftsfernen Teil der Landadelsexistenz, dessen Motto lautet: Nicht wie köstlich, sondern wie ergötzlich. Er erzehlete demnach seine bekandte Baur=Schnacken/ und ich hielte ihn tausendmal glückseliger als mich/ weil Er vor sich selbst vergnügt lebte/ und Herr über seine eigene Begierden war. Diese Kunst mangelte mir um ein merckliches/ dahero fienge ich an die Ungleichheit deß Standes und der Naturen zu betrachten/ und fände/ daß die Gückseligkeit nicht in dem Stande der Ehren/ sondern nur in der blossen Vergnügung müsse gesuchet werden. Du bist ein Baur=Flegel/ sagte ich zu ihm [...]/ aber dennoch bist du vil glückseliger/ als ich und meines gleichens/ weil du mit dir und deinem Stande vergnügt bist. (Ö: 121f.)

Es folgt die stilisierte Darstellung der ländlichen Idylle von Arbeit, Genuß und Ruhe, deren fernes Vorbild, Horaz, ins Bäuerliche übersetzt wird. Diese Idylle bezeichnet einerseits den, im Vergleich zu höfischem Wohlleben, geringen materiellen Aufwand, den auch der Erzähler für sich reklamiert, andererseits erweitert die Szene die pastorale Szenerie deutlich ins Pikareske, wenn die bukolische Descriptio zunächst ein ländliches Fest und schließlich eine handfeste Kirchweih-Prügelei umfaßt. Damit wird jedoch die Idyllik der ländlichen Szene nicht entwertet, denn die Erzähler Beers wissen derartige Begebenheiten als Unterhaltung wohl zu schätzen. Das realitätsferne Bild des genügsamen und vergnügten Bauern bleibt dagegen als Idealprojektion der landadligen Lebensweise bestehen und artikuliert letztlich das verdeckte Mißtrauen an der reinen Adelsexistenz. Diese Passage unterstreicht wiederum die Legitimationszwänge, die mit dem ambitionierten Aufstieg in den Adelsstand verbunden sind. Im Corylo noch wird die Nobilitierung als Fehler zurückgenommen, und der Erzähler zieht sich nicht nur aus Angst vor Entdeckung in ein Kloster zurück. Auch im Verliebten Österreicher gibt es den Rückschlag der Skepsis, als Sylvius plötzlich religiöse Bedenken hat: Da fände ich erst/ daß der Mensch auch in seiner Vergnügung unvergnüglich sey/ dann ich gedachte/ wie ich billich das bessere Theil erwehlen/ und ein Geistlicher werden solte. (Ö: 169f.)

So überraschend und unmotiviert dieses Bedenken nach der vorangegangenen Handlung auch erscheint, das theologische Argument hinter den Reflexionen des Erzählers ist korrekt und hat eine venerable Tradition, denn Sylvius stellt sich vor, daß, vorausgesetzt das monastische Leben ist »das bessere Theil«, nur der Entschluß zur Weltabkehr tatsächlich wertvoll ist, der wirklich auf etwas verzichtet.

326 Wer etwas meidet/ daß Er nicht haben kan/ der duldet kein grosses Creutz/ aber du hast nun die Gelegenheit zu gemessen/ darum hast du auch die beste Gelegenheit zu fliehen. (Ö: 171) Beer entwirft im inneren Monolog des Erzählers ein überaus pointiertes und psychologisch so differenziert-aufrichtiges Bild von Zweifel und Skepsis, von gegenläufigen Begierden, daß - auch und vor allem im Hinblick auf den Doppelroman - seine Selbsteinschätzung am Ende und seine religiösen Bedenken ernst g e n o m m e n werden müssen. Es ist einem jungen Blut eine harte Nuß eine solche Gelegenheit fahren zu lassen/ noch eine härtere eine rauhe Kutte an den Leib zu werffen und ein frater ignorantiae rerum terrenarum zu werden/ aber ich halte doch vernunftmässig davor/ daß dise Uberwindung seiner selbst etwas seye/ welches werth ist/ einen ewigen Ruhm nach sich zu zihen. Es ist zwar an sich selbst kein Übel/ wann ich nach dem allgemeinen Gesetz um dise Schöne eine gebührliche Ansuchung thue/ aber dennoch halte ich disen Menschen vor glückseliger/ welcher sein eigen/ und freyer zu disen Sachen ist/ die ihn zum guten befördern können. Es locket mich auf eine Seite der grosse Reichthum meiner Güter/ und das hohe Vermögen meiner Frau Mutter/ aber thäte ich nicht besser/ wann ich statt meiner Heurath ein hübsches Spitall stifftete/ und demselben zum ewigen Einkommen gewisse Güter verschriebe/ dadurch ich nicht allein ein Christliches Werck bey meinen Lebzeiten/ sondern auch nach meinem Tod mir ewiges und unabsterbliches Lob zu wegen brächte? Auf der andern Seite reitzet mich an die überaus grosse Anmuth dises Fräuleins/ dergleichen ich noch niemalen gesehen [...]. Darum entschuldige ich einen Fehler mit dem andern/ und bin doch an der Warheit noch ungewiß. Es ist nichts vollkommen/ als die Liebe/ die man zu dem Himmel trägt/ warum kommt mir dann diese Welt so süß vor? Warhafftig nur darum/ weil ich die wahre Liebe deß Himmels noch niemalen versuchet habe. Warum werde ich von einer irrdischen Creatur überwunden? Nur darum/ weil ich noch nicht weiß/ was vor ein grosser Sieg es sey/ sich von dem Himmel überwinden lassen. [...] Und eben darum schätze ich mich in disem Glücke unglückselig/ weil ich meine eigene Unglückseligkeit nicht recht zu entscheiden weiß. (Ö: 172ff.) D i e klassische Frage, ob man heiraten solle oder nicht, wird dann auch dem Kaplan zur Entscheidung vorgelegt, der ganz traditionell und hier der Sache nach adäquat antwortet; allerdings erweist sich dessen Ratschlag, zunächst die monastische Existenz zu versuchen, als interessegeleitet, denn der vermeintliche Geistliche ist ein Verschwörer, der die Braut entführen will. D i e Entführung wird vereitelt, und der Erzähler resolviert sich zur Heirat, nur um im folgenden mit dem tatsächlichen Raub der Braut konfrontiert zu sein. D i e Braut bleibt verschwunden, und in seiner Trauer greift der Held, wie viele andere bei Beer, zu den Legendenerzählungen der Heiligen, deren Beispiel ihn auf die Überlegungen zur Eremitenexistenz zurückverweist. 25 Argumentativ schließt er hier präzise an die vorigen Bedenken an, 26 und man 25 26

Siehe Ö: 202. Auch hier ergeben sich aufgrund der mangelnden Motivation der externen Handlungsdisposition logische Unstimmigkeiten. Sylvius scheint durchaus keine anhaltenden Versuche zu unternehmen, um seine Braut zu finden, während die Gräfin, die schon bald gerettet wurde, wie später zu erfahren ist, keine überzeugenden

327 darf vermuten, daß die Entführungsepisode ausschließlich dazu dient, die religiösen Skrupel breiter als vordem zur Geltung zu bringen, denn der vormalige Entschluß zur Heirat bezog sich zum einen auf die Unkenntnis und Unfähigkeit zur weltfernen Existenz und zum anderen auf die gesellschaftliche Verpflichtung der Braut gegenüber. Diese Bedenken sind durch den eingetretenen Tod des Grafen und die Entführung der Gräfin zumindest formal obsolet geworden, so daß die Entscheidung für die Weltabkehr notwendig wird. Der Erzähler sucht einen »Clausner« auf, bespricht sich mit ihm und entschließt sich dann zur Eremitage. 27 Die hier inszenierte Einsiedelei steht, sowohl ihre Motivation wie auch ihre konkrete Durchführung betreffend, in engem Zusammenhang mit den ähnlichen Versuchen am Beginn der Sommer-Täge. Sylvius installiert sich in landschaftlich schöner Lage, »von dar ich drey See samt der halben Landschafft übersehen konte« (Ö: 210), er läßt sich vom sanften Rauschen des Regens in den Schlaf wiegen und erhält Kleidung und Essen von seinem nahegelegenen Schloß. In der folgenden Beschreibung der Einsiedelei läßt sich dabei eine charakteristische Entwicklung erkennen, die die differenzierte Bedeutung des Weltfluchttopos plastisch illustriert. Am Beginn steht das Eingeständnis der Beschwernisse der Einsamkeit: Ob ich nun gleich um die Lebens=Mittel noch Kleidung keine Sorge tragen durffte/ war mir doch die grosse Einsamkeit ein unerträgliches Joch/ weil ich zuvor der häuffigen Gesellschafften so sehr gepflogen hatte. (Ö: 210f.)

Die Einsamkeit war ja bereits im Welt-Kucker erkennbar Strafe und Sühnemittel für moralische Vergehen, und auch hier dominiert der Aspekt der Trennung von menschlicher Gesellschaft. 28 So richtet sich sein Trost - wie im Simplicissimus - darauf, die Distanz zur Welt zu verkürzen: Meine gröste Zeit=Verkürtzung war Lesen/ schreiben und die umligende Landschaft auf das Papier zeichnen/ unterweilen guckte ich mit meinem grossen Tubo optico in die Thäler und Fälder über meinen Berg hinab/ und dises waren alle Mittel/ durch welche ich meine Zeit hinbrachte. (Ö: 211)

Sylvius flieht die Welt aus zwei Gründen: Zum einen ist seine Abkehr Resultat einer tiefen Unsicherheit angesichts der Rechtmäßigkeit seiner Standes-

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Anstrengungen unternimmt, um ihrem Bräutigam ihren Aufenthalt bekannt zu machen. Der Rat des »Clausners« referiert dabei deutlich die bereits genannten, traditionellen Argumente, er unterstreicht aber auch spezifische Interessen des Erzählers: »Es ist eine grosse Glückseligkeit Herr über seinen eigenen Willen seyn/ und dises wird nur allein in frommen Hertzen gefunden. [...] Die innerliche lügenden erhalten allein den Preiß/ dann der Tod löschet allen disen Ruhm plötzlich aus/ welchen der Mensch äusserlich besessen hat/ aber das innerliche Wesen eines andächtigen Hertzen wird bleiben und grünen/ als eine ewige Bluhme« (Ö: 208f.). Während die Weltabkehr als Bedingung persönlicher Freiheit für Beer ein zentrales Argument darstellt, ist der Ruhmgedanke eher ein traditoneller Topos ohne Konsequenz. Siehe Ö: 211.

328 erhöhung, und zum anderen bewegen ihn sicher genuin religiöse Gefühle. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, daß der erste Beweggrund hier der dominante ist, und so darf auch die Entfernung von den Menschen als Ausdruck dieser primär weltlichen Skepsis aufgefaßt werden, die sich mit der anachoretischen Existenz einer religiösen Form bedient. Die mildernden Umstände der Einsiedelei schließen zunächst einmal eine asketische Lebenshaltung aus, und wohl deshalb läßt der Autor seinen Helden im Anschluß ein ausführliches »Ade Welt« formulieren (Ö: 212-217), um den Eindruck religiöser Überzeugung zu befestigen. Doch im folgenden finden sich mehr und mehr Einschlüsse weltlicher Tendenzen, obwohl zunächst noch von strengem Fasten berichtet wird. Es scheint dabei, als ob der Erzähler seiner eigenen Logik widerspricht, wenn er einerseits die Austerität seiner Situation betont, andererseits gerade darin Entlastungsmomente - profaner Natur sieht.29 Schließlich droht die Einsiedelei zur frugalen Idylle zu mutieren, wenn er berichtet, wie seine Wohnstatt mit Geheimgängen, Gräben und einer »Schlag=Brücke« wie ein kleines Schloß ausgestattet ist und er regelmäßig mit Zeitungen versorgt wird - so »lebte ich frey und sicher von solchen Dingen/ die ein anderer in dem Wald zwischen Berg und Klippen lebender Mensch/ zu befürchten hat« (Ö: 219f.).30 Es ist in der Sekundärliteratur immer wieder die mangelnde Ernsthaftigkeit von Beers anachoretischen Entwürfen kritisiert worden, ohne die jeweils spezifischen Funktionen der verschiedenen Einsiedeleien zu berücksichtigen, und auch im Verliebten Österreicher könnte man in diesem Sinne argumentieren. Doch die Dinge liegen anders, denn Einsiedelei bedeutet für den Autor und den Erzähler hier zunächst Rückzug aus der Welt der Standesambitionen. Die Weltabkehr suspendiert den aufstiegswilligen, aber seiner Sache unsicheren Helden aus den Legitimationszwängen, die er selbst formuliert hat. Der Wunsch nach Nobilitierung gründet in der Erfahrung des Autors, der grundsätzlichen Egalität des natürlichen Menschen und der Zufälligkeit und Ungerechtigkeit der konkreten lebensweltlichen Glücksumstände. Wenn der Grund für gesellschaftlich-ständische Privilegien nur in persönlichen Verdiensten (»Eyfer«) und Fähigkeiten (»Music«) liegen kann, hat der Erzähler Anspruch auf gleiche Vorteile. Diese Überlegung des Autors hat jedoch keine lebensweltliche Bedeutung, allein in der ästhetischen Konfiguration läßt sich diese Logik durchsetzen; aber auch hinsichtlich der Erzählhandlung 29

30

»Statt der vorigen Music und Comoedien hörte ich Wölffe und Nacht=Eulen schreyen/ und Wild=Katzen miteinander rauffen. Herentgegen war ich sicher/ daß mich niemand hinaus fordern/ oder mir sonsten vor der Thür Ungelegenheit machen dörffte. Ich war gantz sicher vorn Steuer und Zinsen und anderen Anlagen. [...] So war ich ingleichem keiner Obrigkeit unterthan/ und konte dannenhero unmüglich exequirt werden« (Ö: 218). Hier finden sich auch wieder einige Anspielungen und Doppeldeutigkeiten bezüglich des Autorennamens.

329 durchdringen Zweifel die Argumentation. Zweifel zumal, die sich auf den göttlichen ordo beziehen und die die Form religiöser Skrupel annehmen. Der Impuls zur Weltabkehr ist daher primär erzählpsychologisch und nur in zweiter Linie religiös motiviert; zudem tritt ein weiteres Moment hinzu: Die Liebeshandlung ist an keiner Stelle organisch in die Charakterdarstellung des Helden integriert. Zweifellos ist es nicht so, daß der Erzähler seine Liebe instrumentalisiert, um die Standeserhöhung zu motivieren; sie hat ihren Eigenwert, der sich jedoch nicht mit dem quasi-pikarischen Charakter des Helden verbindet. Die materielle Sicherheit, die die Nobilitierung dem Erzähler verschafft, ermöglicht Ausdrucksweisen persönlicher Freiheit, die dem erreichten gesellschaftlichen Stand nicht adäquat sind, und so ist die Weltabkehr zu guten Teilen auch die künstlerische Flucht aus dem Problem, das Zusammenleben der beiden Protagonisten zu beschreiben. Die bereits zitierte Szenerie bäuerlicher Idyllik konturiert ja schon die phantastischen Wünsche des Erzählers in Hinsicht auf eine kleinadlige Landlebenidylle, die mit dem Repräsentationsgestus des tatsächlichen Grafen kollidiert. In diesem Sinne hat die Einsiedelei mehrfache Entlastungsfunktion: Sie beendet den selbstgesetzten Legitimationszwang adliger Existenz, bestraft die soziale Ambition durch den Entzug von Geselligkeit31 und schafft den Raum persönlicher Lebensfreiheit jenseits adliger Repräsentationskultur. Vor diesem Hintergrund müssen dann auch die weltlichen Tendenzen innerhalb der Eremitage verstanden werden, denn in dem Maße, in dem Sylvius sich von den genannten Zwängen befreit, kommen seine ursprünglichen Charakterdispositionen zur Wirkung. Dabei konstatiert er zunächst einmal Entlastungen ex negativo: Er ist von allen gesellschaftlichen Zwängen und auch von allen körperlichen Leidenschaften befreit. Ich hatte auf disem Wild=Felsen die höchste Ruhe/ so ich jemals gehabt habe. [...] So war ich auch in allen Sachen mein eigener Herr/ also daß mir niemand einreden dörffte/ ich mochte machen was ich auch wolte. (Ö: 221f.)

Aus der Freiheit von Zwängen wird aber dann auch schnell Freiheit zur Lebensgestaltung einer vita solitaria: [A]lso hatte ich Gelegenheit gnug meinen eigenen Geschafften abzuwarten. Alle meine Bibliothec so ich auf dem Schlosse zu Schwartzburg hatte/ Hesse ich mir heraus bringen/ damit ich mich mit Lesen ergötzen konte. Wann ich von solchem ermiedet war/ gieng ich mit meinem Pallester in den Wald die Vögel von denen Bäumen zuschiessen/ bald fieng ich an eine Hütte zu bauen/ oder einen Brunnen zu graben/ weil ich mit dergleichen Instrumenten zur gniige versehen war. [...] Und ob ich gleich weder zu Paris noch Amsterdam wohnete/ wüste ich doch mehr was in der Welt hin und wider passirt/ als mancher Kauffmann in selbigen Städten/ weil mir meine Mutter allerley Zeitungen communicirte. (Ö: 221f.) 31

»Die ersten acht Tag waren mir vil länger/ als sonst ein Jahr/ und muste mich mit Gewalt zwingen eine solche Einsamkeit zu dulden [...]. Dann weil ein dergleichen Leben ohne dem verdrüßlich ist/ fallen wenige Sachen bey/ daran ein Melancholisches Gemiith eintzige Ergötzung finden möchte« (Ö: 2241).

330 Hier verdichten sich mindestens zwei Motivstränge in Beers Erzählungen: zum einen die Wunschvorstellung einer fast humanistischen vita solitaria und zum anderen die - dazu wenig passende - der frei vagabundierenden Kindheitsidylle. So wenig auch die Vorstellung vom Ruhe suchenden Gelehrten inmitten seiner Kartause zu dem Tauben jagenden Jüngling mit dem Katapult passen will - für den Autor ist dieses Motivkonglomerat charakteristisch und auch logisch, denn es bezeichnet ganz konsequent das Resultat der Einwirkung von Wünschen, Phantasievorstellungen, Selbstzweifeln und religiöser Skepsis auf einen im wesentlichen jugendlichen Helden,32 der einen außerordentlichen Glücksumschwung erlebt. Die Einsiedelei findet schließlich ihr Ende auch nicht durch die Unhaltbarkeit der Situation oder durch künstlerische Inkonsistenzen. Der Autor erfindet einen Handlungsumschwung, der den neugierig gewordenen Helden 33 auf den Entführer Pardophir treffen läßt, dem der Edelmann Bernegier die Gräfin abgenommen hat. Sylvius geht zum Schein auf Pardophirs Ansinnen ein, das Schloß Bernegiers in Brand zu setzen und die Gräfin zu rauben; statt dessen aber entdeckt er den Plan, Pardophir wird mit seinen Komplizen im Schloßeingang festgesetzt, mit brennendem Pech und Schwefel Übergossen und so getötet.34 Endlich ist der Weg zur Hochzeit frei, die bald gefeiert wird. Naturgemäß ist die Beschreibung der erreichten Lebenssituation des Helden hier von entscheidender Bedeutung, und der Verliebte Österreicher präsentiert ein einstimmiges, aber auch innovatives Ende, das ganz deutlich auf den Doppelroman verweist, denn die dort in den Winternächten geschilderten Hochzeitsfeste finden hier eine Parallele: Wir hatten durch neun Tage allerley Ergotzlichkeit/ biß wir endlich anfiengen unsere Lebens-Läuffe zu erzehlen/ worunter Herr Gottfried einen ziemlichen Spaß von seinem Schul=Wesen einmengte. (Ö: 245f.)

In diesem Schlußtableau gegenseitig erzählter Lebensläufe steckt nicht nur das Erzählprogramm der Winternächte und Sommer-Täge, die über weite

32 33

34

Sylvius ist zu Beginn der Handlung etwa 18 Jahre alt, gegen Ende 19 oder 20 Jahre. Die Reise des Erzählers zu dem Brunnen, dessen Wasser ewiges Gedächtnis verschafft, ist ein Hinweis auf das beginnende Ungenügen, das auch durch die Melancholie der Einsamkeit und die Erinnerung an die geliebte Gräfin genährt wird: »[...] weil gewiß ist/ das keine grössere Melancholey das Gemiith erfüllen kan/ als welche von der Liebe entspringet/ aus disem ist zu schliessen/ wie lieb ich die Gräfin von Sorona hatte/ daß ich mich nach ihrem Verlust aller zeitlichen Freude gäntzlich entschlagen/ und meine eintzige Lust in der Einöde gesuchet habe/ die mächtig gnug war/ auch das frölichste Gemüth zu betrüben« (Ö: 225). Wieder ein Beispiel für Beers grausame Strafphantasien; Pardophir seinerseits pflegte »allen seinen Feinden/ wo Er derer habhafft wird/ die Haut über die Ohren abzustreiffen« (Ö: 236).

331

Strecken aus eben diesen Lebenslauferzählungen bestehen, sondern wir erkennen auch schon die dort auftretenden Protagonisten hinter Gottfried und Sylvius. Gottfrieds Verliebtheit und seine schulischen Narrenpossen verteilen sich auf Isidoro, der in den Sommer-Tägen dann auch Gottfried heißt, und Ludwig (später Philipp). Sylvius präfiguriert natürlich Zendorius (später Wolfgang), mit dem er eine ganz ähnliche Charakterdisposition teilt; aber auch die Grundstruktur der Handlungen beider Helden ist ähnlich. In beiden Fällen handelt es sich um ambitionierte Aufsteiger, die tatsächlich aber adliger Herkunft sind, ihre Braut zeitweise verlieren, eine Einsiedelei aufsuchen und wieder verlassen, um am Ende glücklich zu heiraten. Die Kerngeschichte der Winternächte ist demnach dem Österreicher entlehnt, wie ja auch die sekundären Viten zum Teil als Auflösung des Materials aus dem Österreicher erscheinen. Der Doppelroman knüpft in seiner Ausgangslage und in seinem Erzählprogramm deutlich an das Ende des Verliebten Österreichers an, mit dem ihn aber auch die Handlungsstrukturen der Erzählervita verbinden. Die Winternächte ändern dabei zunächst nur zwei Dinge: Das Adelsniveau wird konsequent abgesenkt, um die Erzählerpsychologie integrieren zu können, und die Erzählervita wird in ein Ensemble von gleichberechtigten Lebensläufen eingeordnet. Die Konsequenzen daraus, die periphere, multiperspektivische Ich-Erzählsituation und das stärker entwickelte Motiv der Aufdeckung versteckter biographischer Bezüge, werden Gegenstand des letzten Kapitels dieser Arbeit sein. Das Ende des Verliebten Österreichers ist aber in noch einer Beziehung von wesentlicher Bedeutung, denn die Schlußbemerkungen des Erzählers lassen sich durchaus als Auslegungsschlüssel auch für den Doppelroman lesen. Die Egalität der Personen jenseits zufälliger Standesschranken bedeutet hier auch ihre Gleichgewichtigkeit in bezug auf die Bedeutung ihrer Lebensgeschichte. Jedes Leben (so dann in den Winternächten) ist ein Spiegel des menschlichen Lebens im göttlichen ordo, und als ein solches Beispiel will Sylvius seinen Lebenslauf verstanden wissen, wie er in einer langen Schlußmoralisatio expliziert: Es ist gnug/ daß der Leser umschweiffig verstanden/ wie mühsam und elend ich das Leben hingebracht/ ehe daß ich zum eigenthumlichen Besitz diser Schönen gekommen. Ich ward auf der See in Todes=Gefahr/ in Banden geschlossen/ im Streit begriffen/ mit Gedancken gequälet/ in meinem Hertzen gepeiniget/ mit der zweiffelbaren Auslegung gemartert/ in der Einsamkeit abgemergelt/ und also tausend Verdrüßlichkeiten unterworffen. Tag und Nacht stackte ich in Sorgen/ mein Gewissen war ohne Frieden/ die Andacht ohne Ernst/ das Hertz in steter Betrübnuß. Aber was ist dises alles anders/ als ein Abbildung deß gantzen Menschlichen Lebens? Wer nach der ewigen Glückseligkeit trachten will/ muß sich die irrdische Verdrüßlichkeiten nicht zu saur lassen werden. Was ist unser gantzes Leben anders als ein steter Streit und Zweiffei. Wir streben von Jugend auf nach hohen Ehren/ lauften nach grossen Würden/ werden gemeistert von unzehlichen Begierden/ und in allen disen Stücken sind wir so lang unvergnügt/ so lang sie uns besitzen/ das ist/ die Zeit unsers gantzen Lebens. (Ö: 246f.)

