Rezeptive Kunsttherapie: Das künstlerische Bild im Leidenszusammenhang des Patienten 9783495999318, 9783495999301

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Rezeptive Kunsttherapie: Das künstlerische Bild im Leidenszusammenhang des Patienten
 9783495999318, 9783495999301

Table of contents :
Cover
Einführung: Einblicke in die Landschaften des sinnlichen Lebens
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Vor einem – in einem Bild. Einführung in die rezeptive Kunsttherapie
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Die subjektive Seite der Kunst
2 Die Bedeutung und Bilder
3 Das große Kunsterlebnis
4 Die Sammlung bedeutender Kunsterlebnisse
5 Wann kann es zu bedeutenden Kunsterlebnissen kommen?
5.1 Inhaltliche Kunst-Mensch-Bezüge
5.2 Das assoziative Umfeld des Museumsbesuchs
6 Kunsterlebnis und Kultur
Fazit
Interkulturelle Raumschaffung: Die Schaffung eines symbolischen Territoriums und seine ethisch-ästhetischen kartografischen Darstellungen als visuelle Erinnerung an die Zugehörigkeitsprozesse in der Metropole Lima
Einleitung
Hauptteil
»De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso« (Von Reducto 2 zur Portada de Maravillas. Auf dem Weg zur Ruhe)
»Nuestra ruta de 50 años« (Unsere Route der 50 Jahre)
Das Gruppenprojekt CO[HABITAR]
Schlussfolgerung
Einloggen und andocken
Die Linie des Lebens: Hundertwassers Spiralbewegungen
Hundertwasser in Bremen
Kunstwirkung
Spiralsymbol und Psychodynamik
Induktion
Nachgespräch
Der eigene Augenschein ist es, mit dem alles beginnt. Ein KunstGespräch mit essgestörten Frauen zu dem Video »Haare schneiden« von Rebecca Horn
I. Das kann einem keiner sagen, das muss man selber rausholen
II. Zwei Arten der Annäherung an ein Kunstwerk und ein Dilemma
III. Vorbilder und Grundlagen
Die protokollierten Bayer-Gespräche von Max Imdahl
Sehen Sie selbst – ein museumspädagogischer Ansatz
Der kunsttherapeutische Fokus
a. Die Therapeutin als Gefühlssouffleuse
b. Der eigene Augenschein ist es, mit dem alles beginnt
IV. Die KunstGespräche in der Praxis
Die Rahmenbedingungen
Das Setting
V. Zur Methode der Wiedergabe eines Gesprächs
Authentische, überarbeitete Tonbandprotokolle
Plädoyer für eine ›kunstbasierte Kunsttherapie‹
Praxisteil: Das Video »Haare schneiden« von Rebecca Horn, 1972, 5:27 min
1. Die Beschreibung des Videos
2. Das Gespräch zum Video
Kunst als Transformationsraum: Die rezeptive Kraft der Bilder von Katja MacLeod Kessin
Das künstlerische Werk von Katja MacLeod Kessin (1959–2006)
Bilder als sichtbar gemachte Atmosphären
Das Bild als ästhetischer Raum (Abb. 42)
Das Bild als Empfangsraum (Abb. 43)
Das Bild als Begegnungsraum (Abb. 44)
Das Bild als Zeitraum (Abb. 45)
Das Bild als Resonanzraum (Abb. 46)
Kunst als Transformationsraum
Schaulust – vom Voyeurismus zum Cybermobbing
Visuelles und neue Medien
Was wird gezeigt?
›My body is not your porn‹
Penetrierender Blick – Der Voyeur als Kontrolleur
Cybermobbing
Susanna und die beiden Älteren – Lovis Corinth »Susanna im Bade« von 1890
Susanna in Zeiten des Internets – zwei Fallgeschichten
Fallgeschichte Hanna
Fallgeschichte David
Zusammenfassung
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Kultur – Kunst – Therapie Ideengeschichte und Praxis

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Georg Franzen | Karl-Heinz Menzen [Hrsg.]

Rezeptive Kunsttherapie Das künstlerische Bild im Leidenszusammenhang des Patienten

https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

Kultur – Kunst – Therapie Ideengeschichte und Praxis

Herausgegeben von Karl-Heinz Menzen Ruth Hampe Georg Franzen

Band 5

https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

Georg Franzen | Karl-Heinz Menzen [Hrsg.]

Rezeptive Kunsttherapie Das künstlerische Bild im Leidenszusammenhang des Patienten

https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

© Titelbild: Farbenkreis, aquarellierte Federzeichnung von Goethe, 1809

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99930-1 (Print) ISBN 978-3-495-99931-8 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

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Vorwort

Im Fokus der kunsttherapeutisch-klinischen Praxis und Forschung steht für uns die Frage, wie das künstlerische Bild im Leidenszu­ sammenhang des Patienten wirkt. Aus diesem Anlass luden wir Expert*innen aus den kunsttherapeutischen Anwendungsfeldern zu einem Symposium an die Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin ein. Die Tagung lenkte den Blick aller beteiligten Interessierten, der Patient*innen, der bildtherapeutisch Tätigen einschließlich der professionellen Rehabilitationsbegleiter*innen auf den wesentlichen Akt der rehabilitativen Einflussnahme: Warum und wozu hat sich d* Therapeut*in für die jeweilige Bild-Vorlage entschieden, warum das Bild-Thema, das ausgestellte Bild-Exponat ausgewählt? Was hat ihn*sie dazu bewegt? Was war sein*ihr Motiv, zu dieser Bild-Inter­ vention zu greifen? Und was erfährt, erlebt er*sie im Verlauf dieses interventionistischen Aktes? Wie und warum reagiert d* Patient*in? Welche Zuschreibungs- und Identifikationsprozesse werden in den Patient*innen angestoßen? Welche Übertragungs- und Gegenüber­ tragungsprozesse werden initiiert? Und welche Möglichkeiten haben Bild- und Kunsttherapeut*innen, auf diese einzugehen? Im Vordergrund des kunsttherapeutischen Vorgehens steht das, was Peter Rech im Jahr 1994 mit dem Wort »ikonographisch« bezeich­ nete. Mit ihm suchte er auszudrücken, dass dem künstlerischen Werk und dessen symbolischem Bildinhalt eine eigenständige therapeuti­ sche Ressource zukomme. Er wies uns darauf hin, dass dieser Res­ source Heilkräfte eigen sind, dass aus ihr homöopathische Wirkkräfte erwachsen können, die einen heilenden Prozess einzuleiten vermö­ gen. Die Erfahrung der letzten 35 Jahre in diesem Fach zeigt, wie in der Arbeit mit den künstlerischen Produkten eine Form der indi­ rekten Kommunikation angeregt wird, in der über den emotional hoch besetzten bildnerisch-symbolischen Ausdruck in der Auseinan­ dersetzung nicht nur eine Veränderung auf der Symbol‑, sondern auch auf der Gefühlsebene stattfindet. Was sich psychisch-energetisch in diesem kunsttherapeutischen Rezeptionsvorgang vollzieht, lässt

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im Endeffekt bewusst werden, was ansonsten unbewusst und dem therapeutischen Vorgang nicht verfügbar bliebe. Die praktisch-kunsttherapeutisch arbeitenden Expert*innen führten auf der Berliner Tagung anhand der Patient*innen-Bilder in die initiierten Bildprozesse ein. Hier wurde gezeigt, wie und an welchen Stellen in diesen Bild-Verarbeitungsverläufen die üblichen Algorithmen der Wahrnehmung außer Kraft gesetzt oder aber umge­ leitet werden. Es wurden neurologische Einführungen in den wahr­ nehmenden und bearbeitenden Bild-Entstehungsprozess gegeben, um das Verständnis für die Bild-Inblicknahme der Patient*innen zu schärfen. Aber auch kunsthistorisch-analytische Überblicke wurden vorgestellt, um den ›hand-werklichen‹ Umgang mit den Bildern zu verstehen. Schließlich wurden Bild-Interventionen anhand prakti­ scher Beispielen vorgestellt. Der vorliegende Tagungsband richtete sich an die Patient*innen, Therapeut*innen und klinische wie inklusionäre Begleiter*innen in diesen Prozessen. Georg Franzen, Karl-Heinz Menzen

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

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Karl-Heinz Menzen Einführung: Einblicke in die Landschaften des sinnlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl-Heinz Menzen Vor einem – in einem Bild. Einführung in die rezeptive Kunsttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Schuster Die subjektive Seite der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Karla Villavicencio Monti Interkulturelle Raumschaffung: Die Schaffung eines symbolischen Territoriums und seine ethisch-ästhetischen kartografischen Darstellungen als visuelle Erinnerung an die Zugehörigkeitsprozesse in der Metropole Lima . . . . . . .

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Andreas Mayer-Brennenstuhl Einloggen und andocken . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Franzen Die Linie des Lebens: Hundertwassers Spiralbewegungen

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Karolina Sarbia Der eigene Augenschein ist es, mit dem alles beginntEin KunstGespräch mit essgestörten Frauen zu dem Video »Haare schneiden« von Rebecca Horn . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

Inhaltsverzeichnis

Alexandra Daszkowski Kunst als Transformationsraum: Die rezeptive Kraft der Bilder von Katja MacLeod Kessin . . . . . . . . . . . . . .

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Barbara Laimböck Schaulust – vom Voyeurismus zum Cybermobbing . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495999318 .

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Paul Gauguin: Vision nach einer Predigt. Der Kampf Jacobs mit dem Engel (1888); National Gallery of Scotland (Edinburgh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 2: Wandzeichnung aus der Höhle ›Les trois frères‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 3: Ausschnitt des Gekreuzigten (Grünewald) . . .

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Abbildung 4: Jesus, der Gott-Mensch nach der Kreuzabnahme. Szene aus dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (um 1514) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 5: Patientin Benedettis . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 6: Bild der Patientin Benedettis . . . . . . . . . .

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Abbildung 7: ›Die Welt hat sie ausgespuckt‹ . . . . . . . . .

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Abbildung 8: Die mythische Gestalt des Therapeuten . . . .

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Abbildung 9: Zeichnung Antonin Artauds, vgl. Thévenin 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 10: Zeichnung der Bildvorstellung bei einer Literaturstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 11: Martin Schuster, Erinnerung an ein Spielzeug U-Boot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 12: J. Cleas (1932), o. T. . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 13: »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«. Acrylplatte, Druck auf Zeichenpapier, technisches Papier, Zeichentisch und Holzbank. Unterschiedliche Maße (Details). Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 20. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 14: »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«. Acrylplatte, Druck auf Zeichenpapier, technisches Papier, Zeichentisch und Holzbank. Unterschiedliche Maße. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 20. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 15: Transparenz 1. Karte, die auf den Erinnerungen von Cecilia basiert. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 21. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 16: Transparenz 2. Karte mit den Divisionen der Schlacht von Reducto. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 23. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 17: Transparenz 3. Karte der Bezirke Miraflores, Chorrillos und Barranco. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 25. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 18: Transparenz 4. Stadtplan von Lima mit den Hinweisen auf die alte Zugstrecke. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 27. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 19: Karte für Leute über 50 (Detail). Kollage, digitaler Druck und Laserschnitt 172 cm x 244 cm. Quelle und Anfertigung: Macha 2017, S. 47. . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 20: Karte für Leute über 50. Kollage, digitaler Druck und Laserschnitt 172 cm x 244 cm. Quelle und Anfertigung: Macha 2017, S. 47. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 21: Einzelpräsentation für den Kurs »Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums«. Quelle und Anfertigung: Cogorno 2016‑2. . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 22: Einzelpräsentation für den Kurs »Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums«. Quelle und Anfertigung: Cogorno 2016‑2. . . . . . . . . . .

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Abbildung 23: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 19. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 24: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 35. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 25: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 40. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 26: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 46. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 27: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 55–56. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 28: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 57–58. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 29: Die kunsttherapeutische Triade . . . . . . . .

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Abbildung 30: Inferno Canto . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 39: Rebecca Horn – Haare schneiden 1 . . . . . .

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Abbildung 40: Rebecca Horn – Haare schneiden 2 . . . . . .

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Abbildung 41: Rebecca Horn – Haare schneiden 3 . . . . . .

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Abbildung 42: MacLeod Kessin: Ruf niemals Wolf! / Never cry wolf! 1987. Serie: Carnivoren / Carnivores. 109 x 127, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland . . . . . . . . . .

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Abbildung 43: MacLeod Kessin: Erntedank / Hoe down. 1995. Serie: Stillleben – Noch am Leben / Still alives. 71 x 99, Acryl auf Leinwand u. Objekt (Spielfigur aus Plastik). Foto: Paul Litherland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 44: MacLeod Kessin: Den Toten eine Stimme geben / To lend the dead a voice.1988. Serie: Tapu. 147 x 122, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland . . . . . . . . . .

154

Abbildung 45: MacLeod Kessin: Erbe … und ich entschied, Künstlerin zu werden / Inheritance … and I decided to become an artist. 1996. Serie: Stillleben – Noch am Leben / Still alives. 71 x 99, Acryl auf Leinwand u. 4 Tischbeine aus Holz (auf Abb. nicht sichtbar). Foto: Paul Litherland . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 46: MacLeod Kessin: Der lieben Mutti / To dear mother. 1992. Serie: Leicht altarierte Erinnerungen / Memories slightly altared.122 x 152, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 47: Rembrandt van Rijn (1631): Pinkelnde Bauersfrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 48: Lovis Corinth (1890): Susanna im Bade . . .

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Abbildung 49: Zeichnung (Patientin mit Pseudonym Hanna)

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 50: Überarbeitete Zeichnung (Patientin mit Pseudonym Hanna) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 51: Zeichnung (Student mit Pseudonym David) .

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Abbildung 52: Überarbeitete Zeichnung (Student mit Pseudonym David) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl-Heinz Menzen

Einführung: Einblicke in die Landschaften des sinnlichen Lebens

1 Ein Bus rumpelt über die Küstenstraße und fährt in die Vorstadt ein. Quietschend öffnen sich die Türen und herein strömen sie, die Ver­ käufer von Getränken, kleinen Snacks und Süßigkeiten. Ein Gemisch von Anpreisungen, das Hupen vorbeifahrender Autos schallt durch die offene Tür herein. Das überquellende, aus allen Fugen zu gera­ ten scheinende Leben des marginalisierten Stadtrandes dringt in Augen und Ohren ein und sprengt alle Vorstellungen, die sich die Kunststudierenden in ihrer Projektvorbereitung gemacht haben. Eine Kartographie des Lebens dieser Vorstadt soll es akustisch und gra­ phisch werden, ähnlich wie es die Landart-Künstler Richard Long oder der Fotograf Jeff Wall vorgemacht haben: Wall war den Spuren, den Trampelpfaden der illegal einreisenden Migranten mit seiner Kamera nachgegangen. Die südamerikanischen Studierenden hier in Lima entwerfen die kartographisch-unbekannten Landkarten, zeich­ nen nach, schraffieren die Territorialräume, die sich ihnen eröffnen. Manche von ihnen erfahren erst da, erinnert, nachgezeichnet vor Augen, mit wie viel Blut diese ihre sozialen Stadtrandlagen in Koloni­ alzeiten markiert worden sind (vgl. den Beitrag von K. Villavicencio). Die Wahrnehmung verlässt ihre jahrhundertelang bekannten Räume.

2 Den »Linien des Lebens« (Friedrich Hundertwasser) sind auch die Berliner Studierenden auf der Spur. Sie stehen in großen Leitern an den Wänden des Hannoveraner Museums und verlängern die breit­ bandig und parallel verlaufenden, farbig kontrastierenden Linien, die

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Karl-Heinz Menzen

gegen ihre bloße passive Rezeption Meter um Meter an den Wänden gemalt vordringen – ganz so, als ob sie sich gegen ihre »schöpferi­ sche Verschimmelung« (so Hundertwasser) organisch immer weiter wachsend zu wehren hätten. Das Kunstwerk will den die Blicke verstellenden, bislang blockierten Impulsen geradezu davonlaufen, will – sich an den Wänden weiterschlängelnd – Raum schaffen, Perspektiven erweitern, mittels der symbolisch-vitalen Formen ent­ gegen den vorschnellen Eindeutigkeiten die rezeptorische Leistung der Sinne befreien, auch deren Ressourcen freisetzen. Und so zeichnen sie, malen sie, die Rezipienten des Lebens, in diesen eindrücklichen Farben, schaffen sich Raum, bahnen sich ihren Weg (Georg Franzen).

3 Eine Künstlerin, es ist Rebecca Horn, schneidet sich die Haare – ab. Ein gewöhnlicher Akt? Schnitt um Schnitt fallen die Strähnen, Schnitt um Schnitt wird die alte Ordnung im Wunsch nach Selbstbestimmung zerstört. Schon das bloße Zuschauen verändert die Perspektive, holt den Betrachter von jenem Sockel, den er schon immer kennt. Das Sehen verändert sich. Ein Raum eröffnet sich, öffnet sich genau da, wo er nicht von Wissen verstellt ist. Vom »selbst-erkennenden Sehen« hatte Max Imdahl gesprochen. Rebecca opfert einen Teil ihrer Haare und wird eine andere. Ich wollte nicht auf meine Schönheit reduziert werden, sagt sie. Da werden die neuen Selbst-Anteile wie im Spiegel visualisiert. Da ist die im Spiegel eine andere als die, die hineinschaut. Und der Betrachter verändert sich mit. Der eigene Augenschein verwandelt sich auf der Suche nach Identität. Rezeption – das ist hier wie ein Absehen von sich selbst. Und dieses Von-sich-selbst-Absehen fragt, ob ich noch den eigenen Augen trauen darf (Carolina Saravia).

4 Kunst-Erleben. Das eröffnet nicht nur, wir sahen es eben, ein sozia­ les Feld. Das lässt die Frage aufkommen, was uns da schließlich anblickt. Hermann Hesse versucht es mit seinen Träumen, denen er nachspürt, die er nachzeichnet – aber dafür noch keinen Abnehmer findet. So bleibt das Selbstbildnis möglicherweise für sich allein, zerfällt und macht sich auf eine neue Suche. Kunst will erlebt sein,

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Einführung: Einblicke in die Landschaften des sinnlichen Lebens

fraglich nur: wozu? Gehen wir der Frage nach. Und dann ergibt sich am Ende eine Erkenntnis: Kunst in ihrer ganzen symbolischen Umfänglichkeit, Mehrdeutigkeit, scheint das rezipierende, scheint das schauende Selbst in ungewohnten Facetten zu ergänzen. Die Suche nach der Kunst – so eine besondere, für die, die im Sozial- und Gesundheitswesen danach suchen, wichtige Erkenntnis – heißt: Das in den Blick genommene, das mit den Blicken abgetastete, das sich kunstgestaltlich ergebende Bild ist empfängnisgesteuert. Kunst-Erle­ ben ist kein bloßes Erlebnis‑, kein Wellnessprogramm. Man mag das Wort vielleicht nicht in den Mund nehmen, aber es ist, könnte man meinen, ein Identität-Ergänzungsprogramm (Martin Schuster).

5 Auf welche Kunst, auf welche Bilder beziehen wir uns? Und vor allem: Warum beziehen wir uns auf sie, in dem, was sie uns inhaltlich vermitteln, in dem, was sie uns formal und systemisch in ihren Strukturen nahelegen? Schöne, schreckliche, erlösende, befreiende Gefühle – Schwingungsstrukturen heißen sie auch, archaische Struk­ turen, die wie aus dem Archaischen herauszutreten scheinen, hier apollinisch nicht geordnet, da eher dionysisch rauschhaft, ungeordnet und kontingent. Das will wohl heißen, dass eine Vielfalt von Mög­ lichkeiten, von Noch-immer-nicht-Differenzierungen sich zu zeigen ansteht – bis sich kohärent eine Gestalt konstruiert. Wiewohl sie gerade darüber ein Wissen vermitteln: dass sie nur eine der vielen Möglichkeiten sind, die sich konturieren, vielleicht sogar in all ihren Potentialitäten eine Regel vorgeben, eine der Schönheit, eine der Harmonie, eine der Heiligkeit – solchermaßen, wie sie in den Man­ dalas vielleicht sogar von jeder Wirkmacht befreien, am Ende aber auch wie im tibetanischen Brauch buchstäblich hinweggefegt werden. Was aber auch verbürgt ist: dass sie in solchem Prozess heilsam wirken, durchaus kathartisch befreien – und uns darauf hinweisen, dass über alles triadisch Gestaltete hinaus eben auch der Künstler sich einspielt, das Bild also nicht so daherkommt, wie es mitunter gemacht ist (Mayer-Brennenstuhl).

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Karl-Heinz Menzen

6 Das Sehen – zuweilen setzt es installatorisch, szenographisch, setzt es malerisch seine Spur, zuweilen aber bahnt es sich auch heimlich seinen Weg. Das Sehen – es ist zuweilen mit einem sadistischen, das angeblickte Subjekt zum Opfer machenden, in es eindringenden, es beherrschenden Blick konnotiert. Es aktiviert eine Sphäre, die eine Unterwerfung inszeniert, die den Unterworfenen bannen, fixie­ ren soll. Nicht einfach nur schau-lustig, nicht einfach nur neugieriginfantil – dieser Blick verobjektiviert, saugt wie die Spinne die Fliege aus, labt sich an dem, was er dem Unterworfenen nimmt. Es ist ein schreckliches, entobjektivierendes, narzisstisch-aneignendes Sehen, das beziehungskrank sich am Anderen bereichert (Laimböck).

7 Auch er gehört zu den Opfern, – der traumatisierte Mensch. Hilflos wird er gemacht, handlungsunfähig, eingefroren. Solchermaßen wird er in eine totale Stressreaktion versetzt. Solchermaßen werden in Zukunft seine Handlungsweisen genetisch bedingt in Stressreakti­ onsbereitschaft stehen – immer wenn eine ähnliche Szene sich ergibt. Also ist das Sehen hier nicht tatenlos. Also kann das Sehen bis in die Genetik hinein und unheilsam wirken. Was hier schon atmosphärisch übertragen ist, wird fürderhin als betroffenes Gefühl für die Nach­ kommenden wie eine in den Raum gekippte Atmosphäre stressend wirken. Im Trauma werden Bilder atmosphärisch übertragen, wird unund unterbewusst weitergegeben, ist transgenerational das Unheil auf Generationen präsent. Wir reden von Trauma-Nachfolgestörungen, über deren Ende die Forschung noch nicht so viel zu sagen weiß. Das Sehen, die Rezeption des psychisch Erniedrigenden, der psychischen Selbstentrechtung – es kann unheilvoll bis in viele Generationen sein (Alexandra Daszkowski).

8 Wir sind dem am Bild orientierten Rezeptionsvorgang in seinen vielen Facetten gefolgt. Wir haben erfahren, wie wirkmächtig dessen

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Einführung: Einblicke in die Landschaften des sinnlichen Lebens

Bilder sind. Wir können es bis in die frühesten Formen der Mensch­ heitsgeschichte verfolgen. Wie wenig bewusst diese Bilder noch in den animistischen Phasen sind, wo Menschen sich ausschließlich ihren Vorstellungen von höheren Instanzen einverleiben. Wie sie dem Selbst noch wenig Raum gestatten, wo sie auf mythische Gestal­ ten fixiert sind, wo sie in Religiosität der göttlichen Allmacht sich ergeben. Wir haben verfolgt, wie solche Gestalten gegebenenfalls erlösungsversprechend sind. Und all diese archetypischen, in der Frühgeschichte der Menschen angelegten Figuren, das konnten wir nachvollziehen, stehen in den Prozessen, die mit Bilder handeln, zur Verfügung. Es sind nicht nur Rollenbilder, die übertragungs-gegen­ übertragungsgemäß in den bild‑, den kunsttherapeutischen Prozessen dargeboten werden. Es sind Bewusstseinsformen, die sich ich- und selbsthaft aus den unbewussten Formen der Frühzeit wie aus den Bio­ graphien unserer Klienten langsam herausschälen. »Geduld, Geduld, die Gestalt ergibt sich schon«, hatte mir ein bekannter Analytiker gesagt. Wir können es schon bald wahrnehmen, können sehen, wie das, was vorher unbewusst war, jetzt zu Bewusstsein kommt. »Es ist wie ein Kreisen um die leere Spur«, hatte ein anderer namens Jacques Lacan konnotiert. Das Sehen, das haben wir gelernt, geschieht in der Zeit; es braucht seine Zeit, bis es gewahr, auf uns bezogen und heilsam werden kann (Karl-Heinz Menzen).

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Karl-Heinz Menzen

Vor einem – in einem Bild. Einführung in die rezeptive Kunsttherapie

Abbildung 1: Paul Gauguin: Vision nach einer Predigt. Der Kampf Jacobs mit dem Engel (1888); National Gallery of Scotland (Edinburgh)

Zusammenfassung Im Anfang ist ein Bild. Eines, das er-greift, das nicht begriffen sein will. Denn jedes Begreifen würde aus der Zeit, in der es entsteht, aussteigen. Wir sind also in einem Vorgang, der uns zurückversetzt, in eine Zeit, die nicht die unsere ist. Der Vorgang der Rezeption erfordert eine Anstren­ gung, von der C. G. Jung sagt, man müsse sich von ihr in einen anderen Zustand, in den des Anderen, hineinziehen lassen. Der aber ist mit Lei­ den, noch nicht mit der Einsicht in dieses, erst recht auch nicht mit einem alles erklären wollenden Wissen über dieses Leiden verbunden. Gaetano Benedetti hat gesagt, die Patientin habe ihn in diesen ihren Zustand versetzt, in dem er, in dem seine Seele nicht mehr in bekannter Weise über sich verfüge. Jetzt lebt auch er in dieser Gespaltenheit; jetzt erscheint,

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erfährt er sich als ›wie gelenkt‹. Animistische Gefühlszustände, in der die Verfügung über sich noch nicht oder nicht mehr zu gelingen scheint. In der das Andere das Sagen hat. Selbst da, wo er, der in diesen Zustand teilhabend Gezogene, die Situation reflektiert, aus ihr aussteigt, sie als mythisch, d. h. als energetisch von weither bestimmend zu Wort bringt; selbst da, wo er ›therapeutisch‹, was von ›griech. therapeuein = in dienender Funktion aufwarten‹ kommt, den Blick zurück, d. h. auf‑, übernimmt, bleiben die alten Gefühls‑, Bewusstseinszustände erhalten – als das, was einen schon lange bestimmte, was ›archetypisch‹ genannt wird; was ›vordem‹ noch-nicht-bewusst war, was eben als ›unbewusst‹ uns begleitet, ergriffen hatte. Schließlich setzt es sich durch – jenes Bild eines immer klareren, eines immer Erfahrungsgemäßeren. Schließlich ist es ein Bild, das in seinen greifbaren, dennoch unerforschlichen Symbolen von weit herkommend uns begleitet.

1 Vor mir liegt ein Bild. Paul Gauguin hat es nach einer Predigt gemalt. Und nach der Fertigstellung bringt er es dem Prediger, um es ihm zu schenken. Der aber lehnt es ab, bezeichnet es als gotteslästerlich. Die Zurückweisung – aus vielen Gründen ist sie für den dies Lesenden unerklärlich. Das Bild wird über 100 Jahre später an die 50 Millionen Euro einspielen. Selten ein Bild, das ihn, den dies hier beschreibenden Betrachter, jemals so ergriffen hat. Ein Blick, und alles steht wieder vor ihm. Er hat Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Die Augen tasten über die Fläche. Die untere Hälfte des Bildes ist ganz ausgefüllt von zehn Frauen mittleren bis höheren Alters. Es sind Bretoninnen, wie ihre weißen Kopfhauben verraten. Einige knien links am Rande andächtig und völlig in sich versunken, mit gefalteten Händen vor sich hin schauend. Andere, zum Teil kniend, sind offenbar ergriffen im Gebet. Wieder andere stehen schweigend da, schauen um sich. Ganz rechts von ihnen ein Mann mit der typisch bretonischen Kopfbedeckung der Geistlichen. Vor der Gruppe eine Kuh, die sich gerade anschickt, quer über das Gelände zu laufen, und das Bild hälftig unterteilt von einem schweren Baumstamm, der dunkelbraun und hellgrün-ockerfarbig abgesetzt diagonal über das Bild laufend die beschriebene Gruppe der Bretonen von einer Zweier-Gruppe trennt. Die zehn beschriebe­ nen Personen starren auf diese von dem diagonalen Stamm von ihnen abgetrennten zwei Personen, die offenbar einen Ringkampf

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ausfechten. Der eine Mann, offenkundig ein Engel, hat den anderen im Würgegriff und drückt ihn hinunter. Die Füße der beiden sind fast choreographisch gesetzt: der rechte des Engels und der linke des Mannes in Richtung der Zuschauer.

2 Der Hintergrund der Szene ist schnell erzählt: »Die Vision nach der Predigt oder der Kampf Jacobs mit dem Engel« erzählt eine Geschichte aus dem biblischen Alten Testament (aus der Genesis, dem ersten Buch Mose). Es ist der Kampf zweier Zwillingsbrüder um das Erbe, das ihnen von Gott über den erblindeten und mit dem Auftrag betrauten Vater verheißen ist – um die Rückkehr in die Heimat seines Volkes, das bislang in der Fremde lebt. Jacob, einer der beiden Brüder, macht sich auf den Weg und überschreitet mit seiner Großfamilie und den Viehherden den Fluss Jabbok im heutigen Jordanien. Dort findet ein Kampf zwischen Jacob und einem Engel, einem Abgesandten Gottes statt. Die Grenz-Überschreitung und der anschließende Kampf endet mit einem Kräftevergleich zwischen Gott und Mensch, in dem der Mensch fast zu erliegen scheint, aber den Abgesandten nicht loslassen will. Sein Ruf »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« endet damit, dass der Abgesandte Gottes ihm, dem Menschen, als Zeichen seiner Herkunft, seiner Abstammung die Bezeichnung ›Israel‹ ver­ leiht und ihm quasi einen Stempel seiner Abstammung aufgedrückt, ihn so auf die Hüfte schlägt, dass er fortan hinkend gezeichnet ist – benannt von dem, den er als Gott verehrt.

3 Die Erzählung fordert den Leser heraus, sich in eine mehrtausend­ jährig zurückliegende Bewusstseinsform eines offenbar unterjochten Nomadenvolkes zu versetzen. Die Erzählung fordert ihn heraus, sich auf eine der ältesten Muster-Erfahrungen der Menschheit ein­ zulassen. Was sich hinter den metaphorischen Redewendungen der Geschichte verbirgt, will umgedeutet und neu genutzt sein. Die sogenannte kognitive Metapherntheorie von Lakoff und Johnson

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(2018) weist uns darauf hin, dass wir durch die Metapher eine Sache bzw. einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorganges verstehen und erfahren können – so die Autoren.1 Das metaphorische Konzept unserer biblischen Geschichte verweist in seiner Erzählung auf das Verhältnis, speziell die Herkunft des Menschen von dem, was er Gott nennt, als Göttliches und als dessen Auftrag in sich tragend. Lakoff und Johnson betonen, dass körperli­ che Erfahrungen in einer metaphorischen Kultur zentral sind – wie die Interpreten Rudolf Schmitt und Thomas Heidenreich in einem bemerkenswerten Artikel betonen, dass »metaphorische Konzepte und Schemata […] nur gebildet werden [können], weil Menschen einen Körper haben und mit ihm Erfahrungen machen«, wie beispiels­ weise »Begreifen«, »Einsehen«, »(Ge‑)Horchen«. Und sie schließen folgerichtig: »Es ist also anzunehmen, dass der gesamte Körper durch alte Erfahrungsschemata in kognitive Prozesse eingebunden ist«.2 Stellen wir also hiermit aus der Sicht der dieses Konzept Kolportieren­ den fest, dass dieser Vorgang des Sich-in-ein-anderes-Bild-Muster zu versetzen nicht nur ein rein geistiger ist, sondern gleichermaßen unsere körperliche Verfassung tangiert. Der von dem Bild Gauguins Er-Griffene kann sich nicht sozusagen absentieren, d. h., er kann sich nicht mehr aus der Zeit- und Räumlichkeit der Bild-Szene entfernen.

4 Wir reden, wenn wir hier grundsätzliche Überlegungen zur Rezeption von Bildern – speziell in therapeutischen Prozessen – anstellen, von alten, immer wieder von neuem sich inszenierenden Metaphern – sofern sie ihre einfachste zeichenhaft-signalhafte oder zeichen­ haft-komplexere Informationsübermittlung überschreiten, d. h. jene Grenze, wo Zeichen mehr als einfachste Hinweise sind, gegebenen­ falls sogar Hinweise auf Erkrankungen geben. Wir reden hier im Wesentlichen von einem bildsymbolischen Prozess der Übermitt­ lung, der sich »ganz und gar dem rationalen Zugriff entzieht«, wie der frühe Erfinder einer ›rezeptiven Kunsttherapie‹, Albrecht Leuteritz (1993), gesagt hat.3 Aber, so fährt dieser fort, kaum jemand könne 1 2 3

Lakoff & Johnson 2018, S. 13. Schmitt & Heidenreich 2020, S. 115. Leuteritz 1993, S. 185.

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sich anmaßen, beispielsweise die überaus erschütternde Wirkung des Hölderlin’schen Gedichtes »allein mit Metaphern, Lautbildern, Allite­ rationen und Synästhesien zu erklären […,] mit den Mitteln der ratio­ nalen Werkanalyse die tiefe Betroffenheit zu ergründen […].« Was also, so stehen wir hier noch am Anfang unserer Fragen, geschieht in jenem bildsymbolhaften, nicht so einfach zu dekodierenden Prozess? Kurz gesagt, so der Kliniker Gerhard Heinrich Ott, komme es zu einer »seelischen Resonanz zwischen Kunstwerk und Rezipienten«4, die Albrecht Leuteritz mit der Leibniz’schen Unterscheidung von unbewussten ›petites perceptions‹ und ›bewusster apperception‹ zu qualifizieren sucht. Offenbar ist es das eine, die Ursache für die mögliche thera­ peutische Wirkung in den Faktoren der ästhetischen Wahrnehmung zu suchen, das andere, die Ursache für den Einfluss der Bilder – bis zur Heilkraft, sagen einige – in dem von diesen Kolportierten selbst, in deren ›petites perceptions‹ aufzuspüren. Albrecht Leuteritz wendet sich besonders diesem letzten Aspekt der Bilder zu, der offenbar in der Lage ist, »dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse (abzunehmen)«5 – auch wenn er, seine Ohnmacht spürend angesichts der ihn heimsuchenden Hautgeschwüre, von denen gepeinigt er mit den Betroffenen vor dem Isenheimer Altar liegt, die vergleichbaren Verwundungen des Gott-Menschen Jesu betrachtet; andererseits aber auch seine Macht spürend angesichts der überwältigten Tiergestalten, die er tausende Jahre zuvor an die Höhlenwand gemalt hat und – nunmehr vor seiner Wand-Zeichnung in der Höhle ›Les trois frères‹ (Südfrankreich, ca. 16.000 bis 10.000 v. Chr.) sitzend – mit einer sogenannten Erdzither, einer über den Boden gespannten Hanf-Faser, die Ereignisse sozusagen bespielend, d. h. spielerisch anschaut.6

4 5 6

Ebd., S. 184. Ebd., S. 187. Vgl. Raphael 1974, S. 103 f.

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Abbildung 2: Wandzeichnung aus der Höhle ›Les trois frères‹

Zwischen Ohnmacht und Macht schwankend, den Gestalten an der Wand zeitweise ausgeliefert, dann wieder sie machtbewusst in sich tragend – die Formen des Bewusstseins vermögen sich, wenn auch kulturgeschichtlich unterschiedlich, zuweilen immer noch auf frühge­ schichtlichem Stand ins Bild zu setzen: ob in der animistisch-frühzeit­ lichen, d. h. durch eine andere Macht als die der Natur geprägten Form des das Tier beschwörenden Jägers, der sich mit der inkorporierten, einverleibten Macht des getöteten Tieres eins weiß, oder ob – zwar immer noch animistisch, aber schon modern – in der Form des von Hautgeschwüren zerfressenen Opfers da im Bett des Johanniteror­ dens von Isenheim, das sich mit dem ebenfalls von Geschwüren bedeckten Erlöser eins weiß. Was da – vor dem Bild sitzend oder liegend – in den Betroffenen wach wird, was welche Bewusstseinsform auslöst, ist das eigentli­ che Thema der rezeptiven Kunsttherapie, wiewohl es in der Wissen­ schaftsgeschichte dieses Faches bislang wenig Beachtung fand.

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5 Ist es diese Vereinigung mit dem zur Identifizierung einladenden Tier, oder ist es die Identifizierung mit dem sich menschlich anver­ wandelnden Erlöser? In jedem Fall sind es animistische oder religiöse Bewusstseinsformen, die der bildbetrachtende Mensch übernimmt – und auf die eventuell der Therapeut noch tausende Jahre später ein­ geht.

Abbildung 3: Ausschnitt des Gekreuzigten (Grünewald)

Abbildung 4: Jesus, der Gott-Mensch nach der Kreuzabnahme. Szene aus dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (um 1514)

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Beide Bilder fordern auf – zu einer Identifizierung, die unterschiedliche Bewusstseinsformen generiert: Das Höhlenbild dient einer aktiven, das Altarbild einer passiven Verinnerlichung, jedoch gleichermaßen einer aktiven Identifizierung mit der veräußerten Bildgestalt. Sie geht der seit dem 16. Jahrhundert geführten, von René Descartes initiierten Diskussion um das Verhält­ nis von Verinnerlichungs- und Veräußerlichungsgesten voraus, the­ matisiert also genau das, was die rezeptive Bildbetrachtung im Raum der Kirche bis zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrhunderten als Form der religiösen Aneignung in Kirchenfenstern und Heiligenskulpturen praktiziert, herausfordert.7 Die Descartes’schen ›passions de l’âme‹ (übers.: ›Leidenschaften der Seele‹) werden seit dem 17. Jahrhundert wie ein ›operales Affekt­ register‹ gelesen, wie ein fein abgestimmtes Feuerwerk der Gefühle, das bildhaft wie hier in Isenheim oder musikalisch wie in der Musik Rameaus (von dem der Ausdruck ›Affektregister‹ stammt), beson­ ders aber auch in den Madrigalen von Monteverdi oder fast schon offensichtlich in Händels Feuerwerksmusik zum Ausdruck kommen. In den tonal oder bildhaft vermittelten überschießenden Gefühlen inszeniert der Mensch der Nach-Renaissance und des Barock seine Möglichkeit, seine, wie René Descartes gesagt hat, ›ideas quae in me sunt‹8, also das, was sein Innerstes ausmacht, auszudrücken. Aber diese ›passions de l’âme‹, diese Leidenschaften der Seele des Descartes sind nicht neu, sind allenfalls bei dem Philosophen zum ersten Mal reflektiert. Bereits vor 40.000 Jahren in den Höhlen von Lascaux, von Les Trois Frères sind sie schon einmal erklungen – aber noch nicht in der Selbstgewissheit der Reflexion des Philosophen, eher in der Gewissheit des körperlich überlegenen Jägers.

5 »Für diese Therapie durch ästhetische Wahrnehmung habe ich 1989 den Begriff ›Rezeptive Kunsttherapie‹ geprägt – in bewusster Anleh­ nung und Absetzung zur bestehenden ›Kunsttherapie‹“, so Albrecht Leuteritz.9 Und weiter: »Ich bin überzeugt, dass die Geschichte und 7 8 9

Vgl. dazu Menzen 2017, S. 22 f. Descartes, Meditationes III, AT VII, S. 37. Leuteritz 1993, S. 187.

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Gegenwart der bildnerischen und anderen Künste – besonders auch, wenn man auf die heute noch bestehenden ursprünglichen Kulturen blickt – voll ist von Isenheimer Altären«.10 Mit einem gewissen Stolz – in, wie er sagt, bewusster Abgren­ zung von der bestehenden Kunsttherapie – darf Leuteritz für sich beanspruchen, aus der Sicht des Hochschullehrers für moderne Kunst die verborgenen, die unbewussten, die noch unreflektierten ethno­ kulturellen Aspekte des Bildes zu Beginn unserer Kunsttherapie mitgedacht zu haben. Es scheint, als ob der Versuch, »die kunstwissen­ schaftlich definierten Merkmale der Bildrezeption […] in Beziehung zur besonderen Wirklichkeitswahrnehmung von Menschen [zu] set­ zen, die an einer chronischen psychischen Erkrankung leiden«, eine gewisse Ressource darstellt, die Aspekte der Krankheit aufzugreifen.11 Dieser Versuch, den die Kunst- und Sonderpädagogin Lisa Nie­ derreiter mit einer Projektgruppe psychisch kranker Menschen vor Jahren unternommen hat, zeigt aber auch, wie von ihr herausgestellt wird, dass Kranke angesichts des Zusammenbruchs rationaler Denk­ vorgänge und, damit verbunden, des zunehmenden Gestaltzerfalls ihres gewohnten Erlebnisfeldes in der Wahrnehmung ihrer Wirklich­ keit und jener der Bilder geschwächt sind und auf einen für uns hier bemerkenswerten Umstand hinweisen: Die Bilder der Malergruppe des ›Blauen Reiters‹ werden bei den Teilnehmern des Projekts von Niederreiter im Rezeptionsvorgang sozusagen regressiv übertönt von eigenen Sinneserfahrungen, die in Äußerungen zum Ausdruck kommen wie: »man könne die Sonne förmlich auf der Haut spüren« oder »die Landschaft riechen«.12 Niederreiters Erfahrung deckt sich mit denen des hier Schreibenden, mit den Erfahrungen, die er eben­ falls mit den expressionistischen Bildvorlagen des ›Blauen Reiters‹, vor allem Kandinskys, Gabriele Münters, aber auch des spanischen Expressionisten Joan Mirós bei demenziell erkrankten Menschen gemacht hat.13 Die Sinnesfreude, sprich die Sinnes-Affiziertheit über die eindrücklichen Farben und Formen überlagerte solchermaßen die Inhalte der Bilder, dass der hier Schreibende sich entschloss, in Zukunft in der Arbeit an und mit Bildern solche zu bevorzugen, welche die Gegenstandswahrnehmung nicht erforderten, die Gegen­ 10 11 12 13

Ebd. Niederreiter 2005, S. 34. Ebd., S. 35–37. Vgl. Menzen 2019, S. 142 f.