332 Diese Spiegel-Metapher, die auch Hardin 35 bemerkt und unterstreicht, entwirft der Roman aber in einer ganz eigensinnigen Weise, denn die quasipikarischen Lebensläufe sind hier nicht Berichte von den Rändern des Lebens, sie repräsentieren nicht die Erfahrungen der Sonderlinge, Abseitigen, Ganoven, Galgenstricke und anderer vom Schicksal gebeutelter Überlebenskünstler, sondern für Beer verweist jeder Lebenslauf auf den göttlichen ordo und die vanitas der »irdischen« Welt. So ist hinter dem pikarischen Personenmodell noch ein Abglanz des Bewußtseinsmodells des höfischen Romans sichtbar, der sich in einer bestimmten Hinsicht in dem Doppelroman verstärkt: Das Motiv der Aufdeckung versteckter Personen- und Herkunftskonstellationen wird dort zu einem beherrschenden Thema. Für Beer jedoch gibt es keine Standesklausel, denn ihm ist jedes gelebte Leben Repräsentationsvariante der ewigen Gesetze der conditio humana. Im Gegenteil, das biographische Modell des jungen, männlichen, begabten und ambitionierten Aufsteigers aus armen Verhältnissen fasziniert ihn sichtbar am meisten. Die Schlußmoralisatio des Österreichers erläutert und entwirft daher das kommende Erzählprogramm des Doppelromans: die um den musterhaften Lebenslauf des Ich-Erzählers arrangierten Lebensläufe befreundeter Adliger, deren Viten sich schließlich als miteinander verbunden enthüllen. In ihrem notwendigen Scheitern liegt der Grund der Satire, in ihren Ambitionen und Wünschen das Motiv der Repräsentation begründet. Am Ende des Österreichers aber steht nicht die Bewährung, Enthüllung oder Restitution des göttlichen ordo, sondern dessen ästhetische Konfiguration im Erzählen selbst. Das erfüllte Leben, das sich der Held wünscht, entwirft der Autor nicht als epikureisches Schlaraffenland, sondern als Ort geselligen Erzählens: Der Trost der Literatur manifestiert sich hier in der Abwehr der Einsamkeit und der Wiederholung von Lebensläufen anderer. Die wiederholten Erzählungen im geselligen Kreis sind jedoch im Bewußtsein des Autors und seiner Erzähler eine medicina mentis gegen die grundlegende Erkenntnis der vanitas, wie auch Sylvius bekennt: Wahr ist es/ daß mir alle dise Eitelkeiten auf meine Einsidlerey nicht vil anders als eine nichtige Comoedia vorgekommen/ und dannenhero schätze ich [mich] glückselig gnug/ daß ich dannoch erkennen konte/ wie ein verschwindendes Wesen die zeitliche Pracht und Ehre mit sich führe/ und daß die Hoheit mit stetter und unabläßlicher Gebrechlichkeit begleitet werde. (Ö: 245)

Die Helden und Erzähler Beers sind allesamt im Zweifel und voller Skepsis; sie wissen um die Eitelkeit ihrer Wünsche und das notwendige Scheitern ihrer weltlichen Ambitionen, vor allem aber fürchten sie die Einsamkeit des

35

Hardin spricht hier von »Symbolismus« und stellt die Schlußmoralisatio mit der Schiffahrtsmetapher zusammen, ohne jedoch Konsequenzen aus seiner Beobachtung zu ziehen: »The Symbolism appears consistently from one novel to the next; its use was no doubt deliberate« (Hardin [1983b] 61).

333 Sünders vor dem göttlichen Gesetz. In Beers Welt scheint die Gnade Gottes in die Ferne gerückt, die Taten und Werke spielen in seiner katholisierenden religiösen Ethik mit ihren unzähligen Racheakten und Strafritualen eine markantere Rolle als die Erlösung durch Jesus Christus, von dem bei Beer fast nirgends die R e d e ist. So erscheint das Ende des Verliebten

Österreichers

nicht nur als Erzähl-

programm und Auslegungsmaxime, sondern es belegt auch die umfassende Bedeutung einer religiösen Besinnung, vor deren oft schreckerfülltem Hintergrund die erzählende Geselligkeit wie ein Beschwörungsritual wirkt.

5.2.

Die Teutschen Winternächte und die Kurtzweiligen SommerTäge (1682/83): Die Wiederholung als Erfüllung

5.2.1. Die Form des Romans: Die Wiederholung als Struktur Es gilt in der Beer-Forschung als unbestritten, daß die Kurtzweiligen mer-Täge

die Fortsetzung der Teutschen Winternächte36

Som-

sind, die die Hand-

lung des ersten Bandes weiterführen - daher der Begriff der Dilogie, der, allgemein akzeptiert, gern gebraucht wird. 37 D i e ausführlichste Diskussion des Zusammenhangs der beiden Bände liefert Berns, der die Unterschiede der Romanteile auflistet, nur um dann den Zusammenhang als Anspielung

36

[Johann Beer] Zendorii à Zendoriis Teutsche WINTERNÄCHTE Oder Die ausführliche und denckwürdige Beschreibung seiner/ LEBENS=GESCHICHT. Darinnen begriffen allerley Fügnissen und seltsame Begebenheiten/ Curiose LIEBES=HISTORIEN/ und Merkwürdige Zufälle etlicher von Adel/ und anderer Privat=Personen. Nicht allein mit allerley Umständen und Discursen ausführlich entworffen/ sondern auch mit tauglichen Sitten-Lehren hin und wieder ausgespicket. Allen Liebhabern der Zeit-verkürtzenden Schrifften/ wes Standes oder Condition dieselben seyn mögen/ zu sonderlicher Belustigung/ nicht ohne dem daraus entspringenden Nutzen/ entworffen/ und erstlich von dem Authore selbsten beschrieben/ hemachmals aber zum bessern Gebrauch der Lesenden übersetzt [...] [1682], Zitiert mit der Sigle WN in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 7. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Mittlere Deutsche Literatur in Neuund Nachdrucken, 7). [Johann Beer] Die kurtzweiligen SOMMER=TÄGE'/ Oder ausführliche HISTORIA/ In welcher umständlich erzählet wird/ Wie eine vertraute ADELICHE GESELLSCHAFFT sich in heisser Sommers=Zeit zusammen gethan: Und Wie sie solche in Auffstossung mancherley Abentheuer und anderer merkwürdiger Zufälle kurtzweilig und ersprießlich hingebracht. Zum allgemeinen Nutzen und Gebrauch des Teutschen Lesers entworffen [...] [1683]. Zitiert mit der Sigle ST in der Ausgabe der Sämtlichen Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bd. 8. Bern, Berlin, Frankfurt a.M. [u.a.] 2000 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, 8).

37

Die beiden Romane »gehören als Doppelroman zusammen. Trotz der verwandelten Namen sind die Sommer-Täge sichtlich eine Fortsetzung der Winter-Nächte, so daß wir von einer Romandilogie sprechen können« (Alewyn [1932] 243). In fast identischer Formulierung Hardin (1983b) 62.

334 auf die Übersetzung der Noches de Invierno Antonio Eslavas durch Matthaeus Drummer als Winternächte zu erweisen. Die Umbenennung der Protagonisten erscheint so als Resultat ökonomischen Kalküls: Denn Leser, die seinen Winternächte-Band nicht kannten, wären schwerlich zum Kauf eines Buches zu bewegen gewesen, das eindeutig als Continuation eines anderen Bandes kenntlich gewesen wäre. Solchen Lesern aber, die den Winter-NächteBand kannten, war der Titel Sommertäge aufgrund der in den Winternächten gegebenen Vorankündigung schon Hinweis genug, in dem neueren Band die Fortsetzung zu erkennen. (Berns [1965] 16)38

In der Tat kann es keinen Zweifel geben, daß alle alten Protagonisten unter neuem Namen erscheinen, wofür auch der Rückfall in alte Namensbezeichnungen an einigen Stellen spricht. Damit ist jedoch die Frage nach dem inneren Zusammenhang der Romanteile weder gestellt noch beantwortet, denn das ökonomische Argument scheint wenig überzeugend: Die Literaturgeschichte zeigt, daß Romanfortsetzungen mit identischem Personal eher verkaufsfördernd wirken: Beer muß andere Gründe für seine Umbenennung haben, die bis dato einzigartig ist. Berns hat - ohne interpretatorische Auswertung - auf die Titelblätter verwiesen, die zweifellos eine erstaunliche Umwertung erkennen lassen. Demnach sind die Winternächte die »ausführliche und denckwürdige Beschreibung seiner LEBENS=GESCHICHT« (WN: 3). Thema des Romans ist also ein autobiographischer Bericht, der erstens umfangreich - 800 Duodezseiten - und zweitens bemerkenswert ist, also etwas Interessantes und Ungewöhnliches zu bieten hat. Dies wird sofort erläutert, denn in dem Roman seien »begriffen allerley Fügnissen und seltsame Begebenheiten/ Curiose LIEBES=HISTORIEN/ und Merckwürdige Zufälle etlicher von Adel/ und anderer Privat=Personen« (WW: 3). Beer liegt offenbar viel daran, das adlige Romanpersonal und deren »Zufälle« zu unterstreichen, womit er den Eindruck einer pikarischen Autobiographie 39 entwerten möchte. Schon durch den herausgehobenen Druck verbinden sich »Lebens=Geschicht« und »Liebes=Historien« zu einer thematischen Einheit: Die Lebensgeschichten des Erzählers und der adligen Protagonisten als »curiöse« Liebesgeschichten sollen Romanthema sein. Für den Kenner Beers deutet diese Titelformulierung zweifellos bereits den Handlungsnukleus an: der verliebte Ich-Erzähler in adliger Umwelt als weitere Konfiguration der Lebensgeschichte zum Ideal landadliger Existenz. Der zeitgenössische Leser dagegen mochte in der Verbindung von Autobiographie und Liebesgeschichte vornehmlich das GalantErotische vermuten; doch diesem Verdacht tritt der Titel eindeutig entgegen: Der Roman ist nicht nur »mit tauglichen Sitten-Lehren hin und wieder aus38

39

[Jörg-Jochen Berns] d. i. Jörg-Jochen Müller: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers. Marburg 1965 (Marburger Beiträge zur Germanistik, 9). Die autobiographische Form ist durch den Titelzusatz »von dem Authore selbsten beschrieben« (WN: 3) belegt.

335 gespicket«, sondern »[ajilen Liebhabern der Zeit=verkürtzenden Schrifften/ wes Standes oder Condition dieselben seyn mögen/ zu sonderlicher Belustigung/ nicht ohne dem daraus entspringenden Nutzen/ entworffen« (WN: 3). Beer hebt deutlich hervor, daß der Roman zur Unterhaltungslektüre zählt, deren Liebhaber er direkt anspricht. Die »Belustigung« der zeitverkürzenden Lektüre bleibt allerdings durchaus nicht ohne Nutzen; dieser ist einerseits in den »Sittenlehren« und andererseits in der melancholievertreibenden Zeitverkürzung zu finden.40 Auch die Sommer-Täge unterstreichen diesen diätetisch-medizinischen Aspekt in der Titelei: Sie sind »kurtzweilig« und »ausführlich« und »zum allgemeinen Nutzen und Gebrauch des Teutschen Lesers entworffen«, und auch hier geht es um »mancherley Abentheuer und anderer merckwürdiger Zufälle kurtzweilig und esprießlich hingebracht« (ST: 5). Ist der Rezeptionsrahmen weitgehend gleich geblieben (Unterhaltungslektüre mit moralischem und psychologischem Nutzeffekt), so sieht der annoncierte Inhalt doch wesentlich anders aus: Statt eines autobiographischen Lebenslaufs als Liebesgeschichte findet sich hier eine »ausführliche Historia/ In welcher umständlich erzählet wird/ Wie eine vertraute Adeliche=Gesellschafft sich in heisser Sommers=Zeit zusammen gethan« (ST: 5). Die Emphase ist von der individuellen Autobiographie auf die auch hier durch den Druck hervorgehobene Gruppengeschichte des Adels übergegangen. Dieser Perspektivwechsel von der Individual- zur Gruppengeschichte ist dem Autor offensichtlich so bedeutend, daß er in den Sommer-Tägen einen neuen Ansatz sucht, um adäquat erzählen zu können. Die These, die an späterer Stelle entwickelt werden soll, besagt, daß das Ende der Winternächte mit dem Verschwinden der Protagonisten in den jeweiligen Einsiedeleien nicht umstandslos fortgesetzt werden konnte und ein unbelasteter Neubeginn gefunden werden mußte. Die Ernsthaftigkeit der Weltabsage in den Winternächten steht in zu starkem Kontrast zu ihrem Scheitern im Folgeband, um stehenbleiben zu können. Die problematische Situation am Ende der Winternächte ist jedoch selbst wieder das Resultat erzählerischer Fehlentwicklungen, wie eine auch nur oberflächliche narratologische Analyse schnell erweist. (Quasi-) autobiographische Texte konfigurieren immer verschiedene Grade von Distanz und Dissonanz: Das erzählende Ich ist immer zeitlich vom erzählten Ich entfernt. Diese Distanz kann minimal sein wie im Tagebuchroman oder im Briefroman, sie kann aber auch das ganze Leben umfassen. Damit verbunden ist die Identifikation des erzählenden mit dem erzählten Ich, die bei großer temporaler Erzähldistanz gewöhnlich geringer ausfällt als bei kürzerer Distanz. Einerseits kann das erzählende Ich die de 40

»Kurzweilig« und »zeitverkürzend« verweisen beide auf die Funktion, die Zeit vergessen zu machen und den Melancholiker - Autor und Leser - von sich selbst zu erlösen.

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facto bestehende Distanz permanent überbrücken und ganz aus der Perspektive des erlebenden Ich erzählen, wie im klassischen Detektivroman, andererseits ist ein distanzloses Erzählen natürlich auf die Erlebensperspektive des erzählten Ich beschränkt, wodurch Moralisationen und Vorausdeutungen weitgehend unmöglich werden. Ein denkbarer Extremfall wäre dagegen eine Erzählsituation, in der - wie im Tagebuch - Erzählzeitpunkt und Handlungszeitpunkt nah beieinanderstehen, dennoch aber eine markante Dissonanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich besteht. Dies wäre der Fall bei Schizophrenen oder extrem launischen Erzählern, deren Stimmungsschwankungen innerhalb kürzester Zeit Dissonanzen produzieren könnte. Beers bevorzugte Romanform, der quasi-autobiographische Roman in der pikarischen Tradition, unterstreicht sowohl Distanz wie auch Dissonanz: Der alt oder älter gewordene Held hat eine plötzliche oder kumulative Metanoia erfahren und erzählt aus der erhöhten empirischen und moralischen Position sein Leben, wobei er das erzählte Ich kommentiert und - auch für den Leser - moralisch bewertet. Die in diesem Schema auftretenden Moralisationen empfindet Beer - der diese Perspektive in seinen Romanen vielfach variiert - als zu direkt, um eine wirksame Lesersteuerung zu garantieren. Seine erzählerischen Versuche laufen darauf hinaus, Moralisationen und Kommentare indirekt erscheinen zu lassen. Die offene und auf den Leser zielende Doktrin, der »theologische stylus« (Grimmelshausen) also, der sich an die Predigt mit ihrem Lehren, Vermahnen, Warnen und Trösten anlehnt, soll zufällig erscheinen; die »tauglichen Sitten-Lehren« sollen nur »hin und wieder« auftreten. Dabei befindet sich Beer in einem unlösbaren Widerspruch zwischen seiner poetologischen Einsicht, die Moralisationen anders legitimieren zu müssen, indem er sie formal marginalisiert, und der ressentimentgeladenen indignatio als Erzählmotivation.41 Für den ersten Teil der Winternächte nun wählt Beer eine für sein Werk nicht untypische Konstruktion: Der Erzähler berichtet so weit wie möglich aus der Perspektive des erlebenden Ich - ohne offene Vorausdeutungen 41

Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur, 132), S. 87-124 erläutert die poetologische Entwicklung von der Juvenalschen indignatio zur irrisio der Tradition nach Horaz. Wenn er jedoch die menippeische Satire der indignatio-Tradition entgegenstellt, kann das für Beer zumindest nicht gelten. Trappens Beschreibung des Beerschen Verfahrens läßt dessen invektiven Ansatz außer Betracht: »Von indignatio, von der sich in scharfem Tadel auf verdorbene Sitten niederschlagenden Entrüstung, die die Theorie der Verssatire mitunter zum Merkmal dieser Gattung erhob, kann hier, bei der menippeischen Satire keine Rede sein« (Trappen [1994] 160). Ähnlich auch zu Swift (ebd. 163). Beer teilt zweifellos wesentliche Strukturmerkmale mit der Menippea, etwa die aus Apuleius tradierte Beobachterposition des Ich-Erzählers, aber seine satirische Motivation ist fast gänzlich der indignatio geschuldet. Dort, wo er außerhalb dieser Tradition steht, verläßt er das Terrain der Satire und bewegt sich in anderen Gattungszusammenhängen.

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oder manifeste Kommentare, die einen erhöhten Standpunkt jenseits des erlebenden Ich implizieren.42 Der Leser empfindet demnach keine Distanz oder Dissonanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich und ist so auch »hautnah« an dem erzählten Ich in dessen Welt: Er teilt dessen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, Wissen und Unwissen. Die Unmittelbarkeit des Verhältnisses von Leser, Held und Erzähler und die Konsonanz ihrer Erlebensperspektive ist handlungstechnisch allerdings etwas kurzatmig, denn die faktische Distanzlosigkeit zwischen erzählendem und erlebendem Ich drückt sich in kurzen Erzählsequenzen aus, und so ist der abrupte medias-in-res-Einsatz des Romans durchaus passend: »Es ware allgemach Mitternacht/ als ich mich gantz ledig ausser dem Schloß befände/ darinnen ich biß dahero mit tausend Sorgen und Grillen gefangen gesessen« (WN: 11). Der Erzähler bindet den Leser, der, anders als der Held, kein Wissen der Vorgeschichte hat, äußerst geschickt an dessen Perspektive, indem er auch den Helden mit Unwissenheit schlägt. Der folgende Abschnitt führt als Handlungselemente »Zettel«, »Gräfin« und »Jäger« ein, die für das erlebende Ich, wie auch für den Leser noch rätselhaft sind. Am Ende des ersten Abschnitts teilen Held und Leser gleichermaßen die Begierde, ihrer Unkenntnis abzuhelfen und Einsicht in die Handlungszusammenhänge zu gewinnen: [H]iermit eilete er [der Jäger] zurücke/ und liesse mich ganz bestürtzet an der Strasse stehen voll Verlangen und Begierde zu wissen/ wie und aus was Ursachen ich in dieses Gefängniß gesetzet worden. Ich machte mir wol huntert tausend vergebene Einbildungen/ aber es taugte keine zur Sache/ weil ich dadurch mir meine Verwunderung vielmehr verstärkte/ als solche verringerte. (WN: 11)

Die Engführung der Perspektiven von Leser und Held ist offenkundig, beider Unwissen etabliert die Erzählmotivation; die konsequent vermiedene direkte Anrede an den Leser würde diese Identifikation der Perspektiven stören, denn sie setzt immer eine Kommunikationsebene jenseits des erlebenden Ich, die sich auf die Autorität zusätzlichen Wissens beruft. Diese Autorität, die sich unabwendbar in moralisierenden Kommentaren äußert, konstituiert den zu vermeidenden »theologischen stylus«, dessen erzählendes Ich mit dem Moralisten zusammenfällt: »Aus meiner unbedachten Handlungsweise zu jenem Zeitpunkt kannst du, lieber Leser, ersehen, wie aus kleinen Fehlhandlungen große Sünden werden. Wer so handelt, verliert sein Seelenheil. Also hüte dich schon vor kleinen Fehlhandlungen und bessere dich!« Moralisierende Ermahnungen dieser Art sucht Beers Erzähler konsequent zu umgehen, und so bedarf es eines Dialogpartners, um den Leser mit derjenigen Information zu versorgen, die eine traditionelle quasi-autobiographische Erzählperspektive direkt dem Leser unterbreitet. Das erzählende Ich erzählt also nicht dem Leser, sondern mit dem Leser. Traditionellerweise sind 42

Es wäre dies nahezu das Pendant zur personalen Erzählsituation in der Er-Erzählung.

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die Perspektiven des erzählenden Ich und des Lesers parallel: Distanz und Nähe zum erlebenden Ich erfährt er unausweichlich mit der und durch die Autorität des Erzählers. In der Angleichung von Held und Erzähler wird dann schließlich auch die Parallelität von Held und Rezipient erreicht, der damit in die Lage versetzt wird, mit dem Helden zu lernen, statt an ihm. Der Protagonist ist nicht mehr Exempelfigur für eine doctrina, sondern der perspektivische Fokus für die Möglichkeit von Welterfahrung überhaupt. Seine Empirie bestimmt seine Weltanschauung, und damit erreicht Beer die größtmögliche Annäherung von Praxis und Theorie: Im Erleben des Helden und den darauf folgenden Reflexionen manifestiert sich die so oft beschworene Äquivalenz von res und verba. Der Dialogpartner zu Beginn der Winternächte ist nun der Landedelmann Isidoro, der in die Geschichte des Erzählers verwickelt ist und mit großem Vergnügen von dem Resultat seiner Verkleidung und Verwechslung von Zendorio hört. Bei dieser Gelegenheit holt der Erzähler auch seine Vorgeschichte in Stichworten nach und gibt eine knappe Selbstcharakteristik; später wird sich herausstellen, daß der Bericht über seine Eltern falsch war. Er ist, wie er glaubt, unehrlicher Abkunft, und er muß dieses Faktum verschweigen, weil der Unehrliche in der frühmodernen Gesellschaft solchergestalt stigmatisiert ist, daß seine Berührung und körperliche Nähe andere unehrlich machen kann. Solange Zendorio sich selbst für unehrlich hält, muß dies als ein zentrales Handlungsmotiv gelten, das in der Tat geeignet ist, einige seiner extremen Reaktionen zu erklären.43

43

Dazu siehe Werner Danckert: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. Bern, München 1963; Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt. 16.-18. Jahrhundert. München 1992, S. 176-219; ders.: Der infame Mensch. Unehrliche Arbiet und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit. In: Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Hg. v. Richard van Dülmen. Frankfurt a.M. 1990 (Studien zur historischen Kulturforschung, 2, Fischer-Taschenbücher, 4430), S. 106-140 u. 312-315; Johann Casper Glenzdorf u. Fritz Treichel: Henker, Schinder und arme Sünder. 2 Bde. Erster Teil: Fritz Treichel: Beiträge zur Geschichte des deutschen Scharfrichter- und Abdeckerwesens. Bad Münder 1970; Rudolf Wissell: Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit. 2., erw. u. bearb. Ausg. hg. v. Ernst Schraepler. Bd. 1. Berlin 1971 (Ί929) (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 7), S. 145-236 u. 408-421; Franz Irsigler u. Arnold Lassotta: Bettler und Gaukler. Dirnen und Henker. Randgruppen und Außenseiter in Köln 1300-1600. Köln 1984 (Aus der Kölner Stadtgeschichte), S. 106-140, 312315; Bernd Roeck: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit. Göttingen 1993 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1568); Pochia Hsia (1992) und allgemein Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800. Durchges. u. um ein Sach-, Personen- und geographisches Reg. erw. Taschenbuchausgabe. Frankfurt a.M., Berlin 1996 (H992) (Ullstein-Buch, 35597). Das reichste Material und die beste Auswertung liefern die beiden Studien von Gisela Wilbertz: Scharfrichter und Abdecker im Hochstift Osnabrück. Untersuchungen zur Sozialgeschichte zweier »unehrlicher« Berufe im nordwestdeutschen Raum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Osnabrück 1979 (Osnabrücker Geschichtsquellen und For-

339 Der Bericht über seine unverhoffte Gefangennahme und anschließende Flucht präsentiert sich nun ganz bewußt nicht als Teil einer Lebenslaufschilderung, sondern als »lustiges Stücklein«, für das der Zuhörer Isidoro die Erklärung liefert. Dessen Erzählung verhält sich nun zu Zendorios Bericht wie das ausgeführte Gemälde zur Skizze; konzentrierte sich der primäre IchErzähler auf die Rätselhaftigkeit der Begebenheiten der letzten fünf Tage, so braucht Isidoro die Erzählung einer ganzen »Liebes=Historie« zur Auflösung. Eine nähere Betrachtung der beiden Berichte wird dabei wesentliche Strukturmerkmale für den ersten Teil der Winternächte entdecken können. Diese Merkmale betreffen kurz gesagt zwei Strukturpositionen: erstens die Ähnlichkeit der Mentalität und des Charakters der Protagonisten und zweitens das Verhältnis der Geschichten als Rätsel und Auslegung, als pictura und subscriptio. In der Tat haben wir es fast mit einem emblematischen Verfahren zu tun: Das jedem Kapitel vorangestellte Motto (hier: »Wer ohne Schuld kommt in die Band/ Kommt/ ohne Straffe/ aus dem Land« [W/V: II]) 4 4 findet in der Erzählung des primären Erzählers seine pictura, zu der in diesem konkreten Fall sogar eine bildliche Entsprechung gehört. Das entsprechende Kupfer zeigt den gefangenen Erzähler, der den ihm unverständlichen Brief der Gräfin Veronia liest. Die epigrammatische inscriptio, das Kupfer als pictura, die in der Erzählung beschrieben wird, und schließlich die »ausführliche Liebes=Historie« als subscriptio markieren recht deutlich das exegetische Verfahren des Autors. Es dürfte aber auch ersichtlich geworden sein, daß diese spezifische Struktur der Erzählsituation selbst entspringt, denn die Engführung von erzählendem und erlebendem Ich muß Rätsel und Inkohärenzen der lebensweltlichen Erfahrung produzieren. Indem diese jedoch nicht im Sinne der Vorausdeutungen und Kommentare eines erfahreneren und »bekehrten« Erzählers aufgedeckt werden, erlebt der Rezipient parallel zum erlebenden Ich die langsam fortschreitende und zeitweise retardierende Auslegung. Der Leser ist damit grundsätzlich auf der Erkenntnishöhe des Helden, und partizipiert gleichberechtigt und ohne moralische Bevormundung an dessen Einsichten. Diese Erkenntnisse aber präsentieren sich als narrative Auslegungen von und mit Lebensläufen; die Welträtsel sind Rätsel des Lebens, verdeckte und versteckte Beziehungen, die im Laufe des Romans entschlüsselt werden, wobei eine Reihe von nur marginalen, sekundären und tertiären Biographien erzählt werden, die in keinem Verhältnis zum Erzähler stehen, aber dennoch zur narrativen Hermeneutik gehören. Voraussetzung dieses Erzählens ist dabei die immanente Hypothese der Gleichartigkeit der Lebensläufe, die sich gegenseitig erklären und kommentieren.

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schungen, 22) und Jutta Nowosadtko: Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in der Frühen Neuzeit. Paderborn [u. a.] 1994. Dazu zählen auch die Motti auf den Seiten 24 (Cap. 3), 26 (Cap. 4) und 29 (Cap. 5).

340 Zendorios Erzählung seiner Gefangenschaft ist in diesem Sinne eine für Beer typische narratio ohne Kommentar, die bewußt detailliert verfährt, wenn sie die Umstände der Flucht mit detektivischer Akribie rekonstruiert und bedeutungsvoll-zufällige Einzelheiten berichtet. Abgesehen von der elementaren Handlungskonstruktion sind hier diejenigen Hinweise wichtig, die später als thematische Wiederholungen strukturbildend werden, so daß die narratio Isidoros zum Kommentar der narratio Zendorios werden kann, denn das ist die offenkundige Funktion dieses erzählerischen Verfahrens: das Verschwinden des Kommentars und der Moralisatio in der Erzählung. Isidoro und Zendorio, die ihre Seelenverwandtschaft später auch selbst feststellen, ähneln sich nun in einem besonderen Punkt: ihrer sexuellen Leidenschaftlichkeit. Zendorio gibt an bezeichnender Stelle den entscheidenden Hinweis, wenn er mutmaßt, daß seine Gefangenschaft auf »Liebes=Historien« zurückgehen könnte: Ich gedachte wol auf tausend Schelmstücklein/ die ich hin und wieder/ so wol öffentlich als heimlich/ absonderlich aber mit Frauenzimmer begangen/ dahero muthmasste ich immer/ es dörfte eines oder anders seyn offenbar worden/ davor ich nun meine Laudes empfangen würde. (WN: 15)45 D i e Haft wird allerdings mit dem Gefühl der Unschuld verbunden, 46 denn letztlich ist der Erzähler ja das Gegenstück zum verbuhlten Isidoro, der seinen lasterhaften Lebenslauf im Anschluß an Zendorios Erzählung berichtet. Dabei macht sich sofort ein markantes Interpretationsproblem bemerkbar, wenn der sekundäre Erzähler bereits hier die Position eines »bekehrten« IchErzählers des traditionellen Pikaroromans einzunehmen scheint, wie seine ausführliche Selbstcharakterisierung nahelegt: Allein ist zu wissen/ daß ich von Natur niemand mehr als dem Frauenzimmer nachgestrebet [...]. Es ist wahr/ daß kein solcher perfecter Fuchsschwäntzer nicht zu finden war/ als eben ich [...]. In dieser liederlichen Stümperey bliebe ich nicht in denen Schrancken meines Standes/ sondern/ ich kleidete mich wol an/ als ein Bauer=Flegel·/ und in solchem Habit gienge ich verkleidet auf die Dörffer/ und in die Dorff=Schäncken/ allwo ich mit denen Bauer=Mägden offt bessere Kurtzweil triebe/ als mit mancher hochangesehenen und lumpichten Zofe [...]. Mein Herr kan betrachten/ wie elend ich dieselbe Zeit zugebracht/ die ich zu nichts anders/als meinem eigenen Verderb angeleget habe/ und dieses wehrte so lang/ biß ich mich eben in diese Gräfin verliebet/ die dem Herrn den Brieff in das Gefängnis schiessen lassen. (WN: 20)47 45

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Hinweise darauf finden sich schon früher: »Aus dieser Ursach unterliesse ich auch mit der Magd zu schertzen/ welche ich sonsten weidlich wollte in der Cammer herum gejagt haben« (WN: 14); und seine Selbstcharakteristik, die in seltsamen Kontrast zu seiner tatsächlichen Melancholie steht: »Zumalen ich ohne dem von Natur dahin incliniert, über solche Narren=Possen zu lachen/ welche mir an diesem Ort weder schaden/ noch nachtheilig seyn konnten« (WN: 12). »Die Unschuld/ welche in diesem Gefängniß meine höchste Trösterin ware/ Hesse mich in keine übermässige Schwermuth fallen« (WN: 15). Bemerkenswert ist die in diesem Zusammenhang besonders verwerfliche Funktionalisierung und Fremdbestimmung der Musik: »Die Music lernete ich nur deswe-

341 Die im Anschluß erzählte Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe ist in sich als Strukturmuster interessant, gibt aber an keiner Stelle Aufschluß über einen begründeten oder unbegründeten Gesinnungswechsel des »Venus-Narren« Isidoros; wie kann er aber gleichzeitig ein Spielball seiner sexuellen Begierden sein und seinen Lebenswandel scharfsichtig kritisieren? Die zu seinem eigenen »Verderb« so »elend« zugebrachte Zeit reicht ja in die Erzählgegenwart hinein, und Isidoro verfolgt seine Affäre nur deshalb nicht weiter, weil sie zu gefährlich geworden ist. Eine den modernen Leser befriedigende Integration der konfligierenden Textelemente wird wohl nicht gelingen, es lassen sich aber einige Erklärungsansätze auflisten. Zunächst erlaubt die Erzählsituation kaum eine andere Lösung, denn einerseits muß Isidoro seinen grundsätzlichen Charakter als verbuhlter und lustiger Geselle beibehalten, andererseits kann eine derartige »Hurerei« nicht unkommentiert bleiben, wobei der Erzähler als Kommentator ebenso ausfällt wie andere Institutionen mit der Autorität gehobener Moral: Die Einsicht in die Verwerflichkeit der Tat muß aus der Tat selbst erwachsen, selbst dann, wenn diese Einsicht nur schwach oder gar nicht motiviert ist und von flüchtigster Vergänglichkeit. Es ist gerade diese plötzliche und unverbindliche Entscheidungsstruktur, die viele interpretatorische Probleme des Romans bedingt. Dazu gehört auch die »Kurzatmigkeit« der Erzählperspektive, die durch die Angleichung von erzählendem und erlebendem Ich keine Zeiträume zur Verfügung stellt, die eine traditionelle Metanoia umschließen könnten, und so muß Isidoro einer fast stoischen Psychologie gehorchen: Solange der Affekt ihn beherrscht, ist die vernunftgemäße Einsicht blockiert, erst mit dem Abklingen des Affekts kommt die Vernunft dann schlagartig wieder zu ihrem Recht. Dafür lassen sich einige unterstützende Beobachtungen in der »Liebes= Historie« selbst finden, denn Isidoro verliebt sich zunächst nicht untugendhaft - wenn man beiseite läßt, daß die Liebe zu einer verheirateten Frau unzulässig ist. Er wird nun allerdings »in dieser Liebe fast biß auf den Tod gequälet« ( W N : 21), und seine Erzählung berichtet außerordentlich überzeugend von den psychologischen Verstörungen des Affekts im Liebeswahnsinn. Isidoro mißversteht die nur spielerische Ablehnung seiner Liebe als ernsthafte Weigerung und verfällt in sinnloses Rasen, das die tumultarischen Saufund Unsinnsorgien präfiguriert:48 Beidem ist die Herrschaft des Affekts gemeinsam. Auf die lasterhafte Verirrung in der affektischen Verzweiflung folgt dann eine Begegnung mit einem Einsiedler als memento und admonitio. Auch hier stehen Einsicht und Lasterhaftigkeit unvermittelt nebeneinander, denn einerseits erkennt Isidoro sein Fehlverhalten, andererseits ist er unfähig, es zu ändern:

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gen/ und aestimirte sie nur aus dieser Ursach so hoch/ weil man sich durch dieselbe bey dem Frauenzimmer entweder beliebt machen/ oder dasselbe damit bedienen könnte« (WN: 20). Siehe die überzeugende Darstellung in WN: 23.

342 Es ist ungezweiffelt wahr/ daß ich ihr Leben tausendmal heiliger und vollkommener/ als mein eigenes/ befunden/ ja/ ich schätzte sie recht gliickseelig/ daß sie den Irr=Weg noch nie so weit/ wie ich/ gewandelt hatten/ aber dessen ungeachtet/ Hessen mich doch meine Anfechtungen bey keinen heiligen Gedancken/ sondern zerstreueten solche wol tausendfältig/ nach der Gewonheit ihrer gifftigen Art/ welche stetigs zu tödten suchet den jenigen/ so ihnen zuviel nachhänget. (WN: 25) 49

Isidoro klärt den Einsiedler nicht nur nicht über seine Situation auf, sondern er mißachtet seinen Stand noch zusätzlich dadurch, daß er einen Eremitenrock ausleiht, den er als Verkleidung nutzt, um erneut in Veronias Nähe zu gelangen, wobei er schließlich Zeichen ihrer Zuneigung erfährt. Der Liebeswahnsinn weicht der Verzweiflung, jemals das Ziel seiner sexuellen Interessen zu erreichen, die aber bald durch die Tat dementiert wird. Als die Liebschaft dem Gatten Veronias verraten wird, muß Isidoro fliehen und Zendorio, der gezwungenermaßen dessen Kleidung trägt, wird statt seiner in Gefangenschaft gebracht und durch Veronia und den Jäger, die unter dem gleichen Mißverständnis leiden wie der Graf, schließlich befreit. Am Ende des fünften Kapitels des ersten Buches ist das Rätsel schließlich aufgelöst: Die »Liebes=Historie« eines Protagonisten erklärt die Lebensgeschichte des primären Ich-Erzählers, und aus dieser narrativen Hermeneutik erwächst dann die Freundschaft der Gleichgesinnten und Gleichgestimmten: Die Erzehlung dieses jungen Edelmanns/ war das eintzige Mittel/ welches mich/ meiner bißhero heftig quälenden Gedancken/ enthoben/ ich machte ein Creutz hin/ das andere wieder her/ und muste mich aus der massen verwundern/ daß mir so unverhofft auf diesem einsamen Schlosse aus dem Traum geholffen worden/ dann die jenigen wissen gemeiniglich das meiste um unser Anliegen/ die wir zum wenigsten davor ansehen/ und also hat der geneigte Leser umständlich verstanden/ und ist zugleich mit mir aus dieser Unordnung heraus gekommen/ in welcher ich/ biß gegenwärtige Stund/ dergestalten verwickelt ware. (WN: 32, Hervorh. d. Verf.)

Die Leseranrede dient hier offenbar nur dazu, das unten beschriebene Verfahren mehrfacher Gleichzeitigkeiten zu verdeutlichen: neben der Parallelität von erzählendem und erzähltem Ich vor allem diejenige von Held und Leser. Dabei ist das erzählende Ich bemüht, keine Position erhöhter Autorität gegenüber dem Rezipienten einzunehmen. Eine ähnliche Egalität besteht nun textimmanent zwischen dem primären und dem sekundären Erzähler, die sich später in gewissem Sinne auf alle sekundären Erzähler erstreckt und zwar in dem Maße, als deren Lebens- oder Liebesgeschichten Teil der gemeinsamen Gruppenbiographie und -identität sind: Der junge Edelmann/ ware ein aus der massen lustiger Kopff/ und allem Ansehen nach/ waren unsere Affecten in einem Model gegossen/ dahero hielt ich mich sehr vertrauet zu ihme/ und er sagte/ daß ihme/ durch meine Gegenwart/ die Zeit noch so angenehm falle/ weil er ohne dem in der Langweil hette sitzen/ und vergebliche Grillen fangen müssen. (WN: 34)

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Siehe WN: 25.

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Mit Isidoro und Zendorio ist der Nukleus des »Ordens der Vertrauten« geschaffen, der auf Gleichartigkeit und freundschaftliche Geselligkeit gegründet ist, die sich im Erzählen von sekundären Lebensläufen manifestiert. Die spezifische Erzählsituation, die der Autor für seinen Erzähler gewählt hat, läßt allerdings in der gegebenen Situation des aufgelösten Rätsels am Ende des fünften Kapitels eine Motivationslücke entstehen, denn die narrative Perspektive ist auf den Zeitpunkt der Auflösung gerichtet: Darüber hinaus ist in ihr zunächst kein Spannungsbogen angelegt. Das macht sich deutlich bemerkbar, denn der Fortgang der Erzählung nimmt ein Textelement aus der vorherigen Erzählung Zendorios auf und führt selbst ein neues ein, das als Anknüpfungspunkt für die Fortführung dienen kann, wobei in beiden Fällen die ganz im Lokalen begrenzte Motivationskraft charakteristisch ist. Der erste Fall betrifft zwei wesentliche Momente: einerseits die thematische Wiederholung und Bewertung der »Hurerei« und andererseits deren inhaltliche und strukturelle Valenzen. In Zendorios Kerkerbericht wird erwähnt, daß die Schloßbediensteten aus seiner Zelle Ketten holen, um »Huren« gefangen zu nehmen, und der Erzähler betont, er wüßte gerne, was dies zu bedeuten gehabt hätte. Die Lösung wird im sechsten Kapitel, etwa 20 Seiten später, durch eine tertiäre Erzählerin geliefert, 50 die von dem vergeblichen Versuch berichtet, mehrere Frauen, die die Erzählerin als Kupplerin mit interessierten Kunden zusammengebracht hatte, zu verhaften. Die kleine Geschichte ist ein typisches Beispiel Beerscher Themenbesessenheit, und die impliziten Wertungen sind Ausdruck seiner misogynen Ideologie. Die Aktion des Landrichters geht danach auf dessen Frau zurück, die früher selbst die Dienste der alten Kupplerin in Anspruch genommen hatte. Der Erzähler verdeutlicht den Charakter der Kupplerin, indem er sie während des Erzählens Werg durch die Hächel zwischen ihren Beinen ziehen läßt. Die sexuelle Konnotation weiblichen Erzählens mit dem Laster des Schmähens ist eindeutig: Der Erzähler nutzt traditionelle misogyne Topoi, um die weibliche Sexualität und weibliches Erzählen zu parallelisieren und beides negativ als lasterhaftes Schmähen zu charakterisieren. Die angehängte Wertung Zendorios und Isidoros ist daher eher zu deren eigener Charakteristik hilfreich, denn Isidoro befindet sich in einer durchaus vergleichbaren Situation unmoralischer Liebesverstrickung: Solcher massen käme ich aus aller Irre/ und verwunderte mich über die leichtfertige Fettel/ daß sie sich mit ihrer Profession noch zu rühmen gesuchet/ die doch des Henckers vielmehr/ als des Eigen=Lobs würdig gewesen/ aber der Edelmann sagte/ ich solle mir solche Gedancken aus dem Kopfe schlagen/ die Leute machten es

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Zendorio ist der primäre Erzähler; diejenigen, deren Erzählungen mit Zendorios Leben in engem Zusammenhang stehen, sind sekundäre Erzähler. Ein tertiärer Erzähler ist demnach derjenige, dessen Erzählung nicht zu den Lebensberichten der Adelsgesellschaft gehört oder auch sonst nur beiläufig ist (z.B. des Seiltänzers in Buch III, Ergastos in Buch V und Josts in Buch VI).

344 doch nicht anders/ wer vor sich selbst fromm leben könnte/ der hätte sich solches vor eine absonderliche Glückseligkeit zu rechnen. (WN: 36)

Auch hier wird den Protagonisten gleichzeitig mit dem Leser »aus der Irre« geholfen, indem die fehlende Information zur Vervollständigung einer Geschichte geliefert wird. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um ein Textelement, das die Vita des Erzählers erläutert, sondern um eine nachrangige Episode, die zur Bewertung der Haupthandlung dient, denn die Kritik, daß die »Fettel« sich auch noch ihrer Handlungen in einer Erzählung rühme, trifft prima facie auch auf Isidoro zu. In diesem Sinne ist die Episode von größter poetologischer Bedeutung, denn sie etabliert eine später wiederholt auftretende Struktur der Erzählung als Kommentar. Wie ist aber dieser narrative Kommentar aufzufassen? Ausgangspunkt der Analyse ist wiederum die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Motive: einerseits die eigene Sündhaftigkeit und die Freude an der Erzählung der lasterhaften Handlung und andererseits die Erkenntnis deren unmoralischen Status. Die bedeutenden Unterschiede der beiden Erzählungen betreffen zum einen das Geschäftsmäßige und Geplante der Kuppelei und zum anderen das Bewußtsein sündhaften Handelns. Anders als die »Fettel« weiß Isidoro um seine Fehlhandlung, er ist aber auch in »aufrichtiger« Leidenschaft ohne Nebeninteresse verstrickt, so daß seine Erkenntnis nicht wirksam werden kann. Die Kupplerin dagegen erzählt ihre Geschichte als Beispiel der »Freude am Sündigen«, ihr ist kein Sündenbewußtsein eigen, das durch nachvollziehbare Leidenschaft überdeckt wäre. Letztlich jedoch gehorcht dieses Paradigma einer misogynen Ideologie, die sexuelle Leidenschaft und Verführung primär mit der Frau assoziiert und dort die Quelle des Bösen sieht. Diese ideologische Bewußtseinsform wird die entscheidende Barriere einer modernen Rezeption der Beerschen Romane bilden - nicht weil der Autor misogyne Auffassungen vertritt, sondern weil diese strukturelle Bedeutung für sein Werk haben. Beers männliche Helden sind durch ihr Sündenbewußtsein zur Besserung fähig,51 während den weiblichen Protagonisten ganz ernsthaft »im Scherz« ihre grundsätzlichen affektischen Dispositionen vorgeworfen werden. So ist Isidoros »Liebes=Historie« zwar moralisch verwerflich, aber gerade im Kontrast zum Bericht der Kupplerin für den Erzähler zu rechtfertigen, weil sie nicht nur das Bewußtsein der Sündhaftigkeit mittransportiert, sondern geradezu darauf angelegt ist. Die ganze Episode dient dazu, als Wiederholung der Thematik der buhlerischen Liebe deren Gefahren zu verdeutlichen, und sie ist gleichzeitig der dunkle Hintergrund, vor dem Isidoros »Liebes=Historie« vom Leser bewertet werden soll. In beiden Fällen werden Held und Rezipient gleichzeitig und mit gleichen Mitteln aus der »Irre« geführt: Der gemeinsame Lernprozeß erarbeitet sich

51

Davon sind markante Sünder wie Lorentz und Barthel ausgenommen.

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die moralischen Bewertungsmaßstäbe, die ihrerseits vom Erzähler geliefert werden. Die zweite Episode, die der Autor konstruiert, muß nun die Handlungsfortschritte motivieren und einen narrativen Spannungsbogen aufbauen, nachdem die vorhergehende Geschichte rein lokale Bedeutung hatte. Beer wählt wiederum ein Wiederholungsmuster, um die narrative Struktur, die er etabliert, nachdrücklich zu befestigen. Das Rätsel aus Verwechslung ist daher erneut das Erzählschema, das in sich doppelt auftritt. Durch die Verwechslung von Kutschen kommt die Frau eines befreundeten Adligen auf Isidoros Schloß, wo dieser durch die Verwechslung der Kleidung eine Wette gewinnt, indem er als Frau verkleidet mit dem adligen Gast das Bett teilt. Der harmlose Scherz wird von vielen Zeugen beobachtet, aber dennoch wird Isidoro am nächsten Tag in einem erzürnten Brief zum Duell herausgefordert. Auf dem Weg dorthin treffen sie auf zwei Duellanten, und es stellt sich heraus, daß aufgrund der Namensgleichheit Isidoro Opfer eines »postalischen« Mißverständnisses geworden ist. Der tatsächliche Grund für das Duell ist allerdings fast identisch, nur daß dort Isidoros Doppelgänger eine wenig elegante und brutale Lösung forciert hatte, indem er den Ehemann überfallen und mißhandelt hatte, bevor er in dessen Kleidern sich zu seiner Frau legte. Die Episode muß selbst auf den zeitgenössischen Leser konstruiert gewirkt haben, zu deutlich ist die formende Hand hinter der Verdoppelung von Namen und Begebenheiten erkennbar;52 ihr Zweck liegt in der Etablierung des Themas von Verwechslung und Rätsel. Der bei all diesen Episoden angelegte Vergleich betrifft die vorangehende Spiegelepisode, und die Lehre daraus ist zweiseitig: Zum einen unterstreicht die Episode, daß bei ähnlichen Voraussetzungen eine Handlung nach ihren Umständen bewertet wird - Isidoros Scherz war demnach eine gute Invention ohne Schaden und beleidigende Absicht. Die Applikation auf die Poetologie satirisch-unterhaltenden Scherzens ist offenkundig und wird von Beer in den Vorreden ausführlich diskutiert. Auf der Rezeptionsseite steht ihr die Aufforderung zur gutwilligen Interpretation gegenüber, wie auch Beer seine Schriften verstanden wissen möchte.53 Am Ende steht so der knapp dem Gefängnis entkommene Held, der sich inmitten von unterhaltsamen Abenteuern findet und sich dabei offenbar wohl fühlt, auch wenn ein Moment der moralisierenden Selbstkritik vernehmbar ist: Solcher Gestalten fragte ich wenig darnach/ daß ich so grossen Kummer in dem Gefängnis ausgestanden/ sondern gleichwie man nach aufgegangener Sonne die Finsterniß der abgewichenen Nacht wenig oder gar nicht mehr achtet/ also achtete

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So macht sich auch ein für Beer nicht untypischer Zug ins Unernste in der Anrede »Ihr Schlingels« (WN: 40) bemerkbar, der allerdings isoliert bleibt. Siehe WN: 44.