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standsanalyse eher zurückstellten und vor allem Sinnesqualitäten zur Darstellung brachten. Der Autor bemerkte, dass die Bilder ihre Symbolkraft angesichts der Krankheit verloren hatten – Jolande Jacobi spricht von »toten Symbolen« –, dass die Bilder nur noch sinneshaft rezipiert waren. »Immerhin«, sagt sie, können Symbole »zu Zeichen ›degenerieren‹ und zu ›toten Symbolen werden‹, indem der im Symbol verborgene Sinn völlig bloßgelegt wird und er aufhört, bedeutungsschwanger zu sein, weil wir ihn rational nun voll erfassen können. Denn ein echtes Symbol kann nie restlos gedeutet werden.«14 Wir werden also verstärkt die symbolischen von den nur zeichenhaf­ ten Bildern zu trennen haben, wenn die Bildbedeutung und die mit ihr einhergehenden Rezeptions- und Bewusstseinsformen zur Dis­ kussion stehen. Wir werden die symbolischen Bilder erst verstehen, sagt Goethe, wenn wir sie »als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«, also in ihrem verborgenen Zusammenhang begreifen.15 Wir werden sie als mythisch, d. h. von jeher prinzipiellgestaltend nur verstehen, sagt Kerényi, wenn wir sie als archetypisch, als seit alters her bestimmend erfahren.16 Der analytischen Tiefenpsychologe C. G. Jung hat in vielen Gesprächen mit den Quantenphysikern Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli gelernt, »dass das Bewusstsein durch Akte des Unbewussten mitgestaltet ist«, dass »die qualitativ zu bestimmen­ den Wirkungseinheiten des Unbewussten, nämlich die sogenannten Archetypen, […] eine andere Natur [haben], die man nicht mit Sicher­ heit als psychisch bezeichnen kann«, wobei ihre »bloß psychischen Voraussetzungen zu revidieren sind.«17 Er hat gelernt, dass Archety­ pen nicht die Bilder selbst, sondern die unbewusst-operationalen Voraussetzungen der Bilder sind. Der Vorgang dieser Erkenntnis ist einer, »mit dem die Seele sich gleichsam an etwas zurück erinnert, was sie unbewusst doch schon immer besessen hatte«, worauf sie sich nunmehr in dessen zeichen‑, speziell symbolhafter Form bezieht, so der Quantenphysiker Werner Heisenberg.18 Es seien Formen archaischer Natur, die wir allenfalls in ihren symbolhaften Bildern zu reflektieren imstande wären. Es handele sich offenbar um eine Potentialität von Formen, um ein Potential von aus früher Kindheit 14 15 16 17 18

Jacobi 1959, S. 149. Goethe, Maximen und Reflexionen 314, zit. nach Kerényi 1967, S. 214. Kerényi 1980, S. 281. Jung, GW 8, 1979, S. 257. Heisenberg 2017, S. 112.

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mitgebrachten, uns kulturell tradierten Bildern, von Gestalten, die den Einfällen, den Assoziationen archetypisch vorauszugehen schienen.

6 Wir haben schon einmal die Frage gestellt, welche Bewusstseinsfor­ men die rezeptive Kunsttherapie bei unterschiedlich kranken Men­ schen auszulösen, bei ihnen zu stimulieren, de facto zu realisieren vermag. Und wir werden gedrängt, über die verschiedenen Formen des Bewusstseins nachzudenken; speziell darüber nachzudenken, in welche Zuständlichkeitsformen mentaler und, das haben wir wei­ ter oben präzisiert, körperlicher Art Bilder uns versetzen können. Die Gleichung, dass bildkonnotierte äußerliche, ästhetisch-formale Merkmale seelisch konnotierte innerliche adäquat hervorrufen, dürfte den Stand unseres Wissens inzwischen zu ungenau wiedergeben. Die Zuschreibung einer Übertragung und/oder Gegenübertra­ gung ist leicht getan. In welche Zuständlichkeit wir im Falle solcher Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse geraten, ist aber wenig expliziert. Mit Blick auf Arbeit der inneren Visualisierung, so beschreibt es der am Warburg-Institut der Universität London arbeitende Michael Baxandal (1984), ist zu unterscheiden. Er schil­ dert, wie das Gehirn lernt, »die rohen Daten über Licht und Farben, die es von den Zäpfchen erhält, [zu] interpretieren, und das«, sagt er, »geschieht mit Hilfe seiner angeborenen und durch Erfahrung erlern­ ten Fähigkeiten.« Wenn ich mir erlaube, das Zitat zu ergänzen und später mit einem von Ludwig Wittgenstein zu konfrontieren, dann um die von Baxandal beschriebene Visualisierung daraufhin zu befragen, was sie für unsere Recherche zur Bild-Rezeption beiträgt. Michael Baxandal schreibt: »Aus seinem Grundstock an Mustern, Kategorien, Gewohnheiten des Lesens und der Analogiebildung – ›rund‹, ›grau‹, ›glatt‹ und ›kiesel‹ wären verbalisierte Beiträge – sucht und erprobt es [das Gehirn] passende Signale, und diese geben der hochkomplexen visuellen Gegebenheit eine Struktur und damit eine Bedeutung.«19 Und jetzt kommen Ludwig Wittgensteins »Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie« (1984). Ich schlage sein Werk auf und finde schnell diesen Satz, der uns gegebenenfalls weiterführen kann: 19

Baxandal 1984, S. 42.

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»dass uns ein Zeichen nur zu einem Bild führe, wenn ihm ein Inhalt, eine Gestalt, zuweilen ein Merkmalskomplex, sprachspielhaft, d. h. spielerisch zufalle“.20 Wieder diese Unterscheidung, die mir in unserem Zusammen­ hang wichtig erscheint: einerseits der Vorrat an ästhetischen Vorstel­ lungsmustern, über die wir verfügen, andererseits das uns Zufallende, vordem Noch-nicht-Bewusste, das uns zum Bild führt. Jetzt möchte ich natürlich wissen, was uns, formal gesehen, zufallen könnte? Wir haben schon einiges in den bisherigen Erörterungen notiert: hier eher bloße Zeichen, die uns sinneshaft stimulieren und spielerisch auf Formen und Farben hinweisen, etwa im Falle einer neurodegenerati­ ven Erkrankung; da hinweisende Gefühle von Macht und Ohnmacht, so hatten wir zusammengefasst, wo Menschen eher in physischer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen oder der von außen an sie herangetragenen Natur verwickelt sind (Stichworte: die Malereien an der Wand des Isenheimer Altares oder an den Höhlenwänden der Eiszeit), wenn sie die Bilder vor sich rezipieren. Wie hatte Albrecht Leuteritz richtig gesagt: Es gäbe viele ›Isenheimer Altäre‹, die hier aufzuführen wären. Sein Hinweis führt uns zu den Erkenntnissen des Archäologen, Ethnologen und Tiefenpsychologen Erich Neumann. Er widmet sich den Bildern des ›Vor-dem-nicht-Bewussten‹, also des Unbewussten, Bilder, die unsere Wahrnehmung nicht nur begleiten, sondern auch kommentieren, die uns in die unterschiedlichsten Bewusstseinszu­ stände im Prozess der Bildrezeption zu versetzen vermögen – mittels ihrer unbewussten ›petites perceptions‹.

7 »Die symbolische Bildrepräsentation durch das Unbewusste«, schreibt Erich Neumann, »ist der schöpferische Quell des symbo­ lischen Geistes in allen seinen Verwirklichungen. Nicht nur das Bewusstsein und die Begriffe […] entstammen dem Symbol, son­ dern ebenso Religion, Ritus und Kult, Kunst und Brauchtum. […] Durch das Symbol erhebt sich die Menschheit aus der Frühphase der Gestaltlosigkeit, mit der Bildlichkeit und Blindheit einer nur 20

Wittgenstein 1984, § 869.

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unbewussten Psyche, zur Phase der Gestaltung, deren Bildhaftigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung des Bewusstseins ist.«21 Der Psychoanalytiker, Ethnologe und For­ scher lässt uns diesen Dreierschritt tun: vom Unbewussten, von seiner alle Elemente des Symbolischen noch umgreifenden Form über eine ursprungssituativ noch nicht gewahr werdende, aber nunmehr erscheinende Gestaltung hin zu deren symbolischer Bildrepräsenta­ tion, in der das Symbol die Voraussetzung für das bietet, was wir das Bewusstsein nennen. Was in den Anfängen des Symbolischen als bildrepräsentativer, als archaischer Sinnzusammenhang begriffen ist, als ein mythischurbildhafter, als ein bewusstseinsmäßig nicht erreichbarer Ausdruck, ist nur über dessen vor-reflexive Bildhaftigkeit zu erahnen – so Erich Neumann. Das archetypische Symbolbild dient hiernach von den Anfängen her dazu, den die Welt auf irrationale, animistisch-magi­ sche, auf mythische oder religiöse Art und Weise apperzipierenden Frühmenschen zu verstehen; es dient dazu, im Symbol die Grund­ merkmale der Ursprungssituation des Unbewussten in seiner Einheit zu begreifen – und dem dient es noch bis in unsere Tage, falls wir gewillt sind, in archäologisch-ethnologischer Manier seinen BildHinweisen zu folgen. Das, was uns Erich Neumann quasi wie ein Erbe seiner gesamten Arbeit mitteilt, können wir in einem Statement zusammenfassen: Die Bilder, die uns aus der Frühzeit der Menschheit begleiten, einschließ­ lich der Bewusstseinszustände, die mit diesen Bildern verbunden sind, begleiten uns noch heute, spielen sich immer wieder in unserer Erinne­ rung ein. An einem Beispiel einer Patientin Gaetano Benedettis sei dies demonstriert. Von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen in einer Person »Ich musste mich wie zwei Menschen in einer Person erleben«, sagt der Psychotherapeut Gaetano Benedetti, als er mit Erfolg ver­ sucht, die ihm anvertraute Patientin sowohl zu halten als auch aus den Fängen des Teufels zu lösen.22 Gegenübertragungsgemäß identifiziert sich der Psychotherapeut mit den verschiedenen Bewusstseinszustän­ den seiner Patientin und begleitet sie gemäß der Weisung C. G. Jungs, sich in die Leiden der Patienten hineinziehen zu lassen – geradezu ein Vorzeigebeispiel rezeptiver Kunsttherapie. 21 22

Neumann 1985, S. 30 f. Benedetti 1982, S. 41, 38.

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Abbildung 5: Patientin Benedettis

Wenn schließlich die Patientin sich selbst wiedergebiert, sozusagen aus sich selbst geboren wird, ist die Gespaltenheit aufgehoben, wird im Nachhinein manifest – eine Spaltung, von der der Neurologe Pierre Janet (1859–1947), Assistent J.-M. Charcots an der Salpêtrière, gesagt hat: »Es ist, als hätte sich eine Vorstellung, ein partielles Gedankensystem emanzipiert, wäre unabhängig geworden und hätte sich auf eigene Faust entwickelt […,] es [scheint] nicht mehr vom Bewusstsein kontrolliert zu werden.«23

Janet 1906, Harvard-Vorlesung; zit. nach Hustvedt, Die zitternde Frau, 2010, S. 30.

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Abbildung 6: Bild der Patientin Benedettis

Solch therapeutischen Verstehens- und Heilungsberichte sind in der Lage, uns in die regressiven Bewusstseinszustände von Patient*innen hineinzuversetzen und uns zu zeigen, welche Rezeptionsformen in der Kunsttherapie zur Geltung kommen. Sie sind in der Lage, deren innere Bilder aus der zentralen Absicht des Unbewussten her zu qualifizieren. Es sind solche Bilder, wie wir sie nur in den kulturgeschichtlichen Übergängen von animistischen zu mythischen Bewusstseinsformen kennen. Es sind Bilder einer Gespaltenheit, wie sie in der Regel nur der ihnen ausgelieferte schizophren Erkrankte kennt: hier gleichsam animistisch sich von vergleichbaren, aber star­ ken Mächten, die beseelt sind, gelenkt wähnend; da den mythischübermächtigen Gestalten ausgeliefert, die hier gut (ein himmlisch abgesandter Therapeut), da böse (ein teuflischer Gegenspieler) auf die Betroffene einwirken. Von solchen Zuständen weiß die Patientin Gaetano Benedettis zu berichten. »Die Welt hat sie ausgespuckt«, kommentierte er am Ende des Wegs, der sich wie eine Reise durch die frühzeitliche Kulturge­

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schichte ausnimmt. Ein Weg, der animistische, mythische, religiöse, durchweg symbolische Verkörperungen in den Kopf, das Bewusstsein von Patientin und Therapeuten ›spült‹, sie geradezu überschwemmt und auch ihn, der sie begleitet, gleichermaßen traktiert.

Abbildung 7: ›Die Welt hat sie ausgespuckt‹

Abb.: ›Die Welt hat sie ausgespuckt‹ – der Therapeut gleichermaßen als Betroffener und als Erlöser, wie sie, die Patientin, auch von animistischen Mächten aus dem irdischem Unbill ins rettende Meer verschlagen; er findet sich als mythisch-rettende Gestalt, sie sich als erlöste wieder.

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Abbildung 8: Die mythische Gestalt des Therapeuten

Es sei noch einmal wiederholt: Animistische (von außen her beseelende), mythische (begleitend-wirkkräftige), religiöse (erlösende) Formen des Bewusstseins werden in dem rezeptiv-kunsttherapeutischen Prozess wach; sie qualifizieren das symbolisch aufscheinende Unbewusste als das menschliche Leben fundamental konstituierend. Der Therapeut wird wie geschildert zuweilen animistische, mythische, schließlich sogar selbst ursprünglich-religiöse, insgesamt: symbolische Bewusstseins‑, Ausdrucks- und Projektionsformen bildtherapeutischer Art anstoßen, er wird sie rezeptiv durch die Patientin gestalterisch animieren, ob er es nun will oder nicht. Das Unbewusste in seiner Einheit zu begreifen, das hat Erich Neumann zu denken veranlasst. In der symbolischen Darstellung ebendiese Einheit in ihrer Differenziertheit zu entdecken, das hat Erich Neumann als Aufgabe gestellt. Antonin Artaud, der Schriftsteller und Theatermacher, illustriert uns in der Mitte des letzten Jahrhunderts diesen Verdopplungszu­ stand: »Ich bin eins und nicht viele«, notiert er beinahe beschwörend

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auf eine Zeichnung, die er nach einer Elektrobehandlung anfertigt.24 Er fordert uns, die Bildtherapeuten, heraus, seinen vielfältigen Projek­ tionen im rezeptiven Vorgang zu folgen und, wie C. G. Jung einmal gesagt hat, sich von ihnen betreffen zu lassen: Es sind mindestens zwei Menschen, die, im Symbol sich verstehend, zusammenkommen: »Der Heiler, der selbst Krankheit und das damit einhergehende Leid erlebt hat, [ist] grundsätzlich zwischen zwei Welten verortet: der Welt der Krankheit und der Welt der Gesundheit. Dadurch ist er in der Lage, zwischen diesen Welten die Verbindung zu halten und zu vermitteln […]. Die eigene Wunde ist eine permanente Erinnerung daran, dass wir als Therapeuten die Heilung nicht selbst machen […]. Es geht vielmehr darum, […] sich durchaus auch hineinziehen zu lassen, so dass man mit verwundet wird […], ›dem Unbewussten erlaubt zu kooperieren statt zu opponieren‹.«25

Abbildung 9: Zeichnung Antonin Artauds, vgl. Thévenin 2019

24 25

Vgl. Thévenin 2019. Jung, GW 16, 1984, § 366, zit. nach Hofmann & Roesler 2010.

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Vor einem – in einem Bild. Einführung in die rezeptive Kunsttherapie

Erich Neumann, der Jungianer, hört, wie der Physiker Werner Heisenberg von den Urformen, den Urbildern, den Grundmustern der Erfahrung redet26, und er spürt es, er weiß, was damit gemeint ist: Es ist das, was nicht rational fassbar ist, was nur irrational, dennoch erzählerisch, rhythmisch-gestalthaft wie melodisch geordnet erfahr­ bar ist; was in Riten, Mythen, Archetypen, Symbolen und musikali­ scher Setzung, was in den Ausdrucksformen unserer Patient*innen zu erahnen ist.27 Er weiß, dass diese Ausdrucks- und Erzählformen nicht bloß Erfindungen sind, nicht phantasievolle Narrative, sondern an Erfahrungen, an die Leidensformen der Patient*innen gebunden sind.

Literatur Baxandall, M. (1984): Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Benedetti, G. (1982): Über die Kreativität des schizophrenen Leidenden. In: Psy­ chologie Heute, 6, 1982, S. 32 f. Descartes, René (1996): Die Leidenschaften der Seele (1649). Hg. und übers. von Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner. Descartes, René (2009): Meditationen über die erste Philosophie (1641). Hg. und übers. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner. Heisenberg, W. (2017): Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Stuttgart: Reclam. Hofmann, L. & Roesler, C. (2010): Der Archetyp des verwundeten Heilers. In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 16 (1), 2010, S. 75–90. Hustvedt, S. (2010): Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Rein­ bek: Rowohlt. Jacobi, J. (1959): Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamt­ werk. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung. 5. Aufl. Zürich: Rascher. Jung, C. G. (1979): Die Dynamik des Unbewussten. GW Bd. 8. Olten, Frei­ burg: Walter. Kerényi, K. (1967): Auf Spuren des Mythos. Wiesbaden: VMA. Kerényi, K. (1980): Apollon und Niobe. Wiesbaden: VMA. Lakoff, G. & Johnson, M. (2018): Leben in Metaphern. 9. Aufl. Heidelberg: Auer. Leuteritz, A. (1993): Rezeptive Kunsttherapie. In: Baukus, P. & Thies, J. (Hg.): Aktuelle Tendenzen in der Kunsttherapie. Stuttgart: Gustav Fischer, 182–188. Menzen, K.-H. (2017): Heil-Kunst. Entwicklungsgeschichte der Kunsttherapie. Freiburg: Alber. Menzen, K.-H. (2019): Das Vor- und Unbewusste. Im Zentrum der inneren Bilder. Lengerich: Pabst. 26 27

Vgl. Neumann 1959, S. 34; Heisenberg 2017, S. 104. Vgl. Neumann 1959, S. 34.

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Karl-Heinz Menzen

Neumann, E. (1949): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. Zürich: Rascher. Neumann, E. (1959): Das Bild des Menschen in Krise und Erneuerung. In: Eranos Jahrbuch 1959, Bd. XXVIII. Zürich: Rhein, 7–46. Neumann, E. (1985): Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltung des Unbewussten. Freiburg: Walter. Neumann, E. (2005): Tiefenpsychologie und neue Ethik. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer. Niederreiter, L. (2005): Kunstbetrachtung mit psychoseerfahrenen Menschen. Beiträge zu einer rezeptiven Kunsttherapie. In: Kunst & Therapie, 2005, S. 29–40. Ogden, Th. O. (2006): Frühe Formen des Erlebens. Gießen: Psychosozial-Ver­ lag. Raphael, M. (1974): Theorie des geistigen Schaffens auf marxistischer Grund­ lage. Ed. 1934. Frankfurt a. M.: Fischer. Schmitt, R., & Heidenreich, T. (2020): Metaphernreflexives Vorgehen in der Psychotherapie. In: Psychotherapeuten-Journal, 2 (2), 2020, S. 114–121. Thévenin, P. & Artaud, A. (2019): Antonin Artaud. Portraits und Zeichnungen. München: Schirmer Mosel. Wittgenstein, L. (1984): Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Autor: [email protected]

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Martin Schuster

Die subjektive Seite der Kunst

Die experimentelle Ästhetik versucht, sich der Kunstwirkung über Schätzurteile, wie »attraktiv« ein Werk ist, anzunähern. Das wird dann z. B. mit dem »Informationsgehalt« eines Kunstwerks zusam­ mengebracht. Sehr fruchtbar war die umfangreiche Forschung, die von einer Hoffnung der Berechenbarkeit getragen wurde, nicht. Das Betrachten von Kunstpostkarten und die anschließende Beurteilung der Attraktivität oder der Interessantheit – ein in der experimentellen Kunstpsychologie übliches Vorgehen – gehen durchaus an der Realität des wirklichen Kunsterlebnisses vorbei. Gleichzeitig gibt es in der Psychologie schon seit einiger Zeit (aber fast unbemerkt) eine bedeu­ tungsbezogene Analyse der Wirkung von Kunstwerken. In seinem Test, dem TAT (thematischer Apperzeptionstest, 1943), zeigt Murray seinen Probanden schwarz-weiße Reproduktio­ nen von Kunstwerken und lässt sie eine Geschichte dazu erzählen. Die Geschichte wird mit folgenden Fragen stimuliert: »Wie kommt es zu der abgebildeten Situation?« »Was passiert gerade?« »Wie geht es weiter, und wie geht es aus?« Er wertet die Geschichten aus im Hin­ blick auf die Bedürfnisse des Helden der Geschichte (need) und auf die Beschränkungen, die bei der Verwirklichung der Bedürfnisse auftreten (press). Die Bildtafeln sind so ausgewählt, dass sie eine bestimmte Valenz haben, also ein Thema anbieten. Für das Leistungsthema z. B. steht das Bild eines Jungen, der mit aufgestützten Armen vor einer Geige auf einem Tisch sitzt. Die Bilder sind Kunstwerke der Zeit; die Geschichten sind also eine Reaktion auf Kunstwerke. Auch beim Gang durch ein Museum muss sich der Betrachter bei gegenständlichen Bildern ja darüber klarwerden, was da gerade vorgeht, sonst würde er das Bild gar nicht verstehen. Die Verarbeitung der Bildinformation beim TAT entspricht also durchaus den kognitiv-emotionalen mentalen Reaktionen bei der Kunstbetrachtung.

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Martin Schuster

Oft ist im Museum eine biblische Geschichte oder eine Fabel abgebildet, so dass die Betrachter vergangener Zeiten schon wussten, wie es zu der Szene kam und wie es weitergehen wird. Für den heutigen Betrachter, der das eine Motiv nur noch rudimentär und ein anderes gar nicht mehr kennt, bleibt aber die Aufgabe, aus dem Bild einen Sinn zu machen. Die Verknüpfung des Kunstgenusses mit einer Kenntnis der Antike und der klassischen Bildung hat dabei ihre erste Ursache. Ich habe Besucher und Bekannte bei einem recht mehrdeutigen Bild (Abb. 10) einmal genau in der oben beschriebenen Weise gefragt: »Was passiert da, wie geht es weiter, wie geht es aus?« Ich hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass dieses spezielle Bild recht dramatische Auswirkungen auf die Betrachter haben konnte. Bei einer Besucherin löste das Bild einen schizophrenen Schub aus. Eine fromme russische Dozentin hielt mir, der ich ja doch der Besitzer dieses Bildes war, einen eindringlichen Vortrag über den richtigen Weg im Leben.

Abbildung 10: Zeichnung der Bildvorstellung bei einer Literaturstelle

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Die subjektive Seite der Kunst

Hier eine Auswahl der Geschichten zu dem Bild von J. Claes (1932, dessen Titel ich nicht kenne): Man kann berufsbedingte Attitüden finden: 1. 2.

3.

4. 5.

6.

7. 8.

Die Lehrerein G. B. sagt: »Der Hagere hat etwas Böses angestellt, der Dümmliche ist das Opfer, und der Teufel bestraft den Hage­ ren jetzt, darüber freut sich der Dümmliche.« V. O. stößt ein diabolisches Lachen aus: »Es sind drei Freunde, die reisen und lachen zusammen und haben unheimlichen Spaß, so wird es auch weitergehen.« Eine völlige Verkennung der Situation drückt die Hoffnung auf eine männliche Kumpanei in der (erotischen) Übeltat aus: E. O.: »Der Hagere ist nicht gefährlich, der ist schwach, der andere ist dumm, der Teufel will sie zur Mäßigung aufrufen. Das ›Böse‹ wird verleugnet, ja vom Teufel selbst verhindert.« Auch im Leben konnte dieser Freund Aggression kaum wahrnehmen, war zu jedermann übermäßig freundlich und positiv gestimmt. E. N.: »Die beiden machen sich über den Teufel lächerlich, der ihnen etwas verspricht, was er dann doch halten muss, das listen sie ihm ab, z. B. Unsterblichkeit.« H. D.: »Der [Teufel] weiß noch gar nicht, was die gleich mit ihm machen, ist überheblich ignorant, fühlt sich wie der Weltmeis­ ter.« Das Leiden unter Besser-Wisser-Mitmenschen wird – wie auch im nächsten Beispiel – zum Thema. G. M.: »Der eine [Teufel] ist ein Rechthaber, der andere ein Mitläufer, der in der Mitte zweifelt noch [erkennt erst dann den Teufel, hat bis dahin nur die erhobene belehrende Hand bemerkt], der Mittlere bleibt skeptisch.« Es gibt aber auch eine tiefere Entschlüsselung des Bildes, sozu­ sagen aus dem Unbewussten. Das Diabolische des Bildes wird verdrängt, ist aber dann doch noch präsent: V. D.: »Die erzählen sich eine spannende Geschichte, die freuen sich darauf.« Später ist ihr aber kalt und sie nimmt sich eine Decke. H. S. will nicht so recht mit der Sprache raus: »Da spüre ich sexuelle Energie, aber in einem negativen Aspekt.«

Man sieht: Die Bildkommunikation ist hochgradig »empfängerge­ steuert«. Die Betrachter wählen einzelne Aspekte aus, auf die sie reagieren. Bei verschiedenen Betrachtern kommt es so zu ganz unter­ schiedlichen Bildwirkungen. Details wie die Schwurhand des Teufels,

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geschweige denn das Fingerzeichen des Schwurbruches hinter dem Rücken, werden oft nicht bemerkt. Auch der Teufel, ja ganz eindeutig mit typischem Pferdehuf, wird als solcher oft nicht identifiziert.

2 Die Bedeutung und Bilder Dennoch gibt es Regeln der Bildentschlüsselung, die gerade der angehende Kunsttherapeut kennen sollte. Um die Kunstwirkung zu verstehen, müssen wir die Frage behandeln, wie wir Bedeutung aus Bildern entnehmen und wie wir sie in Bilder hineingeben. Darüber habe ich mich an anderer Stelle ausführlich geäußert. Einige Bedeu­ tungen scheinen vordringlich bereitzuliegen. Ein Beispiel: Vielleicht gibt es hinter Bildern und Worten ein gemeinsames Bedeutungsformat, dessen Grammatik wir heute nicht kennen. Beim Baumtest – wieder ein projektives Verfahren wie der TAT – staunen wir, wie doch recht regelhaft das Ich des Zeichners zum bedeutungs­ gebenden Inhalt der Baumgestaltung wird. Sicher, der Baum ist visuell ein wenig wie ein Mensch, mit seinem hohen Stamm, seiner Krone und seinen Astgliedern. Das könnte ja irgendein Mensch sein, der zum Vorbild der Baumgestaltung wird: Aber nein, es ist das Ich. Und das wird durch die Bedeutung der Zahl Eins angeregt. »Ein« Baum, das bin immer ich. »Zwei« Bäume sind wir als zwei Geschwister, als Paar, Familie usw. Für »einen Menschen« wird das Ich zum Prototyp des Menschseins. Ein Haus bildet die gleiche Ich-Beziehung. Es scheint also so, als werde das Bild auf einige vordringliche Konstellationen des Menschseins abgeklopft. Hier denken wir natürlich auch an die immer ein wenig unter­ drückten sexuellen Bereitschaften, die sich – manchmal durchaus unerwünscht – auch bei geringen Ähnlichkeiten zu Wort melden. Solche dem sexuellen Sachverhalt nur wenig ähnlichen Bildzeichen sind dann (statt Metaphern) im psychoanalytischen Sinn: Symbole. Manche Bedeutung ist konventionalisiert. Wenn ein niedliches Kind einen Pfeil abschießt, wissen wir, dass es der Liebespfeil des Amors ist, der den Menschen aus heiterem Himmel trifft. Auch der Tod verschießt Pfeile; die Pest verbreitet sich über solche Pfeil­ schüsse. Das Bild wird in der europäischen Kultur über Jahrtausende verwendet und verstanden. Ob es auch in Denkprozesse eingreift, ist ungeklärt: Ist man nämlich in Gebäuden vor Todes- und Liebespfeilen besser geschützt? Auch vor göttlichen Eingriffen kann man sich

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schützen: Die Jungfrauen des mittelalterlichen Holland bedeckten ihre Ohren, um unerwünschte übersinnliche Schwangerschaften zu ver­ hindern. Erst aus dem Zusammenspiel der empfängerabhängigen Deko­ dierung des Bildes aus Gleich-wie-Beziehungen, Symbolen und Kon­ ventionen kann die einzelne Kunst-Mensch-Begegnung verstanden werden (zur Bildkommunikation vgl. Schuster & Woschek 1989). In der rezeptiven Kunsttherapie suchen wir nun nicht die beliebige, unverbindliche Kunstwirkung, sondern die tiefe Beeindruckung durch ein Kunstwerk.

3 Das große Kunsterlebnis Bei der Kunstbetrachtung gibt es »Gipfelerlebnisse« im Sinne Mas­ lows (1977), Erlebnisse von großer Schönheit und unerklärter Magie, die den Betrachter in den Bann ziehen und die er – wie »flashbulb memories« (Brown & Kulick 1977) – nicht mehr vergisst. Dies müssen naturgemäß nicht nur positive emotionale Erlebnisse sein. Die Pieta löste bei dem verwirrten Kunstattentäter Todt so starke negative Gefühle aus, dass er mit dem Hammer auf sie schlug und dabei ausrief: »Ich bin Christus!« Nach einer kundigen Analyse von Teunissen und Hinz (1974) erlebte er stellvertretend die erdrückende Macht der »Magna Mater«. Bei Geisteskranken und Psychopathen reichen geringe Anlässe aus, um eine »übertriebene« emotionale Reaktion auf Kunstwerke aufzurufen. Wir verdanken dem Psychoanalytiker Niederland (1977) die Analyse einiger starker Kunsterlebnisse. Er untersuchte die Psycho­ dynamik einer Kunstsammlerin. Das Sammeln ist ja eine beson­ ders intensive Form der Kunstaneignung: eine Zufügung der Kunst zum Ich. Was motivierte die Sammlung? Im speziellen Fall war es die Reparatur der narzisstischen Narbe – nämlich eine dauerhafte Gesichtsentstellung durch einen Blutschwamm –, die zur Sammlung schöner Glasgefäße führte. Es handelte sich also sehr wohl um eine therapeutische Aneignung. Auch ein weiterer Fall verweist auf die therapeutische Funktion der Sammlung (Muensterberger 1995). Der Zweifel an der eigenen Abstammung verführte den reichen Kaufmann zur Sammlung von Dokumenten und Urkunden. Mit jeder Erwerbung hatte er wieder ein Stück »sicheren Ursprung« erworben. Nach jeder Erwerbung schien das Gefühl der Unsicherheit aber auch wieder zu

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wachsen. Das Sammeln heilte die zugrunde liegende Wunde nicht, sondern unterdrückte zeitweilig ihren Schmerz. Eine weitere Analyse eines großen Kunsterlebnisses verdanken wir Freud, der im Jahr 1922 (Donn 1990) die Moses-Statue des Miche­ langelo betrachtete. Er war tief beeindruckt von diesem Kunstwerk und lieferte uns eine Analyse der (so glaubte er) objektiven Wirkung des Moses. Der blickt – offensichtlich aus der Ferne – auf das Volk, das um das goldene Kalb tanzt. Nun habe Moses, so Freud, den Impuls, die von Gott auf dem Berg Sinai erhaltenen Tafeln vor Wut zu Boden zu schleudern, er habe sich aber im letzten Moment beherrscht und die halb gestürzten Tafeln ergriffen. Dieser Moment der Beherrschung, so glaubte Freud, sei es, der die großartige Wirkung des Kunstwerks ausmache. Tatsächlich spiegelt seine Interpretation eher seine eigene biografische Situation. Nach dem Abfall von Jung überlegte er selbst, ob er alles (die Lehre) hinwerfen solle – und er wird sich auch wieder aufraffen und weitermachen. Tatsächlich verfälschte er ja in seiner Interpretation die geschichtliche, biblische Überlieferung: Der historische Moses hat die Tafeln tatsächlich zu Boden geschmettert und musste sie dann neu erbitten. Das Kunstwerk ist in diesen Fällen Projektionsfläche für die Daseinsthemen der Betrachter (zu Daseinsthemen vgl. Tho­ mae 1968).

4 Die Sammlung bedeutender Kunsterlebnisse In Seminaren und Vorlesungen habe ich Niederschriften solcher aufwühlender Erlebnisse gesammelt. Die Instruktion lautete folgen­ dermaßen: »Hatten Sie jemals eine Begegnung mit einem Kunstwerk (der bildenden Kunst), die sie tief beeindruckt hat? So eine Begegnung ist schwer zu beschreiben und vielleicht auch bei verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich. Auf jeden Fall geht sie mit starken Gefühlen einher, mit starker innerer Angerührtheit. Welche Gefühle das sind, kann ganz unterschiedlich sein. Es kann auch sein, dass es ein starkes intellektuelles Erlebnis war. Sie waren z. B. überraschend zu einer neuen Einsicht gelangt.« Die meisten Teilnehmer konnten sich an ein derartiges Erlebnis erinnern und schrieben es nieder. Am Ende der Niederschrift sollte man angeben, ob der Text in der Lehrveranstaltung vorgelesen werden

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durfte. Interessanterweise lehnten das ca. 50 Prozent der Autoren eines Erlebnisberichtes ab. Wie oben schon angedeutet, werden dabei private Problemlagen aufgerufen, die man einer großen Menschen­ gruppe nicht gerne preisgibt. Bemerkenswert war auch, wie viele Autoren den Namen des Künstlers oder des Kunstwerks nicht mehr erinnerten (ca. 40 Prozent). Nur berühmte Künstler, die man schon vorher kannte, wurden behalten. Das Kunsterlebnis selbst motivierte also nicht, den Blick auf den Künstler zu lenken. Ich habe daher in der Museumspsychologie (Schuster & Ameln-Haffke 2006) den Vor­ schlag gemacht, bei Exponaten der Museen Handzettel anzubieten, die man als externe Gedächtnisstütze mit nach Hause nehmen kann. Es wurden keineswegs nur positive Erlebnisse berichtet (die hier aufgeführten Beispiele habe ich an anderer Stelle schon geschildert). So schreibt eine Studentin, 23 Jahre als, zum Besuch des Petersdoms in Rom: »Die Architektur im Petersdom kam mir so überdimensional, größenwahnsinnig und protzig vor, dass ich, obwohl ich ein relativ ausgeglichener, nicht sonderlich zu Aggressionen neigender Mensch bin, nur noch aggressive Gedanken hatte. Alles war gespickt mit Blattgold, haushohe Säulen ragten überall raus, kilometerlange Gänge mit aufgebahrten toten Päpsten, vergoldete Skelette, riesige Heiligen­ bilder und dieser viel-säulige Unterstand, wie immer das heißt oder was immer das ist. Als ich also länger dort herumging, fand ich es immer erstaunlicher, dass die Leute alle so friedlich da rumliefen und sich alles mit ehrfürchtigem Interesse ansahen. Es verwunderte mich immer mehr, dass vor der Tür keine Waffenkontrolle gemacht worden war. Stattdessen wurde nur darauf geachtet, dass man nicht zu hautbetont gekleidet war. Der Gedanke, der sich bei mir schließlich durchsetzte, war der, was für ein Aufsehen es erregen würde, wenn eine 23‑jährige Frau im Petersdom Amok gelaufen wäre und mit einem Maschinengewehr 30 Menschen mit in den Tod gerissen hätte. Ich fand es verwunderlich, dass so etwas scheinbar die Ausnahme ist, dass Menschen in Kirchen Amok laufen.« (Anzumerken ist, dass es im Petersdom ja mehrere Säureattentate gegen die Pieta des Michelangelo gegeben hat; vgl. z. B. Pickshaus, 1988. Der Ort scheint also durchaus ein »Stimulus« für Aggressionen zu sein.) Überraschenderweise konnten auch regelrechte Traumatisierun­ gen durch ein Kunstwerk (hier durch einen Film) vorkommen. Eine 24‑jährige Studentin schreibt:

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»Der Film ›Es‹ von King […] ist eigentlich erst ab 16 Jahren freigegeben. Ich habe ihn bereits mit 14 gesehen. Eine Freundin war bei mir zu Besuch, und meine Eltern waren ausgegangen. […] Ich mochte immer Clowns, sie haben mich zum Lachen gebracht. […] [Bei dem Clown Pennywise] habe ich mich zu Tode erschrocken, und ich wollte weggucken, aber meine Freundin saß neben mir, und ich wollte nicht wie ein Feigling aussehen. Seit jenem Abend mag ich keine Clowns mehr. Ich musste sogar zeitweise einen Bogen um Gullideckel machen (aus denen der Clown im Film auftauchte). Ich finde es erschreckend, dass eine Figur aus einem Film so eine starke Wirkung auf mich und vielleicht auch auf andere haben kann.« Oder das Bild spiegelt eine bedrückende Lebenslage, hier die empfundene Einsamkeit neben einem behinderten Geschwister. So berichtete eine Studentin (22 Jahre) zum Titelbild auf dem Buch »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupery: »So, wie um den kleinen Prinzen herum viele andere Planeten mit wenn auch teilweise seltsamen Gestalten sind, so war ich auch allein, wenn es mir nicht gut ging. Natürlich war mein Wunsch damals, eine Familie zu haben, in der alles ›normal‹ zugeht, ein ganz einfacher Alltag. Jedoch sah meine Situation etwas anderes vor, und es würde sich, auch wenn ich es mir noch so sehr gewünscht hätte, nicht ändern. Der Wunsch danach, mit der Familie einen Ausflug zu machen, all diese normalen Dinge und viel mehr waren nicht möglich. Ich musste schon als kleines Kind Rücksicht nehmen, aufpassen und meine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund stellen […].« Ein Beispiel sei noch angefügt, weil es das ganz »unbewusste« Aufspülen von biografischer Information zeigt. Im Moment des Kunsterlebens bleibt die große Beeindruckung durch das Kunstwerk rätselhaft, wenn ein Seniorstudent (54) ein Erlebnis beschreibt, das einige Jahre zurückliegt: »Ich besuchte mit meiner Lebensgefährtin das Ägyptische Museum in Kairo. Man hatte sich bei dem Rundgang vor den Vitrinen etwas getrennt. Ich blieb versonnen vor einigen spielzeugartig klei­ nen, bemalten Holzschiffchen stehen, auf denen sich Holz-Ruderer befanden. Ich war insgesamt voller Bewunderung für die ägyptische Kunst, aber gerade angesichts dieses kleinen unbedeutenden Kunst­ werks ergriff mich eine besondere Rührung. Es kam mir der Gedanke, das einmal nachzubauen. Ich machte auch ein Foto von dem Exponat. Im Laufe des Tages musste ich noch mehrmals an diese Schiffchen denken, so dass ich darüber staunte und begann, nach dem Grund der

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Faszination zu forschen. Es fiel mir dann erst ein, dass ich als Kind selbst Modellschiffe aus Holz und Papier gebastelt hatte und dafür auch einiges Lob und Anerkennung erhalten hatte.« Die Schiffchen hatten anscheinend — ohne dass er das sogleich bemerkte – die Stimmung der Kindheit aufgerufen und auf diese Weise das starke Angerührtsein erzeugt. Die Stärke der Gefühle bei solchen Erlebnissen haben wir in einer kleinen Stichprobe mit den Gefühlen bei sehr einschneidenden Erlebnissen unter folgender Instruktion vergleichen lassen (Schuster & Ameln-Haffke 2006): »Hatten Sie jemals eine Begegnung mit einem Kunstwerk (der bildenden Kunst), die Sie zutiefst beeindruckt hat? Ein Erlebnis, dass mit äußerst starken Gefühlen einherging? So starken Gefühlen, dass dieses Erlebnis in den Bereich einer spirituellen Dimension rückt? Denken Sie an eine positive Extremsituation wie z. B. Geburt, Verliebtsein usw. Oder war es ein unangenehmes Gefühl, das eine tiefe Traurigkeit oder Lähmung bewirkte? Oder war es ein überaus peinliches Gefühl wie Hass, Neid oder Minderwertigkeit, sexuelle Erregung oder ein körperliches Symptom (dass Ihnen z. B. schlecht wurde)? Oder war es ein total überraschendes, komisches oder ver­ rücktes Erlebnis?« Die genannten Gefühle sollten dann auf einer Skala eingeschätzt werden, die bereits berücksichtigt, dass es sich um sehr starke Gefühle handelt, nämlich von »mittlere Stärke« (1) bis zu »größte Stärke im Leben« (9). In 70 Prozent der Angaben wurde auf der Intensitäts­ skala ein Wert von 8 und 9 angekreuzt. Es handelte sich also um extrem starke Gefühlserlebnisse. Entsprechend wird die Erinnerung in 50 Prozent der Fälle als extrem lebhaft bezeichnet. Es wurde formuliert (Gombrich 1993), das Kunsterlebnis trete an die Stelle des religiösen Erlebnisses. Dies wird in den hier vorliegen­ den Berichten eindrucksvoll bestätigt. Es sind ja gerade Gefühle wie Bewunderung, Ehrfurcht, Staunen vor der großen Leistung (bzw. dem Meisterwerk Natur), welche die gemeinsame Menge des Religiösen und des Kunsterlebnisses sind. Die Gefühle sind von überraschender Stärke, von vielen der Befragten werden sie mit den stärksten Gefüh­ len dieser Art in ihrem Leben verglichen. Mehr als die Hälfte der befragten Personen hatte große Kunst­ erlebnisse im Museum. Das Ergebnis war, dass es tatsächlich drei »Aufschließer« des großen Kunsterlebnisses gibt: das Interesse an bildender Kunst, der Ort des Museums und die Urlaubsstimmung.

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Offen bleibt allerdings, ob die Befragten überhaupt nur im Urlaub ein Museum besuchen.

5 Wann kann es zu bedeutenden Kunsterlebnissen kommen? Solche bedeutenden Kunsterlebnisse sind sicher kein häufiges Ereig­ nis. Sie kommen im Leben gar nicht, einmal oder einige wenige Male vor. Die innere Bereitschaft, sich einem Kunsterlebnis zu stellen, muss aktiviert sein. Das wird bei Abbildungen in Büchern, bei Postkarten­ reproduktionen – wie sie häufig in psychologischen Experimenten als »Stimulus« benutzt werden – oder gar bei Werbungen kaum der Fall sein. Es sollte aber für spätere Untersuchungen im Kopf behalten werden, dass auch der Kauf eines Kunstwerks ein Moment sehr intensiven Erlebens ist, sozusagen ein Spezialfall des bedeuten­ den Kunsterlebnisses. Sicher ist es förderlich, wenn im Betrachter eine Problemlage aktuell ist, wenn er irgendwie aufgewühlt ist oder sich in einer gefühlsintensiven Phase seines Lebens befindet, wie vielleicht zu Beginn einer Liebe. Eine »Passung« zwischen biografischen Erlebnissen und Kunst­ werk kommt natürlich nicht bei jedem Kunstwerk zustande. Unter vielen Kunstwerken ist es nur eines, das eben zufällig ein Thema der Biografie aufnimmt (Thomae 1968: »Daseinsthema«). So wird das große Kunsterlebnis durch die Auswahl von vielen Kunstwerken begünstigt. Diese große Auswahl findet man z. B. im Museum, so dass Besucher von Museen auch häufig große Kunsterlebnisse berichten (Schuster & Haffke 2006; siehe auch weiter unten). Das Kunstwerk sollte eine Bedeutung anbieten; Werke, die von Bedeutungen absehen, also abstrakte Werke, sind weniger als Auslöser für bedeutende Kunsterlebnisse geeignet. Etwas reduziert mag die Intensität der Gefühle bei Auswahlent­ scheidungen für Kunstwerke sein, die die eigene Wand schmücken. Es handelt sich auch hier immer noch um eine symbolische Ergänzung des Ichs. Sie können eine Demonstration der eigenen Werte sein (z. B. das Poster von Che Guevara), sie können ungestillte Sehnsüchte in der Phantasie befriedigen, wie etwa den Wunsch nach dem einfachen Leben auf dem Lande. Sie können geschätzte Teile des Ich repräsen­ tieren, wie die Vorliebe eines Befragten in einer meiner Studien, der

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Bilder mit Apfelbäumen bevorzugte, weil er selbst Apfelbäume besaß (Schuster 2000, S. 245ff.; vgl. auch Halcour 2002). Die innere Bereitschaft, sich einem Kunsterlebnis zu stellen, muss aktiviert sein. Daher sollte das Werk als Kunstwerk deutlich gekennzeichnet sein. Das ist z. B. dann der Fall, wenn es in einem Museum hängt, in einer Ausstellung, in einer Galerie oder in einer Kirche. Bei Gegenständen, die vielleicht Kunstwerke sind, wie die Hobbymalerei eines Nachbarn, wird der innere Prozess »Betrach­ ten eines Kunstwerks« meistens nicht angeworfen. Das wird bei Abbildungen in Büchern, bei Postkartenreproduktionen oder gar bei Werbungen weniger der Fall sein. Auch Verkaufsausstellungen wie die Art Cologne oder ähnliche stellen andere Beurteilungs- und Erleb­ nisfacetten im Betrachter her als die absichtslose Betrachtung eines Kunstwerks. Aber auch der Kauf eines Kunstwerks ist ein Moment sehr intensiven Erlebens, sozusagen ein Spezialfall des bedeutenden Kunsterlebnisses. Viele Menschen erinnern sich sehr lebhaft an sol­ che Einkäufe.

5.1 Inhaltliche Kunst-Mensch-Bezüge Verschiedene Inhalte des Bezugs zwischen Kunst und Mensch sind denkbar: ●



● ● ● ●

Das Kunstwerk kann den Betrachter »verstehen«. Das kann bei­ spielsweise die Stimmung betreffen. Es kann eine glücklich-exal­ tierte oder eine traurig-finstere Stimmung vermitteln. Es kann einen Helden zeigen, der das Gleiche erlebt wie der Betrachter. In einer tieferen Ebene könnten wir hier auch an Geburtserleb­ nisse (Grof 1985) denken, die eine Grundmatrix des persönlichen Erlebens aktiviert halten. Eine Triebhandlung (Aggression, Sexualität) könnte eigene Triebbefriedigungen in der Phantasie anregen. Das Bild könnte einen Ausweg zeigen. Das Bild könnte eine Ahnung wachrufen. Der Besitz als symbolische Selbsterweiterung.

Den letzten Punkt aufgreifend, möchte ich von einem geliebten Besitz meiner Kindheit berichten. In frühen Jahren wäre ich beinahe einmal ertrunken und hatte dann Angst vor Wasser, so dass ich erst spät schwimmen lernte. Mit Schrecken vernahm ich die Wassertiefe,

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z. B. bei Hafenrundfahrten. Tauchen mochte ich gar nicht. In einem Sommerurlaub auf einer Nordseeinsel gab es in einem Geschäft ein grünes U-Boot mit einem Gummiantrieb, das tatsächlich eine gewisse Strecke weit tauchen konnte. Meine Eltern waren so nett, es dem zehnjährigen Sohn zu kaufen. Das war nun mein ultimativer Besitz. Das schöne Boot, das nun mir gehörte, konnte tapfer untertauchen und bewältigte so meine Un-Fähigkeiten. Später habe ich dann ein Bild gemalt, das darstellt, wie mein Blick das Boot bewundernd in die Tiefe verfolgt (Abb. 11).

Abbildung 11: Martin Schuster, Erinnerung an ein Spielzeug U-Boot

Wie sehr sich autobiografisches Material in die Kunstwahrnehmung einfügt, wurde in einer kleinen Studie zur Literaturpsychologie deut­ lich. Den Teilnehmern eines Kunstpsychologie-Seminars wurde ein Textstück aus einer Geschichte von Allison Lurie vorgelesen. An einer Stelle des Textes stoppte der Vorleser und bat die Teilnehmer, das Vorstellungsbild, das sie gerade beim Lesen im Kopf hatten, zu zeichnen. Es ging da um einen kleinen Gnom, der in einem Küchenfach auftauchte. Glücklicherweise konnten die Teilnehmer recht gut zeichnen. Nachdem die Bilder fertig waren, erklärte jeder den

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anderen Teilnehmern sein Bild. Dabei wurden z. B. Küchen aus der eigenen Vergangenheit in die Information der Geschichte eingepasst (Abb. 12).

Abbildung 12: J. Cleas (1932), o. T.

5.2 Das assoziative Umfeld des Museumsbesuchs Die Wandelhalle der Fürsten wurde zum Ort, an dem der demokra­ tische Bürger, der Souverän unserer Zeiten, seine neue Machtfülle stolz genießt. Das allein macht das Museum zu einem besonderen und besonders erfreulichen Ort. Auch historisch ist die Verbindung von Kunst und Bildung begründet. Man konnte nur als GriechischSchüler die klassischen Allegorien und Fabeln erkennen, die auf den Bildern dargestellt waren. Schließlich gilt heute als ausgemacht, dass Kunst erfreut, dass man sie genießt. Wie also anders als mit den fröhlichsten Gefühlen der Bereitschaft sollte der heutige Mensch das Museum betreten. Denn für das Kunsterlebnis ist die Bereitschaft eine wichtige Ingredienz – ist man anderweitig konzentriert, bemerkt man die Kunstwerke unter Umständen kaum (telische, paratelische Motivation, Apter 1982). Nun – so ist die Angewohnheit im Museum – schreitet man in gemessenem Tempo bei einem gelegentlichen

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Einhalten an den Kunstwerken vorbei und horcht in sich hinein, ob man ein Bild gut, schön oder interessant findet (die Gespräche im Museum, die ich einmal mit einer Gruppe von Studenten belauschte, handeln oft davon, ob man sich dies oder jenes ins Wohnzimmer hängen würde). Für den weniger gebildeten oder eben auf die heutige Kunst nicht vorbereiteten Besucher kann das Museum aber auch zur Enttäu­ schung werden. Wo er Erhebung und Beeindruckung erleben wollte, findet er wenig meisterliche Werke vor oder auch Werke, deren Meisterschaft er – im Verzicht auf das Meisterliche – nicht erkennen kann. »Das kann ich auch«, denkt er sich und verlässt das Gebäude enttäuscht. Sein Kunstbegriff passte nicht auf das Angebot des Muse­ ums, und so musste es zu einem Erwartungsverlust kommen.

6 Kunsterlebnis und Kultur Die obigen Ausführungen sind nur innerhalb einer Kultur der Kunst­ betrachtung gültig. Andere Kulturen können da andere Gewohnhei­ ten haben. In Mitteleuropa geht man am Kunstwerk vorbei und beobachtet, welche Assoziationen und Gefühle sich einstellen. So ist es wie in einer Therapiestunde der Psychoanalyse eine Übung in freier Asso­ ziation – allerdings ohne dass die Assoziationsketten ausgesprochen würden. Dadurch sind sie vermutlich etwas reduzierter als in der Therapie; dennoch führen auch sie zum »verdrängten Komplex«. In der chinesischen Kunst führt manchmal eine kleine Brücke von links unten in den Bildraum. Der Betrachter ist dadurch zu einer Phan­ tasiereise durch die Bildwelt eingeladen. Diese Reise wird – ganz wie im Bilderleben der Katathym-imaginativen Therapie – individuelle Symbolwelten in das Bewusstsein bringen. Der Besuch im Museum, so berichtet Malraux (1947), dient in asiatischen Kulturen indes nur der Dokumentation der Kunst, einen Genuss der Bilder kann es nur im privaten Raum geben. Wenn man den abgebildeten Heiligen um Rat oder Beistand bittet, ist das Kunsterleben natürlich ein ganz anderes, als wenn man die Schönheit der Bildkomposition mit diesem Heiligen bewundert.

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Die subjektive Seite der Kunst

Fazit Kunstwerke können einen Zugang zu den Daseinsthemen und Pro­ blemen oder den verdrängten Komplexen des Klienten öffnen. Sie können gute Gefühle erzeugen oder auch alte Wunden beleben. Erst der therapeutische Umgang mit den Erlebnissen (z. B. Bewusstma­ chen, heutige Ressourcen) bestimmt aber, ob eine dauerhaft heilende Wirkung zustande kommt.

Literatur Ameln-Haffke, H. & Schuster, M. (2006): Der Museumsbesuch als emotionales Erlebnis. In: Schuster, M. & Ameln-Haffke, H. (Hg.) Museumspsychologie. Erleben im Kunstmuseum. Göttingen: Hogrefe Apter, M. J. (1982): The experience of motivation, the theory of psychological reversals. London: Academic Press. Brown, R. & Kulick, J. (1977): Flashbulb memories. In: Cognition, 5, 1977, S. 73–99. Donn, L. (1990): Jung und Freud. Hamburg: Kabel. Freud, S. (1969): Der Moses des Michelangelo (1914). In: Freud, S.: Studienaus­ gabe, Bd. 10, Frankfurt: Fischer, S. 195–222. Gombrich, E. H. (1993): Die Kunst die Bilder zum Sprechen zu bringen. Mün­ chen: Klett. Grof, St. (1985): Geburt, Tod und Transzendenz. München: Kösel. Halcour, D. (2002): Wie wirkt Kunst? Zur Psychologie ästhetischen Erlebens. Frankfurt: Lang. Leuner, H. C. (1994): Lehrbuch der Katathym-imaginativen Psychotherapie. Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe. Bern: Huber. Malraux, A. (1947): Das imaginäre Museum. Baden-Baden: Klein. Malraux, A. (1957/58): Psychologie der Kunst. Hamburg: Rowohlt. Maslow, A. H. (1977): Motivation und Persönlichkeit. Olten: Walter. Muensterberger, W. (1995): Sammeln – eine unbändige Leidenschaft. Berlin: Berlin-Verlag. Murray, H. A. (1943): Thematic Apperception Test. Cambridge: Harvard Univer­ sity Press. Niederland, W. G. (1977): Die Narbe – ein Fall von angeborener Gesichtsent­ stellung. In: Psyche, 31, S. 263–271 Pickshaus, P. M. (1988): Die Kunstzerstörer. Reinbek: Rowohlt. Schuster, M. (2000). Kunstpsychologie. Schönheit – Bildkommunikation – Kreativität. Baltmannsweiler: Schneider. Schuster, M. (2006): Die Suche nach den Memen des Museums. In: Schuster, M. & Ameln-Haffke, H. (Hg.): Museumspsychologie. Erleben im Kunstmu­ seum. Göttingen: Hogrefe, S. 291–302.

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Martin Schuster

Schuster, M. & Ameln-Haffke, H. (2006): Museum und großes Kunsterlebnis – eine Pilotstudie. In. Schuster, M. & Ameln-Haffke, H. (Hg.): Museums­ psychologie. Erleben im Kunstmuseum. Göttingen: Hogrefe, S. 279–290. Schuster, M. & Jansen, D. (2006): Ästhetische Erlebnisbereitschaft im Kunst­ museum und an anderen Orten. In: Schuster, M. & Ameln-Haffke, H. (Hg.): Museumspsychologie. Erleben im Kunstmuseum. Göttingen: Hogrefe, S. 261–278. Schuster, M. & Woschek, B. P. (Hg.) (1989): Nonverbale Kommunikation durch Bilder. Göttingen: Hogrefe. Teunissen, J. J. & Hinz, E. J. (1974): The attack on the »Pieta«: An archetypal analysis. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 33, S. 43–50. Thomae, H. (1968). Das Individuum und seine Welt. Göttingen: Hogrefe.

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Interkulturelle Raumschaffung: Die Schaffung eines symbolischen Territoriums und seine ethisch-ästhetischen kartografischen Darstellungen als visuelle Erinnerung an die Zugehörigkeitsprozesse in der Metropole Lima

Zusammenfassung: Dieser Artikel will die Möglichkeiten der symbo­ lischen Darstellung des Territoriums unter einem interdisziplinären Ansatz für Kunst und Architektur erläutern. In diesem Sinne wird eine Methodologie entwickelt, die, auf die periphere Problematik des Territoriums und seiner Rekonstruktion angewandt, die Visuali­ sierung eines immateriellen kulturellen Erbes ermöglicht, das durch imaginäre kartografische Darstellungen zum Ausdruck kommt. Diese kartografischen Darstellungen symbolisieren anhand der visuellen Erinnerung ethisch-ästhetische Werte, die Teil der in der Metropole Lima stattfindenden Zugehörigkeitsprozesse sind. Wie können wir die Prozesse der Rekonstruktion sichtbar machen, die unsere Erinnerung in den Räumen, in denen wir leben und die wir mit anderen teilen, vollzieht? Wir stellen eine Methodo­ logie vor, die auf drei Phasen der symbolischen Erkenntnis beruht: Die erste beginnt mit einem persönlichen Weg der Neuordnung und Rekonstruktion der eigenen Identität mithilfe von topografischen Kenntnissen des Territoriums; die zweite mit der Anfertigung kar­ tografischer Skizzen, die die Visualisierung der Intersubjektivität fördern, die Teil der Prozesse der kollektiven Problematik der Stadt ist; und die dritte mit der Identifizierung und Sichtbarmachung der Bedeutung des Erbes, die sich in den ethisch-ästhetischen Komponen­ ten des sozialen Zusammenlebens widerspiegelt. Diese Methodik wird anhand von drei Projekten erläutert, von denen zwei individuelle plastische und installative Arbeiten sind: »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso« (Von Reducto 2 zur Portada de Maravillas. Auf dem Weg zur Ruhe) und »Nuestra ruta de 50 años«

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(Unsere Route der 50 Jahre), während das dritte ein Gruppenprojekt ist: »CO[HABITAR]« (ZUSAMMEN[WOHNEN]). Wir können behaupten, dass die Visualisierung durch den kar­ tografischen Ausdruck der kollektiven Problematik der Stadt unter ihren symbolischen Aspekten vielfältige Möglichkeiten der Erkennt­ nis über die in dem Territorium erlebten Geschehnisse bietet. Diese Visualisierung verläuft auf verschiedenen subjektiven und intersub­ jektiven Ebenen des Verständnisses, die eng mit den kulturellen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen der Teilnehmer verbunden sind. Stichworte: Architektur, Kunst, Urbanismus, symbolisches Territo­ rium, Metropole Lima. Karla Villavicencio Monti ist Doktorin für Architektur der Universi­ dad Europea de Madrid und Lizentiatin in Kunst der PUCP. Assistant Professor der Fakultät für Kunst und Design der Pontificia Univer­ sidad Católica del Perú seit 2017. 2007–2008 Forschungsassisten­ tin für den Kurs »Elemente des architektonischen Projekts« an der Fakultät für Kunst und Architektur der Europäischen Universität Madrid. 2014 führte sie Regie bei dem Dokumentarfilm ImaRginäre Städte (Ciudades imaRginales), der mit dem vom österreichischen Ministerium für Kunst, Kultur und Bildung finanzierten StartStipen­ dium ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2019 hatte sie einen PostdocForschungsaufenthalt an der Universität der Künste Berlin und im Jahr 2020 lehrte sie als Gastprofessorin am Fachbereich Architektur der Universität der Künste Berlin. Bei der Gestaltung ihrer interdis­ ziplinären Projekte betont sie die ethisch-ästhetischen und urbanen Werte der Siedlungen am Rande der Stadt Lima und fördert die Visualisierung des immateriellen Kulturerbes, das Bestandteil des visuellen und symbolischen Gedächtnisses dieser Prozesse wird. Die Autorin bedankt sich bei Frau Dr. Susanne Hauser und dem Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst (KAAD) sowie bei der Akademischen Direktion für Institutionelle Beziehungen (DARI) der PUCP für den Postdoc-Forschungsaufenthalt an der UDK Universität der Künste Berlin im Jahr 2019.

Einleitung Die phänomenologische Studie der Siedlungen, die von Migranten, die sich ab den 1950er Jahren aus einem existenziellen Bedürfnis heraus mobilisierten, ohne die Legitimierung des Staates in der

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Metropole Lima (dies schließt alle Bezirke der Stadt Lima ein) errichtet wurden, macht deutlich, dass der Eigenbau und die Stadt­ entwicklung zusammen mit den sozialen und kulturellen Faktoren der sozial schwächsten Bevölkerungsgruppen in unserem Land zwar einen unvorhergesehen chaotischen Prozess darstellten, jedoch die Entwicklung städtisch-moderner Prinzipien bestimmten, die sich mit denen der prähispanischen Kulturen artikulieren. Mit anderen Worten, es konnte festgestellt werden, dass sich die Teilnehmer in ihrer neuen Etappe der Eroberung Limas positionierten und damit neue Perspektiven schufen, die dann für spätere Forschungen unter Anwendung bestimmter Methodologien Bedeutung erlangten. Unter diesem Ansatz erfassen wir die Problematik des Territo­ riums anhand der Visualisierung persönlicher Prozesse wie identifi­ katorischer Routen der kulturellen Vielfalt. Ausgehend von einer »besiedelten Einzigartigkeit« stellten wir uns in dem Verständnis des­ sen, was uns scheinbar fremd oder anders erscheint, eine »besiedelte« und »besiedelbare« Gemeinschaft vor. Wie können die symbolischen kartografischen Darstellungen »die Vielfalt« visualisieren, so dass sie zum Ausdruck gebracht werden kann und vorstellbar ist? Erreicht werden soll dies durch den Entwurf einer Skizze von Spiralen, die zwar getrennt und unzusammenhängend, jedoch flexibel sind und verschiedene Möglichkeiten für ein topografisches »Denken« bieten. Stellen wir uns vor, dass eine Spirale eine gebogene Linie ist, die einen offenen Kreis bildet, der von außen nach innen oder in umgekehrter Richtung verläuft. Außerdem stellen wir uns mehrere dieser Linien vor, an deren Schnittpunkten das Potenzial des Entwurfs für eine mögliche Stadt für diejenigen liegt, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren müssen. Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, dass der Bewohner anhand seiner Erinnerung seine Routen der Durchreise und Migra­ tion anhand von analytisch-visuellen Prozessen der Rekonstruktion zusammenfassend symbolisch-kartografisch darstellt. Diese symbo­ lische Bewertung muss berücksichtigt und bewahrt werden, denn aus ihr entstehen Wünsche, die oft unsichtbar sind, aber unser wert­ vollstes immaterielles Erbe darstellen: jenes, das die Erinnerung zum Ausdruck bringt, die Teil der ethisch-ästhetischen Erfahrung der uns umgebenden Wirklichkeit ist.

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Hauptteil Bisherige Studien und die Anwendung bestimmter Methodologien in deren Prozessen schafften die Bedingungen für kartografische Darstellungen. Dabei erfolgt je nach Entwicklung der symbolischen Komponenten die Visualisierung durch aufeinander abgestimmte Übungen in den verschiedenen Lebensphasen. Das Verständnis dieser Behauptung wird durch die Erläuterung anhand grafischer Dokumente erleichtert, die von den Teilnehmern in den besagten Seminaren und Kursen erarbeitet wurden, in denen die visuelle Produktion auf der Erarbeitung dieser kartografischen Darstellungen beruhte. Die visuelle Dokumentation, die wir vorstellen, wird jene Strukturen visualisieren, die sich aus der Analyse des territorialen, politischen und sozialen Kontextes der studierten Gebiete ergeben. Gleichzeitig können wir die ethisch-ästhetischen Komponenten der Interventionen in den untersuchten geografischen Räumen durch die Analyse der künstlerischen prozessorientierten Methoden beurteilen. Um den Kontext der beschriebenen Fälle nachzuvollziehen, ist es wichtig, die Geschichte ab den 1950er Jahren in der Metropole Lima zu kontextualisieren. Von da an positionierten sich die Migranten in dieser neuen Etappe der Einnahme der Metropole Lima, eine Vorgehensweise, die von der andinen Kultur übernommen wurde, wie Ansión et al. immer wieder betonen: »In einem Land wie Peru erinnern uns diese Migrationsbewegungen an eine bekannte Realität. Die andinen Gesellschaften haben sich immer auf sehr dynamische Weise bewegt, um mithilfe von familiären Strategien über die Abwanderung von Mitgliedern des archaischen Ayllus das Potenzial der verschiedenen ökologischen Nischen zu nut­ zen. Gegenwärtig streben die Familien, von ihren verschiedenen Sied­ lungsorten aus, die optimale Nutzung der Ressourcen jeder Nische als Ganzes an (vgl. Murra 1975). Die großen internen Abwanderungen in Richtung der Stadt (insbesondere nach Lima) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgten, zumindest in ihren Anfängen, einer ähnli­ chen Logik, gemäß der Lima die neue ökologische Schicht darstellte, die es zu erobern galt. Diese internen Migrationsprozesse wurden zweifelsohne durch die historische und kulturelle Erfahrung von

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Abwanderungen innerhalb der oben beschriebenen Logik begüns­ tigt.«28 (Ansión, Mujica & Villacorta 2008, S. 39)

Die neue Erfahrung im territorialen Raum war also die eines Konglo­ merats von Prozessen der Sesshaftwerdung, die nicht unbedingt nur im topografischen Territorium ablaufen, sondern vor allem in der Konstruktion des Raumes als eines Orts der »Durchreise« und der »Zugehörigkeit«, der Möglichkeiten für Mutation und Transforma­ tion bietet. In der Art und Weise, wie der Migrant lebt, kommt eine intrinsische Beziehung zwischen dem, was ihm gehört, und dem, was ihm gehören kann, zum Ausdruck. Bei der Besiedlung eines neuen Territoriums bildet sich eine psychisch-symbolische Struktur heraus. Die Geschichte derjenigen, die aus dem Landesinneren in die Metropole Lima migrierten und sich in den Außenbezirken niederlie­ ßen, begann im Allgemeinen an dem Ort, den sie hinter sich ließen. Die Familie setzte in diejenigen, die fortgingen, große Erwartungen, was neue Möglichkeiten zur Entwicklung und den Zugang zu Res­ sourcen betraf, die ihnen in einer zentralisierten Regierung nicht zur Verfügung standen. Beim Abstecken der ersten Grenzen ihres Wohnraums betraten die Bewohner das neue Territorium und suchten eine sozioökonomische Vereinheitlichung: die der Migranten. In die­ sem Territorium nimmt der Lebensraum eine symbolische Dimension an und bildet eine schützende Hülle, deren Inneres unterstützende Infrastruktureinrichtungen oder Funktionen bietet, in denen sich Imagination und Erinnerung miteinander verflechten. Auf diese Weise schafften das Streben der Gemeinschaft und ihre Maßnahmen zur Sesshaftwerdung Werte, bei denen die chronologi­ schen Ereignisse, die Erwartungen und die Zukunft miteinander im Einklang standen. Diese durch das Gemeinsame entstehende Intimi­ tät war in vielen Fällen die treibende Kraft für diesen zeitgenössischen Wohnraum in den Außenbezirken von Lima. Die Solidarität war das Fundament, auf dem sich viele dieser temporären Räume in neuen Bezirken entwickeln konnten. Im Laufe unserer Studie bestätigte sich, dass die Kommunen, die sich als Städte einschließlich der neuen Bezirke entwickelten, diejenigen waren, in denen Teamarbeit, Organisation, politische Pla­ nung und der Aufbau über den individuellen Bedürfnissen standen. Zweifelsohne beruht diese Fähigkeit zur kollektiven Orientierung 28 Unter Bezugnahme auf den Text (Ansión et al. 2008) haben die Autoren verschie­ dene strategische Modalitäten zur Integration von Migranten in Lima untersucht.

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auf der Vergangenheit: Die Gesellschaft der Inkas beispielsweise war geprägt von Gemeinschaftsarbeit und einer städtebaulichen Projek­ tion, die vor dem Beginn der architektonischen und städtebaulichen Gestaltung der Stadt geprüft wurde. Es gibt eine enge Komplizenschaft in diesen kommunitären Angelegenheiten. Wir könnten von einer »Intimität des Volkes« sprechen, die oft im Gegensatz zu der Intimität steht, die als Indi­ vidualität verstanden wird und von den westlichen Gesellschaften gefördert wird: Würde man heute irgendein Mitglied urbanisierter und postmoderner westlicher Gesellschaften nach der Bedeutung des Begriffs »Intimität« fragen, so würde es ihn recht wahrscheinlich spontan mit »Einsamkeit« und »Authentizität« assoziieren. Es herrscht der weit verbreitete Glaube, dass wir nur in der Einsamkeit so sein können, wie wir wirklich sind, und dass genau hier die Intimität liegt (Trugschluss des Solipsis­ mus). (Pardo 1996, S. 140)

Ein Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm ImaRginäre Städte (Ciu­ dades imaRginales) (Villavicencio & Luque 2014), der als Aufzeich­ nung der visuellen Erinnerung, die Bestandteil der sozialen und kreativen Prozesse im Territorium der modernen Metropole ist, eine Parallele bei der Besetzung von »illegalem Territorium« in zwei sehr unterschiedlichen Städten aufzeigt. »Illegal« soll hier deutlich machen, dass es sich um die Geschichte von Territorien handelt, die vom Staat weder anerkannt noch dahingehend unterstützt wurden, dass sie rechtmäßig zu ihm gehörten und er damit den Forderungen seiner Bewohner nachkommen musste. Damit war ihnen die Einge­ wöhnung in einer vom Staat anerkannten Stadt verwehrt. Der Dokumentarfilm beschäftigt sich mit der Entwicklung der Stadt und ihren urban-sozialen Prozessen in multikulturellen Gesell­ schaften. Der Film wurde in Lima und Wien in Zusammenarbeit mit anderen Filmemachern gedreht, die gemeinsam ein visuelles Archiv der erzählten Geschichten zusammenstellten. Die Geschichte von Villa El Salvador (Lima) erzählt die Entstehung dieses Bezirks im Jahr 1971, als die Regierung auf Verlangen der Bewohner die ersten Invasoren in ein unfruchtbares und abgelegenes sandiges Gebiet südwestlich von Lima umsiedelte. Das politische Szenarium war damals das einer Militärdiktatur, die 1968 mit Velasco begann und für die Villa El Salvador eine Herausforderung war. In diesem Zusammenhang wurde die selbstverwaltete Gemeinschaft Villa El Salvador (Cuaves) gegründet.

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Das Charakteristische an dieser Erfahrung war die Fähigkeit der Bewohner zur Organisation. Miguel Romero Sotelo war für die Städteplanung verantwortlich und kam den Forderungen nach einem Entwurf nach, der einerseits die Organisation und Beteiligung der Bewohner förderte, die ein selbstverwaltetes Regierungssystem und eine wichtige Selbstorganisation entwickelt hatten, und andererseits den sozialen Netzwerken, die dem Zusammenleben aller Bewohner einen Sinn gaben, Vorrang einräumte. Villa El Salvador war die bekannteste Siedlung in Peru, ausgezeichnet mit vielen nationalen und internationalen Preisen für ihre kollektive Bemühung, ihre Kapa­ zität und populäre Kreativität sowie für ihre auf demokratischen Grundlagen beruhende Organisation. Eine Siedlung, die mithilfe ihres Projekts der kommunalen Selbstverwaltung die Bedürfnisse von Bau, Produktion und Wohnraum miteinander in Einklang bringen wollte. Kahatt bringt es gut auf den Punkt: Eine der wichtigsten Herausforderungen für diese an Hängen liegen­ den »Viertel« ist es, Mobilität mit dem Wohnraum und dem öffentli­ chen Raum zu verbinden. In diesem Sinne sind das Verständnis der Geografie und topografische Kenntnisse vor Ort von entscheidender Bedeutung. Die Erkenntnis bietet der Landschaftsgestaltung die Vor­ aussetzungen, die notwendig sind, um eine neue Realität zu schaffen. In vielen Fällen wird – fälschlicherweise – angenommen, dass die Häuser, die an »unbewohnbaren« Hängen (mit einer Steigung von 45° oder mehr) gebaut wurden, für immer dort stehen werden. Dies muss jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Bei der Planung eines sicheren, geeigneten Umfelds sollte man bedenken, dass sie »so, wie sie dorthin gelangt sind« (aufgrund ungünstiger Umstände), auch an andere Orte, die bessere Bedingungen bieten, ziehen oder innerhalb des Orts umzie­ hen können, aber unter besseren Konditionen in einer kollektiven Infrastruktur, die Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Aus­ stattung bietet. (Kahatt 2016, S. 71)

Auf der anderen Seite wird in dem Film die Geschichte der »Wagen­ plätze« (Wien) erzählt, wo Wohnmobile »illegal« Wiener Territorium besetzen und damit aus einer anarchistischen Position Kritik am Kapi­ talismus üben. Die Gemeinsamkeit beider Geschichten ist die Bedeu­ tung des Territoriums, in dem die Architektur nicht unbeweglich und statisch ist, sondern unterstützende Infrastruktureinrichtungen oder Funktionen im Rahmen des Siedlungsprozesses bereitstellt, wo Solidarität und Selbstorganisation für die Entwicklung der Bewohner entscheidend sind und die Regeln, die Grenzen und die Ausgrenzung

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seitens der staatlichen Politik und der Gesellschaft selbst in Frage stel­ len. Die Linie der mit dem genannten Dokumentarfilm begonnenen Forschungsarbeit setzten wir mit der Veröffentlichung des Projekts Metrópolis Imaginal: la guía de viajes simbólicos en Lima (Metropolis Imaginal: Der Führer für symbolische Reisen in Lima) (Villavicencio et al. 2017) fort, das 2016 begonnen und 2017 veröffentlicht wurde; auch in ihm wurde die in der Einleitung erwähnte methodische For­ mulierung gewählt. Metrópolis Imaginal war ein Workshop-Seminar, bei dem wir mit Kunstdozenten der Fakultät für Kunst und Design der Pontificia Universidad Católica del Perú zusammenarbeiteten. Es wurden drei Phasen der kartografischen Darstellungen definiert, deren Prozesse als Mappierung bezeichnet wurden, in denen die Teil­ nehmer unter den Prämissen der persönlichen Karte, der historischen Karte und der imaginären Karte eigene kartografische Darstellungen erarbeiteten, wobei sie sowohl Karten des gewählten Ortes als auch Archivbilder oder selbst erstellte Darstellungen heranzogen, die eine symbolische Lesart des Territoriums ermöglichen sollten. Bei der Anfertigung der persönlichen Karte lokalisierten die Teilnehmer jedes Mitglied auf der kartografischen Darstellung der eigenen Geschichte und berücksichtigten die strukturellen Erinnerun­ gen, die die Lesart ihrer eigenen symbolischen Bewegung in chrono­ logischer Reihenfolge möglich machten, als wichtige Elemente. Bei der Anfertigung der historischen Karte studierten und analysierten sie mithilfe von Exkursionen in der Stadt und mit der Wiederentde­ ckung ihrer Orte und Wege die ethisch-ästhetischen, politischen und kulturellen Komponenten der heutigen Stadt. In der letzten Etappe der imaginären Karte werden die Probleme und Sorgen der Stadt, die nach den beiden vorangehenden Erfahrungen deutlich wurden, kartografisch dargestellt und sichtbar gemacht, was die Entwicklung möglicher Modelle der symbolischen Interventionen in ihrer eigenen Vorstellung erlaubte. Diese Methodik ermöglichte es, sich den Raum als kollektive symbolische Konstruktion vorzustellen. Im Einklang mit diesen drei Phasen des Seminars Metrópolis Imaginal erläutern wir nun die Entwicklung der Projekte durch zwei Teilnehmer. Zunächst geht es um die imaginäre Karte von Cecilia Chávez, »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«, danach um die imaginäre Karte von Ignacio Macha, »Nuestra ruta de 50 años«.

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»De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso« (Von Reducto 2 zur Portada de Maravillas. Auf dem Weg zur Ruhe) Die Künstlerin Cecilia Chávez29, Verfasserin des Projekts, schlägt mit Hilfe von Karten, die auf historischen und persönlichen Referen­ zen (Kindheitserinnerungen) basieren, die Erarbeitung einer symbo­ lischen Route vor, die die Soldaten, die in der Schlacht von Miraflores (Pazifikkrieg, 1881) gefallen sind, zu einem Ort der Ruhe führt. Diese Karten sind aus durchsichtigem Acrylglas gefertigt und werden zur Visualisierung übereinandergelegt. Das Interesse an den Gefallenen dieser Schlacht geht auf eine Kindheitserinnerung der Verfasserin zurück, da das Haus, in dem sie aufwuchs, in der Nähe des Parks Reducto No. 2 lag. Sie nutzte die Lage ihres Hauses und die Geschichten, die über den Park erzählt wurden. Eine dieser Geschichten berichtet, dass die Toten dieser Schlacht begraben wurden, sie sich aber durch ihren gewaltsamen Tod dessen nie bewusst wurden und keine Ruhe fanden. In diesem Sinne sollen die erstellten Karten (siehe die folgenden Abbildungen) den gefallenen Soldaten als Orientierungshilfe dienen, damit sie einen Ort der Ruhe finden. Die nachfolgend beschriebenen und zu sehenden Karten gehören zum Werk der Künstlerin. Die erste Karte (Abb. 15) ist transparent und dient als Ausgangspunkt der zuvor erwähnten Route. Die fol­ gende Karte (Abb. 16) zeigt die Standorte der peruanischen und chilenischen Truppen. Die dritte und vierte Karte (Abb. 17 und 18) zeigen die Zugstrecke Chorrillos-Lima, deren Verlauf die Verstorbe­ nen folgen müssen. Der Weg führt dann zum Bahnhof innerhalb der Stadtmauern der Altstadt Limas und von dort weiter durch die Straßen bis zur Portada de Maravillas, die 1868 abgerissen wurde und deren Überreste noch vorhanden sind. Von hier aus gelangen sie zur Ruhestätte auf dem Friedhof Presbítero Maestro (Chávez 2017).

29 Cecilia Chavez, Dozentin an der Fakultät für Kunst und Design der Pontificia Uni­ versidad Católica del Perú, ist die Verfasserin des Projekts »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«, das innerhalb des Projekts Metrópolis imaginal: la guía de los viajes simbólicos en Lima im Jahr 2017 von Dr. Karla Villavicencio Monti im Rahmen der Gastprofessur Felipe Mac Gregor 2016 PUCP entwickelt wurde.

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Abbildung 13: »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«. Acrylplatte, Druck auf Zeichenpapier, technisches Papier, Zeichentisch und Holzbank. Unterschiedliche Maße (Details). Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 20.

Abbildung 14: »De Reducto 2 a la Portada de Maravillas. Hacia el descanso«. Acrylplatte, Druck auf Zeichenpapier, technisches Papier, Zeichentisch und Holzbank. Unterschiedliche Maße. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 20.

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Interkulturelle Raumschaffung: Die Schaffung eines symbolischen Territoriums

Abbildung 15: Transparenz 1. Karte, die auf den Erinnerungen von Cecilia basiert. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 21.

Abbildung 16: Transparenz 2. Karte mit den Divisionen der Schlacht von Reducto. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 23.

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Abbildung 17: Transparenz 3. Karte der Bezirke Miraflores, Chorrillos und Barranco. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 25.

Abbildung 18: Transparenz 4. Stadtplan von Lima mit den Hinweisen auf die alte Zugstrecke. Quelle und Anfertigung: Chávez 2017, S. 27.

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»Nuestra ruta de 50 años« (Unsere Route der 50 Jahre) In seinem Projekt behauptet der Künstler Ignacio Macha30, dass Menschen, die 50 Jahre und älter sind, die Veränderungsprozesse in Lima miterlebt haben und damit auch die demografische Explosion durch die Migranten vor allem aus dem Andenraum, die die Räume an der Peripherie von Lima besiedelt haben. Er kommentiert dies wie folgt: Die Besiedlung dieser peripheren Räume findet seit den vierziger oder fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts statt. Die Bewohner mussten sich an diese Bedingungen des Territoriums anpassen und ihr Wissen (die Bewohner des Andenhochlands sind das Leben in Schluchten gewohnt) sowie ihre soziale Organisation (Gemeinschaftsarbeit wird als Teil ihrer Kultur gefördert) nutzen. Infolgedessen mussten viele Räume, die der Geselligkeit im traditionellen Lima galten, ihr Zielpu­ blikum ändern, um diese neuen Sektoren einer aufstrebenden Bevöl­ kerung willkommen zu heißen, die heute die Inanspruchnahme dieser Räume fordern und die nach einem halben Jahrhundert das Gesicht der Hauptstadt verändert haben. Die Arbeit will aufzeigen, wie sich dieser Prozess der Besiedlung Limas durch Migranten aus dem Landesinnern in den letzten fünfzig Jahren vollzogen hat. Anhand des städtischen Grundrisses des Zentrums von Lima wird eine Matrix erstellt, die sich aktualisiert. Das scheinbare Chaos beginnt sich im Geist zu ordnen, um ihm einen Sinn und eine Bedeutung zu geben. (Macha 2017, S. 46)

Mit seiner Arbeit will Macha zeigen, wie diese Besiedlungsprozesse in Lima abliefen. Dazu erarbeitet er aus dem städtischen Grundriss des Zentrums von Lima eine Matrix, deren unterschiedliche Farbin­ tensität aktualisiert wird. Diese Farbintensität entspricht der durch die Gesamtheit der »Chicha«-Plakate erzeugten Pigmentierung (kul­ tureller und visueller Synkretismus, der in den letzten Jahrzehnten in Lima entstanden ist und sich unter anderem in den in der Stadt verteilten Plakaten widerspiegelt). Diese Farbänderung beginnt unten und setzt sich nach oben fort, wo das Grau das Lima zwischen den 30 Ignacio Macha, Dozent an der Fakultät für Kunst und Design der Pontificia Universidad Católica del Perú, Verfasser des Projekts »Nuestra ruta de 50 años«, das im Rahmen der Gastprofessur Felipe Mac Gregor 2016 PUCP von Dr. Karla Villavicencio innerhalb des Projekts Metrópolis imaginal: la guía de los viajes simbólicos en Lima im Jahr 2016 entwickelt wurde.