346 ich auch nicht bey solchem frölichen Zustand die Stunden/ so ich voll mit vergeblichen Sorgen in der Custodi zugebracht hatte. (WN: 44t)

Hier macht sich ein Moment fast schon religiöser Selbstbetrachtung bemerkbar, das aus der Gefangenschaft eine gesteigerte Selbsterforschung mit erhöhtem Sündenbewußtsein ableitet. Dieser erzählerische Selbstkommentar fällt aber deswegen so zaghaft aus, weil jede stärkere Moralisatio das erzählende Ich vom erlebenden scheiden würde. Auch die folgenden Episoden sind Ausdruck der narrativen Konstruktion: Der als Jude verkleidete Gärtner wird von »Monsieur Ludwig« betrogen der Betrug klärt sich wieder: Verkleidung/Verwechslung-Rätsel-Lösung, dies scheint die generelle Strukturformel zu sein, die, in sich beliebig oft reproduzierbar, Beers Text unterliegt. 54 Dabei zeigt sich schnell, daß die verschleierte Moralisatio des Erzählers ihr Gegenstück in den bereits aus dem Narrenspital bekannten tumultarischen Orgien findet, deren erste anläßlich von Ludwigs Besuch bei Isidoro stattfindet: Auf solches trancken wir lustig herum/ und weil sich in unserer Dorffschafft 2 blinde Leyrer aufhielten/ musten sie mit ihren Instrumenten herein/ und Lermen darzu aufspielen/ der Gärtner konnte ein wenig auf dem höltzernen Gelechter/ oder wie mans in Sachsen heisset/ auf der StrohFidel/ derohalben muste er widers Teufels Dank damit aufwarten. Endlich luden wir die Pistolen/ und schössen zu jeder Gesundheit zum Fenster aus/ biß wir gar Pirst=Röhre und Musqueten geladen/ damit triben wirs den gantzen Abend hindurch/ daß die NachbarsLeute nur einen Verdruß davon hatten. Letzens schmissen wir Tisch und Bäncke über den Hauffen/ wurffen die Gläser zum Fenster aus/ und trieben allerley Mutwillen/ was wir nur erdencken konnten/ und mir gefiele dieses Leben dermassen wol/ daß ich nicht viel Geld genommen hätte/ ihre Gesellschafft zu missen. [...] Es mangelte uns nur an Compagnie/ sonst hätten wir wahrhafftig die gantze Nacht hindurch geschwärmet/ zumalen wir ohne dem viel ärger gesoffen/ als die Bürstenbinder. Endlich brachte uns die alte Frau durch gute Worte zu Bette/ allwo wir die Decken und Polster in Stucken zerrissen/ daß die Federn in der Cammer herum gestoben/ daraus man zu sehen hat/ was volle und besoffene Leute vor Narren seind/ daß sie auch keinen Scheu tragen/ ihre eigene Sachen zu zernichten/ ob sie sich schon den andern Tag darum zwischen den Ohren krauen. (WN: 48f.)

Hier sind bereits alle Elemente der widernatürlichen Unordnung der verkehrten Welt versammelt, die auch das Narrenspital charakterisieren, aber an dieser Stelle findet sich noch keine ausführliche moralische Kommentierung, statt dessen verwickelt Isidoro die beiden Protagonisten erneut in eine »Liebes=Historie«, die auf dem Thema von Verkleidung/Verwechslung beruht, als er die Einladung zu einem erotischen Rendezvous an Fremde abfängt und sie sich als jene Liebhaber ausgeben. Doch auch hier trügt der Schein: Schon die Einladung war gefälscht und diente nur dazu, die tatsächlichen Buhler in eine Falle zu locken, um sie dort zu verprügeln. So erhalten die abenteuerlustigen Protagonisten die Prügel, die anderen zugedacht war, 54

So auch in den Episoden der Kapitel 10 und 11, wie auch später immer wieder, z.B. Kap. 12, Buch V oder Kap. 9, Buch IV.

347 und Zendorio, der von Beginn an Bedenken hatte, sieht sich in seinen Warnungen bestätigt. Die Bestrafung ist dennoch adäquat, 55 denn das Vorhaben der beiden war moralisch äußerst fragwürdig. 56 Zendorio gewöhnt sich schließlich an das oftmals auch rücksichtslose Landleben 5 7 und die rauhen Scherze, dann/ wann ich die Warheit bekennen will/ so hat sich unter allen dem jenigen was sich bis auf gegenwärtige Stunde in diesem Schlosse/ mit mir/ und dem ehrlichen Bruder Isidoro/ zugetragen/ keine solche lustige Abentheur/ als ebendiese/ begeben/ darüber ich wol tausendmal lachen müssen. (WN: 66) Hier ist nicht nur die Atmosphäre bemerkenswert, die - mit allen gleichartigen Implikationen - derjenigen im Narrenspital ähnelt, sondern auch die Verwendung der Deiktika, die den Erzählzeitpunkt nahe an die Geschehniszeit heranrücken: Der Erzähler erweckt den Eindruck, als seien die Begebenheiten erst jüngst passiert und er befände sich noch immer auf Isidoros Schloß oder in dessen Nähe. Mit dem dritten Kapitel beginnt schließlich die versprochene Konvergenz von »Liebes=Historie« und Lebensgeschichte des Erzählers, und es wird überaus deutlich, daß Beer alle Elemente von Zendorios »Liebes=Historie« in den vorangehenden Erzählungen präfiguriert und kommentiert hat, denn es finden sich alle Elemente in Wiederholung vor. D e n Rahmen bildet ein von »Monsieur Ludwig« ausgerichtetes Gelage, zu dem die Protagonisten schon mit dem Vorsatz zur Sünde anreisen. 58 Wie bei den bereits bekannten 55

»Dieser stattliche Prügel=Schmauß/ welchen wir gar zu wol auf diesem adelichen Gut verdienet/ indem wir/ aus blossem Vorwitz getrieben/ nicht allein den Brieff unrechtmässig eröffnet/ sondern/ noch über dieses/ dem Boten den Rantzen genommen/ die Kleider angeleget/ und endlich gar unter verborgener Gestalt frembde Personen uns praesentiret. Darum hatten wir uns über niemand mehr/ als über uns selbsten/ zu beklagen/ die wir hierinnen der Anfang und das Ende unser eigenen Stösse waren. Bald musten wir lachen/ bald wiederum wegen der Schmertzen heulen und klagen/ einer vexirte den andern/ und jeder meinete/ der andere hätte die meiste Schläge empfangen/ da doch einer so gut/ als der andere/ ist abgeprügelt worden« (W7V: 63). Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zu den vorangegangenen Episoden, die eben diese Problematik der »erschlichenen« Liebesleistung bearbeiten. Isidoros Scherz und Invention ist wie die Satire harmlos, weil sie niemanden verletzt, sondern alle ergötzt: Er bereitet seine Posse sorgfältig vor und hat genügend Zeugen, um die Harmlosigkeit bestätigen zu lassen. Umgekehrt liegt der Fall in der folgenden Spiegelepisode, die fast in Traumform einen möglichen negativen Ausgang projiziert. Dennoch ist sie Isidoro nicht Warnung genug, und er verstrickt sich in das berichtete Abenteuer: Die körperliche Abstrafung darf er zusammen mit dem belehrten Leser als nächsthöhere Stufe der nachdrücklichen admonitio verstehen.

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Interessant ist hier Isidoros Formulierung, die frühneuzeitliche curiositas und sexuelles Interesse kombiniert: »So ist noch das beste/ daß wir verlarffet sind/ dann/ durch dieses Mittel wollen wir perfect dahingelangen/ wo wir noch niemals gewesen« (WN: 58). Siehe WN: 67. Siehe WN: 70.

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348 geselligen Tumulten ist auch hier für Musik und alle Ergötzlichkeiten gesorgt, und man fragt sich, was diese fröhliche Gesellschaft 5 9 von derjenigen der Kupplerin unterscheidet angesichts von Zendorios Vorhaben: [M]ein Intent stunde meistens auf das Frauenzimmer/ und daher hörete und vernähme ich kaum das zwantzigste Wort/ was zu mir geredet ward. Diese erwünschte Gelegenheit gäbe mir Ursach/ mich zu entschliessen/ mich diesen Abend noch/ mit einer Damen/ sie möchte auch seyn/ wer sie wollte/ in eine vertraulichere Bekanntschafft einzulassen/ [...] weil die hinweg gegangene Gelegenheit so wenig/ als die abgewichene Zeit/ sich zu ereignen pfleget/ dahero hielte ich vor das rathsamste mein Glück zu versuchen/ weil sich durch dieses manch elender und armer Bernheuter wohl eher in die Höhe und empor geschwungen. ( WN: 71f., Hervorh. d. Verf.) D i e Bedeutung der Stelle ist einigermaßen unklar; der Wunsch, aus einer »Liebes=Historie« Kapital zu schlagen, widerspricht seiner Angabe, es interessiere ihn nicht, »wer sie auch sey«. 6 0 Zielt das eine eher auf den reinen sexuellen Genuß, so markiert der zweite Teil des Vorsatzes einen kühlen Plan, die A f f e k t e einer adligen D a m e pekuniär auszubeuten, womit der Held sich endgültig auf dem Niveau der vordem so kritisierten »Fettel« bewegt. Weder für die erste noch für die zweite - und schon gar nicht für eine Kombination der beiden Intentionen - lassen sich moralische Entschuldigungen finden: Zendorio sucht zugleich den Genuß in der Sünde und den daraus erwachsenden Profit. Allein der Zufall hindert ihn daran, sein Vorhaben auszuführen: 59

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»Es ist nicht sattsam zu entwerffen/ wie gar einig und frölich die gantze Compagnie wäre« (WN: 71). Der Erzähler spielt hier auf seine kurze Zeit später offenbar werdende unehrliche Herkunft an: »Und ob ich auch gleich keiner von Adel/ noch auch keines Meßners Sohn (davor ich mich zwar bey Isidoro ausgegeben hatte) sondern von einem solchen Geschlecht war/ darüber sich der geneigte Leser kurtz hernach selbsten verwundern wird/ so hatte ich doch wol solche Qualitäten an mir/ damit auch wol mancher Gros=Hanß nicht begäbet war« (WN: 72). Der Erzähler ist zu diesem Zeitpunkt noch davon überzeugt, nicht nur »unehrlicher« Herkunft zu sein, sondern auch wegen seiner Abkunft von einem Schinder als »infamer« Mensch zu gelten, dessen Berührung schon beleidigend ist. Zendorio ist aufgrund seiner unter- und außerständischen Sozialposition ein Stigmatisierter, der von jeglichem Kontakt jenseits der spezifisch »Unehrlichen« seines Berufs ausgeschlossen ist. Sein Vorhaben, sich mit einer Dame zu verbinden, gründet daher auf der konsequenten Verdekkung dieser Tatsache: Bei zufälliger Entdeckung droht ihm ganz realistisch der Tod. Sein Selbstlob kann sich daher nur auf seine sexuellen Fähigkeiten beziehen, und so erscheint der primäre Erzähler als das denkbar verworfenste Subjekt; der aus den misogynen Schriften bekannte Haß des Erzählers auf Frauen, die sich aus »unnatürlicher« Leidenschaft gerade dem niedrigsten, unehrlichen Liebhaber hingeben, zitiert ja immer deren scheinbare sexuelle Fähigkeiten. Da Beers Erzähler nichts Verwerflicheres kennen als diese Triebhaftigkeit, die sich angeblich aus der Kontamination von Unsauberkeit und Potenz herleitet, muß es verwundern, daß der Erzähler diesen Zusammenhang selbst evoziert. Der Autor konstruiert hier eine außerordentlich gefährliche Mischung von zulässiger sexueller Attraktion - solange die Herkunft verborgen bleibt - und verhaßter Leidenschaftlichkeit, die an späterer Stelle (Kap. 6, S. 87) bedeutsam wird.

349 Ja/ ich hätte auch dazumal ohne allen Zweiffei durch meine angenehme Art/ ein Frauenzimmer über den Tölpel werffen/ und mir anhängig machen wollen/ so ich nicht von Monsieur Ludwigs Compagnie dermassen zeitlich mit Weine zugedecket worden. (WN: 72)

Nun darf sich der Held an seine eigene Moralisation aus dem zehnten Kapitel erinnert fühlen, denn an ihm erfüllt sich das Motto des Kapitels: »Die Trunckenheit macht matt und träg/ Wo Wein eingeht/ geht Witz hinweg« (WN: 70).61 Der Vorsatz zum sündhaften Buhlen stammt aus Isidoros Geschichte und wird im Vergleich mit der Erzählung der »Fettel« komplex kommentiert, während der verhängnisvolle Einfluß des Alkohols durch das vorangehende Gelage bei Isidoro dokumentiert wird; und ebenso wie Isidoros Vorwitz, das »Frauenzimmer über dem Tölpel« zu werfen, bestraft wird, erleidet auch Zendorio seine Strafe für seinen Vorwitz. Er mißachtet die Lehren des Romans und wird deshalb verspottet, wie es der Titel andeutet. In seinem Rausch zeigt er sich nicht nur in seinem unsauberen Unterkleid, sondern er schmäht wie ein betrunkener Satyr die Anwesenden und beleidigt sie.62 Am nächsten Morgen wird er dafür ausgiebig verspottet, und aus Scham über sein Fehlverhalten und den Eindruck, den er hinterlassen hat, entschließt er sich zur Flucht: 63 Ich wollte gern ein Finger aus der Hand darum geben/ daß ich niemalen zu dieser Gesellschafft gekommen/ noch sie mit einem Auge gesehen hätte; aber es war geschehen/ ob sich schon niemand so sehr/ als eben ich/ durch mich selbsten/ beschimpftet befände. (WN: 73)

Mit diesem Entschluß verstößt der Erzähler gegen seine eigene Einsicht, »daß zu geschehenen Sachen das beste zu reden seye/ wo man änderst nicht verlanget/ dieselbe zu verschlimmern/ und eine kurtze Gedult thut in einem solchen Fall vielmehr/ dann eine langwürige Widerspenstigkeit« (WN: 44), und so kann der Leser die »Liebes=Historie« des Helden nicht nur aus den bereits berichteten Geschichten zusammensetzen, sondern sie auch adäquat kommentieren, ohne daß eine erzählerische Autorität bemüht werden müßte. Ließe sich Zendorios Erzählung tatsächlich restlos auf vorgängige Motive und Strukturen reduzieren, wäre er ein völlig gleichberechtigter Protagonist inmitten der landadligen Gesellschaft, und er hätte weder Grund gehabt, seinen Freunden zu fluchen, noch aus Scham davor zu fliehen. Sehr geschickt 61

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So auch im Motto des 11. Kapitels: »Wer sich/ so offt er will/ saufft voll/ || Der fällt/ wann er nicht fallen soll« (WN: 53) und in der dort berichteten Episode. Die Scheit- und Schimpfparoxysmen sind einerseits Ausdruck des typischen Beerschen Ressentiments, andererseits deuten sie in ihrer überzeugenden Art der Darstellung möglicherweise auf ein nicht mehr aufdeckbares Moment persönlicher Erfahrung hin. Auch hier ist wieder die konkrete Formulierung interessant: »Aus der Rede meines Bruders Isidori vergienge mir aller Muth/ fast wie jenem/ der mitten in dem Meer auf einem Felsen gesessen/ und mit seiner Laute herunter gestürtzet« (WN: 72).

350 wird der Erzähler in seinem unterdrückten Ressentiment psychologisiert, und in der Tat ist die Inegalität seines Standes das machtvollste Erzählmotiv. Zendorios »Intent« bezieht sich ja nicht primär auf den sexuellen Genuß, sondern auf eine Verbesserung seines Standes: Er will von den Zuneigungen einer adligen Dame profitieren. Dieses Bestreben, seinen Stand zu erhöhen, verweist auf das Motiv der niedrigen Herkunft der Beerschen Erzähler, und auch hier findet sich das Strukturschema von Nobilitierung durch Liebesheirat. In den Winternächten verbindet er dieses Schema mit demjenigen des Rätsels als Erzählstruktur. Schon in früheren Texten war den Erzählern ihre Herkunft zum Rätsel geworden, aber erst hier gelingt es dem Autor, in einer eleganten Wendung »Liebes=Historie« und Lebensgeschichte zu integrieren, indem er beiden das Rätsel als Erzählstruktur unterlegt: als »Karriere« allerdings nur für den primären Erzähler Zendorio. Seine niedrige Herkunft wird ihm zum Motor des Wunsches nach Standesverbesserung, die er durch eine »Liebes=Historie« zu erreichen hofft; seine Lebensgeschichte ist jedoch insofern verrätselt, als er tatsächlich ein Landadliger ist, wie eben der Wunsch »ein solcher zu werden« (Kaspar Hauser), seine »Liebes=Historie« von allen anderen unterscheidet. Allerdings ist Zendorios Lebensrätsel von anderer Art als das der Anfangsepisode: Hier fehlt nicht ein Stück Information, um eine gegebene Situation zu erklären, sondern eine falsch erklärte Situation erfährt ihre Aufdeckung und Wahrheit, wobei sich erneut das Schema von Verkleidung/Verwechslung-Mißverständnis-Rätsel-Lösung findet. Beer unterstreicht die Bedeutung dieses Schemas, indem er den Erzähler einen scheinbaren Selbstmörder an einem Baum hängend finden läßt, der nach kurzem wieder lebendig wird und vom Baum herabsteigt, wodurch erneut eine Rätselfigur erscheint,64 die allerdings bald darauf aufgelöst wird, als Zendorio mit Caspia zusammentrifft, die ihn als Studenten, d. h. als »Gelehrten« ansieht, dem sie ihren Lebensbericht samt Rätsel zur Entscheidung vorlegt. Sie berichtet von einem hartnäckigen aber ungeliebten Verehrer und von ihrer plötzlichen Liebe zu eben jenem Zendorio, der unerkannt vor ihr sitzt, den sie bei Ludwigs Fest getroffen hat. Beer montiert hier äußerst geschickt seine Topoi: Der Erzähler, der sich vordem durch seine Unsauberkeit blamiert hatte, erscheint vor der adligen Dame, die jetzt wirklich sein Glück machen könnte, »gantz und gar mit Dreck und Koth besudelt«, so daß sie ihn - wie in Verkleidung - nicht erkennt. Seine Unreinheit, in beiden Fällen unwillentlich und zufällig, verdeckt seinen wahren Charakter, aber Caspia erkennt nicht nur unter dem Schmutz den wahren Charakter,65 sie hilft auch, 64

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»Wahrhafftig/ ich wüste durchaus nicht/ was ich aus dieser wunderlichen Masquarada urtheilen oder schliessen sollte? daß er gehangen/ hatte ich gesehen/ und/ daß er wieder lebendig über das Feld gegangen/ hatte ich ingleichen gesehen« (W/V: 74). Sie erkennt, daß sein Verhalten der Trunkenheit zuzuschreiben ist: »[I]n denselben Menschen [seil. Zendorio] habe ich mich dergestalten verliebet/ daß ich nicht gewust/ wie mir am Tisch ware. Ich hätte mich glückseelig geschätzet/ wann ich mit

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ihn zu reinigen. 66 Sie offenbart ihre Lebensgeschichte als Liebesgeschichte dem »gelehrten« Urteil, denn ihre Liebe zu Zendorio hat anscheinend dessen Nebenbuhler zum Selbstmord verleitet - jener falsche Selbstmörder, den Zendorio zu Beginn gesehen hatte. Die Frage, ob sie an dessen Tod schuldig sei, kann nun einfach beantwortet werden, aber dennoch gibt Zendorio eine recht ausführliche Antwort, die auch seine eigene Situation bedenkt: Wahr ist es/ daß die Inclination alle Zeit frey stehet und sich nicht leichtlich an etwas zwingen lasset! so tugendreich auch dasselbe zu seyn scheinet [...]. Man lässet nun hierinnen einem jeden seine freye Wege/ und man sieht keine Inclination einen schlimmen Ausgang nehmen/ als die entweder gar zu unverständig/ oder mit Zwang/ unterfangen werden. (WN: 79, Hervorh. d. Verf.)

Dieser Kommentar beschreibt nicht nur die Situation des Helden und seiner Gesprächspartnerin (er hat eine »gar zu unverständige« Inclination - sie soll zur Liebe gezwungen werden), sie kennzeichnet auch das thematische und poetologische Dilemma, daß die Tugend nicht notwendigerweise liebenswert ist. Daß die Inclination »allezeit frey stehe«, ist die Prämisse aller Werke Beers und markiert sowohl Leistungsfähigkeit als auch Gefährdung der Kunst, denn die Erfahrung der Erzähler zeigt, daß bei vollendeter Einsicht in die Sündhaftigkeit eines Vorhabens dennoch die »Inclination« stärker ist als die Vernunft. Ebensowenig aber wie sich die »Inclination« der Protagonisten durch die Vernunft regeln läßt, ist die Kunst etwa an die moralischen Präzepte der Religion zu binden. Die Liebe und die Kunst sind so thematisch und in ihrer Verbindung zur Tugend vielfach miteinander verknüpft: Beide lassen sich nicht durch externe Bestimmungen dominieren; sie finden ihr Gesetz und ihre Erfüllung in sich selbst. Für die literarische Erzählung gilt dies allerdings nur in eingeschränkter Bedeutung, sie hat es mit menschlichen Handlungen zu tun, die grundsätzlich der moralischen Kommentierung unterliegen. Für den Autor Beer stellt sich das Erzählproblem demnach als Trennung von récit (story) und discours (discourse),67 die er konzeptionell nicht durchführen kann. So bleiben ihm die Moralisationen auf der récitEbene immer noch mit der diskursiven Ebene verbunden, und die Ästhetik des discours läßt sich nicht so autonom definieren wie die Gesetze der Instrumentalmusik.

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ihme nur ein eintziges Wort hätte reden können/ aber man soffe ihn noch über der Taffei so blind und stern voll/ daß er nicht von Sinnen/ noch viel weniger von seinem Thun/ gewust« (WN: 78f.). Aber sie attestiert ihm auch überdurchschnittliche Charaktereigenschaften, die ihn sogar über den Adel piazieren: »[0]b gleich Faustus sagte/ es wäre keiner von Adel/ sondern nur ein gemein Bürgers Kind/ muß ich doch gestehen/ daß er in meinen Augen mehr als adelich geschienen« (WN: 79). Siehe WN: 81. Ich benutze hier die Definitionen aus Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Film and Fiction. Ithaca, London 1986 ( 1 1978) (Cornell Paperbacks), ohne deren narratologische Implikate zu diskutieren.