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sechziger und neunziger Jahren repräsentiert; die satter werdende Färbung lässt durch ihre Wiederholung ein modulares Geflecht ent­ stehen, das durch Perforation zu einem großen Mosaik wird und nur die Straßen erkennen lässt.

Abbildung 19: Karte für Leute über 50 (Detail). Kollage, digitaler Druck und Laserschnitt 172 cm x 244 cm. Quelle und Anfertigung: Macha 2017, S. 47.

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Abbildung 20: Karte für Leute über 50. Kollage, digitaler Druck und Laserschnitt 172 cm x 244 cm. Quelle und Anfertigung: Macha 2017, S. 47.

Das Gruppenprojekt CO[HABITAR] Massey spricht in dem Interview »Man muss den Raum ins Leben holen« davon, dass der Raum in der Beziehung zwischen zwei Men­ schen oder in der Beziehung zwischen einem Individuum und einem anderen entstehe, dass die Kommunikation selbst den Raum schaffe. Ohne diese Beziehung entstehe eine »räumliche Leere«. Es ist wahrscheinlich, dass der Grund dafür, dass der Raum aktuell geworden ist, viel mit der Globalisierung zu tun hat, und mit der Tat­ sache, dass wir gewissermaßen in der sogenannten »Ersten Welt«, im

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»Norden«, im »Westen« (oder wie immer man es nennen will) plötzlich am Empfängerpol der Globalisierung stehen. Der globale Süden – ich spreche von Lateinamerika und Afrika – war über Jahrhunderte der Empfängerpol der Globalisierung, aber für uns (den Westen) war die Desintegration des Orts, die Vielfalt der Kulturen, die Hybridisierung ein großer Schock. […] In diesem Sinne ist Raum also die soziale Dimension, nicht als Gegenteil von Zeit, sondern nur, weil wir hier nicht gleichzeitig zusam­ mensitzen könnten, wenn es keinen Raum gäbe, und dadurch, dass wir es tun (zusammensitzen), schaffen wir Raum. Der dritte Vorschlag folgt einfach den ersten beiden in dem Sinne, dass wir durch unsere Interaktionen und unsere fehlenden Interaktionen und durch all die Beziehungen, die uns ausmachen, sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Beziehungen, immer Raum schaffen. (Massey 2008, S. 330–331)

Diese Definition von Massey ist wichtig, um zu erkennen, dass der Schlüssel zum Erleben des Raums ausgehend von dessen kommuni­ tären Werten in der Möglichkeit liegt, die kollektiven Probleme einer Gesellschaft zu verstehen. In der Erfahrung der universitären Lehre im grundständigen Studium an der Fakultät für Kunst und Design der Pontificia Universidad Católica del Perú mit den Teilnehmern des Kurses »Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums« (Semester 2016‑2) wurde diese Aussage bei der Analyse des Wir­ kungsbereichs des Prozesses und des Projekts der Gruppe CO[HABI­ TAR] überprüft31. Es sei darauf hingewiesen, dass sich die Studentengruppen auf­ grund der gemeinsamen Interessen, die bei der Erarbeitung der persönlichen Karte und der historischen Karte deutlich wurden, und durch die Affinitäten, die bei der Darstellung ihrer Beziehung zur Stadt und zum Territorium von Lima entdeckt wurden, bildeten. Wir können den Entstehungsprozess dieser beiden Karten an dem Werk von Úrsula Cogorno beobachten, einer Teilnehmerin, die sich später der Gruppe CO[HABITAR] anschloss. Sie stellt in der ersten Karte die Verbindungspunkte dar, die sie aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung als die herausragendsten Punkte empfand, wobei jeder Punkt Orte darstellte, die sie ständig aufsuchte. Dadurch entstand eine 31 Zur Studentengruppe gehören: Claudia Ayala Andazabal, Arturo Cochatoma Ser­ rano, Úrsula Cogorno Buendía, Luciana Melgar Carhuancho und Diandra Rodríguez Armas; sie stammen sowohl von der Fakultät für Architektur als auch von der Kunstfakultät, in welcher der Kurs stattfand.

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Art artikuliertes Netz von Routen zwischen einem Ort und einem anderen (Abb. 21).

Abbildung 21: Einzelpräsentation für den Kurs »Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums«. Quelle und Anfertigung: Cogorno 2016‑2.

Die zweite Ebene ist eine kartografische Projektion, die nach der bisherigen identifikatorischen Erfahrung persönlicher Orte durch die Verfasserin in diesem Fall die im Stadtgebiet von Lima registrierten Huacas in der Erwartung zeigt, die kulturelle Identität des von ihr bewohnten Territoriums zu finden (Abb. 22).

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Abbildung 22: Einzelpräsentation für den Kurs »Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums«. Quelle und Anfertigung: Cogorno 2016‑2.

Die Teilnehmer des Kurses stellten in argumentativen Diskussionen ihre Arbeiten und Ergebnisse der ersten beiden symbolischen Karten (der persönlichen und der historischen Karte) vor und entdeckten gemeinsame Interessen für die Fortsetzung der dritten Phase, die in den vorangehenden Erfahrungen als eine imaginäre Karte definiert wurde. In diesem Fall jedoch sollte sie als Gruppenvorschlag definiert werden, der darauf abzielt, die angesprochene Problematik sichtbar zu machen und mögliche Interventionen in der Stadt für deren Lösung zu visualisieren. Die Implikationen und die Reichweite der Gruppe CO[HABI­ TAR] werden im Folgenden erläutert: Das Gruppenprojekt schlägt eine Methode vor, die auf partizipativen Aktionen zur Schaffung und Stärkung der Erinnerung und der Identität unseres Landes basiert und eine aktive Beziehung zwischen dem Komplex von Maranga im Bezirk San Miguel und den Bewohnern des Gebiets herstellt. Bei diesem interdisziplinären Projekt handelt es sich um einen Vorschlag für eine künstlerische Intervention, die durch partizipative und kollaborative Strategien darauf abzielt, zusammen eine Gemeinschaft zu schaffen, die in der Lage ist, die Präsenz, das Wissen und die Bedeutung des

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archäologischen Raums der Huaca Tres Palos (archäologische Stätte aus der Zeit vor den Inkas) sichtbar zu machen und zu verbreiten, um in ihrer Geschichte und Erinnerung eine Identität zu finden, die es uns ermöglicht, dauerhafte kommunitäre Bindungen zu stärken und aufzubauen (Ayala et al. 2016).

Abbildung 23: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 19.

Die architektonischen Komplexe der präinkaischen Kulturen der Zen­ tralküste sind verfallen oder nach und nach verschwunden, da seit der Gründung Limas durch die Spanier die bereits bestehenden städt­ ischen Strukturen als Grundlage für die städtebauliche Gestaltung dienten. Später, in den Zeiten der Republik, expandierte die Stadt und verschmolz mit den Badeorten, jedoch blieben die archäologischen Stätten in der Stadtplanung unberücksichtigt und wurden zu ihrem

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Schutz von Mauern umschlossen. Schließlich entstanden in der neuen Zeit infolge der Migration Elendsviertel im Norden, Osten und Süden der Stadt, was sich aufgrund der fehlenden Stadtplanung negativ auf die Erhaltung des prähispanischen Erbes auswirkte. Im speziellen Fall der Huaca Tres Palos, die Teil des Komplexes von Maranga ist und derzeit zum Parque de Las Leyendas gehört, besteht eine riesige, drei Meter hohe Betonmauer voller Werbetafeln, die die Huaca von ihrer Umgebung trennt. Das macht es den Bewohnern unmöglich, eine Beziehung zu dem archäologischen Erbe und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ihm zu entwickeln, und beschleunigt so den Verfall (Ayala et al. 2016). Angesichts dieser Situation und fehlender Strategien und Dyna­ miken der sozialen Aktivierung und Interventionen, die Räume der Interaktion zwischen der Gemeinschaft und dem archäologischen Bereich schaffen, wird eine Lösung vorgestellt, die die Huaca in die Stadt integrieren und mit ihr artikulieren soll. Es handelt sich dabei um eine künstlerische Intervention, die eine Route mit fotografischen Elementen schafft, die auf interaktive Weise die Geschichte und Bedeutung der Huaca Tres Palos vermittelt und den Passanten freien Zugang zu den Elementen gewährt sowie die Möglichkeit gibt, ihre Meinung dazu abzugeben (Ayala et al. 2016). Wie in den Abbildungen 24, 25 und 26 zu beobachten ist, nahm das ausgewählte Publikum nach Abschluss der Prozesse zur Sensibilisierung und Kontextualisierung des untersuchten Bereichs an der fotografischen Reproduktion der Huaca Tres Palos teil. Die in den Abbildungen gezeigten Inputs, die aus speziell gestalteten Objek­ ten bestanden, erleichterten durch partizipatorische Aktivitäten, wie z. B. die Acrylplatten mit Erläuterungen, die Zusammenstellung von Information und förderten dann die Intervention, die über die Fotos von möglichen Lösungen der behandelten Problematik gezeichnet wurde. Das gestattete es dem Publikum und den Mitgliedern der Gruppe, sich die mögliche Wiederherstellung des Erbes in diesem Territorium und seine Würdigung vorzustellen. Die monumentale Archäologie unserer Geschichte ist fantas­ tisch, wir können heute nur ganz und gar darin versinken. Modernisierung, Urbanisierung, Zivilisation, jener Prozess der Spal­ tung zwischen dem Leben und den Geschichten, der es jedem ermög­ licht, »sein Leben zu erzählen« (und der auch Ausdrücke wie »erzähl mir nicht dein Leben« oder »erzähl mir keine Geschichten« veran­ schaulicht), jener Prozess, der die Natur zu einem weiten, berechen­

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baren und unsensiblen Netzwerk (leerer Raum und leere Zeit) machte […] die Straße ist voll von unzähligen archäologischen Resten, denen es an Geschichte, Bildern und Worten ohne Wesen fehlt, die abseits der Großen Geschichte bleiben, Reste ohne Einheit oder Größe, oft lächerlich. (Pardo 1996, S. 207)

Abbildung 24: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 35.

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Abbildung 25: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 40.

Abbildung 26: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 46.

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Abbildung 27: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 55–56.

Abbildung 28: Quelle und Anfertigung: Ayala et al. 2016, S. 57–58.

Das Territorium wird nicht als eine unbewegliche und immerwäh­ rende Architektur verstanden, sondern als die Unterstützung eines Siedlungsprozesses, bei dem das Kollektive für die Entwicklung der Bewohner entscheidend ist. Die Ästhetik mutiert, ist beweglich, im Territorium vergänglich, aber durch eine doppeldeutige Darstel­ lung charakterisiert. Hier erscheint das Ritual als eine Kategorie der symbolischen Erfahrung. Das Ritual erzählt eine Legende, die die Überzeugungen des Bewohners hinsichtlich der wirkungsvollen Verhaltensweisen zusammenfasst und so die mythische Zeit auf den Moment seiner Ausführung zurückführt. Wir sprechen von der Mobilisierung des Wesens selbst, eines Wesens, das sich den Umstän­ den des neuen Territoriums, das für seine materiellen Zwecke zur Verfügung steht, anpasst. Ein Mensch kann als solcher nur im Innern einer formalen Gestalt existieren, in einem Territorium und in einer Zeit, die ihm vorausge­ hen, die seine Bedingungen des Möglichen begründen, die seine natür­

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lichen Wurzeln, seine Verwurzelung mit der Erde, seine Gemeinschaft ausmachen. Aus dem gleichen Grund existiert die Natur, nur kultiviert durch eine Kultur und einen Kult, gesungen in einer Sprache, erzählt durch eine Geschichte. (Pardo 1996, S. 267)

Diese Beispiele erzählen uns visuell von einer Erinnerung und ver­ wandeln die unvermeidliche Geschichte unserer Toten. Die Vergan­ genheit ist nicht tot. Es muss eine symbolische Beziehung zu dem aufrechterhalten werden, was der Lauf der Zeit hinter der Gegenwart zurücklässt. In diesem zweigeteilten Raum erhebt sich die Stadt. Viel­ leicht eine Illusion, aber vor allem eine Möglichkeit, eine symbolische Art und Weise, den Bruch mit dem ersten Zuhause zu beheben, die Verzweiflung zu überwinden, die fragmentierten, vermischten Symbole mit Sinn zu füllen. Verschwimmende Grenzen. Erfassbare Zeit im Wohnraum und nicht erfassbare Zeit im Ritual. Über die Subsistenz drängt sich der Wunsch nach Existenz und Leben auf. Immaterielle Ästhetik, die sich auf den Klang des Menschlichen ein­ stimmt.

Schlussfolgerung In den verschiedenen gezeigten Beispielen sprechen wir von einem immateriellen Erbe und von einer Rückeroberung des Raumes, bei der das Ziel nicht das »Gebäude« ist, sondern die Anpassung der Architektur an die Bedürfnisse der Gemeinschaft, wobei ihre Integra­ tion die Verwendung und Entwicklung ethisch-ästhetischer Codes einschließt. Dabei geht es um die Verwendung von Codes, die auf dem Verständnis des komplexen Geflechts beruhen, das sich aus dem Wissen über unsere persönliche und kollektive Geschichte, aus deren Elementen, die die Segmente marginalisieren, und aus den soziokulturellen Beziehungen in unserer Gesellschaft gebildet hat. All dies macht das komplexe Gefüge der Stadt Lima aus. Wenn wir eine symbolische Wahrnehmung von Lima zeichnen müssten, würden wir in der Tat erwägen, Spiralen zu zeichnen, die, obwohl getrennt und unartikuliert, flexibler sind und andere Möglichkeiten des »Denkens« und eine unter symbolischem Aspekt andersartige Konstruktion des Territoriums bieten. Die Würdigung der Landschaft unter dem Gesichtspunkt des interkulturellen Dialogs mit allen sowohl historischen als auch symbolischen Folgerungen, je nach Herkunft und Migrationserfahrung der Individuen und sozia­

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len Gruppen und ihren anthropologisch-politischen Bedingungen, ist entscheidend für das Verständnis und die ethisch-ästhetische Wertschätzung des immateriellen Kulturerbes unserer Geschichte mit seinen künstlerischen Ausdrucksformen. Dieser Artikel wollte die Verbindungen der territorialen und städtischen Entwicklung und deren Beziehungen zu den ethischästhetischen Komponenten der Stadt und der Landschaft definieren. In diesem Sinne ist es notwendig, die Strukturen der visuellen Dar­ stellung unter den Aspekten unserer Zeit zu analysieren. Das würde es uns erlauben, das komplexe Geflecht verkannter Situationen in der Stadt sichtbar zu machen. Vielleicht werden wir auf diese Weise besser in der Lage sein, uns am Aufbau einer Stadt zu beteiligen, die für alle Möglichkeiten bietet.

Bibliografische Referenzen Ansión, J., Mujica, L. & Villacorta, A. (2008): Los que se quedan: familias de emigrados en un distrito de Lima [Diejenigen, die bleiben: Emigrantenfami­ lien in einem Bezirk von Lima]. Lima: PUCP. CISEPA. Federación internacio­ nal de Universidades Católicas. Ayala, C., Cochatoma, A., Cogorno, U., Melgar, L. & Rodríguez, D. (2016): CO[HABITAR] [ZUSAMMEN[WOHNEN]]. Proyectos Interdisciplinarios de la Ciudad y el Territorio [Interdisziplinäre Projekte der Stadt und des Territoriums]. Lima: Pontificia Universidad Católica del Perú. Koordinatorin Dr. Karla Villavicencio Monti. Chávez, C. (2017): In: Villavicencio, K., Chávez, C., Díaz, L., Macha, I., Torres, M., Santisteban, E. & Valenzuela, C.: Metrópolis imaginal: la guía de los viajes simbólicos en Lima [Imaginäre Metropole: Der Führer für symbolische Reisen in Lima]. Lima: Pontificia Universidad Católica del Perú, Abteilung für Kunst und Design, S. 10–29. Kahatt, S. (2016): Megaformas y formas colectivas: Estrategias para habitar la pendiente [Megaformen und kollektive Formen: Strategien zu Besiedlung von Hängen]. In: Rodríguez, L. & Muñoz, P. (Hg.): La ciudad de las laderas. Vivienda, ciudad y sociedad. Ensayos [Die Stadt der Berghänge. Wohnraum, Stadt und Gesellschaft. Essays]. Workshop Limápolis 2016. Lima: Fondo Editorial PUCP. Macha, I. (2017): IGNACIO MACHA. In: Villavicencio, K. et al.: Metrópolis imaginal: la guía de los viajes simbólicos en Lima [Imaginäre Metropole: Der Führer für symbolische Reisen in Lima]. Lima: Pontificia Universidad Católica del Perú, Abteilung für Kunst und Design, S. 38–47.

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Massey, D. (2008): Hay que traer el espacio a la vida [Man muss den Raum ins Leben holen]. Interviewer: Román Velázquez, Patria und García Vargas, Ale­ jandra. In: Signo y Pensamiento [Zeichen und Denken], 27 (53), S. 328–343. Pontificia Universidad Javeriana Bogotá, Kolumbien, abgerufen über https:// dspace.lboro.ac.uk/2134/26686. Pardo, J. (1996): La Intimidad. [Die Intimität]. Valencia: Pre-textos. Villavicencio, K., Chávez, C., Díaz, L., Macha, I., Torres, M., Santisteban, E. & Valenzuela, C. (2017): Metrópolis imaginal: La guía de los viajes simbólicos en Lima [Imaginäre Metropole: Der Führer für symbolische Reisen in Lima]. Lima: Pontificia Universidad Católica del Perú, Abteilung für Kunst und Design. Villavicencio, K. (Produzent), Villavicencio, K. & Luque, J. A. (Regie) (2014): ImaRginäre Städte [Ciudades Imarginales] [Dokumentarfilm]. Wien/Lima: Ministerium für Kultur und Kunst von Österreich.

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Gestatten Sie mir, dass ich zu Beginn meiner Überlegungen zum Begriff der rezeptiven Kunsttherapie eine kleine Anekdote zu seiner Entstehungsgeschichte erzähle. Ich hatte nämlich das Vergnügen, unmittelbarer Zeitzeuge dieser Entstehungsgeschichte zu sein, und lasse Sie gern daran teilhaben. Der Begriff bzw. das, was damit gemeint ist, wurde nämlich von einem Studien-Kommilitonen von mir erfunden: von Jürgen Pröhl. Wir waren Anfang der 80er Jahre zusammen mit ca. 20 anderen jungen Menschen die ersten »Ver­ suchskaninchen« eines neu gegründeten experimentellen Studien­ ganges der Freien Kunstschule Nürtingen – eines sehr besonderen Studienganges! Wir haben damals im Sinne einer »permanenten Selbsterfahrung« zusammen in einer Wohngemeinschaft in einem einsamen Haus auf der Schwäbischen Alb gelebt, gemeinsam medi­ tiert und zusammen unser Gemüse angebaut und wurden dort von Gerhard Dreher, dem Begründer der Nürtinger KunsttherapieSchule unterrichtet. Unser Kommilitone Jürgen war der Einzige, der noch kein Kunst­ studium hinter sich hatte, und er hatte auch nicht vor, sich sonderlich aktiv mit Kunstproduktion zu beschäftigen, weil er der festen Über­ zeugung war, das Rezipieren von Kunst sei schon schwer genug. Statt neue Kunstwerke zu produzieren, müsste es kunsttherapeutisch doch auch Sinn machen, schon vorhandene intensiv zu rezipieren! In einem unserer Dozenten, dem Kunstwissenschaftler Dr. Albrecht Leuteritz, fand er einen toleranten und interessierten Gesprächspartner, der ihm ermöglichte, seine Abschlussarbeit zu die­ sem Thema zu schreiben, und so verfasste Jürgen eine Diplomarbeit unter dem Titel »Kunsttherapeutische Ansätze in der christlichen und buddhistischen Kunst am Beispiel des Isenheimer Altares und des Mandala«. Albrecht Leuteritz hat dann die Idee und den Begriff der »Rezeptiven Kunsttherapie« in seinen Vorlesungen konsequent weiterverfolgt, und in der Ausstellung »Kunst und Therapie« 1993

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in Dresden, die ich zusammen mit Prof. Dr. Peter Baukus konzipiert habe, wurde seinerzeit eine eigene Abteilung für Rezeptive Kunstthe­ rapie eingerichtet (Bader, Baukus & Mayer-Brennenstuhl 1999). Ich erzähle Ihnen diese Anekdote, weil ich mich in meinem Bei­ trag auch auf diese frühen Protagonisten der rezeptiven Kunsttherapie beziehen werde und die Kernideen, die schon darin sichtbar werden, etwas näher beleuchten will. Leuteritz verweist in Anknüpfung an die Diplomarbeit von Jürgen Pröhl in verschiedenen Veröffentlichungen seit den 80er Jahren (Leuteritz 1993) auf die historisch belegte Verwendung künstlerischer Erfahrung in Zusammenhang mit Hei­ lungsgeschehen seit der Antike, beispielsweise auf die eine Katharsis intendierenden Theateraufführungen in den Asklepieia und auf die dort aufgestellten Skulpturen, die am griechischen Schönheitsideal orientiert waren und eine innere Harmonisierung bewirken sollten. Oder auf den Isenheimer Altar, der vom Antoniter-Orden in Auftrag gegeben wurde, um den Opfern der Mutterkorn-Seuche see­ lischen Beistand zu vermitteln durch die kontemplative Betrachtung des Leidens und der Auferstehung Christi, eine direkte Adaption des antiken Katharsis-Gedankens, übersetzt von Matthias Grünewald in Form eines Retabels mit wechselnder Bildfolge. Diesen Altar hat Jürgen Pröhl in seiner Diplomarbeit ausführlich in seiner religiös-the­ rapeutischen Funktion beschrieben und in Bezug gesetzt zu einer ganz anderen Kunstform, nämlich dem aus dem östlichen Kulturkreis stammenden Mandala. Und damit haben wir schon zwei wesentliche Kerngedanken der rezeptiven Kunsttherapie in prototypischer Aus­ prägung, die kathartische Bild- oder Szenenfolge und das Mandala. Als einen weiteren frühen Protagonisten der »rezeptiven Kunst­ therapie« möchte ich auch den Arzt und Kunstsammler Gerhard Heinrich Ott erwähnen, der in einer sehr frühen Veröffentlichung zu unserem Thema, nämlich dem Buch »Der andere Blick. Heilungswir­ kungen der Kunst heute«, sich ebenfalls auf eine ähnliche Dichotomie der unterschiedlichen »Heilungsaspekte« von Kunst bezieht (Ott 1986). Gerhard Heinrich Ott hat seine private Kunstsammlung in seiner Klinik in Bad Godesberg präsentiert und dabei auf Kriterien der Präsentation geachtet, die den möglichen »Heilungsaspekt« auf unterschiedliche Weise berücksichtigen. Er differenziert dabei zwei unterschiedliche Bildtypen, nämlich »beruhigende, harmonische« Bilder und eher »unruhige, provozierende« Bilder, die er in jeweils unterschiedlichen Situationen in der Klinik präsentiert. Die harmoni­ schen Bilder platziert er dabei bevorzugt in den Krankenzimmern,

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die provozierenden eher in den Gängen. Beiden Bildtypen spricht er aber eine heilsame Wirkung zu, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Auf diese Dichotomie werde ich mich in meinen folgenden Ausführungen beziehen. Lassen Sie mich mit dem Mandala beginnen. Dieses stammt in seinen Ursprüngen aus dem tibetanischen Buddhismus und wird in zeremonieller Weise in wochenlanger Arbeit von Mönchen mit Sand gestreut. Die darin festgehaltenen Szenen stellen mythologische Inhalte dar und dienen im buddhistischen Sinne der Befreiung von deren Wirkmacht auf unser Bewusstsein. Einen ähnlichen Gedanken finden wir übrigens bei den Sandbildern der Schamanen in Nordame­ rika; auch hier werden die »bösen Geister« in bildhafter Form in einem tagelangen Ritual gestreut und anschließend – ähnlich wie in der tibetanischen Tradition – wieder zusammengekehrt, d. h., das Bild wird wieder aufgelöst. Übrigens eine interessante Handlungsweise aus kunsttherapeutischer Sicht! Das Mandala taucht in der christlichen Kunst beispielsweise in Form der Fensterrosetten seit der Romanik auf, in Gestalt der Mandorla ist das symmetrische Prinzip auch in der abendländischen Kunst und der Kunst der Ostkirche vor allem in der byzantinischen und romanischen Epoche sehr verbreitet. Von diesen Bildern geht eine sehr intensive Suggestionswirkung aus; ich persönlich empfinde sie als sehr heilsam. Was uns im Hinblick auf kunsttherapeutische und rezeptionsästhetische Überlegungen hier interessiert, ist die spe­ zifische formalästhetische Besonderheit von Mandalas, nämlich die Symmetrie insbesondere in seiner Ausprägung als Punktsymmetrie. Dass Symmetrie eine ausgesprochen beruhigende Wirkung auf den Betrachter hat, ist allgemein bekannt, wir wollen hier aber nachfragen, weshalb dem so ist. Die evolutionäre Erkenntnistheorie und die daraus abgeleiteten ästhetischen Theorien, wie sie z. B. Peter Baukus in seinen Überlegun­ gen zu neurobiologischen Grundlagen der Kunsttherapie schon seit den 80er Jahren ausgearbeitet hat (Baukus 1993), verweist uns darauf, dass als Gestaltqualität von Organismen und natürlichen Strukturen des Lebendigen das Prinzip der Punktsymmetrie sowie die symmetri­ sche Spiegelung sehr wichtig sind. Ernst Haeckel hat diese Strukturen bei Mikroorganismen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus­ gearbeitet, und selbst die DNA folgt in ihrer räumlichen Struktur diesem Muster. Und wenn wir weiter zurückgehen, entdecken wir diese Gestaltprinzipien schon auf der Ebene der Klangschwingungen.

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Der Psychiater Alfred Bader hat schon 1971 in einem Beitrag auf die Strukturähnlichkeiten von Chladni’schen Schwingungsbildern oder Bildern aus den harmonikalen Forschungen von Hans Jenny und den halluzinatorischen Formkonstanten nach Klüver verwiesen: »Es scheint mir interessant, daß die halluzinatorischen Formkonstanten […] weitgehend jenen Mustern entsprechen, die durch Schwingungs­ phänomene in Flüssigkeiten entstehen. Die in Mandalas so häufige Kombination von Kreuz- und Kreisform könnte angesichts der physi­ kalischen Schwingungsfiguren vielleicht auf eine biologische Grund­ lage zurückzuführen sei. Da symmetrische, zahlengeordnete Wellen­ phänomene in unserem zum größten Teil aus Flüssigkeit bestehenden Körper notgedrungen auch vorkommen müssen, dürfte es gar nicht überraschen, wenn gerade die daraus resultierenden Formen eine so große Bedeutung für unsere Psyche besäßen« (Bader 1975). Zahlreiche kunsttherapeutische Fachliteratur hat den Gedanken der Ähnlichkeit von Bildern, die unter psychotropen oder halluzi­ natorischen Bedingungen gemalt wurden, mit diesen natürlichen physikalischen Formkonstanten aufgegriffen und verifiziert. Aber nicht nur in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen taucht dieses Bildmaterial auf, vielmehr auch in der rationalsten aller Künste, der Geometrie. Eine der wesentlichen Quellen der Kunst ist neben der visuellen Naturbeobachtung die Geometrie, also ein rein gedank­ liches Konstrukt. Das Spiel mit dem Zirkel und dem Lineal, mit Kreis und Gerade ist ein uraltes Bedürfnis des Menschen, und ein Großteil der ornamentalen Kunst und der abstrakt-konkreten Kunst verdankt sich diesem Bedürfnis, beispielsweise in den wunderbaren Fensterrosetten der gotischen Kathedralen. Dieses weite Feld der künstlerischen Gestaltung haben wir Kunsttherapeut*innen etwas vernachlässigt, und wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, wenn unsere Klient*innen sich dann etwas zweifelhaften künstlerischen Surrogaten wie den sehr beliebten Ausmalbildern zuwenden. Wäre es aber nicht ergiebiger, wenn wir uns selbst auf die alte Tradition der »heiligen Geometrie« besännen, statt Surrogaten das Feld zu überlassen? Wenn wir an Geometrie denken, dann fällt uns zumeist zuerst der Satz des Pythagoras aus dem Mathematikunterricht unserer Schulzeit ein. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass die Geheimlehren der Pythagoreischen Schule mehr waren als funktio­ nale Mathematik und auf eine Lebenshaltung verwiesen, die durchaus auch das »richtige Leben« meinten, also ein heilsames Leben. Damit

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war ein Leben in Einklang mit den »Sphärenharmonien« des Kosmos und dem »richtigen Maßhalten« gemeint; den Nachklang dieser Leh­ ren finden wir beispielsweise noch bei dem Astronomen Kepler oder den Forschungen von Hans Kayser über harmonikale Schwingungen (vgl. z. B. Kayser 1946). Bleiben wir bei unserer Suche nach »heilsamen Strukturen« aber bei der Bildenden Kunst und erweitern unseren Blick über das Prinzip der Punkt- und Achsensymmetrie hinaus, dann finden sich noch einige weitere Bildstrukturen, denen wir eine wohltuende Wir­ kung bei der ästhetischen Rezeption zusprechen können. Zu nennen wären hier beispielsweise harmonikale Proportionen und der Goldene Schnitt, wie er schon früh in den Schriften des Vitruv zur Architektur beschrieben und durch Leonardo da Vincis »Proportionsschema der menschlichen Gestalt« popularisiert wurde. Diese Ideen der »guten Proportion« wirkten im 20. Jahrhundert noch nach, beispielsweise im Maßsystem des »Moduls« bei dem Architekten Le Corbusier, das ebenfalls auf dem Goldenen Schnitt basiert. Der Goldene Schnitt ist übrigens auch darstellbar im Penta­ gramm und in der Fibonacci-Zahlenreihe, die in der Evolution eine wichtige Rolle spielt und sich auch in einem Sonderfall der logarith­ mischen Spirale, der sogenannten »Goldenen Spirale«, abbilden lässt. In der naturalistisch-gegenständlich orientierten Kunst sind diese Prinzipien aber ebenso zu finden, wenn auch verborgener, nämlich in der zugrunde liegenden Bildkomposition. So beispielsweise bei Caspar David Friedrich, der seine Bilder sehr genau mit Lineal und Zirkel konstruiert und dabei häufig den Goldenen Schnitt präferiert hat. Aber auch bei den Bauhaus-Künstlern steht die Formen- und Kompositionslehre hoch im Kurs; in ihren pädagogischen Aufzeich­ nungen finden wir viele Hinweise darauf, und von Paul Klee ist überliefert, dass er insbesondere an den Zusammenhängen zwischen natürlichen Formbildungen und geometrischen Gesetzmäßigkeiten interessiert war. Und es verwundert uns daher nicht, wenn wir auf der Suche nach den möglichen Ursachen der »heilsamen« Rezeption derartiger Bildstrukturen wiederum deren Ursprung in natürlichen Wachstumsproportionen finden, sei es in der Wachstumsstruktur von Sonnenblumenblüten, Tannenzapfen, Blättern usw. oder beispiels­ weise in der perfekten »goldenen Spirale« der Nautilus-Schnecke, um nur ein paar wenige populäre Beispiele zu nennen. Es ließe sich nun noch sehr lange über formal-ästhetische Phäno­ mene der Komposition, Proportion, Symmetrie usw. reflektieren, die

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in der Kunst immer eine wichtige Rolle gespielt haben, wir können das aber hier nicht weiter vertiefen. Der Kerngedanke, um den es mir geht, ist die Überlegung, dass es bestimmte formal-ästhetische Strukturprinzipien gibt, die uns als besonders heilsam erscheinen und die deshalb unter kunsttherapeutischen Erwägungen mit Blick auf ihre therapeutischen Ressourcen in der Rezeptiven Kunsttherapie bedenkenswert sind. Ihre strukturierende und haltgebende Wirkung auf unser psychisches Erleben ist evident, und dass Menschen in psy­ chischen Krisen, die ihre »Mitte« verloren haben, in diesen Bildstruk­ turen inneren Halt finden können, ist meines Erachtens sehr plausibel. Wir sollten uns aber auch klarmachen, dass wir dabei eine Art »direktive« Kunsttherapie verfolgen, d. h., das Bild ist dabei nicht subjektiver Selbstausdruck einer inneren Befindlichkeit, sondern gewissermaßen ein Korrektiv. Dieser direktive Ansatz wird in der Kunsttherapie oft beargwöhnt und kritisch hinterfragt, ich denke aber, dass er durchaus seine Berechtigung hat, vor allem, wenn wir unseren Klient*innen nicht »ein Bild verordnen«, sondern ihnen die freie Wahl lassen, selbst zu entscheiden, welches Bild ihnen gerade guttut. Das ist dann erfahrungsgemäß oft ein Bild, das ihren psychischen Defiziten – also beispielsweise Desorientierung, Strukturverlust, Verlust der Lebendigkeit usw. – entgegensteht und sie Zugang finden lässt zu dieser Ressource. Ich will nun im Weiteren aber die Blickrichtung ändern von diesen »heilsamen« Bildern – gewissermaßen Bildern mit einer »prästabilierten Harmonie« – weg ins »Unheilsame«, wie es ja beispielsweise auch in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altares drastisch dargestellt ist. Die Frage, die wir dabei verfolgen wollen, richtet sich wiederum auf das Ressourcen-Potential dieser Art Bilder. In gewisser Weise können diese »unheilvollen« Bilder zunächst als Selbstausdruck der inneren Befindlichkeit unserer Klient*innen gese­ hen werden. Aber sind sie auch heilsam? Schauen wir uns also diese »anderen Bilder« etwas genauer an. Um den Bezug zu den bisherigen Ausführungen herzustellen – und um ihn gewissermaßen zu kontrastieren –, möchte ich eine kunstgeschichtliche Begrifflichkeit einführen, die heute nicht mehr geläufig ist, aber den Sachverhalt gut anschaulich macht, nämlich das Begriffspaar »dionysisch« und »apollinisch«. Darunter ist ein phi­ losophisches Begriffspaar zu verstehen, das zunächst von Schelling verwendet und später von Nietzsche aufgegriffen wurde. Es beschreibt zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen und bedient sich dazu der Eigenschaften, die den griechischen Göttern Apollon und

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Dionysos zugeschrieben werden (vgl. Mayer-Brennenstuhl 1993). Hierbei steht »apollinisch« für Form und Ordnung, im Schiller’schen Sinne also für den »Form-Trieb«, und »dionysisch« für Rauschhaftig­ keit mit ihrer Tendenz ins Ungeordnet-Chaotische, Form-Auflösende. Die Entwicklungslinie der Kunst, die sich an Form und Ordnung orientiert, haben wir bisher am Beispiel des Mandalas betrachtet und die damit verbundenen kunsttherapeutischen Ressourcen beschrie­ ben. Der anderen Seite der Kunst, nämlich ihrer chaotischen, unge­ bändigten Stofflichkeit (auch im Sinne von Schillers »Stofftrieb), also ihrer dionysischen Seite, wollen wir uns im Folgenden zuwenden. Die »Schönheit«, die wir im ersten Abschnitt aus der Natur herausdestilliert und als harmonikale Strukturen beschrieben haben, ist bei genauerem Hinsehen nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheint. Natur ist auch monströs, grotesk, sie beinhaltet auch den Zerfall und die Auflösung, das Schöne ist oft nur des Schrecklichen Anfang, wie Rilke uns in seinen Duineser Elegien belehrt. Das Chaos ist schon immer der Ordnung immanent. Aber vielleicht ist diese vertiefte Sicht auf das Leben und die Natur gerade deshalb auch heilsam, vielleicht liegt gerade in dieser Tiefensicht eine kunstthera­ peutische Ressource, weil das Leben immer schon beides umfasst: Schönheit und Schrecken, Ordnung und Chaos, das Heilige und das Zerbrochene, oder wie Leonard Cohen es ausdrückte: »There’s a blaze of light in every word, it doesn’t matter which you heard, the holy or the broken. Hallelujah.« Fassen wir daher im Folgenden die dionysische Seite der Kunst und des Lebens ins Auge. Wir haben eingangs »schöne« Bilder von Symmetrien in Natur und Kunst betrachtet. Nun ist das Interessante an diesen Bildstrukturen der organischen Natur und Physik aber, dass sie tatsächlich nie vollkommen symmetrisch sind; nur auf den ersten Blick erscheinen sie uns so, ein genaueres Hinschauen lässt uns bemerken, dass hier immer zugleich ein Symmetriebruch stattfindet, eine Unregelmäßigkeit, die von Beginn der Ausdifferenzierung der ersten kosmischen Materie an sich weiter bis in die letzten Ausfor­ mungen des Lebendigen zieht. Und, wie ich meine, auch bis in unsere kulturellen Schöpfungen hinein. Absolute Symmetrie, d. h. der Zustand eines statischen Gleichgewichts, ist tot, das Lebendige aber ist immer im Werden, und die Ursache des Werdens ist eben dieses minimale Ungleichgewicht. Interessant ist nun in diesem Zusammenhang, dass dieses Phä­ nomen auch in unserem Schönheitsempfinden verankert ist: Ein

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fotografisch manipuliertes Porträt, bei dem aus einer Gesichtshälfte ein absolut symmetrisches Gesicht gemacht wurde, erscheint uns sofort seltsam, ja sogar ein wenig dämonisch. Es ist die Asymmetrie in der Symmetrie, die uns etwas als schön erscheinen lässt, die Unregelmäßigkeit im Regelmäßigen, der Bruch in der Regel. Der Motor der Evolution ist der Bruch, der Unfall, die Krise. Wir stoßen in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Kontingenz. Kontingenz, die unendliche Vielfalt des Möglichen, das nicht Vorhersehbare, das nicht Geplante ist die Essenz, die Neues ermög­ licht: »Alles könnte anders sein!« Das ist einerseits die Verheißung neuer, unerwarteter Möglichkeiten, die uns exemplarisch in der künstlerischen Kreativität begegnen. Andererseits ist die Erfahrung des Kontingenten zugleich aber auch eine Bedrohung: Sie bedeutet den Unfall, den Absturz, den Verlust aller Sicherheit, die Vernichtung des Gewohnten. »Leben ist das, was geschieht, während du andere Pläne machst«, hat John Lennon lapidar diese Lebenserfahrung beschrieben. Aber erst dieses ambivalente Prinzip ermöglicht die Entwicklung des Lebendigen. Und deshalb erscheint uns das Leben eben nicht nur in Gestalt des Apoll, sondern auch des Dionysos. Das ästhetische Gestaltungsprinzip der Kontingenz ist die Alea­ torik, das Prinzip des blinden Zufalls und der bewussten Dekonstruk­ tion. Wir können dieses Gestaltungsprinzip nicht nur in der Kunst des 20. Jahrhunderts aufzeigen, vielmehr war es schon immer ein wesent­ licher Bestandteil der kulturellen Praktiken der Menschheit weltweit. Nun ist es aber aus therapeutischer Sicht interessant, dass dieses Kon­ tingenzprinzip der natürlichen Evolution und des »Schicksals« sowohl in der Natur als auch in der Kunst nicht losgelöst und sozusagen »dik­ tatorisch« und zerstörerisch den Verlauf der Welt bestimmt, sondern gewissermaßen Teil eines systemischen Gesamtzusammenhanges ist, der inmitten der Auflösung und des Zerfalls von Ordnung zugleich neue, höherwertige Ordnungen hervorbringt: Aus Kontingenz kann auch wieder Kohärenz hervorgehen (vgl. Mayer-Brennenstuhl 2015). Die Physik scheint dem zunächst zu widersprechen. Eine zer­ brochene Vase fügt sich nicht wieder von selbst zusammen; der zweite Hauptsatz der Thermodynamik scheint einen solchen Vorgang zu verbieten. Dieser Satz der Physik besagt, dass sich aus einem ungeordneten Zustand von allein (also ohne Zufuhr externer Energie) kein geordneter Zustand bilden kann. Dieser Satz gilt aber nur für geschlossene Systeme im thermischen Gleichgewicht, beim Phäno­ men der dissipativen Strukturen, die fern vom thermischen Gleichge­