352 Bei einer handlungsnäheren Deutung der Passage wird Zendorios vorsichtige und voraussehende Tendenz bemerkbar, denn er bekräftigt zwar in Caspia die Legitimität ihres Affekts, gleichzeitig aber betont er die Vorsicht, die walten müsse. Erst nachdem er ihr von dem »falschen« Selbstmörder berichtet hat, eröffnet er ihr seine eigene Identität. Hier steht nun Scham gegen Scham: Der Erzähler bekennt, daß er sich wegen seines Benehmens auf Ludwigs Schloß schäme,68 während Caspia ihre Offenherzigkeit beschämt. Dabei ist erneut die Struktur des Rätsels und der Rätsellösung konstitutiv, denn die »adeliche Jungfer« erfährt mit Erstaunen und Verwunderung von der Aufhebung ihrer Befürchtungen und der Möglichkeit einer Erfüllung ihrer Wünsche.69 Es ist deutlich, daß hier die stark handlungszentrierte Funktion der Rätselstruktur des Romananfangs, die Verwunderung über den wahren Zusammenhang der Dinge also, zum Motiv gerinnt: Die Rätsellösung hat zwar noch Handlungsfunktion, indem sie das weitere Romangeschehen möglich macht, aber die zentrale Bedeutung liegt im Gegenstand der Verwunderung, der mit starken religiösen Sinnbezügen als Wunder bezeichnet werden kann. In der Tat ist ja bereits die gesamte Handlungskonstellation in ihrer gelenkten Zufälligkeit als »wunderbar« zu bezeichnen: Die unbegreifliche Liebe einer reichen, schönen, adligen Jungfer zu dem wenig bemerkenswerten Helden, die zufällige Überwindung der Schamgrenze und das Zusammentreffen der Liebenden ohne störende Außenwelt ist in sich bereits Zeichen eines Wunders in profaner Sicht.70 Das eigentliche Wunder jedoch ist die Art der Liebe, die sich nicht nur über Standesschranken hinwegsetzt, sondern in Analogie zur Liebe Christi Vergebung der Sünden bedeutet. Zendorio verwundert sich selbst über diese Liebe, deren sensus duplex er nicht enträtseln kann: Auf diesem Hause/ und bey so beschaffenen Sachen/ wurde ich gewahr/ daß dem jenigen/ welcher das Glück hatte/ die Liebe/ auch mitten in dem Schlaff/ über den Hals fiele/ dann/ unerachtet meines schlechtbeschaffenen Lebens und rechten Ubel=Standes/ liebte mich doch diese schöne Jungfer/ dergestalten/ daß ich zweiffeite/ ob es vielmehr eine Glücks= oder eine natürliche Liebe zu heissen wäre. (WN: 81)

Daß der Autor durchaus religiöse Bezüge assoziiert, wird durch das Motto bekräftigt: »Offt manchen Menschen würgt die Gnad/1| Ein Käfer stirbt am Rosen=Blat« (WN: 81). Doch warum »würgt die Gnad« den Erzähler, nachdem er von dem (Sünden-)Schlamm gereinigt und wie Christus von Maria 68

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»[I]ch heisse Zendorio/ und käme dazumal mit grosser Unhöfflichkeit aus dem Schlosse/ davor ich noch recht beschämet bin« (WN: 80). Siehe WN: 81. Die Präliminarien bis zur eigentlichen Liebesdeklaration sind traditionell unter Beachtung aller Decorumsgesetze - und auch bei Beer - oftmals ganze Romane, die nicht selten die Liebeshandlung (Flucht, Entführung, Trennung etc.) in den Schatten stellen.

353 mit eigener Hand gewaschen und getrocknet wurde? Ohne die Integration der religiösen Sinndimension ist die folgende Passage nicht zureichend deutbar, in der der Erzähler seine Melancholie bekennt: Eine solche Gestalt hatte es um mich dazumal/ als ich fast nicht wüste/ was ich thun oder lassen sollte. Eine so gute Gelegenheit ware nicht wol aus denen Händen zu lassen/ gestaltsam sie sich nicht alle Tage und kaum alle hundert Jahr einmal/ auch nur allein denen allerglückseeligsten ereignet. Und solcher sich so unbesonnen zu unterfangen/ ware auch nicht gar rathsam/ weil man sich in dergleichen Feuer leichtlich verbrennet/ [...] [SJtunde dannenhero in tausend Sorgen/ und fände in der Warheit/ daß auch der Mensch/ zu einer solchen Zeit/ mit denen grösten Grillen behafftet sey/ welche seine glückseeligste zu seyn pfleget. [...] So gar ist der Mensch der Eitelkeit unterworffen/ daß er auch in seiner allergrösten Glückseeligkeit nicht vollkommen vergnüget seyn kan/ sondern es hänget ihme stäts eine Mackel an/ die ihme durch seine eigene Einbildung verdrüßlich wird. (WN: 81f.)

Handlungslogisch kann sich der Erzähler nur auf seine unehrliche Herkunft beziehen, die ihn aber vor Ludwigs Fest nicht an seinem Vorsatz hinderte, sich einer adligen Dame mit eindeutigem Interesse zu nähern. 71 Der Zweifel an der Rechtfertigung der Gnade bezieht sich dagegen auf den religiösen sensus duplex seiner unehrlichen Abkunft und fragt radikal nach der Möglichkeit von Rechtfertigung vor Gott überhaupt: Wie kann der unabwendbar sündige Mensch (Erbsünde = Unehrlichkeit) der göttlichen Gnade teilhaftig werden? Die generelle Antwort von Katholiken und Protestanten lautet: nicht aus eigenem Vermögen. Die katholische Theologie gesteht dem Menschen jedoch zu, Verdienste zu erwerben, und der katholische Protagonist reflektiert in seinem religiösen Verständnis eben darauf: »Ich zöge mich an/ und fände vor mir solche Kleider/ die ich/ weder durch Geburt/ noch durch meine Wissenschaft/ verdienen können« (WN: 82, Hervorh. d. Verf.). Es ist der radikale Zweifel, Gottes Gnade jemals aus Liebe zu erlangen; und angesichts des unverdienten Glücks verzweifelt der Erzähler, weil unter den Beschränkungen rein weltlicher Erfahrung seine Vorsicht ihm rät, der Gefahr der Anmaßung auszuweichen, denn - so sehr eine standesüberschreitende Heirat ein äußerst ungewöhnlicher Glücksfall wäre - eine Heirat mit einem Unehrlichen ist unmöglich, das Verschweigen seiner Herkunft würde ihn nicht nur beim Kontakt mit Adligen an den Galgen bringen. Zendorio ist wie der Autor Beer vom aequalitas- und memwm-Prinzip, das dem Hofmusiker Beer Existenz und sozialen Stand sichert und sein Selbstbewußtsein begründet, so eingenommen, daß es ihm schwerfällt, dem Gedanken an die

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Erneut spielt der Erzähler auf seine »unehrliche« Herkunft an: »Ich hatte zwar Ort und Gelegenheit genug/ meine Sorgen auf die Seite zu setzen/ aber die vorige Ursach/ und noch eine andere/ die der Leser bald erfahren solle/ hielten mich gar billig an meiner Freyheit zurücke/ und machten/ daß ich mich nicht wenig forchte« (WN: 82). Die mehrfache Ankündigung einer Rätselauflösung steigert natürlich mit der Erwartung auch den Effekt des Grausigen, wie die ganze Szene der Enthüllung ja auf die maximale Fallhöhe hin angelegt ist.

354 Unmöglichkeit der Rechtfertigung vor Gott den Gedanken an Jesus den Erlöser entgegenzusetzen oder der Erbsünde die Überzeugung von der Kindschaft aller Christen. Zendorio bleibt in seinem Zweifel um so mehr befangen, als er sich in einer äußerlich säkularen Situation befindet: Die äußerste Glückseligkeit scheint ihm die Möglichkeit der Nobilitierung durch Heirat, die aber gerade auf seiner Seite durch eine auch für ihn unüberwindliche Schranke und Hemmung fast unmöglich gemacht wird. Angesichts seiner Herkunft (Erbsünde) zweifelt er an der Vergebung der Sünde: unter den Prämissen der Politica mit Recht, in religiösem Sinn zu Unrecht, denn Gott ist nicht nur der Vater aller Menschen, er hat auch Jesus selbst zu einem »Unehrlichen« gemacht, indem er ihn der Verachtung der Menschen überantwortete. Die vertrauensvolle Hoffnung auf Gott den Vater fehlt dem Erzähler, der vor den Schätzen Caspias (des Himmelreiches) »sehr kaltsinnig« steht, weil ihn die weltliche und religiöse Aussicht auf den Tod paralysiert. In beiden Bereichen gibt es nach seiner Ideologie von aequalitas und meritum keine Hoffnung auf Überwindung seiner Herkunft aus der Erbsünde. A n dieser Stelle ragt ein bemerkenswertes Stück konfessioneller Argumentation in die Erzählung hinein, das Berns' These von Beers unsicherer konfessioneller Überzeugung unterstützt. Ohne späteren Erörterungen unnötig vorzugreifen, kann sicher angenommen werden, daß der Autor am Weißenfelser Hof eine konventionell-konformistische protestantische Position vertreten hat. Sein intensiver früher Kontakt zum Katholizismus und die private Ideologie der aequalitas und des meritum, geboren aus der indignatio seiner Hoferfahrung, lassen ihn aber gleichzeitig als überzeugten Vertreter der Werkgerechtigkeit aus einem radikal übersteigerten Rechtfertigungszweifel erscheinen. Beers »Kryptokatholizismus« (Berns) erscheint so als Resultat der Übersteigerung von Luthers Denkvoraussetzung, ohne dessen Ausweg in der theologia crucis nachvollziehen zu können. Dabei ist dieser radikale Zweifel, den Beers Erzähler umtreibt, beiden Konfessionen fremd: So deutlich Christus als Erlöserfigur interkonfessionell erscheint, so selten ist von ihm in Beers Texten die Rede. Gnade und Vergebung sind extreme Ausnahmesituationen, die gewöhnliche Handlungssituation steht bei Beer nicht im Zeichen des Evangeliums, sondern des Gesetzes. Das Zeichen der Gnade jedoch ist die Verwunderung, und Beers komplexes Bezugsverhältnis von Lebensgeschichte und »Liebes=Historie« wird durch den allegorischen Sinn der religiösen Lesart erneut verdoppelt. Das »Wunder« der Lebensgeschichte ist damit nicht nur die Aufhellung verdeckter Handlungszusammenhänge, sondern deren Engführung auf einen spezifischen Bereich: den der Herkunft aus der Sünde. Einerseits findet sich eine rein säkulare Verwunderung als Resultat überraschender Handlungskonfigurationen, die passenderweise mit der gelungenen poetologisch-rhetorischen inventio identifiziert wird. 72 Dieser oftmals fast technische Terminus beschreibt die ingeniöse Konstruktion der ersten Bücher der Winternächte mit

355 ihren doppelsinnigen Verweisen und Wiederholungen von Handlungsschemata und Motivkomplexen. Die überraschende und lustige Auflösung von Gefahrensituationen kann dabei moralisch neutral bleiben; so werden Isidoro und Zendorio ebenso wie die unbenannten Buhler der Kupplerin aus ihrer sündigen Notsituation befreit. Dieser Art der Verwunderung als Auflösung eines Handlungsrätsels korrespondiert dann die überraschende Situation, in der Unsagbares eröffnet werden kann oder - kurze Zeit später - Verborgenes ans Licht kommt. In beiden Fällen (dem Bekenntnis der Liebe durch Caspia und dem Eingeständnis der - vorgeblich - unehrlichen Geburt) bezieht sich das Motiv auf die Herkunft des Helden, die Ursprung und Ziel der Hoffnungen und ihres Scheiterns ist. So läßt sich auch prognostizieren, daß die religiöse Lesart dieser säkularen eine religiöse Verwunderung entgegensetzen wird, da das »Wunder« der »Liebes=Historie« den weltlichen Verständnishorizont des Helden nicht entscheidend überschreitet. Dieses Gnadenwunder kann sich daher auch nur auf den anderen zentralen Motivkomplex im Text beziehen: die Lebensgeschichte des Erzählers als überraschende, wundersame Nobilitierung durch den wirklichen Vater. Dies wird der Endpunkt einer fast obsessiv verfolgten Thematik im Werke Beers sein. Noch ist der Erzähler jedoch weit von solcher wundersamen Lebensrätsellösung entfernt. Seine Verwunderung bezieht sich auf die unverdiente Liebe Caspias, die einen »Unwürdigen« trifft; angesichts seiner unehrlichen Herkunft sucht er sich, so gut es geht, abzusichern und vor Strafe zu schützen, wenn er ihr rät: Ihre grosse und ungemeine Qualitäten verdienen einen Cavallier/ welcher meiner Wenigkeit weit vorzuziehen ist. Ich bin nicht reich/ nicht schön/ nicht klug/ nicht verständig/ und weiß also kein Mittel/ ihre Holdseeligkeit zu vergnügen/ über welches ich billig Ursach zu seufftzen habe; Weil sie aber zu meiner Person so sehr getrieben wird/ bin ichs zufrieden/ sie also zu vergnügen/ als es mein Vermögen zulassen wird/ ich habe mich billig zu erfreuen/ über ein solch hohes Glück/ welches nicht jedem entgegen lauffet/ aber/ zum Behuff meiner Niedrigkeit schwehre ich hier einen hohen Eyd/ daß ich von mir selbsten nicht getrachtet/ sie zu ehelichen/ wo ich nicht ihr eigenes Verlangen zu stillen/ mich höchst schuldig befunden/ das grosse Glück samt ihrer Person/ demütigst zu umfassen/ und ihr/ durch mein gantzes Leben/ als ein gehorsamer Diener aufzuwarten. (WN: 83)

Unter diesem Vorbehalt will sich der Erzähler mit Caspia verbinden, die plant, ihn adeln zu lassen,73 und dadurch glaubt er, sich von aller Schuld 72

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So bittet Isidoro den Erzähler im 6. Kapitel des ersten Buchs, »ihme eine Invention zu communiciren« (WN: 33), um eine Wette als »practical joke« zu gewinnen. Auch die Befreiungsaktionen - vor allem im selben Kapitel - gehören in diese Kategorie. »Es ist gewiß/ und wird es nur ein unverständiges läugnen können/ daß ich dazumal meinem Glück recht in dem Schoß gesessen/ dann1 die Dam liesse sich endlich heraus/ sie wollte mich/ durch ihre Mittel/ adeln lassen/ und hernach zum Ehe= Mann annehmen/ dieser Gestalten hatte ich einen Vorschlag/ von hundert tausend

356 freigemacht zu haben; aber diese rein säkulare Erhöhung dient nur der typischen Fallhöhe-Konstruktion, wie auch Zendorio erkennt: Nun war ich auf einer solchen Stuffe/ auf welcher noch der zehende nicht gestiegen/ ich wüste nicht/ wie mir selbst ware/ dann es gieng mir vor/ daß ich so geschwinde wieder hinunter fallen würde/ als ich hinauf gestiegen. Hätte ich gewust/ daß es so weit mit mir kommen sollte/ ich wollte mich nimmermehr so heraus gelassen haben/ dann ich gedachte etwan dadurch ein gutes Tranckgeld davon zu tragen; aber die Dam war schon zu häfftig in mich verliebt/ bin derohalben nur deswegen unglück seelig zu nennen gewesen/ weil mir das Glück gar zu wol gewollet hat. (WN: 84) Mit dem Erscheinen seines Vaters wird dann aber plötzlich seine Herkunft bekannt, 74 und Zendorio »eilete/ vor Spott und Schand auf und davon« (WN: 84). Dies ist die Wiederholung der Flucht aus Ludwigs Schloß, und ebenso wie dort ist der Held hier tief beschämt, imaginiert aber gleichzeitig die Scham der Adelsgesellschaft, die sich mit einem Schinder (der Sohn gilt hier gleich dem Vater) gesellig verbunden hat.75 Die folgenden Reflexionen machen deutlich, daß das Thema der »Unehrlichkeit« und der unüberschreitbaren Standesgrenze mehr als nur ein Motivationsrest der Fallhöhe-Topik darstellt. Gerade hier macht sich allerdings die doppelt-paradoxe Perspektive von Affirmation und Kritik bemerkbar, wie sie schon am Beginn des Berichts von Isidoro auffällt, denn einerseits verteidigt der Erzähler seine Handlungsweise, andererseits kritisiert er sie aber auch. Durch sein rhetorisches Manöver glaubt sich Zendorio der Verantwortung für seine Handlung überhoben, ja er beansprucht sogar, im säkular-machiavellistischen Sinn der Optimierung des Eigennutzes vernünftig gehandelt zu haben: [W]as noch das allerschlimste in der Sache gewesen/ so wüste sie sich in ihrem Gewissen überzeuget/ daß sie sich/ aus freyem Willen/ ohne meine Zumuthung/ mit mir verlobet und verbunden hatte/ und konnte hier die Ungleichheit des Standes gar nicht schaden/ weil ich ihr genugsam zu verstehen gegeben/ daß ich viel zu niedrig wäre/ ihr Mann zu seyn; aber/ möchte einer sagen/ ich hätte ihr/ vor dem

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Reichs=Thalern« (WN: 82). In weltlichen Bezügen wäre dies wohl ein Wunder zu nennen, denn nicht nur für die Bürger, sondern auch für den Adel hätte sich Caspia damit ebenfalls zur »Unehrlichen« gemacht - wenn sie es denn gewußt hätte. Auch hier hofft der Erzähler also noch auf Verdeckung seiner »tatsächlichen« Herkunft. Hier liegt dann auch der Grund für die Melancholie des Erzählers, der aus Überzeugung der eigenen Minderwertigkeit nicht an eine »Erlösung« glauben kann: »Und eben dieses ists/ warum ich zuvor so traurig gewesen/ nemlich/ weil ich geforchten/ ich möchte offenbahr werden/ daß mein Vater/ nicht weit von dem Ort/ ein Schinder ware/ welches ich dem Isidoro noch nicht geoffenbaret hatte« (WN: 84). Seine säkulare Melancholie ist nur über den Umweg der religiösen Lesart aufzuheben, die gerade die extreme Erniedrigung als »Nachfolge Christi« (Thomas von Kempen) zur Voraussetzung der Erlösung macht, die sich auf die gnadenvolle Vaterschaft Gottes bezieht. Die religiöse Dimension wird bereits durch das Motto des 6. Kapitels deutlich: »Unkeusches Hertz verdirbt in Spott/1| Die keusche Seel sucht Ruh in Gott« (WN: 85). Siehe WN: 85.

357 Verlöbnis/ wegen meiner Geburt/ sollen Meldung thunV auf daß sie sich in diesem Haupt=Stücke wol vorsehen mögen; aber/ lieber Leser/ ich wollte kein solcher Narr seyn/ noch mir durch meine eigene Verrätherey ein so köstliches Stück Brod/ vor dem Maul/ wegschneiden. (WN: 85)

Die Apologie des Eigennutzes dementiert hier die Rechtfertigung: Der Erzähler weiß sehr wohl, daß seine Vorsichtsmaßnahme, Caspia die Schuld zuzumessen, unwirksam ist, weil er das wesentliche Faktum verschwiegen hat. Daher ist seine Flucht, wie er ganz realistisch zugesteht, nicht nur das Resultat der Scham, sondern auch der Angst vor Vergeltung, denn außer ihm selbst wird wohl niemand seiner kasuistischen Argumentation folgen. Direkt im Anschluß daran findet sich nun eine offene Moralisatio, die um so eigentümlicher wirkt, als sie nicht nur ohne erzählerische Autorität legitimiert ist, sondern auch in völligem Gegensatz zum Vorangehenden steht: Und hieraus hat der Leser zu lernen/ was vor einer grossen Unbescheidenheit sich diejenige unterfangen/ welche sich unwissend aller Umstände/ aus einem blossen Ansehen verlieben/ und hernachmals ohne Rath und Tath heimlich in einem Winkkel ihren Ehe=Contract schmieden/ daraus hernachmals Früchte entstehen/ davon ein gantzes Land zu singen und zu sagen weiß. (WN: 86)

Offenbar zerstört der Erzähler hier die Voraussetzungen seiner eigenen Glücksmöglichkeiten, denn wenn Caspia seinem Rat gefolgt wäre, hätte sie sich nicht mit ihm verbunden. Dennoch muß diese Passage, als direkte und monologische Moralisatio ohne erkennbare erzähltheoretische Legitimation, zum Ausgangspunkt aller späteren Wertungen gemacht werden. Die Kritik, die der Erzähler im Sinne der Ständekonstanz an der Liebesheirat übt, ist durchaus ernst; um so ernster, als die Verbindung zwischen Caspia und Zendorio unter diesen Bedingungen nicht stattfindet: Der Schindersohn kann und soll seine sozialen Grenzen nicht überschreiten. Daß er selbst versucht, seinem Stand zu entkommen, ist nur deshalb entschuldbar, weil auch er wie Caspia - das Gefühl der Höherwertigkeit hat, das sich bei Beer bezeichnenderweise immer in künstlerischen Produktionen äußert: Es war mir alles Thun der Menschen zuwider/ und ich wünschte mich lange todt und begraben zu seyn. Eines Theils plagte mich die Liebe/ die ich noch zu der Caspia trüge/ andern Theils beschämte mich die Offenbahrung meiner Person/ dahero gienge ich unter denen Leuthen herum/ wie ein Schatten/ und schriebe mir selbsten zum Trost allerley Verse/ die ich nur ersinnen konnte. Wanns mir beliebte/ sollte der Leser hier durch etliche Bogen nichts anders zu erfahren haben/ als etliche Carmina/ die ich/ in meiner grossen Trauer zu Papier gebracht/ dann so einen fähigen Geist ich hatte/ Hesse mich doch die Schamhafftigkeit/ wegen meiner niedrigen und verachten Gebührt nicht hoch steigen/ noch auch beflissen seyn1 mich selbsten in die Höhe zu schwingen/ aus Furcht/ ich möchte noch mit grösserer Ungelegenheit herunter gestossen werden. (WN: 86)

Der Widerspruch zwischen Selbstschätzung und sozialem Stand äußert sich in der bekannten Melancholie, 76 deutet aber zugleich auf ein rätselhaft Ver76

»Ich hatte weder gestohlen/ noch gemordet/ weder geraubt/ noch die Häuser ange-

358 borgenes, und nur in diesem Sinne läßt sich die »Liebes=Historie« des Erzählers deuten. Deren Grundlage ist die Diskrepanz von Stand und Befähigung, die vom Erzähler deutlich empfunden wird und ihn als natürliches Mitglied der Adelsgesellschaft erscheinen läßt. Die Auflösung dieser Diskrepanz ist das »Lebensrätsel« des Erzählers, dessen Versuche, seinen Stand zu überschreiten, verständlich aber sündhaft sind: »[D]ahero sähe ich klar/ daß jeder Mensch seinen gewissen Ursprung hat/ daraus er muß gepeinigt werden/ so lang er lebet« (WN: 87). Sein Versuch, aus der Verbindung mit einer adligen Dame Profit zu schlagen, markiert einerseits den Tiefpunkt seiner Sündhaftigkeit, wofür er in weiser Voraussicht des Autors bestraft wird, andererseits ist er aber auch Ausdruck seiner Selbsteinschätzung, die sich nach oben orientiert. Wird er vom Autor noch daran gehindert, sich der karnalen Sünde mit Adligen schuldig zu machen, ist die Verbindung mit Caspia von komplexerer Natur, denn die Heldin ist in ihrer Leidenschaft nur deshalb gerechtfertigt, weil sie sich auf Zendorios verrätselt-versteckte adlige Persönlichkeit bezieht. Die Verbindung mit Caspia ist dadurch charakterisiert, daß hier Erotik und Sexualität keine sichtbare Rolle spielen. 77 Damit ist der Erzähler in einer grundsätzlich anderen Situation als Isidoro zu Beginn der Winternächte, und die »Liebes=Historie« Zendorios hat auch einen anderen Stellenwert als die weitgehend sündhaften Aktivitäten Isidoros, die den Hintergrund für den Erzähler abgeben. Zendorio sucht nicht primär die sexuelle Erfüllung, sondern er versucht, seinem inneren Trieb nach Standeserhöhung, der sich auf seine Selbstschätzung als Persönlichkeit bezieht, Raum zu verschaffen, indem er - wie auch der Betrug an dem vorgeblichen Juden ein für den Erzähler zulässiges Verfahren - eine »schöne Jungfer über den Tölpel« wirft. Caspia und mit ihr die gesamte Adelsgesellschaft sind hier schuldlos, denn sie wissen nichts von Zendorios »Unehrlichkeit«; im Gegenteil zeigen sie ihre Toleranz dadurch, daß sie einen Bürgerssohn - als solcher gilt der Erzähler - zu ihrer Geselligkeit gleichberechtigt zulassen. 78 Innerhalb dieses weltlichen Handlungsrahmens bildet Caspias »verzeihende« und »gnadenvolle« Liebe das säkulare Wunder als Figuration des religiösen Wunders, die aber beide vom Erzähler verfehlt werden. Ebenso wie die Bedeutungssteigerung der profanen »wunderbaren« Rätsellösung (in Isidoros Geschichte) zur unbegreiflichen Liebe Caspias das Wunder als solches begründet, verweist deren allegorische Lesart auf eine religiöse Bedeutungsebene als primären Bezugspunkt, und ebenso wiederholt sich auch die

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zündet/ so ware ich auch sonsten mit keinem hauptsächlichen Laster behafftet/ doch schmertzte michs unvergleichlich/ daß mir durch meine Geburt verschlossen waren alle Thüren/ so wol zur Ehre als zur Gliickseeligkeit zu gelangen« (WN: 87). »[D]araus ich mit Verwunderung verstehen müssen/ daß dieses liebe Kind mit mir nicht anders/ als ihrem leiblichen Bruder/ umgienge« (WN: 83). Eine Ausnahme bildet aus besonderen Gründen nur vorübergehend Faustus.

359 Fluchttopik, die sich vom säkularen Entweichen aus Gefahrensituationen zur religiösen Bekehrungssituation wandelt. Die säkulare Romanhandlung wird im folgenden nur noch als Komplement einer allegorisch-religiösen Lesart deutbar sein. Das beste Beispiel dafür ist die hier anschließende Episode, in der der Erzähler sich in ein sexuelles Verhältnis mit der Frau seines Herren einläßt,79 nachdem er aber erfährt, daß sie noch andere Liebhaber begünstigt, entschließt er sich, sie zu bestrafen. Es waren ihrer mehr/ welche diese zu besuchen pflegten/ dahero entschlösse ich mich/ die Frau zu betrügen/ ihr etliche Ketten zu stehlen/ und damit davon zu lauffen. Schmeichelte mich dannenhero so viel an sie/ als ich nur konnte/ und brauchte gar keine Mühe/ sondern dorffte nur den Schlüssel umreiben/ so hatte ich zwey Ketten zu ergreiffen/ die etliche Marek wägten/ damit machte ich mich vor Tages davon/ und vor meiner Abreise schlüge ich alle Scheiben in dem Hause ein/ zerrisse mein Bett=Gewand/ und/ wann ich Feuer gehabt/ hätte ichs Hauß darzu angezündet/ so feind war ich der Huren/ welche/ wider alle Ehr und Erbarkeit/ sich an einen jeden Flegel angehänget/ und sich nicht gescheuet/ mit mir/ als einem Schinders=Kind/ sich wissentlich in Gemeinschafft einzulassen. (WN: 87)

Dieses Strafritual scheint zunächst wenig bemerkenswert: Der betrogene Liebhaber rächt sich recht handgreiflich an seiner Geliebten. Doch diese Deutung deckt nur einen Teil der Passage ab, denn die »wunderbare« und überraschende Entdeckung des Betrugs ist nur der mechanische Auslöser der Rache; die Rache selbst bezieht sich auf das Moment der Erniedrigung im sexuellen Begehren. Der Autor läßt für den Erzähler implizit die melancholische Verwirrung des geflüchteten Schindersohns gelten, die seine Sünde vielleicht entschuldigen mag, die Frau jedoch steht für den Erzähler als unüberbietbares Beispiel der Verworfenheit vor dem Leser, denn sie hat um die Herkunft ihres Liebhabers gewußt: Aber die Frau fragte nicht allzu viel darnach/ ich möchte gleich eines Schinders oder Henckers Sohn seyn/ sondern sie gäbe vor/ sie liebte nicht meine Geburth/ sondern meine Person/ asstimirte nicht den Ursprung/ sondern meine Qualitäten/ denen ich gewachsen genug wäre. (WN: 87).

Ebenso wie Caspia schätzt sie also die Persönlichkeitswerte des Erzählers: Aber hier liegt wie so oft bei Beer eine völlige Kontrafaktur vor, denn sie reduziert sie auf das körperlich-sexuelle Prinzip, das nun die verabscheute Verbindung mit dem Ekelerregenden der »unehrlichen« Herkunft eingeht. Nach außen ähneln sich die Motive - die Liebe um der Person willen - , nach innen sind sie kontradiktorisch verschieden. Caspia weiß nichts von der »Unehrlichkeit« und liebt die »adlige« Persönlichkeit ohne sexuelles Interesse, während die namenlose Frau 80 nicht nur um seine Herkunft weiß, son79

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Expressis verbis ist von einem sexuellen Verhältnis im Text nicht die Rede, aber die benutzten Formulierungen charakterisieren es zureichend als ein solches. Sie wird natürlich schnell zur typischen »Hure«.

360 d e m sie als luststeigerndes Element in ihrer sexuellen Begehrlichkeit nutzt. Der Erzählerdiskurs kann hier getrost als sexistisch bezeichnet werden, indem der Autor seine bekannten misogynen Schemata erneut nutzt; interessant ist hier im wesentlichen, daß er das Motiv der sexuellen Potenz wie schon früher für den Erzähler als positives Moment der Abgrenzung gegen die Schwäche des Adels einführt und gleichzeitig dieses Motiv als Anziehungsmerkmal bei der Frau dämonisiert. Dieser moralische Doppelstandard zieht sich durch alle Texte Beers. Die kommentierende Moralisation macht schließlich deutlich, daß in dieser Begegnung ein wichtiger Entwicklungsschritt in der Bewußtwerdung des Helden liegt: Dazumal wurde ich erst recht klug/ und muß bekennen/ daß ich gleichsam erst anfienge zu leben/ und kennen zu lernen/ in was vor einem schröcklichen Aberwitz/ und in was vor einer grossen Irre wir Menschen/ hier auf Erden/ herum zu wandeln pflegen/ die wir uns offt selbst nicht kennen/ noch unsern eignen Schimpf vermeiden. ( WN: 87)

Worin besteht aber dieses neue Bewußtsein des »Wiedergeborenen«? Der Erzähler begreift, daß die mangelnde Selbsterkenntnis den »eignen Schimpf« verursacht. Was hat nun diese Bewußtwerdung verursacht? Die Antwort darauf muß Konjektur bleiben, denn der Text bleibt hier unklar; es kann sich aber nur darum handeln, daß Zendorio im Betrug seiner Geliebten erkennt, daß die von ihr geschätzten körperlich-materiellen »Qualitäten« keinerlei Verbindung zu den von ihm favorisierten Persönlichkeitswerten haben. Mit anderen Worten: Die körperlich-sexuellen Fähigkeiten begründen keinen Anspruch auf Standeserhöhung, sie sind bedeutungslos und finden sich in zufälliger Auswahl bei allen Menschen gleich welchen Standes. Der Erzähler ist mit einer gewissen Attraktivität begabt - sie kennzeichnet ihn aber nicht. In dieser negativen Erkenntnis liegt dann auch ihre positive Form begründet: Wenn die Form der äußerlichen Anziehungskraft nicht charakteristisch ist, muß die innere Form der Persönlichkeit ihren Wert konstituieren. In der Selbsterkenntnis dieser inneren Form liegt also der Wert und der Schutz vor der affektischen Verirrung, die zum Schimpf führt. So beiläufig diese Passage erscheint, ist in ihr dennoch ein wichtiger Wendepunkt in der Handlungskonstruktion der Winternächte erreicht, denn die hier ausgesprochene Selbstbesinnung charakterisiert die bislang vorgefallene Erzählerhandlung als vorbewußte Sünde. Dies ist nicht unwichtig, denn die paradoxen Fügungen von gleichzeitiger Sündenverstrickung und Sündenkritik erfahren dadurch eine Lösung: Mit der zitierten Passage ist der konkrete Zeitpunkt der Bewußtwerdung des Erzählergewissens festgelegt. Die Annäherung von erzählendem und erzähltem Ich verlangt nun nach einer Festsetzung des Erzählzeitpunkts, der nicht allzu weit von diesem Wendepunkt entfernt liegt, damit die hier erreichte Kritikfähigkeit plausibel bleibt. Diese Fixierung findet in der Tat am Ende des zweiten Buches statt, das damit den

361 Eckpunkt eines Spannungsrahmens bildet. Alles, was bis zum Zeitpunkt der Wendung zum Selbstbewußtsein stattgefunden hat, kann von der erreichten Position aus als »Schimpf« kritisiert werden, wie es ja auch geschehen ist. D i e Form der Moralisationen ließ uns annehmen, daß das moralisierende Subjekt sich noch nicht sehr weit vom kritisierten Subjekt entfernt hatte - eine These, die nun durch den Text ihre Bestätigung findet. Damit löst sich auch das Problem im konkreten Fall: Der Erzähler, der sich sündhaft verstrickt, wird sich seiner selbst in der Sünde bewußt und dadurch zum Kritiker. D i e Rache, die er als Strafe für die Hurerei ausführt, spiegelt nun seine spezifische Rolle darin als »bezahlter« Liebhaber: 81 Er beraubt und schädigt seine Herrin: [W]eil ich durch den Raub dieser Ketten keinen Diebstahl/ sondern nur eine kleine Züchtigung vorgenommen/ aus welcher die schlimme/ wilde und unzüchtige Frau lernen sollte/ wie es ihr ins künfftige gehen dörffte? [...] Aber gleich wie sie die Hurerey vor keine Sünde hielten/ also schätzten sie auch mein Thun vor keine Ubelthat/ wie es dann in der Warheit auch keine zu heissen war/ weil ich die Hur durch diesen Griff nur ein wenig gestrafft habe. Ich wollte/ es würden dergleichen Stück mehr gepracticiret/ so würden sich hinführo nicht so viel Bestien auf denen Messen einfinden. (WN: 87f.) So fragwürdig dem modernen Rezipienten die Nähe von Sünde und Sündenbewußtsein mit der Strafhandlung erscheint, für Beer und seine Erzähler ist sie nur natürlich. D e n n o c h ist der Makel der unehrlichen Geburt und dessen Implikationen für die Figurenpsychologie zu schädigend, um ihn zu lange aufrecht zu erhalten. Schon im nächsten Kapitel wird das »Lebensrätsel« des Erzählers aufgelöst, als er auf seiner Flucht zufällig Isidoro trifft, der ihn über seine Herkunft belehrt: Liebster Zendorio/ du meinest/ du bist eines Schinders Sohn/ und dein Vatter ist doch ein Edelmann/ in dem Lande/ von solchen Mitteln/ als du selbst nicht weist. [...] Dein Vatter ist einer von Adel/ und wohnet eben auf dem Ort/ da du meinest von dem Schinder gezeuget zu seyn. (WN: 89)82 81

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»Neben absonderlichen Ehrbezeigungen spendirte sie mir Geld und Kleider« (WN: 87). Die misogyne Logik Beers will es hier, daß der bezahlte Lustknabe die Geliebte der »Hurerei« anklagt und als »Strafe« eben jenes Moment der bezahlten Liebe wiederholt: die nicht seltene Art der Prostitutionskriminalität, bei der der Freier beraubt wird. Die eigentümliche sexuelle Phantasie des Autors, der seine männlichen Helden oftmals als weibliche Prostituierte verdeckt konfiguriert, wäre einer feministischen Analyse wert. Die Begründung enthält nun wiederum ein Element des Unglaublichen; der Vater »wird genennet Monsieur Pilemann/ und hat all sein Lebenlang auf nichts mehrers/ als Wahrsagereyen der Zigeuner und anderer Landfahrer gehalten. In deiner Geburth wurde ihm eben von einem solchen Land=Stürtzer prophezeyet/ daß/ so er dich in deiner Jugend würde unter die Bauren thun/ welche dich berichten würden/ daß dein Vatter ein Schinder seye/ so würdest du ein Glück haben/ als kein Mensch im gantzen Lande/ ja/ sie logen ihme vor/ du würdest noch im achtzehenden Jahr ein General über eine gantze Armee werden/ und was dergleichen Lumpen Sachen mehr waren. Dein Vatter glaubte denen Stümpern mehr/ als sie von ihm verlangten/ dahero thate er dich noch in der Jugend unter die Bauren/ welche dir diese Sache

362 Erneut wird durch ein unvermitteltes »Wunder« ein Lebensrätsel gelöst: Der Erzähler kommt zu Rang, Stand und Reichtum; selbst das religiöse Motiv klingt im Hintergrund an, wenn der tatsächliche, leibliche Vater sich in die Gestalt des vorgeblichen Vaters, des Schinders, verkleidet, um seinen Sohn zu überraschen: [H]at sich also dein Vatter in die Gestalt des Puffers verkleidet/ und dir zuvor einen Schröcken/ hernach aber desto grössere Freude/ verursachen wollen/ indem er viel glaubwürdige Zeugen bey sich hatte/ dir deinen Scrupel zu benehmen. Aber du konntest des Ausganges nicht erwarten [...]. (WN: 90) Gott erscheint »unter seinem Gegenteil« in der Gestalt Jesu als Niedrigster der Niedrigen, um schließlich als Erlöser verklärt zu werden; indem aber der Erzähler sich nicht zur Imitado Christi, zum Bekenntnis zum Schinder-Vater, entscheiden kann, verspielt er sein Heil. U m den vorhersehbaren Zweifeln des »Ungläubigen« zu begegnen, präsentiert der Vater glaubwürdige Zeugen, wie auch Christus von den Aposteln als Zeugen umgeben ist. Allerdings kann der vorschnelle Skeptiker »des Ausgangs nicht erwarten« und flieht sein eigenes Glück und Seelenheil. Nur unter Berücksichtigung dieser religiösen Sinnkomponente ist die den Erzähler ergreifende Melancholie erklärbar: Wie vordem ist die Gnade unverdient, und Zendorio zweifelt an der Beständigkeit seines Glücks. Dazumal hatte ich Ursach und Gelegenheit über die Erzehlung des Isidoro mich recht zu verwundern. Ich stunde von der Erde auf/ und sähe gen Himmel/ schlüge die Hände ineinander/ wurffe den Kopff auf die Seite/ seuffzete/ und sagte: »Bruder/ ist es möglich/ was du sagest/ und/ soll ich deinen Worten Glauben beymessen?«83 [...] Hatte ich nun zuvor nachgegrübelt/ so grübelte ich darnach noch mehr

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so weiß gemachet/ daß sie dich/ biß gegenwärtigen Augenblick/ gedrücket und gequälet hat. In solchem Irrthum schickte man dich auf die Schuhle/ und du wurdest dennoch keines Weges eines andern berichtet/ dahero ist es geschehen/ daß du diesen Fähler von Jugend auf vor die allergewisseste Warheit gehalten. Es wurde deinem Vatter ferner vorgelogen/ er solle sich dir nicht eher zu erkennen geben/ biß du ein Monarch wärest/ sonst dörffte es sein Leben kosten/ und/ weil er diesen Schwachheiten keinen geringen Glauben beygemessen/ hat er so wol sich/ als dich selbsten/ betrogen« (WN: 89). Hier wird von einem Adligen einem »Unehrlichen« geglaubt, der rät, den Knaben im Glauben aufziehen zu lassen, er sei ein Schindersohn. An dieser konvoluten Situation ist ein Moment von ausschlaggebender Bedeutung: Der Erzähler wird nachträglich exkulpiert, wenn ihm bestätigt wird, niemals mit einem Schinder in Berührung gekommen zu sein. Damit sind nicht nur die abergläubischen Berührungstabus in Hinsicht auf den Helden gegenstandslos geworden, sondern auch die Kritik, er habe seinerseits die Adelsgesellschaft mit seiner Unehrlichkeit »befleckt«. In der Tat ist diese Passage nur zu diesem Zweck eingefügt; ihre unvermittelte Stellung ist ein wichtiger Hinweis auf die Entstehung und Komposition des Romans, der aus seiner Thematik und Erzählweise nur auf kurze Spannungsbögen hin angelegt ist. Die Bildlichkeit der Szene verweist ebenso auf das religiöse Moment wie die Motti der Kapitel sieben und acht: »Wir irren stets in unserm Wahn/ || Wohl dem/ der kommt auf rechte Bahn« (WN: 88) und »Wer sich die Büß ein Ernst last seyn/ || Geht vor dem Tod das Leben ein« (WN: 90).

363 nach [...]. Dazumal wurde ich erst gewahr/ was es hiesse/ glückseelig seyn/ aber/ die Warheit zu bekennen/ so war ich doch noch nicht also zu heissen/ weil meine völlige Vergnügung noch an der zukiinfftigen Zeit gehangen/ welche denen Menschen ungewiß zu seyn pfleget. (WN: 90f.)

Der Held ist hier durch den unüberwindbaren Zweifel an der Gnade gekennzeichnet, und dieser Ausdruck seiner säkularen Weltanschauung ist gleichzeitig der Grund für seine überstürzten Fluchten. Da er ein meritorisches Verständnis von Gnade hat, muß ihm sein Glück als unverdient erscheinen, und er bleibt fassungslos dem Zweifel an der Beständigkeit seiner »Zustände« anheimgegeben. In der ungläubigen Verwunderung, gemischt mit Melancholie, findet der Held dann nur in der Liebe zu Caspia Halt, die seine Erhöhung vorausgeahnt hat; allerdings ohne über die Bedeutung seines Glücks zu reflektieren.84 Als er dann von Caspias - vorgeblichem - Tod erfährt, fällt die letzte Stütze fort, und der Erzähler verfällt vollständig der Melancholie; er beschließt, sich selbsten zu erhungern/ weil mich die Trauer dazumal dergestalten eingenommen/ daß ich mich nicht scheuete/ mir selbsten das Leben zu nehmen. [...] [D]erowegen begäbe ich mich auf dem Schlößlein in ein abgelegenes Zimmer/ darinnen ich alle meine Zeit mit seufftzen und ächtzen zugebracht. [...] Ich verschlösse dannenhero das Zimmer/ und weinete gantz allein/ ohne Trost und Hoffnung/ wie der verlassenste Mensch unter der Sonnen. [...] [I]ch aber/ wurde je länger je melancholischer/ und fände in dem Grund der Warheit/ daß kein so lustiges Gemiith auf Erden zu finden/ welches durch die Zustände einer unvergnügten Liebe/ nicht zu überwinden/ und mit den allerdickesten Wolcken der Trübseligkeit zu überziehen wäre. (WN: 93£)

Diese Art der Melancholie hat offenbar rein motivierenden Charakter für die Bewertung der Anschlußhandlung, denn die im Grunde angelegte Melancholie als Ausdruck der Verzweiflung, die aus einer tiefen Skepsis hinsichtlich der Gnaden- und Glückserfahrung erwächst, wird von rein säkular-affektischen Elementen überlagert und überformt - allerdings so, daß das ursprüngliche Motiv als bedeutungsbildend erhalten und formend bleibt. Der Entschluß des Erzählers, aus verzweifelter Liebe Eremit zu werden - obwohl er die Eremitage explizit ablehnt - , wiederholt einerseits kontrastiv Isidoros rein sexuell-affektischen Liebeswahnsinn (Buch 1, Kap. 2) aus Begehren; andererseits ist der Versuch der Weltabsage eine erneute Flucht, wobei die Fluchtmotive zunehmend innerlich-ideeller Natur werden. Erfolgt die erste Flucht in Isidoros Kleidern noch ganz unbewußt, rein aus dem Überlebenstrieb, so geschieht die zweite bereits aus Scham über sein eigenes Fehlverhalten bei Ludwigs Fest und die dritte aus Scham, Furcht und Verzweif84

»Die Schönheit der Caspia stunde mir immer in Gedancken/ und dahero konnte ich auf nichts anders als ihre angenehmste Gestalt bedacht seyn/ solcher massen verbrachte ich alle meine Zeit in denen Liebes=Gedancken/ und verschwendete durch den Essig meiner noch unvergnügten Zustände gar viele Perlein derjenigen Sachen/ die ich/ zu meinem bessern Nutzen/ billig hätte anwenden sollen« (WN: 91).

364 lung über seine Herkunft, die vierte dagegen soll aus Liebesschmerz, der sich als Weltekel mißversteht, 85 zum ersten Mal in die anachoretische Existenz führen. 86 D e m Erzähler geht es gerade um dieses Mißverständnis, das weltliche Motive mit geistlichen Lebensformen kontaminiert und Ausdruck der schon beklagten mangelnden Selbsterkenntnis ist. Dies macht sich in der fortdauernden Melancholie des Helden deutlich, der in der Einsamkeit sein Leiden intensiviert, obgleich er Anstrengungen unternimmt, den locus terribilis zum locus amoenus zu arrangieren. 87 Die unerträgliche Einsamkeit jedoch macht diesen Versuch zunichte, 88 und die anschließende Moralisatio läßt keinen Zweifel über die Gründe des Scheiterns der Eremitage: Aber eben darum werden solche Zustände mit so gewissen Umständen beschrieben/ auf daß man sehen kann/ welch einem Übel sich der Mensch offtermalen selbsten unterwirfft/ wann er sich weder führen noch rahten will lassen. Ich hatte zwar genug Ursach die Eitelkeit der Erden zu fliehen/ und bin deswegen von keinem Menschen zu verdammen/ aber/ wann ich betrachte/ die Ursach und den Anfang meiner Einsamkeit/ finde ich keinen grossen noch starcken Grund darinnen/ auf welchen ich meine angefangene Strengigkeit des Lebens hätte bauen/ und fortführen können. Dann es ware vielmehr eine Verzweifelung/ als ein wahrer Vorsatz/ zu nennen/ durch welche ich angetrieben worden/ eine solche Lebens=Art zu erkiesen/ vor der sich auch die Thiere scheuen. [...] [I]ch halte kein Elend so groß und unermessen/ als das jenige/ welches verursachet/ kleinmütig zu werden/ weil da85

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»Aber die unvergleichliche LiebesPassion hatte mich dergestalten eingenommen/ daß sie alle zufällige Lust=Suchungen gäntzlich bezwungen und überwunden« (WN: 94). Der Erzähler beschließt, sich »heimlich aus dem Staub zu machen/ in eine Wildniß zu gehen/ und daselbsten das übrige Theil meines Lebens zuzubringen [...]. Dann ich achtete/ ausser der Liebe der nunmehr verstorbenen Caspia/ alles Zeitliche nur vor einen geringen Schatten/ ja/ viel weniger/ als nichts/ und dahero fände ich in mir selbsten keinen Widerstand/ vermittelst welchem ich/ in meinem Vorhaben/ hätte können zurücke gezogen werden/ ob schon die Sach selbsten/ und die Art eines solchen Lebens/ Ursach genug gäbe/ abgeschrecket zu werden/ jedennoch konnte ichs um so viel desto leichter ins Werck stellen/je eine grössere Vergnüglichkeit ich in einem so erwünschten Wandel suchte« (WN: 94). »Unter meinem Berge war ein grosser See/ und wann ich auf solchem etwan des Tages ein Paar Fischer=Schifflein vorüber/ oder auch auf der Ferne/ fahren sehen/ so war es die allervortrefflichste Lust/ die ich in dieser Einöde zu gemessen hatte. Urtheile dahero nicht unbillig/ daß ich/ durch die Erzehlung meiner Trauer/ dem geneigten Leser wenig Freude verursachen werde/ indeme ich nur vorstelle/ solche Sachen/ die von aller Ergötzlichkeit weit entlegen sind. [...] Wann es regnete/ legte ich mich hinter das Dach/ der Baum=Rinden/ damit ich daselbsten bey dem angenehmen Gemurmel der Wasser=Tropffen einschlummern und schlaffen möchte/ genösse auch diese angenehme Luft ziemlich offt und viel/ weil auf diesem Gebürge fast täglich grosse Sturm=Regen waren/ unter welchen ich zuweilen in einem Buche gelesen/ die ich/ zu Vertreibung der Zeit/ von dem Schlosse zu mir genommen. Warhafftig/ diese Art zu leben/ war mir fast noch die allerangenehmste/ wann ich nur nicht so sehr ausser mir selbsten wäre entzucket gewesen/ dann/ das Angedenkken der Caspia liesse mich bey keiner Gemüths Zufriedenheit/ sondern zerstreuete meine Gedancken wol tausendfältig hin und wieder/ daß ich mir endlich selbst nicht mehr zu rathen wüste.« (WN: 95f.) Siehe WN: 95.