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wicht ablaufen, können wir tatsächlich Selbstorganisationsprozesse beobachten, die zu höherwertigen Ordnungen führen. Die Belou­ sov-Zhabotinsky-Reaktion zeigt beispielsweise mit einer interessan­ ten Musterbildung, die längere Zeit aufrechterhalten wird, dieses außergewöhnliche Phänomen. Dem Prinzip der Entropie, d. h. dem irreversiblen Verlust von Gestalt und Energie im Universum durch Dissipation und Energieentwertung im Sinne des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik – also eine permanente Zunahme von Unordnung –, steht demnach ein anderes Prinzip entgegen, das von Isabelle Stengers und Ilya Prigogine als »Negentropie« beschrieben wird, als »Negation der Entropie« – oder anders gesagt als »Zunahme von Komplexität« (vgl. Prigogine & Stengers 1990). Negentropie ermöglicht also inmitten eines chaotisierenden Zerfallsprozesses das Entstehen neuer Systeme mit höherwertigen Ordnungen. Die Systemtheorie kann also nicht nur den Übergang von Ordnung in Chaos beschreiben – wie wir es aus jedem Kinder­ zimmer kennen –, sondern auch den gegenteiligen Prozess: das Ent­ stehen neuer Ordnungen aus chaotischen Zuständen durch Prozesse autopoietischer Selbstorganisation. Das geschieht in Kinderzimmern bekanntlich nur selten, da braucht es zumeist eines pädagogischen Impulses von außen, aber die natürliche Evolution nutzt diese Mög­ lichkeit permanent – und eben auch die kulturelle Evolution. Die Krise ist der Ursprung neuer Ordnung – und genau dieses Prinzip kennen wir als Therapeuten aus der täglichen Praxis. In ästhetisch-bildneri­ schen Prozessen können wir dieses Verwandlungsprinzip beschreiben als die Konstruktion bzw. Rekonstruktion von Kohärenz aus Kontin­ genz – wir erleben das Werk dann als »ästhetisch stimmig« (vgl. Connert & Mayer-Brennenstuhl 2018). Hier müssen wir uns fragen, was eigentlich ästhetische Stim­ migkeit ist und ob diese ein rein subjektives Geschmacksurteil ist oder auch intersubjektive Komponenten hat. Interessant ist hier eine Betrachtungsweise, die Beobachtungen bei Selbstorganisations­ prozessen in der Natur auf künstlerisch-ästhetische Prozesse über­ trägt. Naturprozesse organisieren sich zu höherwertigen Ordnungen mit dem Prinzip der Rückkoppelung; dabei werden diskrete Merk­ male auf verschiedenen Skalen reproduziert und daraus wird ein neues Gesamtbild produziert. Wir sprechen hier von fraktalen Mus­ terbildungen. Daraus ergibt sich ein Gesamtzusammenhang, der eine gewisse Einheitlichkeit im Sinne der Selbstähnlichkeit hat. Die Details auf kleiner Skala haben dabei Ähnlichkeit mit der Gesamtge­

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stalt. Durch dieses Selbstähnlichkeitsprinzip entsteht in der Natur die jeweils eigene Form der »Stimmigkeit« einer Spezies, eines Tieres, einer Pflanze beispielsweise, und das ist der Grund, weshalb wir Natur als »schön« oder »heilsam« empfinden. Darauf haben wir weiter oben schon hingewiesen in Zusammenhang mit »schönen« Formbildungen in der Natur. Aber ist dieses Prinzip auch in der Kunst zu finden? Ist es möglicherweise sogar das Grundphänomen der Kreativität schlechthin? (vgl. Mayer-Brennenstuhl 1994) John Briggs und David Peat haben in einem Beitrag unter dem Titel »Die fraktale Natur des Geschaffenen« den Begriff der Reflektapher eingeführt und auch in der Kunst – beispielsweise in Gedichten, Musik oder Bildern – ein derartiges Prinzip nachzuweisen versucht (Briggs & Peat 1990). Mit diesem Begriff beschreiben sie die Spannung, die zwischen Ähnlichkeit und Verschiedenheit entsteht, d. h. eine Vielfalt, die zugleich auf ein Gemeinsames verweist – jedes Teil reflektiert sozusagen das Ganze. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass unser subjektives Geschmacksurteil sich daran orientiert, wie gut wir ein »Strukturprin­ zip« – anders gesagt eine ästhetische Idee – an einem Kunstwerk erkennen können. Zu hohe Komplexität erleben wir als Überforde­ rung; wenn wir keinerlei Selbstähnlichkeit identifizieren können, erleben wir das Kunstwerk als verwirrend und lehnen es ab; zu hohe Selbstähnlichkeit erleben wir dagegen als Unterforderung, als langweilig oder penetrant. Das Wiedererkennen eines einmal identifi­ zierten Elementes in einer modifizierten Gestalt dagegen bereitet uns ästhetische Lust – wir empfinden den erkennbaren Zusammenhang dann als stimmig oder, einfacher ausgedrückt, als schön. Diese Beschreibung ästhetischer Produktion und Rezeption mit der Begrifflichkeit der Systemtheorie ist meines Erachtens hilfreich, um künstlerische Produktions- und Rezeptionsprozesse in einen ergiebigen Zusammenhang mit psychotherapeutischen Prozessen zu setzen. Viele von Ihnen haben sicher schon längere Zeit bei meinen Ausführungen gedacht, diese strukturellen Beschreibungen der natürlichen und künstlerischen Schöpfungsprozesse kennen wir sehr gut, nämlich als die Struktur der Krise und deren Überwindung in therapeutischen Kontexten. Und genau darum geht es auch. Die Erfahrungen des Verlustes und der Neukonstruktion von Sinnhaftig­ keit in einer Lebenskrise folgt in weiten Teilen tatsächlich diesen Entwicklungslinien natürlicher und kultureller Produktionsprozesse mit ihrer fraktalen Struktur. Sinnhaftigkeit ist eine neue Form der

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Kohärenz, die durch den wiederholten Rückgriff auf sinnhafte Rest­ bestände und deren Neuverknüpfung aus der Kontingenz heraus zu einer neuen Sinnhaftigkeit führt. Diese Formulierung dürfte auch Psychotherapeuten sehr bekannt vorkommen! Die Transformation des Kontingenten hin zu einer kohärenten Werk-Gestaltung kann also als Übungsfeld für eine gelingende Lebens-Gestaltungs-Kompetenz interpretiert werden. Der weiter oben angeführte Begriff der Reflektapher bezieht sich nämlich nicht nur auf werkimmanente Spannungsverhältnisse: Mit den Teilen, die ein Ganzes reflektieren, ist nicht nur der fraktale Bezug der Details zum Gesamtwerk gemeint, der Begriff der Reflektapher greift weit darüber hinaus und meint auch den Bezug des Werkes zum »LebensKunstwerk« des Künstlers oder der Künstlerin. Diese Dimensionen stehen ebenso in Resonanz zueinander wie die Einzelheiten des Wer­ kes zum ganzen Werk; der Bezugsrahmen des Begriffes Reflektapher ist das »ganze Leben«. An dieser Stelle will ich noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen in meiner Argumentationskette: Das Resonanzfeld des Kunstwerkes umfasst nicht nur die Lebensrealität seines/seiner Schöpfer*in, sondern auch die des/der Betrachter*in! Das systemi­ sche Feld der Reflektapher ergreift in der Kunstrezeption auch den/die Betrachter*in; die Bewältigung des Schreckens, die Gewinnung eines neuen Sinn-Horizontes inmitten der chaotischen Auflösung ist ein stellvertretender Akt, den Künstler*innen für die Betrachter*innen ausführen, vorausgesetzt, Letztere lassen sich tatsächlich in ihrem Innersten vom Kunstwerk berühren. Und damit sind wir im Herzen der »Rezeptiven Kunsttherapie« angelangt.

Abbildung 29: Die kunsttherapeutische Triade

Ich möchte Ihnen hier einen wesentlichen Aspekt der Rezeptiven Kunsttherapie mit Hilfe eines Diagrammes anschaulich machen, das

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Sie in anderer Form sicher alle kennen. Ich meine die kunsttherapeu­ tische Triade mit der Dreiecksbeziehung zwischen Patient, Therapeut und ästhetischem Medium. In der rezeptiven Kunsttherapie müsste nun meinen Ausführungen zufolge diese Dreiecksbeziehung zu einer Vierecksbeziehung erweitert werden, genau genommen zu einer Vier­ ecksbeziehung mit zwei sich kreuzenden Diagonalen. Hier kommen nämlich zusätzliche Beziehungen mit ins Spiel bzw. ins System. Zusätzlich zu den drei Beziehungslinien des Therapeuten und des Klienten zum Bild einerseits sowie untereinander andererseits spielt nun die Beziehung des Bildes zu dessen Produzent*in eine wichtige Rolle. Damit differenziert sich jedoch das Beziehungsgefüge und erweitert sich in eine neue Komplexität. Der/die Klient*in hat nun nicht nur eine Beziehung zu seiner Therapeutin und dem Bild, sondern auch eine Beziehung zu dem/der Künstler*in, der/die das Bild produziert hat. Und genau so hat auch der/die Therapeut*in eine zusätzliche Beziehung zu dem Bild und dessen Produzent*in. Statt der drei Bezugslinien der kunsttherapeu­ tischen Triade haben wir nun sechs Bezugslinien in der rezeptiven Kunsttherapie. Damit wird das System viel komplexer, und das bedeu­ tet, systemisch gedacht, es hat auch wesentliche Unbekannte und damit mehr Freiheitsgrade. Da der Bezug zu dem ausgewählten Bild selbstverständlich sub­ jektiven Vorlieben folgt, kann hier eine sehr große Differenz zwischen den Perspektiven des/der Klient*in und des/der Therapeut*in mit ins Spiel kommen. Das gilt es sich bewusst zu machen einerseits als Quelle möglicher Missverständnisse und Übertragungsphänomene, andererseits aber auch als Quelle vieler neu zu entdeckender thera­ peutischer Aspekte. Vor allem gilt es nun etwas Wesentliches der Rezeptiven Kunsttherapie mit zu beachten: Während das Bild in der klassischen kunsttherapeutischen Triaden-Situation vor allem von den bewussten und unbewussten Intentionen des/der Klient*in geprägt ist, ist das ausgewählte und betrachtete Bild in der Rezeptiven Kunsttherapie nun in eben demselben Ausmaß von den bewussten und unbewussten Intentionen des/der Künstler*in geprägt. Das Feld der unbewussten Intentionen und der Übertragungsmöglichkeiten umfasst nun also statt zwei drei Personen, wobei eine der drei, nämlich der/die Künstler*in, eine Sonderposition einnimmt, da er/sie nicht in der aktuellen Situation in eine konkrete Beziehung tritt, sondern seinen/ihren Beitrag gewissermaßen außerhalb der aktuellen Bezie­ hung »abgeliefert« hat – in Form des Bildes. Zu diesem Bild aber

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hat der/die Produzent*in genauso eine Beziehung wie in der kunst­ therapeutischen Triade der/die Klient*in zu seinem/ihrem selbst gemalten Bild. Und damit kommt die Dynamik mit ins Spiel, die zwi­ schen dem/der künstlerischen Bildproduzent*in und seinem/ihrem Werk im Vorfeld der kunsttherapeutischen Situation schon stattge­ funden hat. Diese Dynamik im Sinne einer Bewältigungsstrategie habe ich weiter oben ausführlich geschildert. Sichtbar wird sie in der formalen Bewältigung des Werkes, dahinter steht aber immer – wie ich deutlich gemacht zu haben hoffe – auch eine existentielle Bewältigungsstra­ tegie. Darin besteht der besondere Mehrwert dieses kunsttherapeuti­ schen Settings: Das betrachtete oder nachempfundene Kunstwerk ist nicht allein Ausdruck der Empfindungswelt des/der Klient*in, son­ dern zugleich Ausdruck der Empfindungswelt seines Autors, seiner Autorin einschließlich der Verarbeitung einer künstlerischen/exis­ tentiellen Fragestellung. In der nachvollziehenden Einfühlung in ein derartiges Werk werden wir also gewissermaßen involviert in diese doppelte Bewältigungsstrategie. Das ist der eigentliche Grund, wes­ halb Kunstgenuss eine therapeutische Dimension hat und weshalb Kunstrezeption auch eine sehr effektive Form der Kunsttherapie sein kann. Wir docken an eine Erfahrungssituation der Bewältigung an, die während der Werkproduktion stattgefunden hat. Das ist mit den Begriffen »Andocken und einloggen« in der Überschrift meines Bei­ trages gemeint: Bei der Kunstrezeption haben wir Anteil an die Psyche des/der Künstler*in, wir loggen uns ein in das Programm, mit dem er oder sie in ihrer Werkproduktion eine ganz persönliche Lebensbe­ wältigung geleistet haben. Das ist der therapeutische Mehrwert, den wir in der Rezeptiven Kunsttherapie nutzen, egal ob wir alleine oder in einem therapeutischen Dialog uns von einem Kunstwerk ergreifen lassen, egal ob wir dieses Werk »nur« betrachten oder es im Nachge­ stalten tiefer zu verstehen versuchen: Wir dürfen in Resonanz treten mit der gelungenen Transformation kontingenter Sinn-Bedrohung in kohärente Sinn-Findung durch den/die Künstler*in. Lassen Sie mich mit diesen Hinweisen zum Abschluss nun noch­ mals den Bogen schlagen zu den eingangs gemachten Ausführungen, zum Mandala und zum Isenheimer Altar. Ich habe diese beiden Bilder in Anlehnung an die innovative Diplomarbeit von Jürgen Pröhl als Ausgangspunkt genommen, weil sie prototypisch für zwei ent­ gegengesetzte Varianten kunsttherapeutischer Ressourcen-Anknüp­ fung stehen können. Im Falle des Mandalas und ähnlicher spiritueller

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oder künstlerischer Abbildungen – die ich unter dem Begriff des Apollinischen angeführt habe – ist die Ressource gewissermaßen im »Idealtypischen«, der »prästabilisierten Harmonie« sozusagen, gege­ ben. Ihr kann sich der/die Klient*in nachempfindend überlassen, um seine/ihre innere Mitte in einem Gefühl der kosmisch-harmonischen Eingebundenheit wieder zu aktivieren. Was das kunsttherapeutische Bezugssystem betrifft, stehen in diesem Fall zumeist keine konkreten Künstler*innen im Hintergrund, die meisten dieser Bildschöpfungen sind anonym und weitestgehend jenseits aller Subjektivität entstan­ den, ihre Schöpfer*innen – beispielsweise die Ikonen-schreibenden Mönche – haben sich in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung – soweit wir das wissen – auch nicht als kreative Subjekte empfunden, son­ dern als »Werkzeuge« transzendentaler Mächte. Einen späten »Nach­ klang« dieses Selbsterlebens finden wir übrigens bei der eigentlichen »Erfinderin« der modernen abstrakten Kunst, Hilma Af Klimt, die ihre neuartigen Bildfindungen gewissermaßen in Trance empfangen hat. Die heilsame Ressource ist gewissermaßen die »kosmische« Harmonie, die auch der Natur zugrunde liegt, wie ich eingangs aufgezeigt habe. Im Falle des Isenheimer Altars und der Kunst, die ich unter dem Begriff des Dionysischen und der Katharsis angeführt habe, müssen wir die subjektive Bewältigungsstrategie der Schöpfer*innen dieser Werke mit in unsere Betrachtungen einbeziehen. Wie ausführlich geschildert wurde, ist mit der formal-ästhetischen Bewältigung im Sinne der autopoietisch erzeugten Stimmigkeit, also der Gewinnung von Kohärenz aus Kontingenz, zugleich ein kathartischer Prozess verbunden, der die subjektive Lebensrealität des/der Künstler*in betrifft. In diesen Prozess können wir uns bei der Bildbetrachtung oder der Nachgestaltung »einloggen«, die Gewinnung von Kohä­ renz wird uns im bildnerischen Prozess sozusagen von dem/der Künstler*in vorgelebt und ästhetisch vermittelt. Beim therapeutisch begleiteten Durchschreiten der Zone der Finsternis, des Chaos und der Verunsicherung haben wir jetzt nicht nur einen Begleiter, eine Begleiterin neben uns, sondern gleich zwei: den/die Therapeut*in und den/die Künstler*in. Lassen Sie mich also mit einem Bild schließen, in dem das Durchschreiten des Schreckens in liebevoller Begleitung eines kri­ senerfahrenen Künstlers prototypisch gezeigt wird. Es ist das Bild der »Göttlichen Komödie«, in der Dante von Vergil durch Sphären der Hölle begleitet wird. Auf diesem Bild von Gustave Doré ist

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tatsächlich noch ein dritter Begleiter mit im Boot, nämlich der Fähr­ mann. Vielleicht ist dieses Bild eine sehr stimmige Darstellung der therapeutischen Situation in der Rezeptiven Kunsttherapie.

Abbildung 30: Inferno Canto

Literaturhinweise Bader, Alfred (1975): Zugang zur Bildnerei der Schizophrenen vor und nach Prinzhorn. In: Bader, Alfred (Hg.): Geisteskrankheit, bildnerischer Ausdruck und Kunst. Bern: Hans Huber, S. 107–119. Bader, Roswitha, Baukus, Peter & Mayer-Brennenstuhl, Andreas (Hg.) (1999): Kunst und Therapie. Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Hygiene-Museum Dresden. Nürtingen: Verlag der Stiftung für Kunst und Kunsttherapie. Baukus, Peter (1993): Neurobiologische Grundlagen der Kunsttherapie, vorge­ stellt am Beispiel der Schizophrenie. In: Thies, Jürgen & Baukus, Peter (Hg.): Aktuelle Tendenzen der Kunsttherapie. Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer, S. 1–17.

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Briggs, John & Peat, David (1990): Die fraktale Natur des Geschaffenen. In: Briggs, John & Peat, David: Die Entdeckung des Chaos. München, Wien: Hanser, S. 301–308. Connert, Senta & Mayer-Brennenstuhl, Andreas (2018): Archäologe sucht Hilfe. Zur Bedeutung spezifisch künstlerischer Kompetenz und künstlerischer Projekte für die kunsttherapeutische Praxis und Lehre. In: Spreti, Flora von, Martius, Philipp & Steger, Florian (Hg.): KunstTherapie. Wirkung – Hand­ werk – Praxis. München: Schattauer, S. 361–374. Kayser, Hans (1946): Akróasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt. Basel: Schwabe; 6. Aufl. 2007. Leuteritz, Albrecht (1993): Rezeptive Kunsttherapie. In: Thies, Jürgen & Baukus, Peter (Hg.): Aktuelle Tendenzen der Kunsttherapie. Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer, S. 182–188. Mayer-Brennenstuhl, Andreas (1993): Das Heil der Kunst. Zur Relevanz künst­ lerischer Handlungsstrukturen für die Kunsttherapie. In: Thies, Jürgen & Baukus, Peter (Hg.): Aktuelle Tendenzen der Kunsttherapie. Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer, S. 67–81. Mayer-Brennenstuhl, Andreas (1994): Wie Wasser in der hohlen Hand. Versuch einer strukturellen Beschreibung schöpferischer Prozesse. In: Faust, Jürgen & Marburg, Fritz (Hg.): Zur Universalität des Schöpferischen. Münster, Hamburg: Lit. Mayer-Brennenstuhl, Andreas (2015): Kohärenz und Kontingenz in Kunst und Kunsttherapie. Überlegungen aus künstlerischer und kunsttherapeutischer Perspektive. In: Majer, Hartmut, Niederreiter, Lisa & Staroszynski, Thomas (Hg.): Kunstbasierte Zugänge zur Kunsttherapie. München: kopaed, S. 29–38. Ott, Gerhard Heinrich (1986): Heilungskraft der Seele. In: Smerling, Walter & Weiss, Evelyn (Hg.): Der andere Blick. Heilungswirkungen der Kunst heute. Köln: DuMont, S. 96–107. Prigogine, Ilya & Stengers, Isabelle (1990): Dialog mit der Natur. Neue Wege wissenschaftlichen Denkens. München: Piper.

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Die Linie des Lebens: Hundertwassers Spiralbewegungen

»Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Paul Klee

Zusammenfassung: Am Beispiel einer Aktion von Kunststudenten, die im Rahmen der Hundertwasserausstellung in der Bremer Kunsthalle 2012 ununterbrochen – mehr als 48 Stunden lang – vor der Eröffnung der Ausstellung eine Linie gezogen hatten und die Große Galerie in eine endlose Spirale verwandelten, wird ein rezeptiver kunsttherapeu­ tischer Ansatz vorgestellt: Er besteht darin, ein Kunstwerk als Induk­ tion für eine imaginativ-hypnotherapeutische Übung zu nutzen. Dargestellt wird ebenso die Bedeutung des künstlerischen Gesamt­ konzepts von Friedensreich Hundertwasser, dessen Werk ebenso kunsttherapeutische und kunstpsychologische Aspekte beinhaltet. Keywords: Katathymes Bilderleben, Hypnotherapie, Kunst, rezep­ tive Kunsttherapie, Kunstpsychologie, Kunsthalle Bremen, Friedens­ reich Hundertwasser

Hundertwasser in Bremen Die Kunsthalle Bremen präsentierte im Jahr 2012 die große Sonder­ ausstellung »Friedensreich Hundertwasser: Gegen den Strich. Werke 1949 bis 1970«. Mit einer Auswahl zentraler, aber selten gezeigter Arbeiten (Abb. 31) aus dem Frühwerk des Künstlers der späten 1940er und der 1950er Jahre sowie klassischer Meisterwerke wurden neue Perspektiven auf das Werk Hundertwassers eröffnet.

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Abbildung 31

1959 führte Hundertwasser gemeinsam mit Bazon Brock und Herbert Schuldt die Aktion »Die Linie von Hamburg« durch. Über die Dauer von zwei Tagen überzogen sie mit einer kleinen Gruppe von Studen­ ten mit Pinsel und Farbe die Wände des Ateliers 213 in der Hochschule für bildende Künste in Hamburg mit einer endlosen Linie. Die nicht angemeldete Aktion erregte den großen Unmut des Rektors und weitete sich zu einem Skandal aus. Infolge des mangelnden Rückhalts für sein Wirken trat Hundertwasser von seiner Dozentur zurück. Bis heute gilt »Die Linie von Hamburg« (Abb. 32) als eine Geburtsstunde der europäischen Aktionskunst.

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Die Linie des Lebens: Hundertwassers Spiralbewegungen

Abbildung 32

Die Kunsthalle Bremen inszenierte diese Linie in enger Zusammenar­ beit mit Bazon Brock neu. Im Geiste des Originals wurde ununterbro­ chen – mehr als 48 Stunden lang – vor der Eröffnung der Ausstellung eine Linie gezogen und die Große Galerie in der Kunsthalle in eine endlose Spirale (Abb. 33) verwandelt.

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Abbildung 33

Während der künstlerischen Gestaltung durch Studierende von Joa­ chim Hofmann aus dem Studiengang Digitale Medien der Hochschule für Künste Bremen konnten Besucher Einblick in den künstlerischen Prozess gewinnen. Vorträge und Workshops wurden in der großen Galerie veranstaltet, an denen Besucher und Studenten teilnehmen konnten. Währenddessen wurde ständig weitergemalt. Einer der Beiträge war eine von mir durchgeführte kunstpsychologische Erläu­ terung und eine hypnotherapeutische Übung, die auf die »Linie von Bremen« und die Hundertwasser-Ausstellung bezogen war. Mein Vortrag und die Übung sollten gleichfalls mit dem in Bremen zeit­ gleich durchgeführten Weltkongress für Hypnose (2012) korrespon­ dieren. Friedensreich Hundertwasser (1928–2000) ist einer der bekanntesten Künstler des 20. Jahrhunderts, der aber auch oft miss­ verstanden und unterschätzt wird. Die Ausstellung zeigt den Künstler als wichtiges Mitglied der internationalen Avantgarde, der in den 1950er Jahren in Paris arbeitete und eine Bildsprache parallel zum herrschenden Informel entwickelte. Mit seiner Suche nach neuen leuchtenden Farbwelten und als Vordenker visionärer Kunstformen betrat er in den 1950er und 1960er Jahren Neuland. In den 1960er Jahren vertrat Hundertwasser Österreich auf der Biennale in Venedig

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und stellte auf der documenta III in Kassel aus. Auch stand er in Kontakt mit zahlreichen Vertretern der internationalen Kunstszene, unter anderem mit Yves Klein, Pierre Soulages, Alain Jouffroy und Arnulf Rainer. Die wachsende, organische und ungerade Linie ist für Hun­ dertwasser das zentrale künstlerische Element und Ausdruck seines naturverbundenen Ansatzes. Im Verschimmelungs-Manifest gegen den Rationalismus in der Architektur von 1958 wettert er gegen die gerade Linie: »Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist, als vielmehr die bequemheitslüsterne, gehirnlose Massena­ meise.« Er spricht sich für »schöpferische Verschimmelung« aus, denn Schimmel beseele die gerade Linie. Hundertwassers bahnbrechendes ökologisches Engagement ent­ wickelte sich aus seinem künstlerischen Schaffen sowie seinem Glau­ ben an die Kraft der Natur und die individuelle Kreativität. Seine für die damalige Zeit radikalen zivilisationskritischen und ökologischen Positionen wurden durch Manifeste und Aktionen dieser Jahre doku­ mentiert und in der Ausstellung in Beziehung zum malerischen Werk des österreichischen Künstlers gesetzt.

Kunstwirkung Walter Schurian (2009, S. 78) beschreibt die Kunst Hundertwassers als eine Form der Kunsttherapie, die naturgemäß eigentlich keine richtige ist, d. h. keine wissenschaftliche Kunsttherapie der üblichen Art: mit einer empirisch erarbeiteten Theorie einer Therapie, mit einer Auffassung des Klienten/Patienten, der ein Leiden verspürt und Hei­ lung sucht, mit einem psychologisch medizinisch ausgebildeten The­ rapeuten sowie der Durchführung der Therapie in einem offiziellen und abgegrenzten Setting. »Dennoch kann Hundertwassers Mei­ nungskanon über Natur, sein Menschenbild und seine Kunst, sowie sein korrigierend wiederholt eingreifendes Vorgehen, sehr wohl auch als eine Art von Kunsttherapie aufgefasst werden. Denn der Künstler diagnostiziert ein allgemeines Übel heutigen Lebens und stellt dem gleichzeitig ein Bündel von künstlerischen Maßnahmen zur Seite« (Schurian 2009, S. 78). Das Kunstwerk bietet einen subjektiven Erfahrungsraum, in dem sich seelische Wirksamkeiten entwickeln können. Wilhelm Salber

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(1999, S. 125) sieht in der Kunst ein Instrument, mit dem wir behan­ delt werden und auch behandeln können. Dem künstlerischen Werk und dem symbolischen Bildinhalt wird damit eine eigenständige the­ rapeutische Ressource zugewiesen, die aus sich heraus Heilkräfte aktiviert und wie ein homöopathisches Mittel Wirkkräfte (vgl. Rech 1994, S. 110) entfaltet, die einen heilenden Prozess einleiten oder auslösen können. Auch aus neuropsychologischer Sicht ist das von Interesse, da zunehmend nachgewiesen werden kann, dass allein beim Betrachten von Kunst bestimmte Hirnareale aktiviert werden können (vgl. Jansen-Osmann 2008, S. 9). Die Betrachtung eines Kunstwerkes kann einen therapeutischen Prozess fördern. Dieser Zusammenhang hat in der Praxis der ange­ wandten Kunstpsychologie bzw. rezeptiven Kunsttherapie eine besondere Bedeutung. Hier geht es darum, Bilder erlebnishaft zugänglich zu machen und die Wahrnehmungsfähigkeit anzuregen. Ein rezeptives Verfahren, d. h. die Betrachtung eines Kunstwerkes, kann auch zur Tranceinduktion und Einleitung eines Tagtraumes genutzt werden. Dabei kann in Erweiterung der von Walter und Bärbel Bongartz (2000, S. 162) beschriebenen bekannten Farbkontrastme­ thode ein Kunstwerk genutzt werden. Leuteritz (1996, S. 261) versteht das Attribut »rezeptiv« ganz wörtlich, nämlich als »empfangend, auf­ nehmend«. Er beschreibt an gleicher Stelle, dass „eben nicht nur der gestalterische Umgang mit den bildnerischen und den anderen Küns­ ten therapeutische Wirkungen auslösen kann, sondern dass darüber hinaus auch ein bloßes Wahrnehmen und Empfangen von Kunst und die bewusste Auseinandersetzung mit ihr überhaupt ein kunstthera­ peutischer Vorgang sein kann. Die Fähigkeit, Intuitionen und Phan­ tasie als Ressourcen zu nutzen und damit die nahe und ferne Zukunft optimistisch und sinngebend zu entwerfen (vgl. Franzen et al. 2003, S. 111), sind besonders künstlerische Eigenschaften. Die Kunstbe­ trachtung bietet zudem einen Zugangsweg zu verschütteten Ressour­ cen und fördert die Kreativität. Im Weiteren vermitteln sich über ein Kunstwerk psychische Energien, die Ressourcen aktivieren können. Psychische Energie kann zunächst als eine nicht beobachtbare wirkende Kraft bezeichnet wer­ den, die man psychischen Vorgängen zugrunde legt. C. G. Jung geht jedoch von der energetischen Struktur der physischen wie der psy­ chischen Natur aus und fasst die Ganzheit des Organismus als etwas auf, das sich in dauernder energetischer Bewegung befindet (vgl. Sei­ fert 2003, S. 102). Die Begegnung mit dem Kunstwerk ist energetisch

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und aus dieser Begegnung wird das Kunstwerk geboren (May 1987, S. 80). In der modernen Kunstpsychologie zeichnen sich Kunstwerke durch Selbsterhaltung, Selbstveränderung und Selbstkatalyse aus. »Emanation ist ein Kriterium für die Selbsterhaltung desjenigen Anteils des Kunstwerks, das lebt: das sich verändern kann, unmodern, vergessen werden, vergehen, erst entdeckt werden und dann wieder Wirkung zeigen kann. Dies alles geschieht über die Ausstrahlung jener Energie, die einmal in es hinein geformt wurde« (Schurian 1992, S. 89).

Spiralsymbol und Psychodynamik Der österreichische Maler Friedensreich Hundertwasser hat an vielen Stellen seines Werkes das Spiralsymbol aufgegriffen. 1953 entdeckt er das Schlüsselmotiv der Spirale – als Symbol des Lebens, der Schöp­ fung und des kreativen Akts. »Für mich ist die Spirale Symbol des Lebens. Ich glaube, die Spirale ist dort, wo die Materie aufhört zu sein und beginnt, etwas Lebendiges zu werden. Meine Spirale ist keine geometrische Spirale, sie ist eine biologische Spirale, die nicht mit dem Zirkel nachgemessen werden kann. Sie hat Ausbuchtungen, Wider­ stände und Partikel in der Mitte und an den Rändern. Meine Spirale wächst vegetativ« (zit. nach Riedel 2002, S. 117). Am deutlichsten bezieht Hundertwasser es mit dem Titel seines Bildes »Der große Weg« auf die Wegsymbolik (Abb. 34), die zugleich ja im psychody­ namischen Sinne eine Anweisung zu Introspektion ist.

Abbildung 34

Ingrid Riedel beschreibt die Spirale zweidimensional gesehen als eine Linie, die sich aus sich selbst entrollt; sie ist eine offene, dynamische

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Figur, die von Drehung zu Drehung über sich hinausweist. »Von einem Punkt ausgehend, den sie in immer neuen Umdrehungen umkreist, lässt sie sich grundsätzlich bis ins Unendliche fortsetzten. Dabei gewinnt sie bei jeder Umkreisung an Energie: an Expansions­ kraft, wenn wir den Verlauf von innen nach außen, an Konzentration, wenn wir ihren Verlauf von außen nach innen betrachten. Sie verbin­ det die beiden Pole des Anfangens und des Endens, des Werdens und des Strebens in ihrer dynamischen Gestalt und zeigt, dass sie untrenn­ bar sind« (Riedel 2002, S. 111). Für Friedensreich Hundertwasser, der sich intensiv mit dem Ursprung und der Symbolik der Spirale aus­ einandergesetzt hatte (vgl. Grunenberg 2012, S. 89), war sie das Sym­ bol des Lebens, wie das oben wiedergegebene Zitat deutlich macht (Riedel 2002, S. 117). Ein Problem spiralig zu umkreisen heiße, es im Sinne eines Lösungsprozesses zu umkreisen. Wenn eine Entschei­ dung zu fällen, wenn ein Ausweg zu finden sei, kreise die innere Wahrnehmung immer wieder spiralförmig, nach der Stelle suchend, an der der Kreis sich zu einer Lösung öffnen könne. »So herrscht bei Hundertwassers Kunst und in seiner Kunsttherapie dieses Prinzip einer wesensmäßigen offenen, spiralförmig verlaufenden Entwick­ lung alles Natürlichen im Gegensatz zu dem Geraden, dem Statischen, dem Normativen und dem Geordneten vor« (Schurian 2009, S. 77). Hundertwasser beschreibt in seinem Ansatz ähnliche Mechanis­ men kunstpsychologischer Wirkungen, da davon ausgegangen wird, dass die Prozesse des »Kunsterlebens« sehr ausgeprägt sind, was auch durch aktuelle Forschungen der Neuroästhetik belegt wird. So erfolgt die Wahrnehmung von Emotionen in der Kunst teilweise über Imi­ tation und Empathie (vgl. Kandel 2012, S. 519); sie beansprucht die Hirnsysteme für biologische Bewegung, die Spiegelneuronen und die Theory of Mind. Wir aktivieren diese Systeme automatisch, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ganz im Einklang mit der JamesLange-Theorie der Emotionen und wie auch neuere Studien über das emotionale Gehirn bestätigen, verschafft uns ein großes Kunstwerk ein tiefes unbewusstes Vergnügen, das gleichwohl bewusste Gefühle hervorrufen kann« (Kandel 2012, S. 519). Auch Semir Zeki weist eine bedeutsame Abstraktionsfähigkeit nach, die durch eine Betrachtung von Kunstwerken ausgelöst werden kann. »So hat man nachgewiesen, dass etwa die Einstufung eines Gemäldes als schön mit einer erhöhten Aktivität im orbitafrontalen Kortex einhergeht, der zum Belohnungs­ system des Gehirns gehört« (Zeki 2010, S. 25). Zeki geht davon aus, dass eine der bestimmenden Faktoren der Kreativität in dem Bestre­

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ben besteht, das unbefriedigte Hirnkonzept zu befriedigen. »Daher ist dauerhafte Unzufriedenheit eine der stärksten Triebkräfte der Krea­ tivität« (Zeki 2010, S. 67). Walter Schurian (1992, S. 28) verweist auf den Charakter der Spannung, darauf, dass sowohl für die Wahrnehmung als auch für die innerpsychischen Bedürfnisse Kunstwerke Reize von wechselhafter Spannung darstellen. Für Schurian bedeutet die Wahrnehmung des Ästhetischen darüber hinaus immer auch eine Leistung des gesamten Organismus. »Bei jedem noch so ›hohen‹ Kunstgenuss sind der Kör­ per, die Gefühle, die Schwingungsprozesse, die Spannungsprozesse und alle übrigen psychophysischen Energiezustände, wiewohl in unterschiedlicher Intensität mitbeteiligt« (Schurian 1992, S. 29).Das Ausleben motorischer Energie, die nur dem bildlichen Ausdruck dient, gehört nach Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin sicher auch für den Menschen zu einer elementaren künstlerischen Verhaltensweise: »Der ästhetische Reiz für den Betrachter liegt umgekehrt in der Wahr­ nehmung von Energieformen, die sich wie in Kraftfeldern selbst orga­ nisieren« (Eibl-Eibesfeldt & Sütterlin, 2007, S. 55). Eine symbolische Erfahrung ist daher mit psychischer Energie besetzt. Diese psychische Energie vermittelt sich durch das Kunstwerk. Der Betrachter kann sich auf die Bilderwelten einlassen und einen energetisch besetzen Bezie­ hungsraum erleben, der dann zugleich bewusste und unbewusste Prozesse auslösen oder in Gang setzen kann. Friedensreich Hundertwasser hat in seinen Werken immer wie­ der eigene psychische Spannungszustände bearbeitet und abgearbei­ tet und diese psychischen Energien hineingeformt. »Das Schlüssel­ werk ›Der große Weg‹ von 1955 zeigt diesen verworrenen und schlangenartigen Fortschritt des Lebens von Kindheit zu Alter – voller Unebenheiten, Engpässen, Hindernisse und Umwege […]. Es ist eines von Hundertwassers hypnotisierendsten Werken, in dem sich der intensive Kontrast des leuchtenden Rot und Tiefblau (an der Peri­ pherie in ein sattes Grasgrün übergehend) dem zentrifugalen Aus­ einanderstreben der Spirale widersetzt und in einem tunnelartigen Blick des Betrachters auf das metaphysische Blau im Zentrum lenkt« (Grunenberg 2012, S. 91). Hundertwasser hat sich selbst mit der Bild­ wirkung auf den Betrachter beschäftigt: »Das Werk müsse anregen zu einer Bildfolge im Inneren des Beschauers. Dieser ›individuale Gestal­ tungfilm‹ entstehe im Augenblick der Betrachtung; bei einer wieder­ holten Konfrontation komme es zu einer anderen Wahrnehmung. Insofern besitze ein transautomatisches Objekt unendlich viele Titel,

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denn es impliziere ›unendlich viele mögliche Gestaltungsfilme‹. Die­ ser Vorgang vollziehe sich schrittweise auf verschiedenen Bewusst­ seinsstufen, auch Gehör- und Geruchssinne hätten daran teil. Von einer ›transautomatischen Bildbetrachtung‹ können dann gesprochen werden, wenn sich durch das Objekt ausgelöste ›Bild‑, Bewegungsund Existenz-Assoziationen in Bild‑, Bewegungs- und Existenz-Ener­ gien umwandeln‹. In einem solchen Bild verkörpere sich der unend­ liche Raum der wahren menschlichen Möglichkeiten. Bei seinem Gemälde ›Der großen Weg‹, so Hundertwasser, beruhten diese ver­ schiedenen Möglichkeiten auf einem ›starken Vibrieren‹, das er durch den Einsatz der Komplementärfarben Rot und Blau erzielt habe« (Schmitt 2012, S. 49). Bei der Linie der Bremer Studenten (Abb. 35) wird ebenfalls ein Rotton genutzt. Zinnober ist eine kraftvolle Farbe, mit einem leichten Anteil Gelb.

Abbildung 35

In den gemalten Abstufungen zwischen Weiß, Schwarz und Rot entsteht hier ebenfalls ein Flimmern aufgrund der starken Kontraste von Licht und Finsternis. Vor allem sind Rot und Schwarz in ihrer Wirkung sehr spannungsreich. Der Raum wirkt zunächst in seinen Maßen ohne die geschwungene Linie unlebendig und starr. Die

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geschwungenen Linien erst geben ihm etwas Organisches – alles wird wieder lebendig. Das Thema Rhythmus kommt zur Geltung: Rhythmus über die Bewegung, Ein- und Ausatmen, die Natur gibt uns tagtäglich einen Rhythmus vor, das Morgenrot ist ein anderes als das Abendrot usw., mal hat es mehr Anteil an Gelb, mal mehr an Blau, der Bereich zwischen kalten und warmen Farben, zwischen Licht und Finsternis. Betrachter, die sich nun auf diese Farbtonwirkung einlassen, erleben dann den energetisch besetzten Farbzwischenraum. Nicht das Zusammenspiel von Farben selbst, sondern das Zusammenspiel psychischer Ausdruckswerte und Energien, die sich in den Farben mitteilen, ist dann für die Konstitution des Bildes entscheidend, und hierdurch kann eine Induktion erzielt werden, die ähnlich wie bei der Farbkontrastmethode zu einem Verschwimmen der Farben führt. Bei der Wahrnehmung von Farben handelt es sich um die Wirkung von Farbtönen. Farbtöne sind zurückführbar auf Spektralfarben des Lichts, die von den äußeren Wahrnehmungen auf das Sehorgan Auge reflek­ tiert werden. Goethes Abhandlung »Zur Farbenlehre« von 1810 ist als eine erste Theorie zur sinnlichen Wirkung von Farben zu verstehen. Die Farben werden hier zu psychischen Kräften. Für Goethe etwa spie­ geln die Farben Gelb und Blau eine Licht-Finsternis-Spannung: das Gelb als Anspannung und das Blau als Entspannung. In der modernen Kunstpsychologie wurden diese Spannungs-Entspannungs-Effekte von Farbtonwirkungen experimentell erforscht und Tendenzen der Farblehre von Goethe bestätigt. Es ist nachgewiesen, dass helle und warme Farbtöne zu einem Anstieg von Puls und Blutdruck führen. Dagegen gehen bei kalten und dunklen Farbtönen Blutdruck und Puls zurück. Von einem blau gestrichenen Raum geht eine beruhigende Wirkung aus, ein rot gestrichener Raum kann hingegen Unruhezustände auslösen. Diese Wirkung gilt jedoch nur für den ersten Moment und nur für einen kürzeren Zeitraum, es handelt sich nicht um eine Langzeitwirkung, da sie nachlässt, nachdem sich der Betrachter an die Farbe gewöhnt hat. Grundsätzlich aktivieren die Farbtöne Rot und Gelb, die Farbtöne Blau und Grün beruhigen. Die Wirkung kann aber bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein, da ja die Wahrnehmung einer Farbe unverarbeitete psychische Inhalte des Unbewussten aktiviert, die in die Erlebnisqualität mit einfließen. Die Betrachtung eines farbigen Bildes kann die heilende Wirkung der Farben in Gang setzten. Hier kann ein Kunstwerk dann zur Einleitung einer hypnotherapeutischen

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Behandlung oder eines Tagtraumes sinnvoll eingesetzt werden. Die Induktion, d. h. die Einleitung der Hypnose oder des Tagtraumes über ein Kunstwerk, ermöglicht es, sich dann auch über die rezeptive Erfahrung einem heilenden Prozess zu öffnen, der sich durch die Betrachtung und Vertiefung der Farberfahrung verankern kann. In der Farbtonwirkung der in Anlehnung an Hundertwasser durch die Bremer Studenten und Studentinnen gestalteten Linie kommt es zu Spiralformen und einem ähnlichen Vibrieren der Farb­ töne durch die gewählte Farbkomposition. Interessant ist, dass die Studentinnen unter Anleitung eine ähnliche psychologische Wirkung erzielten wie jene, die sich für die von mir durchgeführte Induktion besonders gut eignete. Die in der Hypnose erlebte Entspannung geht nämlich einher mit einer Dämpfung des sympathischen Erregungs­ niveaus und führt damit zu einer Reduktion der körperlichen Funk­ tionen, die durch das autonome Nervensystem gesteuert wird (vgl. Bongartz & Bongartz 2000, S. 19). Die Trance-Induktion, sprich die Einleitung der Hypnose über ein Kunstwerk, ermöglicht es, sich dann auch über die rezeptive Erfahrung einem heilenden Prozess zu öffnen, der sich durch die Betrachtung und Vertiefung der Farberfahrung ver­ ankern kann. Zunächst wird das Kunstwerk betrachtet, um darüber die Trance einzuleiten.

Induktion Bitte blicken Sie einfach auf das Bild … spüren Sie Ihren Körper … achten Sie einfach auf meine Stimme … und vielleicht werden Sie Ver­ änderungen wahrnehmen … einfach auf meine Stimme achten und alle anderen Geräusche hier im Raum … die Stimmen der Besucher … die Schritte … einfach vorbeifließen lassen. Ruhig … gelöst … und gelassen … und je mehr Sie auf das Bild blicken … auf die Farben … die Spirale mit den Farben und dazwischen … einfach hineingehen … in die Spirale … in das Bild, in die Farben … umso mehr und mehr wird eine angenehme Schwere in den Armen und Beinen … und werden die Grenzen zwischen den Farben verschwimmen … einfach loslassen … und während Sie weiter auf das achten, was sich beim Betrachten der Farben alles einstellt und verändert … werden Ihre Augen immer schwerer und schwerer, und mit der Zeit wird es wegen der Schwere angenehm sein, wenn Sie die Augen jetzt schließen … und ruhig weiterhin geschlossen halten … und vor den geschlossenen

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Augen werden Sie jetzt immer noch die Farben sehen, die Farben oder die Formationen des Bildes, die sich nun vielleicht verändern, an Kraft verlieren, um dann nach einiger Zeit zu verblassen … mit dem Ausatmen … können Sie sich jetzt noch ein Stück tiefer sinken lassen … in Ihre angenehme Schwere und wohlige Wärme … und Sie können es genießen … vielleicht schon ausgiebig genießen … bei sich zu sein … und Ihr Atem versorgt Sie ruhig und zuverlässig mit Energie … deshalb können Sie tiefer gehen … oder auch seitwärts … jedenfalls auf eine Ebene in Ihnen … auf der Sie sich spüren können … und es genießen … an manchen Stellen deutlicher … durch das eigene Gewicht … die angenehme Wärme … ein gutes Gefühl … und so können Sie sich jetzt vorstellen … was dazugehört … in den eigenen inneren Raum zu kommen … während Sie einfach hier liegen … angenehm schwer oder leicht … und wohlig warm … und Ihr Unbewusstes sich wirklich gut um Ihr Wohl kümmert … während Ihr Atem Ihnen stetig und zuverlässig Kraft bringt … jetzt … Da gibt es einen wohltuenden inneren Ort … an dem Sie sicher und geschützt sind … ein innerer Ort … der über die Farben der Spirale erreicht wird, über die Windungen ganz nach innen, und ich weiß nicht … wie die Umgebung des inneren Ortes in Ihrer Vorstellung aussieht … vielleicht sind es Felsen … vielleicht eine Meeresküste … ein Wald … eine Wiese … ein Dorf … oder alles zusammen … irgendwie ist es jedenfalls eine gute Umgebung … und während Sie sich dort umsehen … und Sie brauchen mir nicht zuzuhören dabei … bewusst … können Sie einfach genießen … hier zu sein … in diesem Moment … angenehm schwer und wohlig warm … Irgendwann jetzt bemerken Sie … spüren es vielleicht irgendwo im Körper ganz intensiv … dass es ein besonderes Ort ist … freundlich und voller Lebensenergie … der Spirale zu folgen … nach innen zu gehen … die eigenen inneren Energien zu spüren … die Linien, die Farben … voller angenehmer Farben, wie ein gutes Bild … voller Energie … nach innen gehen zu können … zum eigenen inneren Wissen, zu der eigenen guten Natur … zu den Lebensplänen und künstlerischen Visionen … so wie der innere Künstler oder die innere Künstlerin … voller Kreativität und mit dem inneren Wissen, der Intuition … was wirklich gut für Sie ist. Wie auf dem Bild … über die Spirale nach innen zu gelangen zu einem Ort voller Energie und seelischer Gesundheit … Die innere eigene Linie zu finden … die ganz eigene Linie … die guttut und entspannt und Ausgeglichenheit

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bewirkt und Gesundheit und Kraft und wirklich guttut … Irgendwie … oder auch … anders … so wie es für Sie gut ist … … Und dieser innere, sichere Ort heißt Sie freundlich willkom­ men … und so gehen Sie jetzt ein Stück weiter … in Ihre Vorstellung hinein … in die Farben hinein, Farben, die Ihnen wirklich guttun, die eigenen Farben, die beruhigen oder beleben, was auch immer Sie brauchen im Moment, und es tut gut … innerlich die Farben fließen zu lassen … im Einklang mit der eigenen inneren Natur … mit der eigenen Mitte … ganz in der eigenen Mitte zu sein und sich wohlzufühlen und Kraft zu spüren und Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Farben, die wohltuend fließen im ganzen Körper, in den Armen, den Beinen, Gelassenheit, wohltuende Gelassenheit und Kreativität entsteht, unbewusst leitet sie, schafft weitere innere Räume und farbige Landschaften, vielleicht einen wohltuenden frischen Wind auf der Haut und Wärme, die guttut und Sonnenlicht und Kraft … oder einen Baum, der ganz tief und fest verwurzelt ist in der Erde und sich daran anzulehnen und Kraft zu spüren, sich behütet und geschützt zu fühlen … im Einklang mit sich selbst … mit der eigenen inneren Natur und dem eigenen Wohlsein und sich sicher fühlen oder die Weite eines blauen Meeres oder eine weite grüne Wiese oder einen wohltuenden strömenden Fluss … was auch immer guttut in diesem Moment … die eigene innere Mitte und die Farben haben eine beruhigende und positive Ausstrahlung … vielleicht spüren Sie ihre wohltuende Wirkung bereits in ihrem Körper … jetzt … schon bewusst … an einer bestimmten Stelle … und Sie spüren ein Gefühl tiefer Ruhe … wohltuender Ruhe … ruhig … gelöst … und gelassen … und ich weiß nicht … ob Ihr Körper mehr davon braucht … im Moment … oder eher nicht … oder später … Und die Farbe, Ihre Farbe, geht auf Ihre Bedürfnisse ein … und so folgen Sie einfach Ihrem Gefühl … und können es einfach fließen lassen. Und dann ist es auch möglich … mehr noch … die Farben zu hören … oder anders mit den Ohren zu sehen … und Farbenklänge … in sich … wahrzunehmen … oder … anders noch die Farben, die duften, den Duft der Farben … wohltuend … blühende Pflanzen … Farben … die Ihnen guttun … die Sie einfach beruhigen … zur Ruhe kommen lassen … und Sie lassen … einfach die Farben auf sich wirken … und spüren die Kraft … Energie und Ruhe … und können einfach loslassen … und spüren, wie die Farben sich wohltuend ausbreiten … im ganzen Körper … in den Armen … den Beinen … dem Oberkörper … dem Bauchraum … Schulter und Nacken … Kopfbereich … spüren,

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wie Sie das eigene Zentrum finden … die eigene Mitte … ganz in der eigenen Mitte zu sein … was guttut … Geborgenheit … innere Ruhe … Sicherheit … Energie … Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten … Zuversicht … die eigene Mitte zu spüren … in ein Feld voller Energie und Kraft … in eine Art künstlerischer Mitte … an einen inneren Ort der Kreativität … der eigenen Kreativität … was auch immer es ist … wie auch immer dieser Ort … dieser Raum beschaffen ist … es fließen in ihm wohltuende Farben … wohltuende Energie … ein Ort dazwischen … irgendwo in der eigenen Mitte … die auch körperlich gespürt werden kann … wie eine Art Berührung … ähnlich wie auf … doch in sich selbst … Farben und Formationen … die berühren … Sie schaffen Kraft an sich … vermitteln Freude und ein tiefes Wohlgefühl … Bilder von Berührungen … die zugleich innere Dinge berühren können … Spannungen lösen können … die das Selbstvertrauen stärken … und dann kann auch eine Farbe fließen … vielleicht eine Farbe aus dem Raum … der Gestaltung … oder eine Farbe hören … riechen … schmecken … die ihnen gut tut … die beruhigt oder stärkt … und sie stellt sich einfach ein … ohne dass wir etwas dafür tun müssten … sie fließt … wie farbige Wolken, durch die das Licht der Sonne strahlt … fast wie ein Gemälde … in das man … und sich dann etwas mitzunehmen davon in den Alltag … ein Gefühl … ein Bild … eine Idee … oder einfach nur die innere Berührung … hineingeht … wie in dieser Spirale … in den Zwischenraum … der das Eigene und ganz Persönliche bewahrt … die innere, eigene Natur … die Stärke der eigenen Persönlichkeit … die ganz tief zu finden ist … irgendwo in der eigenen Mitte … und das ist dann auch körperlich zu spüren … in einer wohltuenden, angenehmen Schwere in den Armen und Beinen, die dann auch schon etwas Leichtes hat … etwa gelöstes … im inneren Raum der eigenen Kreativität … und Kreativität bedeutet für sich zu sorgen … sich berühren zu lassen … ein wohltuendes … Fließen … Flow … Dinge, die Sie wirklich gerne tun … in denen Sie wirklich Sie selbst sind … in diesem Zwischenraum … sich berühren zu lassen von der eigenen Kreativität, von Bildern, die Ihnen guttun … Ideen … Visionen … für sich selbst wirklich gut zu sorgen … frei zu sein in diesem Moment, wie ein Künstler oder eine Künstlerin … und das auch körperlich zu spüren, mit einem sehr angenehmen und wohltuenden Gefühl … und das auf sich wirken zu lassen … und dann auch innerlich zu spüren … vielleicht für einen Moment selbst Künstler oder Künstlerin zu sein … in diesem Zwischenraum … sich ganz kreativ zu erleben … der Intuition zu folgen … wie sich etwas

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formt und sich ausdrücken möchte in Ihnen … ein Bild … ein Gefühl … eine Gestaltung … eine Form … in die hinein … Energie fließen kann … im inneren Raum der eigenen Kreativität … und noch etwas dabei zu bleiben … sich die Zeit zu nehmen … die Sie brauchen … um die Dingen zu fühlen, zu formen, zu berühren … was auch immer es ist … bleiben Sie noch etwas dabei ………… indem ich ganz langsam von 5 bis 1 zähle, um dann auch erst bei eins wieder die Augen zu öffnen … bei 5 gelöst, ruhig und gelassen … und bei 4 mit einem Gefühl von Kraft und Energie und mit Zuversicht und Vertrauen … und 2 … voller Energie … und 1: einmal tief einatmen und dann ganz langsam wieder die Augen öffnen.

Nachgespräch Nach der Rücknahme der Trance erfolgt dann ein Nachgespräch über das Entspannungs-Erleben und die Wirkung von Kunst. In der Praxis entsteht dann aus solcher Übung und den Gesprächen heraus folgende grundlegende Anregung: Mit welcher kreativen Tätigkeit kann ich mich entlasten und mehr Lebensfreude entwickeln? In einem Kunstwerk sind tatsächlich alle Emotionserfahrungen angelegt – und es finden immer auch diejenigen von ihnen den Weg zum Betrachter, die ihm vielleicht am fernsten liegen (Hecht 2014, S. 7). »Kunstwerke sind aufgrund ihrer Vielschichtigkeit in der Lage, eine reichhaltige Palette an Assoziationen und Reaktionen für Pati­ ent/innen zur Verfügung zu stellen« (Sarbia 2015, S. 193). Mit Kunstwerken haben Imaginationen aufgrund ihrer symbo­ lischen Qualität zum einen den Bedeutungsüberschuss gemeinsam, zum anderen stellen sie ein besonderes »Produkt« mit einem Anfang, einem Ende und bestimmten stilistischen Merkmalen dar – wie auf­ fälligen Brüchen oder einer klaren Narration. Das prozesshafte Ima­ ginieren mit seinen Momenten emotionaler Dichte, dem primärpro­ zesshaften, kinästhetisch-sinnlichen Erleben und dem dazu gehörigen veränderten Zeitempfinden des Patienten ist den aus der Kreativi­ tätsforschung bekannten »Flow«-Prozessen verwandt (vgl. Bahrke & Nohr, 2013, S. 16). Eine Möglichkeit, die rezeptive Erfahrung umzusetzen, kann dann gegebenenfalls darin bestehen, das »innere Bild« als eine Art Innenraum zu malen, was ebenfalls zu einer inneren Entlastung und Stabilisierung führen kann. Eine Patientin malte beispielsweise

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eine »Tür zum Licht« (Abb. 36), die sich dann zu einem Ort der »Bewegung« (Abb. 37) und »Kraft« (Abb. 38) wandelte, wo sie »sich ausruhen und auftanken« könne.

Abbildung 36

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Abbildung 37

Abbildung 38

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Für Klaus Matthies (1988, S. 83) liegt es nahe, »die Gefühlswel­ ten, die alle Künste enthalten (von denen die Künste ausgehen, auf die sie sich beziehen), mit den Gefühlswelten des täglichen Lebens, wie sie besonders in therapeutischer Sicht und Absicht bedeutsam sind, in Beziehung zu setzen.« Darüber hinaus bestimmt er eine doppelte Bedeutung der Katharsis, da sie daran beteiligt sei, dass »ästhetischer Genuss (ästhetisches Erleben) einen substantiellen geistigen Anteil hat. […] In diesem Sinne ist Katharsis ein wichtiger ›purgierender‹ Vorgang: Prozess der Aufarbeitung, Reinigung, Erneuerung« (Matthies 1988, S. 90). Jeder Mensch hat nach Daniel Stern (2011, S. 34) eine Bewe­ gungssignatur. Dynamische Formen der Vitalität schließen mentale Bewegungen und körperliche Aktion ein. Mentale Bewegung schließt auch imaginierte Bewegung ein, beispielsweise die Vorbereitung einer körperlichen Bewegung oder die Herausbildung einer Vorstellung (vgl. Stern 2011, S. 34). Diese Vitalitätsformen sind immer mit einem Inhalt verkoppelt bzw. transportieren einen Inhalt. »Der Inhalt kann eine Emotion sein, eine emotionale Veränderung, ein Gedankenzug, er kann aus körperlichen oder mentalen Bewegungen bestehen, aus einer Erinnerung, einer Phantasie, einer zweckdienlichen Maß­ nahme, einer Abfolge von Tanzschritten oder einem Bild aus einem Film« (Stern 2011, S. 36). Sobald eine Wahrnehmung das Gehirn aktiviert, so Stern, hinterlässt sie eine Repräsentation der puren Vita­ litätsdynamik und eine solche des Inhalts. Dabei muss die Repräsen­ tation der Dynamik das Tempo und seine Veränderung enkodieren, die Intensität (Kraft) und ihre Veränderung, die Dauer sowie die zeit­ liche Betonung, den Rhythmus und die Gerichtetheit (Stern 2011, S. 39). Daniel Stern bezieht diese Ergebnisse auf die Künste, die bei­ spielhaft zeigen, wie wir durch Vitalitätsformen, die mit dem Arousal, d. h. dem Grad der Aktivierung des zentralen Nervensystems, zusam­ menhängen, beeinflusst werden (Stern 2011, S. 99). Während einer künstlerischen Darbietung, so Stern, verändert sich das Arousalni­ veau unentwegt, und dabei entfalten sich die Vitalitätsformen in der inneren Welt der Zuschauer und Zuhörer (vgl. Stern 2011, S. 100). Zugleich wird eine Verkörperung des ästhetischen Erlebens möglich: »Die Betrachter und die Betrachterinnen sind in diesen Momenten besonders authentisch ästhetisch angesprochen, wenn sie in ›Reso­ nanz‹ mit dem Werk eintreten, dessen ›Aura‹ verspüren und in die tiefe Betrachtung des Werks ›eintauchen‹“ (Tschacher & Tröndle 2016, S. 20).

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Kunstformen, die gleichzeitig Bewegungen oder innere Bilder vermitteln können, haben eine intensive psychologische Wirkung. Sie können dementsprechend genutzt werden, um das imaginative Erle­ ben zu vertiefen und kreative Prozesse anregen. Mit kreativen Metho­ den lassen sich innere Ressourcen aufbauen, aktivieren oder wieder­ beleben (Kruse 1997, S. 47). Die Wirkfaktoren von Kreativität liegen u. a. in der Veränderung der Emotionen, d. h. dem therapeutischen Zugang zur emotionalen Welt eines Individuums, um ihm zu helfen, seine Gefühle besser kennenzulernen, blockierte Gefühlsbereiche wieder zugänglich zu machen und sich emotional auszudrücken (Kruse 1997, S. 32). In diesem Prozess der Ausgestaltung unserer Beziehung und der damit verbundenen Wahrnehmungsentwicklung ist Kunst ein essentieller Bestandteil einer Persönlichkeits- und Iden­ titätsentwicklung (vgl. Sell 2010, S. 69; Richter-Reichenbach 2011, S. 42). Wirkfaktoren und Kreativität In der szenischen/symbolischen Betrachtung des Kunstwerks und den damit verbundenen Assoziationen von widersprüchlichen Bewegungsanteilen wird die unbewusste Bedeutung gleichsam erfah­ ren. Wichtig ist es, die Unterscheidung zwischen manifester und latenter Bedeutung, d. h. die äußere und die unbewusste Seite des Kunstwerks zu verstehen. Bildhafte Darstellungen lassen ihre Inhalte Ich-näher erscheinen und erleichtern so die Identifikation mit ihnen. Losgelöst von der unmittelbaren Erfahrungswelt verhelfen Kunst­ werke zu einem distanzierteren Verhältnis den eigenen Konflikten gegenüber. Die Wirkfaktoren der rezeptiven Kunsttherapie hat Sonja Pöppel (2015, S. 240–246) in ihrer Dissertation entsprechend zusam­ mengefasst: ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Entspannung, Entlastung, Konfliktbearbeitung Mobilisierung/Aktivierung/Motivation Auslösen heilendender Kräfte im Betrachter Förderung der Kommunikationsfähigkeit/Kontaktaufbau Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit Förderung/Veränderung von Selbst- und Fremdwahrnehmung Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit/Ausdauer Stabilisierung/Identitätsbildung Förderung von Gestaltungsaktivitäten und Kreativität Förderung des Selbstwertgefühls Förderung der kulturellen Teilhabe / der Sozialisation

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Die »Linie des Lebens«, die in Anlehnung an Hundertwasser durch die Bremer Studentinnen neu gestaltet wurde, beinhaltet diese Dyna­ mik einer umfassenden sinnlichen Erfahrung im Kunstraum. In der visuellen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk kommt es über einen ergänzenden therapeutischen Imaginationsprozess dann auch zu einer Entlastung von unbewussten Gefühlen. Das intensiviert die Ressourcenaktivierung auf allen bewussten und unbewussten Ebenen und ermöglicht eine Selbstobjekterfahrung. Das Kunsterleben findet in einem Beziehungsraum statt; erst hier vollzieht sich die ästhetischsymbolische Erfahrung. Kreativität wird gefördert. Gleichzeitig kann die Betrachtung von Kunstwerken im Rahmen der Hypnotherapie genutzt werden, um emotionale Erlebnisinhalte und Rückblicke auf die eigene Biographie besser zu verbalisieren: »Denn nur durch das schöpferische Sehvermögen des ›Beschauers‹ können innere Gestal­ tungsfilme entstehen, die nur für den jeweiligen ›Betrachter‹ Gültig­ keit haben und die das Werk für den betreffenden ›Beschauer‹ erst relativ sichtbar machen« (Hundertwasser 1956 in Grunenberg & Becker 2012, S. 71). Genehmigung für den Beitrag, anlässlich der Ausstellung 2012 Abbildungsnachweise: Hundertwasser © 2012 Hundertwasser Archiv, Wien Copyright © 2013 Kunsthalle Bremen Bilder der Kunstaktion der Bremer Studierenden: Georg Franzen Patientenbilder: Katharina Böswetter (2019)

Literatur Bahrke U. & Nohr, K. (2013): Katathym-Imaginative Psychotherapie. Lehrbuch der Arbeit mit Imaginationen in psychodynamischen Psychotherapien. Hei­ delberg: Springer. Bongartz, B. & Bongartz, W. (2000): Hypnosetherapie. Göttingen: Hogrefe. Eibl-Eibesfeldt, I. & Sütterlin, C. (2007): Weltsprache Kunst. Zur Natur-und Kunstgeschichte Bildlicher Kommunikation. Wien: Christian Brandstätter. Franzen, G. (2003): Das salutogenetische Modell unter dem transkulturellen Gesichtspunkt: Konfliktinhalt und Konfliktdynamik. In: Jork, K. & Peseschkian, N. (Hg.): Salutogenese und Positive Psychotherapie. Bern: Hans Huber, S. 104–108. Franzen, G. (Hg.) (2009): Kunst und seelische Gesundheit. Berlin: Medizinischwissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

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Georg Franzen

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Karolina Sarbia

Der eigene Augenschein ist es, mit dem alles beginnt Ein KunstGespräch mit essgestörten Frauen zu dem Video »Haare schneiden« von Rebecca Horn

I. Das kann einem keiner sagen, das muss man selber rausholen Zur Einstimmung möchte ich das Feedback einer Teilnehmerin der KunstGespräche nach einem Jahr regelmäßiger Treffen voranstellen: »Ich habe die Kunst immer gleich abgehakt. Aha, der oder die. Aber jetzt gehe ich mit einem anderen Blick ran. Ich habe gelernt, dass die Kunst ein Gegenüber ist, mit dem man sich auseinandersetzen muss, um was zu verstehen. Das kann einem keiner sagen, das muss man selber rausholen. Und je mehr ich das tue, umso mehr kommt zurück.« Im Folgenden möchte ich die KunstGespräche unter Berücksichtigung theoretischer Überlegungen als eine rezeptive The­ rapieform vorstellen. Kunstwerke in den therapeutischen Prozess einzubeziehen ist nicht neu. Neu an den KunstGesprächen allerdings ist, Kunstwerke als Material für eine Therapie der Wahrnehmung zu benutzen. Deshalb werden zu Beginn zwei gegensätzliche Intentionen der Wahrnehmung eines Kunstwerkes und ihr jeweiliges Dilemma aufgezeigt: die kunstgeschichtliche Betrachtung und die Frage nach der Bedeutung einerseits sowie die kunsttherapeutische Betrachtung und die Frage nach der Wirkung andererseits. Im Zentrum des Praxisteils steht die Begegnung mit dem im Titel genannten Video. Grundlage für die Fallbesprechung ist ein auf Ton­ band aufgezeichnetes Gesprächsprotokoll, das in Form einer Collage mit den Originalstimmen der Gruppenteilnehmerinnen wiedergege­ ben wird. Die frische, unerfahrene Sichtweise der jungen Frauen,

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die bis zum Zeitpunkt des Projekts mit Kunst nichts zu tun hatten, schließt auf, was so oft verschlossen bleibt in der Kunstwissenschaft, aber auch in der Therapie, sei es aus falscher Ehrfurcht, mangelndem Wissen oder fehlender Courage. Der spontane, subjektive Zugang zur Kunst und der Mut, die eigene Wahrnehmung zu benutzen, ohne Kunstexpertin zu sein, befreit die Frauen aus dem Zwang zur Therapie und bewahrt die Kunst vor unpersönlicher kalter Interpretation.

II. Zwei Arten der Annäherung an ein Kunstwerk und ein Dilemma Schaut man aus der Perspektive der Kunstwissenschaft auf ein Kunst­ werk, steht die Frage nach der Bedeutung des Dargestellten an erster Stelle. Mit verschiedensten Methoden versuchen Kunsthistoriker, Kunstwerke auf der Basis einer Kunsttheorie zu interpretieren und Bedeutungen zu konstruieren. Die Interpretation tritt zwischen das Kunstwerk und den Betrachter und wird zum Bindeglied in dem Versuch, das Künstlerische zu vergegenwärtigen und geistige Inhalte erfahrbar zu machen. Grob vereinfacht verstehen sich die Interpreten als Fachleute, die die Kunstwerke für den Betrachter entschlüsseln, um sie erfahrbar zu machen (Wolf 1984). Die amerikanische Kunstkritikerin Susan Sontag wendet sich in ihrem viel beachteten Essay »Gegen Interpretation« gegen diese Art der Entschlüsselungskunst, die auf einer Trennung von Form und Inhalt beruht: »Die Interpretation im modernen Stil gräbt aus; und im Akt der Ausgrabung zerstört sie; sie gräbt sich ›hinter‹ den Text, gleichsam um den Subtext freizulegen, der für sie der eigentliche Text ist« (Sontag 2009, S. 15). Interpretieren heißt ihr zufolge eine »Schat­ tenwelt der Bedeutungen zu errichten« (ebd.). Der Grund dafür liegt ihrer Ansicht nach in der Überbetonung des Inhalts und der Vernach­ lässigung der Form. Manchmal kann die Frage nach der Bedeutung des Kunstwerks ihrer Meinung nach so übermächtig werden, dass die Kunst hinter ihr zu verschwinden droht, weil das Deuten wichtiger ist als das Sehen. Die Wahrnehmung der Oberfläche, die dargestellte Form wird vernachlässigt zugunsten des dahinter oder darunter lie­ genden Inhalts, er wird hinter den Phänomenen gesucht, anstatt das Sichtbare zu betrachten. Sontags Plädoyer lautet: »Wirkliche Kunst hat die Eigenschaft, uns nervös zu machen. Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert und diesen dann interpretiert, zähmt man

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Ein KunstGespräch mit essgestörten Frauen zu dem Video »Haare schneiden«

es« (ebd., S. 16). Sie kritisiert den wissenschaftlich distanzierten Betrachter, der das Werk primär intellektuell-analytisch erfasst, und fordert einen offenen Betrachter ein, der sich von der Kunst persönlich in seinen Empfindungen ansprechen lässt. Dieser Moment des existentiellen Berührtseins markiert die Schnittstelle zur rezeptiven kunsttherapeutischen Praxis. Hier wird nicht nach inhaltlichen, dem Werk zugehörigen Bedeutungszuschrei­ bungen gesucht, sondern nach Momenten der Identifikation, der Empathie und/oder der Ablehnung Ausschau gehalten. Während bei der kunstwissenschaftlichen Betrachtungsweise die Frage nach der Bedeutung des Kunstwerks dominiert, liegt der Fokus in der Kunst­ therapie darauf, was das Kunstwerk bei uns Betrachtern bewirkt. Doch beim freien Assoziieren und Projizieren auf das Kunstwerk in der Kunsttherapie läuft man genauso Gefahr, in die Falle zu tappen, die Sontag bei der Kunstwissenschaft anmahnt, sprich dem persönlich eingefärbten Inhalt die wesentliche, der Form nur beiläufige Bedeu­ tung zuzuerkennen. Der biographisch ambitionierte Zugriff auf das Werk wird oftmals höher bewertet als das, was auf der Oberfläche sichtbar gegeben ist. Ähnlich und doch ganz anders als in der Kunst­ wissenschaft entschwindet das Kunstwerk ebenso und tritt allzu schnell hinter die betrachtende Person zurück. Anstatt sich auf das Werk zu konzentrieren und die unterschiedlichen Facetten der Wahr­ nehmung in den Blick zu nehmen, wird es ausschließlich als Projek­ tionsfläche benutzt (Sarbia 2017, S. 258). Sich über den Mechanismus der Projektion einem Kunstwerk zu nähern, ist ein möglicher, legiti­ mer, aber eben auch eingeschränkter Weg, denn umgehend ist die Kunst beiseitegelegt und der Betrachter steht mit seiner Biographie im Fokus der Wahrnehmung. Dem Dilemma der Vernachlässigung des Betrachters in der Kunstgeschichte einerseits und der Vernach­ lässigung des Werkes in der Kunsttherapie andererseits begegnen die KunstGespräche, indem sie sowohl das Werk als auch die Person als zwei gleichwertige Säulen der Kunstrezeption anerkennen.

III. Vorbilder und Grundlagen Die protokollierten Bayer-Gespräche von Max Imdahl Anregung und Vorbild für die KunstGespräche sind die fesselnden Bildanalysen des Kunsthistorikers Max Imdahl (1925–1988), die ich

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in der Zeit meines Kunstgeschichtestudiums noch persönlich erlebt habe. Sein Temperament und seine Leidenschaft beim Reden über Kunst sind ebenso unvergesslich wie seine untrügerische Wahrneh­ mung. Ihm ging es immer darum, sich selbst als Person und nicht als ästhetischer Betrachter zum Kunstwerk zu positionieren. Immer und immer wieder anders wurde beim Sehen noch einmal nachjustiert. Begriffe, denen das Auge fehlte, erfüllten ihn mit Skepsis. Wichtig waren Imdahl der kontrollierte Nachvollzug, die diskursive Über­ prüfung des Gesehenen. Seine ›Bildbesprechungen‹ waren immer zielstrebig auf Erkenntnis ausgerichtet – auf Erkenntnis als eine am Kunstwerk zu machende Erfahrung, die nur im Medium der Kunst möglich ist und für die es keine außerbildliche Wahrnehmung gibt. ›Sehendes Sehen‹ nannte Imdahl diesen Vorgang. Seiner Methode bildgerechter Interpretation gab er den Namen »Ikonik« (Imdahl 1981). Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hat er immer auch jen­ seits der akademischen Zirkel auf den Prüfstand gestellt. In Gesprä­ chen mit Arbeitern und Angestellten der Bayerwerke Leverkusen (Imdahl 1982) erwies er sich als exemplarischer Kunstvermittler und statuierte ein Exempel jenseits der Vorurteile, indem er zeigte, dass moderne und zeitgenössische Kunst eben nicht unverständlich und nicht nur an Kunstexperten, sondern auch an Laien adressiert ist.

Sehen Sie selbst – ein museumspädagogischer Ansatz Die Imdahlstipendiatin Annette Philp entwickelte mit ihrem Konzept ›Sehen Sie selbst‹ einen museumspädagogischen Vermittlungsansatz mit einer offenen Methode, der meinem Verständnis von therapeuti­ schem Geschehen sehr nahe kommt. Authentizität und Offenheit gehören für sie zu den wesentlichen Merkmalen, um mit Museums­ besuchern einen Dialog auf Augenhöhe zu führen (Philp 2000, S. 22). In ihrem gruppendynamischen Ansatz orientiert sie sich an der Methode der themenzentrierten Interaktion von Ruth Cohn (1997). Therapeutisch gewendet heißt das, in eine echte, nicht professionell ›gespielte‹ Beziehung zu treten, sich der betreffenden Person zuzu­ wenden und sie verstehen zu wollen. Die wertschätzende Qualität der Beziehung prägt ihrer Meinung nach unsichtbar nicht nur den kom­ munikativen Prozess der Kunstaneignung, sondern fördert auch eine Offenheit in der Begegnung mit dem Kunstwerk: Es geht darum, es verstehen zu wollen, nicht es einzuordnen oder zu beurteilen, sondern

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zu spüren, dass es hier nicht um richtig oder falsch geht. In ihren Seminaren, die ich persönlich miterlebt habe, zählte einzig und allein das Bemühen, selbst zu sehen und genau zu sehen, eine Übung, die gelernt sein will. Es ist das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die Sicherheit gibt, und der Wille, sich zur eigenen Sichtweise zu bekennen. Nur in einem positiven Klima werden sich die Teilnehmer trauen, Unfertiges zu äußern (Philp 2000, S. 25). Neben dieser Vor­ aussetzung bedarf es eines strukturierten Rahmens, um dem ›selbst­ erkennenden Sehen‹ (ebd.) Raum zu geben. Mit Philp teile ich die Auffassung, dass dieser gemeinsame Prozess nicht einfach eine Summierung von Positionen, sondern eine Potenzierung dessen ist, was ein Einzelner wahrnehmen kann. Eine Patientin aus meiner Gruppe unterstreicht diesen Mehrwert: »Für mich ist die Gruppe wichtig, um auch die Meinungen der Anderen zu hören, um die eigene Sichtweise nochmals zu hinterfragen. Ich sehe einfach, dass es links und rechts von meiner Wahrnehmung auch noch andere Sichtweisen gibt, die ich so nicht kenne, die ich aber verstehen kann, ohne sie vertreten zu müssen.«

Der kunsttherapeutische Fokus a. Die Therapeutin als Gefühlssouffleuse Die Korrektur und Stärkung der Gefühlswahrnehmung war während meiner Arbeit in einer Psychosomatischen Klinik immer oberstes Therapieziel in der kunsttherapeutischen Behandlung von Essstö­ rungspatientinnen. Hilde Bruch nennt in ihrem Standardwerk »Der goldene Käfig« (1982) neben der Störung des Körperbildes das Gefühl der Unzulänglichkeit und die Fehldeutung innerer und äußerer Reize als wesentliche Kennzeichen der Essstörung. Der Schwierigkeit der Patientinnen, Hunger und Sättigung physiologisch zu empfinden, entspricht auf der emotionalen Ebene die Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen, zu differenzieren und adäquat darauf zu reagieren. Der Therapeutin kommt bei der Bearbeitung der dysfunktiona­ len Gedanken in der Therapie eine zentrale Rolle zu. Sie fungiert in den Sitzungen als »Gefühlssouffleuse« (Wunderer & Schnebel 2008, S. 232), berichtet, welche Gefühle bei ihr entstehen, wenn sie sich in die Situation der Patientin versetzt, regt zu einer Perspektivüber­ nahme an, validiert im Gespräch die Gefühle und involviert Mitpati­

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entinnen in diese Wahrnehmungsarbeit (ebd., S. 222ff.). Viele Pati­ entinnen sind aus ihrem sozialen Umfeld gewohnt, dass andere ihnen sagen, was sie ›wirklich‹ fühlen und meinen. Sie sind in ihrem Gefühlsleben existentiell verunsichert. Dass ihre Emotionen wertge­ schätzt und für wichtig erachtet werden, ist eine neue Erfahrung für sie. Hilde Bruch schlägt den »konstruktiven Einsatz von Unwissen­ heit« (Bruch 1997, S. 317) vor, bei dem die Therapeutin stets vorur­ teilslos bereit ist, etwas zu entdecken, das sie noch nicht weiß. »Für eine erfolgreiche Behandlung ist entscheidend, dass der Patient sich selbst als aktiv Beteiligter am therapeutischen Prozess erfährt […], dass der Patient die Entdeckung selbst macht und die Chance hat, es selbst zu sagen […, dass er] Ermutigung braucht, sich der eigenen Impulse, Gedanken und Gefühle bewusst zu werden, […] um seine unerschlossenen Reichtümer zu entdecken, wach und lebendig zu werden gegenüber dem, was in ihm selbst vor sich geht« (ebd., S. 317).

b. Der eigene Augenschein ist es, mit dem alles beginnt Eine junge Frau berichtet im Rahmen der KunstGespräche: »Mir persönlich ist extrem aufgefallen, dass ich ganz andere Dinge gesehen habe als die anderen, und das hat mich erstaunt. Ich achte jetzt viel mehr darauf, dass ich schaue, was sehe ich und was sehen die anderen bei der gleichen Sache. […] ich habe immer geglaubt zu wissen, wie was wirkt, und dachte, die Fremdwahrnehmung ist genauso. Plötzlich kamen da ganz andere Dinge bzw. Sichtweisen zurück.« Im Zusammenhang mit theoretischen rezeptionsästhetischen Ansätzen schreibt der Kunsthistoriker Rauterberg völlig jenseits von therapeutischen Überlegungen: »Die eigenen Augen zu entdecken, heißt erst einmal den eigenen Augen zu trauen. Dieses Zutrauen ist nicht besonders weit verbreitet« (Rauterberg 2011, S. 178). Gleich­ wohl er mit diesen Worten den klassischen Kunstbetrachter zu kriti­ sieren beabsichtigt, ist hier der Punkt formuliert, an dem meines Erachtens die kunsttherapeutische Arbeit beginnt. Wahrnehmen heißt zu lernen, mit den eigenen Augen zu sehen und den subjektiven Blick nicht durch fremde Interpretationen zu ersetzen. Der eigene Blick ist so wertvoll und so individuell wie ein Fingerabdruck. Mein Wunsch bei den KunstGesprächen war und ist es, durch die Wahr­ nehmung von Kunst einen Raum zu öffnen, der entsteht, wenn Wahr­ nehmungsbemühungen am Werk sind in der Absicht, etwas sehen zu wollen, das man nicht schon kennt, noch bevor man es geschaut hat,

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eine Spur, eine Sichtweise, die auftaucht, die vorher nicht da war, eine Einsicht, die ohne Kunst nicht aufblitzen würde.

IV. Die KunstGespräche in der Praxis Die Rahmenbedingungen Zwei Jahre lang traf ich mich regelmäßig alle 14 Tage, immer don­ nerstags, von 17 bis 19 Uhr mit einer Gruppe von jungen essgestör­ ten Frauen, die freiwillig an den Runden teilnahmen. Alle hatten sie klinische Therapieerfahrung, waren aber nicht mehr akut von der Essstörungssymptomatik betroffen, wurden aber zum Teil noch psychotherapeutisch betreut. Das Alter der Frauen war zwischen 19 und 32 Jahren. Wir trafen uns immer an dem gleichen Ort in einem Münchener Hinterhof, dem digitalen Spiegelarchiv in der Lothringer­ straße 13, einem Ort der Kunst. Es war gleichzeitig eine Präsenzvi­ deothek, ein Ausstellungsort und Archiv für mediale Kunst. Es war ein spezieller ›clos lieu‹ in Sachen Kunst, klein, dunkel, abgründig, heimelig, halb öffentlich, halb privat. Die Frauen fühlten sich dort sehr wohl. Zu Beginn war mir das Spezielle dieses Ortes nicht klar, doch je länger wir dort verweilten, umso deutlicher stellte sich für mich die Bedeutung des künstlerischen Ambientes und der therapiefreien Zone heraus: ein anspruchsloser Ort, ohne Therapieauftrag. Auf einer alten, mit rotem Samt überzogenen Kinobestuhlung saßen wir vor einer großen Leinwand, schauten uns immer ein Video an und diskutieren hinterher in einer Lounge zwanglos auf Sitzkissen am Boden das, was wir gesehen hatten.

Das Setting Das Setting gestaltete sich immer gleich. Es trafen sich mindestens vier und maximal acht TeilnehmerInnen regelmäßig für zwei Stun­ den an diesem Ort. Pro Sitzung entschied ich mich für ein Video, um den Prozess der Auseinandersetzung zu fördern und den Wahr­ nehmungsvorgang zu entschleunigen. Die KunstGespräche folgen immer einem gleichen Vorgehen. Das Werk wird in Ruhe gemeinsam angeschaut, persönliche Eindrücke auf einem Zettel notiert: Gefühle, Assoziationen, Gedanken sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht,

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ungeordnet, ungefiltert, wertfrei, widersprüchlich. Am Anfang steht das eigene Erleben, das durch keine Hintergrundinformationen ver­ stellt sein soll. Ausgehend von drei Fragen, die sich nicht klar trennen lassen, entwickelt sich das anschließende Gespräch: 1. 2. 3.