365 durch umgestossen wird die jenige Krafft/ durch welche sich der Mensch selbsten zu trösten vermag. (WN: 95Í) Die Einsiedelei gerät dem Erzähler so zur Erfahrung des fortgesetzten Leidens an der Welt, die noch immer seine Gedanken dominiert, und in einer paradoxen Fügung liest sich sein Versuch des »Adieu Welt« als Bestätigung eben jener ungebrochenen Macht der Welt und der Affekte: Armer Zendorio/ sagte ich zu mir selbst: »du bist gleich einem wilden Vieh/ welches in der Wildnis herum wallet/ seine Speise und Aufenthalt zu suchen/ das Unglück peinigte dich unter den Menschen/ und die Einsamkeit quälet dich/ unter dem wilden und Vernunfft=losen Vieh/ du bist viel verlaßner als jene/ weil du etwas bindest mit Gewalt/ was sie von Natur auszustehen gewohnet sind/ sey gedultig/ und ertrage dein Leid. Dein Schmertz wird doch deswegen nicht verringert/ ob du dich gleich darum betrübest/ daß er nicht kan gemindert werden. Diese Einöde hält deinen Leib verborgen/ aber/ sie vermag nicht auszuschliessen die widrige Gedancken/ so dich ohne Unterlaß peinigen. O! ihr meine Gedancken! ihr seyd die jenige Würtze/ welche mein Fleisch vor der Zeit verzehren/ und ich werde so lang in euch unglückseelig seyn/ so lang ihr mich Unglückseeligen nicht verlasset. Ich habe von euch/ und auch von dir/ O eitle Erde! nichts/ als unaufhörlichen Verdruß/ wo ich mich hin wende/ erblicke ich nichts anders/ als eine Creutz=Schule meines Lebens/ in welcher ich so lange lernen und studiren muß/ als lang meine mühselige Tage nicht vollendet werden. Deine Bitterkeit/ O schnöde und bald verschwindende Zeit/ ist mir mehr als zuviel bekandt/ und dannoch habe ich dich noch nicht verwerffen können/ weil es mir mangelte an dem wahren Grund einer hertzlichen Andacht/ durch welche ich mich deinen Stricken möchte entrissen haben. Diese grobe Einöde/ und dieser grausame Ort tragen mit mir ein hertzliches Mittleiden/ und die Blätter so an den Bäumen hin und wieder wancken/ geben sattsam zu verstehen/ wie betrübt sie alsdann über meinen Zustand seyn würden/ so sie das Leben hätten/ solches gegen mich zu entdecken. Ach! wie schmertzet ihr/ ach! wie peiniget ihr/ ihr quälende Gedancken! Eure Folter übertrifft alle Grausamkeit der Häncker/ und eure Fässel sind an der Schärffe nur mit sich selbst zu vergleichen. Was soll ich nun thun oder fernere in der Welt beginnen/ weil ich die jenige in dem Grab verschlossen weiß/ bey welcher ich alle meine Zufriedenheit gesuchet? warum soll ich leben/ wann ich hinführe all meine Stunden in der jenigen Traur vergraben muß/ welche mich je länger je mehr zu tödten trohet? wahrhafftig dieses Betrübnis übertrifft alle Marter der Barbaren und Tyrannen/ mit welchen sie ihre Gefangene beleget haben.« (WN: 96f.) Doch trotz all dieser Anlagen zum Scheitern gibt der Erzähler seinen Versuch nicht aus inneren Gründen auf, sondern erst, als er erfährt, daß Caspia tatsächlich noch lebt; erneut findet sich die Sequenz von Verkleidung/Verwechslung-Mißverständnis-Rätsel-Lösung. Dieses Strukturschema wird zum Abschluß noch einmal variiert, wenn der Held inkognito am Fest teilnimmt, bei dem er dann die Hand Caspias gegen ihren hartnäckigen Verehrer Faustus gewinnt. 89 89

Schon vorher versucht Ludwig, Caspia durch den verkleideten Zendorio zu überraschen. Das Verwechslungsmotiv wird im dritten Buch wiederum zentral. Im übrigen hat auch Caspia ihren Liebesschmerz zwölf Wochen lang in der Einsiedelei bekämpft, bevor Ludwig sie auf ihr Schloß zurückbringt. An derartigen Stilzügen zeigt sich deutlich, wie der Autor bemüht ist, Wiederholungen als Strukturschemata mit Bedeutung zu versehen.

366 Damit ist der recht kurzfristige Spannungsbogen der Ausgangsproposition erschöpft: Die ersten beiden Bücher der Winternächte erweisen sich als Realisation traditioneller Beerscher Thematiken, die sich um das Begehren des »pikarischen« Helden nach Standeserhöhung drehen und zum ersten Mal in der Parallelisierung von weltlichem Glück und religiöser Gnade einen kohärenten und weitgehend stabilen Bezugsrahmen etablieren. Die Erzählstruktur ist durch die Nähe von erzählendem und erzähltem Ich charakterisiert, wodurch einerseits eine umfassende Identität hergestellt wird und andererseits die vom erzählenden Ich bereitgestellten Moralisationen lokale Bedeutung haben, da sie nur bis zum kurzfristig angesetzten Erzählzeitpunkt legitimiert sind. Thematisch ist der Spannungsbogen bei Beer traditionell mit der Eheschließung am Ende: Die Darstellung des Ehelebens ist im Lebenslaufschema, wie es in den Romanen bis zu den Winternächten erarbeitet wird, unproduktiv. Zentrale Bedeutung hat das Lebenslaufschema mit dem Ziel der Lebenssicherung durch Nobilitierung in Form einer Heirat oder durch aufgeklärte Herkunft. Schon frühere Texte zeigen drastisch die Skrupel und Zweifel an der Gültigkeit dieser Mechanismen und der daraus folgenden Ängste; die Winternächte etablieren ein neues Niveau der Themenvariation durch den möglich gewordenen Rückbezug der Gnade der verdeckten Geburt auf die religiösen Motive Rechtfertigung und Sündenvergebung. Erst durch dieses religiöse Sinnelement gewinnt der Text seine Struktur, denn das fehlende Vertrauen in die Gnade überträgt säkulare Bedenken auf religiöse Konstrukte: So lange der Erzähler sein Gottvertrauen den politisch-machiavellistischen Handlungsanweisungen, wie er sie in den »politischen« Romanen entwickelt, unterordnet, bleibt er der »Gnade« unwert. Das umstandslose Erringen und der schnelle Verlust weltlicher Güter soll den Helden, der in seiner Vorstellung der Werkgerechtigkeit befangen bleibt, auf die Notwendigkeit der radikalen Anheimgebung an Gottes Gnade hinweisen, in dem die Selbsterkenntnis den Rahmen materieller Belange überschreitet. Doch dem Erzähler gelingt dies nicht: Am Schluß des zweiten Buchs ist er zwar Mitglied des landadligen Freundeskreises, aber die »Gnade« der Standeserhöhung und der erfüllten Liebe findet kein Komplement in einer adäquaten religiösen Haltung. Solange der Held jedoch die Erhöhung nicht als vertrauensvolle Identifikation mit der Erniedrigung akzeptiert, solange er also nicht den Weg zur »Nachfolge Christi« betritt, indem er erkennt, daß die Erlösung in der Affirmation der Knechtschaft und des Leidens in der Welt besteht, wird auch das weltliche Glück für ihn unsicher bleiben. Mit dieser Konstruktion ist dann auch der weitere Spannungsbogen für die folgende Handlung angelegt, die sich immer erneut auf dieses religiöse Moment beziehen kann und in Variation der bekannten Handlungsschemata fortfahren darf. Dieses Spannungsgefüge ist aber in keinem Sinne handlungsmotivierend; es schafft einen nur latenten ideellen Beziehungsraum, der geeignet ist, die

367 Thematik der Standeserhöhung vielfach zu variieren, bis eine Adäquanz von religiöser und säkularer Gnadenerfahrung erreicht ist. Mit der einmal erreichten Sicherheit in der Nobilitierung und der Ehe ist dem Erzähler jedoch die Erzählperspektive des Lebenslaufschemas fast unmöglich geworden: Die weitere Handlung muß neue Elemente und Schemata präsentieren, um fortschreiten zu können. Der Beginn des dritten Buches zeigt dies in aller Deutlichkeit, denn dort setzt der Erzähler den Zeitpunkt der Erzählniederschrift an: »Biß hieher/ habe ich mit grosser und weitläufftiger Erzehlung zugebracht/ wie manche Abentheur mir/ biß gegenwärtige Stunde/ wider mein Verhoffen/ zugestossenV und welch einem Unfall ich biß daher unterwo[r]ffen gewesen« ( W N : 109, Hervorh. d. Verf.). Die temporale Bestimmung »biß gegenwärtige Stunde« muß für die Ich-Erzählung an dieser Stelle als zeitliche Koinzidenz der Niederschrift mit dem Handlungszeitpunkt aufgefaßt werden. Beer nutzt diese Erzählfiktion, die etwa für den Brief- oder Tagebuchroman charakteristisch ist, seinem Erzählen aber unangemessen, um bei gleichbleibender Nähe von erzählendem und erzähltem Ich einen neuen Erzählabschnitt und eine neue Erzählthematik zu begründen. Der hier etablierte Spannungsbogen knüpft direkt an die ersten beiden Bücher und ihr erzählerisches Resultat an und führt bis zum Ende des vierten Buches, das mit Isidoros Hochzeit schließt. Dort wird die Erzählfiktion des ersten Kapitels des dritten Buchs dementiert: Andre haben ihre Ergötzlichkeit auf eine andre Weise gesuchet/ ich aber satzte mich/ das jenige zu entwerffen/ weswegen ich mich der Compagnie/ absonderlich dem Isidoro so sehr verobligirt hatte. Ob ich auch gleich gemeinet/ das Werck etwas kürtzer zu verfassen/ hat es doch nicht seyn können/ wann ich nicht etliche Stück hinweg geworffen/ die ich vor dißmal nicht auf die Seite stellen können. (WN: 226)

Dementsprechend beginnt der nächste Satz, der Anfang des ersten Kapitels des fünften Buches: »Wann ich meine Feder wiederum aufs neue ansetze/ und meine angefangene Schrifft zu continuiren verlange [...]« (WN: 227). Ist sich Beer zu Beginn des dritten Buches noch unklar über die Begründung der Erzählsituation, so hat er am Ende des vierten Buches eine Struktur passagenweisen Schreibens entwickelt: Der Erzähler berichtet jeweils im Abstand von zwei Kapiteln die vorangegangene Handlung, so daß die bemerkenswerte Sequenz eines nur begrenzt zurückblickenden Erzählers entsteht, dessen Nähe zum erlebenden Ich alle Funktionen ausfüllt, die bereits skizziert wurden. 90 Der Erzähler faßt hier die ersten vier Bücher als eine Einheit

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Dies wird kurz darauf expressis verbis deutlich: »Demnach ist es nicht unbillig/ daß ich nach Verfertigung der vorigen vier Bücher fortfahre/ und erzehle/ wie der Winter/ in und zwischen unsern Handlungen/ ferner abgelauffen/ dann/ zu solchem ermahnet mich so wol die allerangenehmste Zeit des allgemach herbey kommenden Frühlings/ als auch/ das wunderliche Geschicke/ so sich mit uns/ biß dahero/ zugetragen« (WN: 228).

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zusammen, deren Erzählzeitpunkt an dieser Stelle eigentümlich konstruiert wird: Es ist zwar nicht ohne/ daß ich/ nach dem Innhalt der vorigen 4. Bücher/ versprochen/ all unsere Begebenheit zu entwerffen/ welches ich zu thun/ in denen frostigen Winter=Nächten gar gute Gelegenheit gehabt/ aber ich käme viel eher damit hinaus/ als ich mirs selbst eingebildet/ weil eine Materia in die andre gleichsam spornstreichs gelauffen/ und dannenhero kein grosses Nachsinnen vonnöthen gewesen/ welches sonst in andern Schrifften die Grund=Lage zu seyn pfleget. (WN: 228)

Offenkundig geraten dem Autor die Fiktion der Schreibsituation des Erzählers und die Erfahrung der eigenen Niederschrift durcheinander. Der Nukleus der Winternächte ist das bekannte Thema der ersehnten Nobilitierung im Rahmen des Lebenslaufschemas, das mit konsequent komponierten Wiederholungssequenzen die Problematik variiert und wertend nuanciert. Neu ist dabei die Integration der Handlungsstrukturen (Verkleidung/Verwechslung - Mißverständnis - Rätsel - Lösung zumeist als Flucht-Handlung) mit einem religiösen Sinnhorizont, der der Handlung eine vorher unbekannte Tiefe gibt. Der Abschluß dieser thematischen Sequenz am Ende des zweiten Buches verlangt eine überbrückende Neumotivierung der Erzählperspektive, die dem Erzähler nur unzureichend gelingt, denn am Ende des dritten und am Anfang des vierten Buchs werden die ersten vier Bücher als eine Einheit betrachtet, an die sich direkt die Niederschrift der folgenden Bücher anschließt. Diese Zusammengehörigkeit wird auch auf der Ebene der auktoriellen Schreibsituation bestätigt, da hier ein starkes Bewußtsein von der thematischen Einheit der ersten vier Bücher besteht. Es wird sich zeigen, daß die letzten zwei Bücher der Winternächte tatsächlich disparaterer Natur sind. Zur Begründung der Erzählsituation des fiktionalen Erzählers bemüht daher Beer - wie gezeigt - eine Etappenstruktur, um aus der nur lokalen Erzählperspektive die bekannten Nutzeffekte sich selbst legitimierender Moralisationen und starker Identifikationsmöglichkeiten von erzählendem und erlebendem Ich zu ziehen. Beer hat allerdings offenkundig Schwierigkeiten, Interferenzen zu vermeiden: Seine Tendenz zum apodiktisch-monologischen Autorwort dringt immer wieder durch und zersetzt die Erzählerfigur, die einerseits nur kurze erzählerische Legitimationsphasen kennt, andererseits aber sehr umfassende Kommentare äußert und durch die Topik zeitlicher Gegensätze die mühsam aufgebaute Etappenstruktur destabilisiert: »[D]ann dazumal hat man die Edelleute noch nicht ihr Gnaden heissen dörffen/ wie anitzo« (WN: 230, Hervorh. d. Verf.).91 Es gibt jedoch noch andere Gründe außer den genannten, die einen erzählerischen Neuansatz schon im dritten Buch belegen: Im wesentlichen ist dies die poetologische Digression zu Beginn des ersten Kapitels, die den Le91

So auch: »[D]azumal sind die Leute keine solche Narren gewesen/ daß sie ihre Weiber ihre Liebste genennet/ wie man heut zu Tag gewohnt ist« (WN: 229).

369 benslauf des Erzählers stärker an satirische Stoffe bindet und so schon andeutet, daß der Erzähler aus der Rolle des (pikarischen) quasi-autobiographisch erzählenden Ich zum peripheren, multiperspektivischen Ich-Erzähler wird: 92 Hinführo aber wird meine Feder beflissen seyn/ meine folgende Zustände gantz deutlich zu entwerffen/ wann ich zuvor dieses eintzige werde vor meine Person gesprochen haben/ daß ich in Beschreibung dieser Historia/ nicht des Willens bin/ jemanden an seiner Ehre zu nahe zu kommen/ sondern werde es dermassen glimpflich unterfangen/ daß auch diese/ so dadurch getroffen werden/ viel mehr lachen/ als sich gegen mir/ in unbilligem Zorn/ bewegen sollen. ( WN: 109)93 D i e s mag auf die problematische Konstruktion eines Helden zu beziehen sein, der seine »Unehrlichkeit« bewußt verschweigt und so alle anderen »befleckt«; allerdings spielt dieses Motiv keine weitere Rolle: D i e einführende summarische Moralisation unterstreicht die auch hier herausgearbeitete Skepsis gegenüber der glückhaften Erfahrung der Gnade als zentrale Aussage: Meine/ biß gegenwärtige Stunde/ wunderliche Begebenheit hat den Leser genugsam unterrichtet/ wie in einer grossen Mühsamkeit der Mensch stets und ohne Unterlaß/ in der Welt herum schweben muß/ und was vor grausamen Verleitungen er unterworffen ist/ so er sich selbst nicht klug zu regieren weiß. Er hat gesehen/ daß es mir auch in meinem höchsten Grad der Gliickseeligkeit sehr widrig gegangen/ und bin nur allein deswegen ungliickseelig gewesen/ weil ich meine Gliickseeligkeit nicht erkennen können. Nun ist nichts mehr vonnöthen/ und wird mir auch nichts angelegener seyn/ als die Erzehlung meines folgenden Lebens. (WN: 109f., Hervorh. d. Verf.) Tatsächlich aber verschwindet der Erzähler als Handelnder fast vollständig aus den Winternächten:

Bis zu deren Ende ist er passiver Beobachter und

Aufzeichner der Handlungen, vor allem aber der Erzählungen anderer. Nichtsdestoweniger stehen die nunmehr von den sekundären Erzählern be-

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Siehe dazu Solbach (1994b). »Es ist auch diese Schrifft nicht darum unterfangen worden/ damit man die Leute/ wes Standes dieselben auch seyn/ durch die Hächel ziehen/ und sie der Welt/ als ein Muster alles Übels/ vorstellen möchte/ nein; sondern man hat ihnen zu gefallen/ und ihrem eigenen besten die Laster zugleich abgemahlet/ auf daß dadurch nicht die Personen/ so damit behafftet/ sondern nur die Unarten/ an und vor sich selbst/ gestraffet würden. Und was ist es wol vor eine Lust/ seinem Nächsten durchzuziehen/ da wirs doch selbst nicht gerne sehen/ daß wir durchgezogen werden? Aber der Leser soll wissen/ daß ich mich von diesem Übel keines Wegs ausgeschlossen habe/ wann ich frey gestehe/ daß ich unter allen der lasterhafteste sey. Oder glaubet vielleicht jemand/ daß ich durch dieses Buch/ ihn/ oder einen andern geärgert? So muß es nur geschehen seyn/ aus einer Ursach/ die demjenigen alleine bewust/ so sich geärgert befunden. Und wer wird endlich unter soviel tausenden allen recht thun können/ das ist so unmöglich/ als man dem Unreinen etwas Reines schreiben kan/ weil sie gleich seyn denen jenigen/ so mit der wassersüchtigen Kranckheit behafftet/ welche auch die beste Speiß und Tranck in Wasser verkehren/ und ihren Untergang von einer solchen Sache nehmen/ die ihnen zur Gesundheit dienen solle« (WN: 109).

370 richteten Lebensläufe zumindest zu Beginn in einem engen Verhältnis zur Vita des Helden, denn sie wiederholen und kommentieren - wie auch die Rahmenhandlung der festlichen Begebenheiten - die primäre Handlungssequenz der ersten zwei Bücher: die Nobilitierung des Helden. So wiederholt sich sofort die Sequenz »alkoholischer Exzeß - Fehlverhalten - Spott«, die bereits auf Ludwigs Fest strukturbildend war, ohne daß sie hier ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht. Es werden, wie in den ersten beiden Büchern eine Reihe von Possen und Streichen berichtet, und bei Gelegenheit wird auch die Frage der standesübergreifenden Liebe berührt: Hiermit fiengen sie alle an zu lachen/ und war ihr Ausspruch/ daß deswegen einer doch ein rechtschaffen Kerl wäre/ ob er gleich sich unterfienge/ eine höhere Standes=Person/ als er ist/ zu lieben/ das wären geringe Possen/ ein Mensch seye ja/ wie der andere/ und grobe Leute hätten auch grobe Affecten/ und dahero geben sie offt mehr Vergnügung/ als mancher grosser Praler/ der sich/ weiß nicht was/ bey der Sache zu thun/ einbildet. (WN: 121)

Dies ist nichts anderes als die rückwirkende Rechtfertigung der Handlungen des Erzählers, und Ludwig sanktioniert diese Handlung zusätzlich, wenn er bemerkt: Wann ich ein Weibesbild wäre/ so wollte ich mich in einen solchen niedrigen Menschen von Hertzen verlieben/ mit ihme heimlich auf und davon wischen/ in der Fremde mich auf ein Ritter=Gut setzen/ und also alle meine Tag in Fried und Freud zubringen. (WN: 121)

Ludwig, der in der Nachfolge Lorentz' der herausragende Scopticus (Spötter) der Gesellschaft ist, demaskiert mit seiner »ideologiekritischen« Analyse die materialistischen Handlungsmotive der Menschen und entwirft eine meritologische Weltanschauung, die alles Äußerliche als akzidentiell kritisiert, wenn es nicht durch Überzeugung und Tat legitimiert wird. Es wird sich zeigen, daß Ludwig die radikale Kritik des Lorentz, die in sich irreligiöse und unmoralische Konsequenzen birgt, ästhetisiert, indem er sie auf das Äquivalenzprinzip von res und verba bezieht, wobei das traditionelle Motiv der Ideologietheorie, der Rückbezug von Theorie auf Praxis, sein leitendes Verfahren darstellt. Allerdings übertreibt Ludwig, dem Charakter des Scopticus entsprechend, oft und agiert als advocatus diaboli. So auch hier, denn Zendorio erlangt den Adel ja eben nicht durch Heirat, und so muß sich Ludwig die Kritik der erfahrenen Frau von Pockan gefallen lassen: Pots tausend [...] das ist eine feine Resolution/ hätten wir doch alle so gethan/ und wären mit Schreibern/ Stallknechten/ Studenten und Schuhknechten davon gelauffen/ darnach möchte ich gern sehen/ wen Monsieur Ludwig wollte geheuratet haben. (WN: 121)

Wie sich später zeigt, ist Ludwig alles andere als ein Gesinnungsliberaler, der die Ständeschranken abschaffen würde, und so zeigt seine Antwort auf die Kritik der Frau von Pockan, worauf es ihm ankommt: Er versucht ohne Unterlaß, den Frauen sexuelle Begierden als Triebfeder ihres Handelns zu

371 unterstellen und bezieht sich im konkreten Fall auf die Affektion, »daß ihr meinet/ alle eure Blicke sollen und müssen/ mit doppelten Wechsel=Brieffen bezahlet werden« (WN: 122). Die oft witzigen Wortspiele, mit denen zumeist Frauen Leidenschaftsverfallenheit und Interesse am Obszönen unterstellt wird, erweisen sich so recht schnell als zentrales ideologisches Motiv, das von sexistischem Ressentiment inspiriert ist. Lynne Tatlock hat auf die Konstitution dieses offenen Sexismus hingewiesen und ihn im Sinne der modernen gercder-Forschung als Moment männerbündnerischer Verfahren gekennzeichnet. 94 Ludwigs »Ideologiekritik« identifiziert das materielle Motiv jeder Handlung, und so ist er von der Harmlosigkeit der Lebensläufe, die die Frauen erzählen, nicht überzeugt, denn er setzt die Affektverfallenheit als anthropologische Konstante. Die Scham der Frauen angesichts der anzüglichen männlichen Erzählungen versteht er als Dissimulation, die auf die grundsätzlich intensivere Leidenschaftlichkeit der Frauen verweist. Indem Ludwig von dem Topos der weiblichen Passionen ausgeht, findet er, dem Gesetz machiavellistischen Zweifels folgend, allenthalben Beweise für seine Unterstellungen. Es ist offenkundig, daß diese sexistische Gedankenfigur nichts über Frauen, aber desto mehr über die männliche Phantasie aussagt. Tatlocks Argumente folgen einem etwas anderen Muster, aber sie lassen sich an die vorgetragenen Beobachtungen anbinden, denn für sie werden die Frauen von einem männerzentrierten Diskurs über moralische Besserung ausgeschlossen: [W]enn die Männer [...] über die Fehler einer der Freunde sprechen, bietet sich die Gelegenheit, diesem eine Lektion zur allgemeinen Belustigung und Belehrung der Gesellschaft zu erteilen. Somit arbeiten die Männer dauernd an der Konstruktion bzw. Regulation einer Gesellschaft, in der fast ausschließlich die Männer zu etwas Besserem erzogen werden sollen. (Tatlock [1994] 234)

Damit werden Frauen von den moralischen Gesprächstherapien ausgeschlossen, und es bleibt den Männern überlassen, die Gruppengespräche zur Identifikationsbildung zu nutzen. Das Interpretationsmuster aus der strukturalistischen Anthropologie und der feministischen gender-Forschung, Männer definierten und verbänden sich über Regularitäten des Austausches und der Zirkulation von Frauen, läßt Tatlock für Beers Roman jedoch nicht gelten. 95 Und wenn sie etwas austauschen, ja: dann sind es ihre Selbstbiographien, nicht Frauen. Es ist schließlich das Sprechen der Männer, das sie aneinander bindet [...]. Wenn die Männer die Frauen überhaupt zur Kenntnis nehmen, verbinden sie sich nicht über Frauen, sondern gegen sie. (Tatlock [1994] 235f.)