Was sehe ich? – Beschreibung des Kunstwerks Was empfinde ich? – Wahrnehmung der ausgelösten Gefühle Was denke ich? – Verbindung zur eigenen Lebenssituation und wenn möglich auch zur Krankheit

V. Zur Methode der Wiedergabe eines Gesprächs Authentische, überarbeitete Tonbandprotokolle Der Studie lag ein Forschungsvorhaben, aber kein wissenschaftliches Forschungsdesign zugrunde. Wohl gab es Fragebögen zu den Teil­ nehmerinnen und zur Therapiesituation, auch Ansätze eines Leitfa­ deninterviews, das die gebräuchlichste Form qualitativer Untersu­ chungen zur Erhebung empirischer Daten darstellt, die anschließend nach wissenschaftlichen Standards ausgewertet zu werden (Born 2002, S. 89 ff.). Obwohl die qualitative Forschung bei der individu­ ellen Befragung und bei verbalisierten Erfahrungen ansetzt, eher explorativ arbeitet und anders als die quantitative Forschung eher geisteswissenschaftlich orientiert ist, habe ich diese Methode aus der empirischen Psychologie fallen gelassen, denn die Bildbesprechungen liefen trotz Plan immer anders ab und waren, da sie sich an den Aus­ sagen der Teilnehmerinnen orientierten, nicht vorher zu bestimmen. Zudem schmolz der Faktor Kunst bei all den methodischen Überle­ gungen immer mehr ein, so dass ich mich entschied, zu einer phäno­ menologischen Praxisforschung überzugehen. Alle Sitzungen sind mit dem Einverständnis der Teilnehmerin­ nen auf Tonband aufgenommen und von der Autorin transkribiert worden. Alle Aussagen im nachfolgenden KunstGespräch sind vom Band authentisch übernommen. Mir ist es wichtig, die Frauen im Ori­ ginalton sprechen zu lassen, ihnen eine Stimme zu geben, ihre Worte so wenig wie möglich zu verfälschen. Doch um aus dem Gespräch einen Text zu machen, war es, da ähnliche Aussagen im Gespräch an mehreren Stellen wiederkehrten, erforderlich, thematische Cluster zu bilden. Trotz des Wissens, dass auch Umstellungen, Kürzungen

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und sprachlich bereinigte Übergänge Ungenauigkeiten und Interpre­ tationsspielraum mit sich bringen, wurde der Gesprächsverlauf beibe­ halten. Die Aussagen der Teilnehmerinnen und der Gesprächsleiterin sind nicht gekennzeichnet, doch die Rolle als Moderatorin bleibt erkennbar, wenn Meinungen und Positionen zusammengefasst oder ein neuer Impuls gegeben wird. Neben den Gesprächsprotokollen wurden zwischendurch immer wieder Feedbackrunden durchgeführt und aufgezeichnet. Daraus stammen die in diesem Aufsatz verwende­ ten Originalzitate.

Plädoyer für eine ›kunstbasierte Kunsttherapie‹ Entscheidungsgrundlage für dieses collagierende Vorgehen ist die Auffassung, die der Kulturpädagoge und Philosoph Pazzini in einem frühen Aufsatz als Prinzip Collage definiert hat: »Unsere Umwelt ist voller Collagen, und wir können nicht umhin anzuerkennen, dass auch wir collageartig leben. […] unsere Biographie und die mit ihr gewachsene Persönlichkeitsstruktur weisen Ähnlichkeiten mit Mon­ tagen und Collagen auf, wie wir sie bisher nur als ästhetisches Ver­ fahren zu kennen glaubten« (Pazzini 1986, S. 22). Ursprünglich bezeichnet der Begriff Collage eine ästhetische Praxis, das Prinzip Collage hingegen meint die mögliche Zusammengehörigkeit von künstlerischen und biographischen Fragmenten, verweist auf eine collageartige Lebenspraxis, die die »Zentralperspektive als symboli­ sche Form« (ebd.) ablöst, weil es heterogene Momente zu verbinden imstande ist. Collage, als Prinzip verstanden, versucht Widersprüch­ liches, Unverständliches oder schwer Verstehbares nicht auszugren­ zen, sondern zusammenzumontieren; sie separiert nicht Kunstexper­ ten von Laien, Gesunde von Kranken. ›Collage als Prinzip‹ ist auch dazu geeignet, heterogene Felder wie die Kunst und die Therapie zusammenzuführen. Insofern plädiere ich für eine kunstbasierte rezeptive Kunsttherapie, die die Kunst braucht, weil diese in der Lage ist, den Betrachtern ihren Blick zu leihen, und die Klienten wiederum zollen der Kunst Bewunderung, weil sie in ihr Aussagen formuliert finden, die sie selbst nicht in der Deutlichkeit hätten ausdrücken kön­ nen. So verstanden beschreibt das Prinzip Collage den Transfer zwi­ schen Kunst und Therapie, der mit einer wissenschaftlichen Methodik nicht einzuholen ist. Dieser Transfer muss immer wieder aktualisiert

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und neu verhandelt werden. Der nun folgende Praxisteil ist ein Anwendungsbeispiel.

Praxisteil: Das Video »Haare schneiden« von Rebecca Horn, 1972, 5:27 min 1. Die Beschreibung des Videos Das Video besteht aus zwei Teilen: einem gesprochenen kurzen Text von einem Mann über einen Schlangentanz, eine Art Entree zu einem längeren Bildteil, in dem sich eine Frau, die Künstlerin Rebecca Horn selbst, ihre langen Haare abschneidet. Als Hintergrundgeräusch beim Sprechen ist bereits das Klappern der Scheren zu hören. Dann erscheint eine Frau mit schwarzem Pullover, graublauen Augen und orangefarbenem Lippenstift in Nahaufnahme auf dem Bildschirm, die in Echtzeit gerade im Begriff ist, sich ihrer langen Haare zu entledigen. Dieser Akt der ›Entweiblichung‹ ist schnell passiert und erscheint endgültig. Er vollzieht sich ohne sichtlich erregte Mimik, doch mit einem forschen und unerschrockenen Gesichtsausdruck. Ihr fester und ernster Blick in die Kamera gleicht einem Blick in den Spiegel. Das Werkzeug der Künstlerin sind zwei silberne lange Scheren, die sie in der rechten und linken Hand hält. In Stufen reduziert sie ihre Haare unfachmännisch, aber anschaulich: ein Scherenschnitt links, cut, ein Scherenschnitt rechts, cut, wieder links, cut, dann rechts, cut und so weiter. Je kürzer die Haare werden, umso höher die Spannung beim Zuschauen. Sie wandert mit den Scheren entschlossen und unbeirrt immer weiter nach oben. Die hinteren Haare werden mit den Scheren nach vorne geholt und fallen, cut, den Scheren zum Opfer. Es gibt kein Halten, kein Zaudern oder Zögern. So fährt sie fort bis zum Gesichtsansatz. Doch nicht genug. Sie schnippelt mit den Scheren tatkräftig weiter, zwar etwas verlangsamt, aber stetig fortfahrend, vom Kinn über die Nase zu den Augen, alles weg, vom ehemals leuchtenden Rot der Haare ist fast nichts mehr zu sehen außer der Pony. Die Aktion endet damit, dass die Künstlerin mit den beiden Scherenspitzen den verbliebenen Pony wie eine Art Vorhang vor den Augen zusammenführt.

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2. Das Gespräch zum Video Warum hat sie nicht früher aufgehört? Am Anfang hat mir das Haareschneiden gut gefallen, hat auch Lust auf Veränderung gemacht, aber zum Schluss hin habe ich nur gedacht: Jetzt langt’s! Was macht sie denn da! Warum hört sie nicht auf! Mir erschien sie forsch und selbstbewusst, aber ich bin mit Unverständnis und Unwissen zurückgeblieben. Vieles war wider­ sprüchlich. Mich hat das Video emotional schon sehr berührt, aber im Negativen. Für mich war das kaum auszuhalten. Dachte mir, tu doch die Scheren weg! Ich fand das gar nicht so selbstbewusst, sich die Haare so abzu­ schneiden. Im Gegenteil, für mich war es fast eine Art Selbstverlet­ zung, fast wie eine Selbstverstümmelung. Ich hatte eher den Impuls, sie abhalten zu wollen. Für mich hatte die Frau was Verletzliches. Sie hat zwar teilnahms­ los geschaut, aber innen drinnen muss es doch gearbeitet haben, oder? Je höher sie kam, desto aggressiver wurde das Schneiden und desto verletzbarer war sie, vor allem dann, als sie auf Augenhöhe geschnitten hat. Anfangs empfand ich sie als mutig, voller Elan, es sah auch zwischendrin ganz peppig aus, da hätte sie aufhören sollen. Das sah echt cool aus. Zum Schluss, als sie bei den Augen ankam, wurde sie heftiger beim Schneiden. Für mich hat sie die Grenzen nicht gefunden. Du hättest früher Schluss gemacht. Sie ist über eine Grenze gegangen. Ja, sie überschreitet eine Grenze. Ich würde sie am liebsten abhalten wollen. Ich habe keinen Impuls, sie abzuhalten, sondern warte eher ab und schaue zu, wie lange sie das treibt. Für mich fühlt es sich anders als bei den anderen an, fast nüchtern. Es macht mich nicht wütend. Ich war am Anfang eher ein bisschen geschockt, dass sie so wahllos reingeht. Ein bisschen Verständnislosigkeit war auch dabei, aber Wut oder Mitleid oder irgend sowas hatte ich nicht. Für nichts um alles in der Welt würde ich meine Haare opfern. Stell dir mal vor, du bist an der Stelle der Künstlerin. Du hast ja auch so schöne lange Haare und machst die gleiche Aktion wie die Künstlerin, nur mit deinen Haaren.

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Karolina Sarbia

Um Gottes willen, das würde ich nie tun. Das würde ja so lange dauern, bis sie wieder nachwachsen, ne. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ne, ne, ne. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was die Künstlerin angetrieben hat, weil sie ging ja sicher nicht ganz planlos vor. Es war ja keine zufällige Aktion. Mich erinnert das Video an eine Situation in meiner Kindheit. Jede hatte doch sicher eine Puppe zu Hause, bei der sie versucht hat, ihr die Haare abzuschneiden. Bei Fremden hat man das schon gemacht, aber bei mir würde ich das nie im Leben machen. Ja, da erinnere ich mich auch ganz genau, als von meiner Barbiepuppe die ganzen schönen langen Haare auf dem Boden im Badezimmer lagen. Im Video kommt es nicht so rüber, dass sie was austesten will oder sich z. B. ein neues Styling zulegen will. Am Ende wurde sie ja immer aggressiver. Sie schneidet gleichmäßig beide Seiten ab, so nach und nach. Es regt mich an, darüber nachzudenken, was der Hintergrund für diesen Impuls ist. Anfangs fragte ich mich: Trägt sie ein Perücke? Aber dann wurde mir klar, dass es keine ist. Ich finde, sie zahlt einen hohen Preis, um so ein Video zu machen. Da braucht sie ja Jahre, bis die Haare wieder so lang werden. Sie hat nicht einfach nur was ausprobiert. Diese langen Haare hatte sie mal und sie sind weg, für immer. Sie hat etwas Unwiederbringliches gemacht. Es ist kein Spiel. Es ist mit viel Ernst verbunden. Da ist etwas unwiederbringlich verloren. Auch die Zeit, wo sie dieses Aussehen hatte, die Frau mit den roten langen Haaren, diese Zeit, wo sie jünger war, ist vorüber. Vielleicht will sie das auch. Ich glaube nicht, dass sie das bereut. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie die Haare behalten will, das hätte man an ihrer Mimik sehen können. Das kann ich gut nachvollziehen, dass sie weder das Aussehen behalten noch die Zeit anhalten will. Aber für mich ist sie trotzdem zu weit gegangen. Aber dass sie es so weit treibt, ist für mich eher ein Zeichen von Selbstbestimmung. Sie demonstriert: Ich ziehe meine Grenze dort, wo ich es für richtig finde, und nicht dort, wo andere es für richtig finden. Sie macht das ziemlich radikal und, wie ich finde, auch schonungslos. Das sehe ich auch so: Ich als Frau bestimme ganz alleine, wie weit ich gehe, wie ich aussehe, egal, was der Mann neben mir sagt … ob es den Leuten passt.

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Ein KunstGespräch mit essgestörten Frauen zu dem Video »Haare schneiden«

Ich bleibe ein wenig teilnahmslos. Es ist für mich fast so, als ob sie mit dem Cutten der Haare auch noch was anderes abschneidet. Ich weiß es nicht, aber ich empfinde das so. Das ist nicht nur was Persön­ liches. Wenn da irgendwas bei der Aufnahme schiefgeht. Diese Vorführung ist ein absolut einmaliges Ereignis, keine Inszenierung, die man einfach wiederholen kann. Ich denke mir auch, Mensch, wenn da irgendwas beim Video schiefgeht. Ja, genau. Sie konnte gar nicht üben vorher, deswegen wirkt das Video auch so echt, es ist nicht gestellt. Man kann es sich zwar überlegen, aber man kann es nur einmal machen, und das kann dann gut gehen oder auch schiefgehen. Die Künstlerin geht ein hohes Risiko ein. Jetzt, wo wir darüber reden, man sieht ihr das an: Sie ist richtig ernst. Das ist für mich auch der Bezug zum richtigen Leben. Es ist nicht gespielt. Eigentlich habe ich dafür Bewunderung, weil das betrifft ihr wirkliches Leben. Ja, das ist das Gefühl, das ich so allmählich bekomme, wenn ich mich damit jetzt so auseinandersetze. Dafür bewundere ich sie. Das ist das Besondere an dieser Geschichte: Sie opfert einen Teil ihrer Haare und wird eine Andere. Es ist ein radikaler und schonungsloser Schnitt, den sie macht. Sie schneidet das Symbol weiblicher Schönheit einfach ab. Das, was die Künstlerin macht, ist schon eine starke Zurückwei­ sung eines weiblichen Schönheitsideals. In der Regel schneidet man sich die Haare auch nicht selber, sondern lässt das einen Profi machen. Es ist kein Schnitt und keine neue Frisur, die sie sich zulegt. Im Gegenteil, sie weist mit diesem Anti-Schnitt eher eine bestimmte Sichtweise auf ›Frau‹ zurück. Wahrscheinlich möchte sie nicht als Frau auf ein äußerliches Schönheitsideal reduziert werden. Nichts um alles in der Welt würde ich meine Haare opfern. Undenkbar. Es ist schon der Horror für mich, wenn mir die Haare ausgehen. Das war bei mir durch die Essstörung ganz extrem der Fall. Das war Horror. Mir tut schon jeder Zentimeter weh beim Spitzen­ schneiden. Nie im Leben. Ich habe das live erlebt. Mir sind die Haare büschelweise ausgegangen. Ich musste sie ganz kurz schneiden lassen. Ich war in der Zeit so krank, dass mir alles egal war. Ich war so unter Anspannung. Ich hatte überhaupt keine Gefühle mehr. Ich habe alles

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gar nicht mehr so richtig wahrgenommen. Es ist nichts mehr bei mir so richtig angekommen. Ich weiß noch genau, was mich damals antrieb. Ich wollte nicht auf das Äußere reduziert werden. Ich hatte Angst, ich werde nur gemocht, weil ich gut aussehe. Ich wollte aber gemocht werden, ganz egal wie ich aussehe. Du hast es auf die Spitze getrieben. Du wolltest die Personen, die mit dir zu tun hatten, allen voran deine Eltern, testen, wie weit und wie lange sie zu dir stehen. Ja, so war das. Ich könnte mir vorstellen, das auszuprobieren, aber ich würde mich sicher nicht mehr wohlfühlen. Ich mag meine langen Haare und sehe sie auch als Teil meiner Weiblichkeit. Sie sind für mich schon ein Geschlechtsmerkmal. Das ist mir wichtig. Ich mag es auch nicht, wenn alte Frauen Bubikopf tragen und ihre Weiblichkeit total aufgeben. Rapunzel – oder ein Cut im Leben. Mir kam beim Anschauen das Märchen von Rapunzel in den Sinn, wo die Mutter der Tochter den langen Zopf abschneidet. Im Märchen gibt es keine weibliche Selbstbestimmung von Rapunzel. Das ist im Video anders. Im Märchen zieht sich die Stiefmutter an den wunderschönen langen goldenen Haaren des Mädchens in das Turmzimmer hoch, so wie sie es vorher beim Königssohn beobachtet hat. Nur ist ihre Absicht eine andere. Mit der Pubertät hat sich für Rapunzel etwas Ent­ scheidendes verändert, das in den goldenen Haaren seinen Ausdruck findet. Sie ist eine liebenswerte, heiratsfähige Frau geworden und droht somit der Kontrolle der Mutter zu entgleiten. Die Stiefmutter findet keine andere Lösung, als ihre Tochter zu bestrafen, und schnei­ det ihr in einem Anfall von Aggression den Zopf ab. Nie mehr wird sie den überlangen Zopf dazu benutzen können, sich daran festzuhalten oder sich buchstäblich daran hochzuziehen. Das ist interessant. Es macht einen großen Unterschied, ob einem die Haare abgeschnitten werden, und dazu noch von der Mutter, oder ob man sie selbst abschneidet. Ich kenne viele Frauen, die zuerst lange Haare hatten und sich dann plötzlich ihre langen Haare haben schneiden lassen. Das war dann wie ein Cut im Leben. Sie wollten was Neues anfangen. Ja, manchmal muss man was Altes hinter sich lassen und will sich ein neues Outfit, eine neue Identität geben. Das ist oftmals nicht nur

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ein äußerlicher Akt. Manchmal muss man etwas hergeben, damit was Neues anfangen kann. Was würdet ihr gerne hergeben wollen? Ein Satz genügt. Die Essstörung. Daran habe ich auch gleich gedacht. Das wäre das Erste auf meiner Liste, ist aber auch das Schwierigste. Meine Selbstzweifel. Dass ich nicht immer alles schlechter mache, als es ist. Meine Angst aufzufallen. Meinen Perfektionismus. Der ist eng verbunden mit meiner Ess­ störung. Danke.

Abbildung 39: Rebecca Horn – Haare schneiden 1

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Abbildung 40: Rebecca Horn – Haare schneiden 2

Abbildung 41: Rebecca Horn – Haare schneiden 3

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Abbildungen 3 Fotos aus dem Video, K. Sarbia

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Alexandra Daszkowski

Kunst als Transformationsraum: Die rezeptive Kraft der Bilder von Katja MacLeod Kessin

Das Phänomen, das ich mit meinem Beitrag zur Kunst als Transfor­ mationsraum vorstellen möchte, verhält sich in zweifacher Weise rezeptiv. Zum einen möchte ich es als »rezeptiv« bezeichnen, wenn Kinder in ihren Elternhäusern durch ihre hohe emotionale Empfäng­ lichkeit zu persönlichen Gefühlen und Bildern kommen, die nicht wirklich die eigenen sind, sondern die emotional an sie »übertragen« wurden. Hier bezieht sich die Rezeption – also das Empfangen – auf die Weitergabe der belastenden Emotionen der Erwachsenen, welche die familiären Atmosphären, in denen Kinder aufwachsen, prägen. Als rezeptiv zu verstehen ist weiterhin die Überführung dieser Atmosphären in gemalte Bilder, die in Kunsttherapie oder Kunst von den in diesen Umfeldern aufgewachsenen erwachsenen Kindern oder Enkelkindern angefertigt werden (Daszkowski 2020). Das Phänomen solch unbewusster Weitergabe wird durch das Konzept der transgene­ rationalen Traumatisierung erklärbar. Dieses bezieht sich auf die – so Freud – »Gefühlserbschaft« von Kindern oder Enkeln, deren Eltern oder Großeltern ein individuelles bzw. kollektives Trauma erfahren haben, das unverarbeitet blieb (Moré 2013). Die Übersetzung solch emotionaler und thematisch aufgeladener Atmosphären in Kunst wurde von Katja MacLeod Kessin, die sich selbst als Vertreterin der »second generation German visual artists« verstand, in ihrer Dissertation »To lend the dead a voice« (Den Toten eine Stimme geben) genauer untersucht (MacLeod Kessin 2003). Meine zweite Überlegung zu dem Wort »rezeptiv« bezieht sich auf Wirkfaktoren der rezeptiven Kunsttherapie, die sich beim »emp­ fänglichen« Betrachten von Bildern wie jenen der oben genannten Künstlerin entfalten können. In meiner Rolle als Kunsttherapeutin nehme ich also eine kunsttherapeutische Perspektive auf das Werk von MacLeod Kessin ein, und ich setzte mich mit der Bedeutung aus­ einander, die es für das rezeptive Verfahren meines Faches haben

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kann. Beispielsweise verweisen einige der Bilderserien der Künstlerin explizit auf in den Familien und in der Gesellschaft Unausgesproche­ nes. Georg Franzen (2018, S. 142) weist darauf hin, dass »besonders dort, wo die Kommunikationsfähigkeit eines Patienten eingeschränkt ist, […] rezeptive Kunsttherapie einen Einstieg in Betrachtungen und Erkenntnisse« bietet. Des Weiteren verweist das Werk ausdrücklich auf etwas Unbewusstes, und somit lädt die Auseinandersetzung mit ihm zum Prozess der Bewusstwerdung und zum Aufdecken von Kon­ flikthaftem ein. Rezeptive Kunsttherapie mache sich die Möglichkei­ ten zunutze, so Martin Hecht (2014, S. 40), »über die Auseinander­ setzung mit Kunst an Konflikte und Probleme in unserem Unterbewusstsein zu gelangen«, mit der Intention, »über den Kontakt mit Kunstwerken […] neue Handlungs- und Verhaltensweisen in Gang zu setzen«. Bei meinen Betrachtungen lege ich ein besonderes Augenmerk auf generationsübergreifende emotionale Gemengelagen: gemischte Gefühle, Ambivalenzen, Ambiguität hinsichtlich der eigenen Her­ kunft – all dies sind unbewusste Scherkräfte, welche die Künstlerin ausdrücklich auf ihren Motiven zulässt und die den einzelnen Bildaus­ druck so intensiv erscheinen lassen. Dies zu illustrieren, ziehe ich ausgewählte Bilder MacLeod Kessins heran, die exemplarisch für ihre narrativen Serien stehen. Als Kunsttherapeutin möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern Bilder wie diese eine rezeptiv-kunsttherapeu­ tische Wirkung entfalten, und zwar auf persönlicher, aber auch auf kollektiver Ebene. Ich lade also dazu ein, mit mir durch verschiedene Räume zu wandern, in denen wir vor fünf hierzu ausgewählten Bildern der Künstlerin Station machen werden, um diese aus der oben skizzierten Perspektive genauer zu betrachten.

Das künstlerische Werk von Katja MacLeod Kessin (1959–2006) Katja MacLeod Kessin, Ph. D., wurde in Hamburg geboren und wuchs dort auf. Als junge Erwachsene immigrierte sie nach Montreal, Kanada, wo sie eine Familie gründete und 2006 mit 47 Jahren verstarb. Sie hinterließ ein in Kanada zu ihren Lebzeiten mehrfach ausgezeichnetes Gesamtwerk, das 2007 mit einer Retrospektive der FOFA Gallery in Montreal gewürdigt wurde, aber bislang in Deutsch­ land weitgehend unbekannt ist (vgl. Daszkowski mit MacLeod Kessin

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2021). Ich, die Autorin, befinde mich in einer besonderen Situation, wenn ich mich wie in diesem Artikel mit dem Werk befasse: Katja war nicht nur meine Schwester, sondern stand mir, die ich Kunsttherapeu­ tin bin, mit ihrer Kunst und deren Anliegen auch beruflich sehr nah. So habe ich die Möglichkeit, für diesen Artikel auf Quellen zurückzu­ greifen, die mir durch diese einzigartige private und professionelle Beziehung zur Verfügung stehen. Katja MacLeod Kessins künstlerisches und akademisches Werk »To lend the dead a voice« (Den Toten eine Stimme geben) fokussierte die »zweite Generation deutscher Künstler«, die von jenen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen abstammen, die im Nationalsozia­ lismus lebten und als »erste Generation« bezeichnet werden. Ihr besonderes Interesse galt der Frage, inwieweit die subjektiven und kollektiven traumatischen Erfahrungen in Nazideutschland direkt und indirekt in den Arbeiten von Künstlern der zweiten Genera­ tion ihren Ausdruck findet. MacLeod Kessin hat mit ihrer Expertise erkannt, dass sich der noch immer stark tabuisierte Diskurs visuell in der Kunst der Nachgeborenen niederschlug und weiter niederschlägt. Dieses künstlerische Schaffen, das eine tabuisierte Zone übertritt, so ihre Annahme, eröffnet einen spezifischen Diskussionsraum für ein Thema, das durch einen verbalen Dialog unzureichend erfasst wird. Ihre Hypothese impliziert, dass Kunst Aspekte eines traumatischen Geschehens auf visuelle Weise repräsentieren kann, die andernorts nicht repräsentierbar sind. Neben ihrem eigenen Werk zieht sie als Referenz die Werke anderer Künstler heran, die sie genauer unter­ sucht. Das Phänomen, über das ich schreibe, betrifft in genereller Weise die generationsübergreifende Traumabelastung, in denen die direkt Betroffenen ihre Themen auf emotionaler Ebene an die Nachgebore­ nen weitergeben. Auch wenn sich das von mir gewählte Beispiel auf Nazideutschland bezieht, ist der beschriebene Mechanismus auch für andere Kontexte gültig, die sowohl eine einzelne Familie als auch große Teile einer Gesellschaft – wie es beispielsweise bei Kriegen oder Flucht der Fall ist – betreffen können. Heutige Erkenntnisse über transgenerationale Traumatisierung belegen, dass die Nachfahren der Menschen, die im Nationalsozialismus traumatisiert wurden, unter starken emotionalen Belastungen leiden können. Obwohl sie den traumatischen Erfahrungen nicht direkt ausgesetzt waren, unter­ stützt die gegenwärtige Traumatheorie, die auch durch epigenetische Forschung untermauert werden kann, dass sie mit dem Trauma asso­

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ziierte Gefühle von ihren Eltern übernommen haben können (Dasz­ kowski 2021; Moré 2013; Wissenschaftlicher Dienst 2017; Yehuda et al. 2016). MacLeod Kessin nahm an, dass solche »Übertragungen« in den Werken von Künstlern der zweiten Generation zum Vorschein kommen, was diesen selbst sowohl bewusst als auch unbewusst sein kann. Sie sagte über ihr Verhältnis zur Kunst: »Schon als kleines Kind suchte ich verstärkt die künstlerische Ausdrucksform als Kommunikationsmittel. Man könnte sagen, dass ich mich mit Zeichen ausdrücken konnte, bevor ich richtig sprechen konnte. Nach meiner Immigration nach Kanada als Achtzehnjäh­ rige wurde meine visuelle Praxis zusehends mein bevorzugtes Kom­ munikationsmittel, wahrscheinlich, weil ich vom Gebrauch meiner Muttersprache abgeschnitten war. Ich hatte das Gefühl, dass meine Möglichkeiten, mich in Englisch angemessen auszudrücken, begrenzt waren und es auch bleiben würden. Langsam wurde mein künstleri­ sches Schaffen zu einem notwendigen Vehikel des Selbstausdrucks. Es ist offensichtlich, dass die Kriegsgeschichte meiner Familie den Hintergrund zu vielen meiner Ausstellungen bildet – mir selbst war dies aber nicht immer deutlich« (MacLeod Kessin 2001). Im Verlauf ihrer künstlerischen Karriere wurde ihr zunehmend bewusst, dass sie in ihren Bildern Themen der ersten Generation zu transformieren versuchte, und sie vermutete in diesem Prozess zunächst eine selbsttherapeutische Komponente. Diese verließ sie bewusst, als sie die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeiten erkannte und in der Folge konzeptionell arbeitete. Sie hatte verstanden, dass – mehr als eine bloße Nachstellung des vererbten Themas – bildneri­ sche Werke wie die ihren eine Schlüsselrolle in der verspäteten, jedoch nötigen Aufarbeitung des Erbes Nazideutschlands darstellen. Stell­ vertretend für eine Gesellschaft können Künstler nicht nur die emo­ tionale traumatische Erbschaft aufarbeiten, sondern diesen Prozess mittels ihrer Werke auch der Öffentlichkeit zugänglich machen und dieser einen Transformationsprozess zur Verfügung stellen (MacLeod Kessin 2003: Daszkowski mit Macleod Kessin 2021): »Die Kunst hält der Gesellschaft oft einen Spiegel vor, der zeigt, was sie verdrängt, (noch) nicht weiß oder nicht wissen will« (Schottenloher 1994, S. 42). MacLeod Kessin beschreibt ihr Verständnis von der eigenen Verant­ wortlichkeit so: »Von Kindheit an waren der zweite Weltkrieg und der Holocaust mir tagtäglich gegenwärtig. Als kleineres Kind fühlte ich mich schul­ dig und wertlos, weil ich deutsch war. Als Erwachsene erarbeitete ich

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mir hingegen die Erkenntnis, dass, obwohl ich nicht von persönlicher Schuld sprechen kann, ich doch einem menschlichen Schuldenberg gegenüberstehe, welchen sich Deutschland aufgeladen hat – Schul­ den, die aus der jüngeren Vergangenheit stammen und welche noch in keiner Weise beglichen sind. Ich glaube fest daran, dass es Deutsche sein müssen – so wie ich –, die diesen Berg abtragen helfen müssen, indem sie sich politisch, als Künstler und in anderer Form engagieren“ (MacLeod Kessin 2001). Aus der Perspektive einer Kunsttherapeutin möchte ich ergän­ zen: Jene Bilder, die Ergebnisse solcher Transformationsprozesse sind, stellen Künstler wie MacLeod Kessin einzelnen Betrachtern zur Ver­ fügung. Diese Rezipienten wiederum haben ihre persönlichen Fami­ liengeschichten und Themen, die sie über die Betrachtung der Bilder rezeptiv in das Bewusstsein heben können, um diese zu verstehen und bewusst zu bearbeiten. Dies wäre ein kunsttherapeutischer Effekt: »Das verdrängte und abgespaltene Material, das einer Person inner­ lich nicht mehr zugänglich ist, wird als Projektion auf die Bildfläche in Kommunikation mit dem Bild wieder verarbeitbar, verwandelbar und in die Persönlichkeit integrierbar« (Schottenloher 1994, S. 37). MacLeod Kessin entwickelte eine detaillierte Ikonografie, die atmo­ sphärisch das Aufwachsen in Deutschland in der Nachkriegszeit sym­ bolisiert und die oftmals trügerische Harmonie des traditionellen Familienlebens exploriert. Als ich in Deutschland zu mehreren Gele­ genheiten ihre Bilder vorstellte, sagten mir Betrachter oftmals, dass sie von diesen emotional sehr berührt und betroffen seien. Emotional erreicht habe sie das Sichtbarmachen und das Wiedererkennen eines bislang schwer fassbaren persönlichen Themas. Von transgeneratio­ naler Traumatisierung Betroffene beschreiben ihre Gefühlswelt oft als unverständlich belastet, und sie stellen in ihren Therapien unter Umständen fest, dass sich dies mit der eigenen Biografie nicht hin­ reichend erklären lässt (Daszkowski 2020). Bilder wie die von MacLeod Kessin können Referenzen für mögliche Antworten sein oder auch eine Selbstauskunft bieten, da sie ein authentischer Reso­ nanzraum für die nebulöse Gefühlslage ihrer Betrachter sind. In seiner Hommage »Home fires: an appreciation of Katja MacLeod Kessin’s narrative paintings« beschreibt David Elliott (2007) die besondere Magie der Bilder, die den Betrachter sukzessiv zunächst zu locken und dann zu verstören in der Lage sind: »Katja wurde eine Expertin darin, [auf ihren Bildern, Anm. A. D.] Ornamente zu bilden […]. Mit der Zeit entwickelte sie als Malerin

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Methoden, die es ihr erlaubten, kunstvolle und sorgfältig ausgearbei­ tete Büchsen der Pandora zu kreieren – stets dekorative und häufig hübsche Behälter für verstörende Wahrheiten. […] Als DeutschKanadierin, die zu jung war, um die Kriegsjahre aus erster Hand erlebt zu haben, wurde sie vom Erbe des ›Dritten Reiches‹ heimgesucht, und statt einer Vermeidung fühlte sie die Notwendigkeit einer Konfron­ tation mit diesem« (Elliott 2007, S. 13, Übersetzung A. D.).

Bilder als sichtbar gemachte Atmosphären MacLeod Kessins in Bilder gekleidete persönliche Erzählungen über ihr Kindheitsdeutschland sind sowohl die einer messerscharfen Beob­ achterin als auch die einer feinsinnigen und emotional involvier­ ten Künstlerin. Die Referenz dafür sind ihre eigenen Erinnerungen oder die ihr erzählten Erinnerungen anderer Familienmitglieder. Als Künstlerin war sie in der Lage, persönliche emotionale Betroffenheit in konzentrierter Weise auszudrücken und sie durch die ikonografi­ sche Bildsprache auf eine allgemeinere Gültigkeit zu erweitern. Bei den auf ihren Bildszenen dargestellten Objekten handelt es sich um kollektiv vertraute Dinge, die es in ihrem »Kindheitsdeutschland« real gegeben hatte (vgl. auch Daszkowski mit MacLeod Kessin 2021). Ob Perserteppich, Plastikcowboy oder Puppenstube, es sind die realen Gegenstände, die auf ihren Bildern symbolhaft das Aufwachsen in den 1960er und 1970er Jahren repräsentieren. Diese dekorieren die wie auf die Leinwand gegossen wirkenden und typisch möblierten Innenräume, in denen die damaligen »deutschen Kindheiten« geprägt wurden. Besonders jene Betrachter, die in dieser Zeit aufgewachsen sind, so meine Hypothese, treten in diese Bildräume emotional invol­ viert ein, weil sie sich ihnen aufgrund ihrer Vertrautheit nur schwer entziehen können. In den letzten Jahren hat in Deutschland und andernorts in Europa die Empfänglichkeit für das Phänomen der transgeneratio­ nalen Traumatisierung zugenommen. Vor dem Hintergrund kollek­ tiv erfahrener traumatisierender Ereignisse während der »jüngeren deutschen Geschichte« – gemeint sind die Verbrechen im National­ sozialismus und der Zweite Weltkrieg – entwickelt und schafft in Deutschland die Generation der Nachgeborenen ein zunehmendes Bewusstsein für das Thema. Die sogenannten zweiten und dritten Generationen möchten die irritierenden und verstörenden emotio­

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nale Belastungen verstehen und angemessen einordnen (vgl. Dasz­ kowski 2020). Sie sind die möglichen Adressaten der Bilder und somit die potentiellen Empfänger der verschlüsselten oder offensichtlichen Bildbotschaften der Künstlerin.

Das Bild als ästhetischer Raum (Abb. 42) Insbesondere mit der Bilderserie »Leicht ALTARierte Erinnerungen« (Memories slightly ALTARed) hat MacLeod Kessin visuelle und zugleich real anmutende Räume geschaffen. Diese locken uns Rezipi­ enten an ihre Schwellen, wo wir verweilen oder eintreten können, schauen und staunen dürfen. Wir finden vertraute Dinge vor, die auf Vergangenes verweisen und durch uns wieder in die Gegenwart der ästhetischen Erfahrung gelangen. Widersprüchliche Motive in atmosphärisch aufgeladenen Räumen mit symbolhaft verdichtetem Interieur laden zum ästhetischen Verweilen ein. Sie sind die Emp­ fangsräume für unsere persönliche Resonanz, die wiederum mit unseren früheren Erfahrungen in vielleicht ähnlichen Räumen kor­ respondieren mag. Einige der Bilder, die quasi wie Trompe-l’œils wirken, ragen in den realen Raum hinein oder werden durch angefügte Objekte in diesen dreidimensional integriert. Subversiv spricht die Künstlerin eine Einladung aus, in diesen Räumen eine Erfahrung zu machen oder eine Erinnerung zu erwe­ cken. Sie mutet uns eine Begegnung zu, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt, da die Bilder vordergründig dekorativ wirken. Im größeren Kontext könnte man die Räume als Metapher für einen gesellschaftlichen Raum verstehen, der ein Thema zwar tabuisiert, verhüllt und verschleiert, es jedoch bei näherem und genauem Hin­ sehen nicht verheimlichen kann. Sie sind ein Angebot an die Betrach­ ter, eine Erkenntnis zu wagen: »In der erlebten Gegenwart des Werks kommen neue Emotionen und neue Gedanken zum Vorschein« (Tschacher & Tröndle 2018, S. 21). Die tiefergehende Auseinander­ setzung mit den Bildern kann eine persönliche Offenbarung sein. Beispielsweise ist vielen der von transgenerationaler Übertragung Betroffenen nicht gegenwärtig, dass sie eine emotionale Bürde tragen, die sie als Kind zwar unbewusst empfangen haben, aber als Erwach­ sene durchaus bewusst wieder zurückweisen könnten. Kunstwerke können »Fragen aufwerfen und eine Auseinandersetzung anregen, die

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zu neuen Einsichten und Erkenntnissen in Bezug auf die eigene Person führt« (Pöppel 2019). Ursula Brandstätter schreibt zu dem besonderen Verhältnis zum visuellen Raum, der sich bei der Betrachtung eines Bildes öffnet: »Wenn wir uns einer ästhetischen Erfahrung hingeben, so begeben wir uns damit in ästhetische Räume, die von den faktischen Räumen durchaus unterschieden sind« (Brandstätter 2013/2012). In dem 1987 während ihres Kunststudiums entstandenen Bild »Ruf niemals Wolf« (Never cry wolf), das MacLeod Kessin für die Serie »Tapu« malte, lauert der Wolf bereits – oder noch immer? – unter dem Teppich (Abb. 42). Zu dieser Zeit war die Malerin das grundlegende Anliegen ihrer Kunst noch nicht bewusst, doch der perspektivisch verfremdete Raum weist bereits auf eine Irritation in Raum und Zeit hin. Dem Betrachter drängt sich die Ahnung auf, dass sich hier die objektive Realität von Zeit und Raum zugunsten einer subjektiven Wirklichkeit, die sich atmosphärisch zeigt, verschoben hat.

Das Bild als Empfangsraum (Abb. 43) Schaut man im Lexikon nach dem Begriff »Rezeption«, so findet man unter anderem als Synonym das Wort »Empfangsraum«, was mir aufgrund seiner Anschaulichkeit für Bilder, die Räume illustrieren, passend erscheint. Zum einen liegen den gemalten Atmosphären reale Räume und emotionale Situationen, die in ihnen stattfinden, zugrunde. Im häuslichen Wohnzimmer beispielsweise ist die Luft dick oder schneidend, und die Gefühle der Eltern oder Großeltern verhal­ ten sich, phänomenologisch ausgedrückt, wie in den Raum gegossene Atmosphären, welche die Kinder aufnehmen, da sie dort Tag für Tag verweilen müssen. Die mittels Objekten dargestellte Situation auf dem Bild »Erntedank« (Hoe down) bezieht sich auf das Spiel der Kin­ der unter dem Tisch, während die Erwachsenen am Tisch im Gespräch ihre Kriegserlebnisse andeuten (Abb. 43). MacLeod Kessin gelingt die gemalte Übertragung der vermeintlich harmlosen, doch zugleich unheimlichen Situation über die Wahl ihrer Motive, die den Betrach­ ter, wenn er sich in einer entsprechenden Altersgruppe befindet, für die Botschaft des Bildes besonders empfänglich machen. Spitzendecke und Spielfiguren beispielsweise sind Motive, die in irritierender Weise unmittelbar vertraut wirken können, wenn sie aus der häusli­ chen Umgebung der persönlichen Kindheit stammen. Loren Lerner

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schreibt in ihrem Beitrag »Performing Katja«: Die Malerin »konstru­ ierte (häufig) die Räume in ihren Bildern mit Absicht ohne Personen, damit der Betrachter der Protagonist sein konnte« (Lerner 2007a, S. 32, Übersetzung A. D.).

Das Bild als Begegnungsraum (Abb. 44) Namengebend für MacLeod Kessins späteres Werk, zeigt die Szene auf dem Bild »Den Toten eine Stimme geben« (To lend the dead a voice), wie fünf alte Frauen, die Kriegswitwen wie die Großmutter der Malerin sind, beim regelmäßigen Altenkreis der Gemeinde schwei­ gend, da aufgrund ihrer unaussprechlichen Erfahrungen sprachlos geworden, beieinander sitzen (Abb. 44). Der Betrachter des Bildes tritt hier in eine soziale Situation ein, die vermeintlich Paradoxes zulässt: Die Sprachlosen sprechen zu uns, sie fordern uns auf und wir folgen ihrer Aufforderung. Wir sind bildlich dazu eingeladen, auf dem leeren Stuhl Platz zu nehmen, um gemeinsam mit den alten Frauen dem Schweigen aus der Vergangenheit zu lauschen.

Das Bild als Zeitraum (Abb. 45) MacLeod Kessins Bilder veranschaulichen in nachdrücklicher Weise, was Doris Titze generell über die besondere Fähigkeit von Bildern schreibt, mehrdimensionale Brücken zu bauen: »Bilder verbinden divergierende Zeiten, Orte, Erlebnisse, Gedanken und Gefühle in einem gemeinsamen Raum. Sie beherbergen in einer präsenten Gleichzeitigkeit scheinbar Unvereinbares wie von einer anderen Ebene aus gesehen. Erzählen oder lesen kann man nur in einer zeit­ lichen Abfolge. Gemalt wird ebenfalls in einer zeitlichen Abfolge, doch fügen sich alle zeitlichen Ebenen in ein Bild« (Titze 2014, S. 24). Dies trifft insbesondere auf das Bild »Erbe … und ich entschied, Künstlerin zu werden« (Inheritance … and I decided to become an artist) aus der Serie »Stillleben / Noch am Leben« (Still alives) zu (Abb. 45). Es ist als Tischplatte arrangiert. Die Motive auf dieser sind gemalte Replika von Zeichnungen, die verschiedene Familienmitglie­ der der Künstlerin während des Nationalsozialismus angefertigt haben, sowie eigene frühe Kinderzeichnungen. Diese Collage ver­ weist mehrdimensional auf das künstlerische Erbe als »Künstlerin der

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zweiten Generation«. Die Malerin hat ihre familiären Einflüsse auf diesem Bild integriert, das Ambiguität ausstrahlt und deren Bildele­ mente sich doch zugleich zu einem visuell stimmigen Ornament zusammenfügen. Diese Ambivalenz mag zunächst verstörend wir­ ken. Eine Sichtweise, die Gertrud Schottenloher generell in Bezug auf die kreative Störung einnimmt, scheint mir in Bezug auf die irritie­ rende Harmonie dieses Bildes passend: »Störung im negativen Sinn ist etwas nur, solange es nicht in das Bildganze integriert ist, wenn es im Verhältnis zum Ganzen ein Übergewicht oder Untergewicht hat, sich dem Gleichgewicht der Kräfte nicht fügt […]. Der störende Faktor muss also nicht eliminiert werden, er kann eingearbeitet, integriert werden« (Schottenloher 1994, S. 47). Der Betrachter des Bildes erhält den Eindruck einer thematischen und emotionalen Gemengelage. Doch durch Umstrukturierung und Neukomposition der Motive auf bildnerischer Ebene wurde diese neu konstruiert. Mittels ihrer Bildim-Bild-Technik durchquert und verbindet MacLeod Kessin visuell Zeiten und Räume und verdichtet diese zu einer kohärenten persön­ lichen Erzählung, die den Betrachter fordert: »Für Katja existierte Geschichte sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Indem sie nach den versteckten Geheimnissen und unerzählten Geschichten aus der Zeit Nazideutschlands greift, bezieht sie das Publikum eher als Handelnden denn als Beobachtenden in ihr Werk ein« (Lerner 2007a, S. 31, Übersetzung A. D.). Brandstätter schreibt in ihren Ausführungen zur ästhetischen Erfahrung: »Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit können als Begleiterscheinungen bestimmt werden, die sich aus der Idee des Selbstzwecks und der Selbstbezüglichkeit ästhetischer Wahrneh­ mung ergeben. Die Loslösung von der Bindung an äußere Zwecke und reflexive Bezugnahme auf sich selbst hat die Generierung von Zeit-Räumen mit eigenen Gesetzlichkeiten zur Folge« (Brandstätter 2013/2012). Wenn MacLeod Kessin beispielsweise die Zeichnungen einer Schülerin im NS-Regime mit den Zeichnungen eines KZ-Insas­ sen verbindet und eigene Kinderzeichnungen aus den 1960er Jahren dazu fügt, erscheint dies auf dem Bild als stimmig. Das Bild steht für den Konflikt und ist zugleich die Konfliktlösung: Und ich entschied, Künstlerin zu werden! Wie kommen wir zu den Dingen, die wir tun, und zu dem, wer wir sind? Ein Betrachter mag sich ebenfalls diese existenzielle Frage stellen. Das Bild belegt exemplarisch: Biografische

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Kunst als Transformationsraum

Ambiguität wird nicht nur von der Leinwand ausgehalten, sie ergibt dort sogar Sinn.

Das Bild als Resonanzraum (Abb. 46) Die Atmosphären in den Elternhäusern sind durch die Gefühle und Erlebnisse der Erwachsenen geprägt. Dies gilt insbesondere, wenn kaum über Gefühltes und Erlebtes gesprochen werden kann, wie es in vielen deutschen Familien der Nachkriegszeit der Fall war. Lynn Hughes schreibt in ihrem Beitrag »Seeing in, and being in, the world« über MacLeod Kessins visuelle Version vom trauten Heim: »In ihrer um 1993 herum entstandenen Bilderserie ›Memories slightly altared‹ (Leicht ALTARierte Erinnerungen) begann sie immer gewagtere Kon­ frontationen, sowohl zwischen abstrakter und figurativer Bildsprache als auch zwischen Motiven häuslicher Gemütlichkeit oder Sicherheit und Andeutungen äußerer Bedrohung. In ›Der lieben Mutti‹ (To dear mother) halten wir uns in einem häuslichen Ort auf, der vielleicht zu einem kleinen Wohnzimmer gehören mag [Abb. 46]. Er ist klaustro­ phobisch möbliert und in vorherrschend düsteren Farbtönen gehalten. Die halb geöffneten Schubladen und Türen der Möbel lassen Bedroh­ liches erahnen. Vielleicht ist etwas gerade gestohlen worden, oder etwas ist kurz davor, offenbart zu werden« (Hughes 2007, S. 21). Hughes beschreibt, wie sie als Betrachterin in den Bann des Bildes gezogen wird, dessen Ästhetik sie spürbar miterlebt. Das entspricht dem, was an anderer Stelle so formuliert wird: »Unser Ansatz in der Kunstpsychologie bezieht sich ausdrücklich auf die Verkörperung des ästhetischen Erlebens. […]. Die Betrachter und Betrachterinnen sind […] besonders und authentisch ästhetisch angesprochen, wenn sie in ›Resonanz‹ mit dem Werk eintreten, dessen ›Aura‹ erspüren und in die tiefe Betrachtung des Werks ›eintauchen‹“ (Tschacher & Tröndle 2018, S. 20).

Kunst als Transformationsraum Eine Kunsttherapeutin, wie ich es bin, befasst sich mit sehr privaten Bildern, die im Schutzraum der Kunsttherapie entstehen und Zeug­ nisse von persönlichen Geschichten sind. Schottenloher weist auf den Unterschied von Kunsttherapie und Kunst hin: »Kunst im traditio­

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nellen Sinn wendet sich an die Öffentlichkeit, an die Gesellschaft, Therapie wendet sich hingegen dem Individuum […] zu. […] Ent­ sprechend hat Therapie keine Zuschauer, Kunst dagegen braucht den Betrachter« (Schottenloher 1994, S. 33). Wenn Menschen in einem öffentlich zugänglichen Raum, wie es die Galerie ist, in sehr privater Weise in einen rezeptiv-kunsttherapeutischen Prozess mit einem Bild eintauchen und wenn dies viele Menschen tun und diese vielen es aufgrund einer zugrunde liegenden kollektiven Erfahrung als Offen­ barung erleben, so mag auch dies gesellschaftlich bedeutsam sein. Kunst wie die von MacLeod Kessin bietet einen Resonanzraum, in dem etwas entstehen kann und sichtbar wird, was vorher noch nicht in der Wirklichkeit war, und der dabei explizit die Öffentlichkeit mit einbezieht. Für Menschen, die aufgrund ihrer Familiengeschichte von transgenerationaler Traumatisierung durch den Nationalsozialismus besonders betroffen sind, stellt dies eine beispielhafte Rahmung für die ambivalenten Gefühle und Situationen ihrer Generation dar. Bilder wie die von MacLeod Kessin sensibilisieren uns dafür, dass das scheinbar Vergangene in den Menschen der Gegenwart noch immer virulent ist. Die Generation der Nachgeborenen versucht heute, ihr emotionales Erbe zu verstehen, und gelangt dabei an Gren­ zen, da Wesentliches im Verborgenen bleiben musste. Die Bilder der Künstlerin symbolisieren diese Suche, bezeugen die inneren und äußeren Irritationen, und sie bestätigen die Berechtigung von uner­ klärbaren Eigenwahrnehmungen: »Kunsterleben ist immer ein Wech­ selspiel, ein reziproker Prozess zwischen Kunstobjekt und Betrachter. Wir lesen nicht nur heraus, was in einem Kunstwerk steckt. Am Ende erkennen wir nicht so sehr die Kunst, sondern sie vielmehr uns« (Hecht 2014, S. 40). Indem sie uns ihre Bilder für den eigenen Reso­ nanzprozess zur Verfügung stellt, tritt die Künstlerin mit uns in einen Trialog, der einen Diskurs eröffnen kann. Lothar Romain schreibt in seinem Buchbeitrag »Kunst als sozialer Prozess – Ein Rückblick mit Zukunft«: »Alle Kunst hat eine soziale Dimension, in dem sie auf eine jeweils zu erforschende Weise in die Gesellschaft hineinwirkt und andererseits gesellschaftliche Wirklichkeit auf sie zurückschlägt« (Romain 1994, S. 12). In gewisser Weise kann man MacLeod Kessins Kunst als Einladung an eine Gesellschaft verstehen, sich auf kollek­ tiver Ebene auf einen rezeptiv-kunsttherapeutischen Prozess einzu­ lassen. Für die einzelnen Menschen in dieser Gesellschaft kann es wiederum eine Entlastung sein, wenn ihr ganz persönliches, bislang

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nur schwer zu formulierendes Thema auf diese Weise im öffentlichen Diskurs Raum erhält. Katja MacLeod Kessin selbst äußerte sich bei einer öffentlichen Gelegenheit im Hinblick auf das entlastende Potential ihrer Kunst in fast bescheidener Weise so: Auf einem Bild könne »vielleicht, wenigstens für einen Augenblick, das Unzuvereinbarende vereint werden, und wenn es auch nur in den begrenzten Räumen einer Galerie und nur auf einer Leinwand ist« (2001).

Abbildung 42: MacLeod Kessin: Ruf niemals Wolf! / Never cry wolf! 1987. Serie: Carnivoren / Carnivores. 109 x 127, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland

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Abbildung 43: MacLeod Kessin: Erntedank / Hoe down. 1995. Serie: Stillleben – Noch am Leben / Still alives. 71 x 99, Acryl auf Leinwand u. Objekt (Spielfigur aus Plastik). Foto: Paul Litherland

Abbildung 44: MacLeod Kessin: Den Toten eine Stimme geben / To lend the dead a voice.1988. Serie: Tapu. 147 x 122, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland

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Kunst als Transformationsraum

Abbildung 45: MacLeod Kessin: Erbe … und ich entschied, Künstlerin zu werden / Inheritance … and I decided to become an artist. 1996. Serie: Stillleben – Noch am Leben / Still alives. 71 x 99, Acryl auf Leinwand u. 4 Tischbeine aus Holz (auf Abb. nicht sichtbar). Foto: Paul Litherland

Abbildung 46: MacLeod Kessin: Der lieben Mutti / To dear mother. 1992. Serie: Leicht altarierte Erinnerungen / Memories slightly altared.122 x 152, Acryl auf Leinwand. Foto: Paul Litherland

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Literatur Brandstätter, U. (2013/2012): Ästhetische Erfahrung. In: Kulturelle Bildung Online, unter: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (Zugriff am 8.10.2020). Daszkowski, A. (2020): Transgenerationale Traumatisierung und traumazen­ trierte Kunsttherapie. In: Franzen, G., Hampe, R. & Wigger, R. (Hg.): Zur Psychodynamik kreativen Gestaltens. Künstlerische Therapien in klinischen und psychosozialen Arbeitsfeldern. Freiburg, München: Verlag Karl Alber, S. 199–214. Daszkowski, A., mit MacLeod Kessin, K. (2021): Den Toten eine Stimme geben. Kap. V: Kunst als kollektive Therapie. In: Bettzieche, P. & Apolte, U. (Hg.): Kaleidoskop kunsttherapeutischer Interventionen. Lengerich: Pabst Science Publishers, S. 132–139. Elliott, D. (2007): Home fires: an appreciation of Katja MacLeod Kessin’s nar­ rative paintings. In: McDonnell, K. & Pavanel, J. (Hg.), Morley, S. (Design): Katja MacLeod Kessin. Katalog zur Retrospektive. FOFA Gallery, Concordia University, Montreal, S. 9–17. Franzen, G. (2018): Kunst als Selbstobjekterfahrung – der »HundertwasserBahnhof«. MTK, Heft 2. Hecht, M. (2014): Schönheit heilt. Wie Kunst und Natur uns in Krisenzeiten helfen. In: Psychologie Heute, 5/2014. Hughes, L. (2007): Seeing in, and being in the world. In: McDonnell, K. & Pavanel, J. (Hg.), Morley, S. (Design): Katja MacLeod Kessin. Katalog zur Retrospektive. FOFA Gallery, Concordia University, Montreal, S. 21–24. Lerner, L. (2007a): Performing Katja. In: McDonnell, K. & Pavanel, J (Hg.), Morley, S (Design): Katja MacLeod Kessin. Katalog zur Retrospektive. FOFA Gallery, Concordia University, Montreal, S. 29–37. Lerner, L. (2007b): Unveröffentlichtes Exposé zur Retrospektive Katja MacLeod Kessin, FOFA Gallery, Concordia University, Montreal, Kanada. MacLeod Kessin, K. (2001): A is for Auschwitz, not for Adorno. Vortrag beim BGK Berufsverband Gestaltorientierter Kunsttherapeuten, Hamburg (Vor­ tragsmanuskript). MacLeod Kessin, K. (2003): Thesis defense paper. Concordia University, Mon­ treal. McDonnell, K. & Pavanel, J (Hg.), Morley, S (Design) (2007): Katja MacLeod Kessin. Katalog zur Retrospektive. FOFA Gallery, Concordia University, Montreal, Kanada. Moré, A. (2013): Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstri­ ckungen an nachfolgende Generationen. In: Journal für Psychologie, 21 (2). Pöppel, S. (2019): Rezeptiver Umgang mit dem Bild in der Kunsttherapie, unter: https://www.life-und-style.info/life/rezeptiver-umgang-mit-dem-bild-in -der-kunsttherapie (Zugriff am 7.10.2020).

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Kunst als Transformationsraum

Romain, L. (1994): Kunst als sozialer Prozeß – Ein Rückblick mit Zukunft. In: Schottenloher, G. (Hg.): Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder. Bd. 2: Refle­ xionen. München: Kösel, S. 9–22. Schottenloher, G. (1994): Weg als Ziel: Bildnerisches Gestalten als Therapie? In: Schottenloher, G. (Hg.): Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder. Bd. 1: Künstler als Therapeuten? München: Kösel, S. 28–52. Schottenloher, G. (Hg.) (1994): Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder. Mün­ chen: Kösel. Titze, D. (2014): Wider den Stachel gebürstet: Kategorien kunsttherapeutischer Qualität. In: Kunst & Therapie, 1/2014: Das Spezifische. Reflexionen über die Kunst in der Kunsttherapie I, S. 17–28. Tschacher, W. & Tröndle, M. (2018): Verkörperte Ästhetik. In: Psychoscope, 6. Wissenschaftliche Dienste der Deutschen Bundestages (2017): Sachstand Trans­ generationale Traumatisierung. Fachbereich WD1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik. Yehuda, R. et al. (2016): Holocaust Exposure Induced Intergenerational Effects on FKBP5 Methylation. In: Biological Psychiatrie, 80 (5); S. 372–380.

Alexandra Daszkowski (li.) und Katja MacLeod Kessin (re.) vor einem Bild der Künstlerin in Hamburg, 2001. Foto: privat.

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Schaulust – vom Voyeurismus zum Cybermobbing

Zusammenfassung: Anhand ausgewählter Kunstwerke und Zeichnun­ gen beleuchte ich die Bedeutung des Blicks auf intime Szenen. Die bildliche Intersubjektivität beim Betrachten von Intimität erzeugt Spannung und spielt mit Erregung, Abscheu und Macht. Und wie gestaltet sich die Lust des Sehens in Zeiten des Internets? Wie werden wir erpressbar und bedroht durch Verbreitung von Bildern und Kommentaren im Internet? Anhand von Fallbeispielen wird die Destruktivität von Cybermobbing dargestellt. Über die Veränderun­ gen in den gezeichneten Bildern wird ein Blickwechsel initiiert und kreativ die Handlungsfähigkeit gestärkt.

Visuelles und neue Medien Der Bedeutungszuwachs des Visuellen spiegelt sich in der Popularität von Medien wie Fotografie, Film, Fernsehen, Internet und Social Media wider. Das, was wir mit den Augen wahrnehmen, rückt mehr und mehr ins Zentrum einerseits als Kommunikationsmittel, ande­ rerseits zur Verbreitung von Wissen. Bilder haben eine »diffuse All­ gegenwart« (Boehm 1994, S. 11). Bilder wirken auf uns durch einen simultanen und integralen »präsentativen Symbolismus« (vgl. Langer 1965). In der Totalität des Bildes vereinen sich alle symbolischen Elemente prompt und gleichzeitig, die den Sinn des Ganzen erfassen lassen. Die starke Wirkung von Bildern wird einerseits zur Selbstdarstellung und Selbstinszenierung aktiv gesucht und soll unsere Schaulust verführen. Andererseits gibt es bedrohliche Schattenseiten, indem Bilder uner­ wünscht zur Schau gestellt werden. Durch den bewertenden Blick der Betrachter*innen konstruiert sich das eigene Ich, aber auch das dargestellte Subjekt.

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Was wird gezeigt? Während der Coronakrise sorgte ein Foto von Madonna für Aufsehen, das sie in einer Badewanne mit Blüten, die am Wasser schweben, zeigt. Sie selbst kommentierte das Foto folgendermaßen: »Vor COVID-19 sind alle gleich« (YouTube 2020). Dies kam aber bei den Fans nicht gut an. Eine solchermaßen inszenierte Alltäglichkeit zeigt, dass es eben keine Alltäglichkeit für alle ist. So bringt der Sehsinn nicht näher, son­ dern verstärkt als Fernsinn zusätzlich die Distanz zwischen Mensch und Welt, zwischen Subjekt und Objekt. Nähe wird zwar durch einen intimen Akt inszeniert, aber berührt viele Betrachter*innen als Zurückweisung. Unauthentisch bemüht sie sich, authentisch zu sein. Auf einem Foto auf Twitter kann man Madonna zusehen, wie sie versonnen lächelnd auf der Toilette posiert (The World News o. J.). Vielleicht ist auch das ein Versuch, »gleich zu sein«, ein Angebot zur Identifikation, das trotzdem nicht erfüllt wird. Denn auch hier wird paradoxerweise die Ungleichheit betont – durch Pose, Mimik und die Vorstellung, dass das Foto bearbeitet worden ist. Ihr Exhibitionismus kann dem narzisstischen Wunsch entsprin­ gen, beachtet und gesehen zu werden und wie auch immer aus der digitalen Bilderflut hervorzustechen und aufzufallen. Martin Alt­ meyer (2000) sieht den Narzissmus intersubjektiv neu formuliert in dem Wunsch nach medialer Spiegelung. Er meint, ein narzisstisch veranlagter Mensch sei einer, der »von der Welt an sich nichts wissen will und dem die Liebe zum eigenen Spiegelbild ausreicht« (Altmeyer 2000, S. 1). Medien bieten dem Subjekt dabei »identitätsstiftende Elemente« an (vgl. Schuegraf 2008, S. 119). Auch der Philosoph Sla­ voj Žižek betont, dass Menschen den Blick der Kamera als Beweis für ihre Existenz brauchen und dass viele sogar mit einer Angst leben, dass sich dieser Blick eines Tages abwenden könnte (Žižek 2000). Das Selbstbewusstsein des Subjekts modifiziert sich dabei durch einen »generalized other«, einen »verallgemeinerten Anderen«, indem sich ein Individuum in die Position des Anderen innerhalb einer Interak­ tion versetzt (vgl. Mead 1968, S. 200). Das Subjekt betrachtet sich somit aus dieser anderen Perspektive und kann sich selbst darüber wahrnehmen und beurteilen. Dazu gehören offenbar auch Selbstent­ hüllungen. Hier verläuft die Grenze zwischen dem privaten Selbst und seiner öffentlichen Darstellung mitunter diffus oder eben auch insze­ niert. Sich öffentlich zu präsentieren und transparent zu machen, geschieht im Spiegel gesellschaftlicher Normen und ist ein »Akt

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Schaulust – vom Voyeurismus zum Cybermobbing

geschlechtlicher Positionierung«, die teils durch gesellschaftliche Sanktionen, teils durch Tabus erzwungen werden (vgl. Butler 2002, S. 302). Madonna präsentiert sich auf der Toilette sitzend – zwar fotogen, aber nicht ihrem Status als weiblicher Star entsprechend – oder wegen der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit durch ihren Tabu­ bruch eben doch. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Blick auf Intimitäten, die nicht öffentlich gemacht werden wollen. Dies lockt viel stärker den Wunsch hervor, etwas zu sehen und zu entdecken. Denn es sieht uns an, wie Didi-Huberman (1999) meint: »Was wir sehen, blickt uns an«. »Ce qui nous regarde« hat einerseits die Bedeutung von »anblicken«, andererseits von »angehen«. Sich konfrontieren bedeutet in Didi-Hubermans Sicht auch beunruhigt werden. Eine Mischung von Faszination und Abwehr beschäftigt das Sehen.

›My body is not your porn‹ Dem Foto von Madonna möchte ich eine Radierung von Rembrandt gegenüberstellen, die zwar eine ähnliche Szene offenbart, sie aber konträr inszeniert: die »Pinkelnde Bauersfrau«. Dieses Werk bezieht einen Teil seines Reizes daraus, dass die Protagonistin nicht weiß, dass sie beobachtet wird. Dadurch macht Rembrandt die Rezipient*innen zu Voyeuren. Die Gestik der Bauersfrau, die, an den Baum gelehnt, ihren Rock hebt und uriniert, wirkt wie bei einem Schnappschuss: Eine Momentaufnahme eines flüchtigen Augenblicks wird mit einem Bild eingefangen. Ein Reiz des Anblicks besteht darin, dass ein normalerweise verhüllter Körper ganz kurz ungeschützt sichtbar wird. Ein anderer Reiz des Werks besteht darin, dass die Frau in die Richtung schaut, in der die Beobachter*innen nicht sind. Diese Eskalation von Spannung wird in Thrillern inszeniert. Die Zuschauer*innen wissen bereits mehr als die Protagonist*innen. Dies aktiviert intensiv den Drang, ins Geschehen einzugreifen. Diese Spannung lockt auch der Augenblick von Rembrandts Radierung hervor. Auch hier werden wir Betrachter*innen mehr oder weniger freiwillig zu Voyeuren.

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Abbildung 47: Rembrandt van Rijn (1631): Pinkelnde Bauersfrau

Was Madonna doch nicht zeigt, passiert dieser Bauersfrau versehent­ lich: Der Schautrieb wird zum partiellen Sexualtrieb, indem die Geni­ talien oder Exkretionsfunktionen angesehen werden (vgl. Fenichel 1935, S. 564). Dieses Kunstwerk zu betrachten wird mit unbewussten aggressiven und libidinösen Phantasien verbunden. So erreicht das Bild die Betrachter*innen unmittelbar, indem sie sich einfühlen und so eine Intersubjektivität mit der dargestellten Person entsteht – im Gegensatz zu Madonna, bei der es schwerfällt, sich in Pose und Mimik einzufühlen. Es gibt eine Dokumentation mit dem Titel »Spanner-Videos«. Auf denen werden die Toiletten auf Festivalgeländen gefilmt und diese Filme landen später auf Pornoseiten. Doch das Phänomen ist nicht auf Festivals beschränkt, sondern findet auch in Schwimmbädern, öffentlichen Toiletten, Umkleidekabinen von Kaufhäusern und ande­ ren Bereichen statt.

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Penetrierender Blick – Der Voyeur als Kontrolleur Rembrandts Blick verletzt Grenzen der Intimität. Und doch sublimiert er den Schautrieb durch die Kunst (vgl. Freud 1905, S. 66) und weist auf die Nähe des Schautriebs zur Grausamkeit hin. Auch Otto Fenichel hat sich mit der Aggression beim Schauen beschäftigt. Er weist auf die penetrative und oral-sadistische Komponente des Blicks hin. Sehen wird von oral-sadistischen Fantasien begleitet. Die »Magie des Schau­ ens« entwickelt den Sadismus des Auges, der das Opfer eines Blickes bannt oder lähmt (Fenichel 1935, S. 562). Dem Auge kommt zugleich eine phallische und orale Wirkung zu. Das Auge hat eine doppelte Rolle: aktiv-sadistisch (das Opfer wird gebannt) und passiv-rezeptiv (der Anblickende wird gebannt). Beim eindringenden Blick ist das Auge selbst phallisch (ebd., S. 575). Der anale Aspekt des Schauens bezieht sich auf beherrschende und kontrollierende, im Extremfall vernichtende Blicke. Dies weist auf die verführerische und bedrohliche Macht von Bildern hin.

Cybermobbing Soziale Interaktion ist ohne Internet nicht mehr vorstellbar. So entste­ hen in der digitalen Welt neue Formen der Information, aber auch neue Gefahren und Bedrohungen. Ausgrenzung, Mobbing, Gewalt und Nötigung haben eine völlig neue Dimension angenommen. Im österreichischen Gesetz ist festgelegt: »Cyber-Mobbing und Cyber-Bullying meinen das bewusste Beleidigen, Bedrohen, Bloß­ stellen oder Belästigen mit elektronischen Kommunikationsmitteln wie dem Handy oder im Internet.« Menschen bloßstellen, terrorisie­ ren und erpressen ist zwar keine Erfindung der Gegenwart, aber die Reichweite ist durch das Internet größer denn je. Und die Täter haben es einfacher denn je, weil sie sich anonym oder hinter gefälschten Identitäten verstecken können. Systematisch andere Menschen beläs­ tigen, bloßstellen und deren Ruf schädigen wird durch die starke Nut­ zung von Internet in einen virtuellen Raum verlagert. Haben sich die Täter Informationen, Fotos oder Videos ihrer Opfer angeeignet, ermöglicht ihnen dies, dem Opfer massiven Schaden zuzufügen. Die Hemmschwelle für bösartige Attacken und Gemeinheiten anderen gegenüber sinkt. Es entsteht das ideale Umfeld für Cybermobbing (vgl. Katzer 2014, S. 2).

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Abbildung 48: Lovis Corinth (1890): Susanna im Bade

Susanna und die beiden Älteren – Lovis Corinth »Susanna im Bade« von 1890 Die biblische »Susanna« wird heimlich von den beiden Älteren beob­ achtet. Und diese beiden Voyeure werden durch den Anblick der nackten Frau erregt und immer zudringlicher. »Da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und ihre Augen gingen in die Irre« (Daniel 13,9). Die Augen gingen in die Irre – bedeutet dies, dass sie bereits hinter geschlossenen Lidern ihrer Fantasie freien Lauf ließen, was sie mit der jungen Frau alles anstellen würden? Und dann können sie ihre Lüsternheit nicht mehr beherrschen: Sie lauern ihr auf und erpressen sie. Susanna muss zwischen zwei furchtbaren Alternativen wählen: Entweder sie schläft mit beiden Älteren oder diese zeigen sie an, sie habe mit einem jungen Mann Ehebruch begangen, und darauf steht die Todesstrafe.

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In jedem Fall droht ihr der Tod: Wenn die beiden Älteren sie unschul­ dig anzeigen und sie verurteilt wird, wird sie gesteinigt. Wenn sie sich entscheidet, mit den beiden Älteren Ehebruch zu begehen, ist sie ihnen vollkommen ausgeliefert und weiterhin erpressbar. Eine endlose Qual, eine Reviktimisierung wäre absehbar. Sie entscheidet sich für den Prozess und hat Glück: Durch widersprüchliche Aussagen der beiden Älteren wird ihre Unschuld erkannt und sie überlebt.

Susanna in Zeiten des Internets – zwei Fallgeschichten Ich war entsetzt zu bemerken, wie häufig diese Geschichte aus der Bibel in Zeiten des Internets aktualisiert wird. Und wie einfach es ist, den Ruf anderer Menschen unter falschen Identitäten zu schädigen oder andere Menschen zu erpressen. Zwei Fallgeschichten von Betrof­ fenen möchte ich hier kurz skizzieren.

Fallgeschichte Hanna Hanna ist eine junge, attraktive Medizinstudentin. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Er nähert sich immer wieder und Hanna weist ihn angewidert zurück. Eines Tages zeigt er ihr Fotos, die er heimlich von ihr angefertigt hat, als sie nackt schlief oder in der Badewanne lag. Und er erpresst sie: Er droht, die Fotos ins Internet zu stellen, außer wenn sie mit ihm Sex hat. Die junge Frau ist verzweifelt. Ich erzähle ihr die Geschichte von Susanna und den Älteren. Das inspiriert sie zu ihrer Zeichnung. Hier kann sie in Identifikation mit der biblischen Frauenfigur ihre eigene Geschichte externalisieren. Dies ist in der Therapie ein wichtiger Schritt, die überwältigende Angst einzudämmen und auf ein angemessenes Niveau zu senken, damit sie sich wieder handlungsfähig fühlt. Sie zeichnet das diabolisch grinsende Gesicht, das aus dem kleinen Fenster Susanna (bzw. ihr selbst) beim Baden zusieht und sie beobachtet. Sein penetrierender Blick versetzt sie in Panik. Und gleichzeitig empfindet sie ihn als feige, schwach und erbärmlich mit seiner falschen Identität im Internet. Überall fühlt sie sich von ihm gesehen. Wie bei den beiden Älteren ist auch der Blick des Stiefvaters auf die heranwachsende Frau ein inzes­ tuöser. Eigentlich entwickelt sie gerade ihre weibliche Identität, will sich in Ruhe selbst entdecken und liebt es, ausgiebig und entspannt

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in der Badewanne zu liegen. Und dann erfährt sie, dass er sie mit dem Handy über das kleine Fenster im Bad gefilmt hat. Um sich nicht gar so hilflos ausgeliefert zu fühlen, verändert sie den Blick des Erpressers: Sie schließt seine Augen. Und dann übertreibt sie sein teuflisches Aussehen und zeichnet ihm eine lange Zunge und Hörner. (Da ich nur das Original fotografiert habe, habe ich selbst am Computer die Veränderungen nachgebildet, wie Hanna sie am Papier geformt hat.) Allmählich fühlt sie sich wehrhaft und imstande, ihren Peiniger anzuzeigen. So konnte sie die Nötigung und physische Bedrohung abwenden. In der Therapie beim Internetmobbing gilt zu beachten: Bei Ver­ leumdung, Rufschädigung und übler Nachrede handelt es sich um rechtlich relevante Straftaten: »Cyber-Mobbing« ist seit dem 1. Januar 2016 ein eigenständiger Straftatbestand. Der im Strafgesetzbuch (StGB) verwendete Titel des Delikts lautet »Fortgesetzte Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems«. Bei Verstoß gegen die Strafbestimmung »Cyber-Mobbing« ist mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu rechnen.

Abbildung 49: Zeichnung (Patientin mit Pseudonym Hanna)

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Abbildung 50: Überarbeitete Zeichnung (Patientin mit Pseudonym Hanna)

Aber ähnlich wie bei jeder Form von Mobbing und Missbrauch, von körperlicher oder sexueller Gewalt fühlen sich paradoxerweise manchmal die Opfer schuldig oder mitverantwortlich. Hier ist es wichtig, Klarheit zu schaffen. Und dann darf und soll das Opfer seine Version erzählen oder künstlerisch gestalten. Und es darf sich mit anderen identifizieren, denen es ähnlich ergangen ist – und die überlebt haben. Das Ziel ihres Aggressors war, sie zu beschämen sodass sie erpressbar ist. Die furchtbare Gewalt der Beschämung führt dorthin, dass sich das Opfer tatsächlich so schlecht fühlt, wie es dargestellt wird. Der Stiefvater stellt sie im Internet als eine Schlampe dar, die nackt im Bett oder in der Badewanne liegt. Im schlimmsten Fall werden die Fotos im Internet noch abwertend kommentiert. Dann fühlt sich das Opfer noch schlechter und gelangt vielleicht gar zu der Annahme, »wenn alle mich für eine Schlampe halten, wird schon etwas dran sein.« Genau das ist das Ziel des Aggressors. Nicht er ist dann der Schuldige, sondern sie hat vermeintlich Fehler gemacht. Je mehr ›Likes‹ die Verleumdungen oder die bloßstellenden Fotos haben, desto elender fühlt sich das Opfer. Aus dieser grauenvollen Rolle soll mit Hilfe der Kunsttherapie ein Ausweg gefunden werden. Zuerst braucht das Opfer Sicherheit und Ruhe. Um aus der Verzweiflung und Hilflosigkeit auszusteigen,

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erzählte Hanna bildlich die eigene Geschichte, die manchmal noch gar nicht in Worte fassbar ist. Auch können Loyalitätskonflikte das Formulieren erschweren. Hier hilft das Narrativ einer anderen Person, zum Beispiel der biblischen Susanna. Dann taucht meist heftige Wut auf den Aggressor auf, der sie in eine so hilflose Situation gebracht hat und so schamlos die Anonymität des Internets und das massive Ungleichgewicht an Gewaltmöglichkeiten nutzt. Und dann wird schrittweise über Veränderungen am Bild auch der Affekt – die heftige Wut – verändert. Hanna hat in einem weiteren Schritt die Frau auf ihrer Zeichnung mit einem Stück Krepppapier bedeckt und so vor den zudringlichen Blicken geschützt. Es sieht wie ein Tuch aus, das sie umhüllt. Hanna war sehr berührt durch das helle Tuch und hat prompt den Gesichtsausdruck der Frau am Bild anders gezeichnet: Sie hat die Augen geschlossen und den Mund zu einem Lächeln geformt. Kommentiert hat sie dann das Bild so: »So unschuldig lächelt sie … und sie ist unschuldig, das weiß ich und das kann jeder sehen!« Mit Hilfe ihrer Bilder und deren Veränderungen ist es Hanna anschaulich und bewegend aus eigener Kraft gelungen, wieder auf ihre Unschuld zu vertrauen. Mit diesem Vertrauen konnte sie ihrem Stiefvater selbstsicher gegenübertreten. Sie konnte ihrer Mutter von ihren Erfahrungen berichten. Ich begleitete sie dann noch therapeutisch bei ihrer Suche nach einer eigenen Wohnung und ihrem Weg in die notwendige Autonomie. Hanna entwickelt sich parallel zu ihren Bildern von der passiven jungen Frau, die ihre Impulse schwer zu kontrollieren vermag, zur aktiven jungen Frau, die selbst Kontrolle übernimmt und ihren Stress handhaben kann. Sie hat Phasen der Angst und Wut durchlebt und wurde sich allmählich bewusst, wie sie mit Übergriffen und heftiger Aggression in Form von Internetmobbing zurechtkommen kann. Ihre Bilder haben ihr Wege der inneren und äußeren Veränderung eröffnet.

Fallgeschichte David David kommt aus einem Land, in dem homosexuelles Verhalten mit dem Tod bestraft wird. Er erzählt von einem traumatischen Erlebnis: Mit einem flüchtigen Bekannten hatte er einvernehmlich homosexu­ ellen Kontakt. Unbemerkt hat ihn dieser Mann gefilmt und erpresst. Bedrohlich fühlt er sich der »Macht der tausend unbarmherzigen Augen« ausgeliefert (Leon Wurmser 1998, S. 228). Wut, Verzweif­

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lung und Scham überwältigen ihn. Im Bild gelingt es ihm zum einen, die schrecklich Situation zu bannen. Und auch für David ist es wichtig, etwas zu verändern. Seine heftige Ambivalenz dem Mann gegenüber wird erträglich, wenn die Augen zugedeckt sind. Dies gelingt im Bild durch Überkleben mit einer roten Girlande. In weiteren Bildern kön­ nen weitere Veränderungen angeregt werden. Die kindlich anmu­ tende liegende Figur in Rosa kann Konturen annehmen. Dunkle, kräf­ tige Farben können ihr Stärke und Kraft verleihen. Und allmählich entwickelt sich die rosa umrandete blasse Figur nicht nur farblich, sondern auch dynamisch: Sie richtet sich aus der liegenden Position auf. Parallel zu den Veränderungen im Bild fühlt sich David allmählich mehr und mehr imstande, sich aus der Beschämung zu entwickeln, zu wachsen und wirkmächtig zu fühlen. Seine Gestalt wird in der Dyna­ mik, dem Farbton und der Körperhaltung dem anderen Mann eben­ bürtig.

Abbildung 51: Zeichnung (Student mit Pseudonym David)

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Abbildung 52: Überarbeitete Zeichnung (Student mit Pseudonym David)

Zusammenfassung Die Macht der Bilder in Kombination mit der immensen Reich­ weite des Internets hat einen neuen Boden für Traumatisierungen geschaffen. Immer mehr Menschen leiden unter Internet-Mobbing und Rufschädigung durch Verleumdung und Erpressung. Anhand von Fallbeispielen habe ich gezeigt, wie wichtig es ist, sich aus der vernichtenden Angst vor den »tausend unbarmherzigen Augen« zu befreien. Zuerst ist es hilfreich, die terrorisierende Situation, die einen selbst bannt, auf Papier zu bringen und so selbst zu bannen – im Bild. So gestaltet das Opfer das Bild aktiv selbst und wird nicht passiv fotografiert. Dies ist ein wichtiger Schritt, um aus der Opferrolle herauszutreten. Indem sich der Blick ändert, transformiert dies auch die eigene Perspektive auf das Geschehen. So gelingt es mehr und mehr, der Schockstarre zu entkommen und handlungsfähig zu werden. Nachsatz: Ich bedanke mich bei meiner Patientin und einem Studenten, dass sie mir ihre Werke zu Verfügung gestellt haben. Die Darstellung und Namen habe ich zum Schutz der Anonymität verän­ dert.

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Autorinnen und Autoren

Andreas Mayer-Brennenstuhl Prof., Diplom-Abschluss, Fachhochschule Kunsttherapie, Nürtingen; Kunst­ therapie-Weiterbildung, Kölner Schule für Kunsttherapie. Seit 1984 interna­ tionale Ausstellungstätigkeit, Projekte im öffentlichen Raum und partizipative Kunstaktion sowie seit 1987 unterschiedliche Lehrtätigkeiten an Hochschulen. Alexandra Daszkowski Dr., graduierte Kunsttherapeutin / Anthropologin M. A.; Dozentin u. a. im Universitätslehrgang Kunsttherapie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin, Kunsttherapeutin in einer Privaten Tagesklinik für Psychotherapie, 2008–2019 Kunsttherapeutin in der Klinik für Persönlichkeits- und Trauma­ folgestörungen der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg. Entwicklung und Vermittlung kunsttherapeutischer Konzepte im Rahmen von Borderline-The­ rapie, Traumatherapie und transgenerationaler Traumatisierung. Lehrthera­ peutin der DGKT. Georg Franzen Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Approbierter Psychologischer Psychotherapeut in niedergelassener Kassenpraxis, Klinischer Psychologe, Psychoanalytiker (DGAP) und Kunstpsychologe. Fortbildungen in Klinischer Hypnose und Katathym-imaginativer Psychotherapie (KIP). 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kunsttherapie (DGKT). Er ist Departmentsleiter Psychothera­ piewissenschaft und Leiter der Ausbildung Klinische Kunsttherapie an der SFU Berlin. Mitherausgeber der »Zeitschrift für Musik, Tanz- & Kunsttherapie«. Barbara Laimböck Dr. med., Ärztin für Allgemeinmedizin; FA für Anästh. und Intensivmedizin; Psychotherapeutin für KIP und Hypnose in ihre Praxis in Wien; Gerichtsgut­ achterin. Unterrichtet an der Sigmund Freud Universität in Berlin und Wien. Vorstandsmitglied des Ärztekunstvereins.

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Karl-Heinz Menzen Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Psychol., Dipl.-Theol., Klin. Psychologe, Psychol. Psychotherapeut / Zulassung in Deutschland und Österreich. Super­ visor BDP, Dr. phil. (Ästhetische Theorie und Medizin um 1800), sowie folgende Lehrtätigkeiten: a. o. Prof. em. TU Berlin (Sozialisationslehre und Ästhetik), ehem. Prof. für Kunsttherapie an der Hochschule der Künste Dres­ den, Prof. em. KH Freiburg (Altern, Behinderung, Kunsttherapie). Lehrthera­ peut der deutschen Gesellschaft für Künstlerische Therapieformen DGKT e. V., 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Künstlerische Therapien und Mitherausgeber der Zeitschrift »Kunst & Therapie«. Seit 2013 als Gastprofes­ sor beauftragt mit der Leitung des universitären Lehrgangs Kunsttherapie an der Sigmund-Freud-Universität Wien und Berlin. Karolina Sarbia M. A., Kunsthistorikerin, Studium der Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der LMU München. M.A., Mas­ ter of Arts Bildnerisches Gestalten und Therapie, Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Prof. Schottenloher und Prof. Connert. HPG für Psychotherapie. Lehrbeauftragte an der Akademie der Bildenden Künste München, Fachbereich Kunsttherapie. Kunsttherapeutische Tätigkei­ ten in der Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien/Chiemsee und dem Münchener Autistenzentrum (MAut). Martin Schuster Univ.-Prof. Dr., Diplom-Psychologe und Verhaltenstherapeut für Erwach­ sene und für Kinder und Jugendliche sowie Kunsttherapeut. Mitbegründer der »Kölner Schule für Kunsttherapie«; Ausbildung als Gesprächstherapeut, bis 2010 Professor für Psychologie an der Universität Köln. Er leitete Seminare zu den Themen »Angsttherapie« und »Depressionstherapie« sowie »Kunst­ therapie« (für alle Symptomfelder) und Kreativität. Zahlreiche Veröffentlich­ ungen zur angewandten Kunstpsychologie Karla Villavicencio Ass.-Prof. Dr., Assistenz-Professorin der Abteilung für Malerei (Fakultät für Design und Kunst) an der Pontificia Universidad Católica del Perú. Seit 2020 ist sie die Koordinatorin der Virtualisierung des Kurses »Abschlussprojekt der Malerkarriere« an der Pontificia Universidad Católica del Perú / Magistra der bildenden Künste der Pontificia Universidad Católica del Perú / Magistra der bildenden Künste, Nostrifizierung an der Europäische Universität, Madrid. Im Jahr 2009 promovierte sie in Architektur an der Universidad Europea de Madrid (»Montañanas ImaRginales: Una Reflexión sobre los valores urbanos de los asentamientos urbanos en las periferias de Lima« [Eine Reflexion über die urbanen Werte städtischer Siedlungen in der Peripherie von Lima], Madrid 2009), wo sie an der Fakultät für Kunst und Architektur lehrte.

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