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Tatlock (1994). »Von der Zirkulation von Frauen im Rubinschen Sinne scheint der Willenhag-Erzähler nichts wissen zu wollen. [...] Die Beziehungen dieser Männer zueinander entstehen ohne die sozialen Verbindungen und Vorteile, die die Frauen anbieten« (Tatlock [1994] 234f.).

372 Damit werden jedoch die oft sehr elaborierten Codes von konkurrierenden Brautwerbern (Faustus, Barthel) ebenso übergangen wie die zentrale Funktion der adligen Frau als Zentrum männlichen Sexualbegehrens und Ziel diverser Karrierephantasien. D i e Funktion des Männerbundes dagegen sieht Tatlock im Entwurf alternativer Lebensformen einer im wesentlichen bürgerlichen vita contemplativa. So zutreffend die Beobachtung ist, so unbefriedigend sind die fehlenden interpretatorischen Konsequenzen. Zweifellos erzählen sich die männlichen Protagonisten ihre Lebensgeschichten zur gegenseitigen Selbstvergewisserung, aber recht schnell werden sie zu Zuhörern von Erzählungen, die nicht das Leben des begrenzten Kreises der Landadligen repräsentieren. Berns, der in der einzigen Monographie zur Willen/iag-Dilogie Haupt- und Nebenstränge der Romane untersucht, unterstreicht deren bis zur UnUnterscheidbarkeit gehende Gleichartigkeit: Die Einzelereignisse, die in den verschiedenen Erzählschichten und Strängen geboten werden, sind einander sehr ähnlich. [...] Da das Einzelgeschehen in sich selbst sein Genügen hat, ist es - überspitzt gesagt - letzterdings gleichgültig, wer es erlebt hat und wer davon erzählt. (Berns [1965] 44) Diese Gleichartigkeit, die noch näher zu untersuchen ist, nimmt Berns zum Anlaß für wertende Beobachtungen und Kritik: Niemals ist Beer bemüht, die extensive oder intensive Totalität der Welt darzustellen. [...] Willenhag-Beer bietet keine objektiv belangvolle »Geschichte«, sondern eine Chronik ephemerer Geschichten und Geschichtchen. (Berns [1965] 108,121)96 Dagegen wendet Gurtner ein, die Wiederholungsstruktur spiegele die spezifische Mündlichkeit der Erzählsituationen, die vom Autor als Rezeptionsmodell intendiert sei. 97 Beide gehen von der grundsätzlichen Gleichartigkeit der Erzählungen aus, die sie als austauschbar ansehen. Eine nähere Analyse der Bücher III bis VI nach dem Abschluß der Kernerzählung um Zendorio wird

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»Da alle Menschen der Willenhag-Welt in gleicher Weise handeln und leiden, sprechen und fühlen, werden sie unversehens einander ähnlich. Weil die WillenhagMenschen, der übergeordnete Erzähler eingeschlossen, niemals wirklich ernsthaft werden, weil diese Vordergründigkeit von ihnen selbst niemals als beklemmend empfunden wird, weil die gleichen Motive in unzähligen Geschichten sich wiederholen, ohne daß doch der Willenhag-Erzähler es bemerkt, weil durch diese ständige Wiederkehr des Gleichen die Welt so flach bleibt, daß außer den Streichen und lärmenden Festen ein tieferer Raum sich nicht erschließen läßt - aus allen diesen Gründen läßt sich Beers Art der Welterfassung nicht als >Realismus< bezeichnen, selbst wenn man Alewyns Kriterien gelten läßt« (Berns [1965] 110). Kuno Gurtner: »Ich hab ein Korb voll Obst beisammen«. Studien zur Poetik der Romane Johann Beers. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. [u. a.] 1993 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 16), S. 43-78. In ähnlicher Richtung argumentiert auch der Aufsatz von Emanuel Peter: Verhaltensethik und Erzählgeselligkeit in Johann Beers »Teutschen Winter=Nächten«. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. Bd. 2. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 28), S. 781-791.

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gewisse Regularitäten erweisen, die allerdings immer in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Position im Erzählganzen betrachtet werden müssen. Beers Erzähler, so hatten wir geschlossen, etabliert nach dem zweiten Buch ein Schema schrittweisen Erzählens, das Spannungsbögen nur über jeweils zwei Bücher konstruiert und in den Zwischenbemerkungen an den jeweiligen Buchgrenzen Hinweise auf den Zeitpunkt der Niederschrift gibt. Diesen Erzählblöcken (Buch I/II, III/IV, V/VI) sind jeweils Lebenslauferzählungen als Nukleus eingelegt, die gegen Ende der Winternächte eine gewisse Schematisierung erfahren; Buch III: Caspars falscher Lebenslauf98 und der Beginn von Ludwigs Leben, Buch IV: Ende von Ludwigs Leben, Buch V: Ergasto und Buch VI: Jost. In gewissen Strukturpositionen ähneln sich diese Lebensberichte; grundsätzlich jedoch sind sie Schemata, die aus früheren Arbeiten Beers bekannt sind. Der primäre Erzähler Zendorio folgt dem Nobilitierungsschema, das in Buch V von Ergasto wiederholt wird. Eine erneute Wiederholung findet am Ende der Sommer-Täge statt, wenn Krachwedel sich als Bruder des Erzählers erweist. Die Geschichte des Seiltänzers (Buch III), von Caspar erzählt, präsentiert die traditionelle Präzeptor-Satire (zuweilen auch als Kantor-Satire), während Ludwig (Buch III/IV) die Biographie des Scopticus mit seinen paradoxen und brillanten Wendungen etabliert. Josts Lebensgeschichte ist die ausführlichere Fassung der biographischen Skizze des Lebens des Erzählers im Narrenspital. Seine pikarische Existenz als »Diener vieler Herren« (hier des »Geizigen«, Gispan, und des kriminellen Adligen, Pongratz) teilt er mit Ergasto (Buch V), der allerdings weitgehend nur als Bindeglied zwischen der Ludwig-Handlung, der Isidoro-Handlung und der Veronia-Handlung fungiert. Das Erzählschema, das all diesen Lebensberichten wie ein Generalbaß unterliegt, ist der Dreischritt von Possenhandlung, sexueller Verführung und moralischem Kommentar. Mit diesem letzten Punkt durchbricht der Erzähler jedoch die narrative Struktur selbstkommentierender Erzählungen, die für die ersten Bücher unverzichtbar war, und in das nunmehr funktionslose Vakuum passagenweisen Erzählens (Niederschrift nach jeweils zwei Büchern) tritt nun deren inhaltliche Übersetzung ein: die Gemeinschaft der Erzähler und Zuhörer. Vor der Analyse dieser Konsozietät sollen die spezifischen Auffüllungen des Erzählschemas kurz analysiert werden. Der von Caspar erzählte Lebenslauf des Seiltänzers (Studenten) berichtet zunächst eine Anzahl von Schülerpossen im Rahmen der Präzeptor-Satire (WN: 127-135), die schließlich schon auf das Motiv der sexuellen Verfüh-

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Caspar präsentiert einen Lebenslauf aus zweiter Hand, sein eigenes Leben wird nicht zum Gegenstand. Am Ende des fünften Buches erscheint der Student, dessen Leben Caspar berichtet, und er erzählt seine Geschichte bis zum Handlungszeitpunkt.

374 rung vorausweist, das im zweiten Handlungsabschnitt ( W N : 136-143) dominant wird. Die Sequenz wird von der summarischen Moralisation der Kommentatorfigur, Frau von Pockau, abgeschlossen. Ihr Resümee, gezwungene Liebe sei so unsinnig wie blinde Liebe, zielt auf eine konsensfähige Formulierung, die dennoch immer wieder von Ludwig spöttisch kritisiert wird. Die vom Irländer parallel vorgetragenen Erzählungen (von C. H. Zweydig und P. Celsus, WN: 146-152) dienen zur Illustration eben dieser Moralisation und führen erstmals zu einem ernsten Konversationsthema, das im Sinne der Gesprächsspiele im Anschluß abgehandelt wird (WN: 154-156). Offenkundig bricht der Autor mit der vorangehenden Erzählkonstruktion, indem er nun breite Kommentare einlegt. Die darauf folgende Lebensgeschichte Ludwigs ist unter den sekundären Viten die bedeutendste, sie findet nur in derjenigen Josts ihre Entsprechung. Ludwigs Possenhandlung zeigt deutlich am Beispiel des Zorns die Verbindung von inventiösen Jugendstreichen aus Leidenschaftsverfallenheit und immer weiter fortschreitender Lasterhaftigkeit: Wird der übermütig-gefährdete Jugendliche zunächst noch zum Verhinderer von allerlei Arten von »Hurerei« (WN: 170f.), so unterliegt er kurze Zeit später selbst dieser Sünde. Der Erzähler unterbricht jedoch diese Sequenz, um einer ersten gemeinschaftlichen Moralisation durch die anwesenden Frauen (Anna, Kunigunda und Frau von Pockau) Raum zu geben (WN: 173f.). Bei dieser Gelegenheit unterstreicht die Hauptkommentatorin, daß aus jeder Erzählung etwas Nützliches gelernt werden könne und zitiert zu diesem Zweck eine Begebenheit aus ihrem eigenen Leben, die von einer Parallelerzählung des Irländers begleitet wird. Ludwigs zweite Handlungssequenz setzt das Schema Posse sexuelle Verführung erneut an, wenn er wiederum von Schülerstreichen und immer weiter fortschreitender Liederlichkeit berichtet, die ihn mit den niedrigsten Schichten in Verbindung bringt." Seiner »Hurerei« und dem völligen Abgleiten in ein lasterhaftes Leben entgeht er schließlich nur durch eine plötzliche Erkrankung, die die Erzählung unvermittelt und abrupt beendet, um einige der bekannten grotesken Unsinnspassagen (Fieberträume) anzuhängen. Es scheint, als ob der Autor, wie früher schon, die Psychologie dieser Art von Protagonist (Scopticus) nicht zur Bekehrung nutzen kann. Ludwigs Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit bleibt rein formal, eine situative Schilderung des Umschlags von lasterhaftem Leben in Abscheu vor dem Laster wird nicht gegeben. Die anschließende Moralisation durch den Irländer fällt recht schulmäßig als fortlaufender Kommentar zur zusammengefaßten Handlung aus (WN: 195-198). Offensichtlich ist aber der Lebenslaufbericht Ludwigs auf seine ganz spezifische »Philosophie« zugeschnitten, die sich als skeptisch-spöttische »Ideologiekritik« und Rhetorikkritik zu erkennen gibt. Ludwigs Umkehr ist der Anschauung des Lasters (vor allem der »Hurerei«) 99

Siehe WN: 183f.

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zu danken, und daher ist es nur konsequent, wenn er nach überstandener Krankheit als Student einen tugendhaften Lebenswandel führt und die vormals lebendige Anschauung ohne Kommentar mit der literarischen Repräsentation der Laster im satirischen Roman mit rezeptionsleitenden Moralisationen ergänzt. Die Satyrischen Schrifften und andere Romanen gaben mir in allen Sachen das beste Liecht/ und ich achtete sie zu dem menschlichen Leben viel tauglicher und nothwendiger/ als die Logic und alle andere definitionen/ weil ich gesehen/ daß die Gelehrten viel uneiniger untereinander waren/ als die Satyri/ welche einer wie der andere kein Laster vor gut geschätzet/ sondern eines/ wie das andere/ durch gleiche Hächel gezogen/ entgegen die Tugenden mit gleichgültigem Lobe beehret haben. Auf dieser Universität entäusserte ich mich vor dem vorigen Wandel/ aber die Warheit zu bekennen/ so wolte ich doch immer gern wieder auf der vorigen Schule seyn/ und ich halte/ es sey allen jungen Studenten nicht ein Haar anders/ als mir dazumal gewesen/ indeme entweder die Gewonheit der vorigen/ oder aber die Ungewonheit der gegenwärtigen Gesellschaft daran Schuld und Ursach ist. [...] Ich sähe beynebenst gleichsam/ als auf einem Theatro/ wie es die Welt zu treiben pfleget/ und fände es nicht anders in dem Wercke/ als es mir der Buchstabe gewiesen/ dadurch ward ich schon ein halber Politicus/ dann es begegneten mir viel Sachen/ welche andern in dem Buche begegnet/ und ich wickelte mich eben durch diesen Vortheil heraus/ durch welchen sie sich vorsichtig loß gemachet. (WW: 200)

Auch hier erweist sich das Schema Possenhandlung - sexuelle Verführung Kommentar als strukturbildend; Ludwigs Metanoia zeigt sich dabei gleichzeitig als Grundlage einer poetologischen Argumentation, die auf die moralische Dignität der satirischen Schriften zugeschnitten ist und auf die schon der frühere Hinweis der Frau von Pockau hindeutet. Dagegen ist der nur selten szenisch erzählte Lebenslauf des Jägers Ergasto nur wenig ertragreich: Als Findling dient er bei Ludwigs Eltern und nimmt an dessen Jugendstreichen teil (Possenhandlung), später gerät er auf Veronias Schloß und wird Zeuge ihrer »Hurerei«, wobei er sich als der Jäger erweist, der Zendorio befreit. Das allgemeine Schema findet sich auch hier, aber seine moralische Bewußtwerdung spielt keine große Rolle. 100 Die anschließende Moralisation durch Zendorio (WN: 243-245) befaßt sich dann auch nicht mit Ergastos Seelenheil, sondern diskutiert den Charakter und die Gestalt Veronias. Ergastos Lebenslauf darf als rein funktionales Bindeglied zur folgenden Gruppenidentität aufgefaßt werden, denn er verbindet die Ludwig-Sequenz mit der Isidoro-Sequenz und der Geschichte des Erzählers. Mit der Ausnahme Ludwigs verbinden sich dann alle Protagonisten über Veronia als Bindeglied;

100

»Dazumal ware ich in denen Begierden fast ersoffen/ und klagte über nichts mehr/ als das grosse Unglück/ welches mich/ wider Verhoffen/ auf diesen beyden Schlössern in die Fessel bekommen; aber was sage ich Unglück/ ich sollte mich vielmehr über mein grosses Glück erfreuet/ und dem Himmel gedancket haben/ daß er mir durch seine gnädige Hand diese Gelegenheit abgeschnitten/ in einen rechten Pfui der erschröcklichen Unreinigkeit zu fallen/ aus welchem sich der tausende nicht heraus zu wickeln weiß« (WN: 236).

376 nicht in dem Sinne der »zirkulierenden« Frau, sondern als gemeinsame Erfahrung. Hier liegt offenbar der Grund der Gemeinschaft, die sich kurz darauf als »Orden der Vertrauten« konstituiert: Dies ist eine Gesellschaft all derjenigen, die mit Veronia in Kontakt gekommen sind und deren Erfahrungen mit der »Hurerei« das Credo der Gruppe bestimmen. Dessen drastische Konsequenzen deutet Zendorio ganz unverstellt an: Wegen der Gräfin hab ich selbst Mitleiden/ und mein Rath wäre dieses/ will der Graff der Plage überhoben seyn/ so solte er die Frau über den Hauffen brennen. Es ist gleichwohl eine Frage: ob die Schleifte/ oder der Has daran schuldig seye/ daß er gefangen werde? Wann ich also frage/ so ist die Schleiffe daran schuldig. Frage ich aber: ist die Schleiffe oder der Has daran schuldig/ daß er sich fängt/ so ist der Has daran schuldig. Also hat es eine Beschaffenheit mit eurer Veronia. Etliche werden von ihr gefangen/ und etliche fangen sich selbsten. Sie ist die Schleiffe/ die Hurer sind die Hasen/ also ist weder sie/ noch die Hurer/ aus der Schuld/ sondern gehören beyde zusammen in eine Schul. Aber wann ich ihr Herr wäre/ so wollte ich die Schleiffe aus dem Weg räumen/ auf daß sie weder fangen/ noch gefangen werden könnte. Die Gelegenheit macht den Dieb/ und eine Ehebrecherin ist zeitig genug/ von dem Lebens=Baum abgeschnitten zu werden/ denn sie erstickt nur andre gute Früchte/ welche beydes von ihrer Leichtfertigkeit geniessen und hören. Wehe dem jenigen/ durch welchen Ergerniß kommt! Unter diesem Spruch werden verstanden allerley Gräuel beydes Geschlechts/ was sie so wol an ihrem eigenen Fleische/ als auch in andern Sachen/ als mit Ketzerey/ Zwispalt und dergleichen/ sündigen. Ich habe von der Veronia viel mehr gehört/ als ihr mir erzehlet/ und woher ich um die Gräfin weiß/ werdet ihr von Isidoro sattsam berichtet werden. (WN: 244) Nichts weniger als der Tod droht den »Huren«, und es bedarf im Falle Ludwigs nicht mehr der Begegnung mit Veronia, denn auch er hat sich als prominenter »Hurenhasser« erwiesen. Diese Haltung, die er bereits in seiner Jugend durch die lebendige Anschauung des Lasters entwickelt hat, bestätigt er erneut in der jüngeren Erzählgegenwart »etwan vor 5. Wochen« (WN: 189), als er auf seine vergangene Liebhaberin trifft, die Spuren ihres Lasters zeigt und den Erzähler anbettelt. Ludwig erkennt in ihr die sprichwörtliche Hure, die »bella Catharina« seiner Jugend, die seinem Ansinnen allerdings eine recht realistische Antwort erteilt. 101 Nichtsdestoweniger dämonisiert er sie in seiner drastischen Moralisation: 101

»Pfuy Teuffei/ gedachte ich bey mir/ was habe ich gethan? >Bist du die Catharina?< >Jaich bins selbstenpacke dich weg/ von meinem Angesichtoder/ ich stosse dich mit einem Beine/ daß du über gegenwärtigen Berg hinunter gauckelst/ du Teuflische SchandeHure/ du hast mich in meiner Jugend zu allerley Unreinigkeiten verleitet/ und Anlaß gegeben/ daß ich meine bevorstehende Glückseeligkeit in dem Studieren versäumet habe.< >0/ mein Herr Ludwigihr seyd dazumal selbst schon klug gewesen/ daß ihr gewust/ was zu eurem Aufnehmen gut sey/ habe ich euch nicht viel hundert mal gebetten/ ihr sollt in die Schule davor gehen/ eure Priceptinger würden böse werden/ und was dergleichen Zeuges mehr war/ aber/ habt ihrs gethan? Habt ihr gefolget/ oder habt ihr mich zu frieden gelassen? Ol warlich nicht/ je mehr ich mich gewehret/ je besser habt ihr an mich gesetzet/ und I ich konnte in der Nacht niemalen Bier/ oder andere Sachen/ ins Hauß holen/ so seyd ihr mir schon heimlich auf dem Fuß nachgeschlichen. Ihr

377 Sie könnten sich einbilden/ wie ich mich in dem Hertzen müsse geschämt haben/ und/ damit sie nur aus meinen Augen käme/ gäbe ich ihr einen Groschen/ und/ wann es nicht auf offener Strasse gewesen/ hätte ich mir selbst eine Ohrfeige geben mögen/ so sehr verdrösse michs/ auf mich selbst/ daß ich so unvorsichtig gehandelt/ und mich an diese Hexe gehangen hatte/ ja hernachmahls wurde ich/ etwan 6. Tage darnach/ berichtet/ daß sie gerichtlich/ wegen Zauberey/ eingezogen worden/ allwo man sie auch jüngst verbrandt hat. Wann es die Zeit leiden wollte/ könnte ich noch andere Exempel anführen/ in was grosses Unglück/ und in welch schröckliche Laster ich/ auf eine solche Art/ gefallen; aber/ ich bin versichert/ daß ihr ohne dem wol wissen werdet/ wie es in dergleichen Begebenheiten zuzugehen pfleget/ darüber man hernachmals die Hände über denen Köpffen zusammen schlagen möchte. (WN: 190) Der Erzähler spiegelt diese Begegnung, die erst in der jüngsten Vergangenheit stattgefunden hat, in seine Jugenderlebnisse, indem er den Erzählfaden mit der irreführenden Zeitbestimmung »dazumal« wieder aufnimmt und von seiner Fieberkrankheit berichtet, die so zum Resultat einer tatsächlich erst viel später stattgefundenen Begebenheit erklärt wird, wodurch ein weiterer, fiktiver Grund für seine Metanoia erscheint. 102 Nach der Lebensgeschichte Ergastos und der Konstituierung der adligen Erzählgesellschaft des »Ordens der Vertrauten« präsentiert der Erzähler im fünften Buch nur noch relativ unverbundene Handlungspartikel: Leben und Tod von Ludwigs Schwester, Fluchen und Kampf zweier Mägde, ein fluchender Schreiber, seine groteske Leichenrede, die Hochzeit Caspars und Kunigundes mit den obligaten Possen und die Vollendung des Lebensberichts des Seiltänzers aus dem dritten Buch. Der Erzähler berichtet ohne Zusammenhang Unwichtiges und Beiläufiges, fällt zurück in bekannte Erzählschemata (groteske Elemente, Prügelszenen) und bringt das Buch schließlich mit dem Abschluß einer tertiären Lebensgeschichte zum Ende. Diese Entwicklung ist nun um so enttäuschender, als mit dem »Orden der Vertrauten« ein Rahmen für eine Sequenz von Erzählungen geschaffen wurde, der offenkundig nicht genutzt wird, denn die wichtige Lebensgeschichte Josts im sechsten Buch wird ausschließlich dem Zendorio erzählt. Auch hier findet sich das Strukturmuster von Possenhandlung und sexueller Verführung, das der Erzähler vor dem moralisierenden Kommentar ( WN: 309f.) wiederholt. Die Possen fallen in der eindeutig pikarischen Erzählervita recht drastisch aus, der sprichwörtliche Geizige wird grausam verprügelt und bestohlen, während in der Wiederholung der Possensequenz eine Reihe von Lebenssta-

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habt keine eintzige Gelegenheit versäumet/ mich zu hintergehen/ und anitzo gereuet es euch/ daß ihr mit mir umgegangen? Ach! daß euch ja der Teuffei geholt hätte/ ehe ich euch zu sehen bekommen/ dann/ ihr seyd an meinem gantzen Verderb die Ursach/ schenckt mir doch nur einen Kreutzer/ daß ich meinen Bettel=Weg weiter fort gehen kannVerba internaDie kurzweiligen Sommer=Täge< und die Tradition des Pikaresken Romans. Eine vergleichende Analyse. In: New German Review 12 (1996/97), S. 54-76. Ellert, Hildegart: Essen und Politik in Johann Beers Der politische Bratenwender. In: Simpliciana 13 (1991), S. 157-176. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a.M., Bern 31976/1977 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 158/159). Erlhoff, Hans-Peter: Groteske Satire und simplicianische Leidenschaft. Eine Untersuchung zur Literaturtheorie des 16. und 17. Jahrhunderts. Frankfurt a.M., Bern 1988 (Europäische Hochschulschriften 1,1028). Fechner, Jörg-Ulrich: Ein problematischer Einfluß. Antonio de Eslavas >Noches de invierno< (1609) und Johann Beer >Teutsche Winternächte< (1682). In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. 2. Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 28.-31. Aug. 1976. Vorträge und Kurzreferate hg. v. Martin Bircher und Eberhard Mannack. Hamburg 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur, 3), S. 213-214. - Übersetzung, Nachahmung und problematischer Einfluß. Eine komparatistische Fragestellung am Beispiel Antonio de Eslavas Noches de invierno, Matthäus Drummers von Pabenbach Winter-Nächte und Johann Beers Teutsche Winternächte. In: Argenis 2 (1978), S. 73-94. - Drei Stufen deutscher Schelme. Zu Beer - Reuter - Schnabel. Mit einigen allgemeinen Überlegungen zur Gattung des Schelmenromans. In: II Picaro Nella Cultura Europea. Hg. ν. Italo Michele Battafarano u. Pietro Taravacci. Gardolo di Trento 1989, S. 291-318. Fétis, François Joseph: Baehr (Jean), ou Beer, ou Baer: In: Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique. Bd. 1. Paris 121860, S. 215. Fink, Gonthier-Louis: L'ermite dans la littérature allemande. In: Etudes Germaniques 18 (1963), S. 167-199. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 184).

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